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German Pages 345 [348] Year 2009
Georg Bchner Jahrbuch 11 (2005 – 08)
Georg Bchner Jahrbuch 11 (2005 – 08) Fr die Georg Bchner Gesellschaft und die Forschungsstelle Georg Bchner – Literatur und Geschichte des Vorm!rz – am Institut fr Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universit!t Marburg herausgegeben von Burghard Dedner, Matthias Grçbel und Eva-Maria Vering
NIEMEYER
Redaktionsadresse: Georg Bchner Jahrbuch c/o Philipps-Universit!t Marburg Fachbereich 09. Forschungsstelle Georg Bchner D-35032 Marburg/L. oder ber Georg Bchner Gesellschaft Biegenstr. 36 D-35037 Marburg/L. Redaktion dieses Bandes: Eva-Maria Vering Redaktionelle Mitarbeit: Susanne Lehmann, Kathrin Wanke Die Einsendung von Publikationen ist freundlich erbeten; von Beitr!gen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit blicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und ZitatAuszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band. Fordern Sie bitte unser stylesheet an.
B Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co, KG http://www.niemeyer.de Motiv: Aus dem Steckbrief Georg Bchners Satz: Susanne Lehmann Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul!ssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielf!ltigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. ISBN 978-3-484-60511-4 ISSN 0722-3420
Inhalt Siglen und abgekürzt zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Aufsätze Anja Schonlau: »Nimmt einer ein Gefühlchen«. Die Emotionen der Französischen Revolution in Georg Büchners Metadrama Danton’s Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Christian Milz: Eros und Gewalt in Danton’s Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Norbert Otto Eke: Humus Büchner: Danton’s Tod in/und Heiner Müllers Der Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Yvonne Fauser: Die Vorwegnahme der medizinischen Erkenntnis von manisch-depressiven Störungen in der Literatur – dargestellt an Büchners Lenz und Leonce und Lena . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Arnd Beise: Georg Büchners Leonce und Lena und die »Lustspielfrage« seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Annette Graczyk: Sprengkraft Sexualität. Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners Woyzeck . . . . . 101 Wolfram Viehweg: Der Woyzeck am völkischen Herzen. Dokumente zu einer Interpretationslinie des Woyzeck in der Theaterpublizistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Per Röcken: Georg Büchners Woyzeck – Möglichkeiten und Grenzen textgenetischer Interpretation . . . . . . 163 Nora Eckert: Wilson inszeniert Büchner oder Was ist unter der Oberfläche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Ariane Martin: Religionskritik bei Georg Büchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Bodo Morawe: Heine und Holbach. Zur Religionskritik der radikalen Aufklärung und über zwei zentrale Probleme der Büchner-Forschung . . . . . . . . . . . . 237
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Matthias Gröbel: Über Wilhelm Liebknechts Verwandtschaft mit Friedrich Ludwig Weidig und seine Beziehung zur Familie Büchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Carsten Zelle: »Waren die nicht mal in Gießen?« Karl Viëtor über Georg Büchner in den Jahren 1928–1933/34–1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Projektanzeige Ariane Martin und Dagmar von Hoff: Georg Büchner im Medientransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Anschriften der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
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Siglen und abgekürzt zitierte Literatur Briefwechsel
Georg Büchner: Briefwechsel. Kritische Studienausgabe von JanChristoph Hauschild. Basel, Frankfurt a. M. 1994
Dedner: Einleitungen
Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1990 (Büchner-Studien, Bd. 5)
Dedner/Oesterle Burghard Dedner u. Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Referate. Frankfurt a. M. 1990 (Büchner-Studien, Bd. 6) GB I/II
Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1979, 21982 (Sonderband aus der Reihe text + kritik)
GBJb
Georg Büchner Jahrbuch
GW
Georg Büchner: Gesammelte Werke. Erstdrucke und Erstausgaben in Faksimiles. 10 Bändchen in Kassette. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. Frankfurt a. M. 1987
HA
Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. Hamburg (dann München) 1967 ff. (Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe)
Hauschild 1985
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. Königstein/Ts. 1985 (Büchner-Studien, Bd. 2)
Hauschild 1993, 1997
Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Stuttgart, Weimar 1993, Berlin 21997
Katalog Darmstadt
Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Redaktion: Susanne Lehmann, Stephan Oettermann, Reinhard Pabst, Sibylle Spiegel. Basel, Frankfurt a. M. 1987
Katalog Marburg
Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog [der] Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner [u. a.] bearb. von Thomas Michael Mayer. Marburg 1985, 31987
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Knapp
Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar 2000 (Sammlung Metzler, Bd. 159)
MA
Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. München, Wien (desgl. München: dtv) 1988
MBA
Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe). Hrsg. von Burghard Dedner u. Thomas Michael Mayer. Darmstadt 2000 ff.
P
Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann unter Mitarb. von Rosemarie Poschmann. Bd. 1: Dichtungen. Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Frankfurt a. M. 1992 u. 1999 (Bibliothek deutscher Klassiker 84 u. 169)
Poschmann
Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. Berlin u. Weimar 1983, 31988
UZ
Die Geschichte Unserer Zeit, bearb. v. Carl Strahlheim [...]. 30 Bde. Stuttgart 1826–1831
WA
Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. Leipzig (desgl. Wiesbaden) 1981 (Manu scripta, Bd. 1)
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AUFSÄTZE
»Nimmt einer ein Gefühlchen« Die Emotionen der Französischen Revolution in Georg Büchners Metadrama Danton’s Tod Von Anja Schonlau (Frankfurt a. M.) »Nimmt Einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an« (DT 37),1 lästert Camille in Georg Büchners Revolutionsdrama Danton’s Tod über die Theaterkunst und mokiert sich damit über ein Theaterpublikum, das die Kunst der vielschichtigeren Natur vorzieht. Die Figur macht sich bei ihrer Karikatur den Umstand zunutze, dass die Darstellung von Gefühlen traditionell zu den zentralen Elementen eines Theaterstücks gehört. Camille unterstellt dem zeitgenössischen Theater der Revolutionszeit hier den antiquierten Stand des 17. Jahrhunderts, in dessen Dramenpoetik einzelne Leidenschaften typologisch Figuren zugeordnet wurden. Mit dem Wort ›Gefühl‹ greift er einen Emotionsoberbegriff auf, der erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwendet und dann dem ›Affekt‹ übergeordnet wird.2 Die Diminutivform »Gefühlchen« deutet dabei auf die Empfindsamkeit und rührende Elemente des bürgerlichen Trauerspiels hin. Bei dieser kurzen spöttischen Bemerkung kann ein gebildetes Publikum immerhin eine Anspielung auf zwei Jahrhunderte Emotionsdarstellung ausmachen. Wenn eine kurze Bemerkung so selbstverständlich auf Emotionen als einen zentralen Gegenstand der Gattung Drama anspielt, stellt sich die Frage, welche Funktion Emotionen in dem als Metadrama angelegten Stück insgesamt haben und wie sie – angesichts ihrer Rolle in der Dramentradition des 18. Jahrhunderts – hier dargestellt werden. ––––––––– 1 Das Drama Danton’s Tod wird nach MBA 3.2 mit der Sigle DT und Seitenzahl fortlaufend im Text zitiert. 2 Die Verwendung von ›Gefühl‹ statt ›Affekt‹ deutet daraufhin, dass sich ›Gefühl‹ als Oberbegriff durchgesetzt hat, was – angesichts des Vokabulars der Affektpoetiken – eher auf die Entstehungszeit des Stücks 1834/35 hinweist als auf die historische Revolutionsphase. Vgl. O. Ewert: Gefühl. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. 13 Bde. Basel, Darmstadt 1971–2007, Bd. 3 (1974), S. 82–95.
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Soweit sich die recht umfangreiche Forschung zu Georg Büchners Drama Danton’s Tod bislang mit Emotionen beschäftigt hat, galt das Augenmerk vor allem der eigenwilligen Figur des Revolutionärs Danton, dessen Langeweile, Überdruss und Melancholie unabhängig von seinem historischen Vorbild ist.3 Oder die Forschung befasste sich mit den Frauenfiguren Julie, Marion, Lucile und ›Liebe und Sinnlichkeit‹.4 Im Folgenden soll darum vor allem gezeigt werden, dass Emotionen gerade für die politischen Aspekte des Dramas, also für die Ereignisse in der Spätphase der Französischen Revolution, eine zentrale Funktion erfüllen und von den Figuren auch in dieser Weise reflektiert werden: Emotionen sind zentraler Bestandteil der politischen Strategien im Stück. Seit der Antike werden Emotionen in Bezug auf dramatische Texte vor allem hinsichtlich der Rezeption diskutiert; Dramatiker wie Dramentheoretiker haben diese Perspektive in extremer Weise in den Vordergrund gestellt.5 In den Theaterreformen des 18. Jahrhunderts spielt die Affektpoetik bekanntlich eine bedeutende Rolle. Auch Büchner setzt bei seinen theaterkritischen Bemerkungen hier an.6 Darüber hinaus haben die von ihren Leidenschaften getriebenen Helden des Trauerspiels, Lessings Forderung nach gemischten Gefühlen und die Intensität des Pathos im Sturm und Drang den Blick dafür verstellt, dass die Emotionsdarstellung sich nicht auf die Zuschreibung von Emotionskonzepten an Figuren beschränkt.7 Gerade weil sich die Literaturwissenschaft ––––––––– 3 Bereits früh: Karl Viëtor: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. Über Büchners Drama »Danton’s Tod«. In: DVjs 12 (1934), S. 173–209. 4 Vgl. u. a. Silke-Maria Weineck: Sex and History, or Is there an Erotic Utopia in »Dantons Tod«? In: The German Quarterly 73/4 (2000), S. 351–365; Ilona Broch: Die Julia und die Ophelia der Revolution. Zu zwei Frauenfiguren in »Dantons Tod«. In: Katalog Darmstadt, S. 241–246; David Horton: »Die gliederlösende böse Liebe«. Observations on the Erotic Theme in Büchners »Dantons Tod«. In: DVjs 62 (1988), S. 290–306; Theo Buck: Grammatik einer neuen Liebe. Anmerkungen zu Georg Büchners Marion-Figur. Aachen 1986. 5 Vgl. den historischen Abriss bei Alberto Martino: Emotionalismus und Empathie. Zur Entstehung bürgerlicher Kunst im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81– 83 (1977–79), S. 117–130. 6 Büchner erklärt, er ziehe auf der Bühne »Menschen von Fleisch und Blut« vor, »deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt.« Brief an die Familie vom 28. Juli 1835, MA, S. 305–307, hier: S. 306. 7 Vgl. stellvertretend für viele die Position von Otto Ludwig in seinen ShakespeareStudien (1871): »Nicht die sogenannte Idee, die der Gegenstand der Leidenschaft ist; die Leidenschaft selbst wird begehrt, wird schuldig und kämpft«. Otto Ludwig: Shakespeare-Studien. Mit einem Nachwort von Dr. Wilhelm Greiner. Leipzig: o. J. [21926], S. 24.
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bereits in den siebziger Jahren intensiv mit Empfindsamkeit, bürgerlichem Trauerspiel und Affektpoetik auseinandergesetzt hat, wird das Drama – wie Gattungsfragen insgesamt – derzeit in der jüngeren Emotionsforschung wenig beachtet.8 Ein systematisches Verfahren für eine emotionsbezogene Analyse dramatischer Texte liegt bislang nicht vor.9 Im Folgenden soll darum aus pragmatischen Gründen ein close reading mit einer historischen Kontextualierung unter Berücksichtigung rhetorischer Analysekategorien und bei Annahme einer minimalen Autorintention verbunden werden. Nicht zuletzt aus den verbleibenden Leerstellen soll am Ende der Untersuchung der Bedarf an weiteren Perspektiven der Emotionsanalyse dramatischer Texte formuliert werden. Diese Untersuchung gilt dem Dramentext.10 Fokussiert auf die Fragestellung nach den Emotionen in der fiktionalen Spätphase der Französischen Revolution wird die Thematisierung und Präsentation von Emotionen in Danton’s Tod analysiert und interpretiert.11 Die Untersuchung fasst das Verhältnis von Literatur und Emotionen gemäß dem Modell der kodierten Gefühle von Simone Winko auf: Emotionen werden als kodiert begriffen, bilden selbst aber auch einen eigenständigen Kode. »Autor und Leser partizipieren an kulturellen Kodes, die im textbasierten Interaktionsprozeß eine entscheidende Rolle spielen.«12 Nicht anders als bei der Analyse kognitiver Aspekte geht es auch bei der emotionsbezogenen Analyse um »die Zuordnung von Bedeutung zu einer sprachlichen ––––––––– 8 Vgl. zum Stand der Emotionsforschung den Forschungsbericht von Thomas Anz: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung. In: www.literaturkritik.de, Nr. 12, Dez. 2006; 30.1.2007. Gerhard Sauder bedauert z. B. in seiner Rezension zum Sammelband Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung (hrsg. v. Achim Aurnhammer, Dieter Martin, Robert Seidel. Tübingen: Niemeyer 2004) die geringe Beachtung des Dramas (Gerhard Sauder: Empfindsamkeit – kulturwissenschaftlich. In: iasl.uni-muenchen.de, 06.06.2007). 9 Bei meinem Beitrag handelt es sich um eine Vorstudie für ein entsprechendes Projekt. 10 ›Drama‹ verstehe ich als ›poetischen Text, der neben einer Lektüre die Inszenierung auf dem Theater ermöglicht‹. Martin Ottmers: Drama. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Harald Fricke u. a. Bd. 1. Berlin, New York 2007, S. 392–396, hier S. 392. Vgl. dagegen Manfred Pfisters Auffassung vom plurimedialen Status des Dramas: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Fink 112001, S. 24f. 11 Vgl. zu den Begriffen ›Thematisierung‹ und ›Präsentation‹ Simone Winko: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900. Berlin 2003, S. 111–119 (= Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 7). 12 Vgl. ebd., S. 111.
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Größe.«13 Angesichts der heterogenen Terminologie der Emotionsforschung sei darauf hingewiesen, dass auf der Metaebene der Begriff ›Emotion‹, auf der Objektebene die jeweils historischen Begriffe wie ›Gefühl‹, ›Empfindung‹, ›Affekt‹, ›Leidenschaft‹ verwendet werden.14 Die Frage ›was ist eine Emotion?‹ kann gegenwärtig mit der aktuellen Position der Emotionspsychologie beantwortet werden und ist in Bezug auf einzelne Texte jeweils in den historischen Kontext zu stellen.15
I. Historischer Kontext Danton’s Tod ist durch seine metadramatische und intertextuelle Anlage ein besonders komplexes Drama, was die historische wie literarhistorische Kontextualisierung der thematisierten und präsentierten Emotionen sehr erschwert. Immerhin gelten ein Fünftel bis ein Sechstel des Textes als Collage.16 Einen Großteil der Emotionswörter und -bilder des Stücks hat der Autor – das sei der Dramenanalyse vorweggenommen – seinen ––––––––– 13 Ebd. 14 Vgl. auch ebd., S. 110. Voss hält diesen Begriff für »neutraler« als ›Affekte‹ oder ›Leidenschaften‹. Christiane Voss: Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien. Berlin, New York 2004, S. 11 (= Ideen und Argumente). Andreas Kraß hält den Begriff »Emotionalität« dagegen für methodisch fragwürdig, da er »tendenziell mit behavioristischen Modellvorstellungen der Emotionspsychologie besetzt« sei: Neidische Narren. Diskurse der Mißgunst im »Iwein« Hartmanns von Aue und im »Narrenschiff« Sebastian Brants. In: Emotionen. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, hrsg. v. Wolfgang Haubrichs, 35 (2005), H. 138, S. 92– 109, hier S. 104. Die Forschung der frühen Neuzeit neigt insgesamt dazu, die »Anwendbarkeit von in modernen Bezugssystemen stehenden Terminologien« auf ältere (hier: mittelalterliche) Texte infrage zu stellen. Wolfgang Haubrichs: Einleitung. In: ebd., S. 5–8, hier S. 7. Da die Aufklärungsforschung mit Emotionsbegriffen häufig undifferenziert umgeht, sei um der leichteren Trennung von Meta- und Objektebene willen hier ›Emotion‹ der Vorzug vor ›Gefühl‹ gegeben. 15 »Emotion ist eine Episode zeitlicher Synchronisation aller bedeutenden Subsysteme des Organismus, die fünf Komponenten bilden (Kognition, physiologische Regulation, Motivation, motorischer Ausdruck [motor expression] und Monitoring/Gefühl), und die eine Antwort auf die Bewertung eines externalen oder internalen Reizereignisses als bedeutsam für die zentralen Bedürfnisse und Ziele des Organismus darstellt.« Klaus R. Scherer: Neuroscience projections to current debates in emotion psychology. In: Cognition and Emotion 7 (1993), S. 1-41, hier S. 4. Zitiert in der Übersetzung von Otto/Euler/Mandl, die diese Definition als einen der kleinsten gemeinsamen Nenner unter den zahlreichen Definitionen bezeichnen. Jürgen H. Otto / Harald A. Euler / Heinz Mandl (Hrsg.): Emotionspsychologie. Ein Handbuch. Weinheim 2000, S. 15. Zu weiteren Definitionen aus evolutionstheoretischer, psychoanalytischer, psychophysischer (etc.) Perspektive vgl. ebd., S. 45–188. 16 Knapp, S. 99.
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maßgeblichen historiographischen Quellen, Carl Strahlheims Die Geschichte Unserer Zeit (1823–1831) und Louis Adolphe Thiers’ Histoire de la Révolution française (1823–27) entnommen. Strahlheims und Thiers’ Arbeiten zitieren wiederum die Revolutionäre, die ihrerseits in ihren Reden und Briefen rhetorische und literarische Traditionen und Bilder aufgreifen.17 Bei der literarhistorischen Kontextualisierung ist zu berücksichtigen, dass das Drama sich auf zahlreiche literarische Vorbilder bezieht, z. B. Texte von Sappho, Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller und Heine, wobei auch noch die Auseinandersetzung mit den Gattungstraditionen des Geschichtsdramas, der Tragödie und des bürgerlichen Trauerspiels zu bedenken ist.18 Angesichts dieses besonders komplexen Bezugssystems erscheint es sinnvoll, sich dem historischen Emotionskontext des Dramas zunächst von Seite des Stoffes zu nähern und bei Bedarf zu Einzelfragen in der Textanalyse weitere historische Information heranzuziehen. Wenn ein Drama so souverän mit seinem Stoff ›Revolution‹ umgeht, dass an ihm »für die deutsche Literatur der Begriff des Revolutionsdramas gewonnen wurde«,19 stellt sich die Frage, wie ›Revolution‹ im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Bezug auf Emotionen aufgefasst wird. Die Büchner-Forschung hat längst gezeigt, dass es sich bei Danton’s Tod nicht um ein »geschichtliches Gemälde« handelt, wie Büchner selbst angibt.20 Ingo Breuer formuliert: »Das Stück bietet weniger eine Widerspiegelung der historischen Grande Révolution, sondern die Französische Revolution fungiert hier als maßgebliches ›Vor-Bild‹ für Revolutionsvorstellungen im 19. Jahrhundert.«21 Revolutionen gelten traditionell als emotionsbesetzt und seit der Antike als Präzedenzfall für rhetorisches Können. Marcus Tullius Cicero bezeichnet Staats-, Kriegs- und Revolutionsfälle in seinem rhetorischen Hauptwerk De oratore (55 v. Chr.) als casus heroum und damit als loci communes für das Pathos.22 Auch die aktuelle ––––––––– 17 Umfassend in der MBA nachgewiesen, vgl. auch Gerhard Kurz: Guillotinenromantik. Zu Büchners »Dantons Tod«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 110 (1991), S. 550–574, hier S. 551. 18 Vgl. den Editionsbericht der MBA 3.2, S. 159–255. 19 Ulrike Dedner: Deutsche Widerspiele der Französischen Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im selbstbezüglichen Spiel von Goethe bis Dürrenmatt. Tübingen 2003, S. 125. 20 Brief an die Familie vom 5. Mai 1835, MA, S. 300f., hier S. 301. 21 Ingo Breuer: Die Theatralität der Geschichte in Georg Büchners »Danton’s Tod«. In: Der Deutschunterricht 54 (2002), S. 5–13, hier S. 6. 22 Vgl. zu Cicero Klaus Dockhorn: Die Rhetorik als Quelle des vorromantischen Irrationalismus in der Literatur- und Geistesgeschichte. In: Rhetorik. Hrsg. v. Josef Kopperschmidt. Bd. 2. Darmstadt 1991, S. 37–59, hier S. 48f.
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Geschichtsforschung begreift ›Revolution‹ – und gerade die Französische Revolution – als emotionsbesetzt, wenn auch überwiegend zusammenfassend von der ›dynamischen Zuspitzung der politischen Lage‹ gesprochen wird und nur Einzelereignisse durch Emotionen beschrieben werden, z. B. die Septembermassaker von 1792, in denen sich eine »angespannte Mischung aus Angst, Wut und Haß« entlud.23 Dagegen geben die einschlägigen Konversationslexika zur Entstehungszeit des Stücks um 1830 – Büchner hat das Drama 1834/35 geschrieben – unter dem Lemma ›Revolution‹ kaum explizite Hinweise auf Emotionen.24 Andere zeitgenössische Texte legen allerdings durchaus nahe, dass die Revolution um 1830 als emotional besetztes Ereignis betrachtet worden ist. Carl Strahlheim erklärt in Band 5 von Büchners bewährter Quelle Die Geschichte Unserer Zeit zur Revolution: »In einem solchen krampfhaften Zustande folgen sich alle Arten von Gefühlen in der Brust des Menschen. Bald ist er ein Wüthrich, bald gutmüthig; jetzt weint, jetzt mordet er.«25 Bei der Geschichte Unserer Zeit handelt es sich laut Marburger Ausgabe um ein Werk »an der Grenze zwischen Populärwissenschaft, Journalismus und Belletristik«, das sich gelegentlich der »Darstellungsmittel des Schauerromans« bedient.26 Daraus ließe sich jetzt schließen, dass die Französische Revolution also nur bei ›anschaulicher‹ Schilderung als emotionsbesetzt dargestellt wird oder wenn eine individualpsychologische Erklärung der Revolutionsvorgänge gegeben werden soll. Gegen diese These spricht, dass die Real-Encyclopädie im Artikel zum ›Revolutionstribunal‹, der direkt auf ›Revolution‹ folgt, durchaus Emotionen thematisiert: »Es läßt sich denken, welcher ungeheure Spielraum der Bosheit, dem Haß und dem Verfolgungsgeiste durch Errichtung ––––––––– 23 Wolfgang Kruse: Die Französische Revolution. Paderborn u. a. 2005, S. 16, 19 u. 29. 24 Allenfalls aus dem Artikel der Allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie aus dem Jahre 1830 lässt sich implizit auf eine entsprechende Deutung schließen, etwa durch die Hinweise zur amerikanischen Revolution, die durch die »den Colonisten verhaßten Auflage auf den Thee« ausgelöst wurde. Überprüft wurden folgende Konversationslexika: Allgemeine deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexikon). In zehn Bänden. Siebte Originalauflage. Leipzig 1830, hier Bd. 9 (1830), S. 234–236.; Ersch, Johann Samuel / Gruber, Johann Gottfried (Hrsg.): Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und der Künste. 167 Bde. Leipzig 1818–1889; Pierer, H. A. (Hrsg.): Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit oder neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Zweite völlig umgearbeitete Auflage. 34 Bde. Altenburg 1844–1846. 25 UZ V (1827), S. 493. 26 MBA 3.3, S. 92f.
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eines solchen Gerichtshofes gegeben wurde«.27 Während die Real-Encyclopädie also ›Revolution‹ und auch das historische Beispiel ›Französische Revolution‹ weitgehend ohne Hinweis auf Emotionen darstellt, werden dem Revolutionstribunal, das unter der Führung der Robespierreschen Bergpartei stand, ausdrücklich ›Bosheit, Hass und Verfolgungsgeist‹ zugeschrieben. Burghard Dedner hat unter Verweis auf das eben erwähnte Zitat von Strahlheim darauf hingewiesen, dass dem Beginn der Französischen Revolution trotz der Morde und Gewalttaten eine ›Zeit der Unschuld‹ zugebilligt wurde: »Auch liberale oder napoleonisch gesinnte Geschichtsschreiber, Büchners Gewährsleute, waren geneigt, wenigstens den Aufständischen des ersten Jahres ein Moment von Unschuld zuzubilligen. Daß sie zerstörten und mordeten, sei aufgrund ihrer langen Leidensgeschichte verständlich und unvermeidlich gewesen, und die Lust, mit der sie ihre Handlungen ausführten, habe diesen zugleich auch einen Schein von entwaffnender Naivität und komödiantischer Unbekümmertheit verliehen.«28
Strahlheim spricht zwar von ›Gefühlen in der Brust‹, was er aber schildert, fällt zeitgenössisch unter die Kategorie der Affekte, die sich durch ihren plötzlichen Erregungszustand auszeichnen.29 Die Real-Encyclopädie beschreibt hingegen mit ›Bosheit, Hass und Verfolgungsgeist‹ keine kurzfristig erregten Emotionen, sondern ›habituelle Begierden‹, die ihren Träger charakterisieren, d. h. Leidenschaften, die nun durch das Revolutionstribunal über ›Spielraum‹ verfügen.30 Diese Deutung entspricht der Bewertung von Affekten und Leidenschaft um 1830, die auf Kant zurückgeht: »Affecten sind ehrlich und offen, Leidenschaften hinterlistig und versteckt. Wo viel Affect ist, da ist gemeiniglich wenig Leidenschaft.«31 Der Französischen Revolution wird zeitgenössisch also ›ein Moment von Unschuld‹ aufgrund der Affekterregung zugebilligt, ihre Spätphase nach Errichtung des Revolutionstribunals jedoch als Folge ––––––––– 27 Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 9 (1830), S. 236–237. 28 Burghard Dedner: Legitimationen des Schreckens in Georg Büchners Revolutionsdrama. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 343–380, hier S. 352. 29 »AFFECT (anthropologisch), heißt die Fähigkeit des Gemüths, eine solche Lust oder Unlust zu fühlen, welche das Subject derselben ü b e r e i l t, (die Ueberlegung, ob es sich ihm überlassen soll, sehr schwer oder gar unmöglich macht); es heißt aber auch diese Lust oder Unlust selbst ein A f f e c t.« (Encyclopädie der Wissenschaften, s. Anm. 24, Bd. I/2, 1819, S. 135.) 30 Vgl. zur Leidenschaft Anm. 48. 31 Ebd. Kant wird hier nicht namentlich erwähnt. Vgl. dazu J. Lanz: Affekt. In: Historisches Wörterbuch (s. Anm. 2), Bd. 3 (1974), S. 82–95, hier S. 98.
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von negativen Leidenschaften der Revolutionäre der Robespierreschen Bergpartei kritisiert. Die namensgebende Emotion dieser Spätphase, der Schrecken bzw. die Terreur, wird in den einschlägigen Artikeln der Konversationslexika nicht erwähnt. Unter dem Lemma ›Terrorismus‹ widmet die Real-Encyclopädie ihm einen eigenen Artikel: »T e r r o r i s m u s, oder Schreckenssystem, war das im Laufe der franz. Revolution von M a r a t und R o b e s p i e r r e [...] zu Anfange des Märzes 1793 in Ausübung gebrachte tyrannische System, unter dem Vorwande des allgemeinen Besten jeden einzelnen Staatsbürger von Frankreich in der beständigen Furcht zu erhalten, in jedem Augenblicke sein Vermögen, seine Freiheit und sein Leben zu verlieren.«32
Demnach hat der Schrecken System und die ›beständige Furcht‹ der Staatsbürger ist die Reaktion auf dieses System. Zum ›Schrecken‹ hat Eduard Duller einen semantischen Bezug durch einen vom Autor nicht autorisierten Untertitel zu Danton’s Tod hergestellt, so dass Büchners Stück beim ersten Erscheinen im Phönix. Frühlings-Zeitung für Deutschland, dem von Eduard Duller herausgegebenen Tagblatt, Danton’s Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft hieß. Der Begriff ›Schrecken‹ ist mehrfach besetzt: Seine juristische Verwendung bezieht sich seit der Antike auf die »Schrekkung« oder »Territion« Gefangener und bezeichnet im Mittelalter die rechtmäßige Bedrohung als Vorstufe der Folter. Terreur bezeichnet in der vorrevolutionären Phase durchaus eine rechtsmäßige Gewalt des französischen Absolutismus.33 Innerhalb revolutionärer Ideen wird der Begriff dann vor allem von Jean-Paul Marat zum Mittel des Volksaufstandes umgedeutet.34 »›Terror‹ mein[t] in der Französischen Revolution Formen unmittelbarer Gewaltanwendung unter dem Schutz und im Interesse des Staates.«35 Der Begriff wird historisch sowohl von Danton als auch Robespierre gebraucht und als Mittel befürwortet.36 Der oben zitierte Artikel der Real-Encyclopädie zum ›Revolutionstribunal‹ beginnt mit den Worten: »Dieses schreckliche Ge––––––––– 32 Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 11 (1830), S. 119f., hier S. 119. 33 Rudolf Walther: Terror, Terrorismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, Bd. 6 (1990), S. 323–444, hier S. 331– 336. 34 Ebd., S. 338. 35 Ebd., S. 323. 36 Ebd., S. 339–347.
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richt der blutigsten Tyrannei«,37 so dass auch eine adjektivische Verwendung in Zusammenhang mit der Spätphase der Revolution auf das politische System ›Schrecken‹ zurückzuführen ist. Ästhetisch hat sich Schrecken darüber hinaus als besonders probates ästhetisches Mittel zur Erzeugung von Leidenschaften bewährt, das programmatisch in der Theorie des barocken Trauerspiels erörtert wird.38 Diese staatsrechtlichen, historisch-revolutionsrechtlichen bzw. -kritischen und ästhetischen Konzepte gehen auf das Verständnis von »S c h r e c k e n« als Emotion zurück, die um 1830 begriffen wird als »eine heftige, unangenehme Empfindung des Gemüths, von einem plötzlich ergreifenden, besonders von einem Gefahr drohenden Gegenstande veranlaßt.«39 Die in der Real-Encyclopädie erwähnte Furcht des Staatsbürgers als Reaktion auf das System ›Schrecken‹ in der revolutionären Spätphase ist historisch als ›la grande peur‹ in die Frühphase der Französischen Revolution eingegangen. Der Begriff bezieht sich auf die Bauernaufstände in den meisten französischen Provinzen, die aus Furcht vor einer aristokratischen Reaktion erfolgten und von den Revolutionären unter der Führung von Hébert mit großer Brutalität beendet wurden.40 ›Furcht‹ ist also ein historisches Schlagwort der Französischen Revolution, aber nicht der späten Revolutionsphase. Als Reaktion auf ›Schrecken‹ ist sie aber ein impliziter Faktor der konzeptuellen Schreckens-Legitimationen. Auch diese Emotion ist mehrfach kodiert. Als Hemmnis von Verstand und Vernunft ist Furcht im 18. Jahrhundert nachdrücklich zu bekämpfen; Furchtlosigkeit ist ein bürgerliches Ideal der Aufklärung. Die junge Pädagogik arbeitet Ende des 18. Jahrhunderts allerdings auch durchaus mit ›Furcht‹, insbesondere in Bezug auf Sexualität.41 Ästhetisch gilt Furcht seit Lessing als eine zentrale Wirkung der Affektpoetik des Dramas. Er übersetzt den aristotelischen Begriff phobos (Schaudern) nicht wie bisher mit »Schrecken«, sondern mit »Furcht«, wobei er die Furcht als auf sich selbst bezogenes Mitleid des Publikums versteht. Durch Furcht und ––––––––– 37 Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 9 (1830), S. 236. 38 Vgl. Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 1–16. (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert; 10) 39 Vgl. das Lemma ›Schrecken‹ in Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 9 (1830) S. 862f., hier S. 862. 40 Vgl. dazu Georges Lefèbvre: La grande peur de 1789. Paris 1988. 41 Christian Begemann: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1987, S. 208–228, bes. S. 209.
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Mitleid soll der Zuschauer gereinigt und so zum sittlichen Menschen erzogen werden. Psychologisch wird Furcht zeitgenössisch als »lebhafte Besorgnis der Gefahr« begriffen, »dem wir unsere Kraft zum Widerstande nicht gewachsen fühlen [...]. Die Grade der Furcht sind Bangigkeit, Angst, Erschrecken, Grausen und Entsetzen.«42 Furcht wird als »Affekt« und damit als plötzliche Erregung, »Angst und Bangigkeit« dagegen als Gefühl aufgefasst.43 Bei einem Drama über die Revolutionszeit ist demnach zum einen zu bedenken, dass historisch zwischen der emotionalen Besetzung der Revolution und dem Revolutionstribunal deutlich unterschieden wurde. Thematisch zentral ist der Schrecken, der als revolutionäres Konzept die Furcht mitbeinhaltet. Außerdem muss der Status der Emotion als z. B. Affekt, Leidenschaft oder Gefühl und die Wertung dieses Status berücksichtigt werden. Übergeordnete Emotionsbegriffe wie ›Affekt‹, ›Leidenschaft‹ und ›Gefühl‹, die auch in der Dramentheorie gebräuchlich sind, wurden bereits verschiedentlich erwähnt. Da in der Gegenwart unter ihnen etwas anderes verstanden wird als um 1830 und die Schwächen der älteren Emotionsforschung gerade in einer vermeintlich natürlich- bzw. alltagssprachlichen Kompetenz liegen, seien die Grundlagen des zeitgenössischen Emotionsverständnis kurz skizziert. Im Verständnis des 18. Jahrhunderts werden die Affekte durch die Seele organisiert, was die Differenzierung und damit die Bedeutung einzelner Emotionen im Verhältnis zur heutigen Sicht zurückdrängt.44 Diese Auffassung gilt auch zur Entstehungszeit von Danton’s Tod noch als verbindlich, allerdings hat das Gefühl die ehemalige Rolle des Affekts als Oberbegriff weitgehend übernommen. Als Unterinstanz der Seele wird das ›Gemüt‹ verstanden. Dieses ist definiert als die »Stimmung und Richtung des Willens der Seele durch ihr Gefühl«.45 Der Begriff ›Gefühl‹ beschreibt das Bewusstsein des Zustands, in den der Mensch durch die ––––––––– 42 Vgl. das Lemma ›Furcht‹ in Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 4 (1830), S. 466. 43 Vgl. Encyclopädie der Wissenschaften (s. Anm. 24), Bd. I/4 (1820), S. 104–108. 44 Vgl. dazu Ulrike Zeuch: Der Affekt: Tyrann des Ichs oder Befreier zum wahren Selbst? Zur Affektenlehre im Drama und in der Dramentheorie nach 1750. In: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Erika Fischer-Lichte u. Jörg Schönert. Göttingen 1999, S. 69–89. 45 Gemüt »ist die Stimmung und Richtung der Seele durch ihr Gefühl. Dieses beruht auf dem innern Sinn, oder auf dem Vermögen der Seele, ihren Zustand als ihren eignen wahrzunehmen.« Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 4 (1830), S. 584f., hier S. 584.
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Empfindung versetzt worden ist. Unterschieden wird zwischen Lust, Unlust und gemischten, d. h. rührenden Gefühlen.46 Der »Affect« ist die ›Gemütsfähigkeit‹ oder ›Gemütsbewegung‹ zum Gefühl einer Lust oder Unlust, für das der Affektträger keine (oder nur schwer eine) Entscheidung treffen kann.47 Vom Affekt unterschieden wird die Leidenschaft. Diese besteht aus »stark[en], herrschend gewordenen Begierden. [...] Die Leidenschaften reißen den Menschen nicht so außer sich wie die Affecten. Im affectvollen Zustande ist keine Überlegung, keine Wahl möglich: die Vernunft wird von dem Affecte fortgerissen.«48 Immanuel Kant geht 1798 von dem entgegen gesetzten Modell aus: Die »Vernunftvorstellung« sei bei einem Affekt nur kurzzeitig gehemmt, bei einer ›habituellen Leidenschaft‹ dagegen kaum zu beherrschen.49 Im Gegensatz zum späten 18. Jahrhundert werden im frühen 19. Jahrhundert zudem nervenphysiologische Aspekte berücksichtigt.50 Neben der zentralen Organisation der Gefühle durch die Instanz der Seele spielt also die Frage nach den Steuerungsmöglichkeiten des Gefühlslebens – wie schon seit der Antike – eine Rolle, was die Frage nach der Verantwortung für die daraus erwachsenen Handlungen impliziert. Inwieweit das Drama an diesen psychologischen Vorstellungen des frühen 19. Jahrhunderts partizipiert und welche Gewichtung literatur- und gattungsgeschichtliche Aspekte in dem Metadrama haben, wird im Folgenden zu klären sein.
II. Emotionen im Revolutionsdrama: Schrecken und Furcht Bekanntlich distanziert sich das Drama Danton’s Tod von den Dramenformen des 18. Jahrhunderts oder führt sie – je nach Forschungsperspektive – in besonders innovativer Weise fort. Der veränderte Darstellungsmodus gilt auch für die Emotionspräsentation und -thematisierung. Das Stück will jedenfalls nicht, wie das bürgerliche Trauerspiel oder die Dramen des Sturm und Drang, ein neues psychologisches oder ästhetisches Gefühlskonzept thematisieren, sondern die Emotionsstruktur des ––––––––– 46 Ebd., S. 542f., hier S. 543. 47 Encyclopädie der Wissenschaften (s. Anm. 24), Bd. I/2 (1819), S. 135. 48 Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 6 (1830), S. 526. 49 Kant beruft sich in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht auf den Psychologen Johann. Nik. Tetens. Kant’s gesammelte Schriften. Berlin 1907, 1/VII, S. 252f. 50 Besonders in Bezug auf den Affekt, vgl. Encyclopädie der Wissenschaften (s. Anm. 24), Bd. I/1 (1819), S. 79.
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Stücks wird formal und inhaltlich durch seine Eigenschaft als Revolutions- und Metadrama bestimmt. Aus den seltenen Emotionsoberbegriffen – »Leidenschaft« (DT 43, 45), »Empfindung« (DT 19)«, »Eifer« (DT 45), »Gemüt«,51 »Gefühl«52 – lässt sich nicht auf ein psychologisch oder konzeptionell eindeutiges Emotionsverständnis des Stückes schließen, zumal die Figuren, insbesondere Robespierre, in den politischen Privatgesprächen und den öffentlichen Reden mit dem älteren Tugend- und Lasterschema argumentierten. Allerdings fehlt der Begriff ›Affekt‹ im Drama, was – wie auch das Geschichtsbild – auf das frühe 19. Jahrhundert hindeutet, das, wie eingangs erläutert, die Affekte dem Gefühl unterordnet. Folgerungen aus expliziten Aussagen sind in diesem Drama allerdings nur bedingt zulässig. Das zentrale Problem dieses von politischen wie ästhetischen Zitaten durchzogenen Dramas ist die Glaubwürdigkeit und Qualität der Emotionen. Nicht das pathos, sondern das ethos der Figuren erscheint fragwürdig. In der ersten Szene des Stücks fragt Julie nicht ›Liebst Du mich?‹, sondern »Glaubst du an mich?« (DT 4) Darauf und auf das Verhältnis zu den Gattungstraditionen des Stücks wird in Abschnitt V zurückzukommen sein. Angesichts der poetischen Komplexität des Dramas seien hier zunächst einige thematische Konturen gezogen, die vor allem die historisch-politische Ebene betreffen. Die lexikalische Ebene des Stücks macht deutlich, dass die fiktive Welt nahezu ausschließlich von negativen Emotionen bestimmt wird. Das häufigste Emotionswort des Dramas ist – substantiviert – der »Schrecken« (7 x DT 15; 2 x DT 16; 1 x DT 29, 39, 45, 52, 56), mit einigem quantitativen Abstand gefolgt von »Furcht« (DT 6, 45, 68) und »Angst« (DT 19, 41), »Haß« (DT 23, 43), »Zorn« (DT 30) und »Ärger« (DT 23). Hinzu kommt, dass positive Emotionswörter wie »Vergnügen« oder »Spaß« negativiert werden.53 Wenn die sinnliche Marion nicht über »Vergnügen«, »Spaß« und »Freude« (DT 19) sprechen würde, gäbe es keine expliziten positiven Emotionen im Stück. Als positive Begriffe werden keine Gefühle, sondern mit »Muth« (DT 38), »Kühnheit« (4 x DT 54), »Seelengröße« (DT 45) Ideale berufen, die dem ––––––––– 51 Camille spricht vom »menschlichen Gemüth« (DT 37); St. Just betont die »Bewegung der Gemüther« (DT 58). 52 Camille: »Gefühlchen« (DT 37), Danton: »Gefühl des Bleibens« (DT 39) und Payne: »trauriges Gefühl« (DT 50). 53 Vgl. »elende[s] Vergnüge[n]« (DT 24); »Spaß verd[e]rb[en]« (DT 25); »die Kühnheit ist dem Verbrechen [...] eigen« (DT 54).
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traditionellen Tugendbegriff des Helden des Geschichtsdramas entsprechen. Auch die Genussfreudigkeit der Gemäßigten, allen voran Danton, verweist weniger auf ein physisch oder psychisch befriedigtes Gefühl als auf das Konzept des Epikurismus. Es wird zwar häufig thematisiert, aber – mit Ausnahme der rasch scheiternden Intimität mit Marion – nicht präsentiert. Und bei allem »Spaß«, der gemacht wird und der sich fast ausschließlich auf Sexualkomik beschränkt, wird das Publikum kaum den Eindruck gewinnen, dass die Figuren dieses Stücks Spaß haben. Denn gemäß der historischen Besetzung des Stoffs ›Französische Revolution‹ ist die häufigste explizit genannte Emotion des Dramas der »Schrecken«. Er erscheint in unterschiedlicher Form immerhin elfmal, zudem einmal auch in der französischen Form als »terreur« (DT 22) aufgeführt. Wie bereits erläutert, kann ›Schrecken‹ als staatsrechtliches Konzept, als historische Bezugnahme, als ästhetische Qualität und als Empfindung kodiert sein. Schrecken ist als politische Tugendrede Robespierres vorhanden, als rhetorische Strategie Dantons in der Verhandlung vor dem Revolutionstribunal und als politische Strategie im privaten und öffentlichen Raum. Schrecken ist eine Strategie der Täter: Schrecken wird angetan oder der Schrecken anderer wird beschrieben. Niemand bekennt im Stück ausdrücklich, er sei erschrocken. Das Heraufbeschwören des Schreckens betont die erhabene Dimension des Dramenstoffes, aber auch die Theatralität der historischen wie dramatisch dargestellten Revolution. Schrecken dominiert als politisch-rhetorische Strategie, deren sich die Besitzer des Schreckenssymbols der Revolution, der im Stück unsichtbar bleibenden Guillotine, ebenso bedienen wie ihre gemäßigte Konkurrenz, und nicht als psycho-physische Emotion. Trotz der expliziten Rhetorik ist der ›Schrecken‹ ein psychologisch glaubwürdiger Faktor in der Emotionsstruktur des Stücks. Denn die häufigste implizite Emotion des Stücks ist entsprechend die »Furcht« oder auch die »Angst«, die – wie in Abschnitt I erläutert – zeitgenössisch als zweiter Grad der Furcht definiert wird. Wenn Furcht also die implizite Grundemotion des Stücks ist, so handelt es sich zum einen um die im historischen Kontext korrekte Reaktion im System ›Schrecken‹. Für das Drama bedeutet dies eine moralische Bankrotterklärung der Revolution, was die Aussage des Revolutionsdramas nachhaltig vertieft. Die implizite Präsentation von Furcht während des Stücks wird von zwei expliziten Aussagen eingerahmt, welche die Gewalttaten der Schreckensherrschaft als Ergebnis der Furcht der Täter deutet. So erklärt 15
der Deputierte Philippeau im ersten Revolutionsgespräch mit Danton die Furcht zur Ursache der kontinuierlichen Revolutionsmorde: »Wir waren im Irrthum, man hat die Hebertisten nur auf’s Schaffott geschickt, weil sie nicht systematisch genug verfuhren, vielleicht auch weil die Decemvirn sich verloren glaubten wenn es nur eine Woche Männer gegeben hätte, die man mehr fürchtete, als sie.« (DT 6)
Und zu Beginn des vierten Aktes erklärt Julie den Mord an Danton ausdrücklich ebenso: »Sie tödten ihn aus Furcht.« (DT 68) Im vierten Akt steht den Gemäßigten in der Conciergerie bereits der Schweiß der ›Todesfurcht‹ auf der Stirn; sie sind verloren. ›Schweiß‹ und Zittern‹ sind die einzigen physiologischen Elemente der Emotionsdarstellung im Stück; nervenphysiologische Aspekte werden entgegen dem zeitgenössischen Wissensstand nicht berücksichtigt.54 Die Furcht wird durch implizite Hinweise präsentiert, z. B. von Legendre, der nach Begreifen der Gefahr sofort nach der Führungspersönlichkeit fragt: »Wo ist Danton?« (DT 18) und Lacroix, der die kommende Bedrohung formuliert: »Es [also: das Volk] schlägt die Nachzügler todt.« (DT 23) Dabei ist festzuhalten, dass sich die (gemäßigten) Revolutionäre in dieser Spätphase der Revolution fürchten, nicht das Volk; darauf wird in Abschnitt IV zurückzukommen sein. Im Gegensatz zum rhetorisch-politischen Schrecken erscheint Furcht hier in erster Linie als psycho-physische Emotion, die nahezu ausschließlich durch sprachliche Interaktion präsentiert wird. Das Gegenmittel der Furcht ist das Lachen, das immer wieder durch ›Spaß‹ berufen wird. Die heroische Haltung der gemäßigten Revolutionäre liegt nicht in ihrem politischen Mut, sondern in ihrer Bereitschaft, ihre Furcht durch Witze zu kompensieren. Vom ersten bis zum dritten Akt übertönen die Deputierten ihre Furcht durch antikisierendes Sexualgewitzel. Sexualität erscheint im Drama nicht als furchtfreier Ort, jedenfalls nicht auf der Seite der männlichen Protagonisten. Leitmotiv der Witze gegenüber den Prostituierten ist die Angst vor Syphilis.55 Da die Spätaufklärung mit Furcht zu Sexualdisziplin zu erziehen versuchte – wie in Abschnitt I erläutert –, ist zu vermuten, dass es sich hier sowohl in Bezug auf Büchners Quellen als auch in Bezug auf Büchners Umsetzung um einen Reflex dieser Strategie handelt. Diese ästhetische Grenzüber––––––––– 54 Vgl. dagegen Dantons Bemerkung über »Gedanken«, die man »einander aus den Hirnfasern zerren« müsste (DT 4). 55 Vgl. dazu Anja Schonlau: Syphilis in der Literatur. Über Ästhetik, Moral, Genie und Medizin 1880–2000. Würzburg 2005, S. 77–80.
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schreitung ist zugleich Ausdruck wie Dekonstruktion eines heroischen Rollenspiels. Die blumig-obszöne Sexualkomik der Revolutionäre präsentiert ihre Furcht ebenso wie die metaphernfreien Dialoge, welche die Bedrohung thematisieren.
III. Emotionen als politisch-rhetorische Strategie Die politischen Handlungen dieser Revolutionsphase erweisen sich im Stück als eine Frage der Emotionserzeugung: Albert Meier hat bereits 1987 festgestellt: »So führt auch bei Büchner die psychologische Problematisierung der Revolutionäre durch Darstellung ihres Verhaltens im privaten Bereich (Frauen, Freunde, Träume) zur Entschleierung des politischen Handelns als primär affektbestimmt«.56 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass aus dem ›affektbestimmten‹ Handeln im privaten Raum bewusste Strategien der Emotionslenkung im politischen Handeln erwachsen. Auffallend häufig werden im Drama Emotionsstrategien formuliert oder bereits auf der Bühne präsentierte Ereignisse noch einmal dem Zuschauer in einer knappen, die Emotionen betonenden Form präsentiert. Die Beschreibung von Ereignissen in Dialogen dient in der Dramentradition vorrangig dazu, nicht darstellbare – also zu aufwendige oder ästhetisch nicht zumutbare – Ereignisse des Handlungsverlaufs dem Publikum mitzuteilen. Büchner nutzt dieses Verfahren hier, um erfolgreiche rhetorische Strategien der Emotionalisierung der großen PathosRedner durch eine kritische, zumeist witzelnde Instanz aufzubrechen. So beschreibt Lacroix die Ereignisse um die Lyoner Proklamation im Jakobinerclub und Robespierres große Rede, die das Publikum gerade in Szene I,3 gesehen hat, in Szene I,5 für Danton noch einmal. Der wesentliche Informationswert für das Publikum besteht in der indirekten Beschreibung der individuellen Strategien der Emotionalisierung durch antikisierende Formeln. Die Lyoner »machte[n] ein Gesicht, als wollte[n sie] sagen: Paetus es schmerzt nicht!« (DT 22) Und Robespierres Rede desavouiert Lacroix mit der Beschreibung, dieser habe »auf der Tribune« herumgefingert und gesagt, »die Tugend muß durch den Schrecken herrschen. Die Phrase machte mir Halsweh.« (DT 22) Die Kritik richtet sich gegen die mangelnde emotionale Authentizität, das ethos des Redners – die Strategie wird zur Phrase. ––––––––– 56 Albert Meier: »Dantons Tod« in der Tradition des Politischen Trauerspiels. In: Dedner/Oesterle, S. 132–145, hier S. 140.
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Sowohl Danton als auch Robespierre betreiben bewusst Strategien der Emotionalisierung. Dabei sind öffentliche und private Strategien zu unterscheiden. Danton will Robespierre »ärgern« (DT 103), was er tut, indem er im privaten Rahmen dessen Tugendbegriff infrage stellt und Schuldbewusstsein erzeugt. Die zentrale Revolutions-Emotion ›Schrecken‹ bleibt dem öffentlichen Auftritt vorbehalten. Eine Szene nach Lacroix’ Bericht erklärt Robespierre die Strategie seines Verhaltens noch einmal gegenüber St. Just: »Ich wollte sie schrecken.« (DT 29) Das Drama führt zuerst das rhetorische Ereignis vor, dann die Beschreibung eines kritischen Zuschauers und noch einmal die Beschreibung der Strategie des Redners. Es ist also davon auszugehen, dass es in dem Stück über die historischen Ereignisse hinaus um die Darstellung von Emotionsstrategien geht, die in der Durchführung der Reden zwar affektbesetzt sind, bei denen es sich aber nicht um ungeplante Spontanhandlungen handelt. Die Inszenierung der Rhetorik wird vorgeführt. Nicht nur die strengen Tugendwächter, auch die späteren Opfer der gemäßigten Fraktion verfolgen diese Strategie bei Bedarf. Lacroix gibt Danton im Gefängnis genaue Anweisungen zu seiner rhetorischen Taktik: »Schreie über die Tyrannei der Decemvirn, sprich von Dolchen, rufe Brutus an, dann wirst Du die Tribünen erschrecken und selbst die um dich sammeln, die man als Mitschuldige Heberts bedroht. Du mußt dich deinem Zorn überlassen.« (DT 30)
Dass »der Redner, um zu erregen, auch selbst wirklich erregt sein müsse, ist ein Gemeinplatz der Rhetorik«.57 Genauso wenig wie bei Robespierre geht es also um Sachbeweise, sondern immer um das movere und concitare, das Bewegen und Aufstacheln des Publikums. Und genau dieses rhetorische Vorgehen erwartet Herrmann während der Vorbereitungen für den Prozess gegen Danton: »Er wird die Geschwornen erschrecken« (DT 52). Diese Annahme ist der Anlass für die verbrecherische Geschworenenintrige, die dem Revolutionstribunal auch die letzte juristische Legitimation nimmt. Das Vertrauen in die rhetorische Begabung Dantons geht auf. Im Kerker (III,5) liest Dillon eine Notiz, die Dantons Verteidigung schildert: »Danton hat das Tribunal erschreckt, die Geschwornen schwanken, die Zuhörer murrten. Der Zudrang war außerordentlich.« (DT 56) Auch Dillon rechnet mit der Furcht, die im Drama die Reaktion ––––––––– 57 Dockhorn 1991 (s. Anm. 22), S. 41.
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auf Schrecken darstellt. Seine Strategie zur Befreiung Dantons lautet: »Die Furcht wird sie vereinigen.« (DT 57) Und mit »sie« sind hier Dantons Parteigänger gemeint, die nicht mit der Masse des Volkes gleichzusetzen sind. Die politisch-rhetorische Strategie aller Revolutionäre ist also der Schrecken, der – soweit es sich um emotional leeres Pathos handelt – regelmäßig in seiner Theatralität vorgeführt wird.
IV. Volksemotionen: Hunger und Hass In welchem Verhältnis stehen der explizite, politisch-rhetorische Schrecken und die durch (Sexual-)Späße zu bannende, implizit präsentierte Furcht der Revolutionäre zu den Emotionen des Volkes? Danton’s Tod ist einer der seltenen Texte, in denen das arme Volk keine Furcht kennt. Nur wer in das Revolutionstreiben eingebunden wird wie Simon oder die Geschworenen, fürchtet sich auch. Das Volk hat keine Furcht, denn das Volk hat Hunger. Hunger gehört als »Gefühl des Bedürfnisses der Nahrung« zu den sogenannten ›physischen Gefühlen‹, die in der Wertung zeitgenössisch weit unter den psychischen Gefühlen stehen.58 Es sind vor allem weibliche Nebenfiguren, wie Simons Frau, die Prostituierten Rosalie und Adelaide und das »Weib mit Kindern« am Revolutionsplatz (DT 78), die den Hunger artikulieren. Die zentralen Figuren des Dramas leiden dagegen keinen Hunger. Wovon lebt die sinnliche Marion, wenn Rosalie und Adelaide mehrfach als Hungernde angesprochen werden und weibliche Hungerprostitution der Anlass für den ersten Vaterzorn des Stückes ist? Der tugendhafte Robespierre hat zwar keine Reichtümer gesammelt, aber Hunger leidet auch er nicht. Er leidet unter Einsamkeit – »ich bin allein« – und der »Quaal des Henkers« (DT 29). Im Vergleich zum Hunger erscheinen diese negativen Gefühle im zweifachen Sinne als Luxusemotionen – verfeinert und vergleichsweise bequem. Allerdings gilt auch für das Stück: Die Hungerleider sterben nicht. Das Verhältnis des Volkes zum Luxus der Revolutionäre ist vor dem Hintergrund des eigenen Hungers der zentrale Gegenstand, der die Emotionen im Stück aufwühlt. Die erste Volksszene mit dem Souffleur Simon und seiner Frau parodiert den väterlichen Zorn, wie ihn z. B. Schiller in Kabale und Liebe in stolzer Verteidigung bürgerlicher Werte inszeniert hat. ›Zorn‹ ist »der Verdruß als Affect« und wird »am heftig––––––––– 58 Real-Encyclopädie (s. Anm. 24), Bd. 5 (1830), S. 440f.
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sten durch Beleidigung und Widerspruch« veranlasst.59 Hier handelt es sich – die Tochter prostituiert sich – wohl um ›Beleidigung‹ und ›Widerspruch‹; auch ›Schmerz‹ wäre als Parallelemotion denkbar. Dieser kulturell und dramengeschichtlich kodierte, private Affekt geht dramaturgisch in allgemeinen Volkszorn über, als »Bürger« den Hunger des Volkes rhetorisch dem Luxus der Reichen bzw. der Revolutionäre gegenüberstellen. Hier lässt sich aber nicht nur Zorn feststellen. Danton sagt an späterer Stelle über das Volk: »Es haßt die Genießenden, wie ein Eunuch die Männer.« (DT 23) ›Hass‹ bezeichnet zeitgenössisch die oberste Gefühlsklasse der Abneigungen; er ist das Gegenteil der Liebe. Es handelt sich um ein ›bloßes Gefühl‹, das bei Aufregung auch ein Affekt sein kann und mit Zorn verbunden ist.60 Weiterhin ist er ›begründet im Trieb der Selbsterhaltung oder Selbstverteidigung‹.61 Dieser Hinweis auf Selbsterhaltung als Grundlage von Hass erscheint angesichts des Hungers des Volkes besonders schlüssig. Der von Danton behauptete Hass auf die Genießer kann über den expliziten Hinweis hinaus auf das gesamte Stück übertragen werden, denn das Volk hasst die des Luxus verdächtigen Revolutionäre. In der angesprochenen Szene war der Zorn des Vaters noch ohne Hass; der Zorn des Volkes, der diese Emotion dramaturgisch aufgreift, ist mit Hass vermischt. Es ist dieser Hass, der als Affekt zum Beinah-Laternenmord des jungen Herren mit Schnupftuch führt. Diese Affekterregung kanalisiert Robespierre, der Meister der Emotionsstrategien, indem er die Menge in den Jakobinerclub schickt. Dieser Hass ist dafür verantwortlich, dass Danton trotz seiner rhetorisch so erfolgreichen Verteidigungsrede vom Volk verurteilt wird. Am Platz vor dem Justizpalast bringt ein anonymer zweiter Bürger die entscheidende Argumentation, indem er das ethos, also den Charakter und die Lebensumstände der Parteien Robespierre und Danton, in die rhetorische Waagschale wirft. »Danton hat schöne Kleider, Danton hat ein schönes Haus, Danton hat eine schöne Frau, er badet sich in Burgunder, ißt das Wildpret von silbernen Tellern und schläft bey euern Weibern und Töchtern, wenn er betrunken ist.« (DT 67)
––––––––– 59 Ebd., Bd. 12 (1830), S. 548f., hier S. 548. 60 Vgl. Encyclopädie der Wissenschaften (s. Anm. 24), Bd. II/3 (1828), S. 89f. 61 Ebd.
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Hier wird der Volkshass auf den luxuriös lebenden Danton durch eine rhetorische Aufzählung geweckt, deren Aufbau deutlich an das 10. mosaische Gebot erinnert: »Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses. Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes, noch seines Knechts, noch seiner Magd, noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles, das dein Nächster hat.«62 Das 10. Gebot wendet sich gegen den Neid. Diese Rhetorik erzeugt neben dem Hass des Volkes auch ein Gefühl von Neid, und dies in einer umso stärkeren affektiven Qualität, da vom Redner unmittelbar daraufhin hingewiesen wird, dass Danton selbst gegen das Gebot vom Nichtbegehren verstoßen und sich entsprechende Übergriffe auf ›des Nächsten Weib‹ erlaubt hat. Robespierre dagegen, so suggeriert der Redner durch eine Argumentation über das Bekannte im ethos, hat nichts. »Ihr kennt ihn Alle!« Die rhetorische Strategie, die Neid und Volkshass hervorgerufen hat, besiegelt Dantons Tod. Büchners Drama beruht auf einem Emotionsschema, das sich recht klar klassifizieren lässt: Revolutionäre: Schrecken – Furcht; Volk: Hass – Hunger (physisch). Auf dieser Grundlage werden auf der Peripetie des Stückes – soweit sich die traditionellen Begriffe der Dramentheorie hier anwenden lassen – die Emotionen des Volkes durch eine rhetorische Strategie manipuliert, so dass negative gemischte Affekte die Tat auslösen, die Gefangennahme Dantons.
V. Präsentation und Funktion der Emotionen: Das Metadrama Nachdem das grundlegende Emotionsschema des Stücks skizziert wurde, ist auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, welche Funktion Emotionen in dem als Metadrama angelegten Stück insgesamt haben und wie sie – angesichts ihrer Rolle in der Dramentradition des 18. Jahrhunderts – präsentiert werden. Wenn sich auch eine Emotionsstruktur des Dramas relativ einfach durch die beiden Emotionspole der politischen Klassen ›Revolutionäre‹ – ›Volk‹ skizzieren lässt, so bedeutet dies nicht, dass Emotionen in dem Drama ausführlich thematisiert werden. Im Verhältnis zu Lessings und Schillers Stücken gibt Büchners Drama sehr wenige explizite Hinweise ––––––––– 62 2. Mose 20,17. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift [...] nach der Uebersetzung Martin Luthers. Bearb. u. hrsg. v. Nicolaus Funk. Altona: J. F. Hammerich 1815, S. 75.
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auf Emotionen.63 Natürlich können weder das Konzept und die Darstellung der vermischten Empfindungen des bürgerlichen Trauerspiels noch die großen Leidenschaften des Sturm und Drang-Dramas für eine Konzeption wie Danton’s Tod eine ungebrochene Rolle spielen. Charakteristisch dafür ist die auffallende Zurücknahme der Emotionen in den Regieanweisungen. Thematisiert werden in ihnen fast ausschließlich die Emotionen des Publikums in den Redner-Szenen.64 Die Dialoge des Dramas enthalten zahlreiche indirekte Regiebemerkungen zu Emotionen. Diese Präsentationsform unterstützt die Kommunikationsprobleme der Figuren. Wenn die Bestimmung von Emotionen von den Regieanweisungen in die Dialoge des Dramas – literaturgeschichtlich gesehen – zurückverlagert wird, verlieren sie an Verlässlichkeit, da sie der Deutung der Figuren überlassen bleiben und diese Figuren – ganz im Gegensatz z. B. zum Personal des Gottschedschen Vernunftdramas – in ihren Äußerungen über Emotionen nicht zuverlässig sind. Es wurde bereits angesprochen, dass das Problem der Figuren in der Aufrichtigkeit ihrer Gefühle liegt, im ethos. Dies hängt mit der Eigenschaft des Stücks als Metadrama zusammen, mit der Theatralität der Revolution. Darüber hinaus sind es die zahlreichen Anspielungen auf ältere Gattungen, die aus den Figuren auch emotionale Versager in ihren Rollen machen. Der geschichtliche Stoff ›Revolution‹ erfordert traditionell Heroen, die diese Revolutionäre gerade nicht sind. Und sie sind keine erfolgreichen Helden, weil ihnen die ungebrochene Leidenschaft fehlt, welche die Hauptfiguren beispielsweise im Geschichtsdrama Johann Elias Schlegels oder auch in Schillers und Goethes Sturm und Drang-Dramen antreibt. So verweigert sich Danton dem Pathos der Revolution, bis es zu spät ist. Seine Leidenschaften sind nicht politischheroischer, sondern sexuell-ästhetischer Natur. Robespierre reklamiert zwar barocke Heldentugenden für sich, aber sein Pathos ist eine politi––––––––– 63 Vgl. zu Emotionen in Regieanweisungen des 18. Jahrhunderts: »Umgekehrt erklärt sich die rapide Zunahme der Bühnenanweisungen im 18. Jh. aus dem Bewußtsein, daß das damals neu entdeckte und von der Vorherrschaft der Vernunft befreite Gefühlsleben mit Worten letztlich nicht zu fassen sei. Hinzu kommt das Bemühen, die bisherige Festlegung auf jeweils eine Affektstufe bzw. Stillage aufzugeben und wechselnde Stimmungen oder gar ›vermischte Empfindungen‹ zu gestalten.« Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart, Weimar 62004, S. 52. 64 Z. B. »Beifall und verwirrtes Geschrei« (DT 13); »heftige Bewegung in der Versammlung« (DT 14); »Allgemeiner Beifall« (DT 17); auch »Langer, anhaltender Beyfall. Einige Mitglieder erheben sich im Enthusiasmus« (DT 47). Eine Ausnahme bilden »verlegen« (DT 36) und »lacht« (DT 35).
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sche Strategie und er ist einsam. Dabei gewinnt er das Revolutionsspiel (vorläufig), weil seine politische Leidenschaft unreflektierter und damit ungebrochener ist als diejenige Dantons. Authentisch sind nämlich nicht die Leidenschaften der Revolutionäre, sondern ihre Stimmungen.65 Bereits die Eingangsszene des Stücks antizipiert das negative Ende des Stücks durch Dantons morbide Liebeserklärung an Julie. Und diese ›trübe‹ Stimmung des Stücks wird von den eintretenden Revolutionären sofort durch antikisierende Bilder thematisiert. Dabei ist die Stimmung nur authentisch, solange sie ›trüb‹ bleibt – die durch Volkslieder erzeugte Idylle ist unzuverlässig, die Lieder singt der Henker. Diese Betonung der Stimmung in der Eingangsszene deutet auf die Emotionsstruktur der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels hin, wie z. B. der Prinz eingangs in Lessings Emilia Galotti vorführt. Auch in Danton’s Tod durchdringt das Private das Politische. Aber die hier zu erwartenden Elemente werden gebrochen: Vaterzorn à la Kabale und Liebe ist lächerlich. Der Volkszorn will einen Vertreter der Empfindsamkeit (Seufzer und Taschentuch) an die Laterne hängen. Anspielungen auf die Empfindsamkeit (Robespierre, St. Just) sind thematisch angelegt; die Figuren seufzen nicht und sprechen über Empfindungen, sondern sie tauschen Sentenzen aus. Zwar steht wie im bürgerlichen Trauerspiel auch hier der rührende (Frei-)Tod einer unschuldigen Frau am Ende, aber es ist nicht die Hauptfigur, die stirbt. Die Frauen sterben ganz bürgerlich an der Liebe, die Männer jedoch heroisch an der Politik. Gleichzeitig zum bürgerlichen Trauerspiel zitiert und bricht das Drama auch die Emotionsstruktur des heroischen Schauspiels oder Geschichtsdramas. Mit Tugend und Laster wird zwar das ältere Normenschema aufgerufen, das der Konzeption ›Gemischte Gefühle‹ vorausgeht, aber das Pathos ist leer und die Werte sind politische Strategie. Furcht und Schrecken stellen zwar zentrale Faktoren des barocken Trauerspiels dar, werden hier aber regelmäßig als politische Strategie vorgeführt. Die Figuren erweisen sich zudem in ihren Selbstaussagen über Emotionen als unzuverlässig, da sie als theatrale Politiker agieren. Im Verhältnis zu den Dramen des Sturm und Drang (z. B. Schillers Räuber, Goethes Götz) sind die Helden kraftlos, nicht authentisch genug und ––––––––– 65 Der Begriff ›Stimmung‹ wird seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts u. a. als »haltung, disposition, anwandlung des gemüts« bezeichnet. Deutsches Wörterbuch von Jacob u. Wilhelm Grimm. Leipzig: Hirzel 1854–1960, Bd. 18, Sp. 3127–3137, hier Sp. 3131.
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zu müde. Natur ist hier ein Konzept und keine Energiequelle, Stimmungen überwiegen die Leidenschaften. Nicht umfassend berücksichtigt wurden bei der Emotionsanalyse die inneren und äußeren Kommunikationsverhältnisse des Dramas, was weitergehende Untersuchungen leisten sollten.66 Rhetorische Analysekategorien haben sich hier zudem für die Emotionsanalyse in einer Weise als fruchtbar erwiesen, die eine Beschränkung auf dezidiert rhetorische Drama als unnötig erscheinen lässt. Status und Wertung der Emotionen sind für Büchners Drama sowohl in seiner Eigenschaft als Meta- als auch als Revolutionsdrama von zentraler Bedeutung. Weil Affekte und Leidenschaften als rhetorisch vorgeführt werden, partizipiert das Drama gerade nicht an den Positionen der Psychologie des frühen 19. Jahrhunderts, die den Verlust der Steuerungsmöglichkeiten des Gefühlsleben durch starke Affekte und Leidenschaften erörtern und damit eine traditionelle Perspektive einnehmen, die auch schon die Antike kennt. Das Drama bezieht sich vielmehr auf jüngere Positionen zum gestörten Seelenleben. Die Figuren scheitern an der Verantwortung für ihre Handlungen nicht durch zu starke oder fehlgerichtete Emotionen, sondern gerade durch die mangelnde Intensität. Gleichzeitig funktioniert bei den Akteuren in Danton’s Tod keine gattungsspezifische Emotionskonvention mehr. Insofern hat Camille vollkommen recht, es handelt sich eben um »Gefühlchen« und ›Sentenzen‹ – nicht um die großen Leidenschaften, die eine Revolution erfordert.
––––––––– 66 Vgl. dazu Pfister 2001 (s. Anm. 10).
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Eros und Gewalt in Danton’s Tod Von Christian Milz (Frankfurt a. M.) In einem schmalen Œuvre von drei Dramen und einer Erzählung finden sich in Verbindung mit der Liebe: drei Selbstmorde, zwei Selbstmordversuche, ein potentieller Selbstmord, ein Mord sowie drei Wahnsinnige. Diese Bilanz stammt von Reinhold Grimm, der 1979 in seinem Aufsatz Cœur und Carreau1 mit Bezug auf Danton’s Tod weiter feststellt, »daß die Thematik der Liebe hier nicht minder beherrschend und wichtig ist als diejenige der Revolution«.2 Grimm nennt im gleichen Atemzug die von ihm behauptete Gleichrangigkeit von Eros und politischem Diskurs »Ketzerei«, womit er sowohl auf die gelegentliche Überakzentuierung des Politisch-Sozialen in den Deutungen des Werks anspielt als auch auf das Sakrileg, diesen Diskurs nunmehr mit dem Erotischen zu vereinen. »Büchner war Erotiker u n d Revolutionär, war erotischer Revolutionär und revolutionärer Erotiker«3 lautet das Fazit im Zeitgeist der 68er – an das diese Untersuchung anknüpft, allerdings aus der Distanz der Jahrzehnte mit einem etwas nüchterneren Blick auf den Diskurs von Eros und Gewalt. Denn die Eingangsbilanz von Cœur und Carreau spricht wohl kaum für »die leibhafte Utopie, die konkrete Praxis erotischer Befreiung«4 und die »soziale und sexuelle Umwälzung«,5 sondern im Gegenteil für ein eher tragisches Verhältnis von Eros und Gewalt. Auch das sieht Reinhold Grimm durchaus, denn er konstatiert zutreffend die durch Büchner »bewußt und mit Absicht« hergestellte Einheit von »Wiege, Schoß und Grab«.6 Allerdings steht dahinter weniger das Konzept einer »maßlosen ––––––––– 1 Reinhold Grimm: Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner. In: GB I/II, S. 299–326. Grimms Zusammenstellung wurde um den potentiellen Selbstmord von Danton »ich liebe dich wie das Grab« (I,1), »Ich kokettire mit dem Tod« (II,4) usw. und Lenz’ Selbstmordversuch ergänzt. 2 Ebd., S. 304. 3 Ebd., S. 318. 4 Ebd., S. 312. 5 Ebd., S. 313. 6 Ebd., S. 304.
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Verherrlichung der Liebe«,7 sondern vielmehr das eines Kreislaufs von Geburt und Tod. Prototypisch für die Fehlinterpretation Reinhold Grimms ist die lakonische Kategorisierung des ersten Selbstmordes in Danton’s Tod als »Dummejungenstreich«.8 In einem ähnlich oberflächlichen Tenor handelt Inge Rippmann den Suizid des enttäuschten Liebhabers in ihrem Artikel in dem Band Erotik und Sexualität im Vormärz9 entgegen dem Titel Die ersäuften Liebhaber in einer Fußnote als »Kurzschlußreaktion«10 ab. Eine adäquate Beachtung der Aussage des jungen Menschen, »er hätte fast einen dummen Streich gemacht, ich solle mein Kleid nur behalten und es brauchen, es würde sich schon von selbst abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit verderben, es wär doch das Einzige, was ich hätte« (I,5),11
kurz nach dem gerade noch unterdrückten Tötungsimpuls gegen die untreue Geliebte kommt dagegen nicht an der Feststellung vorbei, dass der sich anschließende Selbstmord auf der kalkulierten Umkehrung der Sequenz von Zeugung, Geburt und Tod beruht. Dem zugrunde liegenden Algorithmus gebührt einige Aufmerksamkeit, denn in ihm verbirgt sich der Quellcode des dramatischen Ablaufs in Danton’s Tod. Der Tod des jungen Menschen, der, wie Grimm anführt, »lediglich mittelbar und zudem ausgesprochen stimmungshaft geschildert wird«,12 manifestiert musterhaft die Dantonsche Programmatik der Identität von Schoß und Grab. Die feuchten Locken und die bleiche, mondbeschienene Stirn, die vorauslaufenden Kinder, der Korb, der unter dem Fenster vorbeigetragen wird, symbolisieren neugeborenes Leben. Danach erst folgt das: »er hatte sich ersäuft«, was bei einer Geliebten, die sich mit einem verschlingenden Meer vergleicht, unterschwellig transzendente Erfüllung suggeriert. Entsprechend der Gleichung Schoß = Grab bzw. deren Umkehrung Grab = Schoß symbolisiert das Ersäufen letztendlich die zeitenthobene Vereinigung des Liebhabers mit seiner Melusine in einer umfassenderen Dimension des Feuchten. Die Metaphorisie––––––––– 7 Ebd., S. 306. 8 Ebd., S. 311. 9 Inge Rippmann: Die ersäuften Liebhaber. Zu einem Motiv zweier Werke aus dem Jahre 1835. In: Forum Vormärz Forschung. Jahrbuch 1999. »Emanzipation des Fleisches«. Erotik und Sexualität im Vormärz. Bielefeld 1999, S. 37–65. 10 Ebd., S. 57, Anm. 46. 11 Georg Büchner: Danton’s Tod. MBA 3.2. Darmstadt 2000, S. 19. 12 Grimm (s. Anm. 1), S. 308.
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rung von Julies Selbstmord gehorcht dem gleichen, hier noch deutlicher in Erscheinung tretenden Konzept. Der Tod wird mit dem kosmischen Bild des Laufs der Erde um die Sonne verglichen, und auch das Meersymbol begegnet dem Publikum in der »Fluth des Aethers« wieder. Die Analogie von Tod, Sonnenuntergang, Abend sowie Schlaf impliziert die von Wiedergeburt, Sonnenaufgang, Morgen und Erwachen: »Die Sonne ist hinunter. Der Erde Züge waren so scharf in ihrem Licht, doch jezt ist ihr Gesicht so still und ernst wie einer Sterbenden. Wie schön das Abendlicht ihr um Stirn und Wangen spielt. Stets bleicher und bleicher wird sie, wie eine Leiche treibt sie abwärts in der Fluth des Aethers; will denn kein Arm sie bey den goldnen Locken fassen und aus dem Strom sie ziehen und sie begraben? Ich gehe leise. Ich küsse sie nicht, daß kein Hauch, kein Seufzer sie aus dem Schlummer wecke. Schlafe, schlafe.« (IV,6)
Der Algorithmus der exemplarischen Selbstvernichtung in der Marionszene stellt sich folgendermaßen dar: Marions Liebhaber steuert die Richtung seines Affekts, indem er dessen ursprüngliches Ziel, die physische Schädigung des Lustobjektes, einer allgemeineren Instanz, der Vergänglichkeit, also der Zeit anheimstellt. Das Umsteuern auf dem Höhepunkt des Affektes kommt einer momentanen Außerkraftsetzung von naturgesetzlichen Abläufen gleich,13 des Weiteren aber wird die emotionale Qualität der Beziehung des jungen Menschen zu seiner Geliebten durch die Selbstvernichtung – im Gegensatz zu dem am Liebesobjekt ausagierten Tötungsaffekt – bewahrt bzw. intensiviert und veredelt. Das unbefriedigte Begehren sucht sich eine sublime Kompensation, so wie ein Werther seine unerreichbare Lotte durch die suizidale Vereinigung mit dem jenseitigen mütterlichen Urbild der Geliebten ersetzt.14 Der ––––––––– 13 Der Selbstmord an sich ist selbstverständlich eine natürlich und kulturell vorgeprägte, in bestimmten Krisensituationen durchaus übliche Verhaltensmöglichkeit. Nicht aber der Verzicht auf den aggressiven Impuls zugunsten einer rationalen, höchst komplexen Überlegung; ein bei Büchner umso bedeutenderer Vorgang, als der Dichter in allen seinen Werken eben der affektiven Seite des Menschen, paradigmatisch »den Leibern« in Marions Erzählung, das gebührende Gewicht zukommen lässt. 14 Wörtlich: »Ich träume nicht, ich wähne nicht! Nahe am Grabe wird es mir heller. Wir werden sein! Wir werden uns wieder sehen! Deine Mutter sehen! Ich werde sie sehen, werde sie finden, ach, und vor ihr mein ganzes Herz ausschütten!« J. W. Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Hamburger Ausgabe. Bd. 6. 12. Aufl. München 1989, S. 117. Bereits Lotte selbst trägt durch die Kinderschar starke mütterliche Züge: »[…] fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern […]« (ebd., S. 30); »[…] wie sie […] eine wahre Mutter geworden […]« (ebd., S. 44).
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Mechanismus von Sterben und Geburt bzw. Wiedergeburt, auf den nicht nur wiederholt in den sprachlichen Bildern des Revolutionsdramas,15 sondern auch in Lenas »Auf dem Kirchhof will ich liegen wie ein Kindlein in der Wiegen« (I,4)16 angespielt wird, erschöpft sich indes nicht im wirkungsvollen poetischen Bild, sondern, das ist das Erstaunliche, schwingt zurück auf die Auslöserin. Ihr Wesen erfährt einen Bruch – mit einer bedeutsamen Konsequenz. Marion, die zwischen zwei Bettüchern mehr Vergnügen findet als bei einer Unterhaltung, erzählt. Der Autor weist ausdrücklich auf die Tatsache hin, dass dieses Erzählen in Opposition zu Marions sonstigem Verhalten, also zur physischen Erotik, zu verstehen ist, denn zweimal widersetzt sie sich mit ihrem »Nein, laß mich!« Dantons handfesteren Wünschen. Seine Bemerkung: »Du könntest deine Lippen besser gebrauchen«, geht ins Leere, und Inge Rippmann ist zuzustimmen, wenn sie den »hohen Reflexionsgrad« von Marions Introspektion registriert.17 Die Venus mit dem schönen Hintern inkarniert sich als platonische Diotima; sie praktiziert als Dozentin der Liebe für einen Moment tatsächlich die von Reinhold Grimm beschworene Einheit des Eros in der Zusammengehörigkeit von Sensualismus und Spiritualismus.18 Das ursprüngliche Anliegen dieses seit alters bekannten ambivalenten Diskurses, der für Büchner als bekannt vorausgesetzt werden darf, ist indes nicht die »konkrete Praxis erotischer Befreiung«,19 was auch immer das sei, sondern ein metaphysisches. »Die Geschichte des Nachlebens der platonischen Theorie des Eros reicht von Platons eigener Zeit bis in die unsrige hinein und erstreckt sich zum Guten und zum Schlechten über alle Bereiche der abendländischen
––––––––– 15 I,1: »DANTON. Wenn das ist, lieg’ ich in deinem Schooß schon unter der Erde«; ebd.: »PHILIPPEAU. Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig seyn wie neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben […]«; II,1 »DANTON. Sterbende werden oft kindisch.« IV,3: »DANTON. Der Tod äfft die Geburt, beym Sterben sind wir so hülflos und nackt, wie neugeborne Kinder. Freilich, wir bekommen das Leichentuch zur Windel.« IV,9: »LUCILE. [...] Du liebe Wiege, die du meinen Camill in Schlaf gelullt, ihn unter deinen Rosen erstickt hast.« 16 Georg Büchner: Leonce und Lena. MBA 6. Darmstadt 2003. 17 Rippmann (s. Anm. 9), S. 59. 18 Grimm (s. Anm. 1), S. 315. 19 Ebd., S. 312.
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Kultur«,20 konstatiert Glenn W. Most, und Jürgen Schwann bekräftigt die Gültigkeit dieser Feststellung in Bezug auf Georg Büchner: »Es ist Platon, der im Symposion dem Begriff des Eros Kontur und Präzision gegeben, ihn für die Ästhetik erschlossen und disponibel gemacht hat, indem er die Dimensionen des Sinnlichen und Geistigen in eine fortdauernde Vergleichsbeziehung gebracht und deren Begriffe korreliert hat. Büchner ist diese philosophische Ästhetik-Tradition geläufig gewesen. Seine Kenntnis der Platonischen Philosophie und der einschlägigen Quellenbestände kann als gesichert gelten.«21
Vom Standpunkt rationaler Argumentation aus hat die berühmte Stufentheorie des Erotischen allerdings einen Schwachpunkt, der Most nicht entgeht: »Die scheinbar unaufhaltsam hinaufstrebende Aufwärtsbewegung ist dazu geeignet, eine Kontinuität in den Übergängen von der einen Stufe zu der nächsten zu suggerieren und dadurch von der tatsächlichen logischen Andersartigkeit dieser Schritte abzulenken: Von der ersten Stufe (einem schönen Körper) zu der nächsten (vielen schönen Körpern) führt eine einfache Pluralisierung, zu der nächsten (allen schönen Körpern) eine Verallgemeinerung innerhalb einer bestimmten Kategorie, zu der nächsten (Bestrebungen) eine Abstraktion samt Kategorienwechsel, zu der nächsten (Wissenschaften) ein Verwandtschaftsverhältnis mit zunehmender Strenge, zu der letzten (dem Schönen schlechthin) ein Wechsel zur Grundprämisse oder dem Grundgegenstand. Auf ähnliche Weise suggeriert die Plastizität und Allbekanntheit der ersten Stufe eine sonst kaum zu begründende Anschaulichkeit und Begreifbarkeit der letzten.«22
Mosts kritischer Einwurf verfehlt allerdings danach zu fragen, wie sich die vermeintliche Kontinuität der Übergänge tatsächlich darstellt. Platons Sokrates trinkt – wie in Danton’s Tod vermerkt (I,3) – den Giftbecher, Büchners epikuräischer Christus hängt am Kreuz, und Schillers ästhetische Erziehung – auch sie fußt auf der Harmonisierung von Sinnlichkeit und Vernunft – interpoliert am Ende des zehnten Briefes die erhabene Selbstwiderlegung einer ästhetischen Programmatik politisch-sozialer Emanzipation, um in einem metaphysikfundierten Neuansatz ab Brief elf dem vom Empirischen aus betrachtet jederzeit ad absurdum zu führen––––––––– 20 Glenn W. Most: Sechs Bemerkungen zum platonischen Eros. In: Christian Begemann / David E. Wellbery: Kunst, Zeugung, Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg im Breisgau 2002, S. 37–49, hier S. 49. 21 Jürgen Schwann: Georg Büchners implizite Ästhetik. Rekonstruktion und Situierung im ästhetischen Diskurs. Tübingen 1997, S. 63f. 22 Most (s. Anm. 20), S. 43.
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den Postulat eines kausalen Zusammenhangs von ästhetischer Praxis und politischer Befreiung zu entkommen.23 Die Platonsche Bestimmung des Eros als das »Zeugen im Schönen, sowohl nach dem Leibe als nach der Seele«,24 reproduziert, wie auch Dantons Übergang vom »Groben« zum »Feinen«, den mit den Mitteln der Logik nicht zu heilenden Dualismus von Körper und Geist, Kausalem und Normativem, Sein und Sollen, oder wie immer die Philosophie die Dichotomie fasst.25 Die Gesetze und Grenzen philosophischer Argumentation sind indes nicht die der Kunst. Letztere vermag die materielle Basis der Erostheorie, das empirisch gegebene Prinzip der biologischen Selbstreproduktion, mit Platons mystischem Fokus, dem individuellen seelisch-geistigen Aufstieg zur Gottheit bzw. zur Unsterblichkeit, ästhetisch in Einklang zu bringen. So wie das Licht dem Experiment eine paradoxe doppelte Natur als Teilchen und Welle darbietet, enthält die Erostheorie die gegensätzlichen Aspekte der Kontinuität von Übergängen (Stichworte Kunst und Spiel) wie auch diskontinuierliche Brüche (Opfer, Erhabenes). Die Metaphysik der Sexualität beruht nicht zuletzt auf der Dialektik von Tod und Geburt, von Blutopfer und Zeugung, einer auch in der Umkehrung – nicht zuletzt aus Büchners Revolutions-
––––––––– 23 Wörtlich: »In der Tat muß es Nachdenken erregen, daß man beinahe in jeder Epoche der Geschichte, wo die Künste blühen und der Geschmack regiert, die Menschheit gesunken findet, und auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen kann, daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit, und bürgerlicher Tugend, daß schöne Sitten mit guten Sitten, und Politur des Betragens mit Wahrheit desselben Hand in Hand gegangen wäre.« (Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Sämtliche Werke. Bd. V. München 1968, S. 339.) 24 Platon: Symposion. Die großen Dialoge. München u. Zürich 1991, S. 489. 25 Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002. Kondylis revidiert mit seiner These der »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« als gemeinsamem Bezugspunkt heterogener Strömungen in der Aufklärung wie auch ihrer Gegenkräfte grundlegend die deutsche Aufklärungsforschung, die »im übermächtigen Schatten des Idealismus, der Klassik, des Neuhumanismus und der Romantik« gestanden habe (Jörn Garber, Ulrich Kronauer in der Vorbemerkung, S. 3). Dieser Ansatz ist für das Verständnis Georg Büchners ungemein fruchtbar. Die Pole »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« und ›Kompromittierung der Sinnlichkeit‹ sind in allen Werken Büchners als entscheidende Induktoren dramatischer Spannung aufzufinden. – Auch Gustav Frank verweist, wenn auch sehr knapp, auf diesen »denkgeschichtlichen Kontext« in: crime and sex. Zur Vor- und Frühgeschichte der ›Sexualität‹. In: Forum Vormärz Forschung (s. Anm. 9), S. 16 (Fußnote 13).
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drama – bekannten und zutiefst irrationalen Dimension.26 »Die Beschreibung oder Darstellung erotischer Erfahrung als Todeserfahrung ist uns allen aus bildender Kunst, Literatur und Film geläufig«, führt die Theologin Theresia Heimerl aus und fährt fort: »Die Bezeichnung des Orgasmus als ›kleinem Tod‹ bringt diese Nähe wohl auf jenen Punkt, den Georges Bataille in seinem ›Heiligen Eros‹ über viele Seiten hinweg ausführt«.27 Der Dramatiker Peter Hacks erklärt in dem Kommentar zu seinem Monodrama Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe den Zusammenhang von Eros und Gewalt zum universellen Grund des Tragischen: »Götter […] führen ein Leben, das auf Zusammenbrüche hinausläuft. Das, für das sie ja stehen – Jahreszeiten, Gestirne, Ackerfrüchte oder die Könige im Matriarchat – ist zum Untergang bestimmt. Freilich auch zum Wiedergeborenwerden. Tod, so lehren die Geschichten der heiligen Könige, schlägt um in Leben. […] Diese Götterkatastrophen sind der Ursprung der kathartischen Wirkung und der Gattung Drama.«28
Um noch einmal auf Glenn W. Most zurückzukommen: Seine zusammenfassende Feststellung eines der Hauptmerkmale der platonischen Theorie des Eros trifft exakt auf Danton’s Tod zu: »Die Sexualität […] wird angestachelt und erhöht, um psychische Energie für den Dienst der philosophischen Erkenntnis freizusetzen.«29 Die dialektische Verschränkung der Gegensätze von Untergang und Geburt30 lässt sich in dem Revolutionsdrama auch quantitativ belegen. Liselotte Werge zählt in ihrer Dissertation über die Metaphorik in Danton’s Tod »rund 500 Bilder« und stellt fest, dass ––––––––– 26 Vgl. David E. Wellbery: Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur. In: Begemann/Wellbery (s. Anm. 20), S. 9–36. Mit Bezug auf Nietzsche schreibt Wellbery (ebd., S. 31): »Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt – ouroboros. Ungeheuer, das sich dadurch ernährt, daß es sich selbst verschlingt, lebender Widerspruch, das Leben als Widerspruch –: Diese Schlange ist auch eine Figur der Geburt.« Zu dem Zusammenhang von Eros und Gewalt in Mythos, Psyche und Bewusstseinsentwicklung vgl. Erich Neumann: Ursprungsgeschichte des Bewusstseins. Frankfurt a. M. 1984. 27 Theresia Heimerl: »Des Todes Entzücken«. Überlegungen zum Verhältnis von Eros und Tod. In: Internet Ressource: www.querelles-net.de/forum19/, S. 3. 28 Peter Hacks: Zur Formenlehre. Dreigespräch über das Monodrama. Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe. Annexa. Hamburg 1998, S. 82. 29 Most (s. Anm. 20), S. 45. 30 Vgl. Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner. Persönlichkeit, Weltbild, Werk. Heidelberg 1978, S. 188–191. Auch Wittkowski benennt, allerdings mit Bezug auf Schopenhauer, den »Kreislauf von Zeugen und Sterben«.
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»rund 300 oder 60% mit Leben und Tod assoziiert werden können. Auffallend ist, dass Bilder, die das Leben getrennt vom Tod beschreiben, nur selten vorkommen. […] Ein Satz wie ›Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig seyn wie neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben und mit Köpfen spielen‹ mag die typische Verschmelzung von Lebens- und Todesmotiven illustrieren.«31
An diesem Beispiel lässt sich auch zeigen, dass die metaphysische Identifizierung von Zeugung, Selbstopfer und Geburt bei Büchner nicht inhaltlich, sondern strukturell konsistent erfolgt, d. h. unter Umständen negativ konnotiert ist. Insgesamt überwiegt freilich, allein schon durch das dramatische Gewicht der stark idealisierten weiblichen Selbstopfer, die affirmative Tendenz. In Wolfgang Wittkowskis Worten: »Jedenfalls vollzieht sich neben dem zunehmenden Engerwerden und Verfallen eine genau gegenläufige Entwicklung. In den Reden der Schlußakte erweitert der Daseinsraum sich mehr und mehr ins Kosmische und Metaphysische; und immer glanzvoller erstrahlen Bruchstücke jener universalen Schönheit, welche Camille, Leonce, Lenz und die naturphilosophischen Abhandlungen preisen. Camille träumt von Himmelsdecke, Mond und Sternen. Danton grübelt, ob die Sterne nicht Tränen im Auge Gottes seien. Von Mond und Sternen singt Lucile. Die Gefangenen sprechen vom grausamen Walten der Götter über Menschen und Sternen; und sie sehen ihr Ende gespiegelt im bewölkten Abendhimmel: ›wie ein ausglühender Olymp mit verbleichenden, versinkenden Göttergestalten‹ [...]. Ähnlich besingt Julie die abendliche Abschiedsstimmung. […] Verfall verbindet sich mit Schönheit und der Dimension des Kosmischen«.32
Das Konzeptionelle der – das Tragische bzw. Erhabene einbeziehenden – Erostheorie steuert nicht nur weitestgehend die Rhetorik in Büchners Erstlingsdrama, sondern, wie bereits festgestellt, auch die Entwicklung der Figuren; paradigmatisch dafür ist Marions Narration und deren Folgen. Ihr Auftritt innerhalb des Dramas bleibt singulär, der Wesensbruch nicht. Zwei weitere schicksalhafte Brüche sind im ersten Akt des Revolutionsdramas bzw. gleich zu Beginn des zweiten zu vermerken. Der erste stellt ein Detail dar, eine Spezies, von der Theodor Fontane sagt: »Das Nebensächliche […] gilt nichts, wenn es bloß nebensächlich ist, wenn ––––––––– 31 Liselotte Werge: »Ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude …«. Zur Metaphorik und Deutung des Dramas ›Dantons Tod‹ von Georg Büchner. Stockholm 2000, S. 42f. 32 Wittkowski (s. Anm. 30), S. 177f.
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nichts drinsteckt. Steckt aber was drin, dann ist es die Hauptsache.«33 Die Hauptsache ist die nämliche wie in der Marionszene. Diesmal gerät der »junge Mensch« in die Fänge der mordgierigen Menge, die ihn an die Laterne hängen will. Nach anfänglichem Flehen um Erbarmen sagt er: »Meinetwegen, ihr werdet deswegen nicht heller sehen.« (I,2) Seine Opferbereitschaft akzeptiert die Beweggründe der aufgebrachten Bürger und nimmt das Schicksal, als zufälliges wie unschuldiges Objekt ihrer Triebhaftigkeit zu dienen, resignierend an. Auch hier führt das Zulassen der Erfahrung möglicher existenzieller Vernichtung zu einer sprachlichen Geburt: Der Unterlegene offenbart einen Geistesblitz, der, wie die Reflexion des jungen Menschen in Marions Erzählung, auf die Gegenseite überspringt und einen analogen Wesensbruch ins Positive herbeiführt, denn die Menge vollzieht den Schritt vom groben Vergnügen des Aufhängens zum feineren des Lachens. Sie findet Gefallen an der Schlagfertigkeit des Opfers und lässt es frei. Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass die drei genannten Brüche alle im ersten Akt des Dramas vorgestellt werden. Der zweite Akt setzt sogleich mit einem weiteren, dem Wesensbruch der Titelfigur, ein. Derjenige, der einige Szenen zuvor noch »die mediceische Venus stückweise bei allen Grisetten des palais royal« zusammensucht (I,4), hat am Ende der Marionszene kalte Lippen bekommen; mit dem neuen Aufzug wird er zum stolzen Depressiven, einem Lebensmüden und Opferbereiten. Seine Willensbekundung, »lieber guillotinirt [zu] werden als guillotiniren [zu] lassen« (II,1), folgt zunächst keinen politischen oder ethischen Gründen, die vielmehr nachgereicht werden, sondern dem Vorbild des jungen Menschen, dem Selbstmord des Liebhabers im Wasser und Marions momentaner Hintansetzung des physischen Eros. Dantons Äußerungen klingen, als ob er plötzlich aufgibt, weil diese Perspektive interessanter erscheint als so weiterzumachen wie bisher. In Lacroix’ Worten: »Er will sich lieber guillotiniren lassen, als eine Rede halten.« (Ebd.) Wenn Danton in seinem Lamento beklagt, »daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beyde das Nämliche thun, so daß Alles doppelt geschieht« (ebd.), dann signalisiert er eine dahingehend veränderte Haltung, dass beide Hälften nicht mehr das Nämliche tun werden, denn die eine wird zugunsten der anderen geopfert. Der Hedo––––––––– 33 Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Romane und Erzählungen. Bd. 6. Berlin u. Weimar 1984, S. 335.
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nismus sieht sich matt gesetzt, und schon kommen in der nächtlichen Szene im Zimmer (II,5) die Gedanken aus den Hirnfasern. Die gefühlte Nähe des Todes, der Wesensbruch, vollbringt die Überwindung der Einsamkeit. Es sind letzten Endes die abgeschlagenen Köpfe, die die absolute Intensität der Beziehung herstellen, indem sie sich auf dem Boden des Korbes zu küssen vermögen und die physische Macht negieren. Ergebnis der Opferstrategie ist ein Hauch von Unsterblichkeit trotz oder wegen des letztendlich unvermeidlichen physischen Untergangs: die Einschreibung im »Pantheon der Geschichte« und das Entschlummern in »den Armen des Ruhmes« (III,4). Freilich führt diese durch einen Akt vernunftgestützter Willensentscheidung mit erheblichen sinnlichen Beimischungen von Lebensüberdruss usw. verursachte Peripetie im Drama nicht zu einer konsequenten Anagnorisis. Danton ist kein Sokrates, Büchner kein Boethius. Das Philosophiegespräch (III,1) tröstet nicht, der (wollüstige) Schmerz (Robespierre: I,6) als vermeintlicher Fels des Atheismus erweist sich als Quell des Mythos, der sich zumeist in den niederen Gefilden des kinderfressenden Saturn, des Minotaurus, der Medusa usw. bewegt. Die Einheit von Zeugung, Geburt und Tod teilt Schoß und Grab zudem zwangsläufig eine entschieden mütterliche Note mit, die sich deutlich wahrnehmbar in der Metaphorik von Dantons Zeugen, Leben und Sterben zeigt. »[D]ie Revolution hat uns gemacht«, bemerkt Lacroix (II,1); die Dantonisten wollen den »mächtigen Schooß« der Freiheit »befruchten« (III,6); desgleichen habe sich Danton »an seine Mutter [gewagt], aber sie war stärker, als er« (III,1). Danton wird von den »Schenkel[n] der demoiselle« guillotiniert (I,5). Letzteres bezieht sich auf niemand anderes als Marion, das mütterliche »Meer«,34 das auch ihren ersten Liebhaber verschlungen hat. Schließlich frisst die Revolution, wie Saturn, ihre Kinder (I,5). Der Unterschied zwischen dem modernen Adonis und dem antiken, gleich dem von Eber und Säuen (I,5), ist in der Tat unbedeutend, schon der Eberzahn entstammt dem Maul-Schoß der Gorgo,35 und bildstimmig lässt Büchner mit der Nähe zum Fallbeil den Venushügel zum abgeholzten Berg werden (IV,7) und erwähnt Mädel, in die man mit Karren und Gäulen hineinfährt (IV,4 ). ––––––––– 34 In dem imaginären Französisch des Monologs lauten Mutter = mère und Meer = mer identisch. 35 Erich Neumann: Die Große Mutter. Die weiblichen Gestalten des Unbewussten. 11. Aufl. Düsseldorf 2003, S. 166.
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Eros und Gewalt – auch als Nebenmotive jenseits der am Historischen orientierten Handlung – haben, wie die politischen und sozialen Motive, Teil an dem »Prinzip der Wiederholung bzw. der ›Äquivalenz‹ einzelner Szenen« und dessen »strukturierender Bedeutung«.36 I,5 stellt in der Marionszene den ersten Liebestod einer Nebenfigur vor; II,5 enthält Dantons berühmtes Diktum vom »Muß« und den »unbekannten Gewalten« »in uns«, dem, was hurt, mordet usw.37 Laflottes Verrat in III,5 mündet in die Feststellung: »Das kommt gerade nicht oft vor, daß man so mit dem Zufall Blutschande treiben und sein eigner Vater werden kann. Vater und Kind zugleich. Ein behaglicher Oedipus!« In IV,5 schließlich vergleicht Danton die Revolution mit der »Sündfluth«, und Camille wie auch Danton identifizieren alle Dinge als »Variationen aus verschiedenen Tonarten über das nemliche Thema«. Eros und Gewalt sind innerhalb des »vielstimmige[n] dramatische[n] Perspektivismus«38 – der krasse Ambivalenzen beinhaltet, wie Dantons expliziten Atheismus in III,7 auf der einen und seine Bitte an Gott um Verzeihung in III,3 auf der anderen Seite; desgleichen ist seine fast unaussprechliche Verzweiflung über die Septembermorde in II,5 inkommensurabel mit dem Prahlen über die Septembermorde in III,4 – das vereinheitlichende Element des Revolutionsdramas, dem alle Positionen huldigen. Auch das Medium Sprache wird auf der Bühne in die Symbolik des Kreislaufs von Zeugung, Geburt und Tod einbezogen. Laflottes behaglicher Oedipus, seine Selbstzeugung per Denunziation, verdankt sich einem sprachlichen Akt. Die Stimme gibt den »Gedanken Athem [...], daß sie lebendig werden und zu sprechen wagen«.39 Julies Lippen sind »Totenglocken«, ihre Stimme »Grabgeläute« (I,1). Expressivität des Ausdrucks ist mit Destruktivität, inflationärer Redefluss mit mentaler Trägheit, Knappheit der Sprache bis zum Versiegen der Rede ist mit höchster Intensität des Erlebens unter Umständen eng verzahnt. So wie die Skala ––––––––– 36 Knapp, S. 103. 37 Zum zeitgenössischen Hintergrund der Fatalitätsthematik vgl. Hartmut Nonnenmacher: Natur und Fatum. Inzest als Motiv und Thema in der französischen und deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2002. 38 Knapp, S. 109. 39 Collot d’Herbois in I,3; Robespierre in I,6: »Die Sünde ist im Gedanken. Ob der Gedanke That wird, ob ihn der Körper nachspielt, das ist Zufall«; II,1: »Er will sich lieber guillotinieren lassen, als eine Rede halten.« II,7: »Eure Worte riechen nach Leichen«; III,3: »Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden«; IV,7: Luciles Selbstmord durch eine Parole.
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des Aussprechbaren an ihrem einen Ende kein Tabu mehr gelten lässt, Stichwort »Carreau«, so thematisiert sie den Tabubruch am anderen Ende, dort wo die Sprache versagt und die Figuren verstummen. »[N]ur noch ein Name! oh, der erstickt mich! Ich habe keinen Athem dafür« (I,2), verzweifelt ausgerechnet der Souffleur. Sein Verstummen in I,2 markiert eine brisante Konstellation: Treibende Kraft hinter der sich prostituierenden Tochter ist – neben dem Hunger – die Mutter. Ihre Replik »Wir arbeiten mit allen Gliedern warum denn nicht auch damit; ihre Mutter hat damit geschafft wie sie zur Welt kam und es hat ihr weh gethan, kann sie für ihre Mutter nicht auch damit schaffen, he? Und thut’s ihr auch weh dabey, he?« (I,2)
vergesellschaftet die Sexualität der Tochter innerhalb der Familie und kontaminiert den Begriff der Arbeit implizit mit dem des Inzestes.40 Die Parallelstelle II,2 nimmt interessanterweise weder den Aspekt des Hungers, noch den der Arbeit auf. Die Promenade der Figuren Eugenie, ihrer Mutter und des jungen Herrn führt vielmehr das Thema Carreau kontra Cœur in der Konstellation des Generationenunterschiedes weiter. Die kurze Szene wird von zwei aufschlussreichen Kommentaren Dantons gerahmt: »DANTON. Geht das nicht lustig? Ich wittre was in der Athmosphäre, es ist als brüte die Sonne Unzucht aus. Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse?« […] »DANTON. Muthe mir nur nichts Ernsthaftes zu. Ich begreife nicht warum die Leute nicht auf der Gasse stehen bleiben und einander in’s Gesicht lachen. Ich meine sie müßten zu den Fenstern und den Gräbern heraus lachen und der Himmel müsse bersten und die Erde müsse sich wälzen vor Lachen.« (II,2)
Sein in II,1 artikulierter Wesensbruch reflektiert sich in der Nachbarszene durch die Spannung zwischen den Einwürfen vor und nach den Pikanterien auf der Promenade. Das Bersten des Himmels müsste auch den Danton der einleitenden Beobachtung zerreißen. Doch selbst der wortgewaltige Held der Revolution begegnet dem Tabu, kennt »Gedan––––––––– 40 Vgl. Christian Milz: »Wer das lesen könnt«. Inzest in Georg Büchners Woyzeck. Analyse eines literarischen Testaments. In: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik. 26. Jahrg. Heft 1/2006, S. 24–49.
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ken, für die es keine Ohren geben sollte« (II,5), und den Wunsch nach absolutem Vergessen (II,4). Büchners Modernität besteht nicht zuletzt in seinem Anrennen gegen die Grenzen des Sagens.41 Dass sich die »Gedanken« und ihre Realisierungen in der gefühlten Todesnähe auf die Seite des immateriellen Eros schlagen, bleibt im Revolutionsdrama im Wesentlichen den weiblichen Figuren vorbehalten, Danton diesbezüglich, wie dargelegt, ambivalent. Die dramatischen »Wesensbrüche« aber sind strukturbildend, beziehungs- und sinnstiftend und führen inmitten des mythischen Tobens – und des Groben – das Publikum gegebenenfalls zum Feinen.
––––––––– 41 Uwe Ebbinghaus: Büchner: Konzertierte Aktion gegen Redeordnung und Determinismus. In: Ders.: Anrennen gegen die Grenze der Sprache. Strategien zur Überwindung von Sprachskepsis im Deutschen Drama. Berlin: dissertation.de 2002, S. 182–202.
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Humus Büchner: Danton’s Tod in/und Heiner Müllers Der Auftrag Von Norbert Otto Eke (Paderborn)
1. Vom Körper, von der Revolution und vom Sterben der Revolutionäre Dramatische Auseinandersetzungen mit der Französischen Revolution hat es in der deutschen Literatur bereits – und dies in großer Zahl – in den 1790er Jahren gegeben, zeitnah zu den Ereignissen also, auf die sie sich beziehen.1 Bleibt die Wahrnehmung der revolutionären Auf- und Abbrüche in diesen Dramen weitgehend noch im Bann des Blicks betroffener Zeitgenossen, erlaubt der zeitliche Abstand allmählich doch eine andere Sichtweise auf das von der Mehrzahl der Deutschen in den 1790er Jahren kaum anders als aus der Perspektive des unbeteiligten Zuschauers wahrgenommene Schauspiel der Revolution als Geschichte. Büchners Drama Danton’s Tod (Vergleichbares gilt für Grabbes Drama Napoleon oder die hundert Tage) nimmt im Rahmen dieses Vergeschichtlichungsprozesses, mit dem nicht nur die alten, durch die Gegensatzpaare ›Ordnung und Anarchie‹, ›Vernunft und Unvernunft‹, ›Natur und Unnatur‹ gesteuerten Rezeptionsmuster der Revolutionsepoche einer differenzierteren Betrachtungsweise zu weichen beginnen, sondern die Ereignisse im Nachbarland Frankreich zugleich auch als Material einer politischen und geschichtsphilosophischen Selbstverständigung verfügbar werden, eine wichtige Mittelstellung ein: als Drama des Übergangs, in dem das Spiel der Geschichte einerseits zwar noch von der Sehnsucht nach einem im Geschichtsgang erfahrbaren Sinn lebt, dieser sich andererseits aber nicht mehr ohne weiteres festschreiben lässt. ––––––––– 1 Vgl. Norbert Otto Eke: Signaturen der Revolution. Frankreich – Deutschland: deutsche Zeitgenossenschaft und deutsches Drama zur Französischen Revolution um 1800. München 1997.
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Auf den ersten Blick scheint in diesem Drama, das vom Machtkampf zwischen den beiden führenden Köpfen der Französischen Revolution Danton und Robespierre erzählt, der Vorstellung einer nach vernünftigen Maßstäben gestalteten Geschichte der Boden entzogen, bleiben doch alle Personen in gleichem Maße dem Diktat einer Gewalt unterworfen, das noch jedes geschichtliche Handeln imprägniert. Und dennoch will die Vorstellung der Sinnhaftigkeit der Geschichte auch in Danton’s Tod nicht restlos suspendiert scheinen, bleibt dieser Flucht- und Bezugspunkt vielmehr im Hintergrund einer begrifflich nicht auflösbaren Verklammerung von subjektiven Möglichkeiten und ihrer Verweigerung,2 von der aus Büchner sein Spiel vom Sterben der Revolutionäre entwickelt. Unversöhnlich stoßen in Danton’s Tod die philosophischen und politischen Konzeptionen aufeinander: zum einen ein das Menschen-Recht auf Glückserfüllung prätendierender Sensualismus, vertreten durch den ›Aussteiger‹ Danton, der sich müde gekämpft hat in den Blutbädern der Revolution und nun die Politik nicht mehr ertragen kann, die ihn in Gestalt ihrer Opfer (die auch seine Opfer sind) in Alpträumen heimsucht; zum anderen ein totalitärer Spiritualismus, repräsentiert durch den ›Asketen‹ Robespierre, der die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit im Blut erstickt und über seine Tugendmaximen das Ziel der Revolution an die Mittel zu dessen Durchsetzung verliert. Der erste Blick freilich täuscht, wie die Büchner-Forschung seit langem weiß; eine Gegensatzbildung zwischen dem mit dem Gemeinwohl legitimierten Terrorismus der Partei Robespierres und der hedonistischen Selbstsorge der Dantonisten, die es erlaubte, Partei zu ergreifen für die eine oder andere Seite oder gar in einer der beiden Protagonisten Büchners ein Sprachrohr des Autors zu sehen, geht an der Wirklichkeit einer Konfliktmodellierung vorbei, die mehr bietet als eine auf das tödliche Ende der Titelfigur hin gespannte Kollision unversöhnlicher Grundprinzipien. Weder verhilft Büchners Danton-Figur allein einem melancholischen Hedonismus zur Bühnenpräsenz noch Robespierre allein einem erbarmungslosen geschichtlichen Opferhandeln. So wie Danton mit dem Programm der individuellen Selbstentfaltung in den Grenzen des allgemeinen Sittengeset––––––––– 2 Vgl. Harro Müller: »Man arbeitet heutzutag alles in Menschenfleisch.« Anmerkungen zu Büchners »Dantons Tod« und ein knapper Seitenblick auf Grabbes »Napoleon oder Die hundert Tage«. In: Grabbe-Jahrbuch 7 (1988), S. 78–88.
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zes den angestammten Rechten des Körpers (Glück, Genuss) zur Sprache verhilft – und durch deren Vereinseitigung die soziale Revolution verrät –, so verhärtet sich Robespierres immerhin vom Ziel der Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte her begründeter Tugendrigorismus zu Selbstgerechtigkeit und Menschenverachtung – womit er seinerseits die humanen Ziele der Revolution verrät. Im Übrigen erkennen weder Danton und seine Anhänger noch Robespierre und sein Lager, von ganz wenigen Ausnahmen (Lacroix) abgesehen, ihre jeweils eigenen Beschränktheiten, ändert doch weder das Handeln der einen noch der anderen etwas am Hunger als dem drängendsten Problem der Zeit, in dem Büchner selbst seinerseits die Revolutionsfrage zentriert hat.3 Während die Dantonisten in letzter Konsequenz über das materielle Elend hinwegsehen, speisen die Robespierristen das hungernde Volk buchstäblich mit Ideologie ab. Wo die einen, Danton und seine Anhänger, die Idee dem Leben (oder dem, was sie dafür halten) zum Opfer bringen, opfern die anderen, Robespierre und seine Anhänger, der Idee das Leben (in erster Linie einmal dasjenige der anderen). Gemeinsam allerdings bilden die verfeindeten ›Brüder‹ Danton und Robespierre eine dialektische Einheit, in deren Aufspaltung in gegensätzliche und in dieser Gegensätzlichkeit verabsolutierte Standpunkte Büchner die Aporien der (stecken gebliebenen bürgerlichen) Revolution verbildlicht: den fortdauernden Krieg (und eben nicht, wovon dann Heine träumte, den Frieden) »zwischen Leib und Seele«.4 Die Zentralstellung dieses Konflikts in Büchners Werk markiert die eine Verbindungslinie zu Heiner Müllers 1979 entstandenem Stück Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, in dem nicht nur all die bei Büchner begegnenden Motive der Melancholie, des Ekels vor der politischen Praxis, der dogmatischen Erstarrung und des Verrats ein Echo quer durch ––––––––– 3 Vgl. dazu den nach dem 19. März 1835 geschriebenen Brief Büchners an Karl Gutzkow, in dem es heißt: »das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden. Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.« (P II, S. 400.) 4 Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland; Die romantische Schule. Text. Bearbeitet von Manfred Windfuhr. Hamburg 1979, S. 17. (Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland.)
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die Zeiten finden, sondern die Geschichte der Französischen Revolution auch als Geschichte der Revolutionen zur Diskussion steht. Die Anlage von Büchners Stück als in künstlerische Formen übersetzte Selbstverständigung eines Intellektuellen, dem die – gerade in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wieder verstärkte – Projizierung säkularisierter Heilserwartungen auf die Französische Revolution und damit zugleich auf das aufklärerische Fortschrittskonzept des Bürgertums fraglich geworden ist, markiert die zweite Linie der Interferenz zwischen den Texten. Auf der Folie von Büchners Drama – aber auch u. a. von Texten Anna Seghers’, Bertolt Brechts und Aimé Césaires5 – entwirft Müller von hier aus in Der Auftrag eine dramatische Konstellation, die über den historischen Beispielfall hinaus, wie Nikolaus Müller-Schöll herausgearbeitet hat, »fragt, wie ›Erinnerung an eine Revolution‹ und vielleicht sogar Erinnerung überhaupt möglich ist.«6 Erinnert wird in Der Auftrag dabei weder die Französische Revolution noch ihr jamaikanisches Double, das auf der Darstellungsebene den performativen Erinnerungsvorgang in Müllers Stück anleitet; erinnert werden in Der Auftrag vielmehr Vorstellungsbilder der Revolution als solche, die in einer weniger dramaturgischen als vielmehr traumähnlichen Textur zusammengeführt, geschichtet und überblendet werden. Nicht etwa »Meinungen oder kontroverse Positionen im Revolutionsdiskurs« werden von Müller in diesem Erinnerungsspiel ›dramatisiert‹; Müller bringt in seiner »Erinnerung an eine Revolution« vielmehr – Sigrid Weigel hat dies zutreffend beobachtet – »die Sprache und die Bilder selbst« auf die Bühne, »in denen jene sich ausdrücken und austauschen«.7 Müller knüpft damit seinerseits unmittelbar an sein Vor-Bild Büchner an, in dessen Revolutionsdrama über die thematisierten Schrecknisse hinaus genau dieses Verhältnis zwischen ›materiellen‹ Ereignissen und ––––––––– 5 Zum intertextuellen Beziehungsgeflecht von Der Auftrag vgl. ausführlich: Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn [u. a.] 1989, S. 108–154 sowie ders.: Heiner Müller. Stuttgart 1999, S. 199–209. 6 Nikolaus Müller-Schöll: Das Theater des »konstruktiven Defaitismus«. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt/Main, Basel 2002, S. 564. 7 Sigrid Weigel: »Das Theater der weißen Revolution«. Körper und Verkörperung im RevolutionsTheater von Heiner Müller und Georg Büchner. In: Inge Stephan und Sigrid Weigel (Hrsg.): Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption. Hamburg 1989, S. 154–174; S. 156.
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der sprachlichen Realität der Revolution unter anderem in der durchgängigen Theatermetaphorik (auch das ist bei Müller nicht anders) auf eigentümliche Weise präsent wird. Dass Büchner damit nur vordergründig an die für die deutsche Revolutionsrezeption symptomatische Metaphernbildung über den Vorstellungsbereich des Schauspiels und der Theateraufführung8 anschließt, ist offenkundig. Weder versucht Büchner mit der Ausschreibung der theatralen Vergleichsebene zur Leitmetaphorik seiner Auseinandersetzung mit der Revolution die Revolutionserfahrung in eine überlieferte Deutungsstruktur einzupassen, mit deren Hilfe den politischen Entwicklungen je nach Standort tragische Dignität oder komische Lächerlichkeit zugeschrieben werden kann (so geschehen in nicht wenigen zeitgenössischen Zeugnissen); noch markiert er damit, wie dies etwa in den Erfahrungsberichten deutscher Revolutionsreisender häufig der Fall ist, den entrückten Standort des souveränen oder einfach nur ferngehaltenen Zuschauers. Vielmehr verweisen die das Rollen-Spiel und das Theater thematisierenden Passagen von Danton’s Tod auf den Charakter eines Revolutionstheaters, das »die lebendigen Leiber« »braucht und verbraucht«, »um sich in Szene zu setzen«.9 Die Theatermetaphorik erhellt den Zentralkonflikt zwischen Ideen (Ideologien) und Körpern – dass nämlich den Ideen (Ideologien) die Körper geopfert werden – oder wie es Büchners Danton (Danton’s Tod, II/1) sagt: »wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden.«10 Dass Büchner dagegen ein Theater aufbietet, »das den Aufstand der Leiber und der Toten gegen ihre Opferung für das Wort in Szene setzt und zur Sprache bringt«,11 markiert den dritten Punkt des Brückenschlags zwischen dem Erinnerungstheater Müllers und Büchners Revolutionsdrama.
2. Das Theater der Revolution und der Krieg der Landschaften Gleich auf zwei Ebenen kommuniziert Müllers Erinnerungsdrama mit Büchners Revolutionsspiel: auf einer makrostrukturellen Ebene der Ver––––––––– 8 Vgl. Christiane Leiteritz: Revolution als Schauspiel. Beiträge zur Geschichte einer Metapher innerhalb der europäisch-amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin, New York 1994. 9 Weigel: »Das Theater der weißen Revolution« (s. Anm. 7), S. 170. 10 MBA 3.2, S. 110. 11 Weigel: »Das Theater der weißen Revolution« (s. Anm. 7), S. 171.
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schränkung von Revolution und Tod, Auftrag und Verrat zum einen; auf einer mikrostrukturellen Ebene intertextueller Zitationen und Verweisungen zum anderen. Augenfällig wird diese Beziehung im Zerrspiegel einer clownesken Wiederholung der in Büchners Drama zentralen Auseinandersetzung zwischen Danton und Robespierre12 als Spiel der Toten13 im Rahmen einer Folge von vier genau in die Mitte des Stückes platzierten Intermedien, die als Spiel-im-Spiel der Erinnerung die Leerzeit der politischen (revolutionären) Praxis überbrücken, die als solche außerhalb der szenischen Vergegenwärtigung bleibt. Zwei Rollen-Spieler, Sasportas und Galloudec, übernehmen in dieser Szene den Part von Büchners Revolutionsheroen in einem Spektakel, das dem geneigten Publikum das Gegeneinander von Begehren und Versagen (Askese), zwischen Sensualismus und Spiritualismus/Tugendrigorismus als unproduktive Endlosschleife vor Augen stellt: »Sklaven nehmen Galloudec die Peitsche weg, schließen den Schrank, schminken ErsteLiebe ab, setzen Debuisson auf den Thron. ErsteLiebe als Fußbank, staffieren Galloudec und Sasportas als Danton und Robespierre aus. Das Theater der Revolution ist eröffnet. […] SASPORTASROBESPIERRE Geh auf deinen Platz, Danton, am Pranger der Geschichte. Seht den Schmarotzer, der das Brot der Hungrigen schlingt. Den Wüstling, der die Töchter des Volkes schändet. Den Verräter, der die Nase rümpft vor dem Geruch des Blutes, mit dem die Revolution den Leib der neuen Gesellschaft wäscht. Soll ich dir sagen, warum du kein Blut mehr sehn kannst, Danton. Hast du Revolution gesagt. Der Griff nach dem Fleischtopf war deine Revolution. Der Freiplatz im Bordell. Dafür hast du dich auf den Tribünen gespreizt im Beifall des Pöbels. Der Löwe, der den Aristokraten die Stiefel leckt. Schmeckt dir der Speichel der Bourbonen. Ist dir auch warm im Arsch der Monarchie. Sagtest du Kühnheit. Schüttle nur deine gepuderte Mähne. Länger als bis dein Kopf fällt unter dem Beil der Gerechtigkeit wirst du die Tugend nicht verhöhnen. Du kannst nicht sagen, daß ich dich nicht gewarnt habe, Danton. Jetzt wird die Guillotine mit dir reden, die erhabene Erfindung des neuen Zeitalters, das über dich hinwegschreiten wird wie über alle Verräter. Ihre Sprache wirst du verstehn, du hast sie gut gesprochen im September. ––––––––– 12 Vgl. dazu die Szene I/6. 13 Der Hinweis auf die zerschossene Kinnlade Robespierres in dem im Folgenden zitierten Nachspiel der Büchnerschen Konstellation setzt in dieser Hinsicht ein eindeutiges Zeichen. Vgl. dazu auch Ulrich Kaufmann: Dichter in »stehender Zeit«. Studien zur Georg-Büchner-Rezeption in der DDR. Erlangen u. Jena 1992, S. 85.
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Sklaven schlagen Galloudec den Dantonkopf herunter, werfen ihn einander zu. Galloudec gelingt es, ihn zu fangen, er klemmt ihn unter den Arm. Warum klemmst du deinen schönen Kopf nicht zwischen die Beine, Danton, wo bei den Läusen deiner Ausschweifung und den Geschwüren deines Lasters dein Verstand sitzt. Sasportas stößt Galloudec den Dantonkopf unter dem Arm weg. Galloudec kriecht dem Kopf nach, setzt ihn auf. GALLOUDECDANTON Jetzt bin ich dran. Seht den Affen mit der zerbrochenen Kinnlade. Den Blutsäufer, der seinen Sabber nicht halten kann. Hast du das Maul zu voll genommen, Unbestechlicher, mit deiner Tugendpauke. Das ist der Dank des Vaterlandes: eine Gendarmenfaust. Sklaven reißen Sasportas die Kinnbinde vom Robespierrekopf, die Kinnlade fällt herunter. Während Sasportas Kinnbinde und Kinnlade sucht. Ist dir etwas heruntergefallen. Fehlt dir etwas. Eigentum ist Diebstahl. Spürst du den Wind im Hals. Das ist die Freiheit. Sasportas hat Kinnbinde und Kinnlade wiedergefunden und komplettiert den Robespierrekopf. Paß auf, daß dir dein schlauer Kopf nicht ganz abhanden kommt, Robespierre, durch die Liebe des Volkes. Hast du Revolution gesagt. Das Beil der Gerechtigkeit, wie. Die Guillotine ist keine Brotfabrik. Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft. Sklaven schlagen Sasportas den Robespierrekopf herunter und gebrauchen ihn als Fußball. Das ist die Gleichheit. ES LEBE DIE REPUBLIK. Hab ich dir nicht gesagt: du bist der nächste. Mischt sich in das Fußballspiel der Sklaven. Das ist die Brüderlichkeit. SasportasRobespierre heult. Was hast du gegen Fußball. Entre nous: soll ich dir sagen, warum du so scharf warst auf meinen schönen Kopf. Ich wette, wenn du die Hosen herunterläßt, staubt es. Damen und Herren. Das Theater der Revolution ist eröffnet. Attraktion: der Mann ohne Unterleib. Maximilian der Große. Tugendmax. Der Sesselfurzer. Der Wichser aus Arras. Der blutige Robespierre. SASPORTASROBESPIERRE setzt den Kopf wieder auf: Mein Name steht im Pantheon der Geschichte. GALLOUDECDANTON EIN MÄNNLEIN STEHT IM WALDE GANZ STILL UND STUMM ES HAT VOR LAUTER PURPUR EIN MÄNTLEIN UM SASPORTASROBESPIERRE Parasit Syphilitiker Aristokratenknecht. GALLOUDECDANTON Heuchler Eunuch Lakai der Wallstreet. SASPORTASROBESPIERRE Schwein. GALLOUDECDANTON Hyäne.
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Prügeln einander die Köpfe wieder herunter. Debuisson applaudiert. Sklaven zerren ihn vom Thron, setzten Sasportas hinauf. Galloudec als Fußbank. Krönung Sasportas’. SASPORTAS Das Theater der weißen Revolution ist zu Ende.«14
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung zwischen dem Danton- und dem Robespierre-Clown steht mit der zweimaligen Frage »Hast du Revolution gesagt« das Verhältnis von Erwartung/Utopie und Ergebnis/Mittel im Hinblick auf den geschichtlichen Fortschritt, zugleich damit die Frage einer politischen Ethik und der Integrität der politisch Handelnden. Befriedigung der materiellen Bedürfnisse lautet die Antwort (der Vorwurf) im einen Fall (»Der Griff nach dem Fleischtopf war deine Revolution. Der Freiplatz im Bordell.«), brotlose Ideologie im anderen (»Das Beil der Gerechtigkeit, wie. Die Guillotine ist keine Brotfabrik.«). Der Konflikt zwischen beiden Revolutions›konzeptionen‹ endet nicht nur im Patt gegenseitiger Blockaden; die Positionen als solche werden im Leerlauf der Auseinandersetzung auch austauschbar.15 Der Schlussapplaus des Zuschauers Debuisson gilt so dem Schauspiel einer sich selbst paralysierenden Revolution, die von hier aus nur konsequent zuletzt vom Spielplan der Geschichte abgesetzt wird: »Das Theater der weißen Revolution ist zu Ende.« Die insgesamt vier Intermedien, aus denen hier lediglich das zweite und der Übergang zum dritten zitiert wurden, erschließen dem dramatischen Vorgang der Erinnerung an den gescheiterten Versuch von drei Abgesandten der französischen Revolutionsregierung, die »Brandfackel der Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit«16 in die Welt hinauszutragen, eine weitere, den Vorgang auf der konkreten historischen Ebene überbietende Bedeutungsdimension. Anna Seghers’ Erzählung Das Licht auf dem Galgen aus dem Zyklus der »Karibischen Geschichten« liefert das Handlungsgerüst dieser Erinnerung mit einem Plot, der den Mythos des ›heiligen‹ Revolutionärs in einer Märtyrerlegende fortspinnt. In der Spätphase ––––––––– 14 Heiner Müller: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution. In: Heiner Müller. Werke 5. Hrsg. von Frank Hörnigk. Die Stücke 3. Frankfurt/Main 2002, S. 11–42; S. 23–26. 15 Müller verdeutlicht diese Austauschbarkeit dadurch, dass er dem Robespierre-Darsteller Dantons pathetische Anrufung des Nachruhmes (»Die Revolution nennt meinen Namen. Meine Wohnung ist bald im Nichts und mein Namen im Pantheon der Geschichte« [Büchner: Danton’s Tod, III/4; MBA 3.2, S. 130) in den Mund legt (»Mein Name steht im Pantheon der Geschichte.«) und damit in ihrer Hohlheit ausstellt. 16 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 17.
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der Französischen Revolution begeben sich drei Beauftragte der Direktorialregierung – der Arzt Debuisson, der Matrose Galloudec und der spanische Jude Sasportas – mit dem Auftrag, dort einen Sklavenaufstand nach dem Vorbild der Erhebungen auf Haiti unter Toussaint L’Ouverture zu organisieren, auf die Karibikinsel Jamaika. Proliferation der Revolution durch den Export revolutionärer Ideologie ist das Ziel des geheimen Kommandounternehmens, dem mit dem Staatsstreich Napoleons vom 18. Brumaire noch vor dem erfolgreichen Abschluss die Basis entzogen scheint, dekretiert der neue Machthaber in Paris doch umgehend das Ende der Revolution.17 Der selbst dem vermögenden jamaikanischen Großbürgertum entstammende Intellektuelle Debuisson verrät in dieser Situation die Mission und kehrt zurück in die Welt seines sozialen Herkommens, während Galloudec und Sasportas auch ohne Legitimation durch eine auftraggebende Instanz an den einmal gesetzten Zielen festhalten und als Revolutionäre sterben – Sasportas am Galgen in Port Royal, Galloudec in einem Lazarett auf Kuba am Wundfieber. Eine Rahmenhandlung, in die Anna Seghers diese Geschichte eingebettet hat, vermittelt das Opfer der standhaften Revolutionäre über das Moment des Totengedenkens dialektisch mit der Idee des Fortschritts (in der Geschichte). In Paris erstattet ein Matrose stellvertretend für den toten Galloudec dem ehemaligen Mitglied der Revolutionsregierung und jetzigen Sprachlehrer Antoine Bericht über dieses Geschehen. Die damit einsetzende Erinnerung an die ›großen‹ Toten schlägt nicht nur eine Brücke in die Zukunft; mit ihr wird das Opfer der Blutzeugen aufgehoben auch in einem höheren Ganzen, das im titelgebenden Licht auf (eigentlich: über) dem Galgen pathetisiert wird. Müller unterläuft die idealisierende Matrix dieser Erzählung von vornherein durch eine Konzentration des Plots der Geschichte auf wenige elementare, überdies mehrfach gebrochene Grundkonstellationen, mit der sich die moralische (belehrende) Finalstruktur von Seghers’ erzählerischem Rück-Blick in einem auf mehrere Stimmen verteilten Erinnerungsdiskurs verflüchtigt, dessen offene, nicht gerichtete Struktur in der nicht gerichteten Dramaturgie des Stückes ein ästhetisches Äquivalent findet. Analog zur Rahmenerzählung der ›Karibischen Geschichte‹ der Seghers stößt auch in Müllers Stück eine Nachricht aus dem Toten––––––––– 17 Vgl. dazu die Proclamation publique de la Constitution de l’an VIII vom 15. Dez. 1799.
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reich die Erinnerungsbewegung an. Allerdings zitiert Müller die RahmenStruktur lediglich, schließt das Stück im Gegensatz zu Seghers am Ende aber nicht sinnhaft in sich ein: nicht die Apotheose der Opfer beendet das Drama, sondern der kalte Blick auf den Verrat und das aus ihm erwachsende Glück. In einem mit christlicher Heilssymbolik aufgeladenen Szenenaufriss stimuliert Galloudecs Brief in Der Auftrag einen schmerzhaften Erinnerungsvorgang an die (eigene) Geschichte im Bewusstsein des ehemaligen Revolutionsenthusiasten Antoine, der die Hoffnung von Büchners »Blutmessias«18 Robespierre Lügen straft, entschlossenes Handeln stelle die Widersprüche der politischen Praxis zumindest still (Robespierre: »Weg mit ihnen! Rasch! nur die Todten kommen nicht wieder.«19). Brot und Wein sind die Ingredienzien einer ›anderen‹ Eucharistie-Feier, die mit Gewalt die Gemeinschaft des ›Privatmannes‹ Antoine mit den aus dem Gedächtnis gestrichenen Toten wiederherstellt. »ANTOINE Ich weiß von keinem Auftrag. Ich vergebe keine Aufträge, ich bin kein Herr. Ich verdiene mein Geld mit Privatstunden. Es ist wenig. Und Schlächtereien habe ich genug gesehn. Ich kenne mich aus in der Anatomie des Menschen. Galloudec. Frau mit Wein Brot und Käse. FRAU Du hast Besuch. Ich habe einen Orden verkauft. Den für die Vendée, wo ihr die Bauern totgeschlagen habt für die Revolution. ANTOINE Ja. […] Ich bin der Antoine den du gesucht hast. Ich muß vorsichtig sein, Frankreich ist keine Republik mehr, unser Konsul ist Kaiser geworden und erobert Rußland. Mit vollem Mund redet es sich leichter über eine verlorene Revolution. Blut, geronnen zu Medaillenblech. Die Bauern wußten es auch nicht besser, wie. Und vielleicht hatten sie recht, wie. Der Handel blüht. Denen auf Haiti geben wir jetzt ihre Erde zu fressen. Das war die Negerrepublik. Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden, und wenn die Toten erwachen trägt sie Uniform. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis verraten: sie ist auch nur eine Hure. Und ich kann schon darüber lachen. Hahaha. Aber hier ist etwas leer, das hat gelebt. Ich war dabei, als das Volk die Bastille gestürmt hat. Ich war dabei, als der Kopf des letzten Bourbonen in den Korb fiel. Wir haben die Köpfe der Aristokraten geerntet. Wir haben die Köpfe der Verräter geerntet. FRAU Schöne Ernte. Bist du wieder betrunken, Antoine. ––––––––– 18 Büchner: Danton’s Tod, I/6 (MBA 3.2, S. 107). 19 Ebd., S. 108.
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ANTOINE Es paßt ihr nicht, wenn ich von meiner großen Zeit rede. Vor mir hat die Gironde gezittert. Sieh sie dir an, mein Frankreich. Die Brüste ausgelaugt. Zwischen den Schenkeln die Wüste. Ein totes Schiff in der Brandung des neuen Jahrhunderts. Siehst du, wie sie schlingt. Frankreich braucht ein Blutbad, und der Tag wird kommen. Antoine gießt sich Rotwein über den Kopf.«20
Die Wiederaufrichtung seines alten Glaubens an die Verwandlung von Blut und Wein – Terror/Gewalt – in Fortschritt/Humanität als der anderen Transsubstantiation der Revolution und damit die Rückkehr des Bürgers Antoine in die Gemeinschaft der ›Gläubigen‹ (Revolutionäre) misslingt anders als in Seghers’ Geschichte. Die Ausgießung des Blutes (Jesus gibt seinen Leib hin für das Heil der Welt), die in der Liturgie als Teil des göttlichen Heilsplans vergegenwärtigt wird durch die dargebotenen Gaben von Wein und Brot, läuft ins Leere. Die Vorzeichen verschieben sich: Verbindet sich mit der liturgischen Gedächtnisfeier der Eucharistie die Vorstellung der Gegenwärtigkeit des Heilswerkes Jesu, das Fruchtbarwerden der Heilstat in der Gemeinschaft der Gläubigen, spiegelt das im Vorgang der Ausgießung des Rotweins kulminierende ›Abendmahl‹ Antoines allein noch die Verzweiflung über das Ausbleiben des politischen Heilswerkes der Revolution. Das ›andere‹ Abendmahl des enttäuschten Revolutionärs erzwingt zwar die – personale – Vergegenwärtigung des Blutopfers (wobei die ›verbrauchten Leiber‹ der Revolutionäre Sasportas und Galloudec an die Stelle des Kreuzesopfers Christi treten, das als solches ja Gegenstand des liturgischen Gedächtnisses ist);21 die gedächtnishafte Wiederkehr der Toten aber erfolgt nicht länger mehr in der Spur der Erlösung. Zurück bleiben dem politisch ernüchterten ›Linken‹, der »genug gesehn« hat und der sich von hier aus nun auszukennen glaubt »in der Anatomie des Menschen«, vom heroischen Aufbruch der Revolution nur das rhetorische Größen-Pathos – und die Toten: »ANTOINE schreit: Sei vorsichtig, Matrose, wenn du aus meinem Haus gehst. Die Polizisten unseres Ministers Fouché fragen dich nicht, ob du an Politik glaubst. – Galloudec, Sasportas [= Auftritt der Toten]. Wo ist dein Bein, Galloudec. Warum hängt dir die Zunge aus dem Hals, Sasportas. Was wollt ihr von mir. Kann ich für deinen Beinstumpf. Und für deinen ––––––––– 20 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 15. 21 Die Abendmahlssymbolik wird am Ende des Stückes noch einmal explizit aufgenommen (siehe unten zu Debuissons Gedächtnisverlust: »[…] das Ende der Gironde, ihr Abendmahl, ein Toter an der Tafel […]« [ebd., S. 41]).
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Strick. Soll ich mir ein Bein abschneiden. Willst du, daß ich mich danebenhänge. Frag deinen Kaiser, Galloudec, nach deinem Bein. Zeig deinem Kaiser die Zunge, Sasportas. Er siegt in Rußland, ich kann euch den Weg zeigen. Was wollt ihr von mir. Geht. Geht weg. Verschwindet. Sag du es ihnen, Frau. Sag ihnen, sie sollen weggehn, ich will sie nicht mehr sehn. Seid ihr noch da. Dein Brief ist angekommen, Galloudec. Das ist er. Ihr habt es jedenfalls hinter euch. ES LEBE DIE REPUBLIK. Lacht. Ihr denkt, mir geht es gut, wie. Habt ihr Hunger. Da. Wirft Essen auf die Toten. FRAU Komm ins Bett, Antoine.«22
Die Präsenz der Toten in dieser kupierten Gedächtnisliturgie markiert als entscheidende Zäsur den Übergang des Stücks aus der revolutionären Märtyrerlegende in das Spiel der und mit den Erinnerungen, von dem eingangs die Rede war. Vermittelt durch einen Wechsel des dramatischen Gestus und einen filmschnittartigen Sprung in Zeit und Raum, wird aus dem Nach-Spiel der aus Büchners Drama übernommenen Konstellation der Bedrängnis des Aussteigers durch eine alptraumhaft wiederkehrende Vergangenheit23 eine die Geschichte der Revolution als Spiel (sekundärer Rahmen) vergegenwärtigende Erinnerung. Die Bühne wird zur Projektionsfläche für einen dreistimmigen Diskurs über das Scheitern – der Geschichte, der Revolution: »Wir waren auf Jamaika angekommen, drei Emissäre des französischen Konvents, unsre Namen: Debuisson, Galloudec, Sasportas, unser Auftrag: ein Sklavenaufstand gegen die Herrschaft der britischen Krone im Namen der Republik Frankreich.«24 Drei codierte Rollen zitiert (im doppelten Wortsinn) dieses Erinnerungsspiel auf die Bühne eines aus kollektiven Diskursen und Imaginationen gespeisten Bewusstseins-Theaters im Kopf des Melancholikers Antoine: den linksbürgerlichen Intellektuellen, der sich aus rationalen Erwägungen für die Revolution entschieden und nun innerhalb der Gruppe die Führungsrolle übernommen hat (Debuisson); den allein aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe deklassierten ehemaligen Sklaven (Sasportas);25 den zwischen beiden stehenden Bauern aus der Bretagne ––––––––– 22 Ebd., S. 16. 23 Die Aufforderung von Antoines Frau an ihren Mann, ins Bett zu kommen, zitiert – mit einer signifikanten Verkehrung – die Szene II/5 aus Danton’s Tod (MBA 3.2, S. 119). 24 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 17. 25 Dies in Abweichung zu Anna Seghers’ Erzählung.
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(Galloudec). Die Konstellierung dieses zweiten Rahmens, dessen Ausfüllung in der Form eines plothaltigen Theaterspiels dann gegen alle Erwartungen ausbleibt und durch die in Teilen zitierten Intermedien ersetzt wird, hat vor allem eines zu demonstrieren: die anfänglich noch gelingende dialektische Vermittlung von Utopie und politischer Praxis über die Idee der revolutionären »Arbeit«,26 die als solche von vornherein in einem unauflöslichen Zusammenhang mit dem Tod steht, mit dem Zerbrechen von Leibern und der Vernichtung von Individuen: »Nimm deine Hände vom Gesicht und sieh das Fleisch an, das in diesem Käfig stirbt«, fordert Debuisson noch vor dem eigentlichen Beginn der konspirativen »Arbeit« angesichts eines im Hafen von Port Royal in einem Käfig ausgestellten Sklaven zunächst seinen Gefährten Sasportas auf: »Du auch, Galloudec. Es ist dein und dein und mein Fleisch. Sein Stöhnen ist die Marseillaise der Leiber, auf denen die neue Welt gebaut wird. Lernt die Melodie. Wir werden sie noch lange hören, freiwillig oder nicht, es ist die Melodie der Revolution, unsrer Arbeit. Viele werden in diesem Käfig sterben, bevor unsre Arbeit getan ist. Viele werden in diesem Käfig sterben, weil wir unsre Arbeit tun. Das ist, was wir für unsersgleichen tun mit unsrer Arbeit, und vielleicht nur das.«27
Mühsam allerdings nur gelingt diese Vermittlung den Repräsentanten einer zu diesem Zeitpunkt noch siegreichen Revolution – am leichtesten dem bürgerlichen Revolutionär Debuisson, der den Widerspruch zwischen der Langfristigkeit der revolutionären Arbeit und den ganz ›jetzigen‹ Ansprüchen des leidenden Einzelnen von der Höhe seines theoretischen Wissens her aufzuheben weiß (»einem können wir nicht helfen«28); am schwersten dem Farbigen Sasportas, dem das konspirative Maskenspiel, zu dem Debuisson (in Anlehnung an ein Motiv aus Brechts Lehrstück Die Maßnahme) noch im Hafen von Port Royal das Zeichen gibt, den schwersten Part abverlangt: die Rückkehr in die Rolle des Sklaven, die ihm buchstäblich ›auf den (schwarzen) Leib‹ geschrieben ist. Im Dienst der ›Sache‹ nimmt jeder der drei Revolutionäre für die Zeit der gemeinsamen »Arbeit« seine vormalige soziale Stellung als Herr/Besitzer, Diener/Bauer oder als Sklave wieder ein: Debuisson die Rolle als »Sohn von Sklavenhaltern auf Jamaika, mit Erbrecht auf eine Plantage mit vier––––––––– 26 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 20. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 17.
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hundert Sklaven«,29 Galloudec diejenige als »Bauer aus der Bretagne, der die Revolution hassen gelernt hat im Blutregen der Guillotine«,30 Sasportas die als Sklave, der sich auf »der Flucht vor dem Abschaum, der Haiti in eine Kloake verwandelt hat«,31 dem »Herrn Debuisson angeschlossen«32 hat. Dieser Ausgangskonstellation einer prekären Gemeinschaftsbildung wird nach der Unterbrechung der hier anschließenden Zwischenspiele eine zweite Spiel- und Grundkonstellation entgegengestellt: der Zerfall des Kollektivs als Folge des Verlusts des durch die Revolution in Frankreich gesetzten politischen Bezugssystems. Ernüchtert durch die Entwicklung im »Mutterland der Revolution«33 kann Debuisson nach dem 18. Brumaire Leiden und Opfer nicht mehr mit den Verheißungen einer lichten Zukunft vermitteln. Damit öffnet der Vorhang sich für den Auftritt einer weiteren codierten Erinnerungsfigur: die Rolle des »Blutmessias«, der die Welt »mit ihrem eignen« Blut erlöst34 – oder wie es in Müllers Text heißt: der seine Hände »in Blut getaucht« hat für die »Sache«35 –, hat ausgedient; die Bühne betritt der bürgerliche Revolutionär als Melancholiker, der die Revolution zum Spektakel der Vergeblichkeit erklärt: »Unser Schauspiel ist zu Ende, Sasportas. Paß auf, wenn du dich abschminkst, Galloudec. Vielleicht geht deine Haut mit. Deine Maske, Sasportas, ist dein Gesicht. Mein Gesicht ist meine Maske.«36 Nicht nur fallen für den privilegierten Bürger, der anders als seine Mitstreiter über Wahlmöglichkeiten verfügt, Rolle/Maske (des Sklavenhalters) und Identität zusammen; mit dem Schwinden seines nahzeitlichen Erwartungshorizonts geht Debuisson auch in gleich mehrfacher Hinsicht der Blick wieder auf für die Realität des fragmentierten, geschundenen und den Ideen geopferten Körpers – was ihm zum einen nicht länger mehr erlaubt, Humanität (als Ziel/Utopie) aus der Gewalt/dem Terror (als Mittel zum Zweck) abzuleiten, und was ihn selbst zum anderen ganz un––––––––– 29 Ebd., S. 18. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 20. 32 Ebd., S. 19. 33 Ebd., S. 17. 34 Büchner: Danton’s Tod, I/6, S. 108. 35 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 37. 36 Ebd., S. 34.
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mittelbar wieder dem Begehren des eigenen Körpers gegenüber empfänglich macht: »Vielleicht habe ich nur meine Hände gewaschen, Sasportas, als ich sie in Blut getaucht habe für unsere Sache, die Poesie war immer schon die Sprache der Vergeblichkeit, mein schwarzer Freund. Wir haben andre Leichen im Genick jetzt und sie werden unser Tod sein, wenn wir sie nicht abwerfen vor der Grube. Dein Tod heißt Freiheit, Sasportas, dein Tod heißt Brüderlichkeit, Galloudec, mein Tod heißt Gleichheit. Es ritt sich gut auf ihnen, als sie noch unsre Gäule gewesen sind, der Wind von morgen um die Schläfe. Jetzt weht der Wind aus gestern. Die Gäule sind wir. Merkt ihr die Sporen im Fleisch. Unsre Reiter haben Gepäck: die Leichen des Terrors, Pyramiden von Tod. Merkt ihr das Gewicht. Mit jedem Zweifel, der durch unsre Gehirnwindungen geht, wiegen sie schwerer. Eine Revolution hat keine Zeit, ihre Toten zu zählen.«37
Wie in Büchners Revolutionsspiel erfolgt auch in Müllers Stück der Ausstieg des ›großen‹ Ichs aus der Geschichte im Horizont einer Wiederkehr des den Erfordernissen des Kampfes untergeordneten Körpers. Angesichts der Enttäuschung seiner politischen Hoffnungen ergreift die im Dienst der Revolution rational disziplinierte Körper-Lust, d. h. der durch das politische Engagement beschnittene subjektive Anspruch des Selbst auf Genuss, Besitz und Lust, wieder Besitz von Debuisson. In einer historisch aussichtslosen Situation will er nun, was seine einstigen Gefährten auf Grund ihres sozialen Herkommens nicht können: genießen, dort sitzen, »wo gelacht wird, frei zu allem was mir schmeckt, gleich mit mir, mein und sonst niemandes Bruder.«38 Im Dialog mit Büchner, der aus eben diesem Spannungsfeld heraus zwischen dem körperlichen Begehren und der politischen Logik, zwischen dem Eigensinn der Individuen und dem – Unterwerfung, Verzicht und Aufopferung (des Selbst wie des Anderen) verlangenden – Gemeinsinn (sei er moralisch wie im Fall Robespierres, sei er geschichtsphilosophisch legitimiert wie im Falle St. Justs) sein Revolutionsspiel entwickelt hat,39 schreibt Müller hier eine Grundkonstellation seines Werkes fort. ––––––––– 37 Ebd., S. 37f. 38 Ebd., S. 39. 39 Michael Hofmann hat genau darin die Modernität Büchners bestimmt: »daß er den Eigensinn des Individuums nicht in idyllischen Konstellationen zur Ruhe kommen läßt, sondern die Ruhelosigkeit des Begehrens in der Figur Dantons veranschaulicht« (Michael Hofmann: Das Drama des Verrats. Geschichtlicher Auftrag und Eigensinn des Ein-
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Der Verräter Debuisson, der sich nach dem Verlust seiner politischen Handlungsperspektiven sein »Stück vom Kuchen der Welt«,40 d. h. das ihm im Hier und Jetzt erreichbare Glück nimmt, ist nur ein Glied in der langen Kette der Figuren, mit denen Müller immer wieder vorgeführt hat, wie sich der Versuch, die Ambivalenz der Versagung im ideologischen Konstrukt einer überindividuellen Gattungsgeschichte aufzuheben, an der Eigenbewegung der Körper bricht, die gegen ihre Fragmentierung und Opferung im Namen einer höheren Geschichtsnotwendigkeit rebellieren.41 Von den 1950er Jahren an hat Müller so in seinen Stücken immer wieder aufs neue den Riss in körperliche Bilder übersetzt, der mit dem Widerspruch zwischen den ideologischen Verheißungen der Zukunft auf der einen und den dem Einzelnen im Interesse eines übergeordneten Ganzen dafür abverlangten Verzichtsleistungen, Härten und Opfern auf der anderen Seite durch die Geschichte (des Sozialismus) geht. In immer neuen Variationen der Kollision körperlich konnotierter Glücksansprüche mit den utopischen Projektionen des Kommunismus/Sozialismus skizzieren Müllers Stücke so das Defizitäre des Versuchs, die Produktion von ›Zukunft‹ durch eine Form revolutionärer Asketik zu steigern, welche die Glücksansprüche des Einzelnen zugunsten des Entwurfs eines kollektiven Menschheitsglücks bestenfalls beschneidet, indem sie ihm ein »Heutewenig für ein Morgenviel«42 zumutet, im schlimmstmöglichen Fall diese Glücksansprüche auch auslöscht. Hier nun kommt – im Übrigen bei Müller wie bei Büchner in gleichem Maße – die augenfällige Engführung von sexueller Metaphorik und politischer Rhetorik ins Spiel, die nichts anderes im Sinn hat, als »die unvermittelte Diskrepanz zu artikulieren zwischen der fatalen Maschinerie der Ge-
––––––––– zelnen bei Heiner Müller und Georg Büchner. In: Weimarer Beiträge 46 (2000), H. 1, S. 89– 104; S. 96f.). 40 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 39. 41 Vgl. dazu weiterführend: Norbert Otto Eke: Körperspuren im Theater der Geschichte. Heiner Müllers Anthropologie des Körpers. In: Ders.: Wort/Spiele. Drama – Film – Literatur. Berlin 2007, S. 11–29 (zuerst in Ian Wallace, Dennis Tate und Gerd Labroisse [Hrsg.]: Heiner Müller. Probleme und Perspektiven. Amsterdam-Atlanta 2000, S. 69–88). 42 Heiner Müller: Bericht vom Anfang. In: Ders.: Werke 1. Hrsg. von Frank Hörnigk. Die Gedichte. Frankfurt/Main 1998, S. 11–13; S. 11.
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schichte samt ihren ideologischen Kostümen und dem nackten Körper in der Zeit seines Lebens.«43 Entfaltet Müller in Gestalt des Danton-Revenants Debuisson den vom Körper her begründeten »Einspruch gegen Ideologien«,44 d. h. gegen die ideologischen und moralischen Rationalisierungen des Verzichts, der Versagungen und Opfer als Verrat, so entwirft er von der Figur des ehemaligen Sklaven Sasportas her im Rückgriff auf die existentialontologischen Bildladungen der Négritude-Dichtungen Césaires und Senghors45 zugleich ein Gegenbild, genau genommen: einen Gegendiskurs. Sasportas verkörpert im Vergleich zu Debuisson (und Antoine, und Danton) regelrecht das ›andere‹ Revolutionsdispositiv einer Natur-Revolte, die den Krieg der Landschaften (und eben nicht der Menschen) beschwört: »Kann sein, mein Platz ist der Galgen, und vielleicht wächst mir der Strick schon um den Hals, während ich mit dir rede statt dich zu töten, dem ich nichts mehr schuldig bin als mein Messer. Aber der Tod ist ohne Bedeutung, und am Galgen werde ich wissen, daß meine Komplicen die Neger aller Rassen sind, deren Zahl wächst mit jeder Minute, die du an deinem Sklavenhaltertrog verbringst oder zwischen den Schenkeln deiner weißen Hure. Wenn die Lebenden nicht mehr kämpfen können, werden die Toten kämpfen. Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen, Blut in ihre Adern, Leben in ihren Tod. Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaften sein, unsre Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste. Ich, das ist Afrika. Ich, das ist Asien. Die beiden Amerika bin ich.«46
Sasportas’ visionäre Bestimmung der Revolution als Aufstand (Auferstehung) der/des Toten verweist auf das Erfahrungsreservoir des Körpers (Rausch, Geschlecht, Sinnlichkeit) und trägt damit Büchners ganzheitliche, d. h. die politisch-soziale und die körperlich-erotische Emanzipation umfassende Utopie in ein neues Koordinatennetz ein. Gegen die anthropozentrische Wesensbestimmung der Geschichte in der europäischen Revolutionstradition setzt Müller das irrationale Modell einer subjektlo––––––––– 43 Hans-Thies Lehmann: Müller und die Tradition: Deutsche Literatur. In: Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi (Hrsg.): Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2003, S. 123–129; S. 127. 44 Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 3. Texte und Gespräche. Frankfurt/Main 1994, S. 194. 45 Vgl. dazu Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie (s. Anm. 5), S. 139f. 46 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 40.
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sen Körper-Revolte: die Natur-Landschaft als gedachtes Prinzip der Befreiung und Chiffre einer Differenz, die sich über den Unterschied zu den hegemonialen europäisch-abendländischen Revolutionskonzepten definiert. Sasportas’ Revolte beendet das Theater der Revolution, das Müller durch Büchners Text hindurch quer durch die Zeiten zitiert hatte: als Endlosschleife possenhafter Selbstinszenierungen. In dem an die clowneske Wiederholung der bürgerlichen Revolution angeschlossenen Abgesang auf das Schauspiel der Revolution(en) setzt der ›gekrönte‹ Sasportas im Rahmen der eingangs zitierten Intermedien der aus Todesangst zwanghaft tötenden ›weißen‹ Revolution so ein symbolisches Ende mit der Verurteilung des bürgerlichen Revolutionärs zum Tode (ich knüpfe hier an das abgebrochene Zitat vom Anfang an): »SASPORTAS Das Theater der weißen Revolution ist zu Ende. Wir verurteilen dich zum Tode, Victor Debuisson. Weil deine Haut weiß ist. Weil deine Gedanken weiß sind unter deiner weißen Haut. Weil deine Augen die Schönheit unserer Schwestern gesehen haben. Weil deine Hände die Nacktheit unserer Schwestern berührt haben. Weil deine Gedanken ihre Brüste gegessen haben, ihren Leib, ihre Scham. Weil du ein Besitzer bist, ein Herr. Darum verurteilen wir dich zum Tode, Victor Debuisson. Die Schlangen sollen deine Scheiße fressen, deinen Arsch die Krokodile, die Piranhas deine Hoden. Debuisson schreit. Das Elend mit euch ist, ihr könnt nicht sterben. Darum tötet ihr alles um euch herum. Für eure toten Ordnungen, in denen der Rausch keinen Platz hat. Für eure Revolutionen ohne Geschlecht.«47
Müller freilich bleibt nicht bei der Engführung der Diskurse und Imaginationen stehen, sondern führt diese ein Stück weit auch wieder zusammen – auch dies ruft im Übrigen letztlich ein Szenario aus dem Erinnerungsarchiv revolutionärer Konstellationen auf: die Verbindung der in den »Neger[n] aller Rassen« gespiegelten »Proletarier aller Länder«. So erdet das Erinnerungsspiel den Aufstand der ›Dritten‹ Welt durch das Bündnis mit dem Bauern Galloudec als dem Mittler einer authentischen Erfahrungsspur der Unterdrückung innerhalb der ›Ersten‹ Welt. Galloudec erklärt sich mit Sasportas solidarisch, obwohl ihn als Weißen und Europäer die Sklaverei als solche »bei Licht besehn«48 nur wenig angeht. ––––––––– 47 Ebd., S. 26f. 48 Ebd., S. 34.
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In dieser Verbindung des Sklaven Sasportas und des Bauern Galloudec, die am Ende »einer mit dem andern«49 weggehen, wird, was in der Logos-zentrierten abendländischen Denkkultur zu einem Gegensatz sich formiert hat – Herz (Leidenschaft, Emotionalität, Körper) und Geist (Vernunft, Disziplin) – aufs neue miteinander vermittelt, während auf dem Theater der ›weißen‹ Revolution die Dantons und Robespierres, die Antoines und Debuissons weiter ihre ideologischen Kämpfe austragen. Für den von der Geschichte angeekelten Debuisson bleibt in diesem Bündnis kein Platz; sein Wunsch, »auf dieser Welt glücklich zu sein«,50 entlässt ihn in eine Einsamkeit, die wie in Büchners Drama in Todessehnsucht umschlägt51 – bis das Vergessen auch diese letzte Bindung an den neuen (Marxschen) kategorischen Imperativ der Weltveränderung52 auslöscht. »Aber Galloudec und Sasportas gingen weg einer mit dem andern, ließen Debuisson allein mit dem Verrat, der zu ihm getreten war wie die Schlange aus dem Stein. Debuisson schloß die Augen gegen die Versuchung, seiner ersten Liebe ins Gesicht zu sehn, die der Verrat war. Der Verrat tanzte. Debuisson preßte die Hände auf die Augen. Er hörte sein Herz den Rhythmus der Tanzschritte schlagen. Mit dem Herzschlag wurden sie schneller. […] Der Verrat zeigte lächelnd seine Brüste, spreizte schweigend die Schenkel, seine Schönheit traf Debuisson wie ein Beil. Er vergaß den Sturm auf die Bastille, den Hungermarsch der Achtzigtausend, das Ende der Gironde, ihr Abendmahl, ein Toter an der Tafel, Saint Just, den schwarzen Engel, Danton, die Stimme der Revolution, Marat, über den Dolch gekrümmt, das zerbrochene Kinn Robespierres, seinen Schrei, als der Henker die Binde abriß, seinen letzten mitleidigen Blick auf den Jubel der Menge. […] Dann warf der Verrat sich auf ihn wie ein Himmel, das Glück der Schamlippen ein Morgenrot.«53
––––––––– 49 Ebd., S. 41. 50 Ebd., S. 41; Hervorhebung N. O. E. 51 »Tötet mich bevor ich euch verrate. Ich fürchte mich, Sasportas, vor der Schande, auf dieser Welt glücklich zu sein« sind die letzten, von Debuisson an seine Mitstreiter gerichteten Worte (vgl. ebd.). 52 Vgl. die berühmte Formulierung von der Notwendigkeit, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, aus Marx’ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (MEW 1, S. 385). 53 Müller: Der Auftrag (s. Anm. 14), S. 41f.
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3. Müller, Büchner und das Politische im Theater der Gegenwart In seiner Büchner-Preis-Rede Die Wunde Woyzeck hat Müller 1985 den Blick noch einmal zurückgelenkt auf den ›Zeitgenossen‹ Woyzeck, auf die »immer noch« geschundene, missbrauchte und benutzte Kreatur: »Immer noch rasiert Woyzeck seinen Hauptmann, ißt die verordneten Erbsen, quält mit der Dumpfheit seiner Liebe seine Marie, staatgeworden seine Bevölkerung, umstellt von Gespenstern«.54 Die Tendenz zur Monumentalisierung und Mythisierung einmal beiseite, die dieser und den anderen in dieser Rede noch folgenden Reihungen eigen ist,55 verweist Müllers so eingeleitete Rede auf die anhaltende Aktualität Büchners in einer Welt, in der die Teilungen in Arm und Reich nicht aufgehoben sind: Die »Wunde Woyzeck« ist weiter offen, allenfalls schief vernarbt und damit schmerzend. Und damit bleibt für Müller auch Büchners Theater der Revolution aktuell: als – nicht allein ästhetische – Konstruktion, in der die Gegenwart gedacht werden kann. Indem er in Der Auftrag in einer Zeit des (1979 noch bestehenden) konfrontativen Gegeneinanders der Systeme das ›schmerzende‹ Theater Büchners von der Ost-West in eine Nord-Süd-Achse dreht, fordert Müller den Zuschauer auf, Büchners Stück weiter zu denken. Dass diesem Zuschauerbezug in Müllers Theaterkonzeption ein Paradigmenwechsel zugrunde liegt im Hinblick auf das Verhältnis von ›engagierter‹ und ›autonomer‹ Kunst, sei nicht übersehen. Das utopische Potential der Kunst entfaltet sich in Müllers Verständnis einer politischen Ästhetik so nicht etwa auf dem Weg einer begrifflichen Erkenntnisvermittlung, wie sie letztlich Brechts Entwurf eines dialektischen Theaters noch zugrunde gelegen hat; es entfaltet sich vielmehr auf dem Wege einer Stimulierung kreativer Phantasie auf Seiten der Theaterzuschauer. Müller löst das Utopische aus seiner Verzahnung mit Teleologie und Geschichtseschatologie und bringt es neu als experimentelles Spiel mit Möglichkeiten zur Geltung. Auf die Müllers Theater leitenden Überlegungen zur Freistellung des Publikums bezogen heißt dies nichts anderes als: Durch ihre ––––––––– 54 Heiner Müller: Die Wunde Woyzeck. In: Frank Hörnigk (Hrsg.): Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Göttingen 1989, S. 114f.; S. 114. 55 Vgl. ausführlich Horst Domdey: Produktivkraft Tod. Das Drama Heiner Müllers. Köln [u. a.] 1998, S. 107–134.
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Zurückweisung heteronomer Zwecke (Adorno)56 und der von hier aus begründeten Weigerung, positive Gegenentwürfe zu den thematisierten Finsternissen der Geschichte in den Bühnenraum zu projizieren, übt Müllers Theaterkunst Kritik am Bestehenden – was seinerseits einen Gedanken Adornos zum Verhältnis von Kunst und Utopie vom Kopf wieder auf die Füße stellt, wenn Müller gleichzeitig den Zuschauer zum kreativen Widerpart des Theatertextes und damit zum Ko-Autor oder Ko-Produzenten innerhalb eines kollektiven (gesellschaftlichen) Selbstverständigungsprozesses erklärt. »So wenig wie Theorie«, so Adorno an einer zentralen Stelle seiner »Ästhetischen Theorie«, »vermag Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal negativ. Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die Utopie.«57 Müller nutzt diesen Gedanken nicht nur als Baustein seiner Wirkungsästhetik. Indem er gleichsam Adorno mit Brecht kurzschließt, rejustiert er auch das politische Theater in Deutschland: als Archäologie, die der entglittenen Geschichte eine zweite Gegenwart im Zitat vergangener Geschichten verschafft. Dies findet seinen Niederschlag wiederum in der eigentümlichen Erinnerungsdramaturgie, die nicht allein das hier diskutierte Stück Der Auftrag kennzeichnet, sondern vielmehr charakteristisch ist für das gesamte Spätwerk Müllers, das nicht mehr wie das traditionelle Geschichtsdrama ästhetischen, philosophischen oder ideologischen ReKonstruktionen von Geschichten Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen sucht, sondern Geschichte(n) als Gegenstand des erinnernden NachDenkens auf die Bühne bringt. Und hier hat Büchners Geschichte vom Sterben der Revolutionäre seinen Platz in einem fortgesetzten »Dialog mit den Toten«,58 der die kulturelle Tradition als Erfahrungsreservoir produktiv zu machen sucht. Das Moment der archäologischen Grabung als Fluchtpunkt der Kunst ist einer der zentralen Punkte eines aufschlussreichen Gesprächs, das Müller Anfang der achtziger Jahre für die Zeitschrift »Sinn und Form« mit der Regisseurin Ruth Berghaus geführt hat: »Wenn du davon ––––––––– 56 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main 1973, S. 376. 57 Ebd., S. 56. 58 Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Hrsg. von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt/Main 1990, S. 64.
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ausgehst, daß die einzige Methode, wie Kunst mit Geschichte umgehen kann, die archäologische ist«, so Müller hier, »dann mußt du eine Schicht nach der anderen freilegen oder abtragen. Wenn du die eine Schicht abgetragen hast, fallen die Reste von der vorhergehenden herab, und je mehr Schichten du abträgst, desto mehr fällt von der oberen in die nächstfolgende. Du gräbst in einer Staubwolke. Es ist eine unendliche Beschäftigung, und du erhältst – das ist vielleicht der Vorteil von Kunst gegenüber Wissenschaft – nie eine reine Schicht. Der Vorgang des Ausgrabens ist immer mit anwesend. Nur dadurch hast du die Verbindung zwischen heute und damals, dem alten Stoff und dem heutigen Umgang.«59
Das referiert ganz offenkundig auf Walter Benjamins Konzeptualisierung des Gedächtnisses nicht als Besitz (nämlich des Erinnerten), sondern als Prozess: als dialektische Annäherung an die Beziehung der vergangenen Dinge zu ihrem Ort. Entsprechend hat Benjamin das Gedächtnis in dem »Ausgraben und Erinnern« überschriebenen Abschnitt seiner Denkbilder nicht als »ein Instrument für die Erkundung des Vergangenen«, vielmehr als »das Medium des Erlebten« zu begreifen gefordert.60 Gedächtnis in Benjamins Vorstellung ist Archäologie, Grabung, bei der der Fundort genauso viel zur Erkenntnis beiträgt wie das Gefundene – und natürlich der Vorgang des Grabens selbst, der wiederum den nun geöffneten Ursprungs-Boden und damit das Medium verändert und auf der Spurensuche seinerseits Spuren hinterlässt. Das fordert dazu heraus, einen kritischen Blick auf unsere Fundstücke zu werfen und damit das Erinnerte in Beziehung zu setzen zum Gegenwärtigen. Nostalgie und/oder positivistische Verehrung des Objekts ist damit ebenso ausgeschlossen wie eine Reproduktion der Vergangenheit als Repräsentation. Müller benutzt die kulturelle Überlieferung in diesem Sinn als Medium einer Erkenntniserfahrung, als Humus, aus dem heraus seine Texte als dialektische Denk-Bilder (im Sinne Benjamins) treiben.61 Das Werk ––––––––– 59 Ebd., S. 89. 60 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV,1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Hrsg. von Tillman Rexroth. Frankfurt/Main 1980, S. 400f. 61 Zum Begriff des ›dialektischen Bilds‹ vgl. Walter Benjamin, ebd., Bd. V,1: Das Passagen-Werk. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main 41996, S. 576f.: »Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit andern Worten:
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Hans Henny Jahnns hat Müller explizit einmal als solchen Humus bezeichnet.62 Humus in diesem Sinn ist für Müller aber gerade auch das Werk Büchners, mit dem er sich ein Leben lang auseinandergesetzt hat: als Möglichkeit, die Dinge wieder neu ins Spiel zu bringen. Die ›zweite‹ Anwesenheit von Danton’s Tod in Müllers Erinnerung an die Revolution ist Probe aufs Exempel dieses Verfahrens.
––––––––– Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesnen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf, sondern Bild[,] sprunghaft. – Nur dialektische Bilder sind echte (d. h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.« 62 Jahnn ist Humus. Aus einem Gespräch anlässlich der »Medea«-Inszenierung von Werner Schroeter im Düsseldorfer Schauspielhaus am 10.2.1989. In: Argo 1 (1989), S. 80–90.
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Die Vorwegnahme der medizinischen Erkenntnis von manisch-depressiven Störungen in der Literatur – dargestellt an Büchners Lenz und Leonce und Lena Von Yvonne Fauser (Marburg)
»[M]on imagination est tour à tour mon enfer ou mon ciel; aujourd’hui, elle m’envoie à la mort; demain elle me transporte dans l’Eden. Hélas! c’est toujours après m’avoir déposé sur ses ailes, à cette hauteur, qu’elle m’abandonne au vide de l’existence, et alors, jusque dans quelles ténébreuses et profondes régions me faut-il rouler!«1 (Meine Einbildungskraft ist abwechselnd meine Hölle und mein Himmel; heute schickt sie mich in den Tod; morgen trägt sie mich nach Eden. Ach! jedes Mal wenn sie mich auf ihre Flügel genommen hat, in diese Höhe, gibt sie mich der Leere der Existenz preis, und dann, bis zu welch finstren und tiefen Regionen muss ich hinabfahren!2)
Was mit diesen Zeilen in Kürze beschrieben wird, nennt man heute in seiner extremen Ausformung »bipolare Störung«, in seiner leichten Variante »Zyklothymie«.3 Sie entstammen der Erzählung Le désenchantement von Edouard Alletz, welche 1835 zusammen mit drei weiteren Texten unter dem Titel Maladies du siècle veröffentlicht wurde. Die Psychologisierung der Literatur hat nicht nur dieser eine neue Dimension verliehen, sondern sie führte zugleich zu erstaunlichen Ergebnissen und Erkenntnissen für die Psychologie und die entstehende Psychiatrie, wie die Entdeckung der Zyklothymie zeigt. Sehr eindrucksvoll, aber verkannt, werden in unzähligen Texten mehr oder weniger stark ausgeprägte manisch-depressive Störungen präsentiert. Ich werde ––––––––– 1 Edouard Alletz: Le désenchantement. In: Maladies du siècle. Paris 1835, S. 135. 2 Alle Übersetzungen sind von der Verfasserin. 3 Ich verwende hier die heute gängigen Bezeichnungen, da es in dem untersuchten Zeitraum keine Begriffe gibt, welche dieses Phänomen von anderen abgrenzen können.
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dies am Beispiel Büchners darstellen. Medizin und Literatur verbindet die Verknüpfung von somatischen mit psychischen Symptomen zur Beschreibung psychischer Phänomene. Aus diesem Grunde spielen die geltenden Körpermodelle, vor allem die Nervenmodelle, eine gewichtige Rolle für das psychische Erleben. Die psychische Seite dieser Erfahrungen bilden die Stimmungen, welche die Grundlage oder Informationsquelle für die Deutung von Welt-, Selbst- und Fremdwahrnehmung ebenso wie für das Denken bilden. Der plötzliche Umschwung von der manischen zur depressiven Stimmung und umgekehrt zeigt diese Auswirkung von Stimmungen auf Urteile besonders deutlich. Vor Mitte des 19. Jahrhunderts kannte die Medizin weder die schwere Form der bipolaren Störung noch ihre leichtere Variante, die Zyklothymie im engeren Sinne. Sie kannte allenfalls zufällige Verbindungen von Melancholie und Manie. So beobachtete man Anfälle von Wahnsinn, d. h. Manie, bei Melancholikern und ein melancholisches Stadium bei Manischen. Auch Übergänge von der einen Geisteskrankheit in die andere wurden bemerkt. Aber man kannte keine Geisteskrankheit, bei welcher manische und depressive Phasen gleichwertig nebeneinander stehen. Erst 1851 wird eine eigenständige psychische Erkrankung, welche in manischen und depressiven Phasen verläuft, von Jean-Pierre Falret in der Gazette des hôpitaux beschrieben. Falret wählte hierfür den Namen folie circulaire. 1854 entbrennt zwischen den Psychiatern Falret und Jules Baillarger ein heftiger Streit darüber, wer sich als der wahre Entdecker dieser neuen Krankheit bezeichnen darf. Baillarger versucht, sich diese Entdeckung dadurch zu sichern, dass er ihr einen eigenen Namen gibt: folie à double forme. Der Streit der beiden Mediziner verweist auf den Stellenwert dieses neuen Blicks auf manische und depressive Zustände als Stadien einer einzigen Erkrankung.4 Ich werde mich hier auf eine kurze Darstellung der folie circulaire beschränken. Ebenso wie Baillarger sieht auch Falret das Besondere an der folie circulaire darin, dass es sich nicht um eine zufällige Abfolge von Manie und Melancholie handelt, sondern um eine notwendige. Das melan––––––––– 4 Vgl. hierzu Esther Fischer-Homberger: Das zirkuläre Irresein. Zürich 1968.
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cholische Stadium ist dabei das vorherrschende. Trotz ihres geringeren Schweregrades, im Vergleich zur reinen Manie bzw. reinen Melancholie,5 sind diese Zustände (états) unheilbar, aber dennoch beeinflussbar.6 Man kann die folie circulaire von der Manie mit melancholischem Zustand bzw. der Melancholie mit manischen Zuständen sowie zufälligen Übergängen (transformations) von Melancholie in Manie und vice versa dadurch unterscheiden, dass sich hier diese beiden Zustände regelmäßig über einen längeren Zeitraum hinweg abwechseln.7 Es erfolgt aber kein Übergang von einer Krankheit in eine andere, sondern von einer Periode in eine andere.8 Die Übergänge zwischen den Perioden sind fließend, denn Exaltation bzw. Depression steigern sich langsam und vermindern sich ebenso langsam, so dass die Periode zwischen den beiden Phasen beinahe als Gleichgewicht und damit als gesunder Zustand erscheint. Nach der depressiven Phase erfolgt die Intermission und hierauf der manische Zustand.9 Die Psychiatrie habe dies bislang nur darum übersehen, weil den Verläufen von Krankheiten kaum Beachtung geschenkt werde und man sich mit Momentaufnahmen begnüge.10 Damit ist eigentlich erst nach 1851 die Möglichkeit gegeben, einen manisch-depressiven Zustand und damit auch eine manisch-depressive Missstimmung medizintheoretisch zu erfassen. Allerdings wird eine psychische Erkrankung dieser Form bereits sehr viel früher beschrieben. Und zwar in literarischen Texten, wie das Zitat aus Alletz’ Le désenchantement zeigt. Nun ist Alletz keineswegs besonders originell, sondern er greift vielmehr ein bereits gängiges Modell der Darstellung eines psychischen Phänomens auf, welches den Zeitgenossen geradezu epidemisch vorkam. Einerseits schien es neu und typisch für die eigene Zeit zu sein, andererseits war es aber auch wieder alt und bekannt. Und gerade Letzteres hat vermutlich dazu geführt, dass hierfür keine neue und eigenständige Bezeichnung gewählt wurde, wie von Fal––––––––– 5 Vgl. Jean-Pierre Falret: Mémoire sur la folie circulaire, forme de maladie mentale caractérisée par la reproduction successive et régulière de l’état maniaque, de l’état mélancolique, et d’un intervalle lucide plus ou moins prolongé. In: Bulletin de l’académie impériale de médecine 19 (1853–1854), S. 382–400, S. 384. 6 Vgl. ebd., S. 387. 7 Vgl. ebd., S. 389. 8 Vgl. ebd., S. 390. 9 Vgl. ebd., S. 391–395. 10 Vgl. ebd., S. 396.
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ret und Baillarger. So lautet die erste, etwas irreführende Bezeichnung für eine bipolare Störung, zumindest für die leichtere Variante davon: ennui. In Frankreich nannte man sie auch u. a. mal du siècle bzw. maladie du siècle. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff ennui übernommen. Teilweise wird er schließlich auch mit »Langeweile« übersetzt, die so zum deutschen Pendant des französischen ennui wird. Allerdings schlägt sich diese Bedeutung nicht in den Wörterbüchern nieder. Natürlich wird der Begriff ennui auch noch im Sinne einer alltäglichen Langeweile verwendet, aber in seiner schärfsten Bedeutung bezeichnet er ein psychisches Leiden, welches eindeutig manische und melancholische Phasen aufweist. Gerade dies ist sein Charakteristikum und unterscheidet ihn von den anderen in der Literatur beschriebenen psychischen Leiden wie beispielsweise Melancholie und Weltschmerz. Die literarischen Darstellungen liefern ein physiologisch und psychologisch übereinstimmendes Krankheitsbild und leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung psychischer Störungen. Das Interessante an dieser Entdeckung liegt aber nicht nur in der neu gewonnenen Erkenntnis, sondern gerade darin, dass ihre Brisanz überhaupt nicht bemerkt wurde. Das galt nicht nur für die Mediziner, sondern auch für die Autoren selbst. Es besteht in der Zeit vor 1851 kein Bewusstsein dafür, dass es sich bei dieser psychischen Störung um eine Abfolge von mehr oder weniger ausgeprägten manischen und depressiven Stimmungen handelt. So wird der ennui, wenn er ernst genommen wird, stets mit Melancholie, aber nie mit Manie in Verbindung gebracht. Ein Phänomen, das bis heute virulent geblieben ist.11 Daran ist die Wahl des Begriffes vermutlich nicht ganz unschuldig, da ennui eben neben dieser besonderen Bedeutung auch immer noch diejenige von Langeweile, Überdruss und Ärger hat. Insofern kann damit auch nur eine banale Alltagserfahrung gemeint sein, die niemand als besonders schwerwiegend einzustufen vermag. Dennoch erfasst dieser ––––––––– 11 Vgl. hierzu z. B. Difficulté d’être et mal du siècle dans les Correspondances et Journaux intimes de la première moitié du XIXe siécle. Textes réunis et présentés par Simone Bernard-Griffiths avec la collaboration de Christian Croissille. Clermont-Ferrand 1998. – Valentin Mandelkow: Der Prozeß um den »ennui« in der französischen Literatur und Literaturkritik. Würzburg 1999. – Chantal Labre: Sénèque: Le mal sans nom. In: Magazine littéraire 4 (2001). Dossier: Eloge de l’ennui, S. 20–22. – Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Weltschmerz und Epigonalität. Lord Byron, Giacomo Leopardi und Nikolaus Lenau. – In: LenauForum 1986/87, S. 24–29.
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Begriff zumindest einen Teil der Erfahrungen dieses besonderen Leidens. Es ist die Verbindung von Gleichgültigkeit und Apathie mit Unruhe. Was bedeutet, dass auch hier einander entgegengesetzte Erfahrungen gemacht werden, welche sich in Lethargie oder Hektik bzw. Aggression äußern. Allerdings wird man, von dieser Definition ausgehend, kaum auf die Idee kommen, mit der Bezeichnung ennui auch exaltierte und euphorische Stimmungen zu verbinden, welches gerade die Besonderheit dieser psychischen Störung darstellt. Dadurch, dass dieses eigentümliche Leiden, das als zeittypisches Leiden aufgefasst wird, keine andere Bezeichnung trägt als die normale Langeweile, kommt es häufig zu einer Vermengung der Bedeutungen, wenn theoretisch darüber reflektiert wird. Sucht man nach kurzen Definitionen des Leidens des Gelangweilten, so stößt man zum einen auf Darstellungen, welche das Leiden als ausschließlich melancholisches beschreiben. Aber mindestens ebenso häufig wird der ennui in den gleichen Texten als immer wieder auftretender Wechsel zwischen exaltierten, euphorischen und deprimierten Stimmungen beschrieben wie beispielsweise in Senancours Briefroman Obermann von 1804: »J’ai des momens où je désespérerais de contenir l’inquiétude qui m’agite. Tout m’entraîne alors et m’enlève avec une force immodérée: de cette hauteur, je retombe avec épouvante, et je me perds dans l’abîme qu’elle a creusé.«12 (Es gibt für mich Augenblicke, in welchen ich daran verzweifeln könnte, die Unruhe, die mich aufwühlt, zu zügeln. Alles bemächtigt sich dann meiner und reißt mich mit unbändiger Kraft fort: Von dieser Höhe stürze ich mit Grauen herab, und ich verliere mich in dem Abgrund, welchen sie ausgehöhlt hat.)
Auch in Leonce und Lena werden die Stimmungskurven des ennui demonstriert. An dieser Stelle sei nur ein Bespiel genannt: »L e o n c e. (Aufspringend.) Komm Valerio, wir müssen was treiben, was treiben. Wir wollen uns mit tiefen Gedanken abgeben; wir wollen untersuchen wie es kommt, daß der Stuhl auf drei Beinen steht und nicht auf zwei, daß man sich die Nase mit Hülfe der Hände putzt und nicht wie die Fliegen mit den Füßen. Komm, wir wollen Ameisen zergliedern, Staubfäden zählen; ich werde es doch noch zu irgend einer fürstlichen Liebhaberei bringen. Ich ––––––––– 12 Etienne Pivert de Senancour: Obermann. Hrsg. v. G. Michaut. Paris 1931. Bd. I.
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werde doch noch eine Kinderrassel finden, die mir erst aus der Hand fällt, wenn ich Flocken lese und an der Decke zupfe. Ich habe noch eine gewisse Dosis Enthusiasmus zu verbrauchen; aber wenn ich Alles recht warm gekocht habe, so brauche ich eine unendliche Zeit um einen Löffel zu finden, mit dem ich das Gericht esse und darüber steht es ab.« (MBA 6, S. 113)
Diese Passage wird gerne als Beleg für das mangelhafte Durchhaltevermögen von Leonce angeführt. Man kann sie aber ebenfalls als eine Schwankung von einer leicht exaltierten Stimmung zu einer deprimierten deuten. Womit auch Leonce, wie später noch ausführlicher dargelegt werden wird, zu den Zyklothymen gerechnet werden kann. Die Bezeichnung ennui wird auf zwei Ebenen verwendet: erstens für die Erscheinung als Ganzes und zweitens für die depressiven Phasen. In diesen erfährt sich der Kranke als gelangweilt, wobei diese Form der Langeweile über das Maß der gewöhnlichen Langeweile eindeutig hinausgeht. Die exaltierten Phasen, seien sie euphorisch oder hektisch, werden interessanterweise als Anfälle bezeichnet. Damit entspricht dieses Modell des ennui dem der Melancholie mit Anfällen von Wahnsinn bzw. Narrheit. Differenziert man zwischen der Deskription des Phänomens und dem Erkenntnisstand des kommentierenden Erzählers (sei dieser identisch oder verschieden von dem Gelangweilten), so wird dieser Widerspruch zwischen Dargestelltem und Erklärung besonders deutlich. Denn beschrieben wird eine unterschiedlich stark ausgeprägte bipolare Störung, d. h. die Abfolge von gleichberechtigt aufeinanderfolgenden manischen und depressiven Stimmungen. Allerdings wird hier der Schweregrad der folie circulaire nicht erreicht. Insofern handelt es sich bei der pathologischen Form des ennui um eine manisch-depressive Missstimmung bzw. eine leichte Variante der folie circulaire. Dass dies von den Medizinern auch nach den Darstellungen Falrets und Baillargers nicht erkannt wird, hat mehrere Gründe: Zum einen liegt es daran, dass eine psychische Erkrankung dieses leichteren Grades noch nicht als solche anerkannt wird. Denn erst, wenn Verstand, Vorstellungsvermögen oder Wahrnehmung gestört sind, gilt der Mensch als psychisch krank, d. h. geisteskrank. Da dies auf den ennui aber nicht zutrifft, gehört er nicht zum Aufgabengebiet des Arztes. Außerdem verleitet die Bezeichnung ennui eben dazu, dieses psychische Leiden zu bagatellisieren. Die Theorie vermag daher nicht zu erfassen, was in unzähligen literarischen Darstellungen vermittelt wird. Dennoch entwickeln die Autoren ein auf der zeitgenössischen Physiologie basierendes Modell des patho68
logischen ennui. Mit der literarischen Darstellung des ennui ist es den Autoren gelungen, die gültigen Nervenmodelle für ein von der Medizin noch nicht erkanntes Phänomen fruchtbar zu machen. Dies führt aber auch dazu, dass sich die meisten literarischen Texte des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf Stimmungen und Emotionen kaum angemessen begreifen lassen, wenn man nicht eine gewisse Kenntnis der geltenden Nervenmodelle besitzt. Ich werde mich auf eine verkürzte Darstellung der Nervenmodelle beschränken. Das moderne Saitenmodell des 19. Jahrhunderts ist eine verfeinerte Variante desjenigen des vorangegangenen Jahrhunderts. Zwar werden die Nerven immer noch als Saiten vorgestellt, aber als unendlich zarte. Psychische Phänomene werden daher auch weiterhin über Anspannung und Reizbarkeit der Nerven erklärt. Nerven werden dadurch gereizt, dass sie angespannt werden. Diese Anspannung wird wiederum durch Reize erzeugt. Diese physiologische Begründung psychischer Phänomene führte dazu, von angespannten oder gar überspannten bzw. erschlafften Nerven zu reden. Diese Attribute sind daher nicht metaphorisch, sondern als physiologisch korrekte Bezeichnungen zu verstehen. Dies ist wichtig, da wir diese Begriffe heute immer noch gebrauchen, allerdings nur noch metaphorisch. Das gilt ebenfalls, wenn auch nicht in gleichem Ausmaß, für die Überreizung bzw. zu geringe Reizung von Nerven und Gemüt. Die Vorstellung, welche die Erregbarkeit und Erregung der Nerven beherrschte, war eine grobe Variante der heutigen Vorstellung. Zwar gilt auch heute noch, dass eine Nervenfaser nach einer Reizung zunächst nicht mehr reizbar ist, aber es geht dabei nicht um eine Erschöpfung des Nerven, wie dies in der damaligen Vorstellung der Fall war. Nerven verfügen nach dieser älteren Auffassung über ein gewisses Quantum an Reizbarkeit, welches eines bestimmten Grades an Reiz bzw. einer gewissen Reizmenge bedarf, damit der Nerv optimal funktionieren kann. Es besteht allerdings immer die Gefahr eines Zuviels oder eines Zuwenigs an Reiz, so dass der Nerv entweder übermäßig erschöpft wird oder zuviel Erregbarkeit übrig hat, was dann zu einer extremen Überempfindlichkeit führt. Bei den einwirkenden Reizen handelt es sich um Sinnesreize, Gedankenarbeit etc., so dass die damalige Erklärung auf physiologischer Ebene in vielen Fällen der (alltags)psychologischen von heute entspricht. Psychische Störungen dieser Art, ganz gleich, ob man der psychischen oder der somatischen Deutung anhängt, werden grundsätzlich 69
anhand dieser Modelle interpretiert. Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Autoren der zeitgenössischen Literatur diese Modelle für die Darstellung psychischer Phänomene verwendet haben. Beschränkt man sich bei der Deutung des ennui auf die Nervenmodelle, so lässt er sich als eine Abfolge von Phasen extremer Anspannung der Nerven sowie deren Erschlaffung beschreiben. Die Anspannung der Nerven äußert sich entweder in innerer oder motorischer Unruhe sowie in rauschhaften Zuständen. Der Rausch ist nichts anderes als eine Folge heftiger Reizung des Organismus. Auf diese heftige Anspannung erfolgt notwendig die vollkommene Erschlaffung der Nerven. Auf psychischer Ebene handelt es sich um eine Abfolge von unterschiedlich stark ausgeprägten euphorischen und deprimierten Stimmungen. Im 19. Jahrhundert spielen für die Erfassung einer Stimmung zwei Qualitäten eine Rolle dabei, ob eine Stimmung als angenehm oder unangenehm bewertet wird. Die erste ist die vorhandene Energie, die andere Qualität ist der Grad der Erregung bzw. Spannung. Viel Energie, gepaart mit hoher Anspannung, wird als unproblematisch wahrgenommen, während ein niedriges Energieniveau bei hoher Anspannung als unangenehm empfunden wird. Das Erregungsmodell erklärt diese psychisch erfahrene hohe Anspannung über die vorhandene Erregbarkeit, welche mittels Reizen abgebaut werden muss. Dies ist auch der Grund dafür, warum Reize dann gesucht werden, wenn der Mensch sich in hoher Erregbarkeit befindet, aber über keine ausreichende innere Erregung verfügt. Andererseits kann diese Reizerhöhung auch gesucht werden, wenn die Reizbarkeit durch Überreizung erschöpft worden ist, und so nur noch durch extreme Reize aufgestachelt werden kann. Allerdings stößt dieses medizinische Modell bei der Erklärung der Stimmungsschwankungen bei Zyklothymen an seine Grenze. Dennoch werden diese Modelle benutzt, um aus einer deprimierten Stimmungslage herauszukommen, wie Leonce und Lenz zeigen werden. Diese Stimmungslagen sind wiederum für die Deutung der Umwelt und der eigenen Person verantwortlich und damit zugleich auch für den Umgang mit diesen. An Büchners Leonce und Lenz lassen sich diese veränderten Deutungen ihrer Welt zeigen. Allerdings haben wir es hier mit zwei hinsichtlich ihres Schweregrades deutlich voneinander unterschiedenen zyklothymen Stimmungen zu tun. Während Leonce zu den typischen Gelangweilten gehört, kann Lenz nicht zu diesen gerechnet werden. Aber er weist interessante Parallelen 70
zu diesen auf. Dass Büchner in beiden Texten anstelle des französischen ennui die deutsche Bezeichnung »Langeweile« verwendet, ist ein Hinweis auf den Bedeutungswandel, welchen dieser Begriff inzwischen durchlaufen hat. Zunächst werde ich auf Leonce und Lena eingehen, weil Büchner hier auf die typischen Welt- und Selbstdeutungen sowie die entsprechenden Verhaltensmuster der Gelangweilten zurückgreift, während es sich bei Lenz um eine Weiterentwicklung dieser Darstellungsform einer bipolaren Störung handelt. In Leonce und Lena haben die deprimierten wie die exaltierten Stimmungen nicht den gleichen Grad an Intensität und Schärfe wie dies in vielen anderen ennui-Darstellungen der Fall ist. Stattdessen werden sie immer auch komisch gebrochen. Auf diese Weise bleibt die Komödie ihrem Genre verpflichtet. Dies lässt sich übrigens auch für Mussets Fantasio feststellen. Dass Leonce nicht der erste seiner Art ist, zeigt sich schon daran, dass die üblichen Aussprüche des Gelangweilten nur noch in verkürzter Form erscheinen. Dies verleiht ihnen einen geradezu zitathaften Charakter, auch wenn man nicht weiß, dass Büchner hier Quellen benutzt hat. Was in anderen Texten noch zu längeren Reflexionen führte, wird hier nur noch angerissen. Die Demonstration der Gleichgültigkeit Leonces wird auf diese Weise allerdings überzeugender, als wenn er lange räsonieren würde. Dadurch setzt dieses Lustspiel aber auch einige Vertrautheit mit der Langeweile-Literatur voraus. Auf diesen durchaus interessanten Aspekt werde ich hier aber nicht eingehen. Da es hier um den Nachweis der Bipolarität des ennui geht, werde ich mich auf die Darstellung des Umschlagens von deprimierter in exaltierte Stimmung und umgekehrt beschränken, ohne auf alle typischen Kennzeichen des Gelangweilten einzugehen. In Leonce und Lena lassen sich natürlich keine langen Phasen von Stimmungen erkennen, weil sich das Stück auf einen Zeitraum von etwa vierundzwanzig Stunden beschränkt. Dies ist aber angesichts dessen, dass die Dauer kein essentielles Merkmal der Stimmung ist, auch nicht notwendig. Auch fehlt ein expliziter Bezug zur zeitgenössischen Physiologie. Dennoch lässt sich die Stimmungskurve mit ihren Schwankungen mittels der Nervenmodelle deutlicher herausarbeiten. Während einer deprimierten Stimmung versucht Leonce, dieser mittels Reizerhöhung zu entkommen. Auffällig ist, dass dieser bewusste Einsatz von Reizmitteln nur von mäßigem Erfolg gekrönt ist, während der tatsächliche Stimmungsumschwung unvermittelt erfolgt. Bereits bei 71
seinem ersten Auftreten bemüht sich Leonce, sich aus seiner deprimierten Stimmung zu befreien. Indem er zur Reizerhöhung greift, verweist er auf die physiologische Seite seines Problems, d. h. er leidet an einem Reizmangel oder an einer zu stark erschöpften Reizbarkeit, weshalb es eines starken Reizes bedarf, um ihn überhaupt noch bewegen zu können. Besonders deutlich wird der bewusste Einsatz von stärkeren Reizen, aber auch ebenso seine Vergeblichkeit, in der Rosetta-Szene: »L e o n c e. Sind alle Läden geschlossen? Zündet die Kerzen an! Weg mit dem Tag! Ich will Nacht, tiefe ambrosische Nacht. Stellt die Lampen unter Krystallglocken zwischen die Oleander, daß sie wie Mädchenaugen unter den Wimpern der Blätter hervorträumen. Rückt die Rosen näher, daß der Wein wie Thautropfen auf die Kelche sprudle. Musik! Wo sind die Violinen? Wo ist die Rosetta? Fort! Alle hinaus!« (MBA 6, S. 103)
Vielleicht liegt die Vergeblichkeit von Leonces Bemühungen daran, dass er sich diese Reizerhöhung planvoll verschafft und so von vornherein das Interessante daran unterbindet. Andererseits ist diese Inszenierung wiederum Ausdruck des Versuchs, doch noch etwas empfinden zu können. Man könnte Leonce auch als überreizten Menschen betrachten, der nun einfach seine innere Erregbarkeit erschöpft hat und somit an Asthenie leidet. Dann wäre aber ein Umschlagen in eine exaltierte Stimmung nicht mehr möglich. Und genau dies wird am Ende dieser Szene geschehen. Die medizinischen Modelle können diesen permanenten Wechsel zwischen exaltierten und deprimierten Stimmungen nicht erklären, weil sie stets von einer gravierenden Schädigung des Organismus bei heftigeren Stimmungen ausgehen. In dem Monolog, welcher sich an Rosettas Abgang anschließt, zeigt sich hingegen ein leichter Umschwung der Stimmung, ohne dass Leonce eines weiteren äußeren Reizes bedurfte. Obwohl dieser Monolog zunächst die vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber dem Ende seiner Liebe zu Rosetta und schließlich auch der eigenen Person demonstriert, kommt es währenddessen zu einem Anstieg seiner Energie und damit zu einem zunehmend bewusst komischen Verhalten, das am Ende des Monologs geradezu närrisch wird (ebd., S. 105f.). Das Frösteln bildet einerseits den Höhepunkt seines Energieverlustes: »Ich sitze wie unter einer Luftpumpe. Die Luft so scharf und dünn, daß mich friert, als sollte ich in Nankinhosen Schlittschuh laufen.« (Ebd., S. 106.) Zugleich bildet es aber auch den Umschlagpunkt, an welchem die Energie Leonces soweit ansteigt, dass er sich einen närrischen Monolog für sich selbst zu halten 72
vermag: »Komm Leonce, halte mir einen Monolog, ich will zuhören.« (Ebd.) Die zwanghafte Selbstreflexion, weil es keinen anderen Gegenstand mehr gibt, für den er noch Interesse aufbringen könnte, verwandelt sich in eine komische Inszenierung, welche mit einem Anwachsen der Energie einhergeht. Am Ende erfolgt der Applaus für die eigene Inszenierung, begleitet von Bravorufen (vgl. ebd.). Ein Umstand, der zu Valerios Kommentar führt: »Eure Hoheit scheint mir wirklich auf dem besten Weg, ein wahrhaftiger Narr zu werden.« (Ebd.) Interessant ist Leonces zustimmende Reaktion auf diesen Kommentar, insofern er bezeugt, dass dieser Applaus für sich selbst nicht mehr aus der reflektierten Distanz erfolgte: »Ja, beim Licht besehen, kommt es mir eigentlich eben so vor.« (Ebd.) Das heißt, Leonces deprimierte Stimmung hat sich offenbar in eine närrische, und d. h. exaltierte verwandelt. Diese Stimmung beruht auf einem Anstieg an Energie, welche sich auch im weiteren Verlauf dieser Szene in verbalen, aber auch in spielerisch körperlichen Angriffen auf Valerio entlädt (vgl. ebd., S. 106f.) Dieser veränderte Umgang mit sich selbst und seiner Umgebung findet aber nicht wegen verstärkter äußerer Reize statt, sondern ist einfach einem Stimmungsumschwung geschuldet. Denn äußere Reize vermögen bei Leonce allenfalls ein Anstoß zu sein, sie können aber nicht zu einem grundsätzlichen Stimmungsumschwung führen. Am Ende dieser Szene geschieht ein eindeutiger Umschwung in eine euphorische Stimmung, welche nicht aus den vergeblichen Vorschlägen Valerios, was sie tun könnten, erfolgt, sondern völlig unvermittelt. Wie plötzlich sich Leonces Stimmung in eine wirklich exaltierte verwandelt, zeigt sich daran, dass er zunächst in seiner alles ablehnenden Manier fortfährt: »Ach der Teufel ist nur des Contrastes wegen da, damit wir begreifen sollen, daß am Himmel doch eigentlich etwas sei« (ebd., S. 109) – um dann aber plötzlich »[a]ufspringend« zu rufen: »Ah Valerio, Valerio, jetzt hab’ ich’s! Fühlst du nicht das Wehen aus Süden? Fühlst du nicht wie der tiefblaue glühende Aether auf und ab wogt, wie das Licht blitzt von dem goldnen, sonnigen Boden, von der heiligen Salzfluth und von den Marmor-Säulen und Leibern? Der große Pan schläft und die ehernen Gestalten träumen im Schatten über den tiefrauschenden Wellen von dem alten Zaubrer Virgil, vom Tarantella und Tambourin und tiefen tollen Nächten, voll Masken, Fackeln und Guitarren. Ein Lazzaroni! Valerio! Ein Lazzaroni! Wir gehen nach Italien.« (Ebd.)
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Das Aufspringen zeigt die Auswirkung des Stimmungsumschwungs auf die Motorik, und sein neuer begeisterter Tonfall bezeugt die Euphorie, in welche Leonce völlig unvermittelt verfällt. Dass die beiden nie in Italien ankommen werden, spielt keine Rolle. Der Stimmungsumschwung lässt das Reiseziel nicht nur als schön erscheinen, sondern überhöht es völlig. Die Motorik ist die körperliche Seite des Willens, welche gerade in manischen Phasen besonders raumgreifend wird. Griesinger bezeichnet die Manie auch als eine »Ausschweifung des Wollens«. Diese kann sich in zwei Richtungen zeigen, entweder in einer übermäßigen Äußerung im motorischen Bereich, in Sprache, Mimik, heftigen Körperbewegungen, oder in einer übermütigen Stimmung, einer erhöhten Selbstempfindung, woraus sich eine andauernde Selbstüberschätzung entwickelt. Leonce wird an dieser Stelle natürlich nicht manisch, sondern er verfällt lediglich in eine leicht hypomanische Stimmung. Es handelt sich hier aber um nicht äußerlich begründete Stimmungsumschwünge, die eine veränderte Wahrnehmung und Deutung, in diesem Falle eines Reisezieles, erzeugen.13 Im zweiten Akt beginnen die deprimierten Stimmungen bei Leonce pathologischere Züge zu tragen, aber gerade hier folgen exaltierte und deprimierte Stimmungen im raschen Wechsel aufeinander. Die klaustrophobische Erfahrung der Enge der Welt, welche er zu Beginn der ersten Szene des zweiten Aktes macht, scheint in seiner nächsten Replik schon wieder vergessen zu sein. Von da an blödelt Leonce bis zum Ende der Szene mit Valerio (vgl. MBA 6, S. 111f.). In der zweiten Szene dieses Aktes kommt es erneut zu einem Angstzustand bei Leonce, welcher sich in der eigenwilligen Deutung des Wirtshausgartens zeigt: »Siehst du die alten Bäume, die Hecken, die Blumen, das Alles hat seine Geschichten, seine lieblichen heimlichen Geschichten. Siehst du die greisen freundlichen Gesichter unter den Reben an der Hausthür? Wie sie sitzen und sich bei den Händen halten und Angst haben, daß sie alt sind und die Welt noch so jung ist. O Valerio, und ich bin so jung und die Welt ist so alt. Ich bekomme manchmal eine Angst um mich und könnte mich in eine Ecke setzen und heiße Thränen weinen aus Mitleid mit mir.« (Ebd., S. 113) ––––––––– 13 Vgl. Wilhelm Griesinger: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Ärzte und Studirende. Stuttgart 1845, S. 209f.
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Es handelt sich hierbei um einen offensichtlich unbegründeten Angstzustand, ein typisches Symptom für Melancholie. Dieser wird von Bird mit dem Mangel an Beweglichkeit des Gehirns begründet, weshalb Melancholiker nicht mehr in der Lage seien, ihre eigene Situation richtig einzuschätzen.14 Dieser Zustand ist bei Leonce aber nur von kurzer Dauer und schwenkt in seiner nächsten Replik unmittelbar in einen leicht exaltierten um, in welchem Leonce erneut unvermittelt aufspringt und Valerio unterbreitet, dass sie unbedingt »was treiben« müssten (ebd.). Dieser Anfall von plötzlichem Enthusiasmus verliert sich jedoch genauso schnell, noch während dieser Replik. Aber damit ist nicht die euphorische Stimmung widerlegt, sondern nur der Wechsel von einer leicht exaltierten zu einer lethargischen und damit deprimierten Stimmung belegt. Leonce demonstriert an dieser Stelle indessen nicht nur diesen Stimmungsumschwung, sondern er erklärt zugleich, dass dieser Versuch, seinen Enthusiasmus umzusetzen, und dessen Scheitern eine ganz gewöhnliche Erfahrung für ihn darstellen (vgl. ebd.). Den letzten und zugleich stärksten Ausschlag der Stimmung in Richtung Manie, welche aber auch dann nicht erreicht wird, erlebt Leonce nach seiner nächtlichen Begegnung mit Lena. Hier wird eine intensive Erfahrung der Fülle gemacht, allerdings wirkt auch sie komisch gebrochen. Die Vereinigung mit der gesamten Schöpfung, die verfremdete Wahrnehmung der Welt, welche nur noch in Bezug auf ihn existiert, sind Erfahrungen, die durchaus einem manischen Anfall Ehre machen: »Zu viel! zu viel! Mein ganzes Seyn ist in dem einen Augenblick. Jetzt stirb. Mehr ist unmöglich. Wie frischathmend, schönheitglänzend ringt die Schöpfung sich aus dem Chaos mir entgegen. Die Erde ist eine Schaale von dunkelm Gold, wie schäumt das Licht in ihr und fluthet über ihren Rand und hellauf perlen daraus die Sterne. Meine Lippen saugen sich daran: dieser eine Tropfen Seligkeit macht mich zu einem köstlichen Gefäß. Hinab heiliger Becher! (Er will sich in den Fluß stürzen.)« (Ebd., S. 116)
Nach diesem Ausbruch sinkt die Stimmung wieder auf ein normales Maß zurück. Danach kommt es zwar zu keinen extremeren Stimmungsumschwüngen mehr, aber Leonce verfällt nicht in eine dumpfe Gleichgültigkeit, wie dies bei Lenz der Fall ist, sondern erlebt seine Stimmungsschwankungen von nun an nur auf gemäßigterem Niveau. ––––––––– 14 Vgl. Friedrich Bird: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, zum Gebrauche für practische Aerzte. Berlin 1836, S. 65.
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Vergleicht man nun die Novelle Lenz mit Leonce und Lena, so fällt zunächst einmal auf, dass Lenz in der ›Langeweile‹-Passage von H1 etwas ausspricht, das Büchner in nur leicht modifizierter Form für Leonce und Lena verwendet hat. In Lenz wirkt dieser Abschnitt seltsam fremd. Dennoch ist der Umstand nicht unbedeutend, dass die beiden Texte hier in dieser vorläufigen Fassung übereinstimmen. Denn gerade der ennui spielt auch für Lenz eine wichtige Rolle. Nicht, weil Lenz ein Gelangweilter im Sinne Leonces oder gar Obermanns wäre, obwohl der ennui des Letzteren keineswegs als leichte psychische Erkrankung erscheint, sondern weil in Lenz der für den ennui so charakteristische Stimmungswechsel für die Darstellung einer schwerwiegenden psychischen Störung fruchtbar gemacht wird. Nach den zeitgenössischen medizinischen Modellen wäre eine Darstellung wie diese nicht möglich gewesen. Da im Hinblick auf Lenz die Melancholie bislang im Vordergrund stand, möchte ich hier den Fokus verstärkt auf die exaltierten Stimmungen richten. Gerade der Wechsel zwischen exaltierten und deprimierten Stimmungen ist überaus interessant. Dieser Wechsel lässt sich nur anhand von H3 verfolgen, während in H1 und H2 keine exaltierten Stimmungen vorkommen. Daher werde ich mich auf Passagen aus H3 beschränken. Dass sich dieser Stimmungswechsel nur in der jüngsten Handschrift findet, verweist auf einen Konzeptionswechsel bei der Gestaltung von Lenzens psychischer Störung. Bereits der Anfang der Novelle ist von Stimmungsumschwüngen geprägt. Als äußere Reize fungieren Nebel im Falle der deprimierten Stimmungen, und plötzliche Sonneneinstrahlungen bei den exaltierten. Diese positive Wirkung von Licht auf Lenz erfolgt aber nur, solange er noch für diesen Reiz empfänglich ist. Das Erleben der Umgebung scheint sich durch die plötzlichen Sonneneinstrahlungen positiv zu verändern. Lenzens Stimmungslage hebt sich nicht nur soweit an, dass er wieder Interesse an der Welt gewinnt und diese Realität für ihn erhält, sondern es geht weit darüber hinaus. Die Stimmen, welche ihm zuvor Furcht eingeflößt hatten, scheinen nun »in ihrem wilden Jubel die Erde [zu] besingen«, Wolken werden mit wilden Pferden verglichen, der Wind in den Tannenwipfeln klingt »wie ein Wiegenlied und Glockengeläute« (MBA 5, S. 12). Die Farben verändern sich und nehmen eine andere Bedeutung an, sie werden mit sich bewegenden Gegenständen in Verbindung gebracht: Der Sonnenschein zieht »sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen«; die »Wölkchen« durch76
ziehen den Himmel »auf silbernen Flügeln« etc. Alles wird hell und glänzend, überdeutlich, ja »scharf und fest« im Gegensatz zu Lenzens vorangegangener Wahrnehmung, in welcher »der Nebel die Formen […] verschlang« (ebd.), und alles, was ihm wichtig gewesen zu sein schien, »verlornen Träumen« (ebd.) glich. Dieser plötzliche Stimmungsumschwung zeigt sich nicht nur in seiner veränderten Wahrnehmung, sondern zugleich wird auf die physiologische Seite verwiesen, welche aber ebenfalls die psychische Selbstwahrnehmung prägt. Es ›reißt‹ »ihm in der Brust« (ebd.): Dies ist ein Hinweis auf seine große innere Anspannung, welche hier aber nicht negativ erfahren wird, obwohl sie sich immer weiter steigert. Was bedeutet, dass sie mit einem hohen Grad an Energie einhergeht. Denn Lenz bleibt nicht bei dieser geradezu synästhetischen Wahrnehmungsweise stehen, sondern es kommt zu einem Vereinigungswunsch mit der gesamten Schöpfung. Lenz fürchtet sich nun nicht mehr vor dieser Natur in ihrer Gewalt, sondern sein Körper »dehnt […] sich […] über der Erde«, um nicht nur den Sturm, sondern das ganze »All« in sich aufzunehmen (ebd.). Die Exaltation wird physiologisch als ein Zeichen einer Ausdehnung des Gehirns und seiner größeren Beweglichkeit gedeutet.15 Lenz zeigt hier das Pendant in seiner körperlichen Ausdehnung, welche in seiner Wahrnehmung über das tatsächliche Maß hinausgeht, weil er auf dieser Ebene sich wirklich lustvoll ›ins All hineinzuwühlen‹ vermag. Diese Erfahrung ist eine Extremerfahrung, sie ist mit Lust und Schmerz verbunden, wobei der Schmerz hier nicht als eine negative Erfahrung gilt. Vielmehr zeugt er von einer äußerst intensiven Selbst- und Weltwahrnehmung, auch wenn diese nicht der realen Situation gerecht wird. Aber dies ist typisch für den extrem exaltierten Zustand, welcher hier eindeutig als manischer gedeutet werden kann. Auf eine solche Erfahrung folgt die ––––––––– 15 Vgl. z. B. Karl Wilhelm Ideler: Grundriß der Seelenheilkunde. Berlin 1835. Bd. I, S. 683f.; Friedrich Bird: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, zum Gebrauche für practische Aerzte. Berlin 1836, S. 27, 65. Vgl. hierzu auch Xavier Bichat: Recherches physiologiques sur la vie et la mort. 4. Aufl. Augmentée de notes par François Magendie. Paris 1822, S. 81 und die historische Darstellung in François Joseph Broussais: De l’irritation et de la folie. Ouvrage dans lequel les rapports du physique et du moral sont établis sur les bases de la médecine physiologique, S. 38. Die Beweglichkeit der Dura mater wird schon bei Friedrich Hoffmann für die Gehirnfunktionen verantwortlich gemacht, vgl. hierzu Ingo Wilhelm Müller: Iatromechanische Theorie und ärztliche Praxis im Vergleich zur galenistischen Medizin: (Friedrich Hoffmann, Pieter van Foreest, Jan van Heurne). Stuttgart 1991, S. 111f.
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Gleichgültigkeit. Alles, was Lenz kurz zuvor so intensiv erfahren hat, wird zu einem bloßen »Schattenspiel« (ebd., S. 13). Auf den Rausch folgt so die Ernüchterung. Dieser plötzliche Umschwung lässt sich zwar mittels des Erregungsmodells beschreiben, aber mehrfach aufeinander folgende Stimmungsumschwünge dieser Art lassen sich nicht mit den zeitgenössisch gültigen medizinischen Auffassungen erklären. Eine weitere sich bis zum Größenwahn steigernde positive Stimmung beginnt während eines Morgenspaziergangs ebenfalls unter dem Einfluss von Licht. Die für Lenz so furchterregende Welt verwandelt sich zunehmend in eine vertraute, bis ihn schließlich ein »Weihnachtsgefühl« überkommt und er erwartet, »seine Mutter müsse hinter einem Baume hervortreten, groß, und ihm sagen, sie hätte ihm dies Alles bescheert« (ebd., S. 16). Bestätigt fühlt er sich in seiner Weltdeutung durch einen »Regenbogen von Strahlen« (ebd.) um seinen Schatten und die vermeintliche Berührung durch ein »Wesen«, welches ihn zudem noch anzusprechen scheint (ebd.). Dieser mit Größenwahn verbundene ausgeprägte Ichbezug ist besonders typisch für eine manische Episode. Noch kommt es nicht zu motorischen Auswirkungen dieser Erfahrung. Es ist der Beginn einer länger anhaltenden manischen Phase. Zwar scheint sich Lenz zunächst nach diesem Spaziergang lediglich in einer angenehmen Stimmung zu befinden, die von Ruhe geprägt ist. In dieser Stimmung bittet er darum, predigen zu dürfen. Aber bereits bei der Vorbereitung der Predigt verwandelt sich die zunächst gelöst erscheinende Stimmung auffällig in eine zunehmend extremere. Einen ersten Höhepunkt bildet die Selbsterfahrung während der Predigt, in welcher Lenz die Auflösung seines »Starrkrampf[es]« erlebt (ebd., S. 17). So verschwindet das Gefühl des Gestorbenseins, welches in einer früheren Szene beschrieben wird, nicht nur völlig, sondern steigert sich in eine intensive Selbstwahrnehmung. Die Erregung gipfelt schließlich in seinem Zimmer in einer Selbstauflösung, einer »Wollust« des Schmerzes, um dann in eine Entspannung, dem Weinen und schließlich Schlaf, wieder zurückzugehen. Im Unterschied zu den am Anfang dieses Textes geschilderten Erfahrungen wird im Anschluss an diese Erfahrung zwar Kälte gefühlt, aber verbunden mit Ruhe und Stille (vgl. ebd.). Obwohl diese mit dem Gefühl des Alleinseins gepaart sind, handelt es sich hier nicht um eine völlig negative Erfahrung. Die Anspannung hat sich nicht in eine plötzliche Erschlaffung und Lähmung verwandelt, sondern sie löste sich und blieb insofern auf einem noch erträglichen Niveau erhalten. 78
Auch der Versuch, das Kind aus Fouday wiederzubeleben, allein der Gedanke daran, verweist auf einen zu starken Anstieg innerer Erregung, welche Lenz das Gefühl vermittelt, dies tatsächlich mit seinem bloßen Willen bewerkstelligen zu können. Die Frustration über das Misslingen dieses Unterfangens führt aber nicht zu einer völligen Apathie, sondern scheint die Erregung des Nervensystems noch zu erhöhen, was sich in Lenzens Zorn gegen Gott entlädt. Die Überzeugung, welche sich seiner hierauf bemächtigt, dass er »Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen« könne (ebd., S. 25), ist eine Form extremer Selbstüberhöhung und steht zur Depression scheinbar in diametralem Gegensatz. Gerade die Kraft dieses Ausbruchs deutet auf einen hohen Grad der Erregung hin. In diesem Augenblick fürchtet Lenz sich nicht. Die Furcht kommt erst im Nachhinein. Hier muss wiederum deutlich zwischen den verschiedenen Stimmungen unterschieden werden. Als Lenz dann plötzlich die Welt und der Glaube an Gott lächerlich erscheinen, wird er »kalt und unerschütterlich« (ebd., S. 26). In diesem Augenblick hat die Anspannung völlig nachgelassen. Sein Körper friert, ein Zeichen von Erregungsverlust. Dass für dieses Gefühl der Angst ein Rest an Erregung übrig sein muss, beweist das Ende der Novelle. Denn hier hat sich mit dem inneren Drängen auch die Angst verflüchtigt. Dieses Drängen ist das Sehnen, das Verlangen (vgl. ebd., S. 27), welches auf physiologischer Ebene Nervenanspannung bedeutet. Dass der Wechsel zwischen exaltierten und deprimierten Phasen für Lenz in H3 charakteristisch ist, bevor er jegliche Erregbarkeit verloren hat, zeigen noch zwei weitere Passagen, welche diesen Stimmungswechsel in gedrängter Form präsentieren: »Ein gewaltsames Drängen, und dann erschöpft zurückgeschlagen; er lag in den heißesten Thränen, und dann bekam er plötzlich eine Stärke, und erhob sich kalt und gleichgültig, seine Thränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles strömte wieder zusammen. Ahnungen von seinem alten Zustande durchzuckten ihn, und warfen Streiflichter in das wüste Chaos seines Geistes.« (Ebd., S. 23)
Das gewaltsame Drängen, auf welches die Erschöpfung folgt, die dann in Kälte umschlägt, beschreibt nichts anderes als den Wechsel zwischen erregten und deprimierten Stimmungen. In diesen exaltierten Phasen empfindet Lenz das Leben äußerst intensiv, während er sich in den entgegengesetzten wie in einem Traum oder gar tot fühlt. Offenbar überkommen ihn diese exaltierten, intensiven Gefühlszustände immer selte79
ner. So erinnert er sich zwar an sie und versucht, sie erneut in sich zu erwecken, aber es gelingt ihm gegen Ende nicht mehr: »Je leerer, je kälter, je sterbender er sich innerlich fühlte, desto mehr drängte es in ihn, eine Gluth in sich zu wecken, es kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo Alles in ihm sich drängte, wo er unter all’ seinen Empfindungen keuchte; und jetzt s[o] todt.« (Ebd., S. 24f.)
Angesichts dessen, dass die Medizin noch fünfzehn Jahre benötigen wird, um einen derartigen Verlauf zu beschreiben, ist diese Schilderung einer bipolaren Störung um 1836 sehr erstaunlich. Andererseits ist es vielleicht noch erstaunlicher, dass die Medizin trotz der vielen Ausführungen über eine schwächere Form einer derartigen Erkrankung, die pathologische Form des ennui, so viel Zeit benötigt hat, um eine solche Erkrankung beobachten und schließlich auch theoretisch erfassen zu können.
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Georg Büchners Leonce und Lena und die »Lustspielfrage« seiner Zeit Von Arnd Beise (Magdeburg)
I. Wie genau eine gelungene Komödie auszusehen hätte, wusste im Vormärz offenbar niemand so genau. 1847 noch sprach Friedrich Hebbel im Vorwort zu einer fast zehn Jahre zuvor verfassten Komödie von den in der »Lustspielfrage […] hin und herschwankenden Meinungen«, da es hier immer noch kein verbindliches »Grundprinzip« gebe.1 »So lebhaft auch das Interesse« an der Komödie war – gerade in den revolutionär gesinnten Vormärz-Kreisen –, »und so bedeutsam auch die Überlegungen über ein neues Drama und die Funktion der Kunst bei Jungdeutschen und den radikaleren Junghegelianern« war, so wenig bewegte sich in der Komödientheorie. Man muss den Eindruck gewinnen, dass in den Augen der Zeitgenossen »die Entwicklung der Gattung« als »eigentlich abgeschlossen« gedacht und »Originalität, wenn überhaupt, nur noch aus Variationen bzw. Mischungen überlieferter Formen« bestehend erwartet wurde.2 Tatsächlich waren alle bis in die 1870er Jahre hinein immer wieder hin und her gewendeten Argumente in der von Hebbel so genannten »Lustspielfrage« schon am Beginn des Jahrhunderts formuliert worden. Besonders bedeutsam war um 1800 das gemeinsame Bemühen der Weimarer Klassiker und der Romantiker, die Komödie wieder zu purifizieren, d. h. der »Auflösung der ursprünglichen Komödienstruktur durch ––––––––– 1 Friedrich Hebbel: Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke, Werner Keller u. Karl Pörnbacher. Bd. 1, München: Hanser 1963, S. 221 (Vorbemerkung zum Diamant). 2 Michael Schulte: Von der Romantik bis zum Realismus: Einleitung. In: Komödientheorie. Texte und Kommentare. Vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Ulrich Profitlich in Zus.arb. m. Peter-André Alt, Karl-Heinz Hartmann u. Michael Schulte. Reinbek: Rowohlt 1998, S. 92f.
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das zeitgenössische Rührstück« entgegenzuwirken.3 »Man klagt mit Recht«, schrieben Schiller und Goethe 1800 in der Ausschreibung einer Dramatischen Preisaufgabe (Propyläen 3.2), dass »die reine Komödie, das lustige Lustspiel, bei uns Deutschen durch das sentimentalische zu sehr verdrängt worden«, so dass »jene geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts, welche in uns hervorzubringen das schöne Ziel der Komödie« sei, nicht mehr erreicht werde.4 Als Remedium gegen die Verweinerlichung des Lustspiels empfahlen die Anhänger der »reinen Komödie« die Besinnung auf ältere Vorbilder wie Aristophanes, Shakespeare oder sogar Holberg. Dadurch hoffte man der »geschmacklose[n] und falsche[n] Sentimentalität« der Philister zu entkommen, wie Robert Prutz gelegentlich formulierte und der eine Komödie propagierte, die frei sein sollte »von häuslicher Misere, von unglücklichen Liebespaaren, geprellten Oheimen, unverhofften Erbschaften« und dergleichen.5 Auch Arnold Ruge polemisierte 1837 gegen die »philiströse Bravheit« der »Bürgerlichkeit« und »die ganze Gemeinheit der Naturtreue«, die als »nichtswürdige[s] Gerümpel fast alle unsre jetzigen Lustspiele ausstopft«. Sinn und Zweck der Komödie sei aber nichts »als eben das Komische selbst«, dekretierte er in seiner Neuen Vorschule ––––––––– 3 Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim: Beltz Athenäum 1998, S. 373. 4 Friedrich Schiller: Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 5, 9. Aufl., München: Hanser 1993, S. 845; Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Ernst Beutler. Bd. 14 (Einführung u. Textüberwachung v. Fritz Strich), Zürich: Artemis u. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1977, S. 61. 5 Robert Prutz: Ludwig Holberg. Sein Leben und seine Schriften. Stuttgart, Augsburg: Cotta 1857, S. 339; ders.: Kleine Schriften zur Politik und Literatur. Merseburg: Garcke 21850, Bd. 1, S. 273f.; vgl. auch schon, besonders die einleitenden Ausführungen, in Prutz’ Rezension Alte und neue komische Romane. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst. Hrsg. v. Theodor Echtermeyer u. Arnold Ruge, 2. Jg., Nr. 298–301 (12.– 17. Dezember 1839), Sp. 2386f. – Georgs Schwester Luise Büchner schrieb später: »Mit Begierde verschlang man jetzt die von Arnold Ruge und [Theodor] Echtermeyer herausgegebenen Halle’schen Jahrbücher, welche mit schlagenden Worten die politische und religiöse Reaction bekämpften, und das Vorrecht der freien Forschung und Kritik für alle Erzeugnisse der politischen, theologischen und literarischen Wissenschaften in Anspruch nahmen. Dieses Organ war seinerzeit von außerordentlichstem Einfluß und verbreitete in weiteren gebildeten Kreisen den Hauptinhalt der gelehrten Schriften, die sich in jener Epoche vorzugsweise mit der freieren theologischen Forschung beschäftigten« (Deutsche Geschichte von 1815 bis 1870. Zwanzig Vorträge […]. Leipzig: Thomas 1875, S. 307f.).
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der Ästhetik.6 Unter dem »Komischen selbst« verstanden die Anhänger der »reinen Komödie« eine selbstbezügliche Komik, die am besten kaum auf die gesellschaftliche Realität und schon gar nicht auf die bürgerliche Alltäglichkeit bezogen sein sollte, mithin sich des Satirischen weitgehend zu enthalten habe. »So ist der Humor und das humoristische Bewußtsein eben so gut die Voraussetzung als der Zweck der Komödie«, meinte Ruge. Erst durch den Humor erhebe sich ein Lustspiel »zur Poesie«.7 Freilich gab es auch Gegner dieser Haltung. Der einflussreiche Publizist und Übersetzer Franz Horn zum Beispiel empfahl 1821 die Rückbesinnung auf Molière, also auf die Tradition der Verlachkomödie, die mittels typisierter Rollenmuster bestimmte Laster satirisch aufs Korn nahm und gleichermaßen moralisierend wie didaktisch an der bürgerlichen Verbesserung der Sitten arbeitete. Solche Stücke hatten in den 1840er Jahren oft plakative Titel wie Die Schwiegermutter (von Heinrich Smidt) oder Alter schützt vor Thorheit nicht (von Feodor Wehl), bei denen man den Eindruck hat, dass man sie gar nicht lesen müsse, um zu wissen, worum ungefähr es darin geht. Als Übervater dieser Richtung galt Anfang des 19. Jahrhunderts einer der damals erfolgreichsten Dramatiker, nämlich August von Kotzebue.8 Dieser galt in jungdeutschen Kreisen gleichzeitig als einer der »bedeutendsten Schriftsteller der Reaction«, wie sich Heinrich Laube ausdrückte,9 was auch seine Ästhetik in Verruf brachte. Gegen Lustspiele dieser Machart hatte sich schon 1767 Lessing gewandt, nachdem er eine der erfolgreichsten Komödien seiner Zeit, nämlich Theodor von Hippels Der Mann nach der Uhr, oder: Der ordentliche Mann gesehen hatte.10 Das Stück sei zwar »reich an drolligen Einfällen; nur ––––––––– 6 Arnold Ruge: Neue Vorschule der Ästhetik. Das Komische mit einem komischen Anhange. Halle: Buchhandlg. d. Waisenhauses 1837 (Repr. Hildesheim [usw.]: Olms 1975), S. 254 u. 256. 7 Ebd., S. 254. 8 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution. 3 Bde. Stuttgart: Metzler 1971–1980, Bd. 2, S. 415. 9 Heinrich Laube: Das junge Europa. Novelle. Erste Abtheilung: Die Poeten. 2 Bde. Leipzig: Wigand 1833 (Repr. Frankfurt/M.: Athenäum 1973), Bd. 2, S. 6. 10 Erschienen 1765; der Titel wurde sprichwörtlich: siehe die MBA 6, S. 528 genannten Zeugnisse von Karl Philipp Moritz, Georg Christoph Lichtenberg und Jean Paul. Auch Karl Gutzkow (Aus der Knabenzeit. Frankfurt/M.: Literarische Anstalt 1852) setzte den Titel noch redensartlich ein (vgl. Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Berliner Erinnerungen und Erlebnisse. Hrsg. v. Paul Friedländer. Berlin: Das Neue Berlin 1960, S. 27–264, hier S. 30).
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Schade, daß ein jeder, sobald er den Titel hört, alle diese Einfälle voraussieht«.11 Nichts langweiliger als das! Und wenn eine Komödie eines nicht sein darf: dann langweilig. Man konnte sich bei der Polemik gegen die aufklärerische Verlachkomödie nach dem Muster Molières oder Hippels um 1830 auch gut auf Hegel berufen, bei dem die Kritik des satirischen Lustspiels ein zentraler Punkt seiner ästhetischen Theorie war. Hegel meinte nämlich, es werde allzu oft das Komische mit dem Lächerlichen verwechselt. »Die Laster der Menschen z. B. sind nichts Komisches«, fand Hegel – und deswegen Molière auch nicht besonders witzig. So sei beispielsweise »Molières Tartuffe […] als Entlarvung eines wirklichen Bösewichts nichts Lustiges, sondern etwas sehr Ernsthaftes […]. Auch […] Molières Geiziger […] hat nichts eigentlich Komisches«.12 Für einen Autor, der in politischen wie in literarischen Dingen gleichermaßen an avantgardistischen Lösungen interessiert war, war um 1830 also klar, dass eine überzeugende Komödie nicht alltäglich-langweilig, nicht bürgerlich-moralisch, nicht satirisch und nicht sentimental sein durfte.
II. 1830 war Büchner 16 bis 17 Jahre alt. Er hatte Matthison und Schiller, Jean Paul und die Romantiker, Goethe und Shakespeare gelesen. Auch Werke der zeitgenössischen französischen Literatur schätzte er.13 Nach der Julirevolution pflegten er und sein Freund Karl Minnigerode sich mit den Worten: »Bon jour, citoyen« zu begrüßen. Die »modernen Geistesströmungen«, wie es Ludwig Wilhelm Luck in seinen Erinnerungen nannte, hatten den Schüler affiziert und ihm das »Bedürfnis« vermittelt, ––––––––– 11 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert [u. a.]. 8 Bde. München: Hanser 1970–1979, Bd. 4, S. 332. Auch gegen allzu große Alltagsnähe der Komödie hatte sich Lessing bereits gewandt; vgl. ebd, S. 672: Komödien, die in »dem einförmigen ekeln Zirkel« der »alltäglichen Beschäftigungen« blieben und mit »Späßchen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hört«, arbeiteten, würden allenfalls den Dummen lachen machen; »wer zugleich mit seinem Verstande lachen will, der ist einmal da gewesen und kömmt nicht wieder«. 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832– 1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, Bd. 15, S. 570; Komödientheorie (s. Anm. 2), S. 127. 13 MA, S. 371: Erinnerungen Friedrich Zimmermanns (13. Oktober 1877).
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»in das Wesen der Dinge einzudringen«. Das ließ sich nur durch gründliche und »unerbittliche Kritik dessen« bewerkstelligen, »was in der menschlichen Gesellschaft oder Philosophie und Kunst« die herrschende Meinung war. Dies geschah, so erinnerte sich der Schulfreund, häufig auch mit »jugendliche[m] Übermut«, der Anlass gab »zu allerlei kritischem und humoristische[m] Wetteifer in Beurteilung der Zustände«; der aber auch einen »vernichtende[n] […] Hohn« über diese Zustände oder die »skeptische Verachtung alles Nichtigen und Niederträchtigen« hervorbrachte.14 Büchner kannte den »rastlose[n] Eifer« des ernsthaften »Studium[s]« ebenso wie ausgelassenen »Witz und kecke Laune«.15 »Wesenlose Formeln« und Trivialitäten verspottete er, wenn sie ihn nicht in Melancholie stürzten. Statt des religiösen Liedtextes sang »er mit andern« im Schulgottesdienst jedes Mal »halblaut die Worte des Totengräbers im Hamlet«;16 voller Verzweiflung aber notierte er als »Symptome« einer uninspirierten »Wissenschaft« in einem Heft: »Langeweile und Abspannung«.17 Enthusiasmus und Melancholie, Kritik und Langeweile, witziger Übermut und beißender Spott: Das alles kennzeichnet Büchners Schriften vom ersten Werk bis zum letzten Brief. Sein Freund Wilhelm Schulz betonte in einer Rezension über Büchners Nachgelassene Schriften, »wie wunderbar Verschiedenes« doch »der einen Quelle fast gleichzeitig entsprungen« sei und pries Büchners »Gabe«, »bald tragisch erschütternde Auftritte, bald die seltsamsten und lustigsten Verwicklungen nur so als beiläufige Zugabe zur Unterhaltung zu improvisiren«.18
III. Das Lustspiel Leonce und Lena nimmt sich zwischen den beiden Tragödien Danton’s Tod und Woyzeck wie eine »beiläufige Zugabe« aus, doch handelt es sich mitnichten bloß um ein »romantisch-ironisches Zwi––––––––– 14 MA, S. 373–375: Erinnerungen Ludwig Wilhelm Lucks (11. September 1878). 15 MA, S. 394f.: Nekrolog von Wilhelm Schulz 1837. 16 MA, S. 374f.: Erinnerungen Ludwig Wilhelm Lucks (11. September 1878). 17 Insel-Almanach auf das Jahr 1987: Georg Büchner. Hrsg. v. Thomas Michael Mayer. Frankfurt/M.: Insel 1987, S. 25 (Faksimile ebd, S. 24). 18 Walter Grab: Georg Büchner und die Revolution von 1848. Der Büchner-Essay von Wilhelm Schulz aus dem Jahr 1851. Text und Kommentar. Königstein: Athenäum 1985, S. 61 u. 65.
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schenspiel«, wie Hans Mayer meinte.19 Auch Danton’s Tod und Woyzeck sind ja nicht nur ernste oder gar erhabene Tragödien, sondern enthalten beide bei allem Ernst der Sujets noch genug lachenmachende Materie. In Danton’s Tod etwa lachen die beteiligten Personen nicht selten über Witze, hinter denen sich weiß Gott keine tiefere Bedeutung verbirgt. Zum Beispiel »zischelt« ein junger Mann seiner Begleiterin auf der Promenade mit Blick auf eine andere Frau zu: »Man sagt ihr Friseur habe sie à l’enfant frisirt«, worauf sie natürlich über seine »[b]öse Zunge« lachen muss (MBA 3.2, S. 35; Repl. 271–274). Wie man sieht, hatte Büchner keinerlei Scheu vor dem bloßen Wortspiel, das viele Aufklärer des 18. Jahrhunderts als pöbelhaft aus der schöngeistigen Literatur wenn möglich verbannt wissen wollten.20 Sogar Woyzeck enthält alberne Passagen. Man denke nur an das Geplänkel zwischen Hauptmann und Doktor, das Büchner auf der zweiten Entwurfsstufe (H2,7) in die Mordgeschichte einführte und bis zuletzt beibehielt (vgl. H4,9): ––––––––– 19 Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. Neuausgabe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 307. 20 Vgl. Georg Friedrich Meiers Gedancken von Schertzen [zuerst 1744]. 2. Aufl. Halle: Hemmerde 1754, S. 120–129: Wortspiele seien »abgeschmackte Einfälle, die gar nicht gebilligt werden können«. Sie zeugten »von einem seichten und kindischen«, ja »pöbelhafte[n] Geschmacke«, von einem »leere[n] Kopf« und der »Armseeligkeit seines Witzes«, sie seien »unendlich elend und frostig«, ein »ungehirnt Zeug«, kurz: eine »unsinnige Art der Schertze«. Relativiert, wenn auch nicht aufgehoben wurde diese Position bei Johann Christoph Gottsched (Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert. 4. Aufl. Leipzig: Breitkopf 1751, S. 251– 254: Wortspiele seien früher »beliebt« gewesen, »zu unseren Zeit aber ganz lächerlich geworden«; gleichwohl könne er sie »unmöglich« ganz »verwerfen«, denn es gebe nicht nur »läppische« Wortspiele, die »nichts als leere Schellen sind«, sondern auch wohl angebrachte, etwa wenn der Poet sie »in den Mund eines einfältigen Hirten legt«) und bei Lessing (Werke, s. Anm. 11, Bd. 3, S. 492f.: »Dieser kindische Weg sinnreich zu scheinen ist allen Schriftstellern eine Schande, besonders aber dem Dichter […]. Wortspiele, behaupte ich also, beschimpfen den Dichter als Dichter, nicht aber als Nachahmer geringer Personen.« Führe er gemeine Personen auf die Schaubühne, kann er sie auch Wortspiele anbringen lassen, denn: »was ist pöbelhafter als Wortspiele?«). Gottsched war toleranter als Lessing und wollte auch jenseits der Rollensprache bestimmte Wortspiele durchgehen lassen, wenn sie nur lustig genug wären: »Das ist endlich noch anzumerken, daß man zum Gelächter, und irgend eines lustigen Einfalls wegen, wohl zuweilen ein Wort in andern Verstande nehmen, und zum Scherze brauchen kann; ohne den guten Geschmack dadurch zu verletzen« (Gottsched: Versuch, S. 256).
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»DOCTOR. Ey guten Morgen Herr Hauptmann (den Hut und Stock schwingend) Kikerikei! Freut mich! Freut mich! (hält ihm den Hut hin) was ist das Herr Hauptmann, das ist Hohlkopf? Hä? HAUPTMANN. (macht eine Falte) Was ist das Herr Doctor, das ist eine Einfalt! Hähähä!« (MBA 7.2, S. 18; vgl. ebd., S. 28.)
Die beiden können ihre Herkunft aus der Commedia dell’arte (dort hießen sie Dottore und Capitano) schlecht verbergen, wie es scheint. Auch in Woyzeck also hatte Büchner keine Scheu, eine in der klassizistischen Ästhetik unerhörte Vermischung von Stilebenen zuzulassen. Generell gilt, dass Büchners Kunstauffassung von der untrennbaren Einheit des Tragischen und Komischen im wirklichen »Leben« ausging. Und »Leben« ist das, was Büchner, wie sein Lenz, »in allem« verlangte: »wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist« – oder ob es traurig oder komisch ist, könnten wir ergänzen –; »das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige Kriterium in Kunstsachen«, forderte Lenz in der gleichnamigen Erzählung (MBA 5, S. 37). Gleichgültig, ob man Leonce und Lena nun als komisches Gegenstück zu Danton’s Tod oder Woyzeck begreift,21 es ist klar, dass sich auch in dem scheinbar so heiterem Lustspiel umgekehrt tragische Züge finden lassen: Beispielsweise einen Protagonisten, der »unglücklich« ist, »blos weil« er ist, und der trotzdem oder deswegen, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Geliebte verabschiedet, weil er nichts mehr fürchtet, als wegen ihres Unglücks sich möglicherweise neu in sie zu verlieben (MBA 6, S. 115 und S. 104f.). Eines aber wird man in Leonce und Lena vergeblich suchen: Und das ist die »Wirklichkeit«, die Lenz in der nachahmenden Kunst forderte. »Der Dichter und Bildende ist mir der Liebste, der mir die Natur am Wirklichsten giebt«, heißt es in Büchners Erzählfragment (MBA 5, S. 38). ––––––––– 21 Paul Landau sah 1909 sowohl den Prinzen als auch Danton als Masken des Autors. »Leonce ist nur der in einem stillen Weiher unter einem hellblauen Himmel sich spiegelnde Revolutionsheld« (Dedner: Einleitungen, S. 319f.); ähnlich Wilhelm Hausenstein 1916: »Leonce und Lena […] ist das Problem des Danton gewissermaßen in der Umkehrung. […] Leonce und Lena – das ist das Satyrspiel nach der Tragödie des Danton. Beide Stücke gehören einem Thema« (ebd, S. 368f.). Entstehungsgeschichtlich und in der frühen Bühnenrezeption (vgl. Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Hrsg. v. Dietmar Goltschnigg. Bd. 1: 1875–1945. Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 263–266) gehören Leonce und Lena und Woyzeck zusammen.
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Doch Wirklichkeit im Sinne eines künstlerischen Realitätspostulats finden wir in Leonce und Lena nicht. Im Gegenteil! Wie Leonce in der Szene I/3 (MBA 6, S. 103) versuchte sein Autor, für das Lustspiel eine möglichst künstliche Situation herzustellen. Und wenn dessen Figuren wie Woyzeck auf den Boden stampften (vgl. MBA 7.2, S. 22: H4,1), so klänge es auch »hohl da unten«, aber nicht, weil die Freimaurer alles untergrüben, sondern weil sie auf Brettern stehen, die in dem komischen Spiel die Welt allenfalls bedeuten, nicht aber sind oder abbilden.
IV. »Dekoration, Papier, Spaß – nicht Herz, Leben und Lebens Lust und Leid«, das sei Leonce und Lena – und Arnold Zweig fand das 1923 »zu billig«.22 Aber Büchner hatte keine Wahl. Wenn er sich 1835/36 an die Konzeption eines Lustspiels machte, hatte er sich zwischen der bürgerlichen Lachkomödie und dem »reinen« Lustspiel zu entscheiden. Das waren die Spielregeln des damaligen ›literarischen Felds‹ (Bourdieu). Wollte er nicht in die Fußstapfen Augusts von Kotzebue, Louis Angelys oder Charlotte Birch-Pfeiffers treten, so hatte er sich an die romantische Tradition zu halten, deren Programm (»geistreiche Heiterkeit und Freiheit des Gemüts«) ironischerweise von Goethe und Schiller in der bereits zitierten Preisaufgabe am besten formuliert worden war. Übrigens haben sich auch die Junghegelianer erst um 1848 von den romantischen Innovationen abgewandt. Das bedeutendste Lustspiel, welches seinerzeit auf das Preisausschreiben der Propyläen eingesandt worden war, stammte von Clemens Brentano und hieß Ponce de Leon. Es gilt noch heute als »das quirligste, witzigste, mutwilligste und heiterste, kurz: das schönste« unter »den romantischen Lustspielen«.23 An diese Komödie knüpfte Büchner schon mit dem Namen seines Titelhelden anagrammatisch an. Außerdem übernahm er neben verschiedenen Einzelheiten die dem Lustspiel zu Grunde liegende Handlungsstruktur der Heilung eines Melancholikers durch die Liebe und die Behandlung der Sprache. Heinrich Heine schrieb über Ponce de Leon: »Wie Harlekine rennen die verrücktesten Wortspiele durch das ––––––––– 22 Dedner: Einleitungen, S. 398. 23 Walter Hinck: Theater der Hoffnung. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 57.
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ganze Stück und schlagen überall hin mit ihrer glatten Pritsche«.24 Dies ließe sich auch von Leonce und Lena sagen, besonders von der ersten Hälfte, in der Leonce sich mit Wortspielen über die innere Leere hinwegzutrösten versucht und sich mit Valerio, der ihm in jeder Hinsicht gewachsen ist, anfreundet. Brentanos Stück kam dem klassisch-romantischen Ideal einer nur »schönen«,25 d. h. autonomen, nicht ständig auf außerliterarische Wirklichkeit referierenden Komödie »sehr nahe, vielleicht näher als alle anderen Komödien der Romantik«, wie Uwe Japp meinte.26 Mit seiner Orientierung an der Ästhetik dieses Stücks reihte sich Büchner in die Tradition der aristophanischen und shakespearischen Komödie ein und schrieb ein unsentimentales und antiphiliströses Lustspiel, wie es Prutz und Ruge vielleicht vorschwebte. Wie sein Titelheld Leonce wollte Büchner mit seiner Komödie auf keinen Fall ein »nützliche[s] Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden«; eher hätte er seine »Demission« als Dichter gegeben (vgl. MBA 6, S. 109). Viel lieber mochte er sich »als Narr produzier[en]« (MA, S. 286), der einer »abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft« (MA, S. 320) die Leviten liest, aber eben auf die denkbar lustigste Weise. Wahrscheinlich wusste Büchner 1836 genau, dass er sich damit außerhalb der Vorstellungen seines Entdeckers Karl Gutzkow bewegte. Das Wort von der »abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft«, die in Büchners Komödie mit König Peter und seinem Hofstaat ja abgedankt wird,27 fällt in einem Brief an Gutzkow (geschrieben kurz vor oder an dem 1. Juni 1836), wo es auch heißt: »Übrigens; um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus zu reformieren? Unmöglich!« (MA, S. 319) Gutzkow aber schwebten in der Tat bühnentaugliche Lustspiele vor, mit denen sich moralische und ––––––––– 24 Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Klaus Briegleb. Frankfurt/M. [usw.]: Ullstein 1981, Bd. 5, S. 447. 25 Friedrich Schlegel: Vom ästhetischen Wert der griechischen Komödie (1794). In: Dramaturgische Schriften des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. Klaus Hammer. 2 Bde. Berlin: Henschel 1987, Bd. 1, S. 85–92. 26 Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick. Tübingen: Max Niemeyer 1999, S. 59. 27 Arnd Beise: »Die Leute vertragen es nicht, dass man sich als Narr produziert«. Georg Büchners »Leonce und Lena«. In: Der Deutschunterricht 54 (2002) H. 6, S. 24–33, hier S. 27.
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politische Ideen theatralisch kommunizieren ließen; zu diesem Zweck aber, so schrieb er an Levin Schücking (27. Mai 1840), müssten die Komödien »ganz handgreifliche Wahrscheinlichkeit haben, nichts Eichendorff’sches, nichts Brentano-artiges«.28 Mit Büchners Lustspiel konnte Gutzkow daher nichts anfangen, und zwar wegen des »bühnenwidrigen Mondscheinflimmern[s]«, das er bei Brentano, Eichendorff und eben auch bei Büchner fand.29 Ganz anders ein mit »Wolfram« zeichnender, pseudonymer Literaturkritiker, der in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode Anfang 1848 schrieb: »Vielleicht haben unter den Deutschen nur Grabbe und Büchner […] vermocht, ein Lustspiel zu schreiben. Freilich gellen dem die Ohren vor Weh«, der ihre Lustigkeit versteht, und wenn er lacht, so lacht er nur über sich selbst, über die höhnischen Sphinxe, die ihn auf seiner Lebenswanderung begleiten. Bei einem solchen Lustspiel überläuft den Leser, der es erfaßt, mitten im Lachen eine Gänsehaut«.30
V. Wer Leonce und Lena richtig verstehe, lache über sich selbst und die Sphinxe seines Lebens, unterstellte der Pseudonymus. Die Sphinxe meinen die Rätsel der eigenen Existenz oder auch, wie bei Heine in der Romantischen Schule, das verborgene Wesen der Epoche: »jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst ––––––––– 28 Handschrift in der Stadt und Universitätsbibliothek Frankfurt, zit. n. Hauschild 1993, S. 545; Gutzkow dachte an Brentanos Ponce de Leon und das daran anknüpfende, aber ebenso wie Büchners Stück »über sein direktes Vorbild […] hinausgehend[e]« (Karl Holl: Geschichte des deutschen Lustspiels. Leipzig: Weber 1923, S. 223f.) Drama Die Freier von Eichendorff (1833). 29 Telegraph für Deutschland Nr. 76, Mai 1838, S. 601. Gutzkow publizierte das Stück aus merkantilen (vgl. Hauschild 1993, S. 545) und ästhetischen Gründen nur teilweise: »als Ganzes« würde »es selbst seine Freunde nicht […] befriedigt haben«, behauptete er in einem Brief an Büchners Verlobte (zit. n. Hauschild 1985, S. 72). 30 Zit. n. Hauschild 1993, S. 546; vgl. MBA 6, S. 334. – In der vom Autor überarbeiteten Taschenbuchausgabe seiner Biografie (Berlin 1997, S. 680) identifizierte Hauschild »Wolfram« mit einem »Ludwig Prantner«; einen Beleg für diese Identifikation blieb er schuldig. Eine Nachrecherche ergab, dass Hauschild vmtl. Ferdinand Prantner meinte, der aber als Autor des Artikels in der Wiener Zeitschrift (Nr. 13, 18. Januar 1848, S. 50f.) m. E. nicht in Frage kommt. Daher bleibe ich bei Hauschilds Version von 1993: Verfasser ist ein namentlich nicht bekannter Autor, der mit »Wolfram« signierte.
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hat«.31 Büchners Stück löse die Rätsel der Zeit, entlarve »das Wesen und den Kern der Dinge«,32 so dass man darüber lachen kann; so könnte man die Bemerkung »Wolframs« auch verstehen. Lächerlich werden die Dinge dann, wenn sie dem historisch avancierten Bewusstsein obsolet erscheinen.33 Die eigene Epoche, die biedermeierliche Restaurationszeit, erschien den sogenannten fortschrittlichen Kräften als historisch obsolet, als anachronistisches Festhalten an leeren Formen und Formeln. Büchners Komödie führt dies im dritten Akt allegorisch vor. Das letzte Fest der Hofgesellschaft um König Peter ist die Vorführung zweier »Automaten«: »Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern […], wenn man nicht wüßte, daß sie bloße Pappdeckel sind, man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. Sie sind sehr edel […]. Sie sind sehr moralisch […]. Sie sind sehr gebildet […]. Beide haben schon mehrmals geflüstert: Glaube, Liebe, Hoffnung!« (MBA 6, S. 121f.) Auf die nicht ganz präzise zitierte, neutestamentarische Trias »Glaube, Liebe, Hoffnung« wurde im 19. Jahrhundert die Ideologie der Restauration gebracht. »Daß der Mensch ins Unvermeidliche sich füge, ––––––––– 31 Heine: Sämtliche Schriften (s. Anm. 24), Bd. 5, S. 362; vgl. Christian Dietrich Grabbe: Werke. Hrsg. v. Roy C. Cowen. 3 Bde München: Hanser 1975–1977, Bd. 2, S. 436: »objektiv geht darüber dennoch keine Gewißheit aus dem Stücke hervor […] und gerade dadurch, daß selbst diese alles motivierende Geistererscheinung [Hamlets Vater], dieses Kettenglied zwischen Himmel und Erde, im zweifelhaften Lichte schwebt, wird im Hamlet das Menschenschicksal zu einer ›Sphinx‹.« 32 MA, S. 374: Erinnerungen Ludwig Wilhelm Lucks (11. September 1878). 33 Vgl. die geschichtsphilosophische Denkfigur in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von Karl Marx (1844): »Das jetzige deutsche Regime […], ein Anachronismus, ein flagranter Widerspruch gegen allgemein anerkannte Axiome, die zur Weltschau ausgestellte Nichtigkeit des ancien régime, bildet sich nur noch ein, an sich selbst zu glauben, und verlangt von der Welt dieselbe Einbildung. Wenn es an sein eignes Wesen glaubte, würde es dasselbe unter dem Schein eines fremden Wesens zu verstecken und seine Rettung in der Heuchelei und dem Sophisma suchen? Das moderne ancien régime ist nur mehr der Komödiant einer Weltordnung, deren wirkliche Helden gestorben sind. Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Äschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide. Diese heitere geschichtliche Bestimmung vindizieren wir den politischen Mächten Deutschlands.« (MEW 1, S. 382.)
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darauf dringen alle Religionen«, heißt es in Goethes Roman über die Entsagenden: »Die christliche hilft durch Glaube, Liebe, Hoffnung gar anmutig nach; daraus entsteht denn die Geduld«,34 also das Gegenteil revolutionärer Gesinnung. König Peter und sein Hofstaat zeichnen sich wie die »Automaten« durch das unablässige Abspulen sinnloser Worthülsen aus (z. B. MBA 6, S. 102f.: »PETER. (Während er angekleidet wird) Der Mensch muß denken […]. / Der ganze STAATSRATH im Chor. Ja, vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so«), wodurch sie sich gleichermaßen lächerlich machen wie sich selbst erledigen. Ihre Lächerlichkeit offenbart auf komische Weise eben die der »abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft«, die sie repräsentieren. »Heiter«, wie es sein soll,35 scheidet das ancien régime des Komödienstaats Popo von der Bühne, bevor König Leonce und sein närrischer Staatsminister das Ländchen in ein Paradies verwandeln, wo kapitalistische Ausbeutung und mechanische Zeitmessung ein für alle Mal abgeschafft sind. Wohl wissend, dass nach der Verheiratung von Leonce und Lena das Spiel diesen Ausgang nehmen wird, äußert sich Valerio nach der Ent-Larvung der in effigie getrauten, scheinbaren Automaten: »Ich muß lachen, ich muß lachen« (MBA 6, S. 123). Und über wen oder was lacht er? Nicht zuletzt über sich selbst, über die anderen Figuren, über das Lustspiel und die Zuschauer. Valerio befindet sich an dem »Indifferenzpunkte«, von dem Brentano in seiner »Vorerinnerung« zum Ponce de Leon sprach, wo man »über den Schauspieler und den Zuschauer zugleich lacht«36 – und wenn man einer von beiden ist, oder beides zugleich, auch über sich selbst, ganz so, wie es »Wolfram« 1848 beschrieb. ––––––––– 34 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz. Neubearbeitung. München: Beck 1981, Bd. 8, S. 404 (Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden, 3. Buch, 11. Kapitel). – Vgl. »Essetai Hemar!« von Arno Holz: »O Glaube, Liebe, Hoffnung, heilige Dreiheit, / Wir dienen dir und du belohnst uns nie, / Denn auch noch heut ist unsre deutsche Freiheit / Nur eine schwarzrothgoldne Phantasie!« (Das Werk von Arno Holz. Erste Ausgabe mit Einführungen von Hans W. Fischer. Bd. 1: Buch der Zeit [erstmals erschienen 1886]. Berlin: Dietz 1924, S. 34; Arno Holz: Werke. Hrsg. v. Wilhelm Emrich u. Anita Holz. Bd. 5. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1962: Das Buch der Zeit, S. 47). 35 Siehe das Zitat aus Karl Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie in Anm. 33. 36 Clemens Brentano: Ponce de Leon. Ein Lustspiel. Hrsg. v. Siegfried Sudhoff. Stuttgart: Reclam 1968, S. 9.
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VI. Valerios Lachen ähnelt also dem seines Autors, der in einem Brief an seine Eltern bekannte: »Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, daß er ein Mensch ist, […] und lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal teile. Die Leute nennen das Spott, sie vertragen es nicht, daß man sich als Narr produziert und sie duzt; sie sind Verächter, Spötter und Hochmütige, weil sie die Narrheit nur außer sich suchen« (MA, S. 285f.). Wenn das Lachen sich nicht gegen andere richtet, sondern ein Lachen über das Menschsein in seiner »Totalität« ist, dann handele es sich nicht mehr um Parodie, Satire oder Ironie, sondern um »Humor«, erläuterte Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik. Für den Humoristen gebe es »keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt; er hebt – ungleich dem gemeinen Spaßmacher mit seinen Seitenhieben – keine einzelne Narrheit heraus«; vielmehr gehe es um die »Welt-Verlachung«, wie sie von Shakespeare und Cervantes mit hoher Kunst geübt worden sei.37 Der Humorist lacht also »über alles«, auch über »sich«. Das aber, so Jean Paul, tue auch der »Persifleur«, den wir heute eher unter dem Namen eines Zynikers kennen. Sollte beiden einerlei Lachen eignen? Natürlich nicht! Jean Paul wusste den »empfindungsvolle[n] Humorist[en]« von »dem persiflierenden Kältling« wohl zu unterscheiden.38 Jenen zeichnet das Gefühl der Solidarität mit den »Geringsten« aus; diesen eine Mitleidslosigkeit, die Büchners Lenz »die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur« nennt (MBA 5, S. 37).39 Das humoristische Lachen ist das Gegenteil des göttlichen Lachens, von dem in Danton’s Tod IV/5 die Rede ist: Camille fragt dort, ob denn die Welt »eine Schüssel mit Goldkarpfen« sei, »die am Tisch der seeligen Götter steht und die seeligen Götter lachen ewig und die Fische sterben ewig und die ––––––––– 37 Jean Paul: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Norbert Miller. 10 Bde in 2 Abteilungen. Frankfurt/M.: Zweitausendeins 1996, 1. Abt., Bd. 5, S. 125f. (§ 32). 38 Ebd, S. 128f. (§ 32). Außer der Solidarität mit den Geringen (das »umgekehrt Erhabene« nannte Jean Paul diese Eigenschaft des Humors in § 33) zeichnen den Humoristen noch romantische »Subjektivität« (§ 34) und poetische »Sinnlichkeit« (§ 35) aus. 39 Dass Büchner sich hier selbst aussprach, verrät die ähnliche Formulierung in einem Brief vom Februar 1834: »Der Aristokratismus ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen« (MA, S. 286).
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Götter erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes?« (MBA 3.2, S. 77; Repl. 629).40 Jean Paul erläuterte: »Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet« – also wie ein Gott –, »so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen [Welt], wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist«.41 Das ist das Lachen, welches Büchners Komödie grundiert. Es gibt in Büchners Werk natürlich auch das ›kalte‹ Lachen der Zyniker. Collot antwortet im Wohlfahrtsausschuss (Danton’s Tod III/6) auf die Bittschrift einer alten Dame mit einem zynischen Bonmot, dessen scharfsinnigen Esprit Barrère lachend anerkennt.42 Oder die bereits zitierte Szene im zweiten Entwurf des Woyzeck (H2,7): Der Doctor hat gerade einer Patientin ihren Tod binnen vier Wochen angekündigt, nicht ohne die kaltherzige Nachbemerkung, sie werde »ein interessantes Präparat« abgeben, worauf der Hauptmann ihm imponieren will und behauptet: Zwar sei er »ein guter Mensch – aber« er könne auch sadistisch sein: »wenn ich will Herr Doctor, hähäh, wenn ich will.« Was er sogleich beweist, indem er dem vorbeikommenden Woyzeck steckt, dass Marie ein Verhältnis mit dem Tambourmajor hat (MBA 7.2, S. 17f.). Und es gibt natürlich auch das dumme und naive Lachen bloßer Sinnlichkeit. Der Tambourmajor im Woyzeck muss lachen, wenn er an die ––––––––– 40 Prinz Leonce versetzt sich bei der Verabschiedung Rosettas (I/3) probeweise in die Situation eines dieser kalten Götter (vgl. MBA 5, S. 452f.), der über Rosettas Verzweiflung zu lachen versucht, was ihm aber misslingt: »Thränen« lassen ihn nämlich nicht kalt. Hätte Rosetta ihm aus einem fatalen Missverständnis nicht eine scherzhafte »Fratze« geschnitten, wäre Leonces Liebe zu ihr »wieder auf die Welt« gekommen (ebd., S. 105). – Die Urszene des sadistischen Gelächters eines distanzierten Gottes findet sich in Homers Ilias (21. Gesang, V. 388–390): »Ferne vernahm« den Schlachtenlärm »Zeus auf Olympus’ Höhn, wo er saß, und es lachte das Herz ihm / Wonnevoll, da er sahe [auf der Erde] die [anderen] Götter zum Kampf sich begegnen.« (Homer: Ilias / Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. München: Winkler 1963, S. 370.) 41 Jean Paul: Sämtliche Werke (s. Anm. 37), 1. Abt., Bd. 5, S. 129 (§ 33). 42 MBA 3.2, S. 59f.; Repl. 478–481: »COLLOT. (nimmt ein Papier) Eine Bittschrift, ein Weibername! […] Madame verlangt den Tod, sie weiß sich auszudrücken, das Gefängniß liege auf ihr wie ein Sargdeckel. Sie sitzt erst seit vier Wochen. Die Antwort ist leicht. (er schreibt und liest.) Bürgerin, es ist noch nicht lange genug, daß du den Tod wünschest. / BARRÈRE. Gut gesagt. Aber Collot es ist nicht gut, daß die Guillotine zu lachen anfängt, die Leute haben sonst keine Furcht mehr davor.«
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festen Schenkel Maries denkt (MBA 7.2, S. 5: H1,8). Oder Marion in Danton’s Tod »mußte lachen«, obwohl sie kein Wort von dem verstand, was der Jüngling ihr sagte; doch »er war hübsch« und schien eine noch bessere »Unterhaltung« »zwischen zwei Bettüchern« bieten zu können (MBA 3.2, S. 18f.; Repl. 117). Da Marion diese Art von »Vergnügen« dann bei allen möglichen hübschen Männern suchte und fand, stürzte sie besagten Jüngling in eine solche Eifersucht, dass er sie beinahe erwürgt hätte – doch plötzlich habe er sie losgelassen, so erzählt Marion es Danton, »und lachte und sagte: er hätte fast einen dummen Streich gemacht, […] er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit verderben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte.« (Ebd.) Dieses Lachen aus Verzweiflung und Erkenntnis findet sich bei Büchner häufiger als das zynische und das naive Lachen. Danton lacht es auch (MBA 3.2, S. 39; Repl. 312: »Eigentlich muß ich über die ganze Geschichte lachen«), und Lenz ebenfalls (MBA 5, S. 41: »er mußte lachen. Je höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter […], und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest«). Es ist ein bitteres Lachen, ohne Freude und ohne Rückhalt, ein Lachen der Desillusion. Wenn sich dieses Lachen nun mit dem Lachen über sich selbst verbindet,43 so wird daraus ein sympathetisches Lachen; voller Schmerz, aber auch voller Größe, wie Jean Paul sagte. Oder mit dem anfänglich schon zitierten Robert Prutz zu sprechen: »Der Humor, diese köstlichste Blüte der Poesie, muß mit Tränen benetzt sein, bevor er sich recht entfaltet«.44 Ich glaube, durch dieses Lachen zeichnet sich Leonce und Lena aus.
––––––––– 43 Daran mangelt es Danton. Als Lacroix ihn beim Tête-à-tête mit Marion erwischt, muss er lachen: »DANTON. (unwillig) Nun? / LACROIX. Die Gasse fällt mir ein / DANTON. Und? / LACROIX. Auf der Gasse waren Hunde, eine Dogge und ein Bologneser Schooßhündlein, die quälten sich. / DANTON. Was soll das?« (MBA 3.2, S. 20; Repl. 121–126.) – Danton findet Lacroix’ Bemerkung nicht komisch, weil er nicht über sich lachen kann. 44 Zitiert nach Karl-Heinz Wiese: Robert E[duard] Prutz’ Ästhetik und Literaturkritik. Halle (Saale): Eduard Klinz 1934 [Diss. Halle-Wittenberg 1933], S. 74 (Deutsches Museum, 1862).
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VII. Am Anfang führt uns das Stück einen blasierten Prinzen vor, der sich auf die lächerlichste Weise die Langeweile zu vertreiben sucht. Aber besteht nicht unser aller »Leben […] nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben«? (MA, S. 320) Hernach begegnen wir einem König, dessen Steckenpferd das Philosophieren ist – allerdings philosophiert er auf eine lächerliche Weise. Doch muss man nicht »unter der Sonne […] auf irgend einem Esel reiten«, fragte Büchner seinen Freund August Stoeber, sattelte »in Gottes Namen« den seinigen und »lach[t]e« dabei über die eigene »Narrheit«: »Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie« (MA, S. 284).45 In der nächsten Szene tritt erstmals Valerio auf, ein närrischer Mensch, der vor allem anderen (MBA 6, S. 106: »Warten Sie […]. Ich habe nur noch ein Stück Braten zu verzehren […] und etwas Wein«) ans Essen und Trinken zu denken scheint. Aber hielt Büchner nicht seine Zeit insgesamt für »rein materiell« (MA, S. 319) und das ganze »Seyn« primär »von materiellen Bedürfnißen gequält« (MBA 5, S. 35)? Und so könnte man das Stück durchgehen bis hin zu den »Bauern im Sonntagsputz«, die froh sein sollen, dass man sie beim Introitus des fürstlichen Brautpaares derart platzierte, »daß der Wind von der Küche über« sie geht und« sie »auch einmal einen Braten riech[en]« können (MBA 6, S. 118). Mancher mag meinen, an dieser Stelle gehe das Schema der humoristischen Relativierung der Komik nicht mehr auf: Tritt denn der »soziale Realitätsgehalt des Stücks« trotz der Marginalität der Szene hier nicht direkt zu Tage und durchkreuzt alle romantisierende Komik?46 – Ich glaube nicht. Denn so »bitter« den Autor gelegentlich der »Gedanke« machte, »daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind« (MA, S. 313), so sind seine Komödien-Bauern doch primär die komische Abbreviatur der da––––––––– 45 Noch im Herbst 1836 spottete Büchner über sein eigenes Vorhaben, Philosophiedozent zu werden: »Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Überflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen […], zu halten« (MA, S. 321). 46 So Poschmann, S. 191.
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mals sprichwörtlichen »schlechten Musikanten und guten Leute« aus Brentanos Ponce de Leon (V/2), 47 wie an dieser Stelle auch die Allusion eben nicht auf eine historische Wirklichkeit, sondern auf die sprichwörtliche Redensart »Den Braten riechen« zeigt. 48 Die Konkretisierung einer bloßen Redensart durch Elemente sozialer Realität (z. B. auch MBA 6, S. 119: »Löcher in unseren Jacken und Hosen«) entspricht Jean Pauls vierter Kategorie, mit deren Hilfe das humoristisch moderierte Auslachen von dem zynischen Verlachen unterscheidbar sei: nämlich die beim Humoristen übliche »sinnliche« Veran––––––––– 47 Brentano: Ponce de Leon (s. Anm. 36), S. 136; vgl. E. T. A. Hoffmann: [Werke in Einzelbänden. Hrsg. v. Walter Müller-Seidel], Bd. 1, S. 687 (Seltsame Leiden eines Theaterdirektors), Bd. 2, S. 430 (Lebens-Ansichten des Katers Murr, Bd. 1, Abschn. 2); Heine: Sämtliche Schriften (s. Anm. 24), Bd. 3, S. 284 (Ideen. Das Buch Le Grand, 13. Kapitel) und Bd. 11, S. 505 (Geständnisse, Nachlese); Heinrich Laube: Das junge Europa. Novelle. Dritter Theil: Die Bürger. Mannheim Heinrich Hoff 1837, S. 208; Friedrich Spielhagen: Problematische Naturen. Roman [1861/62]. 75.–77. Aufl. Leipzig: Staackmann [1926], Bd. 1, S. 207 (27. Kapitel) und S. 290 (33. Kapitel); Bd. 2, S. 799 und 800 (29. Kapitel); Theodor Storm: Schweigen. In: Deutsche Rundschau. Hrsg. v. Julius Rodenberg. Bd. 35, Berlin: Paetel 1883, S. 185); Karl Bleibtreu: Größenwahn. Pathologischer Roman. Drei Bände. Leipzig: Wilhelm Friedrich 1888, Bd. 1, Vorrede, o. S.; Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel (1892), 9. Kapitel; Effi Briest (1894/95), 7. Kapitel, und Der Stechlin (1897/98), 19. Kapitel (Große Brandenburger Ausgabe. Hrsg. v. Gotthard Erler. Das erzählerische Werk. Berlin: Aufbau 1998–2005, Bd. 14, S. 124; Bd. 15, S. 64, Bd. 17, S. 212). Joseph von Eichendorff behauptete irrtümlich, die Wendung stamme von Shakespeare (Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Sechster Band. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 975: Geschichte der poetischen Literatur 1857, 1. Teil, 5. Kapitel: »Die Poesie der Reformation«; vgl. auch schon ebd, S. 935: »gute Leute und schlechte Poeten«), was zeigt, welche ›Klassizität‹ die Redewendung inzwischen erlangt hatte. Im Kern geht sie wohl zurück auf eine von Plutarch (Vitae Parallelae. Hrsg. v. Gottfried Heinrich Schäfer. Bd. 2, Leipzig: Karl Tauchnitz 1812, S. 102: Perikl∞ς I,5) überlieferte Äußerung des Sokrates-Schülers Antisthenes über den Flötenspieler Ismenias: »ÉAllÄ ênyrvpoς, ¶fh, moxyhrÒς: oÈ går ín oÏtv spouda›oς ∑n aÈlht`Æς.« Die witzige Antithese war schon vor Brentanos griffiger Formulierung allgemein bekannt, etwa in diesen Formulierungen: »Ein guter Mann, und schlechter Dichter« bzw. »Je dummrer Musikus, je auserlesner Christ« – so in zwei 1739 bzw. 1732 entstandenen Gedichten von Michael Richey: Deutsche Gedichte. Hrsg. v. Gottfried Schütze. Erster Theil. Hamburg: Johann Georg Fritsch 1764, S. 117 bzw. S. 247. 48 Lutz Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Drei Bände. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, Bd. 1, S. 249. – Die wohl bekannteste Stelle in der deutschsprachigen Literatur, wo diese Redewendung fällt, befindet sich in Schillers Räubern III/2 (Sämtliche Werke, s. Anm. 4, Bd. 1, 8., durchges. Aufl. 1987, S. 561), und zwar ebenfalls in einem Kontext absolutistischer Willkür (ausgesprochen von Schweizer zu Beginn von Kosinskys Erzählung).
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schaulichung abstrakter Vorstellungen.49 Allerdings unterscheidet sich Büchners Komik vom Jean Paul’schen Humor durch die Auswahl der konkretisierenden Beispiele, mit denen er dessen Form der »Welt-Verlachung« in einer Hinsicht hinterging: Büchner war es nämlich nicht um »humoristische Milde und Duldung« zu tun.50 Natürlich lachen wir über die dummen Bauern; aber zugleich sehen wir, wie ungerecht es ist, dass sie arbeiten, und die genauso dummen Reichen an Peters Hof die Früchte der Arbeit verprassen. Trotzdem, über die Gruppe der zerlumpten Bauern muss man in erster Linie lachen: Wie sie, vor Trunkenheit kaum sich noch gerade halten könnend, mit Tannenzweigen in den Händen die ihnen eingebläute »Lection« treudoof wiederholen! – Ein »neue[s] geistige[s] Leben« wird man bei ihnen weder finden, noch braucht man es bei ihnen zu »suchen«.51 Aber obwohl Büchners Lustspiel uns über die Bauern lachen macht, tut es dies gleichwohl nicht von der Warte des Satirikers aus, der »als Hippozentaur« von seinem vermeintlich überlegenen Standpunkt »herab die Kapuzinerpredigt gegen die Torheit hält«, wie sich Jean Paul ausdrückte.52 Vielmehr ist es ein humoristisch moderiertes Auslachen – nicht Verlachen –, das die Solidarität mit den »Geringsten« eben nicht aufkündigt.
VIII. Es gibt nichts, das in Leonce und Lena nicht zum Gegenstand des Lachens würde. Die Einleitung von Valerios Ankündigung der »zwei weltberühmten Automaten« im letzten Auftritt zum Beispiel parodiert den Anfang der von verschiedenen Geometern, Philosophen und Theologen ––––––––– 49 Jean Paul: Sämtliche Werke (s. Anm. 37), 1. Abt., Bd. 5, S. 139f. (§ 35). 50 Ebd, S. 126 und 128 (§ 32). – An dieser Stelle sollte erinnert werden, dass Büchner wie Prutz den »Humor« keineswegs mit »gutmütige[r] Genügsamkeit« verknüpft sah, sondern im Gegenteil mit einer »welterobernde[n] Siegesfreudigkeit« (Alte und neue komische Romane, s. Anm. 5, Sp. 2401). Prutz identifizierte den »Zustand einer idealen Heiterkeit mit der noch zu verwirklichenden politischen Freiheit« (Wiese, s. Anm. 44, S. 70). Büchners Komödie antizipierte die Komik der Freiheit, weil sie diese Freiheit darstellt, noch bevor es die »kulturpsychologische Voraussetzung für die Hervorbringung des Komischen« gab, um mit Prutz zu sprechen (vgl. ebd., S. 71). 51 Vgl. MA, S. 320: »Ich glaube, man muß […] die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen« (Büchner an Gutzkow am 31. Mai oder 1. Juni 1836). 52 Jean Paul: Sämtliche Werke (s. Anm. 37), 1. Abt., Bd. 5, S. 128 (§ 32).
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aus dem Mersenne-Kreis stammenden »Einwände« gegen Descartes’ Meditationes de Prima Philosophia (1641), denen sich Büchner in dem gleichzeitig geschriebenen Entwurf zu einer Vorlesung über Cartesius ernsthaft widmete.53 Nichts, nicht einmal sein eigenes Tun, war Büchner ›heilig‹ genug, als dass er nicht einen Witz darüber gewagt hätte. Eine Grenze hatte das Lachen für Büchner nur dort, wo es Ausdruck einer mitleidlosen Verachtung gewesen wäre. Davor aber war er in seinem Lustspiel gefeit, wenn er statt des Modells der satirischen Verlachkomödie das der aristophanischen Humoreske wählte. Leonce und Lena ist meines Erachtens weder eine »Komödie aus Hass« (Hauschild) noch eine Satire »des Status quo« (Poschmann). Das Stück negiert nicht einmal die aktuelle gesellschaftliche Realität,54 sondern ignoriert sie weitgehend und ›zitiert‹ sie nur punktuell. Das Lustspiel enthält »kein politisches Programm, sondern ›nur‹ ein Lachprogramm«, um es einmal mit Dieter Kafitz zu sagen.55 Das aber ist radikaler und subversiver, als es eine Satire je sein könnte. Das Programm hat schon Jean Paul in seinen Umrissen beschrieben. Büchner ging aber über Jean Pauls Konzept der humoristischen »WeltVerlachung« hinaus, weil er dem kritischen Potenzial der Komik – die »vernichtende […] Idee des Humors« nannte es Jean Paul56 – nicht wie dieser die Spitze abbrach, indem er sein Heil nur von einer Sphäre jenseits alles Irdischen erwartete. Vielmehr ließ Büchner die Protagonisten seiner Komödie den Himmel schon auf Erden realisieren. Am Schluss gehen sie daran, ihre Träume in die Tat umzusetzen. Die Zukunft, so beschließen es König Leonce und Staatsminister Valerio von Valerienthal, wird – wie gesagt – ein schlaraffenlandartiges »Paradies« sein! Dass das Schlaraffenland auf komische Weise evoziert wird, besagt nichts ––––––––– 53 Vgl. MBA 6, S. 121 und René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Erstmals vollständig übersetzt und herausgegeben von Artur Buchenau [1915]. Nachdruck Hamburg: Felix Meiner 1994, S. 357 (vgl. HA II, S. 202). 54 Hauschild 1993, S. 528–547 (S. 535: »[d]em Haß war in Leonce und Lena lediglich die Maske Thalias vorgebunden«); Henri Poschmann: Büchners »Leonce und Lena« – Komödie des Status quo. In: GBJb 1 (1981) S. 112–159; vgl. Poschmann, S. 179–233 (S. 205: »Konzentration auf die Kritik des absolutistischen Staates«). 55 Dieter Kafitz: Visuelle Komik in Georg Büchners »Leonce und Lena«. In: Die großen Komödien Europas. Hrsg. v. Franz Norbert Mennemeier. Tübingen, Basel: Francke 2000, S. 265–284, hier S. 282. 56 Jean Paul: Sämtliche Werke (s. Anm. 37), 1. Abt., Bd. 5, S. 129 und 131.
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gegen die Gültigkeit des Bilds. »Jegliche wahrhaft große Komik zielt in das Utopische […], um dessentwillen die Wirklichkeit durchstoßen oder aufgehoben werden muß«, schrieb ganz richtig Wilhelm Fraenger.57 Es gilt also, nicht auf das äußerlich Unrealistische des Schlusses zu sehen, sondern dessen utopischen Gehalt wahrzunehmen. Auch um dieses Schlusses willen war es notwendig, sich von einem Lustspielmodell zu verabschieden, das durch Referenz auf historische und soziale Realität bestimmt wird – oder wie Robert Prutz es einmal schön formulierte: welches »den Feenwagen des Humors zugleich als Paketpost für Moral und gute Sitte« benutze.58 Wie sonst hätte man mit aristophanischer Komik (in Hegels Worten: »in reiner, heiterer Lustigkeit«59) die Komödie in einer Utopie enden lassen können, die es dem Menschen ermöglicht, sich ›sauwohl‹ zu fühlen, also in einem immerwährenden »Sommer« sich »in den Schatten« zu »legen« und zu warten, bis die »Makkaroni, Melonen und Feigen« einem in das Maul fliegen (MBA 6, S. 124)? »Ohne« Aristophanes »gelesen zu haben«, lasse »sich kaum wissen, wie dem Menschen sauwohl sein kann«, meinte Hegel.60 Wenn uns Büchner eben dies am Ende des Lustspiels vorführt, so schließt er den bei Hegel unüberbrückbar gedachten Graben zwischen Antike und Moderne. Er ›heilt‹ damit wenigstens für die Dauer eines Theatermoments das »unglückliche Bewußtsein« der Moderne, welche die ungeschiedene Einheit realer und künstlerischer Empfindungen nicht mehr kenne, geschweige denn in der Literatur ein anderes denn vermitteltes Vergnügen erleben könne, wie Hegel dachte.61 Anders als Hegel wollten sich Schiller und Goethe, wollten sich die Romantiker, wollten sich Prutz und Ruge (freilich unter je anderen Bedingungen) nicht damit abfinden, dass in der Moderne das »lustige Lustspiel« à la Aristophanes unmöglich geworden sei. Sie forderten es; allein, es fehle noch immer, so Arnold Ruge 1837, »an der tapferen That des Poeten«.62 Georg Büchner war der ersehnte, tapfere Poet. ––––––––– 57 Wilhelm Fraenger: Falstaff und seine Sippe (1939). In: Wilhelm Fraengers Komische Bibliothek. Dresden: Verlag der Kunst 1992, S. 199. 58 Prutz: Alte und neue komische Romane (s. Anm. 5), Sp. 2386f. 59 Hegel: Werke (s. Anm. 12), Bd. 14, S. 120. 60 Ebd., Bd. 15, S. 553. 61 Ebd., Bd. 3, S. 155–177. 62 Ruge: Neue Vorschule der Ästhetik (s. Anm. 6), S. 258.
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Sprengkraft Sexualität Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners Woyzeck Von Annette Graczyk (Halle)
1. Woyzeck als Tragödie und soziales Drama: die Rolle der Marie Schon der Titel scheint anzuzeigen, daß Woyzeck die Hauptfigur von Büchners Drama ist. Doch ist uns dieser Titel nicht vom Autor überliefert. Bekanntlich wurde das unvollständige, in mehreren, unterschiedlich weit ausgearbeiteten Handschriften überlieferte Drama erst 1875 von seinem Wiederentdecker Karl Emil Franzos mit dem Titel Wozzeck versehen und so auf die männliche Hauptfigur fokussiert. Franzos bezeichnete das Stück zudem als »Trauerspiel-Fragment«1 und legte damit nahe, diese männliche Figur als tragischen Helden zu sehen. Tatsächlich laufen in der allseitig ausgebeuteten Figur des Soldaten Franz Woyzeck alle Beziehungen des Stückes zusammen. An seiner Figur wird zugleich eine umfassende Gesellschaftskritik entwickelt. Im Stück wird Woyzeck zwar zum Mörder an seiner Lebensgefährtin Marie, doch läßt sich seine persönliche Verantwortung nur eingeschränkt in einem Schuldspruch komprimieren. Die Eskalation der Handlung läßt sich zwar auf Woyzecks Charakter zurückführen, doch fühlt sich der Mörder durch seine Lebensbedingungen bedrängt und ist daher alles andere als frei. Er wird vielmehr in eine psychische Notlage versetzt, in der er sich durch innere Stimmen zum Mord gedrängt fühlt. Daher ist die Gattungsbezeichnung von Franzos von heute aus fragwürdig, denn dramengeschichtlich unterstellt ein »Trauerspiel« einen selbstmächtigen Helden. Franzos war es aber durchaus bewußt, daß in Büchners Stück eine Verlagerung des Tragischen ins Gesellschaftliche vollzogen wird. So ––––––––– 1 Karl Emil Franzos: Aus Georg Büchners Nachlaß. In: Neue Freie Presse. Wien. Nr. 4020 (3. Nov. 1875).
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sprach er im weiteren auch von keinem »regelrechten Trauerspiel«, sondern von dessen Relativierung durch Büchners vorherrschend realistische Gestaltungsabsichten. Weil Büchners Woyzeck weitgehend von seinen Lebensverhältnissen abhängig ist, erscheint er – in unserem Verständnis – nicht als klassischer Held, sondern eher als Antiheld. Büchners Drama wird daher zu Recht als Vorläufer des sozialen Dramas eingeschätzt. Franz Woyzeck kann aber nicht als bloßes Opfers seiner sozialen und psychischen Bedingungen angesehen werden. Auch das soziale Drama lebt aus Widersprüchen, und es wäre eine unzulässige Vereinfachung und Reduktion, den Antihelden nur als Opfer sehen zu wollen, das keinerlei Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns habe. Es wäre zwar möglich, einen Lebensweg auf der Bühne so krass anzulegen, daß ein Antiheld als pures Opfer erscheint – dann aber käme die ganze (legitime) Künstlichkeit des Theaters in reiner Form zum Ausdruck. Diese Künstlichkeit bestünde in der Differenz zum sozialen Leben, auf das ein soziales Drama im Zuschnitt des 19. Jahrhunderts aber mittels der Zuschauerbeeinflussung gerade einzuwirken sucht. Je näher das Stück aber der Wirklichkeit kommen will, desto gemischter müssen die Charaktere sein, um bei den Zuschauern Erfolg zu haben. In Büchners Stück entwickelt sich Franz Woyzeck vom zunächst passiv Duldenden zum Täter. Diese Entwicklung geschieht allerdings kumulativ, in einer komprimierten Bühnenzeit. Woyzecks Entwicklung wird im Ablauf der Szenen zu einer umfassenden Bestandsaufnahme, wie sie vergleichbar, wenn auch abstrakter, in einem juristischen Gutachten vorgetragen würde. Trotz des schwierig zu bewertenden Verhältnisses von Stück und damaliger Realität, das entscheidend auch durch den Zuschauer- bzw. Leserbezug mitbestimmt wird, haben sich Forschung und Kritik einseitig auf das ausgebeutete männliche Subjekt zentriert, das sich – wenn auch mit falschen Mitteln – mit seiner Untat gegen seine Unterdrückung wehrt. Indem Woyzeck als Unterdrückter in den Mittelpunkt des Interesses geriet, trat der Mord an der Frau in den Hintergrund. In Einzelfällen wurde der Fokus sogar von Woyzecks Mord an Marie zum Mord der Gesellschaft an Woyzeck verschoben.2 Die auch im juristi––––––––– 2 In diesem Sinne spricht etwa Alfons Glück: vom »Mord durch Arbeit« bzw. vom »Tod d u r c h ›Ökonomie‹« (Der »Ökonomische Tod«: Armut und Arbeit in Georg Büchners »Woyzeck«. In: GBJb 4 (1984), S. 167–247; S. 169). Glück konkretisiert im folgenden: »Im Woyzeck sehen wir den ›ökonomischen Tod‹, das gewöhnliche Schicksal, das un-
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schen Fokus vorherrschende Berücksichtigung der Lage des Täters wurde zwar so zu einer neuartigen Sicht, die den Täter als Opfer sieht. Festzuhalten ist demgegenüber, daß Marie immerhin zum Opfer von Woyzeck wird. Gegen die implizite Verdrängung des weiblichen Opfers haben seit dem Ende der 1980er Jahre eine Reihe von Studien aus der Sicht der Frauen- und Geschlechterforschung argumentiert. Sie haben klargestellt, daß die im Stück verhandelte Geschlechterproblematik sich nicht mithilfe einer einfachen soziologischen Analyse verflüchtigen läßt. Selbst wenn man das Stück im Zusammenhang mit dem historischen Kriminalfall versteht, der dem Autor als Vorlage gedient hat, läßt sich die Mordproblematik nicht einfach unterschlagen. Dies gilt auch, wenn man das Stück als dramatisch entwickeltes Plädoyer gegen das Prozeßgutachten des Medizinprofessors Clarus zum historischen Mordfall ansieht.3 Dieses Rechtsgutachten nahm die Hinweise auf eine mögliche Unzurechnungsfähigkeit des Täters nicht auf und führte 1824 zur Hinrichtung des historischen Täters Johann Christian Woyzeck.4 ––––––––– spektakuläre Verschlissen- und Erwürgtwerden durch lebenslange entfremdete Arbeit« (S. 170). Der »Eifersuchtsparoxysmus« sei »in diesem langandauernden und auf weite Strecken unterirdischen Prozeß nur der Auslöser der destruktiven Endphase der Psychose [aus der der Mord an Marie ›erwächst‹], nicht die wichtigste und schon gar nicht die einzige Ursache der Katastrophe. Der Woyzeck ist keine Eifersuchtstragödie, keine ›Beziehungskiste‹«, sondern zeige die »soziale Tragödie« eines Paupers, der »lebenslang abgeschunden und unterminiert wird« (S. 175). 3 Vgl. Alfons Glück, der Büchners Stück als »dichterische R e v i s i o n des historischen Prozesses« und – in diesem Sinne – als ein »G e r i c h t s s p i e l« auffaßt: Militär und Justiz in Georg Büchners Woyzeck. In: GBJb 4 (1984), S. 227–247, hier S. 245 u. 247. 4 Hätte Büchner nur ein dramatisches »Gegengutachten« zu Clarus verfassen wollen, so hätte er sich enger an die Fakten des historischen Mordfalls halten müssen. Er hat die Figurenkonstellation aber dramatisch zugespitzt. Einerseits wird Woyzeck gegenüber der historischen Figur entlastet, indem er bis zu der Eifersuchtstat ein unbescholtener Mensch zu sein scheint, der sich sogar aufopferungsbereit zeigt. Der historische Woyzeck hat sich aber wiederholt aus Eifersucht zu Körperverletzungen gegenüber seinen Geliebten hinreißen lassen. Auf der anderen Seite hat Büchner in der Figur der Marie zwei verschiedene Frauenfiguren aus dem Leben des historischen Woyzeck zusammengezogen: Als Soldat der Mecklenburgischen Truppen hatte dieser mit der Wienbergin verkehrt und mit ihr auch ein Kind gezeugt. Seine Gemütsveränderungen habe er erstmals an sich wahrgenommen, als er bemerkte, daß diese sich auch mit anderen Männern abgebe. Gegen sie hat er auch körperverletzende Eifersuchtshandlungen ausgeübt. Ermordet hat er aber sehr viel später in Leipzig seine zeitweilige Geliebte, die 46-jährige Witwe des Chirurgen Woost, die er im Hauseingang ihrer Wohnung aus Eifersucht mit einer abgebrochenen Schwert-
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Indem die Literaturwissenschaft Büchners Stück eng auf den historischen Kriminalprozeß bezog, stellte sie sich in den Schlagschatten einer impliziten juristischen Problematik: Ein Kriminalprozeß fokussiert notwendigerweise auf den Täter und sein Tatmotiv, auch wenn dessen Lebensumstände und seine Beziehung zum Opfer mit berücksichtigt werden. Büchner hingegen hat ein Drama geschrieben, das als Gattung die Dynamik zwischenmenschlicher Konflikte ins Zentrum stellt. Diese Dynamik kann auch in einem sozialen Drama nicht anders als durch herausgehobene Einzelpersonen gezeigt werden. Zwischen Woyzeck und Marie entwickelt sich ein Beziehungsgeflecht von Liebe und Eifersucht, das von den bedrückenden Verhältnissen, aber auch von den unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen der Geschlechter bestimmt wird. Wir bekommen vor allem das Spannungsverhältnis dreier Personen und die Wechselwirkung zweier Verfehlungen gezeigt: Woyzeck bringt Marie um, weil sie ihn mit dem Tambourmajor betrügt.
2. Liebe und Treue unter prekären gesellschaftlichen Bedingungen Büchner entwickelt im Woyzeck aber keine diffizile Beziehungsproblematik, so daß den Lesern oder Zuschauern nicht nahegelegt wird, vor allem im Innenleben der Beteiligten nach den Gründen der Katastrophe zu suchen. Er stellt seine primär sozial gekennzeichneten plebejischen Figuren vielmehr in krasseste Lebensverhältnisse, die von vornherein keine unentfremdete Menschlichkeit aufkommen lassen. Der involvierte Geschlechterkonflikt ist ein wesentlicher Teil dieser Entfremdungsproblematik. Es stellt sich daher die Frage nach der Möglichkeit von Liebe und Treue in diesen Verhältnissen. Es ist in der Forschung ein Konsens, daß Büchner in sozialkritischer Absicht die Mitwirkung des ganzen sozialen Umfeldes an der Katastro––––––––– klinge erstach. Sie hatte sich mit einem anderen Soldaten getroffen, anstatt zum verabredeten Stelldichein mit ihm zu kommen. Vgl. im einzelnen die abgedruckten Dokumente zum Prozeß in MBA 7.2. Indem Büchner beide Frauenfiguren in der Marie zusammenzieht, kann er den sexuellen Ausbruch der noch jungen Frau in einen engeren Zusammenhang mit der Eifersucht von Woyzeck bringen. Dazu noch weiter unten. Gleichzeitig können die Folgen von Untreue und Eifersuchtsmord auch in ihren weiteren desaströsen Folgen gezeigt werden: Denn zurück bleibt ein verwaistes Kind. Darüber hinaus folgt Büchner in den Schlußszenen einem anderen Mordfall; dazu weiter unten.
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phe zeigt: Unterdrückung, Arbeitshetze, Ausbeutung, Armut mit ihren Folgen von seelischer Verkümmerung und Bewußtseinstrübung, aber auch die problematische Sitten- und Mentalitätskultur der Unterschicht erzeugen ein Lebensumfeld, in dem sich das materielle und psychische Elend nur fortzuzeugen scheint. Bereits von seinen späteren naturalistischen Entdeckern wurde Büchners Stück daher als frühes soziales Drama gewertet. Es versteht sich, daß auch die Beweggründe für die Entwicklung eines sozialen Dramas in dieses Stück eingegangen sind. Es zeigt, daß die Lebensumstände der Elendsfiguren sehr stark vom Muster und Ideal bürgerlicher Selbstbestimmung entfernt sind. Der Lebensantrieb der dramatis personae kann sich nur unter den Vorzeichen des Mangels, sowie – daraus ableitbar – des Unzulänglichen, Falschen oder Verzerrten realisieren. Doch Büchner arbeitet nicht nur mit einer historisch sowie regional angeregten Charakterisierung des Milieus, sondern auch mit Mitteln der Groteske, der Karikatur und der Persiflage sowie – als Spiel im Spiel – mit dem Jahrmarktsspektakel. Groteske, Karikatur, Persiflage und Jahrmarkt zeigen bereits in ihren ästhetischen Zurichtungen, daß wir uns im Stück nicht in einer mimetischen Entsprechung zur gesellschaftlichen Realität, sondern in einer gezielt überzeichneten Schieflage befinden. In der materialistisch-physiologischen Natur- und Gesellschaftsauffassung des Stückes desavouieren diese Formen die moralphilosophisch und geschichtsphilosophisch überhöhten Vorstellungen vom Menschen, wie sie ideologisch vom Hauptmann und vom Doktor vertreten werden. Aber nicht nur der Hauptmann und der Doktor werden durch die Karikatur demontiert.5 Auch Woyzeck ist eine satirisch überzeichnete Figur und Marie ist nur eine (hinreichend) schematisierte Frau, so daß das Eigengewicht des Grotesken die Sozialkritik des Stückes zu untergraben droht. Obwohl das Drama Woyzeck vom Autor des Hessischen Landboten stammt, kann daher tendenziell eine Verunsicherung entstehen, ob wir es insgesamt mit einer sozialkritisch-analytischen Anlage des Stücks samt Appell oder mit einer abgründigen Distanzsetzung zu tun haben, in der sich ein grundlegender Zweifel an der Wandelbarkeit der menschlichen ––––––––– 5 Vgl. Wolfgang Martens: Zur Karikatur in der Dichtung Büchners (Woyzecks Hauptmann). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 39 (1958), S. 64–71. Sowie Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ›voie physiologique‹ in Georg Büchners »Woyzeck«. In: GBJb 3 (1983/84), S. 200–239.
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Verhältnisse ausspricht. Die Verunsicherung entsteht auch durch den Fragmentcharakter, denn wir wissen nicht mit Sicherheit, ob und wie der Autor nach dem Abbruch der zuletzt entstandenen Handschrift 4 die anschließenden Mord-Passagen und Woyzecks Verhalten danach überarbeitet hätte. Diese Schlußpartien liegen uns weitgehend nur in der früheren Handschrift 1 vor. Aber auch wenn untergründig eine tiefe Skepsis mitzuschwingen scheint, dominiert doch fraglos die sozialkritische Anlage. Die satirischen, grotesken und persiflierenden Personenzeichnungen stehen zumeist im Dienst einer thesenhaften Zuspitzung, die eigentlich keine Empathie, sondern kritische Distanz erzeugen müßte. Auch wenn die unheldischen Figuren bereits in ein bedrückendes Leben eintreten, von dem sie im Weiteren geschädigt werden, in dem sie aber auch selber andere schädigen, entsteht das Tragische in Büchners Stück nicht allein aus der sozialen Lage. Der Eifersuchtsmord an der Geliebten ist auch unter den Bedingungen eines sozialen Dramas die extreme Tat eines Einzelnen, die nicht allein aus den Verhältnissen hervorgeht. Vielmehr läßt sich sogar behaupten, daß gerade die Untat Woyzeck aus seiner banalen Massenexistenz herausragen läßt: Sie macht ihn zu einem interessanten Fall. Weil die individuelle Besonderheit zugleich Indikator für gesellschaftliche Zustände ist, wird Woyzeck für die Zuschauer/Leser zu einem interessanten individuellen wie sozialen Fall. Marie ist notwendigerweise in beide Aspekte einbezogen, auch wenn sie als Person wenig ausgeführt worden ist und die übrigen sozialen Beziehungen von Woyzeck ein eigenes Gewicht haben. Geetha Ramanathan hat darauf hingewiesen, daß sich der Schwerpunkt der sozialen Konflikte im Drama verlagert. Der Konflikt zwischen Woyzeck und seinen Unterdrückern im ersten Teil wird vom Eifersuchtskonflikt mit Marie im zweiten Teil abgelöst.6 Woyzecks Tat wird damit auch zum Symptom eines latenten und dann akut ausbrechenden Beziehungskonfliktes, der sich nicht nur aus der Mangel-Ökonomie der Unterschicht herleiten läßt. Die Untat resultiert auch aus dem Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern in der Unterschicht und damit auch aus den gegebenen unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten von Frauen und Männern. Inge Diersen hat bereits 1988 minutiös herausgearbeitet, wie Büchner die Figur, die er zunächst Margareth, dann Louise ––––––––– 6 Geetha Ramanathan: Sexual Politics and the Male Playwright: the Portrayal of Women in Ten Contemporary Plays. Jefferson, NC u. a. 1996. Kap I.1: Male Subjectivity and the Female Body: Büchner’s »Woyzeck«, S. 7–21.
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und erst zum Schluß Marie nennt, im Verlauf seiner vier Handschriften immer stärker profiliert und in die Konfliktdramaturgie hineingezogen hat. In der Konsequenz ihrer Befunde hat Diersen die traditionelle Sicht auf das Stück als einer bloßen Woyzeck-Tragödie korrigiert und stattdessen von einer »Tragödie von Woyzeck und Marie« gesprochen.7
3. Mobilität durch Eros: Maries Ausbruchsversuch Daß es im Stück – zumal im vorgeführten militärischen Umfeld – eine männliche Hierarchie der Unterdrückung gibt, die dann von dem rangtiefsten Vertreter Woyzeck an die sozial noch weniger geschützte weibliche Außenseiterfigur, die unangepaßt lebende Weibsperson Marie, Mutter eines »unehrenhaft« mit Woyzeck gezeugten Kindes, weitergegeben wird, darüber gibt es auch in der allgemeinen Büchnerforschung seit langem einen Konsens.8 Erstaunlich ist dennoch, wie lange die Fokussierung auf den sozialen Gegensatz von reich und arm, oben und unten sowie gebildet und ungebildet den Geschlechterkonflikt zwischen Marie und Woyzeck weitgehend unterbelichtet gelassen hat, obgleich doch die Mordtat in diesem Geschlechterkonflikt stattfindet. Besonders das heikle, durch Büchners Textvarianten nicht abgesicherte Vorverständnis von Marie als einer Hure hat dazu geführt, sie nicht als Individuum mit eigenständigen Lebensinteressen wahrzunehmen. Sie wurde vielmehr diffus den gesellschaftlichen Umständen von Woyzeck zugerechnet. Danach trägt sie mit zum krankhaften Zusammenbruch von Woyzeck bei, der dann destruktiv auf sie selbst zurückwirkt. Maries Untreue bzw. ihre kurzfristige Liaison mit dem ranghöheren Tambourmajor gilt in dieser Sicht nur als letzter Schlag, welcher Woyzeck von der Gesellschaft zugefügt wird und ihn letztlich aus dem Gleichgewicht wirft. Maries sexuelle Leichtfertigkeit und ihre Verführbarkeit durch die Fetische männlicher Macht und Potenz, wie sie Büchner im Tambourmajor bühnenwirksam komprimiert hat, machte sie in diesem Interpretationsansatz weitgehend untauglich als ein Vorzeigeobjekt eines tendenziell politisierten sozialen Bewußtseins. Ganz anders Woyzeck. Er tritt ––––––––– 7 Diersen, Inge: Louis und Franz. Magreth, Louisel, Marie. Zur Genesis des Figurenkreises und des Motivgefüges in den »Woyzeck«-Texten. In: Hans-Georg Werner (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner. Berlin, Weimar 1988, S. 147–192; Anmerkungen: S. 316–30; hier S. 191. 8 Vgl. Cornelie Ueding: Denken, Sprechen, Handeln. Aufklärung und Aufklärungskritik im Werk Georg Büchners. Frankfurt a. M. 1976, S. 31.
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mit seiner Anstrengung positiv hervor: Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften versucht er, für Marie und ihr gemeinsames, uneheliches Kind zu sorgen. Der Fokus auf die Lage der männlichen Unterschichtsfigur Woyzeck hat allerdings verhindert, daß die Lage der weiblichen Unterschichtsfigur Marie genügend wichtig genommen9 und der Konflikt zwischen beiden deutlicher herausgearbeitet wurde. Der im Stück entfaltete Konflikt läßt sich jedoch erst voll erkennen, wenn man Maries kurzfristigen Ausbruchsversuch und ihren Glücksanspruch ebenso ernst nimmt wie die solidarische Anstrengung von Woyzeck, die durch das Kind bekräftigte Liaison als ›seine Familie‹ anzunehmen und nach Leibeskräften für sie zu sorgen. Das muß auch dann gelten, wenn man die lebenshungrige, um Kind und Mann relativ unbekümmerte Frau moralisch in den Gegensatz zum angestrengten Ernst des männlichen Familienversorgers setzt. Denn Büchner zeigt auch die Nöte einer jungen, noch unausgelebten Frau. Als ledige Mutter hat sie nicht den Status einer gesetzlich geschützten Ehefrau. Ihre materiellen Verhältnisse sind mehr als drückend, da Woyzeck sie und das Kind nur notdürftig unterhalten kann und Marie nicht einmal die Gewähr hat, daß das auf Dauer so bleiben wird. Im Gegensatz zu Woyzeck, der gegenüber dem Hauptmann von seiner ›natürlichen‹ Frau und seinem ›natürlichen‹ Kind spricht, fühlt sie sich nicht fest gebunden. Anders als Woyzeck ist sie zudem genötigt, ihre Selbständigkeit zu verteidigen. In der Ohrring-Szene verteidigt sie ihr Recht auf Autonomie: »Bin ich ein Mensch?«10 Was aber heißt in dieser Intervention »ein Mensch«? Die Herausgeber der Marburger Büchner-Ausgabe fassen den unbestimmten Artikel »ein« sächlich auf und kommen so zu der Lesart »das Mensch«. Dazu finden ––––––––– 9 Wichtiges soziologisches Material zur damaligen Lage lediger Mütter hat erstmals ausgreifender Ki-Sook Do zusammengetragen: Wilde Ehe und Ehebruch durch Prostitution in Büchners »Woyzeck«. In: Dies.: Ehe und Ehebruch in der Literatur des 19. Jahrhunderts: Untersuchungen zu Gutzkow, Stifter, Büchner und Fontane. Berlin 2003, S. 114–150 (= Dissertation, HU Berlin, 2002). Besonders interessant sind die Ausführungen zu den Hindernissen für Soldaten, überhaupt eine regelrechte Ehe eingehen zu können. Die »wilde Ehe« zwischen Marie und dem kasernierten Soldaten Woyzeck wird dadurch als eine pragmatische Lösung plausibel, die aus der Lebenslage der Soldaten – und nicht etwa aus einer mangelnden Moral – entspringt. 10 MBA 7.2, H4,4, S. 24. Zitiert wird im folgenden nach dieser Ausgabe direkt im Text, wie hier unter der Sigle MBA, gefolgt von der Band- und Seitenzahl. Die Handschriften erscheinen unter der Sigle H, gefolgt von der Zahl der Entstehungsstufe sowie der Szenenzahl.
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sie in Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch – neben neutralen – folgende pejorative Bedeutungsvarianten: »eine geringe Person weiblichen Geschlechtes, im verächtlichen Verstande. [...] Besonders eine zu geringen Diensten verpflichtete weibliche Person [...] doch auch nur in der harten und verächtlichen Sprechart. [...] In noch verächtlicherm Verstande pflegt man eine Hure in manchen Gegenden nur ein Mensch zu nennen; wo es zugleich ein Schimpfwort ist, welches auf Anbringen des Klägers gerichtlich geahndet wird.« (MBA 7.2, S. 500.)
Mit dieser Herleitung verstehen sie Maries Einspruch im Sinne von ›Hältst Du mich für ein niederträchtiges Frauenzimmer?‹ Aber warum sollte Marie mit einer derart verräterischen Wendung Woyzeck darauf stoßen, daß die Ohrringe ein Hurengeschenk sein könnten? Büchner läßt zwar an anderer Stelle (wie noch zu zeigen ist) einen Außenstehenden den Ausdruck »das Mensch« verwenden, um Marie herabzusetzen. In der besprochenen Szene aber will Marie jeglichen Verdacht des mißtrauischen Woyzeck von vornherein unterbinden. Sie will jede Spekulation darüber verhindern, daß sie anders als durch zufälligen Fund zu den Ohrringen gekommen sein könnte. Marie schneidet Woyzeck mit der Intervention: »Bin ich ein Mensch?« das Wort ab. Und tatsächlich fragt Woyzeck im folgenden nicht nach, sondern wechselt das Thema. Gegenüber dem Sprachstand des 18. Jahrhunderts war die Semantik von »Mensch« überdies seit der Deklaration der Menschenrechte erheblich aufgewertet worden. Wir können Maries Intervention daher szenisch als Rekurs auf ihre Rechte verstehen und erkennen, daß sie die Menschenrechte bzw. Menschenwürde bereits für sich in Anspruch nimmt und von Woyzeck darin bestätigt wird. Mit dem Abstraktum »Mensch« fordert sie freilich einen Status ein, der den Frauen nicht selbstverständlich zugebilligt wurde. Nur abstrakt und im Fahrwasser der männlichen Menschenrechte kann sie ihre Individualrechte einfordern und Woyzeck als Mann eine Grenze setzen. Implizit aber verteidigt Marie ganz konkret ihre Rechte als weiblicher Mensch, denn sie schützt ihre sexuelle Freiheit, die Verfügbarkeit über den eigenen Körper und ihr Recht auf freie Partnerwahl. An einer Übereinkunft mit Woyzeck, an einem Beziehungsvertrag etwa, ist ihr nicht gelegen. Im Unterschied zu Woyzeck hat sie ein Vermögen, mit dem sie zu wuchern versucht: ihre erotische Ausstrahlung. Diese ist ihr einziges 109
Potential, mit dem sie unter Umständen einen sozialen Aufstieg erreichen kann. Unter diesem Aspekt ist auch bei Marie nicht nur das Individuelle, sondern auch das Soziale sichtbar. Maries Liaison mit dem Tambourmajor ist nicht nur eine private Liaison, sondern auch ein sozialer Ausbruchsversuch mit Hilfe der Sexualität. Auch bei Marie setzt daher das Übergewicht des Sozialen ihrer Selbstbestimmung und ihrem Handeln deutliche Schranken, denn in dieser Liaison ist bereits die Vergeblichkeit erkennbar. Während Woyzeck die Affaire seiner Lebensgefährtin mit Eifersucht sieht, hat Marie verständlicherweise ganz andere Emotionen: Ihr Begehren richtet sich auf den virilen Tambourmajor, und darüber hinaus hofft sie auf ein besseres Leben. Die Gefahren, die bei ihrem Ausbruchsversuch auf Marie lauern, sind allerdings nicht zu unterschätzen. Statt zum erhofften sozialen Aufstieg kann eine allzu oft genutzte erotische Wirkung im Gegenteil auch zu einem weiteren Abstieg führen. Was dem einen ein willkommenes erotisches Abenteuer ist, kann dem anderen bereits als Verfügbarkeit einer Dirne erscheinen. Zu Beginn des Stückes nennt sich Marie noch selbst aus trotzig-vitalem Aufbegehren eine Hure, indem sie ihr Kind als »en arm Hurenkind« bezeichnet, das seiner Mutter dennoch Freude mache (H4,2; MBA 7.2, S. 23). Später wird Woyzecks Kamerad Andres der Marie das Menschsein absprechen, indem er sie abwertend »das Mensch« nennt (H4,10; MBA 7.2, S. 29). Dieser Ausdruck nahm besonders im mundartlichen Gebrauch die tendenziell pejorative Bedeutung an und wird von Andres – wie damals möglich – »geradezu mit üblem nebensinne« gebraucht: Er meint die liederliche Weibsperson, wenn nicht sogar die Hure.11 Nicht nur durch Andres oder auch durch die Nachbarin droht Marie die Stigmatisierung als übler Mensch und Hure. Das sieht man nicht zuletzt an Woyzecks Mordtat, die er nach eigenen Worten an ihr vollstreckt, um die »Hure« in ihr zu strafen. Auch Marie sagt bereits am Schluß der Ohrringszene (H4,4) von sich selbst: »ich bin doch ein schlecht Mensch. Ich könnt’ mich erstechen.« Sie weiß, daß sie Woyzeck hintergeht, will sich aber letztlich doch nicht beugen: »Ach! Was Welt? Geht doch Alles zum Teufel, Mann und Weib.« (MBA 7.2, S. 24.) Im Übergang vom Anspruch, »ein Mensch« zu sein, zur Selbstbezichtigung, »ein schlecht Mensch« zu sein bis zum fata––––––––– 11 Vgl. Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Fotomechan. Nachdruck der Erstausg. (Leipzig 1897, 33 Bde.). München 1984. Bd. 12, Sp. 2035ff.
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listisch übersteigerten Zusammenbruch aller Werte zeigt Büchner das innere Hin- und Hergerissensein der Marie.
4. Weiblicher Eros als Fetisch und Stigma: Marie in den Augen Woyzecks und des Tambourmajors Schon zu Beginn des Stückes sucht Marie nach einem attraktiveren und wohlhabenderen Liebhaber als Woyzeck. In ihrem Lebensumfeld lernt sie keinen anderen attraktiven Mann als den Tambourmajor kennen. Maries Beschränktheit wird dadurch deutlich, daß sie den aufgeputzten Tambourmajor begehrenswert findet und ihrem Begehren folgt, ohne mit ihm eine Perspektive zu haben. Folglich handelt sie sich einen schlechten Ruf ein, den sie aber auf die leichte Schulter nimmt. Als sie beim Zapfenstreich ungeniert aus dem Fenster nach dem vorbeimarschierenden Tambourmajor ausschaut, hält ihr die Nachbarin vor: »M a r g r e t h, [...] Frau Jungfer, ich bin eine honette Pers[o]n, aber sie, sie guckt 7 Paar lederne Hose durch.« (H4,2; MBA 7.2, S. 22.) Marie quittiert mit: »Luder! (schlägt das Fenster [zu].)« (Ebd.) Maries Einstellung wird im folgenden in einem Bewußtseinstableau vergegenwärtigt: Sie hält ihr Kind auf dem Arm und singt: »Mädel, was fangst du jezt an / Hast ein klein Kind und kein Mann.« Woyzeck zählt ihr hier gar nichts mehr. Ihr hochgehobenes Kind signalisiert Mutterglück, doch will sie mit dem Kind nur melodramatisch ihre Notlage zum Ausdruck bringen: »Giebt mir kein Mensch nix dazu.«12 Angesichts von Woyzecks Fürsorge ist dieses Resümee falsch und zeugt nur von ihrer Selbstinszenierung. Zur Negierung ihrer Situation bzw. zu den wahnhaften Tagträumen ihrer Attraktivität paßt das anschließende lose Lied von den sechs Schimmeln, die nicht mehr Hafer fressen und Wasser saufen wollen, sondern »Lauter kühle Wein muß es seyn Juchhe / Lauter kühle Wein muß es seyn.« (Ebd., S. 23.) Mit dem Lied von den sechs Schimmeln, das nicht nur von ihrem Begehren, sondern auch von ihrer Armut bzw. ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben zeugt, macht sie sich Mut zum Übermut. Während Marie ihren Ausbruchswunsch mit dem Gespann der ausfahrenden sechs Schimmel in ein hochgestimmtes, helles und heiteres Bild faßt, beziehen ––––––––– 12 Zur Herkunft des Liedes vgl. Heinz Rölleke: »Mädel, was fangst du jetzt an«. Zu einem Volkslied-Zitat in Büchners »Woyzeck«. In: Wirkendes Wort 3 (1990), S. 330–335.
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sich die beiden Männer, zwischen denen sie steht, mit ganz anders gearteten Bildern auf sie. In der Szene, in der Marie und Tambourmajor sich direkt begegnen, spricht der Tambourmajor Marie (in einer sich steigernden erotischen Spannung) mit »Wild Thier« an. In einer nachfolgenden Replik fragt er sie: »Sieht dir der Teufel aus den Augen?« (H4,6; ebd., S. 26.) Beim Tambourmajor sind die alten dämonisierenden Tier- und Teufelsmetaphern anerkennende Kraftausdrücke. Er genießt seine eigene sexuelle Attraktivität, seine virile Vitalität im Spiegelbild der von ihm begehrten Frau. Sein Vokabular, das Büchner in H2,5 noch mit Metaphern des Abgrunds angereichert hat, bestimmt seine Rhetorik des Umwerbens: »U n t e r o f f i c i e r. Wie sie den Kopf trägt, man meint das schwarze Haar müsse ihn abwärts ziehn, wie ein Gewicht [...] T a m b o u r m a j o r. Als ob man in einen Ziehbrunnen oder zu einem Schornstein hinunter guckt.« (Ebd., S. 15.)
Die animalisch und dämonisch eingefärbte Überredungskunst kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich das Liebespaar in einer gegebenen Gesellschaft begegnet, deren Machtverteilung asymmetrisch ist. Marie ist dem Tambourmajor sozial unterlegen; sie kann nur hoffen und annehmen, was der männliche Liebhaber ihr schenkt und bietet. Die Körpersprache und die animalisch klingenden Kraftausdrücke entsprechen in ihrem unvermittelten Bezug zur Sinnlichkeit teilweise Maries Bedürfnissen. Sie quittiert dem Tambourmajor, halb anerkennend, halb ironisch, daß er wie ein Stier und wie ein Löwe auf sie wirke. »M a r i e, (ihn ansehend, mit Ausdruck.) Geh’ einmal vor dich hin. – Ueber die Brust wie ein Stier und ein Bart wie ein Löw.. So ist keiner.. Ich bin stolz vor allen Weibern.« (H4,6; ebd., S. 26.) Stier und Löwe, die heraldisch ausgewiesenen Machtsymbole, vereinigen Potenz und Autorität. Sie haben einen spezifisch virilen Ausdruckswert im Gegensatz zur Rede vom weiblichen Wildtier bzw. weiblichen Teufel, die beide besiegt werden müssen. Daß sich der Tambourmajor in diesem Zusammenhang mit seiner machtgestützten Virilität brüstet, macht ihn selbst für Marie etwas lächerlich, doch läßt sie sich durch das Gockelhafte nicht abschrecken. »T a m b o u r - M a j o r. Wenn ich am Sonntag erst den großen Federbusch hab’ und die weißen Handschuh, Donnerwetter, Marie, der Prinz sagt immer: Mensch, er ist ein Kerl. M a r i e, (spöttisch) Ach was! (tritt vor ihn hin.) Mann!« (Ebd.)
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Marie ahnt aber bereits, daß sich ihre Hoffnungen nicht erfüllen werden, denn der Tambourmajor läßt sich herab, während sie nicht erhöht wird. Über die Aussicht, die der Tambourmajor ihr halb im Scherz zumutet, nämlich mit ihm eine Zucht von Tambourmajors zu begründen, ist sie verstimmt.13 Sie hat, wie die vorangegangene Ohrring-Szene zeigte, ganz andersgeartete Wünsche. Die Ohrringe, die ihr der Tambourmajor geschenkt hatte, haben ihr bewußt gemacht, daß sie auch einmal etwas glänzen, als Frau etwas in der Welt darstellen möchte. Ihr Traum wäre es, wie die »Madamen« in der großen Welt von ihren Kavalieren, so auch in ihrer kleinen Welt ein wenig wie eine Dame behandelt zu werden. Doch die Ohrringe waren nur ein Werbegeschenk – deren Verheißung wird nicht eingelöst. Maries Wünsche gehen also in der körperlichsexuellen Aktivität nicht auf; vielmehr hofft sie in der Ohrringszene vorrangig auf ein schöneres Leben. Vermutlich deshalb wird sie schon in der Verführungsszene (H4,6) resignativ: »M a r i e. Meinetwegen. Es ist Alles eins.« (Ebd.) Während der offensiv werbende Tambourmajor an Marie das WildAnarchische beschwört, das er gern bändigen möchte, sind die Worte des Verlierers Woyzeck über die verführte Marie religiös eingefärbt. Woyzecks Kränkung verträgt sich sehr gut mit der alttestamentarischen Moralvorstellung, weil diese ihr eine moralische Würde verleiht. Er ist bereits mißtrauisch geworden und sucht bei Marie nach den für ihn noch ungreifbaren Indizien des Treuebruchs: »Eine Sünde so dick und so breit. (Es stinkt daß man die Engelchen zum Himmel hinaus räuchern könnt.) Du hast ein rothen Mund, Marie. Keine Blase drauf? Adieu, Marie, du bist schön wie die Sünde – Kann die Todsünde so schön seyn?« (H4,7; ebd., S. 26) Woyzecks Teufelsvorstellungen sind nicht nur metaphorisch, sondern werden wahnhaft auf die Realität übertragen: Auf dem verführerisch roten Mund sucht er nach Krankheitszeichen, nach Zeichen des Verfalls und der Verderbnis. Und er riecht schon den Gestank des Teufels – ein Motiv, das im Stück leitmotivisch wiederkehrt.14 Entscheidend ist, daß Woyzecks obsessive Sündenvorstellung ihn dazu führt, seine Mordtat ––––––––– 13 Marie wäre damit indirekt eingeladen, im Sinne von Lenz’ Stück Die Soldaten (1776) als »Amazone« in den Stand einer freien Soldatenehe zu treten, die für den Nachwuchs des Heeres sorgt. 14 Büchner hat das Geruchsmotiv in H1,5 (in der Szene, in der Woyzeck Marie mit dem Nebenbuhler beim Tanzen sieht) noch weiter ausgestaltet.
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alttestamentarisch zu verbrämen: Indem er Marie tötet, will er die Frau von ihrer Sünde reinigen. In H1,19 kehrt der verwirrte Mörder an den Mordplatz zurück, um die liegengelassene Mordwaffe verschwinden zu lassen. (Woyzeck heißt in dieser ersten Handschriftenfassung noch Louis und Marie Margreth). Louis: »Was bist du so bleich, Margreth? Was hast du eine rothe Schnur um den Hals? Bey wem hast du das Halsband verdient, mit deiner Sünde? Du warst schwarz davon, schwarz! Hab ich dich jezt gebleicht.« (Ebd., S. 11.) Woyzeck bedient sich in seinem Rachewahn diffus einer langen biblisch-apokalyptischen Tradition. Über Büchner vermittelt, bringt er damit ein jahrhundertealtes Problem der Geschlechterbeziehung auf den Punkt. Die verschiedenen Βegriffe, Symbole und weiblichen Körperteile (Sünde, roter Mund, Hurenatem, Hitze, Geruch, Schwärze), mit denen Marie von Woyzeck bezeichnet, vor allem aber fetischisiert, verdinglicht und sogar stigmatisiert wird, werden von der genderkritischen Forschung daher in ihren Implikationen grundsätzlich erörtert.15 Allerdings werden dabei nicht immer die ästhetischen Rahmenbedingungen des Dramas genügend mit berücksichtigt. Büchner aktualisiert ja nicht einfach ein kollektives misogynes Erbe, sondern setzt es mit seinen Kürzeln und Vereinseitigungen gezielt für die Charakterisierung der Personen und ihres Handelns ein. Die Kürzel werden umso notwendiger, als die volkstümlich gezeichneten Figuren sich ja nicht (wie die Helden der großen ––––––––– 15 Hervorzuheben ist besonders die ausführliche und sensible geschlechterkritische Lektüre von Kerry Dunne: Woyzecks Marie »Ein schlecht Mensch«? The Construction of Female Sexuality in Büchner’s »Woyzeck«. In: Seminar 26 (1990), S. 294–308. Vgl. darüber hinaus auch die differenzierenden Erörterungen von Geetha Ramanathan (s. Anm. 6) und Laura Martin: ›Schlechtes Mensch/gutes Opfer‹: The Role of Marie in Georg Büchner’s »Woyzeck«. In: German Life and Letters 50 (1997), H. 4, S. 429–444. Die überzogenen Thesen von Ken Mills: Moon, Madness and Murder. The Motivation of Woyzeck’s Killing of Marie. In: German life and letters 41, H. 4 (1988), S. 430–436 können dagegen kaum überzeugen. – Die genannten Autorinnen setzen sich leider nur am Rande mit der deutschen Büchnerforschung und ihrer differenzierten Textphilologie auseinander und beziehen sich daher zum Teil auf veraltete Textgrundlagen. Andererseits ist es befremdlich, daß eine der jüngsten deutschen Veröffentlichungen zu den Geschlechterverhältnissen in Büchners Drama gänzlich ohne die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Frauen- und Geschlechterforschung auszukommen meint. Weder die soeben genannten Beiträge noch die Studien von Diersen: Louis und Franz (s. Anm. 7) und Ki-Sook Do: Wilde Ehe und Ehebruch (s. Anm. 9) sind aufgenommen worden. Es handelt sich hier allerdings nicht um einen Forschungsbeitrag im eigentlichen Sinne. Vgl. Katrin Heyer: Georg Büchner: »Woyzeck«. In: Dies.: Sexuelle Obsessionen. Die Darstellung der Geschlechterverhältnisse in ausgewählten Dramen von Goethe bis Büchner. Marburg 2005, S. 80–93.
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Tragödien des 17. und 18. Jahrhunderts) beredt in großen Deklamationen entfalten, sondern eine einfache Sprache mit kollektiven Versatzstücken sprechen, die teilweise sogar nur rudimentär ist. Büchners Stück lebt daher nicht nur aus der Sprache, sondern wesentlich auch durch die im Stück angelegte Gestik und Mimik. Beide verleihen auch der Marie eine größere Plastizität als es zunächst erscheint. Bei Woyzeck stehen die religiösen Sprachanker in einer bedeutungsschweren Parallelität zu den grundsätzlicheren okkult-romantischen Einsturz- und Untergangsphantasien, die ihn bereits in der Szene »F r e i e s F e l d« heimsuchen (vgl. H4,1). Woyzecks Gedanken sind bereits ›kraus‹, bevor das Stück seinen Lauf nimmt. Zudem baut sich eine unheimlich wirkende Vorausdeutung auf, die sich dann in Maries Treuebruch und dem Eifersuchtsmord wie schicksalhaft erfüllt. Woyzecks Spintisieren wird vom Dramatiker und Mediziner Büchner im Verlauf des Dramas pathologisch untermauert: Der um Geld für Marie und das Kind bemühte Woyzeck leidet aufgrund der Experimente, denen er sich für einen geringen Verdienst als Versuchskaninchen zur Verfügung stellt, an einer Geistesverwirrung. Der Doktor diagnostiziert eine »aberratio, mentalis partialis der zweiten Species« und freut sich, wie »schön ausgeprägt« sie sei (MBA 7.2, S. 27). Mit dem Mord übertritt Woyzeck die Tabus auch der patriarchalen Gesellschaft, weil er sich die Gewalt über Leben und Tod anmaßt. Das biblisch-apokalyptische Sünden- und Rache-Vokabular, das atavistische Rächertum, die verengende und zugleich dämonisch aufgeladene, obsessive Fixierung auf Maries Geschlechtlichkeit sind Ausdruck einer überschüssigen Emotion, mit der Woyzeck nicht fertig wird. Hinter seiner Wahnsinnstat steckt zwar das Aufbegehren gegen die eigene Deklassierung als Mensch und Mann. Exekutiert aber wird die Geliebte, die er durch den Mord wieder von sich abtrennen will, weil sie ihm den letzten Halt genommen hat. Gleichzeitig geht es ihm aber auch um die zwanghafte Wiederherstellung einer symbolischen Ordnung, die von Marie zerstört worden ist. Auch Marie hat einen Bezug zur Religion, allerdings nur einen schwachen. In Szene H4,16 liest sie zerknirscht in der Bibel von der reuigen Sünderin Maria Magdalena. Jesus vergibt Maria Magdalena großherzig; sieht aber nicht allein die sündige, weil käufliche geschlechtliche Liebe, sondern stellt Maria Magdalenas Kraft zu einer umfassenden Liebe heraus und stellt sie über die Engherzigkeit der Pharisäer. Der Ermahnung 115
von Jesus an Maria Magdalena: »Geh hin und sündige hinfort nicht mehr« kann die Marie in Büchners Stück nicht folgen: »(schlägt die Hände zusammen). Herrgott! Herrgott! Ich kann nicht.« (Ebd., S. 31.) Sie ist zum Gefühl aufrichtiger Reue nicht fähig und muß schon darum beten, daß sie überhaupt beten kann: »Herrgott gieb mir nur soviel, daß ich beten kann.« (Ebd., S. 31f.) Wie die Dinge nach der getäuschten Erwartung an den Tambourmajor nun einmal stehen, bleibt schließlich Woyzeck schon wegen des gemeinsamen Kindes der Rettungsanker für Marie. Sie sorgt sich, daß Woyzeck schon zwei Tage ausgeblieben ist. (Ebd., S. 32.) Während Marie sich auslebt, dann aber in Katzenjammer verfällt, entwickelt Woyzeck seine Obsession. Es ist bisher kaum gesehen worden, wie gegensätzlich Woyzecks vitaler Mangel zum vitalen Überschuß der Marie (und des Tambourmajors) steht. Woyzeck erfährt die vitale Sexualität der beiden als etwas, was er nicht hat. Er straft Marie auch für das, was ihm fehlt.
5. Maries Tanz und Woyzecks Rache: die Wirtshausszene in H4,11 und die Folgen Woyzeck äußert seine Tötungsphantasien erstmals in H4,12, nachdem er zuvor Marie mit dem Tambourmajor in einem Wirtshaus beim Tanzen entdeckt hat. Diese Tanzszene (H4,11) ist daher für die weitere Entwicklung entscheidend. In dieser Szene steht Woyzeck draußen, vor einem der offenen Fenster des Wirtshauses, und beobachtet, wie Marie und der Tambourmajor im Saal an ihm vorbeitanzen.16 Es entsteht eine fast voyeuristische Situation: Woyzeck muß von außen ohnmächtig mit ansehen, wie der Tambourmajor Maries Körper in Besitz nimmt. Nach Woyzecks Empfinden ›tappt [er] an ihr herum‹. Marie hingegen gibt sich wie selbstverloren dem Tanz hin, der sie für einen kurzen Moment in einen Glückstaumel zieht. Woyzeck hört ihren anfeuernden Ruf »immer zu, immer zu«, mit dem sie die Drehbewegung im Tanz antreibt. Während Woyzeck diesem Treiben am liebsten Einhalt gebieten möchte, will ––––––––– 16 Dem Prozeßgutachten zufolge hatte der historische Woyzeck seine damals junge Geliebte Woost mit dem Nebenbuhler auf dem Tanzboden entdeckt. Büchner nimmt dieses historische Detail aus den Akten auf, läßt aber weg, daß der historische Woyzeck schon hier aus Eifersucht wiederholt die Ungetreue bedroht und verletzt. Vgl. die entsprechenden Dokumente in MBA 7.2, S. 270.
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Marie es am liebsten auf Dauer stellen. Innen und Außen brechen in der Folge für Woyzeck ein: Er fühlt nur Hitze und Glut. Während in ihm selbst die Hitze der Eifersucht aufzusteigen scheint, glaubt er bei Marie die Hitze der Leidenschaft zu spüren, die sie mit dem anderen teilt: »Das Weib ist heiß, heiß!« Marie wird für ihn zum bloßen »Weib«, wobei er wohl auch Maries existentielles Selbstgefühl in diesem Moment trifft. Die (vermeintlich) eigene Frau gehört einem anderen – und sie ist mit diesem anderen augenscheinlich leidenschaftlicher als mit ihm. Woyzeck war schon vorher beunruhigt und er war gekommen, um sich Gewißheit zu schaffen.17 In dieser Szene wird er nun mit seinem Bedeutungsverlust konfrontiert. Er muß erkennen, daß er Marie als Mann nicht genügt, muß aber auch erkennen, daß er wieder einmal sozial höher Gestellten unterliegt. Darüber hinaus muß er erkennen, daß für die attraktive Marie nicht die gleichen gesellschaftlichen Schranken gelten wie für ihn. Woyzeck ist gewohnt, in starren Kategorien von oben und unten, von reich und arm zu denken; er kann sich für seinesgleichen nur harte Arbeit und Entbehrung vorstellen. Daß Marie mit dem Tambourmajor die sozialen Schranken zu überspringen scheint, sieht er als eine weitere Bedrohung, die ihn isoliert zurückläßt. Mit dem Tanz und seiner Beobachtung findet Büchner ein bühnenwirksames Symbol für die Verheißung der Tanzenden und für die Abgründe, die sich Woyzeck auftun. Mit dem Tanz kann der Dramatiker sowohl die Macht des Eros sowie die scheinbar beweglich werdenden sozialen Schranken als auch das beginnende innere Strudeln von Woyzeck ineinander blenden. Wie am Anfang des Stücks macht sich Woyzecks Verfinsterung in apokalyptischen Gedanken Luft: »Warum bläßt Gott nicht [die] Sonn aus, das Alles in Unzucht sich übereinanderwälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh.« (Ebd., S. 30.) Seine Erschütterung wird nun aber umfassend, weil die Apokalypse offenbar zu werden scheint: »Thut’s am hellen Tag, thut’s einem auf den Händen, wie die Mücken.« Maries »immer zu« läßt ihn fortan nicht mehr los und verbindet sich in den folgenden Szenen mit Stimmen, die ihm befehlen, die »Zickwolfin« Marie zu töten: Hör ich’s immer, immer zu, stich todt, todt. (Szene »F r e i e s F e l d«, H4,12; ebd., S. 30.) Eine Auseinandersetzung findet erst in einer weiteren Wirtshausszene (H4,14) statt und ist als Kräftemessen unter ––––––––– 17 Vgl. Szene H4,10, bzw. noch expliziter in H1,4: Woyzeck: »Ich muß fort, muß sehen!« (MBA 7.2, S. 4.)
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Männern angelegt. Es kommt zu einer Prügelei mit dem Tambourmajor, bei der Woyzeck den kürzeren zieht. Für einen retardierenden Moment scheint es offen zu bleiben, ob sich Woyzecks mörderische Agression auch gegen den Rivalen richten könnte. Denn der blutende Woyzeck verläßt die Szene mit der halben Drohung: »Eins nach dem andren« (ebd., S. 31). Doch war vorher schon deutlich geworden, daß die Rivalität durch das gemeinsame, kumpanenhafte Saufen zum Teil aufgeweicht war. Gegen den ranghöheren und stärkeren Mann geht Woyzeck letzten Endes nicht vor. Büchner läßt den Zuschauer durch Szene H4,17 kurzfristig noch an eine andere Möglichkeit der Konfliktauflösung denken. In ihr macht Woyzeck sein Testament und vererbt seinem Kameraden Andres seine ärmlichen Habseligkeiten. Noch ist denkbar, daß Woyzeck sich mit dem bereits erworbenen Messer auch selbst umbringen könnte. Auch damit wäre zum Ausdruck gekommen, daß er alles verloren hat, daß sein Leben ohne die Liebe zu Marie keinen Sinn hat. Doch war der schließlich begangene Mord an Marie für Büchner durch den historischen Kriminalfall vorgegeben. Auf ihn orientiert er sich bereits in der ersten Handschrift, doch vertieft er den Konflikt in Handschrift 4 so, daß die erwähnten Alternativen immerhin denkbar wären.18 Umso mehr stellt sich die Frage, mit welcher Folgerichtigkeit Woyzeck seine Rache und Verzweiflung an Marie exekutiert. Letztlich bewirkt er ja den eigenen Tod als Strafe, auch wenn dieser Ausgang in Büchners Fragmenten mit den am Schluß auftretenden Vertretern der Strafverfolgung nur angedeutet bleibt. Die verzweifelte Rache wird – das wissen wir allerdings nur aus H1 – mit vielen Messerstichen brutal an Marie vollstreckt. Woyzeck fühlt sich durch ihren »heiße[n]« »Hurenathem« (ebd., S. 9) noch erregt. Die Sünde: das ist Maries geschlechtliche Aktivität. Woyzecks Selbstwertgefühl wird so stark bedroht, daß er es mit dem extremsten Handeln zu verteidigen sucht. Gegenüber diesem starken Gefühl erscheinen Woyzecks Äußerungen sekundär: Die allgemeinen Moralvorstellungen, nach denen er Maries Treuebruch mit dem Hurenwesen gleichsetzt, sind ihm nur willkommen. Er unterstellt, sie habe sich an den Tambourmajor verkauft (vgl. H1,19). Dabei muß er jedoch verdrängen, daß es ihr Glücksgefühl mit dem anderen war, das er in der Tanzszene nicht ertragen konnte. ––––––––– 18 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Diersen: Louis und Franz (s. Anm. 7), S. 187f.
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Auch die erwähnten, religiös inspirierten Verdammungsurteile sind Trost für seine tiefen libidinösen und sozialen Verletzungen.
6. Woyzecks misogyne Fixierung: die Wirtshausszene in H1,17 In Handschrift 1 hat Büchner für die Szenenfolge nach dem Mord noch eine weitere Wirtshaus-Szene vorgesehen (vgl. H1,17).19 Sie interessiert besonders wegen ihrer auffälligen Parallelität zur besprochenen Eifersuchtsszene vor dem Wirtshaus (H4,11): Nach dem Mord bringt sich der Täter Woyzeck nicht etwa aus Verzweiflung um, wie es nach der Testamentsszene zumindest möglich gewesen wäre, sondern er geht vielmehr selbst ins Wirtshaus zum Tanz. Auch wenn der neue Quellenfund von Burghard Dedner und Eva-Maria Vering nahelegt, daß sich Büchner hier an eine weitere regionalhistorische Begebenheit anlehnte,20 so bringt im Rahmen des Dramas erst die Parallelität zur Tanzszene in H4,11 die besondere ästhetische Aussage dieser Wirtshausszene hervor. In der Parallelszene zuvor war Woyzeck in der Situation des Beobachters, der mit ansehen mußte, wie sich seine Geliebte mit dem Rivalen vergnügt. Jetzt tritt er selbst in das Wirtshaus ein und will an der Geselligkeit teilnehmen. Die Szene wiederholt sich fast, mit dem entscheidenden Unterschied, daß Woyzeck von der Position des Ausgeschlossenen in die des Beteiligten wechselt und daß ihm eine andere Frau die Marie ersetzen muß. Er tanzt mit Käthe, wobei deutlich wird, daß sie ihm als käufliches Flittchen gilt. Im Gegensatz zu dem Tänzerpaar Tambourmajor/Marie, das sich in einem Wirbel des Glücks befunden hatte, trägt Woyzeck zudem die Last seiner eigenen Untat in die Geselligkeit hinein: »Tanzt alle, immer zu, schwizt und stinkt, er holt Euch doch einmal Alle.« (Ebd., S. 10.) In diesem Ausruf nimmt Woyzeck den vormaligen Anfeuerungsruf der Marie auf: »immer zu«. Bei ihm bedeutet er aber das Gegenteil. Für ihn ist die Welt untergegangen: Er empfindet kein Glücksgefühl, sondern einen apokalyptischen Strudel, der sich mit den christlichen Verderbenszeichen ––––––––– 19 Handschrift 4 bricht mit Szene 17 ab, in der Woyzeck Andres gegenüber sein Testament macht. Der Fortgang des Dramas ist uns daher nur, wie eingangs schon angedeutet, in den vorangegangenen Handschriften erhalten. 20 Burghard Dedner und Eva Maria Vering: Es geschah in Darmstadt. Eine bislang unbekannte Quelle wirft ein neues Licht auf Georg Büchners Drama »Woyzeck«. In: FAZ, 23.12.2005, S. 35.
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von Gestank und Teufel verbindet. Diese Verkehrung des Tanzes ließe sich theatralisch in ein Torkeln umsetzen, in dem traditionell ein innerer Schwindel oder sogar ein beginnender Wahn sichtbar gemacht wird. Ein Torkeln zeigt an, daß die kreisende Bewegung außer Kontrolle geraten ist. Woyzeck setzt sich nicht allein – bzw. mit Käthe zu zweit – an die Stelle des damals tanzenden Liebespaares. Käthe ist für ihn austauschbar, und jedes weitere Paar ist gleich dem anderen. Für »alle« verkündet er ihr schließliches apokalyptisches Verderben. An der Marie hatte Woyzeck das Verderben bereits praktiziert. In H4,12 hatte sich, wie erwähnt, Maries Ausruf »immer zu« bereits mit inneren Stimmen verbunden, die Woyzeck aufforderten, Marie zu töten: »Hör ich’s immer, immer zu, stich todt, todt.« (H4,12; ebd., S. 30). In der Mordszene hatte er dieses ins Destruktive verkehrte »immer zu« in eine Vielzahl von Messerstichen umgesetzt: »Nimm das und das! Kannst du nicht sterben. So! so! Ha sie zuckt noch, noch nicht noch nicht? Immer noch? (stößt zu) Bist du todt? Todt! Todt!« (H1,15; ebd., S. 9) Büchner ließ dabei das bereits leitmotivisch gewordene »immer zu« geschickt in ein »immer noch« umschlagen. Es zeigt den Lesern bzw. Zuschauern Maries Lebenskraft an, mit der Woyzeck nicht anders als durch gesteigerte Brutalität fertig zu werden meint. Nach dem Mord sieht er nun seine Mittänzerin Käthe wie Marie mit zugleich begehrenden wie rächenden Augen an: »So Käthe! setz dich! Ich hab heiß! heiß (er zieht den Rock aus) es ist einmal so, der Teufel holt die eine und läßt die andre laufen. Käthe du bist heiß! Warum denn Käthe du wirst auch noch kalt werden. Sey vernünftig. [...] Ja wahrhaftig, ich möchte mich nicht blutig machen.« (H1,17; ebd., S. 10.)
Wieder ist es Woyzeck heiß, eine Körperempfindung, mit der er – im Sinne seines »schwizt und stinkt« – die eigene heftige Erregung wahrnimmt. Weil er bei Käthchen eine gleiche Hitze zu empfinden glaubt, wird er zudringlich. Doch als sie sich sträubt, schlägt er einen drohenden Ton an: »Warum denn Käthe du wirst auch noch kalt werden. Sey vernünftig.« Vernünftig bedeutet hier: sich dem Mächtigeren zu beugen. Die Drohung ist implizit: Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Käthe wendet sich dennoch ab. Wieder entsteht eine konkrete Geschlechterbeziehung, die nun abermals unter apokalyptischem Vorzei120
chen steht. Die folgende Replik des blutig gewordenen Mörders Woyzeck: »Ja wahrhaftig, ich möchte mich nicht blutig machen«, kann seine Unschuld nicht wiederherstellen, sondern enthält – im Gegenteil – Käthe gegenüber die Drohung, was ihr hätte passieren können. Woyzecks tiefe Krise zeigt sich darin, daß er – wie unter Wiederholungszwang – Käthe, potentiell aber alle Frauen, nur nach dem Maßstab einschätzen kann, mit dem er Marie verurteilt hatte. Wie auch immer Büchner sein Drama abgeschlossen hätte: Woyzecks psychische Entwicklung im Verhältnis zum anderen Geschlecht ist bereits an dieser Stelle zu einem Ende gelangt.
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Der Woyzeck am völkischen Herzen Dokumente zu einer Interpretationslinie des Woyzeck in der Theaterpublizistik Von Wolfram Viehweg (Krefeld) Als mit dem Ende der Spielzeit 1929/30, also lange vor der ›Machtergreifung‹ durch die Nationalsozialisten, die Folge der Woyzeck-Inszenierungen an deutschen Theatern abbrach, hatte das theaterimmanente Gründe, keine politischen. Der Woyzeck war, wie der Theaterjargon sagt, nach 63 Inszenierungen zwischen 1918 und 1930 im Reichsgebiet »abgespielt«, d. h., die weitaus meisten Theater, die ihn nach ihrer Struktur und nach ihrem Publikumsumfeld spielen konnten, hatten ihn gespielt, das Publikum hatte ihn gesehen. Zudem wurden auch die Theater in den späten zwanziger Jahren von einer schweren Wirtschaftkrise geschüttelt, und ein Publikumserfolg war der Woyzeck bislang nur in ganz wenigen Fällen geworden. Zudem: Das Neue, das Sensationelle, das mit den WoyzeckAufführungen der zwanziger Jahre stets verbunden war, war gewichen. Besondere Aufmerksamkeit, Ruhm und Ehre in den Feuilletons und bei den literarischen Eliten waren für die Theater mit dem Woyzeck nicht mehr im gleichen reichen Maße zu gewinnen wie bisher. Bis dahin hatte man den Woyzeck auf der Bühne wie in der Theaterkritik vielfach als soziale Tragödie, als Darstellung eines Proletarierschicksals bis hin zum revolutionären, politischen Kampftheater gedeutet und Büchner als verehrungswürdigen Ahnherrn der aktuellen politischen Linken. Daneben gab es in den Inszenierungen und in der Theaterkritik die Interpretation des Woyzeck als Symboldrama für ein von ungreifbaren Schicksalsmächten über die Menschheit verhängtes, ewiges Leiden und die als eines ebenso ewigen »Klassenkampfes« zwischen den Rohen unter den Menschen und den Empfindsamen, denen mit einem »empfindlicheren Nervensystem« (Franz Theodor Csokor), für die Woyzeck steht, und die die ewig Unterliegenden sind.
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Schließlich gab es, vorgetragen wesentlich im Widerspruch zur Deutung des Woyzeck als revolutionäre Proletariertragödie, in den zwanziger Jahren noch eine vierte, ganz andere Interpretation des Woyzeck auf der Bühne und in der Theaterkritik, die sich bis in die Zeit der Nationalsozialisten erhielt und von ihnen noch ausgebaut, nicht aber erfunden wurde: Der Woyzeck als nach Form und Inhalt ganz und gar deutsche, tief in der deutschen Volksdichtung wurzelnde szenische Volksballade, als volksnahe Moritat. Die Nationalsozialisten hatten es also gar nicht nötig, die Werke Büchners, und zumal den Woyzeck, wie vielfach vermutet wird, als linkes Teufelszeug zu bekämpfen und zu verbieten. Mir ist auch bisher kein solcher Verbots- oder Sabotagefall bei der Planung einer Woyzeck-Inszenierung bekannt geworden. Die Nationalsozialisten brauchten sich nur dieser letzteren, überlieferten Lesart des Woyzeck anzuschließen und sie in ihrem Sinne weiterzuentwickeln, wurden doch Büchner und der Woyzeck von National-Konservativen, sogar von Rechtsextremen mit gleicher Begeisterung und Innigkeit ans völkische Herz genommen, wie auf der anderen Seite von der Linken an das ihre. Diese fast vergessene Interpretationslinie in der Theaterpublizistik soll im Folgenden dokumentiert werden. Unter Theaterpublizistik werden die Texte verstanden, die von den Theatern selbst und von der Theaterkritik im Zusammenhang mit Woyzeck-Inszenierungen veröffentlicht wurden. Sie prägten mit ihren hohen Auflagen und ihrer zahlreichen Leserschaft das Bild von Büchner und vom Woyzeck, prägten die Rezeption beider beim breiten Publikum sicherlich weit mehr als die wissenschaftliche Fachliteratur. Ein frühes, noch häufig zitiertes Zeugnis für diese Art, den Woyzeck zu lesen und öffentlich zu interpretieren, ist Julius Harts in der deutschnationalen Zeitung Der Tag am 6.4.1913 zu der Wozzeck-Inszenierung1 Viktor Barnowskys am Berliner Lessingtheater erschienene Rezension.2 Brillant in Stil und Sprache und im wilden Pathos eines »Kritischen Waffengangs« grenzt Hart Büchner und den Wozzeck als Zeugnisse der »einzig ganz typisch germanische[n] Naturkunst« gegen eine Kunst ab, in der die »Ratio« der »Vernunftmenschen« die wahre, ursprüngliche, anarchi––––––––– 1 Der Titel des Stückes wird jeweils nach der von den Theatern verwendeten Schreibweise eingesetzt. 2 Neu bei Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 1: 1875–1945. Berlin 2001, S. 257ff.
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sche Natur zu domestizieren und teleologisch »auf eine moralische Weltordnung fest[zu]legen« bestrebt sei. Das sei aber »immer nur Vergewaltigung der Natur, die große Sünde gegen sie gewesen. Gegen diesen asiatischen, lateinisch-romanischen Verstandesvergötterer, den Dogmatiker und Absolutisten, den Abstrakten und den Zerspalter […] revolutioniert seit dreihundert Jahren ein Germane, ein spezifisch-typisch germanischer Kunst- und Naturgeist […]. Von dem, was diese beiden Welten und Künste, – die alte asiatisch-lateinisch-romanische Vernunftwelt und Vernunftkunst und die neue germanische Naturwelt und Naturkunst [–] unterscheidet, davon spricht Georg Büchner,«
sagt Hart in seiner Kritik. Und: »Die von der Vernunft mißhandelte, zerstörte und ans Kreuz geschlagene Natur ist auch das Wozzeck-Thema. Hier Wozzeck, die verratene und verkaufte Natur in Christo, der liebende Mensch […] und dort der Doktor, der Hauptmann, die Kinder der Vernunft und Wissenschaft, Gesetz und Moral, Philister, Pharisäer und Sadduzäer.«
Das ist für Hart die »urgermanische Kunst Büchners«. Hand in Hand, so sagt Hart seiner deutschnationalen Leserschaft im Tag, gehe bei Büchner »der Atheist, Materialist […] der Revolutionär, Freiheitskämpfer, Barrikadenstürmer und Sozialist mit dem konservativ-agrarischen Bauern-, Acker-, Erd- und Landmenschen.« Auch andere Kritiker dieser Barnowsky-Inszenierung des Jahres 1913 wiesen ihre Leser mit warmer Sympathie auf diese von ihnen diagnostizierte und betonte Nähe Büchners zum Volkhaften und zur Volksdichtung hin, wobei unter »Volk« nicht eine politische Klasse, sondern eine durch Geschichte und Herkunft verbundene, natur- und erdnahe, durch zivilisatorische Mächte noch unverbrauchte Gemeinschaft von Menschen verstanden wurde, unter Volksdichtung das Volkslied und die Ballade. So Paul Wiegler in der liberaldemokratischen BZ am Mittag vom 18.12.1913. »Unheimliche Gestalten huschen durch das Stück (der Irrsinnige, der Trödler) und gleichnisschwer gleich Strophen des Volksliedes sind die Szenen im verfluchten Tal.« Anlässlich des Gastspiels des Lessingtheaters in Frankfurt am Main, wo man auf Einladung des Vereins »Frankfurter Kammerspiele« gastierte, schreibt der Kritiker H. S. in der Frankfurter Zeitung vom 27.3.1914, der Wozzeck sei »so ganz Inspiration, rauscht so atemberaubend rasch vorüber, daß es die holde und zugleich erschütternde Unpersönlichkeit, das Nie-Gemachte, plötzlich Daseiende des Volksliedes zu haben scheint, und man das Zufällige
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seines Weiterbestehens wie sinnvolle Deutung ansehen möchte. Wie eine Volksballade ist die Geschichte des armen, gehetzten Soldaten, dem sein Mädel untreu wird, der dann Gericht hält mit Eisen und Blut, nicht wie ein Mörder, sondern wie ein Knecht des Schicksals, der einen Befehl vollzieht, und den doch das Gewissen nicht weiterleben lässt. 1836 ist dies Stück geschrieben. Wieder etwas wie Geheimnis und Wunder. […] Man kann es nicht einordnen und so ist es auch darin wie ein Volkslied.«
Ebenfalls in der Frankfurter Zeitung (19.12.1913) leitet deren Berliner Korrespondent E. H. (= Ernst Hart?) seinen Bericht von der WozzeckPremiere im Lessingtheater so ein: »Uns sprach ein Dichter, einer der naturwüchsigen. Man sehe in Georg Büchner nicht den von Shakespeare Abhängigen: er bedurfte keines geborgten Lichtes. Man nenne ihn auch nicht den Vorläufer des modernen Realismus: gleichgültig erscheint es, wohin sein Schatten fiel. Wohl aber hatte seine dichtende Seele ihre Heimat. Man erkennt unschwer die schlichte Weise, die zu ihm hinüberklang, wenn er s e i n e Weisen suchte: das deutsche V o l k s l i e d. Dem modernen Realismus böte Wozzecks Geschick nur ein dumpfes S c h a u s p i e l. Das aber wird bei Büchner zur T r a g ö d i e. 3 Eben darum, weil der verratene Wozzeck so leidhaft empfindet, wie der Betrogene im Volkslied, so leidhaft, rein und groß. Weil es die Szenen aus dem Volkslied sind, die sich hier aneinanderreihen und gleichsam den Kranz zur Tragödie runden. Weil Volksliedspuk Wozzecks Seele erschüttert und Volksliedklänge ihm zu seelischen Motiven werden. […] Uns sprach ein Dichter, einer der Begnadeten. […] Ihm weckte nicht nur das Volkslied die dichtende Seele, er war selbst einer dieser Volkslied-Sänger, in denen die Luft ist und die Kraft, der Ton und die Weise, die ihres Weges ziehen und nach denen niemand fragt. Was wissen die Scheunen vom Reichtum der Felder? Es darf Überfluß sein in der Welt. Und vielleicht macht das Georg Büchner heute zu einer doppelt teuren Erscheinung, daß er lebte und dichtete und seines Weges zog […].«
Eben wie die Sänger deutscher Volkslieder und Volksballaden. Ganz mit der gleichen wilden Begeisterung wie diejenigen seiner Kollegen, die in Büchner den vorbildhaften, kämpferischen, revolutionären Dichterjüngling verehrten, sieht nach dem Gastspiel des Lessingtheaters in Frankfurt am Main der Kritiker gt. in der Frankfurter Volksstimme vom 27.3.1914 Büchner und dessen Wozzeck. »Wie ein ins Hessische übersetzter Shakespeare wirkt dieser ›Wozzeck‹ […]. An alles Ergreifende, Dämonische, das man je auf der Bühne gesehen hat, wird man gemahnt, und doch ist dieses Stück mit seinen vielen hessischen ––––––––– 3 Sperrungen hier und nachfolgend stets wie im Original.
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Volksliedern wieder so einfach und selbstverständlich, als wäre es selbst nur Inhaltsangabe eines Volksliedes: Das Mädle mit seinem ›Hurenkind‹, das dem Wozzeck so von Herzen gut ist, aber Liebe und Treue nicht zu vereinen und dem Tambourmajor mit seinem schönen Bart nicht zu widerstehen vermag. Der Hauptmann mit dem stolzen Federbusch, der quacksalbernde Arzt, die alte Großmutter, die auf der Straße den Kindern Geschichten erzählt, die Kinder selbst ... Klingt das nicht alles zusammen wie ein Märchen aus alter Zeit? Und die heißen Küsse, die Wozzeck seiner Marie im Walde auf den Mund drückt, ehe er ihr das Messer in den Leib rennt, die Verzweiflung, die ihn dann ruhelos von einem Punkt zum anderen treibt, bis er im Teich die ewige Ruhe findet, steht das nicht irgendwo in ›D e s K n a b e n W u n d e r h o r n‹? Aus dem Volk heraus ist dieses Stück geschrieben und dem Volk ist es gewidmet. Wären unsere Theaterverhältnisse in Deutschland nicht so beklagenswert kläglich, die Künstler des LessingTheaters müßten mit diesem Stück hundert Jahre nach Büchners Geburtstag einen Triumphzug durch Deutschland veranstalten können.«
Und weiter fragte sich gt.: »Wie kommt es nur, daß die Vereinigungen für Heimatkunst, die so zahlreich sind wie der Sand am Meer, dieses Kunstwerk noch nicht entdeckten? Wie kommt es, daß keine Frankfurter Bühne sich bisher dieses Heimatdichters angenommen hat?« Hier tritt schon sehr früh, ganz zu Beginn der Bühnenlaufbahn des Woyzeck, vor das Büchner-Bild vom jungen Dichterrevolutionär, mit gleicher Emphase wie dieses vertreten, in der Theaterkritik der Volksliedund Volksballadensänger, der »Heimatdichter« Georg Büchner. Viktor Barnowsky hat den Wozzeck wohl ähnlich gelesen. Seine Inszenierung bahnt solchen Interpretationen den Weg. Obwohl der Darsteller des Wozzeck, Albert Steinrück, dessen Sprache, wie Fritz Engel im Berliner Tageblatt vom 18.12.1913 berichtet, einen slawischen Akzent gab, sah und inszenierte Barnowsky das Stück als eine szenische deutsche Volksballade. Dazu beigetragen haben wesentlich die in schneller Folge auf der Drehbühne am Publikum vorbeiziehenden Bühnenbilder Sven Gades, jedes einzelne fest gebaut und im Einzelnen ausgeführt. Im Frankfurter Volksblatt begeistert sich gt.: »Im ›Wozzeck‹ waren die Dekorationen und Kostüme von Sven Gade so, daß man sie nicht besser wünschen konnte. (Haider, Spitzweg, Thoma und Leibl dürften als ›stille Teilhaber‹ dabeigewesen sein.)« Gade gibt jedem seiner Bilder einen gleichen Rahmen: Hohe, schroffe Felsen, ein »verfluchtes Tal«, wie Paul Wiegler diese Szenerie benennt, einen Rahmen also nach Art des »Freischütz«. Bei Barnowsky spielt der Wozzeck in einer erweiterten »Wolfsschlucht«. Der Kritiker F. E. berichtet im Berliner Tageblatt vom 18.12.1913: »Sven Gade hat 127
winklige Stuben, winklige Gassen, einen Wirtshausgarten, tiefen Walddämmer voll poetischen Lebens gegeben.«4 Dieses Bild vom Woyzeck als deutsches Volkslied und als szenische deutsche Volksballade und von Büchner als typisch deutschem Dichterjüngling erscheint nun, vorgetragen mit lebhafter Zuneigung für beide, immer wieder während der folgenden Jahre in der Theaterpublizistik und auch auf der Bühne. 1917 setzt sich Heinz Michaelis in der Königsberger Hartungschen Zeitung vehement für den Wozzeck als Bühnenstück ein. Er fragt beschwörend: »Wo ist der Zauberer, der dieses Gedicht unserer Bühne erobert zum dauernden Besitz?«5 Zwar sind für ihn in Anlehnung an Büchners Brief an Gutzkow vom 31. Mai oder 1. Juni 1836 aus Straßburg »materielles Elend und religiöser Fanatismus die beiden Hebel, die die Handlung des ›Wozzeck‹ in Bewegung setzen«, und die Figuren des Hauptmanns und des Doktors charakterisiert er in geradezu klassenkämpferischem Zorn, aber im Wozzeck als Ganzem sieht er »Szenen voll schauriger Märchenromantik und zugleich voll der süßen Melancholie des Volksliedes. Stimmungen aus ›Des Knaben Wunderhorn‹ werden lebendig. […] Seine [Büchners] Dramen sind keine willkürliche Verbindung von Romantik und Realismus, sondern er sieht die R o m a n t i k i n d e r W i r k l i c h k e i t.«
Während Michaelis den Wozzeck seinen Lesern noch gleichzeitig als soziales Drama, als Symbolstück für eine ewige schicksalhafte Leidgebundenheit des Menschen und als dramatisiertes Volkslied vorstellte, interpretierte der Kritiker im Werraboten vom 12.3.1919 das Werk anlässlich einer Inszenierung am damals noch so benannten Herzoglichen Hoftheater in Meiningen ganz als eine typisch deutsche szenische Volksballade: »Wie rein und köstlich erstrahlte gestern dieser Schatz, den einst in ähnlich wild bewegter Zeit wie heute ein deutscher Dichter hinterließ. Ein d e u t s c h e r Dichter, dessen Werk bei aller Derbheit und gesunder Sinnlichkeit nichts von schwülstiger Erotik, nichts von falschem Gefühl anhaftet. Ein Werk, das fest und gerade aufwächst.« ––––––––– 4 Ausführliches zur Wozzeck-Inszenierung Barnowskys am Berliner Lessingtheater 1913 vgl. Wolfram Viehweg: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 1. Teil, 1913–1918. Norderstedt 2001, Books on Demand, S. 135–165. 5 Heinz Michaelis: Georg Büchners »Wozzeck«. In: Königsberger Hartungsche Zeitung 17.6.1917, Sonntagsblatt, Morgenausgabe.
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Franz Ulbrich, der Regisseur des Abends, formulierte ein ähnliches Verständnis des Textes. Er brachte nach dem Bericht des Werraboten in einem Einführungsvortrag, wie man sie den Wozzeck-Vorstellungen der Zeit gerne voranschickte, »die interessante Deutung, als habe Büchner in seinen kurzen, von unerhörtem Leben erfüllten Szenen die beim Volke so beliebten ›Moritaten‹, die auf Messen und Jahrmärkten in Bild und Gesang vorgeführt wurden, nachahmen und künstlerisch vertiefen wollen.« Ein grünes Tuch bedeckte gleichbleibend in allen Bildern, auch in denen, die in Innenräumen und auf Strassen spielten, den Bühnenboden: Ein weiterer Hinweis Ulbrichs auf die Nachbarschaft zur naturhaften deutschen Volksdichtung, die er in dem Text als prägendes Element aufgefunden hatte, und die er für sein Publikum ins Bild bringen wollte.6 Wie Ulbrich gestaltete auch Paul Petersz seine Wozzeck-Inszenierung am Stadttheater in Heidelberg 1920 als eine szenische deutsche Volksballade und wurde in dieser Interpretation für sein Publikum noch deutlicher als Ulbrich in Meiningen. Ein Zwischenvorhang trennte und verband die einzelnen Bilder gleichzeitig, indem er im Stil der Bildtafeln der volkstümlichen Moritatensänger der Jahrmärkte in großen Buchstaben den Namen Wozzeck und unter dieser Überschrift dann in einfach gemalten Bildern Geschehnisse der einzelnen Szenen zeigte. »Heller beleuchtet, hielt dieser Bilderwozzeck noch straffer die einzelnen Szenen zusammen.«7 Der Bühnenscheinwerfer wurde zum Zeigestock des Moritatensängers. »Wie eine alte Volksballade erlebte man das tragische Stück Leben.«8 Als Arthur Hellmer 1919 am Neuen Theater in Frankfurt am Main, einem reinen Schauspielertheater, an dem die Konzeptionen der Regisseure noch kaum das Bild einer Aufführung bestimmten, mit und für Albert Steinrück und mit der jungen Helene Weigel als Marie den Wozzeck herausbrachte, stand in der Wahrnehmung der Theaterkritik das Werk wesentlich stärker als soziales Drama und Proletariertragödie im Vordergrund, als das 1920 in Meiningen und Heidelberg – auch als Ergebnis der Inszenierungen dort – der Fall war. Aber auch hier fehlten nachdrückliche Hinweise auf die Lesart des Wozzeck als deutsches Volks––––––––– 6 Ausführliches zu dieser und zu allen weiteren in diesem Beitrag erwähnten Inszenierungen s. Wolfram Viehweg: Georg Büchners »Woyzeck« auf dem deutschsprachigen Theater. 2. Teil, 1918–1944. Norderstedt 2008, Books on Demand. 7 Dr. R. G. in: Heidelberger Tageblatt 26.2.1920. 8 Ebd.
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lied und als Volksballade nicht. Von einem »volksliedhaften Einschlag«, der mit einem »revolutionären Unterton« zusammenklinge, berichtet das Darmstädter Tageblatt am 19.9.1919. Bernhard Diebold, einflussreicher Kritiker schon in diesen Jahren nicht nur in Frankfurt, schrieb in der Frankfurter Zeitung vom 17.9.1919 – und benutzte dabei mit dem »Schaukastenmann« eine Metapher aus dem volkstümlichen Jahrmarktleben: »Ein genialer Schaukastenmann ist der Techniker Büchner. Bald demonstriert er naturwissenschaftlich und ist Psychologe, bald singt er das Vokslied vom armen Teufel in süßen, bitteren Strophen, mit verzweifelten, grausigen, mit blutigen Refrains: Seele, Seele, was leidest du am Leibe. Kein Trauerspiel – eine Ballade mit Gespenstern, Schalmeien und Tanz unter der Linde, mit Liebe, Poesie und Wein.«
1921 rügt Monty Jacobs in der Vossischen Zeitung vom 6.4.1921 anlässlich der Inszenierung des Woyzeck durch Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin dessen Darsteller Eugen Klöpfer, weil der zu des Kritikers Missvergnügen in seiner Darstellung »allmählich ein Stück slawischen Volkes geworden« sei. »Als ob um diesen Märtyrer aus Dostojewskis Abgrund nicht Büchners deutsche Volksweisen klängen.« Im gleichen Jahr wird Klöpfer als Darsteller des Woyzeck seiner eigenen Inszenierung am Wiener Raimundtheater in der Wiener Abendpost, der Beilage zur Wiener Zeitung, am 8.10.1921 mit warmem Herzen für das gelobt, was Monty Jacobs in der Vossischen Zeitung so ärgerlich vermisst hatte, für die Darstellung dessen, was vom Kritiker als typisch deutsch im Wesen des Woyzeck gelesen wurde. »Klöpfer gab einen Menschen, in dem Gott wohnt, einen Mann, der Kind geblieben ist […]. Nur ein innerlich selbst sehr reicher Künstler kann das Leid dieser deutschen Seele mit solcher Fülle und Tiefe wiedergeben.« Und selbst Paul Wertheimer, der in seiner Kritik in der Neuen Freien Presse Büchner zuvörderst als Vorläufer der expressionistischen Bewegung würdigt und im Woyzeck »eine Sache der Menschheit, ein erbarmungswürdiges Gemälde der Gequältheit des Volkes« sieht, weist seine Leserschaft sorgfältig auch auf Elemente der deutschen Volksdichtung in der Gestalt des Woyzeck hin. »Dieser hilflose, von jedem getretene, zum Leiden bestimmte, höchst unbewehrte Wehrmann ist bei ihm [Büchner] eine unendlich echte, unendlich rührende, deutsche Volksgestalt geworden, eine der tiefsten und rührendsten, die vor Gerhart Hauptmann geschaffen wurden. Kein frisch-fröhlicher Soldat, wie er durch die deutschen Volkslieder marschiert, ›Soldaten sind geboren aus ritterlichem Sinn‹ – er gleicht vielmehr dem armen Schwartenhals
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oder dem armen Mann aus dem Toggenburg, wie er in den Soldatenrock gepreßt wurde.«
Wertheimer spricht von »raschen Szenen, die selbst wie ein trauriges Volkslied vorüberziehen.«9 Anlässlich der Wozzeck-Inszenierung durch Karl Theodor Wagner am Grazer Schauspielhaus mit Premiere am 4.1.1922 brachten die einzelnen Organe der örtlichen Presse ihren Lesern ein anschauliches Beispiel für die Vielzahl der Arten, in diesen Jahren den Wozzeck zu lesen. Unter ihnen auch – und deutlich vernehmbar – die national-konservative, vorgetragen mit der gleichen Begeisterung für Büchner wie die linke Lesart von ihren Adepten. Für den Kritiker e. h. in der Grazer Montags-Zeitung vom 9.1.1922 ist die Figur des Wozzeck ein »Symbol des stummen Volkes«, wobei auch hier wieder unter Volk nicht eine soziale Klasse oder Schicht, sondern eine Gruppe erdnaher, unverbildeter Menschen, verbunden durch gleiche Geschichte und gleiches Herkommen, verstanden wird. Er sieht auf den Pfaden Julius Harts die Nähe des Wozzeck zur deutschen Volksdichtung, und um dies seinen Lesern möglichst deutlich zu machen, bedient er sich bei der Beschreibung des Mordkomplexes auch gleich demonstrativ überzogen deren sprachlicher Mittel: » […]. Scheu schleicht der Mörder jetzt zurück zur Toten, das Mordmesser zu suchen. Er findet’s, wirft’s in den Waldsumpf, er kriecht selbst hin zum Wasser, die Blutspuren zu tilgen. Und röchelt und stöhnt wie ein armes Wildtier in der Waldnacht ... Zwei biedere Schwaben ziehen durch den Wald, kommen zur Mordstätte, stehen bei der Leiche und – finden sie nicht. Aber sie hören aus der Ferne undeutliches Geräusch, Geröchel und Geröhre ... Geängstigt, von Grauen und Aberglauben gepeitscht, laufen sie davon. Still liegt die Leiche an der Blutbuche. Irres Röcheln und Stöhnen weht durch den Wald. […] Die biederen Schwaben stehen dicht vor der Leiche; jeder Mensch im Publikum zittert: ›Jetzt, jetzt werden sie die Tote finden!‹ – Aber nein! Die Wanderer finden die Leiche nicht, sie hören nur die geisterhaften Geräusche, sie laufen davon, sie erzählen im Dorf: ›Es spukt! Es spukt im Walde! Neben dem Waldwasser!‹ Und am nächsten Morgen, wenn alles wieder hell und freundlich ist, da gehen sie selbst oder andere in den verrufenen Waldwinkel. Und da liegt im Sonnenschein zwischen dem blutigen Farnkraut die schöne Marie, die von dem närrischen Wozzeck ein Kind hat und jetzt immer mit dem bärtigen Tambourmajor auf die Tanzböden geht. Tot liegt die schöne Marie im Walde. Und die goldenen Ohrringel, die ––––––––– 9 Paul Wertheimer: Ein Vorläufer des Expressionismus. Georg Büchners »Woyzeck« im Raimundtheater. In: Neue Freie Presse 11.10.1921. Neu bei Dietmar Goltschnigg: Büchner und die Moderne (s. Anm. 2), S. 400ff.
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ihr der Tambourmajor gab, um die sie der betrogene Wozzeck niederstach, die goldenen Ringel glänzen zwischen Farnkraut und Schwarzbeeren.«
Im Anschluss ordnet der Kritiker das Stück für seine Leser dort ein, wo er selber es zu sehen wünscht: »Ich habe nur eine Szene erzählt, aber damit vielleicht auch den Inhalt des Stückes, jedenfalls aber eine Probe seines Stils gegeben. Es ist der typisch germanische Stil, von Shakespeare und unsren Klassikern vorgebildet […]. Bild an Bildchen reihend, jedes von stärkster Eindrucksfähigkeit, von unmittelbarster Wirkung, und nun diese Bilderreihe in kühnem Bogen zu einem großen Lebensbild bauend, bietet diese Technik der dichterischen Erfindungskraft breitesten Spielraum. Freilich nur jenem, der wirklich Empfindungskraft besitzt. Der Phantasielose kann sich dieses ›faustischen‹ oder ›gotischen‹ Stils nicht bedienen, der bleibt lieber in den bequemen Geleisen der Drei- oder Fünfakter romanischer Herkunft. Als einprägsames Beispiel germanischen Stildramas sei die Aufführung des ›Wozzeck‹ daher dankbar begrüßt.«
Ganz anders sieht Kasimir Edschmid Georg Büchner in die Tradition altdeutscher Kultur verwoben, aber auch er charakterisiert ihn in seinem zuerst am 19.5.1922 in der Frankfurter Zeitung, dann aus Anlass der Essener Woyzeck-Inszenierung von Stanislaus Fuchs am 9.12.1923 in der Beilage Kunst, Wissenschaft und Literatur der Essener Allgemeinen Zeitung erschienenen Aufsatz Georg Büchner10 als einen typischen Vertreter des Deutschtums, und zur Verdeutlichung seines Wesens verwendet er Namen der größten Genies altdeutscher bildender Kunst. Für Edschmid ist Büchner »der genialste Protest des Heroischen gegen eine unheroische Landschaft und Bevölkerung [Hessen] […], aber dennoch in allen guten Partien von guter Heimatlichkeit durchleuchtet, er geht nur darüber hinaus. […] Schon sein Wesen und Schaffen hat die schicksalhafte Zeichnung, die alle gute deutsche Kunst führt: es war ihm bestimmt, Ungewöhnliches versucht, Herrliches geformt, aber nichts Totales geschaffen zu haben. […] In Büchners Blitzen ist noch die Erinnerung an Grünewalds Ungestüm, der eine Stunde östlich, in Aschaffenburg, groß ward, an die Schule der Kölner Madonnen, die nördlicher den gleichen Fluß gut bewohnen, an Riemenschneider, der die fränkische Landschaft südlicher bestimmte mit seinen Tragödien aus geschnitztem Holz. Heroisches lag jeweils an der Peripherie der Landschaft, in den Domen von Mainz und Frankfurt […]. Büchner ist mit all diesen genialen Einsätzen in seinem Werk einer der sinnvollsten Torsen für die deutsche Kunst, die nach Vollendung so fieberhaft drängte, daß sie nicht ––––––––– 10 Neu ebd., S. 321f.
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bemerken konnte, daß ihr diese nicht verliehen war, und daß sie darum schön zerbrach.«
Auch der hessische expressionistische Dichter Edschmid sieht bei Büchner Verbindungen zu einer als spezifisch deutsch betrachteten und verehrten Kunst und gewinnt auch von dorther seine Sympathien für ihn. In der Hauszeitschrift des Weimarer Deutschen Nationaltheaters Weimarer Blätter erschien im Zusammenhang mit der Woyzeck-Inszenierung Ernst Hardts, der von 1921 bis 1924 als Generalintendant in Weimar amtierte, ein Aufsatz von Erich Lichtenstein.11 Zwar stellte Lichtenstein seinen Lesern auch den Politiker und Revolutionär Georg Büchner vor. Sein Fazit hier: »Die spätere Sozialdemokratie dürfte ihn als einen Vorläufer verehren.« Aber er trennt in Übereinstimmung mit Ernst Hardt den Politiker scharf von dem Dichter Georg Büchner, dessen wesentliches Merkmal er in der Nähe zu seinem heimatlichen Volkstum sieht. »In der künstlerischen Sphäre verlieren nun diese Theorien ihren zeitlichen Charakter. Es ist erstaunlich zu sehen, wie Büchner diese Ideen über Zeit und Raum hinausgereckt hat, wie alles Gegenständliche und historisch Bedingte abfällt und das Problem des Volkes an sich Gegenstand seiner Dichtung wird. […] Der Begriff des Volkes ist für Büchners Schaffen entscheidend und aufbauend geworden. Denselben Begriff, der in unserer Zeit durch die Bildung des Adjektivums ›völkisch‹ etwas Anrüchiges und Verdächtiges bekommen hat infolge des Mißbrauchs, den Sentimentalität und Verhetzungspolitik damit trieben, hat Büchner mit einer so reinen Inbrunst erfaßt, daß es schwer ist, davon zu reden. Den Menschen, die ihrer heimatlichen Erde noch nahe sind, hat seine tiefste Liebe, sein innigstes Zusammengehörigkeitsgefühl gegolten. Er selbst stammte aus dem ältesten, fruchtbarsten Kulturboden Deutschlands, der Wall des Hadrian führte nahe an seiner Heimat vorbei, er war allen guten Geistern dieses Landes zwischen Rhein und Main nahe verwandt. So war in ihm die Poesie der Vorstellungsweisen des Volkes lebendig, er brauchte keine Mühe, keine Verstandesarbeit, um ihnen nahe zu kommen, es war ihm unmittelbar gegeben, er war ein Teil davon. […] In ›Woyzeck‹ hat nun dies Gefühl hinreißendste Gestalt gewonnen, denn hier offenbart sich die Volksseele selbst. […] Woyzecks Schicksal ist das Schicksal des Volkes selbst, mit seiner Dumpfheit, seiner Schwermut und seinem Tiefsinn. Im ›Woyzeck‹ hören wir die elementare Stimme des Menschen raunen, des Herzens Krümmen ist hier entblößt. Büchners Liebe zum Volkslied hat auch hier ihre Wurzel, es ist nicht nur aesthetische Freude an der Romantik, sondern die leidenschaftliche Begierde, die menschliche Urmelodie aus ihm zu hören.« ––––––––– 11 Erich Lichtenstein: Georg Büchner. In: Weimarer Blätter. Zeitschrift des Deutschen Nationaltheaters 5 (Mai 1922), S. 231ff.
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Auch Hardt sah die Nähe Büchners zum Volkslied und zur Volksdichtung und hat sie in seiner später vielfach in anderen Inszenierungen verwendeten Weimarer Spielfassung entsprechend berücksichtigt und sich noch besonders auf diesem Felde beraten lassen. In seinem Aufsatz Bemerkungen zu Büchners »Woyzeck« im nämlichen Heft der Weimarer Blätter schreibt er auf S. 255: »Für die Einfügung des Ringelreihens in der neunzehnten und für die Ergänzung der zweiten Zeile des ersten Liedes in der dritten Szene habe ich Herrn Professor Max Friedländer12 und Johannes Bolte zu danken, die mir mit ihrer maßgebenden Sachkenntnis auf dem Gebiet des alten Volksliedes gütige Hilfe gewährten.«
Der Aufsatz Hardts erschien auch als Nachwort zu seiner der Weimarer Spielfassung folgenden Woyzeck-Ausgabe.13 Dort lässt Hardt im Personenverzeichnis auch das komplette Personal einer szenischen Volksballade und eines volkstümlichen Jahrmarktes auftreten: »Ein Pferd. Ein Affe. Ein tanzendes Kind. […]. […] Studenten. Burschen und Mädchen. Soldaten. […]. Kinder. Volk. […]. Tanzgeigen. Leierkästen.« Die gallige Pointe angesichts dieser Akzentuierung des Woyzeck als szenische deutsche Volksballade durch die Weimarer Theaterleute: Es kam ausgerechnet in einer ohnehin in gespannter Atmosphäre – zuvor angeheizt durch die örtliche Presse – verlaufenden Vorstellung während der durch volkstümliche Drehorgelmusik begleiteten Verwandlung zur Jahrmarktszene zu zornigen Protesten im Zuschauerraum und zu einem erregten Wortwechsel zwischen dem Intendanten in seiner Loge und dem Publikum. Das geschah in der dritten Vorstellung der Woyzeck-Inszenierung Hardts. Es war ihre letzte. Am Neuen Theater in Dresden wollte man in einer Wozzeck-Inszenierung, die am 29.11.1923 ohne einen verantwortlichen Regisseur – der Spielleiter hatte die Stätte seines Wirkens vorzeitig verlassen – das Werk als eine stimmungsstarke, dunkle Volksballade auf die Bühne bringen. Man spielte als Eingangsmusik Franz Schuberts »Der Tod und das Mädchen«. Trotz dieser eindeutigen Akzentuierung der Aufführung als szenische Volksballade bietet gerade die Dresdener lokale Presse hier ein deutliches Beispiel für die höchst unterschiedlichen Interpretationen des ––––––––– 12 Der Musikwissenschaftler Max Friedländer war Vorsitzender der Kommission für ein Volksliederbuch für Männerchor. 13 Woyzeck. Eine Tragödie von Georg Büchner. Nach den neu entzifferten Handschriften für Leser und Bühne hergestellt von Ernst Hardt. Leipzig 1924 (Insel-Bücherei; 92).
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Woyzeck, die die Feuilletons der zwanziger Jahre ihren Lesern, unabhängig von der Konzeption der zu besprechenden Inszenierung, anboten und alle mit dem gleichen Ergebnis: Höchste Anerkennung, ja euphorische Begeisterung für den Dichter. Für den Kritiker M. A. in der Sächsischen Staatszeitung vom 30.11.1923 ist der Wozzeck das »erste Proletarierdrama der Deutschen«, »die Tragödie vom unentrinnbaren Armutsfluch«, »ein Stück schleichende Revolution, das der Wozzeck in seiner armseligen Person verkörpert.« Auch für F. Kummer im Dresdner Anzeiger vom 1.12.1923 ist der Wozzeck zuvörderst »eine der frühesten sozialen Tragödien unserer Literatur, […] worin das Leben der unteren Volksschichten in ihrer Gedrücktheit und seelischen Dumpfheit geschildert wird. Darin ist die Dichtung einzig.« Freilich sagt er, was die Inszenierung angeht, auch: »Das Volksliedhafte dieses Lieds vom armen Mann ist zu finden.« Für Dr. Leo Fantl in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 1.12.1923 hingegen ist der Wozzeck gerade nicht der Vertreter einer sozialen Schicht, sondern ein »nicht Verantwortlicher«, ein Sonderling und Büchners Text bemerkenswert vor allem als Station einer Entwicklungslinie von Wagners »Kindsmörderin« hin zu Frank Wedekind. Für den Kritiker Dr. Felix Zimmermann ist der Wozzeck in den Dresdner Nachrichten vom 1.12.1923 »die dramatische Schauerballade vom armen Wozzeck«, wurzelnd in der deutschen Volksdichtung. »Er ist ein tiefer Mensch und darum unglücklich. So ersticht er Marie am Weidenbaum, wo die Sumpfwasser gurgeln, die auch ihn dann, als er verwirrt zur Stätte der Tat zurückkehrt, hinunterschlucken. Ein altes Lied klingt so, wer will es deuten? […] Wie ein Alp lastet dieses unerbittliche Gedicht auf der Seele. Aber es ist voll reinster Poesie. Es klingt von Stimmen des Volksgesangs, die sich licht hindurchziehen. Es zeigt die sinnenfrohe Kraft des im Kinde beglückten Weibes. Es hat Worte voll Märchenstimmung und Tiefsinn […]. Es ist ein unvergänglicher Besitz deutscher Dichtung; einzig in seiner Art.«
Ähnlich unterschiedlich, hier aber doch im Wesentlichen in Auseinandersetzung mit der Konzeption des Regisseurs, der das Stück mit artifiziellem, bühnenbildnerisch-technischem Raffinement als wildbewegte szenische Ballade auf die Bühne brachte – und dabei mit dem breiten Darstellungsstil seines Hauptdarstellers Kurt Katsch in Konflikt geriet – interpretierten die Düsseldorfer Feuilletons den Woyzeck anlässlich seiner Aufführung im gerade eröffneten Kleinen Haus des Stadttheaters mit Premiere am 15.3.1925 in einer Inszenierung von Joseph Münch. 135
Für Gerth Schreiner, der 1923 an der Darstellung des Wozzeck als linkes, revolutionäres Kampftheater der Düsseldorfer »Jungen Aktion« – später der »Szene« – führend beteiligt war,14 ist der Wozzeck in der Düsseldorfer Volkszeitung vom 21.3.1925 »die Tragödie des unterdrückten Menschen«. »Hier war der Versuch einer dramatischen Äußerung, die aus dem breiten Volksempfinden kommend sich ans Volksempfinden wandte und nicht für eine Schicht Gebildeter bestimmt war. Hier, im ›Woyzeck‹ beherrscht ein ausgebeuteter, armer Mensch und Soldat und eine vom Trieb besessene Proletarierfrau Marie […] das dramatische Geschehen. […] Woyzeck ist kein tumber Tor und kein Kaspar Hauser. Woyzeck ist ein ausgebeuteter Mensch, dessen Körper und Seele durch die Ausbeutung zerstört wurde […].«
So Gerth Schreiner, für den die Begriffe »Volk« und »Proletariat« natürlich gleichbedeutend sind. Gegen solch eine Deutung – und gegen den Woyzeck-Darsteller Kurt Katsch – wendet sich mit deutschem und nationalem Engagement der Kritiker H. Stolz in der Abendausgabe der Essener Rheinisch-Westfälischen Zeitung vom 18.3.1925: »Wohl ist der Woyzeck ein armer, gehetzter, gestoßener Mensch. Aber er ist nicht blöde, geistesschwach und kein Gegenstand für Psychiater […]. Er ist ein Wehrmann und deutscher Soldat. Was er erlebt, steht außer bei Bühnen [wohl irrtümlich statt »Büchner«] in so schlichter, inniger, leidvoller Wahrheit nur noch einmal, im Volkslied, geschrieben.«
Und dann wendet er sich gegen den Regisseur Münch: »Wer es nicht ebenso wahr und natürlich aus dem Herzen heraus, sondern ›stilvoll‹ studiert, von der Vernunft her gestaltet, macht aus dem Volkslied ein Kunstlied, aus Georg Büchner etwas wie Georg Kaiser.« Noch energischer stellt der Kritiker H. im Düsseldorfer Tagblatt vom 18.3.1925 Georg Büchner und den Woyzeck in die Tradition der deutschen Nationalliteratur – wie er sie verstanden wissen möchte – und der deutschen Volksdichtung: »Die Leidenschaftlichkeit des Gefühls, aus der der junge Schiller, Goethe, aus der Kleist, Grabbe und nicht zuletzt Büchner das wenige schuf, das seine kurze Lebensspanne ihm vergönnte, ist spontanem Erleben entsprungen, sieht sich nicht um nach einem greifbaren Modell, sondern reißt aus der Natur die wahre, organische Schönheit, unbekümmert um scheinbare Formlosigkeiten der künstlerischen Ausprägung, wofern nur lebendiges Blut ––––––––– 14 Vgl. Viehweg: Büchners »Woyzeck« (s. Anm. 6).
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durch die Vorgänge pulst und alle materiellen Widerstände überflutet. Und ist das nicht d e u t s c h e s Hingegebensein an den Ausdruck, das alle formal regelmäßigen Lösungen wegwirft, aus dem heraus wir heute vor den Plastiken unserer mittelalterlichen Dome stehen, deren figürliche Prägung wir bis vor kurzem noch als unbeholfene Steinmetzarbeit abzutun beliebten, weil uns die lineare Regelmäßigkeit des romantischen [sic! Wohl statt romanischen] Formgefühls unser deutsches Auge verblendet hatte? Könnte nicht die balladenartig-skizzenhafte Folge der Szenen ebenso in Wort und Weise eines deutschen Volksliedes aufklingen? Der arme Soldat, dem die trotzige, sinnliche Geliebte die Treue bricht, so daß ihm die Eifersucht das Mordmesser in die Faust drückt! […] Sollte man aus dieser elementar deutschen Weise zu schaffen, nicht Georg Büchner zu unseren großen Bekenntnisdichtern rechnen, eher als daß man den politischen Revolutionär auch an dem Dichter aufzuzeigen unternimmt?«
Im Juni 1925 hatten die Münchner Kammerspiele die wesentlichen Aufführungen der Spielzeit 1924/25 zu einem Zyklus zusammengefasst und ihm eine Woyzeck-Inszenierung durch Hans Schweikart hinzugefügt. Er ließ den Woyzeck als »glutvolle dramatische Sinfonie«, als »düstere Lebensballade von dem schicksalsgebundenen Soldaten Woyzeck«15 spielen. Zum dritten Mal nach Chemnitz (1922) und Düsseldorf spielte Kurt Katsch den Woyzeck, wieder gab er dem Woyzeck einen slawischen Akzent. Helene Weigel spielte nach Frankfurt am Main (1919) zum zweiten Mal die Marie. Weder die Kritik der lokalen Münchener Presse, noch die schweizerische bei einem Gastspiel der Kammerspiele in Zürich wiesen ihre Leser eigens auf den Politiker und den Revolutionär Büchner hin, auch die linke und die linksliberale taten das nicht. Er wird vielmehr ausschließlich vom Künstlerisch-literarischen her behandelt und als Vorläufer und gleichzeitig Vollender der Moderne gepriesen. Woyzeck als Personifikation des Proletariats tritt in den Feuilletons anlässlich der Münchner Inszenierung Schweikarts nicht auf. Wohl aber nehmen hier die Blätter der Rechten und der extremen Rechten Büchner und den Woyzeck scharf in den nationalen Blick und beanspruchen den Dichter als einen ihrer Brüder im Geiste. Dies mit dem nämlichen Schwung und der gleichen Begeisterung, mit denen die Linken ihn als einen ihrer Ahnherrn und Genossen und den Woyzeck als frühe dichterische Verkörperung des Proletariats adorierten. So schreibt der Kritiker O. F. Sch. im Bayrischen Kurier vom 18.6.1925: ––––––––– 15 Z. in der Münchener Post 18.6.1925.
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»Hat er [Büchner] nicht Hauptmann, Wedekind, Eulenberg vorweggenommen? Herzblut fließt und sein Geist ist Geist vom Geiste der Zukunft. […] Woyzeck, der Untergang einer (Volks)-Seele durch die zivilisatorischen Elemente in Bedrängnis, fragmentarisch, gleichnishaft mit der germanischen Seele, die ewig unfertig, unklassisch und klassische Höhepunkte eigentlich gegen ihren Willen erklimmt. Das Volkslied klagt balladesk über den Woyzeck. ›Des Knaben Wunderhorn‹ ist die Quelle, daraus die Tragödie der Reichen Übersättigung, der Gelehrsamkeit, des Weibes in glühenden Lettern erstand.«
Im Völkischen Kurier, dem »Organ der NS-Freiheitsbewegung« vom 18.6.1925, wird in der Interpretation Büchners und des Woyzeck tatsächlich die radikal nationale und eine »sozialistische« Lesart für den Dichter und sein Werk zusammengeführt und als Höhepunkt all dessen der aberwitzige Versuch unternommen, das Stück »mit Hilfe der Rassenkunde« zu deuten, und es wird aufgrund solchermaßen gewonnener Ergebnisse wie sein Dichter und der Dichter wiederum auch als Politiker hoch gepriesen: »Der junge Büchner, der in seinen zwanziger Jahren starb, ist als Mensch wie als Künstler eine erschütternde Erscheinung. Auch er stand als positive Natur und auf Grund der in ihm brausenden schöpferischen Deutschheit, auf Grund seines Stolzes und seiner Freiheitsliebe unter den vorwärtsstrebenden politischen Kräften seiner Zeit, somit in den Reihen der gegen eine stumpfsinnige Reaktion kämpfenden demokratischen Revolutionäre. Wenn wir auch seine von Frankreich inszenierten politischen Ideale nicht teilen, als die unseren anerkennen, wenn wir die Anschauungen, wie sie selbst noch in seine Dichtungen hineinflossen, nicht teilen, er ist uns naturverwandt[,] und darum übt er auch jene Gewalt über uns aus, die nur Blut und Seelenverwandtschaft wirken kann.«
»Hätte er gelebt,« schreibt der Kritiker K. B. im Völkischen Kurier, hätte er »mit wachsender Reife und Klarheit uns Werke geschenkt, die zu den besten des deutschen Geistesschatzes gezählt werden müßten. Dies beweisen schon seine Jugendwerke, die nicht nur Versprechen, die schon Erfüllung sind. In jedem anderen Volke als dem deutschen ist Kunstwertung leicht, wir aber müssen immer wieder von neuem sämtliche Anschauungen über das Wesen der deutschen Kunst umstoßen, wegen der völlig anders gearteten Individualität jeder neuen Erscheinung. […] Und doch gibt die Summe der Individualitäten erst den vollen Begriff ›deutsche Kunst‹, als solche strömt sie über die Grenzen ins Ausland und gibt Zeugnis vom Reichtum und der Vielgestaltigkeit deutscher Art. Auch Büchner hatte seine urtümliche Prägung, und das ist es neben der Explosivkraft seines Genies, was ihn uns den Großen zuzurechnen zwingt. Er
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schreibt als Germane natürlich Charakterdramen und als Deutscher Ideendramen. Im Woyzeck stellt er einen völlig neuen Menschentypus vor uns hin, eine Art Mensch, die wir nur umschreiben können mit Hilfe der Rassenkunde. Woyzeck ist gewissermaßen der Urmensch, die erste Entwicklungsstufe Mensch, der mitten in der Zivilisation sein triebhaftes Urleben führt und an seinem Instinkt zerschellt. Er ist noch mystisch verbunden mit allen Erdkräften; mit noch stumpfen, halb blinden Erkenntnisorganen tastet er über die Erde hinaus in die metaphysische Welt. So war das erste Menschengeschlecht, von dem aus sich die Höherentwicklung durch die verschiedenen Rassen, die nicht ein Nebeneinander, sondern ein stufenweises Übereinander darstellen, vollzog. Diesen Typus des – auch heute noch lebenden, selbst in uns mehr oder weniger lebendigen – Urmenschen stellt Büchner uns im ›Woyzeck‹ vor Augen […] und daß Büchners Intuition in einer Individualgestalt einen Menschentypus, eine ganze Menschenrasse mit ihren inneren Gesetzen verlebendigt hat, dies ist des Frühverstorbenen unsterbliche Tat. […] Die Kunstform des Impressionismus16 verehrte in ihm nicht nur ihren Schöpfer, sondern zugleich ihren unerreichten Meister. Ein Brecht, ein Joachim Ringelnatz sind durch Büchner längst überholt und geschlagen, nur mit einem hundertsten Teil seiner Gesamtpersönlichkeit hat er sie erledigt, weil übertroffen.«
Eine ironische Pointe am Rande: Helene Weigel, die Gefährtin Brechts, durfte theaterkritische Blumen empfangen aus nationalsozialistischer Hand: »Der Gast, Frau Weigel, in seiner völlig sachlichen, fast überherben Verkörperung der Marie, zeigte eine hervorragende charakterdarstellerische Leistung. Vielleicht war das Spiel etwas zu überlegen kühl! Dieser gescheiten, energischen Marie glaubte man es kaum, daß sie so widerstandslos dem andern Mann verfiel.«
Am 6.3.1927 brachte das kleine Stuttgarter Schauspielhaus »deutlich in Konkurrenzabsicht gegenüber dem Staatsthater«17 eine Woyzeck-Inszenierung seines Oberspielleiters Dr. Paul Legband mit Emil Heß als Woyzeck und Ida Ehre als Marie. In einem titellosen, seinem Regiebuch18 beigefügten, mit seinen Initialen gekennzeichneten Aufsatz sagt Legband zu seiner Regiekonzeption: »Jede Szene greift atemberaubend in die andere über. Eine dumpfe ––––––––– 16 Hier meint der Kritiker offensichtlich andere, spätere Stilrichtungen, die ihm aber so zuwider sind, dass er sie im Zusammenhang mit dem von ihm so verehrten Büchner nicht benennen möchte. 17 Rudolf Bernhardt: Das Alte Schauspielhaus, Kleinod im Herzen Stuttgarts. Gerungen 1984, S. 51. 18 Im Besitz der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln.
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Atmosphäre, aus der Schlag für Schlag ein ungeheures Gewitter sich auflädt. […] ›Woyzeck‹ spielt gestern, heute und morgen; es ist die Tragödie des Volkes.« Unter »Volk« versteht auch Legband keine Schicht oder Klasse, sondern den schlichten, fühlenden, urtümlich erdverbundenen Menschen. Der »wahre Schauplatz« des Woyzeck ist für Legband, fernab aller Milieuschilderung, »nur die […] Seele« dieses Menschen. Der Kritiker F. Sch. bestätigt in der Süddeutschen Zeitung vom 7.3.1927 diese Konzeption: »Es geht […] um das Hell-Dunkel einer Seele. Wir erleben die Tragödie erschütternd nah und unmittelbar. Nicht wie beim ›Hinkemann‹ [Ernst Tollers, der am Stuttgarter Schauspielhaus auch mit Emil Heß gespielt wurde] im Anreißerstil der sozialen Anklage, sondern tiefer und schlichter als herzbewegendes Ecce homo.« In der örtlichen Presse informiert man die Leser bei gleichbleibender Begeisterung für den Dichter kaum noch über den Revolutionär und den Politiker Büchner. Umso stärker rückt bei der Interpretation des Woyzeck die Lesart des Stückes als szenische deutsche Volksballade um Liebe und Seelenleid in den Vordergrund. Der Kritiker H. W. schreibt im Schwäbischen Merkur vom 7.3.1927: »Da stand plötzlich bei aller Unfertigkeit, ja vielleicht gerade durch die Frische des ersten Zugriffs, eine Tragödie von einer erschütternden Unmittelbarkeit da, die in ihrer volksmäßigen Erdenhaftigkeit überhaupt weder vorher noch nachher ihresgleichen hat [...].« In der Süddeutschen Zeitung treibt man diese Sicht weiter zum DeutschVölkischen hin: »In zwei Dutzend genial hingewühlten Szenen wächst dieses vom dreiundzwanzigjährigen Dichter hinterlassene Fragment in nächste ShakespeareNähe und formt doch eine Gestalt, die deutsch ist bis in die feinsten Wurzeln ihres Wesens. Man kann nicht unschuldiger am Leben zu Grunde gehen.«
Im Stuttgarter Staatsanzeiger vom 7.3.1927 bewegt sich der Kritiker E. B. noch weiter auf dieser Linie und schreibt beim begeisterten Lobpreis auf Büchner im Zusammenhang mit dem Woyzeck: »Alle Kunst, die nicht veraltet, saugt ihre Substanz aus dem Volksempfinden und dem Heimatboden.« Am Stadttheater in Lübeck gab es mit Premiere am 5.11.1928 eine Woyzeck-Inszenierung des Intendanten Thur Himmighoffen als eine szenische deutsche Volksballade. In Lübeck zeigten sich wiederum die gänzlich unterschiedlichen Woyzeck-Interpretationen gleichermaßen Büchner140
begeisterter Theaterkritiker, wie sie bezeichnend waren für die zwanziger Jahre – hier in besonders deutlichem Gegensatz zwischen der linken Lesart, die im Woyzeck das Proletarierdrama sah und seine szenische Realisierung als linkes Kampftheater forderte, und der rechten, für die der Woyzeck, der Konzeption Himmighoffens entsprechend, eine in der Volksdichtung, der Ballade und dem Volkslied wurzelnde szenische deutsche Volksballade war. Man hatte der Aufführung, wie das bei Woyzeck-Abenden in den Zwanzigern oft der Fall war, einen Einführungsvortrag vorangestellt, den der Kritiker Dr. Fritz Endres hielt und den dieser inhaltlich in seiner Besprechung der Inszenierung in den Lübeckischen Blättern, Jg. 70 (1928), S. 789–790, wiederholte, wobei er sich in einem Plädoyer für ein »naives«, volksnahes Theater »der Handlung und Charaktere«, das er im Woyzeck verwirklicht sieht, anstelle eines Theaters moralischer Didaktik auch gegen »unsere ›gebildeten‹ Zuschauer« wendet, die »so wenig naiv sind, daß sie vor naiver Kunst erschrecken, sie wollen etwas ›lernen‹, nicht aber etwas erleben. Der ›Woyzeck‹ läßt sie etwas erleben, die Geschichte eines unseligen deutschen Menschen, der seine ungetreue Liebste erschlägt. […] Aus einer Menge von Volksliedern sieht dieser arme Kerl uns an; ich brauche nur die Volkslieder aufzuschlagen, die Herder gesammelt hat, um sofort ›Das Lied vom eifersüchtigen Knaben‹ zu finden: ›Was zog er aus der Taschen? Ein Messer, war scharf und spitz; er stach’s seiner Liebe durchs Herze; das rote Blut gegen ihn spritzt.‹ Diesen Volksliedcharakter hat Büchner aufs deutlichste hervorgehoben, er hat seinen Helden in die übliche Volksliedumgebung gestellt, neben die märchenerzählende Großmutter, den Narren, die tanzenden und singenden Kinder, den bösen Zauberer (den Doktor), den dummen Riesen (den Hauptmann). Volksliedhaft sind auch die Derbheiten, an denen unter Umständen zartere Gemüter Anstoß genommen haben. […] Natürlich hat Büchner die einfarbigen Charaktere des Volksliedes ausgemalt, vergegenwärtigt und namentlich den Woyzeck, ohne ihn, wie Hebbel es getan hätte, über politische ›Probleme‹ reden zu lassen, zum Vertreter des a r m e n deutschen Volkes gemacht, das jahrhundertelang nicht kämpfen konnte, sondern nur litt und träumte und dann und wann aufschrie wie ein verwundetes Tier. Möglicherweise hat diese revolutionäre Färbung manche Zuschauer verstimmt.«
Auch hier bei Endres mischten sich in einer Interpretation des Woyzeck für ein breites Leser- und Theaterpublikum eine dezidiert nationale Lesart mit einer »sozialistischen«. Woyzeck ist, so formuliert Endres ausdrücklich, ein »armer« und ein »deutscher« Mensch. Dem – und der In141
szenierung Himmighoffens – widerspricht nun vehement der Kritiker Dr. Fritz Solnitz im Lübecker Volksboten vom 7.11.1928: »Nie vorher und nie danach war der Schrei eines M e n s c h e n so sehr der Schrei des V o l k e s. Büchner kannte das Volk und liebte das Volk und wußte – v o r M a r x –, daß nur das V o l k helfen könne […].« Solnitz bezeichnet hier mit dem Begriff »Volk« das Proletariat, speziell das deutsche Proletariat. Er wollte den Woyzeck als linkes, »politisches Tendenzdrama«19 auf der Bühne sehen. Man hatte in Lübeck für die Premiere des Woyzeck in der Gestalt einer szenischen deutschen Volksballade mit der »Deutschen Bühnengemeinde« eine streng national-konservative Besucherorganisation – wie andernorts bei Inszenierungen des Woyzeck als soziales Drama die »Volksbühne« als sozialdemokratische – ins Haus geholt.20 Das Publikun der »Deutschen Bühnengemeinde« erfüllte jedoch die Hoffnungen der Theaterleitung nicht, ganz so, wie sich anderwärts die Mitglieder der »Volksbühne« dem Woyzeck verweigerten. Fritz Solnitz aber zog in seiner Kritik im »Lübecker Volksboten« nicht nur ironiegewürzt gegen seinen Kollegen Endres und Himminghoffens Inszenierung, sondern auch gleich gegen das ihm verhasste konservative Publikum zu Felde: »B ü c h n e r, du flammender Genius der Revolution, glühender Anwalt des Volkes, gegen Fürstengier und Metternichsche Reaktion – heut feiert dich bereits die ›Deutsche Bühne‹. Aber wie! – Herr Dr. Endres hatte die ehrenvolle Aufgabe, ihn einem ehrbaren Spießer mundgerecht zu machen. Armer Doktor! – ›W i e s a g i c h ’ s m e i n e m K i n d e !?‹ Das war hier die Frage. Wie er sie löste, das stellt seinem pädagogischen Talent ein glänzendes Zeugnis aus. Er unterschlug n i c h t s, er zeichnete mit starkem Nachdruck Büchner als revolutionären Heißsporn, der er war, a b e r er wußte gleichwohl zu verhüten, daß der deutsche Spießer von 1928 sich getroffen ––––––––– 19 Vgl. Dr. Fritz Solnitz: Politik im Theater? – Politik ins Theater! In: Bühnenblätter des Stadttheaters und der Kammerspiele zu Lübeck. 5. Jg., H. 16 (1928/29). 20 Vgl. Georg Kleibömer: Deutsche Bühnengemeinde Lübeck. In: Lübeckische Blätter. Zeitschrift der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit 68 (1926), S. 509: »Die Mitglieder der Deutschen Bühnengemeinde eint die Überzeugung, daß echte deutsche Kunst nur aus den Wesensquellen unseres Volkstums, und zwar aus dem durch tausend Jahre in christlichem Geist geformten Volkstum entspringen kann.« Vgl. auch Georg Kleibömer: Grundsätzliches über die Organisation der Theaterbesucher. In: Lübeckische Blätter 66 (1924), S. 675f.: »Wir schließen uns nach unserer weltanschaulichen Zusammengehörigkeit zusammen. Wir lehnen es ab, Religiosität und Nationalgefühl überhaupt zu Grundsätzen zu machen, um die wir streiten könnten. Beides sind uns naturgegebene Tatsachen, Urgefühle! Jedes Daranherumtasten gilt uns als Krankheitserscheinung, die wir als solche behandeln!«
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fühlen konnte. Das alles galt ja nur der Reaktion von Metternichs Gnaden. Schlaf ruhig weiter, gerechter Bürger; du bist nicht gemeint.«
Ein Höhepunkt der Darstellungen des Woyzeck als linkes politisches Kampftheater ist die Uraufführung von Franz Theodor Csokors Woyzeck von Georg Büchner. – Versuch einer Vollendung in der Inszenierung von Eduard Köck am Wiener Raimundtheater am 16.2.1928. Aber selbst Csokor nimmt Elemente der Lesart von Büchners Woyzeck als deutschem szenischen Volkslied und als Volksballade in seine Bearbeitung hinein. Schon im Aufbau des Personenzettels wird das deutlich und dem Publikum bewusst gemacht. Hier werden, durch Striche voneinander getrennt, drei Blöcke im Personal der Inszenierung vorgestellt. Zunächst die Opfer, Woyzeck, Marie, deren Kind Christian und Andres, dann deren Quäler, der Hauptmann, der Doktor, der Tambourmajor und ein Sergeant, in einem dritten Block dann das Personal des Volkstheaters in Csokors Bearbeitung, die Großmutter, die Nachbarin Margret, das Personal des Jahrmarktes und des Wirtshauses, der Idiot Karl, ein Handwerksgeselle und sein Mädchen, die bei Csokor in einer seiner zusätzlichen Finalisierungsszenen, im »Schauhaus«, in dem die Leichen Woyzecks und der Marie zur behördlichen Begutachtung abgelegt wurden, auftreten. Sie geraten in dieses Schauhaus im Verlauf eines bukolischen, wieder ganz volksstückhaften Spiels des Fliehens und des Fangens unter Verliebten. Sie lieben einander, haben aber keine Bleibe. Das Mädchen schlägt nun als Liebesort ausgerechnet die Stelle, an der Woyzeck seine Marie erstochen hat, vor, »beim Teich vor der Stadt.«21 »So schön wird’s jetzt dort, wenn die Sonn langsam in’s Schilf geht – als wär sie von dunklen Schwertern zerstochen […].« Im Folgenden mischt sich nun bei Csokor in dieser »Schauhausszene« die linke, sozialistische Lesart des Woyzeck als soziales Drama mit der rechten, nationalen als szenische deutsche Volksballade. »HANDWERKER: Topp! Auch dort ist’s recht einsam. Doch dann gehen wir gleich. (Er hebt sie vom Fensterbrett herab, auf das er sie gesetzt hat.) Du mußt ja noch Röcke schneidern heut nacht. ––––––––– 21 Csokors Bearbeitung wurde abgedruckt in: Forum. Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit (Wien) 10 (1963), H. 110. – Dieser Vorlage folgt Margaret Jacobs: Franz Theodor Csokor: Büchners »Woyzeck« – Versuch einer Vollendung. Reprinted by permission of the author from Forum. In: Oxford German Studies 1 (1966). Wir zitieren nach Margaret Jacobs. Einige Szenen der Bearbeitung Csokors bringt neu Dietmar Goltschnigg: Büchner und die Moderne (s. Anm. 2), S. 407ff.
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MÄDEL: Was ist diese Welt nur hart für uns beide! Ich glaube, wir finden nie richtige Ruh –«
Der Handwerker tröstet sein »Mädel« mit einem Gedanken, in dem Csokor eine Redewendung des Paul Großhahn aus Tollers »Hinkemann« anklingen läßt. »HANDWERKER (streichelt sie): Das nimmt uns doch keiner bei aller Plage – den Feierabend mitsammen! Das wird der Kuchen für uns arme Leut – MÄDEL: Ob wir wohl alt werden, du, wir zwei? – Mir ist es so schwer zumut auf einmal – als wär etwas hier gegen uns –?«
Und dann singen die beiden im Abgehen ein tieftrauriges Volkslied von Liebe, Untreue und Tod. »HANDWERKER (nimmt sie um die Hüfte und führt sie vom Fenster fort gegen den Hintergrund. Dabei singt er): Schön Schätzchen, was hab’ ich erfahren, Daß du willst scheiden von mir? Du willst in ein fremdes Land reisen …? Wann kommst du wieder zu mir? MÄDEL (fällt leise ein): Was zog er aus seiner Tasche? Eine Flasche mit rotem Wein: Das wollen zusammen wir trinken. Das soll unser Abschied sein … GESANG DER BEIDEN (verhallend): Was zog er aus seiner Scheide? Ein Messer war’s, scharf und spitz. Stach seinem Feinsliebchen ins Herze. Das rote Blut gegen ihn spritzt … (Das Lied der beiden verliert sich). Der Sonnenfleck, der während der Szene die Zimmerwand niederglitt, liegt jetzt über den Gesichtern von Woyzeck und Marie, wo er langsam verlischt.«
In der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek befinden sich verschiedene, bisher unveröffentlichte und, soweit ich sehe, auch unbeachtete, mit handschriftlichen Notizen Csokors versehene Typoskripte zu seiner Woyzeck-Bearbeitung.22 Unter ihnen ist auch eine skizzenhafte, noch deutlicher am Volksstück und am Volkslied ––––––––– 22 Ausführliches zu diesen Typoskripten, zur gesamten Bearbeitung Csokors und zu deren Inszenierung durch Köck mit dem Exl-Ensemble am Raimundtheater s. Viehweg: Büchners »Woyzeck« (s. Anm. 6).
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orientierte Variante des Auftritts des Handwerkers und seines »Mädels« aus der Szene im »Schauhaus«. Die beiden betreten hier den Raum nicht, sondern schauen durch ein Fenster von außen in ihn hinein: »Ein Handwerker, Arm in Arm mit seinem Mädel kommen vorbei, am Fenster. DAS MÄDEL: Was ist das? HANDWERKER: Schau nicht hin! Schau auf mich! DAS MÄDEL: Wie im Lied liegen die – mir ist bang – führ mich fort – HANDWERKER: – Weisst du es noch –? DAS MÄDEL: Wenn du anfängst damit – HANDWERKER (nimmt sie um die Hüfte und führt sie fort, vom Fenster weg gegen den Hintergrund. Dabei singt er): Schön Schätzchen, was hab ich erfahren […]«
Dass Csokor seiner entschieden kämpferischen, die Lesart des Woyzeck als Proletarierdrama betonenden Bearbeitung so viele Elemente der rechten, nationalen Lesart als in der Volksliteratur wurzelnde szenische Ballade und Volkslied einfügte, offensichtlich ohne hier grundsätzliche Widersprüche wahrzunehmen, mochte auch der Tatsache geschuldet sein, dass der Direktor des Raimundtheaters, Dr. Rudolf Beer, in der Spielzeit 1927 Ferdinand Exl als künstlerischen Leiter und sein allenthalben als »Exlleut« bekanntes Ensemble an das Raimundtheater geholt hatte, das sich nun in besonderer Weise dem Volkstheater widmen sollte. Dass auch der Woyzeck in der Bearbeitung des scharf links engagierten Csokor23 zu dieser neuen Linie des Hauses passen sollte, wird dem von ihm in wirtschaftlich schwieriger Zeit sehr umworbenen Volkstheaterpublikum in der auffälligen Dreiteilung des Personalzettels signalisiert. Im Deutschen Bühnenjahrbuch 1924 stellt sich die in Innsbruck ansässige Exl-Bühne so vor: »Die Exl-Bühne, Spezialensemble für das süddeutsche Dialektstück, spielt hauptsächlich Werke von Ludwig Anzengruber, Karl Schönherr, Ganghofer, sowie die Tiroler Dramatiker Franz Kronawitter, Rudolf Brix, wie überhaupt die namhaften Autoren auf dem Gebiet des literarischen Volksstücks.« Nun also hatte dieses Volkstheaterensemble der Konzeption des ihm auch als Darsteller angehörenden Regisseurs Eduard Köck – er spielte den Doktor – und der Bearbeitung Csokors folgend, als »literarisches Volksstück« eine Mischung aus szenischer ––––––––– 23 Vgl. dazu Wolfram Viehweg: Georg Büchners Dantons Tod auf dem deutschen Theater. München 1964, S. 120ff. Dort Ausführliches zu Karl-Heinz Martins Inszenierung der Bearbeitung von Danton’s Tod durch Csokor an der Berliner Volksbühne 1929.
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Volksballade und ins Groteske hochgetriebenem linkem Kampftheater darzustellen und tat sich offenbar schwer damit. In der Kritik der Wiener Arbeiterzeitung vom 18.12.1928 werden die Unsicherheiten des Ensembles angesichts einer solchen, für die Schauspieler neuen Aufgabe besonders am Beispiel von Anna Exl als Marie beschrieben, und es wird ihnen gleichzeitig von diesem linken Feuilleton Mut gemacht, indem es nun auch seinerseits die eigentlich »rechte« Lesart des Woyzeck betont. »Frau Anna Exl, diese gute Schauspielerin, ist als Marie diesmal recht unsicher und gespreizt; sollte die Furcht vor der scheinbar neuen Aufgabe daran Schuld tragen, so braucht man den Künstlern nur einzuprägen, daß sie niemals in einem so echten Volksstück gespielt haben, wie es ›Woyzeck‹ ist.«
Wobei man unter »Volk« in diesem Fall sicher nicht das Proletariat verstand. Am 27.3.1934 brachte das Stadttheater in Innsbruck die Premiere einer Wozzeck-Inszenierung seines Intendanten Paul Kolkwitz. Nun, in der für Österreich so prekären Zeit zwischen den Februarunruhen von 1934 und dem Erlass der Mai-Verfassung, die den autoritären Ständestaat institutionalisierte, übernahm das Theater schon in der Ankündigung die rechte, nationale Interpretation und sprach in den Innsbrucker Nachrichten vom 27.3.1934 von der »interessanten Büchner-Tragödie ›Wozzeck‹« als einem »erschütternden, im echten Volkstum wurzelnden Werk.« Entsprechend inszenierte Kolkwitz den Wozzeck als bodenständige Eifersuchtstragödie, als Moritat und erdverbundenes Volksstück. Zum deutlichen Zeichen dessen besetzte er die beiden Hauptrollen demonstrativ »gegen den Typ« mit den beiden Vertretern des jugendlichen Heldenbzw. Heldinnenfaches in seinem Ensemble, mit dem jungen Eduard Cossovel und Sieglinde Weichert. Die beiden Woyzeck-Inszenierungen, die es während des ›Dritten Reiches‹ in Deutschland gab, erschienen an kulturpolitisch exponierter Stelle, an Bühnen sogenannter »Gauhauptstädte«, in Hannover (1939) und in Frankfurt am Main (1937), wo der erfolgreiche nationalsozialistische Dramatiker und Reichskultursenator Friedrich Bethge als Chefdramaturg amtierte und sicherlich jede Möglichkeit hatte, eine WoyzeckPlanung abzuwürgen. In Frankfurt erschien der Woyzeck am 1.2.1937 aus Anlass des hundertsten Todestages von Georg Büchner in einer Inszenierung von Peter Stanchina mit Bühnenbildern von Caspar Neher. Am Frankfurter Theater hatte man zur Spielzeit 1933/34 den Blättern der Städtischen Bühnen einen pompösen neuen Namen gegeben: Der 30. Ja146
nuar. Braune Blätter der Städtischen Bühnen Frankfurt am Main«. Das Heft 11 des 4. Jahrgangs (1937) des 30. Januar erschien nach einem Vermerk auf seiner Seite 104 »anlässlich der Neuinszenierung von Büchners ›Woyzeck‹ im Schauspielhaus«. Der in der Dramaturgie des Hauses für den 30. Januar zuständige Redakteur Reinhold Lindemann platzierte als direkten Appell an das Publikum gleich auf der ersten Seite, größer gesetzt als die anderen Beiträge, eine Kompilation von Büchner-Zitaten unter der fett gedruckten Überschrift: »Deutschland ein Leib – ihr seine Glieder.« Als Quellen der Zitate dieses ersten Blocks nutzt er Büchners Brief an Gutzkow vom 31. Mai oder 1. Juni 183624 und den Hessischen Landboten. Er nennt die Quellen nicht – interessierte Theaterbesucher konnten also nichts nachprüfen – nimmt, ohne das zu kennzeichnen, Umstellungen in der Abfolge der Briefstellen vor und streicht aus dem Brief wie aus dem Hessischen Landboten Stellen, die bei den Lesern unerwünschte Gedankenverbindungen provozieren konnten. Der letzte Satz aus dem Zitatenblock stammt aus dem Hessischen Landboten und lautet: »Wenn der Herr euch seine Zeichen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebt euch, und der ganze Leib wird mit euch aufstehen.« Lindemanns im 30. Januar manipulierend angestrebtes Ziel: Büchner soll dem Theaterbesucher als antibürgerlicher, sozialer und gleichzeitig als völkisch-nationaler, in den Kategorien der »neuen Zeit« vom Volk und vom gottgesandten Führer denkender Dichter vorgestellt und mit großem Aplomb, der alle Zeugnisse der völkisch-nationalen Interpretationslinie zum Woyzeck, an die er anknüpft, weit übertrifft, in die Reihe der großen, den Nationalsozialismus angeblich ersehnenden und vorausahnenden Dichter hineingestellt werden.25 Ein zweiter, kleiner gesetzter Zitatenblock mit Stellen aus dem »Lenz«, aus Danton’s Tod und aus dem Brief Büchners aus Straßburg an die Familie vom 28. Juli 1935 soll Büchner den Lesern als einen unbedingten Realisten zeigen, der nur die Wirklichkeit darstellen will, auch und vor allem die der einfachen Menschen, des Volkes. Diesmal werden die Fundstellen benannt, aber das vorgeblich objektive Verfahren, das Publikum durch zweckdienlich ausgewählte und umgrenzte, unkommentierte, geballt vorgetragene Zitate zu einer bestimmten Vorstellung ––––––––– 24 Vgl. MA, S. 319f. 25 Zur genaueren Darstellung der Verfahrensweise Lindemanns und zum Büchnerheft des 30. Januar vgl. Viehweg: Büchners »Woyzeck« (s. Anm. 6).
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vom Dichter Georg Büchner zu überreden, bleibt das gleiche. Büchners Kunstauffassung soll als eine völkische, der nationalsozialistischen Kunstauffassung, die die »Dekadenz«, den »Ästhetizismus«, die »Entartungen« und »Verzerrungen, den »Kulturbolschewismus« der »Systemzeit« wütend bekämpfte, nahestehende beschrieben werden. Ein dritter Zitatenblock soll unter der Überschrift »Was ist der Mensch« Büchners Menschen- und Weltbild erfassen und dokumentieren. Eingeleitet wird dieser Block mit einem Zitat Woyzecks aus der Szene H2,8: »Der [statt Jeder] Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinunterschaut [statt hinabsieht].« Demnach sieht Büchner den Menschen – darin folgt Lindemann einer in der Bühnenlaufbahn des Woyzeck seit ihrem Beginn immer wieder auftauchenden Interpretation – in einem ewigen, gesetzmäßigen Gleichmaß einem unergründlichen Schicksal leidend ausgeliefert, dem er aber nun, ganz im Sinne des Nationalsozialismus, fatalistisch und heroisch zu begegnen hat. In einem eigenen Textbeitrag im 30. Januar unter dem Titel »Georg Büchner zum hundertsten Geburtstag« ist Lindemann nun bestrebt, Büchner – die entsprechenden Tendenzen in der national-konservativen Interpretationslinie drastisch verstärkend – ganz als einen völkisch-nationalen Dichter vorzustellen und ihn vor der inzwischen zum schlimmen Vorwurf gewordenen Meinung in Schutz zu nehmen, er sei ein Frühsozialist und der Hessische Landbote noch vor Marx die erste sozialistische Kampfschrift gewesen: »Ihn wegen dieser Schrift zum ›ersten Sozialdemokraten‹ erklären zu wollen, hieße die Tatsache unterschlagen, daß Büchner den bodenlosen Kosmopolitismus gewisser sozialer Utopisten mit Hohn von sich wies […], daß er im ›Hessischen Landboten‹ den Bauern erklärte: ›Das Volk ist e i n [Sperrung bei Lindemann] Leib, ihr seid ein Glied dieses Leibes‹ – daß er also trotz aller Beziehungen des Westdeutschen zum französischen Wesen, trotz aller Weite des Horizonts, Patriot blieb, der nur deutsche Politik treiben wollte. Wie ein Teilnehmer der Befreiungskriege hing er an Deutschland. Es war dies Erbteil seiner Mutter, die Körners Lieder aus innerster Begeisterung sang. […] Es war eine nationale, die fürstliche Tyrannei aufhebende Freiheit, die Büchner erstrebte.«
Auch für Lindemann, wie für viele andere Büchnerinterpreten in der Fachwissenschaft wie in der Theaterpublizistik, hat Büchner nach seiner Flucht aus Darmstadt »unter seine politische Betätigung einen dicken Strich gezogen und den Weg zum Dramatiker gefunden […] zum Dichter.« Büchners Themen als Dichter waren laut Lindemann nicht die ge148
sellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen zu leben hatten, sondern sein Thema waren die dunklen, anonymen Schicksalsmächte, die ihr Leben bestimmten. So deutet er den Theaterbesuchern und Lesern des 30. Januar auch den Woyzeck: »Dem schwindelerregend aufgerissenen Abgrund Mensch entsteigt der Erdgeist und jagt die Gestalten in einem irren Wirbel vor sich her. Fürchterlich schrillt ihre Klage und Anklage durch die Szenen, die freilich aus tieferen Gründen kommt als aus dem Dunkel sozialer Bedrängnis. Denn der ›Woyzeck‹ ist kein sozialistisches, sondern ein m e t a p h y s i s c h e s [Sperrung bei Lindemann] Bekenntniswerk – aus den Tiefen der unerlösten Welt ringt der Schrei der Klage und Anklage sich los und wird in der Figur des armen Soldaten lebendige Gestalt und dichterisches Gleichnis […].«
Lindemann interpretiert den Woyzeck hier so, wie es eine ganze Reihe von Inszenierungen in der Zeit der Weimarer Republik getan haben: als Symboldrama und als Gleichnis für den Menschen unter der Faust ewig unergründlicher Schicksalsmächte. Lindemann macht nun diese Konzeption, die auch von Stanchina 1937 in Frankfurt aufgenommen und weitergeführt wurde, dadurch kommensurabel für die Zeit der Nationalsozialisten und ihre »Weltanschauung«, dass er die »Schicksalsmächte« als »Erdgeist«, als chthonische Dämonen pseudoreligiös und völkisch in mythischen Tiefenschichten der Natur, des Blutes und des Bodens ansiedelt. Der deutsche Mensch hat, wie Büchner es vorbildhaft getan habe, dem Erdgeist aus dem Abgrund kämpferisch und heroisch entgegenzutreten. Ganz ohne die helle Büchner-Begeisterung, die durch die Interpretationen des Woyzeck in der linken, sozialistischen wie in der rechten, völkischen Theaterpublizistik der zwanziger Jahre hallte, fragt Lindemann am Ende seines Aufsatzes im 30. Januar: »Was ist der Mensch? Der Antworten sind viele. Keine reicht hin. Auch die Büchners nicht. Aber sie verdient, gehört zu werden, neben Goethes, Schillers und Kleists Antworten, als eine ebenso gültig deutsche.« Diesen Aufsatz hat Lindemann aus Anlass der Inszenierung des Woyzeck durch Herbert Maisch in Dresden in seiner in der Dresdner Union vom 15.1.1947 erschienenen essayhaft ausgreifenden Kritik unter der Überschrift Büchner und sein Menschenbild im »Woyzeck« sozusagen recyclet und zuvor »entnazifiziert«. Es entfielen u. a. die »Verteidigung« des Hessischen Landboten, scharfe Spitzen gegen die Frühsozialisten, gegen den »bodenlosen Kosmopolitismus gewisser sozialer Utopisten«, die mehrfa149
che, aktuell nationalsozialistische Verwendung des Zitates aus dem Hessischen Landboten: »Das deutsche Volk ist ein Leib, ihr seid ein Glied dieses Leibes«, die Feststellung, dass »Büchner Patriot blieb, der nur deutsche Politik betreiben wollte«, die abenteuerliche Interpretation des Briefes Büchners an die Familie vom Dezember 1831 aus Straßburg,26 der zufolge Büchner mit Begeisterung als Vaterlandsverteidiger gegen die aggressiven Russen ins Feld gezogen wäre, und der Woyzeck ist nun in der Union »ein sozialkritisches und ein m e t a p h y s i s c h e s Bekenntniswerk.« Völkisches, Nationales, Patriotisches und Heroisches sind nicht mehr gefragt. Ansonsten werden weiteste Textpassagen unverändert aus dem 30. Januar in die Union übernommen. Inhaltlich entsprach der vom Nationalsozialismus entschlackte Text Lindemanns nun auf wundersame Weise durchaus der Regiekonzeption Herbert Maischs, für den der Woyzeck »der Aufschrei der menschlichen Kreatur zu Gott«27 war, ein Zeitstück des Jahres 1947. Es gibt – ferner Nachhall des breiten Spektrums der Woyzeck-Interpretationen des vorangegangenen Jahrzehnts – ganz andere Zeugnisse der Rezeption und der Würdigung Büchners anlässlich seines hundertsten Todestages und der Woyzeck-Inszenierung in der alten Reichstadt und nunmehrigen »Gauhauptstadt« Frankfurt am Main als die völkischnationalistische Darstellung im 30. Januar. Am 19.2.1937, termingenau am hundertsten Todestag Büchners, spielte man am Frankfurter Schauspielhaus den Woyzeck. Am 18.2. veranstaltete das Freie Deutsche Hochstift im Hochschen Konservatorium eine Gedenkfeier für Georg Büchner. Die Gedenkrede hielt Paul Kluckhohn. Im Druck ist diese Rede nicht erschienen, es gibt aber im Nachlass Kluckhohns im Deutschen Literaturarchiv Marbach ein stichworthaftes, handschriftliches Konzept für sie. Danach geht Kluckhohn, ganz anders als Lindemann, auch auf den Politiker Büchner ein. Er notiert: »Viele junge Menschen in Deutschland von revolutionären Ideen erfüllt. Sozialistische Ideen i[m] S[inne] Simons und Enfantins. Materielle Notlage der Bauern in Hessen. Georg Büchner tiefes soziales Mitempfinden und Verantwortungsgefühl.« Wie Lindemann – der hier wieder seine Quelle verheimlicht hat – bezieht sich auch Kluckhohn auf den Brief Büchners ––––––––– 26 MA, S. 274. 27 Joachim Cieslinski: Antwort an den Theaterfreund. In: Theater der Zeit, 2. Jg., H. 5 (Mai 1947), S. 26.
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aus Straßburg an Gutzkow, in dem er sich für die Alsa-Bilder der Brüder Stöber einsetzt,28 aber nicht, wie Lindemann, um den Dichter als kämpferischen Nationalisten erscheinen zu lassen. Kluckhohn betont die literarischen Aspekte und notiert – hier in der Tradition der Interpreten, die Büchner in der deutschen Volksdichtung beheimatet sehen: »Volksnah auch in den literarischen Neigungen. Volkslieder u. s. w. […] Büchner war Sozialist vor Lassalle und Marx, aber kein Sozialdemokrat, von solchen ausdrücklich abgelehnt, auch nicht international kosmopolitisch gesinnt. Für Einheit des Reiches.« »Sozialistische und nationale Neigungen verbinden sich.« Bis hierher bewegt sich auch Kluckhohn auf der Interpretationslinie, die wir aus der national-konservativen Theaterpublizistik kennen. Aber gleich danach notiert er: »Keine billige Synthese, um als zeitgemäß zu gelten.« Die Frankfurter Zeitung berichtet im zweiten Morgenblatt vom 20.2.1937: »Er [Kluckhohn] schildert in sorgsam abwägender Weise den sozialen und den nationalen Antrieb der politischen Betätigung des jungen Studenten unter bewußtem Verzicht auf eine billige Aktualisierung.« In den Notizen Kluckhohns zu seiner Gedenkrede erscheint Büchner als ein schmerzvoll Resignierender, nicht, wie bei Lindemann, als ein mit den »Dämonen der Wirklichkeit«, dem »Erdgeist« heroisch ringender deutscher Dichterjüngling. Bei Kluckhohn ist von der Büchnerbegeisterung der zwanziger Jahre nichts mehr zu vernehmen. Er will die Werke Büchners »nicht für mehr nehmen als Talentproben, Genieproben, noch nicht vollendete Werke, nicht Offenbarungen in irgendeinem Sinne.« Büchner sieht er nicht als »Frühvollendeten«, sondern als »Frühdahingerafften«, aber »Verwandten und Nächsten.« »Ecce homo« lautet Kluckhohns letzte Notiz. Am 12. Februar 1937 erscheint in der Reichsausgabe der Frankfurter Zeitung ein Aufsatz von Rudolf Bach: Georg Büchner. Zu seinem hundertsten Geburtstag am 19. Februar 1937. Hier klingt die aus den Feuilletons aller Richtungen in den zwanziger Jahren vertraute Büchner-Begeisterung wieder auf. Zur Charakterisierung des Woyzeck reiht Bach die vielen Interpretationsansätze, die es für das Werk auf der Bühne und in der Theaterkritik gegeben hat, in einem Satz nebeneinander auf und – lässt sie alle gleichermaßen gelten: ––––––––– 28 MA, S. 311f.
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»Auch der ›Woyzeck‹ ist ein Torso. Trotzdem ist er Büchners stärkste und höchste Leistung. […] Aus dem Werk läßt sich wieder einmal ablesen, was das ist – Genie; nämlich: das Unerhörte, Erstmalige, bis dahin noch garnicht Vorhandene hinzustellen, und es sogleich zum Gesetz zu machen. Da ist diese Szenenreihe, die grandioseste seit dem ›Urfaust‹ an Reichtum, Fülle und Farbe des dramatischen Griffes, Blickes, Wortes, das tiefste, ungestümste soziale Drama seit ›Kabale und Liebe‹ – Ballade, Schauertraum, Gesellschaftskritik, Anklage, urtümliche Dichtung dumpfer Leidenschaften, blindes Glühen und metaphysisches Blitzen – alles in einem, hingewühlt in nachtwandlerischer Sicherheit, eine Welt auf dem engen Schauplatz einer vormärzlichen Kleinstadt, ein Arsenal ›gewöhnlicher‹ halb biedermeierlicher, halb hoffmannesker, halb proletarischer Gestalten, alle verzaubert in einem bösen, stumpfen, boden-losen Alltag, und in ihrer magischen Überdeutlichkeit auf dem geradesten Wege in Beziehung gesetzt zum Unendlichen. […] Eine Kraft von gleicher, vormenschlicher Urtümlichkeit, wie sich in ihm [Büchner] offenbart, ist seither noch nicht wieder hervorgetreten.«
Auf diesem, angesichts der Machtverhältnisse überraschend breiten Spektrum zwischen dem literaturbegeisterten, konservativ-liberalen Rudolf Bach über den nüchternen Fachgelehrten Paul Kluckhohn bis hin zum nationalsozialistischen Ideologen vom 30. Januar spannten sich in Frankfurt am Main die Möglichkeiten der öffentlichen Interpretation Büchners und des Woyzeck. Von diesen Möglichkeiten machte auch die Frankfurter Theaterkritik mit der gebotenen Vorsicht und Umsicht Gebrauch. Peter Stanchina hatte in den gespensterhaften Bühnenbildern Caspar Nehers und deutlich mit den theatralen Mitteln der zwanziger Jahre den Woyzeck mit einer Konzeption inszeniert, die zwischen 1918 und 1930 vielfach die Aufführungen bestimmte.29 Das Werk erschien als Symboldichtung für eine ewige, unabwendbare Leidgebundenheit des Menschen, der von Dämonen verfolgt wird, ihnen aber keineswegs mit »männlich trotzigem Willen«, wie ihn Lindemann Büchner zuschreibt, oder gar heroisch entgegentritt. In Frankfurt besetzte man den Woyzeck mit dem Gegentyp des jugendlichen Helden Cossovel in Innsbruck, mit Hans Jungbauer. Bei ihm ist der Woyzeck schon in reiferem Alter, ein von Anfang an vom Schicksal gezeichneter, schon geschlagener Mann. Vielfach aber übernimmt man in den Presseberichten zu dieser Inszenierung fast wörtlich die Interpretation Büchners und des Woyzeck aus dem 30. Januar. Ein Anonymus spricht in der Offenbacher Zeitung zwar von ––––––––– 29 So in Königsberg (1918), Berlin (1920), Köln (1923), Kiel (1925), München (1925), Aachen (1927), Basel (1929), Altona (1929).
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einem »sorgfältigen Konservator des ›Woyzeck‹, des sicher stärksten und bedeutendsten« Werkes Büchners, nennt aber den Namen des Juden Karl Emil Franzos nicht. Er sagt, Büchner sei »vor allem Politiker, Revolutionär«. Aber dann wendet er die Büchnerinterpretation für seine Leser in das dem 30. Januar und dem herrschenden Zeitgeist Gemäße: »Wenn man versuchen will, das Wesen Büchners […] zu fassen, so tut man es sicher am besten, wenn man ihn einen F a n a t i k e r d e s A n t i b ü r g e r l i c h e n nennt.« Er übernimmt die bei Lindemann im ersten Absatz seiner Zitatenblöcke verwendete Briefstelle bei Büchner und liest da ganz im Sinne Lindemanns Worte, »die heute fast prophetisch erscheinen: ›Ich glaube, man muß in sozialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die B i l d u n g e i n e s n e u e n g e i s t i g e n L e b e n s i m V o l k e s u c h e n [Sperrung in der Offenbacher Zeitung] und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen […].«
Im Frankfurter Volksblatt, dem Amtlichen Organ der NSDAP für den Gau Hessen-Nassau« vom 3.2.1937 schreibt dessen »Kunstbetrachter« – Kritiker durfte es nach einem Erlass des Reichsministers Goebbels nicht mehr geben – Hans Pott: »Und wäre auch dieser äußere Anlaß [der hundertste Todestag Büchners] nicht gegeben gewesen, so hätte dennoch die Wiederaufnahme des starken, aufrüttelnden Werkes eine nicht zu übersehende Bereicherung für unseren Spielplan bedeutet. Denn: Der Dichter Georg Büchner – einst von gewissen Kreisen fälschlicherweise als Bannerträger ihrer Ideen proklamiert – verdient, daß gerade das deutsche Nationaltheater sich dieses Mannes, der ein großer Könner war und der mit allen Fasern seines Herzens an seinem Vaterlande hing, erinnert.«
In den ebenfalls nationalsozialistischen Offenbacher Nachrichten vom 3.2.1937 sagt Karl Wohlfromm gar, dass das Frankfurter Schauspielhaus mit der Neuinszenierung des Woyzeck »einer Ehrenpflicht gegenüber dem Dichter nachkommt.« In diesen beiden »Kunstbetrachtungen« nationalsozialistischer Zeitungen zeigt sich, dass man in den parteinahen Feuilletons keineswegs allenthalben Büchner als revolutionär-linken Vorläufer des verhassten Gegners aus der »Systemzeit« ablehnte, sondern ihn als antibürgerlichen, vor allem aber völkisch-nationalen Dichter in Fortsetzung und scharfer Zuspitzung der dargestellten Interpretationslinie national-konservativer Theaterpublizistik akzeptierte und schätzte. 153
Es gibt in den Presseberichten zu Stanchinas Frankfurter WoyzeckInszenierung Stimmen, die sich vorsichtig nuancierend, aber doch deutlich vernehmbar, von dieser, dem Theaterpublikum durch Lindemann im 30. Januar vorgegebenen Interpretation absetzen. So rückt Dr. Therese Fromm in der Frankfurter Neuesten Zeitung Büchner zwar ebenfalls in der Tradition rechter und konservativer Lesarten in den Feuilletons der zwanziger Jahre in die Nähe volkhaft-nationalen Dichtertums, sie weist ihre Leser aber auch deutlich darauf hin, dass Büchner als erster deutscher Dramatiker einen Besitzlosen in den Mittelpunkt eines Bühnenwerkes gestellt hat: »Die Folge von Szenen ist eine Folge von Strophen, das Ganze ein Volkslied,« es »waltet eine unerbittliche Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit, die den Armen schuldig werden läßt, weil er arm ist, die Gerechtigkeit unserer schönen, alten Volkslieder, deren tiefe Schwermut keiner vergißt, der sie wirklich kennt. Der Dichter, der in der deutschen Geistesgeschichte eine ungewöhnliche Stellung einnimmt und in diesem Jahr noch innigere Würdigung erfährt, wagte es als Erster, einen Verachteten, Rechtlosen zum Dramenhelden zu machen, aber nicht im Sinne des Elendsdramas, sondern im Sinne volkhaften und vor allem liedhaften Erlebens.«
In einem nicht genauer identifizierten Zeitungsausschnitt30 überschreibt Paul Hübner seinen Aufführungsbericht »Woyzeck« – eine Tragödie vom Menschen«. Zwar sagt auch er im Zusammenhang mit dem Hessischen Landboten – ohne dessen Titel zu nennen: »Darin hat sich sein Glaube an Deutschland manifestiert, dort hatte er von dem großen Leib gesprochen und den Gliedern, die sich nicht gegen das Ganze erheben dürften.« Seine Interpretation des Woyzeck wendet er dann aber ins Christliche. Er nennt den Woyzeck »eine wahre Tragödie vom Menschen, der vereinzelt in der Welt steht und die Herrschaft über sich verliert, weil er sich in keiner Ordnung mehr weiß, weil er nirgendwo mehr geborgen ist.« Hübner meint hier eine christliche Ordnung und eine Geborgenheit, die aus dem christlichen Glauben kommt. »Zerfällt dieser Glaube, vereinsamt der Einzelne und wird orientierungslos. […] Diesen Menschen in der Verlassenheit schildert uns Büchner in der Gestalt des Woyzeck. […] Es gehört zum Wesen der Tragödie, den Menschen zu erregen und ihn aus der Geruhsamkeit aufzuschrecken, damit er teilnehme an den Erschütterungen des Daseins und sich wappne.« ––––––––– 30 Im Besitz der Sammlung Steinfeld in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln.
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Hier gibt Hübner seiner Interpretation eine letzte Wendung, die man nach allem zuvor Gesagten als dessen kryptische Verstärkung, aber auch als vorsorgliche Schutzmaßnahme gegen die Herrschenden deuten kann: »In diesem Sinne gehört ›Woyzeck‹ zur großen Menschheitsdichtung, in diesem Sinne ist seine Tragödie auch deutsch und nur dem Deutschen faßbar.« Auch der schon 1937 wie in späteren Jahrzehnten hochangesehene Siegfried Melchinger will im Frankfurter Generalanzeiger vom 3.2.1937 im Woyzeck durchaus keinen Bühnentext mit politisch-sozialen Akzenten mehr sehen. »Der ›Woyzeck‹ ist viele Jahre lang eine Sensation gewesen. Eine anklagende, aufrührerische Sensation. Das war (wie man jetzt ohne weiteres fühlt) ein Mißverständnis. […] Sein ›Woyzeck‹ ist nichts weniger als eine moralische Anklage. Sondern eine Ballade vom Jammer der Kreatur.«
Für Melchinger ist der Woyzeck eine Tragödie der Eifersucht, eine Moritat und das Betrogenwerden ein immer wieder einbrechendes Schicksal unter Liebenden; aber die da waltenden ewigen Schicksalsmächte sind nun nicht mehr unfassbar, unbegreiflich, dämonisch, sondern schlicht und handfest beschreibbar als »ewige Sünde des Fleisches«: »Wo sind die ›revolutionären‹ Philister, die diesen Betrug mit Schuld und Beschuldigung verklären, wo er doch nichts ist, als die ewige Sünde des Fleisches, die der Kreatur anhaftet wie das Leben selbst?« Damit stellt Melchinger sich in die Traditionslinie derer, die den Woyzeck um keinen Preis als politisches »Tendenzstück«, sondern als naturwahre, der Volksdichtung nahestehende Ballade lesen und inszeniert sehen möchten. Auch Fritz Kraus verwahrt sich in der Frankfurter Zeitung vom 3.2.1937 gegen eine Interpretation des Woyzeck als soziale Tragödie; aber er verzichtet seinerseits auf eine Deutung und lässt seinen Lesern und den Theaterbesuchern die ihnen im Jahre 1937 so ungewohnte Freiheit, diese Deutung selbst vorzunehmen: »[…] alle Versuche, den ›Woyzeck‹ auf eine tendenziöse Formel zu spannen, gehen an dem Wesentlichen vorbei: wie es hier gelungen ist, das Drama des einzelnen t r a n s p a r e n t zu machen, so daß darin die ganze Welt spürbar wird.« Für Fritz Kraus macht es »einen der größten Reize des ›Woyzeck‹ aus, daß er die mitschaffende Phantasie nicht allein der Nachgestaltenden, sondern selbst der Zuschauer herausfordert, daß er sie nicht bindet, sondern weckt und aufstört.« 155
Am 12.5.1939 brachten die Städtischen Bühnen Hannover die letzte Woyzeck-Inszenierung an einer deutschsprachigen Bühne in Europa vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie war zugleich die Erstaufführung des Werkes in Hannover. In den Blättern der Städtischen Bühnen Hannover werden Büchner und der Woyzeck dem Theaterpublikum bei weitem nicht in so rabiat zeitgerechter Weise vorgestellt und interpretiert wie im Frankfurter 30. Januar. Claus Harms weist in seinem Aufsatz Georg Büchner. Zur Erstaufführung seiner Tragödie »Woyzeck« im Schauspielhaus31 mit Vorsicht auch auf den Sozialrevolutionär Büchner hin. Im Hessischen Landboten sieht er allerdings nur »einen flammenden Appell an das hessische Volk, gegen die Verräter Deutschlands, die Tyrannen, die Fürsten.« Dessen politische Argumentation verschweigt er. Büchners Werke nennt er im Vergleich zur hingegebenen Büchner-Euphorie der zwanziger Jahre bescheiden »Gipfelpunkte deutscher dramatischer Dichtung«. Büchner sei ein »leidenschaftlicher Sprecher für die seelische Not der Kleinen, Armen und Unterdrückten« gewesen. Dies aber habe nichts mit »sentimentaler Mitleidspoesie und billigen Verbrüderungsphrasen« zu tun. Hier will Harms Büchner gegen den so oft bemühten Vergleich mit dem »sozialdemokratischen« Naturalismus und mit den von den Nationalsozialisten so verabscheuten Expressionisten abschirmen. Er stellt den Dramatiker Büchner dem Publikum als großen, unbedingten Realisten vor. »Schicksale erstehen vor uns, […] in herber, unausweichlicher Steigerung, Natur ohne ›Naturalismus‹ – ein einfaches Volkslied.« Woyzeck folgt nach Harms instinktiv einem Naturgesetz. Die ewigen, blinden und unbekannten Schicksalsgewalten, die ökonomischen Gesetze und die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nach früheren Interpretationen den Woyzeck vernichteten, werden nun bei Harms, ähnlich wie bei Melchinger und vor ihm bei Julius Hart, durch die »Natur« ersetzt. Sie ist das Schicksal. Der Woyzeck, so erklärt ihn Harms dem Publikum der Städtischen Bühnen, »ist die Tragödie des animalisch triebgebundenen Menschen«, und in ihm »verdichtet sich ein beispiellos naturhafter Realismus durch die Verbindung mit einem lyrisch gefärbten Volksliedton zu wirklicher, echter ›Expression‹.« Hier setzt sich bei Harms zwecks Anwendung durch die Hannoveraner Theaterbesucher jene Interpretationslinie fort, die im ––––––––– 31 Blätter der Städtischen Bühnen Hannover, Spielzeit 1938/39, H. 9, S. 17ff.
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Woyzeck eine aus der deutschen Volksdichtung gewachsene naturhafte Volksballade sieht. »Das Werk ist so einfach, so plastisch, so furchtbar wahr empfunden und gelebt, daß wir ihm in seiner Art nicht vieles an die Seite zu stellen haben. […] Eine Zeit wie die unsere, die auf allen Gebieten das Echte, Tiefe und Wahre aufzuspüren und fruchtbar zu machen bemüht ist, hat nicht nur das Recht[,] sondern auch die Pflicht, sein Werk immer wieder zur Diskussion zu stellen.«
Die Zeit der Nationalsozialisten und ihr Theater haben nach Harms im Jahre 1939 also eine »Pflicht« gegenüber Büchner zu erfüllen. Von einer durch die Woyzeck-Inszenierung erfüllten »Ehrenpflicht« des Frankfurter Schauspiels gegenüber Büchner spricht der Kritiker Karl Wohlfromm in den nationalsozialistischen »Offenbacher Nachrichten« vom 3.2.1937. Als der neue Schauspieldirektor des Hessischen Landestheaters in Darmstadt, Willy Loehr, am 24.2.1919, programmatisch gleich zu Beginn der Spielzeit, eine Wozzeck-Inszenierung brachte, pries ihn der entschieden linke Hessische Volksfreund darob am 26.9.1919 mit fast gleichem Vokabular: »[…] das eine wollen wir dem neuen Schauspieldirektor nie vergessen: er löste […] als Erster diese Ehrenschuld für Darmstadts Bühne ein. […] Dadurch ist er uns unendlich nahe gerückt.« Büchner-Verehrung regte sich über die Jahrzehnte in ganz linken wie in extremistisch rechten Herzen. Adolf Meyer-Bruhns vermeidet als Regisseur alles, was an die von den Nationalsozialisten als »links« empfundene »Elendsdramatik« oder an eine milieuverhaftete soziale Tragödie erinnern könnte. Er brachte den Woyzeck als stimmungsschwere, düstere und blutige Volksballade vom »animalisch-triebgebundenen Menschen« (Claus Harms), als Moritat, und er bewegte sich damit in der Nähe von Woyzeck-Deutungen, wie sie in nationalsozialistischer Zeit auch außerhalb der Theaterpublizistik und in Texten mit wissenschaftlichem Anspruch geboten wurden.32 War bei Harms die jubelnde Begeisterung, die die gesamte Theaterpublizistik in den zwanziger Jahren überall von rechts bis links in Sachen ––––––––– 32 Vgl. dazu Walter Linden: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 1937, S. 368 und ders.: Georg Büchner zum 125. Geburtstag am 17. Oktober 1938. In: Die Westmark. Monatsschrift für deutsche Kultur 6 (1938). Neu bei Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Büchner im Dritten Reich. Mystifikation – Gleichschaltung – Exil. Bielefeld 1990, S. 168ff. Dort auch eine Darstellung und weitere Zeugnisse zur völkischnationalen Büchner-Rezeption in der Fachwissenschaft aus linker Sicht.
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Büchner immer wieder vor die Leser gebracht hatte, nur erheblich gedämpfter erklungen, überwogen in den Hannoverschen Feuilletons des Jahres 1939 trotz fortdauernden Respektes für den Dichter sogar eine deutliche Distanz und Skepsis, Unsicherheit und Zweifel gegenüber Büchner und dem Woyzeck. Eine Aufführung hielt man wieder für einen »Versuch«, ein »Experiment«, für ein reizvolles und interessantes, aber keines, das für Gegenwart oder Zukunft Bedeutung haben könnte. »Und gerade seine Tragödie ›Woyzeck‹ mag und muß dem Geist und dem Stil unserer Gegenwart fremd sein,« schreibt Otto Lothar Riemasch im Hannoverschen Anzeiger vom 13./14.5.1939. Auffallend unsicher ist er in der Bewertung des Stückes: » […] auch faules, morsches Holz kann leuchten[,] und so gibt der Dichter auch seinem armseligen Woyzeck einen phosphoreszierenden Schimmer.« Die Figur des Woyzeck bleibt für ihn dennoch »wie ein Gespenst, mit dem wir kaum etwas zu schaffen haben und das uns doch hypnotisiert. […] Das Werk ist fragmentarisch. Der Eindruck ist es auch.« Im Hannoverschen Kurier vom 14.5.1939 gar kann für Dr. Kurt Voß in seiner Besprechung der 82. nachgewiesenen Inszenierung des Stückes auf einer deutschsprachigen Bühne »eine Aufführung des ›Woyzeck‹ immer nur ein Versuch sein,« freilich einer »mit einem Werk, in dem wenigstens E l e m e n t e starker dramatischer Dichtung sind.« Der Woyzeck ist für Voß »gewiß kein großes Kunstwerk, aber doch der starke Talentbeweis eines unvollendeten Dichters.« Auch Ernst Heinrich von Issendorf kann in der Hannoverschen Landeszeitung vom 13.5.1939 in der Aufführung des Woyzeck am Schauspielhaus in Hannover nicht mehr sehen als »ein sehr interessantes Experiment«. Und: »Die Aufführung war in jeder Hinsicht vollkommen. Ob uns allerdings Stil und Art des Stückes heute noch viel zu sagen haben, ist eine andere Frage.« Weniger unsicher zeigt sich Fritz Kageler im Hannoverschen Tageblatt vom 14.5.1939. Er stellt Büchner in der vertrauten Lesart national-konservativer Theaterpublizistik der zwanziger Jahre entschlossen als ein reines, junges Genie in eine Entwicklungsreihe, die vorgeblich zu einer im zeitgerechten Sinne blitzsauberen, deutschen, nationalen Literatur führt, ganz im Gegensatz zu allen, die diesen Weg verlassen haben. »Indessen die spätere literarische, inzwischen allerdings überwundene Entwicklung aber in einer mehr oder weniger ausgeprägten Zersetzung und Zerfetzung ausartete und weit über die Ziele des Theaters hinausschoß, ist bei
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Büchner auch das Grausamste und Verabscheuungswürdigste noch geheiligt durch die Tiefe eines jünglinghaften Weltschmerzes und durch die Kühnheit einer dichterisch-moralischen Verantwortung. Hier ist die dunkelste Nachtseite des Lebens noch von dem Glanz der Sterne durchschimmert. Luthers kraftvolle Bibelsprache strömt in den Dialog, die herb-heitere Lebensnähe des Volksliedes klingt auf, die düstere, schauerliche Welt der Moritaten begleitet die Bilder. […] Eine dramatische Studie nur ist’s, aber immer noch wert, sich ihrer dämonischen Größe zu vergewissern.«
Ausgerechnet die Niedersächsische Tageszeitung, das führende Blatt in der nationalsozialistischen Presse Hannovers, war es, in der A. Uerz. sich am 13.5.1939 noch weit energischer als der Kunstbetrachter des Hannoverschen Tageblatts für Büchner in die Bresche warf. Er tat es auf dessen die alte, national-konservative Büchner-Interpretation in der Theaterpublizistik der zwanziger Jahre fortführender Linie. Zwar sieht er in dem jungen Büchner einen Revolutionär »mit nicht ganz sauberen Mitteln«, und auch er bricht nicht in lauten Büchner-Jubelsturm aus. Er stellt vielmehr seinen Lesern suggestiv-eindringliche Fragen, die diese im Sinne des Fragenden nur pro Büchner beantworten konnten. Der Woyzeck wirkt für ihn »wie eine mitleidlose Moritat, saftig, unakademisch, unbedenklich, grob im sprachlichen Ausdruck und eindeutig in der handfesten Handlung. […] Der ›Woyzeck‹ ist alles andere als Literatur im Sinne des deutschen Idealismus, ja, er ist sogar die Reaktion auf Weimar, der Widerspruch mit unausgegorenen Mitteln. […] Aber kann man übersehen, wie hier ein überragendes, freilich undiszipliniertes Talent förmlich mit der Axt in der Hand dichtet? Ist Kraft, Blut und Leben diesen hingehauenen Szenen zu bestreiten, von denen Einzelne mehr Kraft und dramatische Energie besitzen, wie ganze Stücke seiner Nachfahren im Naturalismus sechzig Jahre später? Darf man die ungeheuren Ansätze zu einer volksnahen und bindungsunbeschwerten [Sic! Wohl für bildungsunbeschwerten] Dramatik übersehen? Trotz aller grellen Farbigkeit, trotz aller oberflächlichen Kritik des Autors an der gesellschaftlichen Ordnung und dem offensichtlichen Mangel an aufbauenden Ideen waren wir gepackt von der ungewöhnlichen dramatischen Befähigung Büchners.«
Höchst überraschend für uns Nachgeborene, die wir uns die Nationalsozialisten gerne in toto als Gegner des Revolutionärs Büchner, des verehrten Vorbilds aller deutschen Linken, des entschiedenen Skeptikers, gedacht haben: In Hannover schickte eine große Besucherorganisation, die im Jahre 1939 23000 Mitglieder zählte,33 die »Niedersächsische National––––––––– 33 Vgl. F.: Kleine Geschichte der NS.-Bühne. In: NS.-Bühne Hannover (Hrsg.): Jahrbuch 1939, S. 5f.
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sozialistische Bühne e. V.«, deren »Vereinsführer« der Gaupropagandaleiter Herbert Huxhagen war und in deren Beirat der »Gauschatzmeister« Karl Reich saß, ihre Leute in die Woyzeck-Premiere. Die aber reagierten ganz im Gegensatz zu ihrem üblichen Verhalten während der Vorstellung mit Unruhe, einzelne verließen türenschlagend das Theater, der Beifall blieb schütter. Da fühlte sich der Geschäftsführer der »Niedersächsischen Nationalsozialistischen Bühne e. V.«, Dr. Kurt Fischer, bewogen, im Jahrbuch 1939 seiner Organisation in einem Aufsatz Nachdenkliches Theater. Kleine Bemerkungen zu umstrittenen Dramen auch ausführlich auf Büchner und den Woyzeck einzugehen: »Das Stück, das 1939 am meisten die Gemüter erhitzte, ist ohne Zweifel Büchners ›Woyzeck‹,« befindet er, und dann schließt auch er im Stile des A. Uerz. suggestive Fragen an seine Leser an: »Weißt du, lieber Volksgenosse, der bei der Premiere pfiff und knallend die Tür zuschlug, daß Georg Büchner seit über hundert Jahren tot ist? Dachtest du daran, daß dieses Stück geschrieben wurde, als Deutschland in 76 ›Vaterländer‹ zerrissen war und es eine Sünde war, natürlich zu sein? Trotzdem bleibt Büchners ›Woyzeck‹ auch heute noch ›problematisch‹.«
Das lastet Fischer vor allem der Form des Werkes an, aber gleichzeitig betont er die den Nationalsozialisten so sympathischen antibürgerlichen Elemente im Woyzeck. »Er ist ein Fragment, das ein Zweiundzwanzigjähriger in eine satte und sich vollendet dünkende Bürgerwelt warf.« Der Idealismus, die Romantik, so Fischer, haben abgewirtschaftet, haben sich entweder »an ›edler Einfalt und stiller Größe‹ berauscht« oder »ließen sich in idyllischen Waldwinkeln von Posthornklängen einwiegen, da trat Büchner mit seinen drei Dramen auf.« Das Menschenbild, das er seinen Zeitgenossen in diesen Werken zeigte, »war ehrlich, brutal und bedingungslos; es hieß: ›Der Mensch ist ein Abgrund.‹« »Ehrlich«, »brutal« und »bedingungslos«, das waren die Vokabeln, mit denen man nach der Gewohnheit der Zeit »Weltanschauung« und »Haltung« eines wahrhaften Nationalsozialisten zu beschreiben pflegte. Georg Büchner mußte den Lesern Fischers als ein deutscher Dichterjüngling erscheinen, der sich seiner Verzweiflung angesichts dieses Menschenbildes nicht ergab, sondern sich ihm mannhaft stellte. Fischer geht in seinem aberwitzigen nationalsozialistischen Plädoyer pro Büchner sogar noch einen Schritt weiter in eine Richtung, in der sich 1925 in München noch viel entschiedener der Kritiker des Völkischen Kurier bewegt hatte: 160
»Noch eins, jahrzehntelang haben die Fachgelehrten sich die Köpfe darüber zerbrochen, ob dieser Mann nun Wozzeck oder Woyzeck hieß. Fremd ist uns der Name, fremd sein demütiges Stillehalten. Sollte Büchner, der Arzt, schon empfunden haben, daß die Rassen verschieden sind, daß ein Slawe anders fühlt und denkt als ein Deutscher? Und Woyzeck ist kein Deutscher ...«.
Noch 1925 hatte ein national-konservativer Interpret Büchners, H. Stolz in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung vom 18.3., darauf bestanden, dass Woyzeck ein Deutscher sei, ein Mann mit einer tief empfindenden deutschen Seele und »kein Tschech oder Böhm« und deswegen in einer Aufführung nicht mit slawischem Akzent sprechen dürfe. 1939 behauptet Fischer das Gegenteil und besteht darauf, dass Woyzeck ein Slawe, kein Deutscher sei, und Georg Büchner, seinen mannhaften deutschen Dichterjüngling, macht er zum möglicherweise noch unbewußten, aber hellsichtigen Propheten der nationalsozialistischen Rassentheorie. Das war das letzte Wort in einer langen Folge von national-konservativen und auf ihnen aufbauenden extremistischen, nationalsozialistischen Interpretationen Büchners und des Woyzeck in der Theaterpublizistik vor dem Zweiten Weltkrieg.
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Georg Büchners Woyzeck – Möglichkeiten und Grenzen textgenetischer Interpretation Von Per Röcken (Marburg)
»Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!« (Wittgenstein)
Anders als der Titel dieses Aufsatzes vielleicht erwarten lässt, werde ich im Folgenden nur wenig über Georg Büchners Woyzeck-Fragmente schreiben. (Weder werde ich eine eigene ›textgenetische‹ Interpretation der Texte vorlegen, noch auch ein einziges Wort aus ihnen zitieren.) Sondern ich werde über einen bestimmten Modus – namentlich ein Verfahren selektiver Kontextverwendung – schreiben, in dem über diese Texte geschrieben wird bzw. geschrieben werden kann. Mitunter wird zudem erforderlich sein, darüber zu schreiben, wie über dieses Schreiben über ein Schreiben geschrieben wird oder geschrieben werden kann. Es geht mir vor allem darum, ein Problembewusstsein zu schaffen und einige (theoretische) Voraussetzungen zu klären. Dieses Vorgehen bedarf wo nicht einer Rechtfertigung, da doch wenigstens einer Erläuterung. Meine problembezogen zugespitzten Ausführungen werden im Wesentlichen dieser Erläuterung dienen.
1. Allgemeine Vorüberlegungen Dass der Rekurs auf Zeugnisse des literarischen Produktionsprozesses, auf Autorvarianten, Entstehungszeugnisse, Vorstufen, Entwürfe, Notizen, frühere Fassungen, Überarbeitungen, Korrekturvorgänge, Paralipomena usw. ebenso wie deren Dokumentation von beträchtlichem Nutzen für die Interpretation bzw. das Verständnis eines Werkes sein könne, dass die Kenntnis textgenetischer Vorgänge von erheblicher hermeneutischer Relevanz sei, wird in literaturwissenschaftlicher, vor allem editions-
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philologischer Fachprosa stereotyp behauptet; der »Erkenntniswert von Textvarianten« ist hier »weitgehend unbestritten«.1 Ich stelle ein paar illustrative Belege zusammen:2 Je nach vorausgesetzter Textkonzeption, literaturtheoretischer Orientierung, Erkenntnisinteresse und fokussiertem Gegenstandsaspekt ist die Rede etwa von der »Kommentarfunktion«3 der Varianten, von den »reichhaltigen Möglichkeiten, die die Analyse des Variantenmaterials bereithalten kann«,4 oder davon, Entstehungsvarianten seien »Schlüssel zur Werkinterpretation«.5 Es gilt als ausgemacht, dass »Varianten dichterischer Texte zur Rückweisung von Fehldeutungen und Überinterpretationen eingesetzt werden können«.6 Auch steht fest, dass mit ihnen »neue Dimensionen eines Textverständnisses erschlossen«7 werden können. Es heißt, der »Sinn eines Wortes« könne »mit Hilfe anderer Wörter geklärt [werden], die in früheren Fassungen an derselben Stelle stehen«,8 eine »Mehrdeutigkeit […] durch den Rückgriff auf die Vorstufe«9 beseitigt werden. ––––––––– 1 Hans-Werner Ludwig: Entwurfsfassungen und Varianten als Schlüssel zur Werkinterpretation. In: Ulrich Horstmann / Wolfgang Zach (Hrsg.): Kunstgriffe. Auskünfte zur Reichweite von Literaturtheorie und Literaturkritik. Bern u. a. 1989, S. 202–217, hier S. 209; vgl. auch Martin Stern: Genetischer Befund als Instrument der Werkanalyse. Aus der Editionsarbeit an Hofmannsthals Lustspiel »Der Schwierige« im Rahmen der KHA. In: Louis Hay / Winfried Woesler (Hrsg.): Edition und Interpretation. Bern u. a. 1981, S. 280–285, hier S. 280: »Erkenntniswert […] wohl unbestritten«. 2 Einen historischen Überblick gibt Rüdiger Nutt-Kofoth: Textgenese. Überlegungen zu Funktion und Perspektive eines editorischen Aufgabengebiets. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 37 (2005), S. 97–122; vgl. auch Anne Bohnenkamp: Autorschaft und Textgenese. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Perspektiven. Stuttgart, Weimar 2000, S. 62–79. 3 Gunter Martens: Texterschließung durch Edition. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Bedeutung textgenetischer Apparate. In: LiLi 5.19/20 (1975), S. 82–104, hier S. 98. 4 Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 1997, S. 224. 5 Ludwig: Schlüssel (s. Anm. 1), S. 202. 6 Gunter Martens: Die Funktion des Variantenapparates in Nachlaßausgaben expressionistischer Lyrik. In: Louis Hay / Winfried Woesler (Hrsg.): Die Nachlaßedition. Frankfurt a. M. 1977, S. 81–95, hier S. 83. 7 Gunter Martens: Textdynamik und Edition. Überlegungen zu Bedeutung und Darstellung variierender Textstufen. In: Ders. / Hans Zeller (Hrsg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München 1971, S. 165–201, hier S. 187. 8 Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis. In: Ders.: Schriften I. Frankfurt a. M. 1978, S. 263–286, hier S. 280. 9 Hans Zeller: Die Bedeutung der Varianten für die Interpretation. Am Beispiel der »Judenbuche« der Droste. In: Hay/Woesler: Edition und Interpretation (s. Anm. 1), S. 119–132, hier S. 122.
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In anderen Versionen dieser Behauptung wird geltend gemacht, die »Prüfung der Textgenese« könne dazu dienen, »einerseits einen gewissen Bedeutungsspielraum abzugrenzen und andererseits voreilige Bedeutungsfestlegungen«10 zu verhindern, man könne »von der semantischen Achse der Veränderung her auf die Textintention, auf die Gesamtbedeutung des Werks«11 schließen, und es sei zu »demonstrieren, wie im Spannungsfeld kontrastierender Textfassungen sich Bedeutung konstituiert«.12 Überdies bestehe die Chance, »den Text durch die Entstehung des Textes, also wieder durch Texte, kritisieren, zu sich selbst als Fremden in Beziehung setzen zu lassen und damit zusätzliche Komplexität zu gewinnen.«13 Oder noch anders: Ein »Erlernen« dichterischer Sprache könne »sich auch am unscheinbaren Detail ihrer Sprachbewegungen und Textveränderungen orientieren«, am »Nachvollzug der Eigenbewegung« des Textes, seinem »Zu-sich-selber-Finden«.14 Es wird rasch deutlich: Die meisten dieser Aussagen sind nur bedingt miteinander vereinbar; sie alle sind – obwohl sie offenbar sämtlich dazu dienen sollen, die je verschieden funktionalisierte interpretatorische Indienstnahme varianter Textzustände zu begründen bzw. zu legitimieren – ihrerseits extrem voraussetzungsreich, ihre Geltungsprüfung ist schwierig. Als locus classicus des somit eingeführten Behauptungsdiskurses kann folgende, offenbar auch zur Rechtfertigung der aufwendigen Varianten-Darbietung der Großen Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe vorgebrachte Äußerung Friedrich Beißners15 gelten: »Der Leser also […] gerät oft in die Lage, daß er zwischen zwei Deutungsmöglichkeiten schwankt. Wie oft hilft ihm in solcher Lage die Lesart eines Entwurfs! Wie oft beglückt es ihn, wenn er den ganzen Stufenweg vom er––––––––– 10 Eberhard Sauermann: Entwicklung bei Trakl. Methoden der Trakl-Interpretation. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986). Sonderheft: Editionsprobleme der Literaturwissenschaft, S. 151–181, hier S. 152. 11 Zeller: Bedeutung (s. Anm. 9), S. 131. 12 Gunter Martens: Textkonstitution in Varianten. Die Bedeutung der Entstehungsvarianten für das Verständnis schwieriger Texte Hölderlins. In: Hay/Woesler: Edition und Interpretation (s. Anm. 1), S. 69–96, hier S. 89. 13 Jürgen Fohrmann: Textherstellung. Ein Resümee. In: Axel Gellhaus (Hrsg.): Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen. Würzburg 1994, S. 339–351, hier S. 351. 14 Rolf Bücher: Beda Allemann über Textgenese. In: Gellhaus: Genese (s. Anm. 13), S. 327– 338, hier S. 330, 336 und 338. 15 Friedrich Beißner: Hölderlins letzte Hymne. In: Ders.: Hölderlin. Reden und Aufsätze. Köln 1969, S. 211–246, hier S. 212.
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sten Keim über alle noch zögernd prüfenden Wandlungen bis zur gelungenen Gestalt hin überblickt, so das Kunstwerk im Entstehn aufzuhaschen und so dessen tiefsten Sinn erst wahrhaft zu begreifen!«
Ich mache kurz auf einige normativ-ästhetische Implikationen dieser Aussage aufmerksam: Als Folie dient ersichtlich Goethes organologisches Kunstkonzept16 und damit ein (ja auch im Konzept der Textgenese selbst impliziertes) teleologisches Modell der linearen, kontinuierlichen Entwicklung oder »Reifung«. Es wird vorausgesetzt, »daß das für die Natur geltende Prinzip der Stetigkeit (natura non facit saltus) auf die Entstehung von Kunstwerken übertragen werden könne, anders ausgedrückt: daß Texte tatsächlich nach dem Modell von Lebewesen entstehen«.17 Entstehungsvarianten direkt, positiv und identifikatorisch für die Deutung, genauer: zur Aufhellung punktueller semantischer obscuritas, funktionalisieren zu können, macht überdies die Unterstellung erforderlich, »die Gesamtkonzeption, die die Einzelheiten regiert, habe sich im Lauf der Entstehung nicht geändert, sie werde nur immer besser realisiert«.18 Es wird also vorausgesetzt, (1) dass »der Änderung der Stelle nicht auch eine Änderung des Gemeinten entspricht«19 und (2) dass die paradigmatische Änderung eines Elements nicht auch eine Änderung des gesamten Kontextes, des komplexen Syntagmas dynamisch aufeinander bezogener semantischer Bestandteile bedingt.20 Mit der interpretatorischen Bezugnahme auf textgenetische Daten ist – soviel sei in systematischer Hinsicht vorausgeschickt – ersichtlich die Privilegierung bestimmter Kontexte21 verbunden, sofern diese (a) vom selben Autor (und vom Autor selbst) stammen, (b) demselben Gesamtwerk (Œuvre), – je nach Explikation des Werkbegriffs – dem einzelnen
––––––––– 16 Vgl. Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur »Textgenese«. In: Text. Kritische Beiträge 5 (1999), S. 1–25, hier S. 7–11. 17 Bohnenkamp: Autorschaft (s. Anm. 2), S. 71. 18 Zeller: Bedeutung (s. Anm. 9), S. 122. 19 Szondi: Über philologische Erkenntnis (s. Anm. 8), S. 280; vgl. zur Annahme einer (zumindest partiellen) Zirkularität dieses Arguments Peter D. Juhl: Interpretation. An Essay in the Philosophy of Literary Criticism. Princeton 1980, S. 250–259. 20 Vgl. Zeller: Bedeutung (s. Anm. 9), S. 119 und S. 123. 21 Vgl. den hervorragenden Überblick bei Lutz Danneberg: [Art.] Kontext. In: Harald Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin, New York 2000, S. 333–337.
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Werk (Opus),22 der Werkphase (z. B. dem Früh- oder Spätwerk) oder einem (mehr oder minder kontinuierlichen) Produktionsvorgang entnommen werden sowie (c) eine chronologische ›Nähe‹, (d) einen kausalen, genetischen oder genealogischen Zusammenhang und (e) eine quantitative oder qualitative Gleichheit oder Ähnlichkeit hinsichtlich des primären Interpretationsgegenstands aufweisen. Je nach Funktion der Bezugnahme ist als entscheidende Differenzqualität des herangezogenen textgenetischen Kontexts (f) von zentraler Bedeutung, dass dieser im Gegensatz zum fokussierten (auslegungsbedürftigen) Gegenstand semantisch irgendwie klarer, deutlicher, verständlicher usw. ist.23 Neben einem methodischen »Autorkonstrukt«24 dient (als dessen metonymisches Korrelat) vor allem das Werk25 als Konsistenz stiftende, Selektion und Legitimation für relevant erachteter Daten begründende Kategorie. (Ich komme hierauf zurück.)
2. »Georg Büchners Woyzeck« Nach dem Gesagten werden allerdings rasch zwei Schwierigkeiten deutlich, die einer umstandslosen Übertragung der textgenetischen Interpretationsmethode auf die Woyzeck-Entwürfe prima facie entgegenstehen: Bemerkenswert ist erstens, dass es gerade ›schwierige Texte Hölderlins‹ (bzw. Heyms, Trakls oder Celans), näherhin Gedichte sind, die zum Para––––––––– 22 Vgl. v. a. Szondi: Über philologische Erkenntnis (s. Anm. 8), S. 278, der davon ausgeht, beim »Interpretieren auf Grund von Lesarten« werde »das, freilich problematische, Postulat, ein Werk solle nur aus sich selber interpretiert werden, nicht mißachtet, gehört doch das Lesartenmaterial zu dem Werk als dessen Genesis, die auf der Stufe der Vollendung im Hegelschen Wortsinn sich aufgehoben findet.« 23 Anders gesagt: Die explikative Relation muss asymmetrisch hinsichtlich der Eigenschaft semantischer Deutlichkeit sein. – Vgl. hierzu erhellend Lutz Danneberg: Idem per idem. In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 27/28 (2005), S. 28–30. 24 Vgl. Lutz Danneberg: Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention. In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matías Martínez / Simone Winko (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 77–105, sowie ausführlich und differenziert Carlos Spoerhase: Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik. Berlin, New York 2007, dem ich zur hier infrage stehenden Problematik wertvolle grundsätzliche Anregungen verdanke. 25 Vgl. Carlos Spoerhase: Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 276–344, hier S. 296–300 sowie v. a. S. 304: »Die Homogenisierung einer Textmenge im Werk kann letztlich nur durch den Rückgriff auf eine diese Homogenität verbürgende Produktionsinstanz plausibel gemacht werden.«
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digma eines solchen Vorgehens werden: »Der Versuchung zur LesartenMethode scheinen am häufigsten die Interpreten von ›dunklen‹ Texten zu erliegen«, der Annahme folgend, frühere Textzustände seien »weniger schwerverständlich, dunkel und mehrdeutig«.26 Der wichtigste Grund hierfür ist wohl, dass bei Gedichten quantitativ überschaubare Texteinheiten als »einander entsprechende Varianten« sehr viel leichter »zueinander vergleichend in Beziehung«27 gesetzt bzw. ›synoptisch parallelisiert‹ werden können. Es ist wichtig zu sehen, dass neben der bedeutungstheoretisch entweder heuristisch (bzw. präsumtiv)28 oder axiomatisch unterstellten Sinnkonstanz, der intentional-konzeptionalen Kontinuität und Invarianz, gerade die nur punktuelle Diskontinuität (das Nicht-mehr bei gleichzeitigem Immer-noch) die Vergleichbarkeit und damit einen Erkenntnisgewinn überhaupt erst ermöglicht. Es ist dies freilich primär eine Stellenhermeneutik. Bei umfangreicheren, formal weniger klar strukturierten, in sich heterogenen Textkorpora ist ein solches Vorgehen zumindest erschwert. Vergleichende Parallelisierungen sind hier nur bedingt möglich. Insofern jede Spielart textgenetischer Interpretation vergleichend und in diachronischer Perspektive eine Beziehung zwischen Texteinheiten herstellt (oder nachweist), also mindestens zwei partiell variierende (i. e. partiell gleiche) Datenmengen aufeinander bezieht, stellt sich die Frage, welche Bestandteile der überlieferten Textmenge in welcher Anordnung wie aufeinander bezogen werden können bzw. in welchem Verhältnis diese zueinander stehen und welche Abhängigkeiten sich nachweisen lassen. Vordem wäre freilich zu klären, ob nicht jede Interpretation der Woyzeck-Texte, sofern sie sich nicht auf die Untersuchung synchronisch homogener Einheiten kapriziert, zwangsläufig eine (zuweilen stillschweigende) textgenetische Interpretation darstellt.29 Jedenfalls scheint eine prinzipielle Nicht-Be––––––––– 26 Hans Zeller: Die Entwicklung der textgenetischen Edition im 20. Jahrhundert. In: Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Berlin 2003, S. 143–207, hier S. 169. 27 Jens Stüben: Edition und Interpretation. In: Rüdiger Nutt-Kofoth et al. (Hrsg.): Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Berlin 2000, S. 263–302, hier S. 285. 28 Vgl. grundsätzlich Oliver Robert Scholz: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2001, sowie Spoerhase: Autorschaft (s. Anm. 24), S. 229–438. 29 Vgl. Hans-Georg Werner: Dichtungssprache als Analyseobjekt. Büchners »Woyzeck«. In: Ders.: Text und Dichtung – Analyse und Interpretation. Zur Methodologie literaturwissenschaft-
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rücksichtigung der Textgenese bzw. der spezifischen Entstehungs- und Überlieferungsverhältnisse hier kaum zu rechtfertigen. Maurice B. Benn hat gar die weitreichende These aufgestellt, die genetische Methode (genetic method) sei das einzige den fragmentarischen Entwürfen adäquate Interpretationsverfahren:30 »The only sound procedure is to accept the fragmentary drafts as they are given in the extant manuscripts; to study them, so far as possible, in chronological order; and, since we cannot know the goal which Büchner had set himself, to ascertain at least the direction in which he was moving. Such a genetic method of study is rather laborious, but it is a labour which must not be shirked, for it provides the only reasonably firm foundation for the interpretation and criticism of the play. In particular, it is the only way in which we can hope to answer the frequently mooted question: to what extent did Büchner’s intention change in the course of his work on Woyzeck? to what extent did he himself change?«
Zu bedenken ist indes zweitens, dass in aller Regel der Vergleich unterschiedlicher Texteinheiten angestellt wird zwischen früheren und späteren Fassungen eines Werks bzw. zwischen einer autorisierten Endfassung und deren Vorstufen. Strittig ist demgegenüber, ob auch der Einbezug »fragmentarischer Belege des Schaffensprozesses«31 im Rahmen textgenetischer Interpretation zulässig ist. Dessen ungeachtet finden sich auch in Interpretationstexten zu den Woyzeck-Fragmenten regelmäßig Behauptungen hinsichtlich der Relevanz textgenetischer Kontextualisierungen. Hierbei wird zuweilen übersehen, vernachlässigt oder gar ignoriert, dass die nicht autorisierten, unpublizierten »Vorstufe[n] eines geplanten Werkes […] selbst« eben »kein Werk« darstellen,32 sondern eher einen ––––––––– licher Untersuchungen. Berlin, Weimar 1984, S. 236–270, hier S. 240: »Die Überlieferungslage zwingt dazu, die Textanalyse als Analyse der Textproduktion zu betreiben.« 30 Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. London, New York 1976, S. 218; vor Benn hat bekanntlich Hans Winkler (Georg Büchners »Woyzeck«. Greifswald 1925) versucht, den »Vergleich der Fragmente« für die Interpretation fruchtbar zu machen: »Es ist das Ziel […] der Arbeit, die Stufen der langsamen Entfaltung zu erkennen, hauptsächlich durch den Vergleich von Parallelfassungen hinsichtlich ihrer Komposition und ihres Stils. Auf diese Weise soll […] eine wichtige Grundlage für die später folgende Inhalts- und Stilbetrachtung geschaffen werden.« (S. 19.) 31 Miroslav Červenka: Textologie und Semiotik. In: Martens/Zeller: Texte und Varianten (s. Anm. 7), S. 143–163, hier S. 151. 32 Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs. In: editio 18 (2004), S. 175–186, hier S. 183; vgl. ebd., S. 178: »Ein
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Entwurfskomplex mit integrativen Momenten. Die Textgenese ist hier lediglich zu einem unfreiwilligen Ende gekommen, die Dynamik des Schreibens wurde zum Stillstand gebracht, weil – wie Karl Emil Franzos dies ausdrückte – »die tödtliche Erkrankung [...] Büchner die Feder aus der Hand« genommen33 hat. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die überlieferten Entwürfe die erforderliche – sonst im Rekurs auf ein integratives Werk-Konzept begründete – konzeptionelle Homogenität aufweisen. Liegt nun mit den Woyzeck-Fragmenten ein Werk vor? Ist den überlieferten Entwürfen ein Werk-Status zu- oder abzusprechen? Diese Frage ist von einiger Brisanz; schon ihre bloße Formulierung ruft zuweilen mit Pathos vorgetragene Befürchtungen und Verdächtigungen hervor, hier werde der Versuch unternommen, im Zuge einer zu weit getriebenen »philologische[n] Entmythologisierung des Textes«,34 eines »Rigorismus, der imstande ist, das Kind mit dem Bade auszuschütten«35 oder auch »einer kritischen Sisyphusarbeit, die in Gefahr gerät, nur noch sich selbst als Philologie für Philologen zu produzieren«36 – »im Namen der Wissenschaft«37 also – eine »Zurücknahme des ›Woyzeck‹ mit Hilfe der Philologie«38 forciert, bei der »beiläufig das Werk zu verschwinden«39 drohe und die »Eliminierung des Werkes aus der Literatur« sowie »die Umkehr seiner bewegten Entdeckungsgeschichte«40 zu befürchten stün––––––––– Bruchstück, ein Entwurf, ein Fragment gebliebener Text ist selbst kein Werk.« – Vgl. auch ders.: Das dichterische Fragment als Herausforderung. Die romantische Auffassung von der Unabschließbarkeit literarischer Texte und ihre Beziehung zur modernen Editionstheorie. In: Text. Kritische Beiträge 11 (2006), S. 143–160, hier S. 144–146 sowie S. 152f. 33 Karl Emil Franzos: Wozzeck. Ein Trauerspiel-Fragment von Georg Büchner. In: Mehr Licht! Eine deutsche Wochenschrift für Literatur und Kunst. Nr. 1 (5. Oktober 1878), S. 5; zit. nach dem Faksimiledruck in GW, Bd. X. 34 Werner R. Lehmann: [Art.] Woyzeck. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 3. München 1989, S. 319–322, hier S. 322. 35 Henri Poschmann: Probleme der ›Woyzeck‹-Edition. In: Georg Büchner: Woyzeck. Nach den Handschriften neu hrsg. und kommentiert von H. P. Frankfurt a. M. 1985, S. 107–162, hier S. 115. 36 Ebd., S. 116. 37 Henri Poschmann: Georg Büchner. Dichtung der Revolution und Revolution der Dichtung. 3. Aufl. Berlin, Weimar 1988, S. 244. 38 Ebd., S. 243. 39 Ebd.; vgl. auch ebd.: »das unter den Händen des Editors verschwindende Werk«. 40 Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 118; Poschmanns Kritik ist vor allem gegen die Woyzeck-Ausgaben von Egon Krause (Georg Büchner: Woyzeck. Kritisch hrsg. von
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den.41 Dieser »philologisch zweifelhaften Existenz des Werks«,42 den »Anforderungen strenger editionsphilologischer Grundsatztreue«, wird das »Anrecht der literarischen Öffentlichkeit auf eines der faszinierendsten Stücke der Weltdramatik«43 entgegengehalten, wobei geltend gemacht wird, dass es dem allseitigen Interesse an einer les- und spielbaren, an bestimmte Rezeptionsgewohnheiten angepassten Textgestalt zuwiderlaufe, wenn »dem Fragmentkomplex der Status eines […] Werkganzen abgesprochen«44 wird. Dem ist entgegenzuhalten, dass nicht jede editorische Präsentation der hier infrage stehenden Texte an den Erfordernissen der literarischen Öffentlichkeit orientiert sein muss: eine historisch-kritische Ausgabe folgt anderen Prinzipien und berücksichtigt andere Benutzerinteressen als Studien- oder Leseausgaben.45 Es ist demnach eine der Differenziertheit literaturwissenschaftlicher Verarbeitungshandlungen inadäquate Vereinfachung, zu behaupten, »ein Woyzeck-Werktext« sei »als bezugsfähiger gemeinsamer Nenner funktionsfähiger Kommunikation« zwingend erforderlich.46 Außerdem wäre hier zwischen dem Erforderlichsein und dem Vorhandensein des Gegenstands zu unterscheiden. Die Beantwortung der Frage nach dem Werk-Status hängt vielmehr von der jeweils in Anschlag gebrachten Explikation des Ausdrucks ›Werk‹47 und also davon ab, welche Kriterien ein textueller Gegenstand erfüllen muss, um als Werk gelten zu können. Sehe ich recht, sind hier zunächst drei (sich in praxi partiell überschneidende) Perspektiven zu ––––––––– E. K. Frankfurt a. M. 1969) und Wilfried Buch (Woyzeck. Fassungen und Wandlungen. Dortmund 1970) gerichtet. 41 Vgl. auch Alfons Glück: »Woyzeck«. Ein Mensch als Objekt. In: Georg Büchner. Interpretationen. Stuttgart 1990, S. 177–215, hier S. 180: »Jedenfalls kann einen gelegentlich der Verdacht beschleichen, ob es nicht eine subtile Art gebe, einen Text per ›Philologie‹ unlesbar zu machen oder zu beseitigen.«; vgl. S. 182: »Da ist es eine Beruhigung, H1,1 […] bis H4,17 […] in Schmids Transkription in einem Zug zu durchlesen, weil man sich dadurch überzeugt, daß das Ding tatsächlich (noch) vorhanden ist – um dessen Sinn wir uns zu kümmern haben«. – Hierzu ein Hinweis: Dass man die überlieferten Entwürfe »in einem Zug« lesen kann, ist ersichtlich kein (oder allenfalls ein schwaches) Argument dafür, dass deren Textbestand tatsächlich ein »Stück Woyzeck« repräsentiert. 42 Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 116. 43 Poschmann: Dichtung der Revolution (s. Anm. 37), S. 244. 44 Ebd. 45 Vgl. überblickshaft Dirk Göttsche: Ausgabentypen und Ausgabenbenutzer. In: NuttKofoth et al.: Text und Edition (s. Anm. 27), S. 37–63. 46 Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 118. 47 Vgl. grundsätzlich Spoerhase: Werk (s. Anm. 25), S. 285–296.
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unterscheiden, aus denen heraus eine Auswahl relevanter Distinktionsmerkmale erfolgen kann: (1) eine primär textbezogene, aus der heraus bestimmte Eigenschaften des Gegenstands in den Blick geraten, (2) eine autorbezogen-produktionsästhetische, mit der Dispositionen und Absichten des Autors fokussiert sind, sowie (3) eine rezeptions- bzw. wirkungsästhetische, die gestattet, Rezeption und Wahrnehmung einer Texteinheit als Werk bzw. das reziproke Sich-Hervorbringen48 von Werk und Wirkung nachzuvollziehen. Sind demnach (1) bei Analyse und Beschreibung der Textgestalt bestimmte formale, inhaltliche oder intentional-konzeptionelle Eigenschaften nachweisbar – Festschreibung einer gültigen Gestalt, Linearität, feststehende Strukturierung und klare Anordnung der Elemente, Begrenztheit, Abgeschlossenheit, Fertigstellung, Ganzheit (im Sinne eines Vorhandenseins erforderlicher Teile), stilistische Stimmigkeit, Stringenz, Kohärenz, Konsistenz, Reinschriftlichkeit o. ä. –, so gestattet der Rekurs auf normativ-evaluative Vorgaben einer (zumal diachron nicht verallgemeinerbaren)49 im Einzelfall für maßgeblich erachteten ÄsthetikKonzeption die Charakterisierung des Gegenstands als ›Werk‹.50 In dieser substantialistischen Version ist ›Werk‹ vor allem ein »Wertbegriff«,51 der normative Standards zumindest impliziert. Für die Woyzeck-Entwürfe lässt sich zeigen, dass – trotz des Fehlens konventioneller paratextueller Werkmerkmale (Titel,52 Gattungsbezeichnung) – sowohl dem überlieferten Textbestand in toto wie auch ausge––––––––– 48 Vgl. die entsprechende Formulierung bei Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk. In: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), S. 1–12, hier S. 10: »Werk und Wirkungsgeschichte bringen sich wechselseitig allererst im Verlauf der Geschichte hervor.« 49 Vgl. Wolfgang Thierse: »Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat.« Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs. In: Ders. / Karlheinz Barck / Martin Fontius (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Berlin 1990, S. 378–414, hier S. 380–383 sowie S. 410. 50 Anders ausgedrückt: die zugeschriebenen Eigenschaften gehören zur Intension des jeweiligen Werkbegriffs. 51 Martin Kölbel: Das literarische Werk. Zur Geschichte eines Grundbegriffs der Literaturtheorie. In: Text. Kritische Beiträge 10 (2005), S. 27–44, hier S. 27. 52 Vgl. etwa Klaus Hurlebusch: Zur Aufgabe und Methode philologischer Forschung, verdeutlicht am Beispiel der historisch-kritischen Edition. Eine Auseinandersetzung mit Hermeneutik und Historismus. In: Martens/Zeller: Texte und Varianten (s. Anm. 7), S. 117–142, hier S. 127: »Die Bedeutung des Ausdrucks ›Werk‹ wäre etwa anzugeben mit: Text, der durch einen Titel benannt bzw. gekennzeichnet ist«. – Denkbare Alternativen zum Titel »Woyzeck« nennt Hauschild 1993, S. 555.
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wiesenen Teilen desselben (vor allem H4) entsprechende werkkonstitutive Eigenschaften nachgewiesen oder zugeschrieben worden sind. Grundsätzlich ist hier z. B. auf den erreichten Grad der Fertigstellung,53 die »konzeptionelle Einheit des Ganzen in ihren Grundzügen«54 und auf die »Werkidee eines Woyzeck-Dramas«55 hingewiesen worden. Die überlieferten Texte wurden in ihrer Gesamtheit als »Kunstganzes«,56 als »selbständiges […], in der Idee abgeschlossene[s] Werk«57 und als »in der dokumentierten Einheit des Entstehungsprozesses verbürgt[er]« »Werkzusammenhang«58 wahrgenommen. Auch wurde »die Frage nach einer alle Entwurfsstufen umfassenden Grundhaltung«,59 nach einer »auf allen Textstufen beibehalten[en] […] Grundkonzeption«,60 nach der »Grundsubstanz des Stückes«61 bzw. »seinem wesentlichen Aussagegehalt«62 positiv beantwortet, wobei neben dem konsistenten »Stil der ›Woyzeck‹Tragödie«63 vor allem die Rekonstruierbarkeit einer »final[en]«64 oder ––––––––– 53 Vgl. etwa Glück: Woyzeck (s. Anm. 41), S. 182: »ein schon ziemlich weit fortgeschrittenes Stück Woyzeck«; Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 115: »Zusammenfügung zu einem Werkganzen vom Autor schon zum großen Teil vollzogen«, sowie ebd., S. 146: »Alles Material eines vollständigen Dramas liegt vor. Es war nur noch eine abschließende, das Ganze vereinende Reinschrift abzufassen«. 54 Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 146; vgl. auch Glück, Woyzeck (s. Anm. 41), S. 180: »Summe: Es handelt sich um eine Konzeption […]. Den Zuschauer oder Leser überwältigt der Eindruck, die Einsicht, daß diese amokartige ›Handlung‹ sich nur in diesem Rahmen ereignen konnte. Die ›tragische Notwendigkeit‹ ist hier kein bloßes ästhetisches Postulat, sondern soziale Wirklichkeit.« 55 Henri Poschmann: Die »Woyzeck«-Handschriften. Brüchige Träger einer wirkungsmächtigen Werküberlieferung. In: Katalog Darmstadt, S. 333–337, hier S. 337. 56 Theo Elm: Georg Büchner: Woyzeck (1836/37). Der Fall Woyzeck und die »Möglichkeit des Daseins«. In: Ders.: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz. Stuttgart 2004, S. 109–138, hier S. 138. 57 Winkler: »Woyzeck« (s. Anm. 30), S. 134 58 Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 136; vgl. S. 146: »Werkzusammenhang der einzelnen Handschriftenbestandteile«. 59 Michael Braun: Zerbrochene Ganzheit: Büchners Fragmente. In: Ders.: »Hörreste, Sehreste«. Das literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan. Köln 2002, S. 47–123, hier S. 104. 60 Günter Hartung: Die Technik der »Woyzeck«-Entwürfe. In: Henri Poschmann (Hrsg.): Wege zu Georg Büchner. Frankfurt a. M. 1992, S. 204–233, hier S. 215. 61 Poschmann: Dichtung der Revolution (s. Anm. 37), S. 242. 62 Ebd., S. 249. 63 Werner: Dichtungssprache (s. Anm. 29), S. 268; vgl. auch Winkler: »Woyzeck« (s. Anm. 30), S. 187–228. 64 Vgl. Glück: Woyzeck (s. Anm. 41), S. 209f.: »Die Handlung des Woyzeck-Fragments ist final, aber nicht in einem logisch-deduktiven Sinn […]; die Finalität des Woyzeck hat
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kausalen Gesamthandlung,65 die »auf allen Entstehungsstufen gleichbleibende Ausformung« der »Fabel- und Handlungsführung«66 als werkkonstitutiver (i. e. Ganzheit und Einheit der fraglichen Textmenge gewährleistender) Faktor Berücksichtigung fand. Bei Verfechtern der These, die Woyzeck-Entwürfe seien der Gattung des »offenen Dramas« zuzuordnen, spielt beim Nachweis der Einheitlichkeit weniger die interne Handlungslogik (deren Vorliegen hier i. d. R. bestritten wird),67 als vielmehr das »Gewebe der Textbezüge« bzw. »Büchners Vernetzungskomposition«68 eine entscheidende Rolle:69 »Nicht Folgerichtigkeit, sondern strukturelle Komplexität, nicht Stringenz, sondern Vielgestaltigkeit bestimmen demnach die Komposition des Dramas. […] Vielgestaltig komponiert […] ist der Woyzeck in dreifacher Weise: erstens in der leitmotivischen Verknüpfung der Szenen, zweitens in der szenischen Binnenvernetzung durch Wiederholung oder Kontrast und drittens in der beziehungsträchtigen Vielfalt der Gattungs- und Stilformen – der Form der Rede, des Lieds und des Märchens, der Karikatur, der Montage, der Parodie, des Dialekts und der grotesken sowie absurden Darstellungselemente.«
––––––––– vielmehr einen sprunghaften Charakter, wird durchquert von Rissen, durchkreuzt von irrationalen Brüchen und Abbrüchen. Deshalb strebt aber die ›Handlung‹ – richtiger: der Ablauf – nicht weniger notwendig und unaufhaltsam einem ›vorbestimmten‹ Ende zu. […] Daß die Finalität in einem Fragment so durchschlagen kann, ist doch schon ein Befund für sich!« 65 Vgl. grundsätzlich Burghard Dedner: Die Handlung des »Woyzeck«: wechselnde Orte – »geschlossene Form«. In: GBJb 7 (1988/89), S. 144–170. – Dedner unternimmt den Versuch einer (Re)Konstruktion des Handlungsverlaufs anhand der Zusammenschau verschiedener Entwürfe, unterstellt also, dass sich die Konzeption wenigstens in dieser Hinsicht durchgehalten habe; zur Frage etwa, wo die Szene H4,7 räumlich zu verorten sei, bezieht er (vgl. S. 158f.) Informationen aus H2,8 ein. – Eine knappe Zusammenfassung seiner Argumentation findet sich bei Burghard Dedner: Editionsbericht. In: Georg Büchner: »Woyzeck«. MBA 7.2: Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Hrsg. von B. D. unter Mitarbeit von Arnd Beise, Ingrid Rehme, Eva-Maria Vering und Manfred Wenzel. Darmstadt 2005, S. 71–247, hier S. 109–112 (»Der Handlungsablauf als primäres Organisationsprinzip«). 66 Hartung: Technik (s. Anm. 60), S. 207. 67 Dazu kritisch (und m. E. sehr überzeugend): Dedner: Handlung (s. Anm. 65), v. a. S. 144–147 sowie S. 163–170. 68 Elm: Das soziale Drama (s. Anm. 56), S. 136 und S. 138. 69 Ebd., S. 136; vgl. auch ders.: Georg Büchner: »Woyzeck«. Zum Erlebnishorizont der Vormärzzeit. In: Dramen des 19. Jahrhunderts. Interpretationen. Stuttgart 1997, S. 141–171, hier S. 163–169.
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Als werkkonstitutive Eigenschaften werden hier u. a. genannt: »Wortgewebe, Sinngefüge und ›Idee‹«,70 metaphorische Verklammerung, Integrationspunkte (z. B. Lieder, Großmutter-Märchen), ein konsistenter Bildund Symbolkode, Wiederholungen, Spiegelungen, autoreflexive Kommentarebenen, vernetzte Motivkomplexe, Bildketten, Leitmotive71 sowie der »Antiheld« Woyzeck als »Mittelpunktfigur«72 bzw. »zentrales Ich« (Klotz). Für eine Bestimmung des Werk-Status der Fragmente sind diese durch Beschreibung und Deutung selektiv erhobenen Texteigenschaften lediglich vor dem Hintergrund eines implizit vorausgesetzten, normativen und mithin nicht ohne weiteres verallgemeinerbaren Werkbegriffs relevant, dessen notwendige Bedingungen sie jeweils darstellen. Abgesehen davon, dass das Vorliegen besagter Eigenschaften (ihr fundamentum in re) bestritten werden kann, ist folgendes zu bedenken: Wird (statt oder zusätzlich zu Kohärenz und Homogenität) die Abgeschlossenheit oder Ganzheit eines Textes zur notwendigen Bedingung einer Explikation von ›Werk‹ erklärt, müssten die Woyzeck-Entwürfe aufgrund ihres entstehungsgeschichtlich73 bedingten Fragmentcharakters74 aus der Extension des Ausdrucks ausgeschlossen bleiben. Ist man demgegenüber (2) mit Gunter Martens75 der Auffassung, eine distinkte Textmenge stelle nur dann ein Werk dar, wenn eine autori––––––––– 70 Vgl. nur Franz H. Mautner: Wortgewebe, Sinngefüge und »Idee« in Büchners ›Woyzeck‹. In: DVjs 35 (1961), S. 521–557, hier S. 552: »eine bis ins letzte Detail gestaltete und durchkomponierte Dichtung […], eines der ›dichterischsten‹ Dramen, die wir haben.« 71 Vgl. etwa Wilhelm Große: Georg Büchner. »Der hessische Landbote«. »Woyzeck«. 2. Aufl. München 1997, S. 37–42. Theo Buck: Die Bühne des Antihelden. Anmerkungen zu »Woyzeck«. In: Ders.: »Riß in der Schöpfung.« Büchner-Studien II. Aachen 2000, S. 153–178, hier S. 166–169 oder Braun: Fragmente (s. Anm. 59), S. 116–120; vgl. auch David G. Richards: Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung. 2. Aufl. Bonn 1989, S. 67: »Die gegenseitigen Verflechtungen und Wechselbeziehungen zwischen Motiven und Motiv-Komplexen verbinden die Teile zu einem einheitlichen Ganzen.« 72 So Buck: Bühne (s. Anm. 71), S. 158f. 73 Vgl. grundsätzlich Wolfram Groddeck: ›Vorstufe‹ und ›Fragment‹. Zur Problematik einer traditionellen textkritischen Unterscheidung in der Nietzsche-Philologie. In: Martin Stern (Hrsg.): Textkonstitution bei schriftlicher und mündlicher Überlieferung. Tübingen 1991, S. 165–175. 74 Mit Georg Guntermann: Auf der Suche nach Büchners Weltanschauung. Edition und Interpretation des »Woyzeck«. In: Lenau-Forum 15 (1989), S. 101–116, hier S. 115 meine ich: »Wir müssen den Sachverhalt nicht unnötig mystifizieren. Ein Drama ist nicht fertig geworden«. 75 Martens: Werk (s. Anm. 32), S. 178–180; vgl. auch die ähnliche Bestimmung bei Siegfried Scheibe: Textologische Grundbegriffe. In: Ders. / Christel Laufer (Hrsg.): Zu Werk
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sierte Publikation oder wenigstens die »Entscheidung zur Veröffentlichung«, also eine Publikationsabsicht des Autors76 nachweisbar sei, so wird man Texten, für die dies nicht möglich ist, »die der Autor selbst nicht veröffentlicht oder auch nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen hat«77 den Werk-Status per definitionem absprechen müssen; »allerhöchstens« handelt es sich dann »um einen Text mit Merkmalen eines Werks, um Vorstufen zu einem nicht zur vollen Ausführung gekommenen Werk, letztlich um ein Fragment.«78 Als Beispiel nennt Martens ausdrücklich den Woyzeck. Und tatsächlich sind die Fragmente weder in einer von Büchner autorisierten Form (oder gar vom Autor selbst) veröffentlicht worden, noch auch lässt sich – etwa anhand eindeutiger Selbstaussagen – eine Publikationsabsicht nachweisen.79 Wie Burghard Dedner zutreffend festgestellt hat,80 lassen sich weder für den Textbestand der Woyzeck-Entwürfe in toto noch auch für einzelne Bestandteile desselben (z. B. H4)81 »Abstufungen von Autorisation«82 feststellen.83 In aller ––––––––– und Text. Beiträge zur Textologie. Berlin 1991, S. 25–31, hier S. 25. – Mit Kölbel: Werk (s. Anm. 51), S. 41f. bin ich der Ansicht, dass das von Martens an das formale Kriterium der Veröffentlichung(sabsicht) geknüpfte Postulat einer »Ganzheit und Einheit« des Gegenstands schlecht verallgemeinerbare normative Implikationen beinhaltet. 76 Vgl. Martens: Werk (s. Anm. 32), S. 184: »Das Werk ist ausschließlich vom Autor festgelegt: Er allein entscheidet, ob und wann ein Text zum Werk wird, er allein konstituiert das Werk.« 77 Ebd., S. 183. 78 Ebd. 79 Vgl. Dedner: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 87–89 sowie S. 108. – Um in diesem wichtigen Punkt präzise zu sein: Zwar gibt es eine Publikationsabsicht für namentlich nicht näher bezeichnete »Dramen« und Indizien, die die Vermutung stützen können, bei einem dieser »Dramen« könne es sich um Woyzeck gehandelt haben. Selbst wenn dies so wäre, bleibt unklar, auf welche Textgestalt sich diese Publikationsabsicht bezogen hat (jedenfalls nicht auf die überlieferten Entwürfe) bzw. auf welche Textgestalt sich eine (als Fortbestehen der ersten zu denkende) spätere Absicht bezogen hätte. 80 Ebd., S. 135. 81 So ist etwa Lehmann: [Art.] Woyzeck (s. Anm. 34) der Ansicht, H4 enthalte als »vorläufige Reinschrift« (S. 319) »die letzte, beste und vom Autor halbwegs autorisierte Fassung« (S. 320); vgl. auch ders.: Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. Hamburg 1967, S. 59: »Persönliches Geschmacksurteil und Stilgefühl […] haben ihre Grenzen am Wortlaut des Autorisierten. Wenn Büchner H2,1 für H4,1 verwertet, so autorisiert er H4,1 dadurch, daß er H2,1 durchstreicht.« Vgl. auch Richards: Interpretation und Textgestaltung (s. Anm. 71), S. 18: »diese Handschrift [scil. H4] stellt Büchners letzten Willen dar und muß deswegen als autorisierter Ausdruck seiner Intention gelten«, sowie Benn: Revolt (s. Anm. 30), S. 255: »the last and most authoritative of the Woyzeck fragments«. – Zu erwägen ist hier allerdings die mögliche
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Deutlichkeit: Im Falle der Woyzeck-Fragmente ist eine (aktive, passive, generelle, punktuelle, deligierende, individuelle oder kollektive)84 Autorisation weder nachweisbar noch irgendwie wahrscheinlich zu machen. Möglich wäre dies allenfalls unter Berufung auf das von Siegfried Scheibe vorgeschlagene – auch auf fragmentarische Texte angewandte – Konzept einer »Autor-Autorisation«, verstanden als mit der Niederschrift dokumentierte Willensentscheidung und Billigung der jeweils letzten Textgestalt durch den Autor.85 Nun ist allerdings die introspektive Unterstellung, dass »jeder Autor, zumindest im Augenblick der Niederschrift eines Textes mit dem von ihm Niedergeschriebenen einverstanden gewesen sein muß«,86 keinesfalls mit der Autorisation eines Textes zu verwechseln, soweit diese verstanden wird als (zusätzlich zum überlieferten Text geäußerte) ausdrückliche Bekundung einer Publikationsabsicht bzw. der faktischen und förmlichen Einverständniserklärung und Genehmigung des Autors zur Veröffentlichung, Vervielfältigung und Verbreitung einer bestimmten Textgestalt.87 (Für in diesem Sinne nicht auto––––––––– Spätdatierung von H3 und damit die Beurteilung des Quartblattes als »das letzte literarische Zeugnis des Dichters vor seinem Tod« (P I, S. 692). 82 So Henri Poschmann: Kommentar [zu Woyzeck]. In: P I, S. 675–790, hier S. 675. 83 So bereits Gerhard Schmid: Probleme der Textkonstitution bei Büchners »Woyzeck«. In: Hans-Georg Werner (Hrsg.): Studien zu Georg Büchner. Berlin, Weimar 1988, S. 207– 226, hier S. 207f.: »Hier liegt keine autorisierte, vom Verfasser veröffentlichte Textgestalt vor«. – Wohl aber lassen sich etwa hinsichtlich der Streichung von Szenen (vgl. auch Dedner: Editionsbericht, s. Anm. 65, S. 135f.) verschiedene Geltungsgrade des Überlieferten unterscheiden. 84 Vgl. den Überblick bei Rüdiger Nutt-Kofoth: Schreiben und Lesen. Für eine produktionsund rezeptionsorientierte Präsentation des Werktextes in der Edition. In: Ders. et al.: Text und Edition (s. Anm. 27), S. 165–200, hier S. 175f. 85 Siegfried Scheibe: Zum editorischen Problem des Textes. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982). Sonderheft: Probleme neugermanistischer Edition, S. 12–29, v. a. S. 17–21; vgl. auch ders.: Probleme der Autorisation in der textologischen Arbeit. In: editio 4 (1990), S. 57– 72, sowie ders.: Zu einigen theoretischen Aspekten der Textkonstitution. In: editio 5 (1991), S. 28–37, v. a. S. 28f. 86 Gunter Martens: Autor – Autorisation – Authentizität. Terminologische Überlegungen zu drei Grundbegriffen der Editionsphilologie. In: Thomas Bein / Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta (Hrsg.): Autor – Autorisation – Authentizität. Tübingen 2004, S. 39–50, hier S. 47. 87 Vgl. ebd., S. 46. – Ähnlich stellt auch Rüdiger Nutt-Kofoth: Der ›echte‹ Text und sein Autor. Ansätze zu einem funktionalen Authentizitätsbegriff vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte von »Autorisation« und »Authentizität« in der neugermanistischen Editionsphilologie. In: Ders./Bein/Plachta: Autor – Autorisation – Authentizität (s. Anm. 86), S. 51–63, hier S. 61 fest: »Die Tatsache, daß ein Text vom Autor stammt, verbürgt etwa durch eine Handschrift, umfaßt realiter überhaupt keine Bevollmächtigung oder ›Ermächtigung‹
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risierte Texte eines Autors mag der Ausdruck »Authentizität« Verwendung finden.) Nun ist freilich (3) aus rezeptions- und wirkungsästhetischer Perspektive die Annahme möglich, dass Texte »erst in der Aneignung« – also durch Rezeptions- und Verarbeitungshandlungen – »zu Werken werden«.88 Mit der von Martens vorgeschlagenen (hinreichenden) Bedingung einer vom Autor veranstalteten oder wenigstens autorisierten Publikation ist sie indes nur bedingt vereinbar, sofern sich die Bestimmung, ein ›Werk‹ sei ein Text, der wirkt oder gewirkt habe, neutral zur Frage der Urheberschaft und Autorisation verhält. Vielleicht wäre dem pragmatisch dadurch beizukommen, dass das zentrale89 Kriterium der Veröffentlichung von der handelnden Instanz (i. e. Akteur des Literatursystems) entkoppelt wird. ›Werke‹ wären demnach veröffentlichte Texte; und zu ergänzen wäre stets die Angabe, um wessen Werk es sich jeweils handelt. (Natürlich wird dieses Niveau an Differenziertheit nicht immer erforderlich oder auch zweckmäßig sein.) Beachtenswert scheint mir vor allem der Fall, in dem ein nicht vom Autor publizierter oder autorisierter Autortext literarhistorisch dennoch als Werk des Autors wirksam wird. Eine angemessene literatursoziologische Analyse dieses Sachverhalts wäre überhaupt nicht möglich, ließe man die Unterscheidung zwischen ›Werk eines Autors sein‹ und ›als Werk eines Autors wirken‹ außer Acht.90 Auch ist die Information, ob ein Werk überhaupt von seinem Autor selbst publiziert oder wenigstens (in einer bestimmten Gestalt) autorisiert ––––––––– durch den Autor.« – Für irreführend halte ich dementsprechend die – offensichtlich an Scheibes Definition der »Autor-Autorisation« orientierte – Formulierung bei Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methoden und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 137: »Im editorischen Sinne gelten alle vom Autor oder in seinem Auftrag von anderen angefertigte Textträger […] als autorisiert, d. h. sie enthalten einen zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Autor gebilligten Text« (Hervorhebungen von mir). 88 Wolfgang Thierse: Thesen zur Problemgeschichte des Werk-Begriffs. In: Zeitschrift für Germanistik 6 (1985), S. 441–449, hier S. 449. 89 So auch Červenka: Textologie (s. Anm. 31), S. 143–149. 90 Vgl. das Beispiel bei Kölbel: Werk (s. Anm. 51), S. 43, der aber in seiner Formulierung, eine vom Autor (hier Flaubert) nicht autorisierte Textgestalt manifestiere »sich durchaus als Werk, aber nicht unbedingt als eines von Flaubert« (Hervorhebung von mir), recht vage bleibt. – Ein weiteres naheliegendes Beispiel wäre die als Werk Nietzsches (aber nicht von diesem) veröffentlichte und wirksam gewordene Textkompilation Der Wille zu Macht.
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wurde, je nach verfolgtem Erkenntnisinteresse nicht ganz unwichtig. Sie dem Leser vorzuenthalten wäre m. E. unredlich. Aus der angedeuteten wirkungshistorischen Perspektive heraus hat vor allem Henri Poschmann die These vertreten, »daß sich im Verlauf der Wirkungsgeschichte die Grundsubstanz des Stückes immer wieder behauptet und durchgesetzt«91 habe. Die Wirkungsgeschichte wäre demnach eine Art Bewährung oder ein Prüfverfahren für den Werkstatus eines Textes. Mir ist allerdings nicht ganz klar, was genau mit »Grundsubstanz des Stückes« gemeint sein soll. Jedenfalls wird ein dialektischer Zusammenhang behauptet zwischen einer Eigenschaft des Überlieferten und dem »unleugbaren Platz, den Büchners ›Woyzeck‹ tief verankert im literarischen Bewußtsein einnimmt«.92 Richtig ist: Teile der fragmentarisch überlieferten Entwürfe haben als Werk (zunächst als Wozzeck, dann als Woyzeck) Georg Büchners gewirkt.93 Es liegen – seit Franzos’ Teilpublikation von 1875 – mehrere94 recht heterogene Transformationen (scil. Transkriptionen und Textkonstituierungen) der Entwürfe in einen je spezifischen Werkzustand vor. Nach Maßgabe der je vertretenen Editionskonzeption, des Ausgabentyps, der antizipierten Benutzerinteressen, der literaturtheoretischen Position und der kunstontologischen Prämissen des Herausgebers, je nach vertretenem Autorbild95 und nach Beurteilung des Œuvres wird der ––––––––– 91 Poschmann: Dichtung der Revolution (s. Anm. 37), S. 241f.; vgl. ähnlich Klaus Kanzog: Wozzeck, Woyzeck und kein Ende. Zur Standortbestimmung der Editionsphilologie. In: DVjs 47 (1973), S. 420–442, hier S. 421: »denn unabhängig von der Textbeschaffenheit hat sich doch stets das zentrale Problem und das Exemplarische des Stückes durchgesetzt, das auch seine Langzeitwirkung begründete.« 92 Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 116; vgl. auch ders.: Dichtung der Revolution (s. Anm. 37), S. 244: »Die Beweise für die Entdeckung, daß es ein Drama ›Woyzeck‹ von Büchner gar nicht gebe, mögen in sich noch so schlüssig sein. Gegen sie sprechen die unauslöschlichen Spuren der Wirkung im literarischen Bewußtsein des 20. Jahrhunderts. Sie verbürgen hinlänglich die unleugbare und letztlich unverfälschbare Existenz von Büchners ›Woyzeck‹.« 93 Vgl. hierzu nur Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. Königstein/Ts. 1975. 94 Vgl. Dedner: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 147–150 sowie den Forschungsüberblick bei David G. Richards: Georg Büchner’s »Woyzeck«. A History of its Criticism. Rochester, NY 2001, S. 52–83. 95 Vgl. grundsätzlich Fotis Jannidis: Autor, Autorbild und Autorintention. In: editio 16 (2002), S. 26–35, sowie Herbert Wender: Büchner-Bilder der Literaturwissenschaft. In: Peter Petersen / Hans-Gerd Winter (Hrsg.): Büchner-Opern. Georg Büchner in der Musik des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1997, S. 41–56.
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überlieferte Textbestand selektiv, in einer bestimmten Anordnung, formal vereinheitlicht und in redaktionell »von allen Schlacken gereinigte[r]«96 Gestalt eingerichtet präsentiert. Mit Gerhard Schmid bin ich der Auffassung, dass der Leser einer solchen Werkkonstitution klar erkennen können sollte, »daß er es mit ›Woyzeck. Nach den handschriftlichen Entwürfen Georg Büchners hergestellt und bearbeitet von N. N.‹ zu tun hat.«97 Selbst eine am Vergleichsmaßstab der »Werkvorstellungen eines Autors«98 (hier also etwa an der Druckvorlage zu Danton’s Tod)99 orientierte Kompilation einzelner Textelemente ändert grundsätzlich nichts an der »Fremdautorschaft des Werks«,100 stellt also ebenfalls nicht das Werk Büchners her. Mit der Veröffentlichung eines Textes – selbst wenn sie nicht durch den Autor bzw. nicht autorisiert erfolgt – wird dieser in eine neue Materialität101 (u. a. eine bibliographische Kodierung) überführt und erfährt in diesem Gewand eine Vergesellschaftung, die ihrerseits nicht ohne Einfluss auf die Wahrnehmung, Verarbeitung und Wirkung des Textes bleibt. Es ist wichtig zu sehen, dass diese Wohleingerichtetheit eine verführerische Suggestivität besitzt, sofern sie der Bequemlichkeit102 der meisten (professionellen) Leser entgegenkommt. Ein naheliegender Kurzschluss deutet sich etwa in Theo Bucks Diktum an: »Rund 25 Druckseiten genügen dem Autor«.103 ––––––––– 96 So eine treffende Formulierung bei Gerhard Neumann: Der verschleppte Prozeß. Literarisches Schaffen zwischen Schreibstrom und Werkidol. In: Poetica 14 (1982), S. 92–112, hier S. 109. 97 Schmid: Probleme (s. Anm. 83), S. 225; vgl. auch Benn: Revolt (s. Anm. 30), S. 217: »The play which is known to theatregoers by the name of ›Woyzeck‹ can only with many reservations be said to be Büchners’s work; to a considerable degree it is the concoction of editors or producers.« 98 Wolfram Groddeck: Werkkomposition und Textgenese. Betrachtungen zur ›Varianz‹ von Nietzsches Nachlaß. In: Christa Jansohn / Bodo Plachta (Hrsg.): Varianten – Variants – Variantes. Tübingen 2005, S. 189–199, hier S. 194. 99 Vgl. Dedner: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 109–117, S. 123 u. ö. 100 Spoerhase: Werk (s. Anm. 25), S. 343. 101 Vgl. hierzu Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22 (2008) [in Vorbereitung]. – Vgl. zur »Werkmaterialität« auch Spoerhase: Werk (s. Anm. 25), S. 313–320. 102 Vgl. Klaus Kanzog: Strukturierung und Umstrukturierung in der Textgenese. Versuche, Regeln für die Konstituierung eines Werkes zu finden. In: Scheibe/Laufer: Zu Werk und Text (s. Anm. 75), S. 87–97, hier S. 93: »Es ist bequem, gleichwohl von Werken zu sprechen, da man sich diese Texte [scil. die Woyzeck-Entwürfe] als ›Werke‹ wünscht.« 103 Buck: Bühne (s. Anm. 71), S. 172 (Hervorhebung von mir).
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Wenn nun aber ›der‹ Woyzeck nicht als Werk Georg Büchners vorliegt, wie soll der überlieferte Textbestand, wie sollen dessen Bestandteile bezeichnet werden? Lässt sich wenigstens von einem ›Woyzeck-Text‹ (bzw. von einem ›Woyzeck-Text‹) sprechen? Hierzu nur ein kurzer Hinweis: Der Ausdruck ›Text‹ ist mehrdeutig und vage; mehrdeutig, weil gleichzeitig mehrere verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks kursieren, die teilweise von der umgangssprachlich vertrauten erheblich abweichen,104 und vage, weil vorerst unklar bleibt, welche Gegenstände und Sachverhalte mit dem Ausdruck eigentlich bezeichnet werden sollen (und welche nicht). Roland Reuß105 etwa möchte den Textbegriff extensional auf diejenigen verbalsprachlichen Einheiten beschränken, die ihrer »topologischen Verfaßtheit nach strikt linear organisiert« sind, bei denen eine »paradigmatische Kombinatorik […] ausgeschlossen« ist und »alles an seiner Stelle« steht.106 Als zentrales Distinktionsmerkmal fungiert hier – und darin zeigt sich m. E. eine nicht verallgemeinerbare phonozentristische Sprachauffassung – die nicht an eine spezifische Materialität gebundene107 »Potentialität des Texts, laut vorgetragen zu werden«.108 Entwürfe zeichnen sich für Reuß demgegenüber durch »zahlreiche Unter- und Überschreibungen, Einfügungen, Streichungen, Restitutionen, NichtEntscheidungen und Unentscheidbarkeiten, kurz: eine Menge Unordnung«109 aus und lassen sich überdies »einfach nicht vortragen«.110 Während ich Reuß’ Ausführung zu den Spezifika von Entwürfen für zutreffend auch und gerade für die (Teile der) Woyzeck-Manuskripte halte, erscheint mir die Einengung des Textbegriffs111 wenig praktikabel. Dieser ––––––––– 104 Vgl. nur die Beiträge in Ulla Fix (Hrsg.): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Frankfurt a. M. 2002 und Stephan Kammer / Roger Lüdeke (Hrsg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart 2005, sowie den knappen Überblick bei Clemens Knobloch: Zum Status und zur Geschichte des Textbegriffs. Eine Skizze. In: LiLi 20.77 (1990), S. 66–87. 105 Vgl. zum folgenden auch Reuß: Schicksal (s. Anm. 16), S. 13–17. 106 Reuß: Werk (s. Anm. 48), S. 7. 107 Hier weisen Reuß’ Ausführungen eine gewisse Nähe auf zu Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 145–153. 108 Reuß: Werk (s. Anm. 48), S. 8. 109 Ebd., S. 7. 110 Ebd., S. 9. 111 Auch Spoerhase: Werk (s. Anm. 25), S. 289 schließt sich Reuß’ Vorschlag an: »Erst die Festlegung der Zeichenreihenfolge in einer verbindlichen Leseordnung (›Verfestigung‹ durch ›Linearisierung‹) läßt die schriftliche Überlieferung den Status eines Textes gewinnen.«
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(von der Büchner-Philologie ohnehin nicht beachteten) Sprachregelung zufolge wäre die hier infrage stehende verbalsprachliche Datenmenge weder partiell noch in toto als ›Text‹ zu bezeichnen. Das anderer Extrem wird markiert durch das von Gunter Martens aufgebrachte Konzept eines ›dynamisierten Textes‹;112 wobei ›Text‹ als editionsphilologischer terminus technicus nicht auf einen synchronen Einzelzustand beschränkt, sondern in diachronischer Perspektive erweitert wird. Allerdings gelingt dies nur, sofern sich die Definition nicht auf den Text allgemein, sondern auf den »Text eines Werkes«113 bezieht. Anders gesagt: Martens geht implizit von einem (ungeklärten) einheitsstiftenden Prinzip aus, das den Zusammenhang der distinkten Einzelzustände des ›dynamischen Textes‹ gewährleistet. Dessen ungeachtet wäre es dieser (von der Büchner-Philologie ebenfalls nicht beachteten) Sprachregelung zufolge möglich, von einem (dynamischen) ›Woyzeck-Text‹ zu sprechen (und entsprechend Differenzen, Diskontinuitäten und Brüche zwischen einzelnen ›Textzuständen‹ zu vernachlässigen). Ich halte allerdings beide Explikationen für kontra-intuitiv und unzweckmäßig und möchte demgegenüber vorschlagen, den Ausdruck ›Text‹ (in der Editions- und in der Büchner-Philologie) in einem eher gemeinsprachlichen Sinne zu gebrauchen zur Bezeichnung einer distinkten, satzübergreifenden, kohärenten Menge verbalsprachlicher Zeichen114 und je nach Bedarf näher zu bestimmen (a) durch Genitivkonstruktionen der Art ›Xs-Text‹ oder ›Text des/eines Xs‹ (also z. B. ›Entwurfstext‹ oder ›Text der/einer Handschrift‹) sowie (b) durch spezifizierende Adjektive wie ›materiell‹, ›linguistisch‹, ›semiotisch‹ usw.115 – Nach dem Gesagten sollte jedenfalls deutlich sein, dass ich es für falsch halte, die Woyzeck-Entwürfe (partiell oder in toto) ein ›Werk‹ Georg Büchners zu nennen, und für undifferenziert, sie (in toto) als einen ›Text‹ zu bezeichnen. Ich möchte – ––––––––– 112 Vgl. Gunter Martens: Was ist – aus editorischer Sicht – ein Text? In: Scheibe/Laufer: Zu Werk und Text (s. Anm. 75), S. 135–156. 113 Ebd., S. 143; vgl. ebd., S. 137: »daß die verschiedenen Stadien, die ein Werk innerhalb seiner Entstehung und Bearbeitung durch den Autor durchläuft, zu einem und demselben Text gehören« (Hervorhebung von mir). 114 Vgl. hierzu nur Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 5. Aufl. Berlin 2001, S. 10–20. 115 Orientieren könnte man sich hierbei an den terminologischen Vorschlägen bei Peter Shillingsburg: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning. Ann Arbor 1997.
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vorhersehbaren Verdächtigungen vorgreifend – betonen, dass damit kein (positives oder negatives) ästhetisches Werturteil verbunden ist. Die in der bisherigen Büchner-Forschung durchaus wahrgenommenen terminologischen Probleme haben im übrigen einige weitere alternative Bezeichnungen für Gesamtheit und Zusammenhang des Überlieferten provoziert; ins Spiel gebracht wurden u. a.: »›Woyzeck‹-Komplex«,116 »Woyzeck-Textkomplex«,117 »Fragmentkomplex«,118 »›Woyzeck‹-Handschriften«,119 »›Woyzeck‹-Plan«,120 »Text-Knäuel Woyzeck«,121 »Text-Partitur«,122 »Projekt«123 oder »work in progress«.124 Die Adäquatheit solcher Bezeichnungen hängt maßgeblich vom jeweiligen Verwendungskontext (der je erforderlichen Differenziertheit und Präzision) ab; sie grundsätzlich zu vermeiden, ist demnach nicht empfehlenswert. Immerhin lassen sie als behelfsmäßige Sammelbezeichnungen im Gegensatz zur Rede von ›dem Woyzeck‹ oder von ›Büchners Woyzeck‹ ein gewisses Problembewusstsein erkennen. Nachdem bisher nach adäquaten Bezeichnungen für den gesamten handschriftlich überlieferten Textbestand gefragt wurde, ist nunmehr erforderlich, nach Möglichkeiten einer Unterscheidung derjenigen Bestandteile der überlieferten Datenmenge zu fragen, die im Zuge textgenetischer Interpretation vergleichend einander gegenübergestellt werden (können). In Publikationen zu den Woyzeck-Fragmenten begegnet eine ganze Reihe von Bezeichnungen für aufgrund materieller oder inhaltlich-formaler Kriterien unterschiedene Texteinheiten. Zur Auswahl stehen (in ungeordneter Aufzählung)125 mindestens die folgenden (zuweilen auch ––––––––– 116 Poschmann: Dichtung der Revolution (s. Anm. 37), S. 242. 117 Poschmann: Kommentar (s. Anm. 82), S. 695. 118 Poschmann: Dichtung der Revolution (s. Anm. 37), S. 244. 119 Lothar Bornscheuer: Zur Benutzung der Ausgabe. In: Georg Büchner: Woyzeck. Kritische Lese- und Arbeitsausgabe. Stuttgart 1972, S. 3–11, hier S. 3 und 10. 120 Winkler: »Woyzeck« (s. Anm. 30), S. 135. 121 Poschmann: »Woyzeck«-Handschriften (s. Anm. 55), S. 335. 122 Kanzog: Wozzeck (s. Anm. 91), S. 430. 123 Vgl. Klaus Kanzog: Faksimilieren, transkribieren, edieren. Grundsätzliches zu Gerhard Schmids Ausgabe des »Woyzeck«. In: GBJb 4 (1984), S. 280–294, hier S. 283 und 289; vgl. ders.: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 38, sowie ders.: Strukturierung (s. Anm. 102), S. 92f. 124 Dedner: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 135. 125 Ich verzichte der Übersichtlichkeit halber auf Einzelnachweise und einfache Anführungszeichen.
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kombinierten) Ausdrücke: Fassung, Entwurf, Version, Entstehungsstufe, Teilentwurf, Bruchstück, Fragment, Endredaktion, Vorform, Notizen, draft, sketch, Textreihe, Szenengruppe, Handschrift (H), Niederschrift, Reinschrift, Abschrift, Arbeitsmanuskript, Textgruppe, Textstück, Skizze, Entwurfsreihe, Bearbeitung, Schicht, Überarbeitung, Paralipomenon, Ansatz, Ausführung, Partie, Textzustand, Vorarbeit, Überlieferungsträger, Textzeuge, Kompositionsstufe, Phase, Texteinheit, Teiltext, Textteil. Während rein materiell bestimmte Einheiten (z. B. ›Quarthandschrift‹) in praxi wenig Anlass zu Beanstandungen geben, werden Ausdrücke, die implizite Bewertungen und subjektive Interpretationen der einzelnen Texteinheiten und ihres Verhältnisses zueinander beinhalten, zuweilen mit Kritik bedacht. Zu diskutieren sind hier vor allem die Bezeichnungen ›Fassung‹ und ›Entwurf‹. ›Fassung‹ – terminologisches Sorgenkind der Editionsphilologie – ist ein mehrdeutiger Relationsausdruck: Von einer Texteinheit lässt sich immer nur sagen, sie sei eine ›Fassung von X‹, wobei das fragliche X in der Regel mit ›Text‹ oder ›Werk‹ angegeben wird. Überdies ist zu bedenken, dass eine Fassung »ist was sie ist, immer nur als die andere (mindestens) einer anderen.«126 D. h. es wäre unsinnig, etwas als ›Fassung von X‹ zu bezeichnen, wenn es nicht wenigstens einen weiteren Gegenstand gäbe, der ebenfalls ›Fassung von X‹ genannt werden kann. Nun gibt es mindestens drei Auslegungen dieser Relation, die sich schematisch ungefähr so wiedergeben lassen (a) W(F1, F2, …, Fn), (b) Wt1(F1), Wt2(F2), …, Wtn(Fn) oder (c) F1, F2, …, W(Fn); d. h. entweder (a) ist das Werk die Menge aller überlieferten Fassungen, (b) jede Fassung stellt zu einem bestimmten Zeitpunkt t vorübergehend das Werk dar oder (c) das Werk ist identisch mit einer Fassung und exponierter Bezugspunkt aller übrigen. Da Fassungen in der Regel als »Ausführungen eines insgesamt als identisch wahrgenommenen Werks«127 begriffen werden, hängt die Klärung des Ausdrucksgebrauchs maßgeblich von der Explikation der Bezugsgröße ab. ›Werk‹ meint hier entweder eine (oder mehrere) veröffent––––––––– 126 Roland Reuß: »Michael Kohlhaas« und »Michael Kohlhaas«. Zwei deutsche Texte, eine Konjektur und das Stigma der Kunst. In: Berliner Kleist-Blätter 3 (1990), S. 3–43, hier S. 5, Anm. 8. 127 Bodo Plachta [Art.] Fassung. In: Klaus Weimar (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 567–568, hier S. 567; vgl. auch Siegfried Scheibe: Editorische Grundmodelle. In: Scheibe/Laufer: Zu Werk und Text (s. Anm. 75), S. 23–48, hier S. 25: »vollendete oder nicht vollendete Ausführungen eines Werkes« (Hervorhebung von mir).
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lichte Textgestalt(en), zu der/denen die übrigen (möglicherweise ebenfalls publizierten) Fassungen in Relation (z. B. »in einem genetischen und/oder formal-inhaltlichen Zusammenhang«) stehen128 oder so etwas wie ein sich in distinkten Etappen kontinuierlich entwickelndes, ungeachtet partiell voneinander abweichender Realisationen gleichbleibendes Substrat eines zeitlich zerdehnten Produktionsprozesses. Unbeantwortet bleibt die (hier besonders virulente) Frage, ob sinnvoll von ›Fassungen‹ nichtpublizierter Texte gesprochen werden kann. Überdies gestaltet sich eine Abgrenzung zum Ausdruck ›Entwurf‹ (zumal beide abgeleitete Relata von ›Werk‹ sind) schwierig, da beide sowohl (intensional) Merkmale wie (extensional) Anwendungsfälle gemeinsam haben. Allerdings sind beide Ausdrücke weder ko-intensional noch ko-extensional: Es gibt Fassungen, die nicht Entwürfe sind (nämlich Werke) und es gibt Entwürfe, die (als vereinzelte) nicht Fassungen sind. Dennoch werden die Ausdrücke ›Entwurf‹ und ›Fassung‹ zuweilen synonym verwendet. Der Relationsausdruck ›Entwurf‹129 bezeichnet eine begrenzte textuelle Datenmenge, die – als ›Entwurf zu/von X‹ – in Form einer Nochnicht-Relation entweder (a) auf eine konkrete andere (in relativer Chronologie stets spätere) begrenzte textuelle Datenmenge (›Werk‹) oder (b) eine noch nicht realisierte, lediglich als Abstraktion (oder Projektion) greifbare Einheit bezogen ist. Entwürfe stellen Gegebenheiten der Überlieferung dar, »deren Zustand vom Autor nicht ›fixiert‹ wurde«;130 prinzipiell zeichnen sie sich durch ein Abweichen von syntagmatischer Linearität und Fixiertheit (sowie allgemein durch Unfertigkeit) aus. Denkbar wäre auch, mit ›Entwurf‹ nur diejenige textuelle Einheit zu bezeichnen, die – etwa im Gegensatz zum entstehungsgeschichtlich bedingten Fragment – »den Text bewußt in einer vorläufigen, für Veränderungen offenen und ––––––––– 128 Martens: Werk (s. Anm. 32), S. 181 spricht von einem »Werkzusammenhang«: »Ein Werkzusammenhang ist eine Gruppe von Texten, die in einem genetischen Zusammenhang mit einem Werk stehen. Einem Werkzusammenhang können Texte verschiedener Art zugehören: Stichwortnotizen, Vorentwürfe, Entwürfe, Reinschriften und auch selbst wiederum mehrere Werke.« 129 Eine systematische Explikation des Ausdrucks fehlt meines Wissens; vgl. aber Roger Lüdeke: [Art.] Entwurf. In: Hans Walter Gabler (Hrsg.): Kompendium der Editionswissenschaft. http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD1/A2/Entwurf-A2-RL.html (gelesen am 27.04.2008), sowie Pierre-Marc De Biasi: What is a Literary Draft? Towards a Functional Typology of Genetic Documentation. In: Yale French Studies 89 (1996), S. 26–58. 130 Spoerhase: Werk (s. Anm. 25), S. 289.
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der ›Aufhebung‹ auf einer endgültigen Stufe bedürfenden Gestalt fixiert.«131 Allerdings wird der Nachweis einer beabsichtigten, bewussten Vorläufigkeit hier im Einzelfall schwer zu erbringen sein. Eine zweckmäßige Explikation von ›Fassung‹ müsste m. E. jedenfalls zeigen, dass es Gegenstände oder Sachverhalte gibt, die nur mit diesem Ausdruck (also nicht mit ›Werk‹ oder ›Entwurf‹) sinnvoll zu bezeichnen sind. Hierbei gilt: Fassungen (wie Entwürfe) sind Texte desselben Autors; bei einem (quantitativen oder qualitativen) Vergleich ergibt sich notwendig eine partielle132 Gleichheit oder Ähnlichkeit hinsichtlich paratextueller, formal-struktureller oder inhaltlicher Eigenschaften, wie z. B. die, dass die verglichenen Texte »dieselben zentralen Motive kombinieren«.133 Aus diesen Indizien wird – zuweilen im Rückgriff auf zusätzliche kontextuelle Informationen über den Arbeitsprozess134 – auf eine genetische bzw. genealogische Relation (ein ›Verwandtschaftsverhältnis‹) geschlossen. Das induktiv fundierte Argument gewinnt an Plausibilität, je größer die Menge der Übereinstimmungen zwischen den verglichenen Texten ist. Allerdings ist eine bloße Gleichheits- oder Ähnlichkeitsrelation nicht ausreichend (weshalb auch Texte als ›Fassungen‹ bezeichnet werden können, die keine gleichen Merkmale aufweisen).135 Es ist die primäre Funktion des Ausdrucks ›Fassung‹, eine – je nach Perspektive – genetische oder genealogische Relation zwischen mehreren Texten zu bezeichnen, für die der Nachweis einer (kontinuierlichen) Informationsübertragung erforderlich ist. Für die textgenetische Interpretation ist der Nachweis (oder wenigstens die Präsupposition) dieser Relation von entscheidender Bedeutung; denn sie begründet maßgeblich die hermeneutische Relevanz der fraglichen Kontexte, die ja u. a. darin besteht, dass diese nicht nur vom selben Autor (und aus dessen Œuvre), sondern aus demselben »Arbeitsprojekt im Umkreis einer Geistesbe––––––––– 131 Gerhard Schmid: Kommentar. In: WA, S. 52. 132 Vgl. die einschlägige Formulierung bei Scheibe: Grundmodelle (s. Anm. 127), S. 25: »durch Textidentität […] aufeinander beziehbar und durch Textvarianz voneinander unterscheidbar«. 133 Hans Zeller / Jelka Schilt: Werk oder Fassung eines Werks? In: Scheibe/Laufer: Zu Text und Werk (s. Anm. 75), S. 61–86, hier S. 83; vgl. auch das Schema bei Kanzog: Editionsphilologie (s. Anm. 123), S. 120. 134 Zu denken wäre etwa an entsprechende Äußerungen des Autors; vgl. Zeller/Schilt: Fassung (s. Anm. 133), S. 70. 135 Vgl. das instruktive Beispiel bei Wolfram Groddeck: Überlegungen zu einigen Aporien der textgenetischen Editionsmethode. In: Text. Kritische Beiträge 5 (1999), S. 27–41, hier S. 33.
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schäftigung mit spezifischen ›Kernen‹«136 bzw. aus demselben »Werkzusammenhang«137 stammen. (Ein Problem ist natürlich, dass die Gleichheit aufgrund einer Informationsübertragung bestehen soll, die ihrerseits aufgrund der Gleichheit erschlossen wird. Belege für die zu beweisende Dynamik und die Prozessualität des zerdehnten Übertragungsvorgangs sowie für die zugrundeliegende Disposition des Autors bzw. dessen Absicht, dasselbe Projekt weiterzuverfolgen, lassen sich in der Regel nur den infrage stehenden textuellen Kristallisationen selbst entnehmen.) Meiner Meinung nach lässt sich ein Teil dieses Zusammenhangs, scil. die sich sukzessive verschiebenden Gleichheits- und Ähnlichkeitsrelationen, tentativ mit Ludwig Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit138 erfassen und schematisch folgendermaßen veranschaulichen:139 Texteinheit T1 T2 T3 T4
A
B B
Text-Merkmale C C D C D D
E E
F
Wenn Fassungen eines Werkes anhand partieller Gleichheit hinsichtlich bestimmter Eigenschaften als solche zu identifizieren sind, so ergeben sich in diesem Beispiel widersprüchliche Zuweisungen,140 die möglichen Werke haben verschwommene Ränder. Während etwa die Texteinheiten T1 bis T3 aufgrund des allen gemeinsamen »zentrale[n] Motiv[s]«141 C ein ––––––––– 136 So eine treffende Formulierung bei Kanzog: Strukturierung (s. Anm. 102), S. 90. 137 Vgl. abermals Martens: Werk (s. Anm. 32), S. 180–182. 138 Vgl. grundsätzlich Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a. M. 2006, § 66–71, v. a. § 67: »Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ›Familienähnlichkeiten‹; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.« – Ein weiteres Bild, das Wittgenstein gebraucht, um seinen Gedanken zu visualisieren, ist das eines aus Fasern gewirkten Fadens: »Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.« 139 Das folgende Schema übernehme ich leicht modifiziert von Werner Strube: Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Paderborn 1993, S. 23. 140 Vgl. das ähnliche Beispiel bei Zeller/Schilt: Fassung (s. Anm. 133), S. 61f. 141 Ebd., S. 76.
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Werk bilden, haben die Texteinheiten T1 und T4 ersichtlich keine Merkmale (wohl aber ›Verwandte‹) gemeinsam; ein Zusammenhang wäre demnach anhand des Gleichheitskriteriums für sie nicht zu ermitteln. (Dieses Problem der Zuordnung ergibt sich für die Woyzeck-Entwürfe freilich nicht – oder allenfalls für H3. Abgesehen davon liegt hier kein abgeschlossenes Werk vor, von dem die Entwürfe – den einschlägigen Definitionen gemäß – Fassungen sein könnten.) Während der Ausdruck ›Fassung‹ in der Editionsphilologie als terminus technicus definitorisch eingeführt ist und (wie gesehen) an textuellen Gegenständen die Eigenschaft hervorhebt, dass sie Realisationen eines Werkes sind, also das Moment der konzeptionellen Einheit, Kontinuität und Homogenität exponiert, ist der Ausdruck in der Büchner-Philologie allenfalls durch unsystematischen sporadischen Gebrauch142 eingeführt und dient hinsichtlich der Woyzeck-Entwürfe dazu, das Moment der konzeptionellen Differenz, Diskontinuität und Inhomogenität zu betonen. Die sich wenigstens andeutende Kontroverse ist hier nicht primär143 mit der metasprachlichen Frage, ob und wie der Ausdruck ›Fassung‹ sinnvoll auf die unterschiedenen Texteinheiten anwendbar ist, sondern mit der sachlichen Frage befasst, ob während der Arbeit am »Woyzeck-Projekt« (Kanzog) eine »Änderung der Konzeption durch den Autor [erfolgte], die verschiedene ›Fassungen‹ zu unterscheiden erlaubt«.144 Wie Georg Guntermann richtig bemerkt, lassen sich in dieser Hinsicht grundsätzlich zwei verschiedene Parteien ausmachen:145 »Die Forschungsmeinungen hierzu haben sich hin- und herbewegt, zwischen Verfechtern einer Einheitsthese gewissermaßen, eines einheitlichen großen ›Wurfes‹, um den es sich beim Woyzeck handele, die davon ausgehen, daß Büchner hier wie auch in seinen anderen Werken ›von einer in den wesentlichen Punkten einheitlichen Konzeption‹ ausgegangen sei, und den Betrach––––––––– 142 Vgl. zu dieser Art des Eingeführtseins literaturwissenschaftlicher Fachausdrücke auch Harald Fricke: Literatur und Literaturwissenschaft. Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin. Paderborn 1991, S. 29: »Durch vielfältigen Gebrauch in verschiedenen sachlichen und historischen Kontexten sind diese Wörter mit einem gewissen Bedeutungsspektrum verbunden, aus dem nun der Literaturwissenschaftler je nach momentanem Bedarf mal diese, mal jene Bedeutungsnuance übernehmen kann – und oft genug wechselt sie sogar innerhalb ein- und desselben Kontexts.« 143 Vgl. aber die Hinweise bei Schmid: Kommentar (s. Anm. 131), S. 50–53. 144 Guntermann: Weltanschauung (s. Anm. 74), S. 111. 145 Ebd., S. 111f.; vgl. zum folgenden ebd., S. 111–114, sowie den hervorragenden Überblick bei Schmid: Kommentar (s. Anm. 131), S. 48–53.
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tern, die eine Entwicklung, einen Konzeptionswandel Büchners anhand der erhaltenen verschiedenen Fassungen und Bruchstücke ausfindig machen wollen.«
Während also etwa Alfons Glück apodiktisch feststellt: »Summe: Es handelt sich um eine Konzeption«146 und Gerhard Schmid – ebenfalls eine »in den Grundlagen beibehaltene Konzeption« ausmachend – betont, »daß die überlieferten Handschriften zu Büchners ›Woyzeck‹ als Bestandteil einer zusammengehörigen Fassung betrachtet werden müssen, die über mehrere Stufen in einem kontinuierlichen, wenn auch mehrfach unterbrochenen Arbeitsprozeß entstanden ist«,147 haben vor allem Egon Krause, Wilfried Buch und Heinz Wetzel die These einer grundlegenden Konzeptionsänderung vertreten.148 So betont etwa Buch (Werner R. Lehmann zitierend) nachdrücklich, »daß im Entwurfsstadium die Absicht eines Dichters wechseln«149 könne, und unterscheidet »vier Fassungen«,150 nämlich eine »Mord-Fassung« (H1,11–H1,20), eine »Eifersuchts-Fassung« (H1,1–H1,10 und H1,21), eine »Grotesk-Fassung« (H2) sowie eine »Leidens-Fassung« (H4; H3). Namentlich sieht er in der angeblich widersprüchlichen Charakteristik der männlichen Hauptperson eine Größe, die »eine einheitliche Konzeption […] sprengt«.151 Mit der Annahme einer konzeptionellen (i. e. gedanklichen, ideellen) Kontinuität kann (aber muss nicht) die Annahme eines zielgerichteten, ––––––––– 146 Glück: Woyzeck (s. Anm. 41), S. 180. 147 Schmid: Kommentar (s. Anm. 131), S. 52. – Diesen Kontinuitätsgedanken drückt Bornscheuer: Benutzung (s. Anm. 119), S. 10 deutlich organologischer aus: »Die ›Woyzeck‹-Handschriften sind eher ›Schichten‹ zu nennen und ihr Entstehungsprozeß ein motivisch-szenischer Anbauvorgang, als ein sprunghafter Wechsel von einer ›Fassung‹ zur andern. [...] Daß jeder der Wachstumsringe eine eigene Färbung zeigt, scheint ganz natürlich.« – Vgl. noch Inge Diersen: Louis und Franz, Margreth, Louisel, Marie. Zur Genesis des Figurenkreises und des Motivgefüges in den Woyzeck-Texten. In: Werner: Studien zu Georg Büchner (s. Anm. 83), S. 147–192, hier S. 147: »Die Textgruppen als Fassungen zu bezeichnen widerspricht ihrer Stellung in Büchners Arbeitsprozeß«. 148 Vgl. auch die Zusammenfassung bei Schmid: Kommentar (s. Anm. 131), S. 49, sowie die kritischen Hinweise bei Benn: Revolt (s. Anm. 30), S. 258–261. 149 Lehmann: Noten (s. Anm. 81), S. 52; vgl. Buch: Fassungen (s. Anm. 40), S. 7f. 150 Buch: Fassungen (s. Anm. 40), S. 66. 151 Ebd., S. 3; vgl. ebd.: »So wie es im Blick auf diese Lage nicht zulässig ist, vorbehaltlos von Büchners Tragödie ›Woyzeck‹ zu sprechen, so verbietet es sich auch, die Figur des Woyzeck als eine feste und einheitliche Größe zu behandeln.«
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planvollen, kontinuierlichen Arbeitsprozesses verbunden sein,152 den etwa Maurice B. Benn als Vorgang der ›Heilung des Imperfekten‹153 bewertet. Auch Hans Winkler (der als Pionier textgenetischer Interpretation der Woyzeck-Entwürfe gelten kann) sieht in der Textgenese »die fortschreitende Entwicklung eines Stoffes«.154 Die vergleichende Gegenüberstellung sogenannter »Parallelszenen« dient Winkler vor allem zur Begründung eines komparativen ästhetischen Werturteils hinsichtlich der einzelnen Entwürfe: H4 ist demnach (bis auf wenige Ausnahmen) durch Verkürzung und Verdichtung dem »Stoff« adäquater, in mancherlei Hinsicht »viel straffer aufgebaut, intensiver wirkend« (S. 69), »eindrucksvoller« (S. 70 u. 79), »gestrafft und gesteigert« (S. 71), »erheblich stärker und knapper« (S. 73), »ausführlicher und anschaulicher« (S. 75), »viel geordneter« (S. 75), »verbessert« (S. 77), »viel disziplinierter« (S. 79),155 »außerordentlich stark gesteigert« (S. 81), »verkürzt und konzentriert« (S. 82) usw. Selbst dort, wo diese Tendenz nicht sogleich evident wird (also etwa in H4,10), ist die spätere Szene dennoch »klar und durchsichtig gebaut« und – anders als die Vorlage(n) – »besonders klar« (S. 77). Winkler geht ersichtlich davon aus, dass sich an der Konzeption des Werkes im Wesentlichen nichts ändert,156 sondern »alle drei Fragmente [...] sich organisch auseinander entwickeln«: Einige Szenen »spalten sich auf dem Wege« von H1 zu H4, »andere wiederum ziehen sich zusammen, konzentrieren ––––––––– 152 Vgl. etwa die vielsagende Formulierung bei Dedner: Handlung (s. Anm. 65), S. 150: »Für die weitere Arbeit an dem Drama stellten sich dem Autor eine Reihe von Aufgaben.« 153 Vgl. z. B. Benn: Revolt (s. Anm. 30), S. 236: »The characterization [...] is still very sketchy and there is little more than a suggestion of the social background; so that the motivation of the hero's actions […] is also very imperfect. In the later drafts of the play Büchner addresses himself to the task of remedying these deficiencies.«; vgl. auch Heinz Wetzel: Die Entwicklung Woyzecks in Büchners Entwürfen. In: Euphorion 74 (1980), S. 375–396, hier S. 376, Anm. 2: »Benn sieht in der Folge der Entwürfe vor allem ein ständiges Fortschreiten in Richtung auf eine immer angemessenere Darstellung einer Problematik, die sich nach seiner Meinung nicht wesentlich ändert.« 154 Winkler: »Woyzeck« (s. Anm. 30), S. 19. 155 Zur Predigt der Handwerksburschen in H4,11 bemerkt Winkler: »Woyzeck« (s. Anm. 30), S. 80: »Vergleicht man die Predigt mit ihrem Vorbilde […] etwas genauer, so erkennt man die Steigerung«, denn die Szene »ordnet die Motive, Unwichtiges wird ausgeschieden. […] Die Pointe […] sitzt nun viel sicherer.« 156 Vgl. ebd., S. 141: »Die Handlung des ›Woyzeck‹ verändert sich mit den sich folgenden und sich entwickelnden Fragmenten in ihrem Bau, an sich bleibt sie unverändert.«
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sich um den wesentlichen Kern«.157 ›Der Woyzeck‹ dient Winkler demnach als ideales Konstrukt, ein sich gleich bleibendes Abstraktum, dem sich die konkreten textuellen Realisationen sukzessive annähern. Das hier zugrunde liegende Modell der Textgenese ist ersichtlich ein teleologisches. Die einzelnen Textzustände stehen hierbei in einem Verhältnis sukzessiver Progression: »Wie aus dem Vergleich der Fragmente hervorging, handelt es sich um drei Stufen, in denen uns die Entwicklung des ›Woyzeck‹-Planes erhalten ist.«158 Tatsächlich ist für jede textgenetische Interpretation der WoyzeckFragmente die Frage nach dem produktionshistorischen Zusammenhang und der relativen Eigenständigkeit (kurz: dem textgenetischen Status)159 der einzelnen Texteinheiten von zentraler Bedeutung. (So ist etwa H2 als Neuansatz, Ersetzung, ›auf Lücke‹ gearbeitete komplementäre Ergänzung oder Fortführung von H1 gedeutet worden.) Damit eng verbunden ist die Frage, welche Textelemente aufgrund welcher Eigenschaften verglichen werden können. In der Interpretationspraxis werden sowohl (auf der Makroebene) ganze Entwürfe, aber auch (auf der Meso- und Mikroebene) Szenen, Teilszenen, Szenenteile,160 Abschnitte, Repliken, Einzelstellen161 usw. – etwa aufgrund wörtlicher oder sachlicher Übereinstimmungen bzw. aufgrund struktureller Äquivalenz – einander gegenübergestellt, wobei H4 als dem teilweise reinschriftlichen, vorläufigen Endzustand der Textgenese eine Sonderrolle zukommt, zumal sich hier viele (zum Teil gestrichene) Elemente chronologisch älterer Textzustände mehr oder minder verändert wiederfinden. Schon der deskriptive Nachweis entsprechender Abweichungen oder Übereinstimmungen im Text––––––––– 157 Ebd., S. 87; vgl. aber die widersprüchliche Aussage ebd., S. 145: »Die Struktur der Handlung in den einzelnen Fragmenten ist verschieden, […] bedingt auch durch den im allgemeinen sich ändernden Plan zum ganzen ›Woyzeck‹.« 158 Ebd., S. 134f. 159 Vgl. hierzu ausführlich Schmid: Kommentar (s. Anm. 131), S. 24–54, sowie Dedner: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 109–136. 160 Ob eine Textmenge als Szene, Teilszene, Kurzszene, szenischer Einfall oder bloße Materialsammlung zu beurteilen ist, kann im Einzelfall unklar sein; vgl. Dedner: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 112–117. 161 Ein Aspekt der Textgenese, der hier außer Acht bleiben muss, ist die Änderung einer Textstelle innerhalb eines Entwurfs, also z. B. Sofortkorrekturen, waagerechte Streichungen oder Nachträge, die während der bzw. relativ zeitnah zur Niederschrift des Syntagmas erfolgten; eine Darstellung dieser Vorgänge findet sich in Georg Büchner: »Woyzeck«. MBA 7.1: Text. Hrsg. von Burghard Dedner und Gerald Funk unter Mitarbeit von Per Röcken. Darmstadt 2005, S. 129–168.
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bestand paralleler Szenen ist allerdings erheblich erschwert durch die für Büchners Handschrift charakteristischen Zeichen-Ambiguitäten, Abkürzungen, Auslassungen und Verschleifungen.162 Orientierungspunkte vergleichender Gegenüberstellung einzelner Szenen bieten (a) Verfahren synoptischer Texteinrichtung163 sowie (b) schematische Visualisierungen, die als synoptische Tabellen (nach Art eines genealogischen Stemmas) Abhängigkeitsrelationen und Informationsübertragungen verdeutlichen sollen164 und überdies Hinweise zur (möglichen) Streichung der jeweiligen Szene während des Schreibvorgangs beinhalten.165 Wenngleich eine »Parallelisierung vergleichbarer Texteinheiten« zum »Nachvollzug der Textentwicklung« als »wesentliche Dimension für die Beurteilung des Werkes«166 zu gelten hat, ist es teilweise schwierig, zwischen einem genetischen Abhängigkeitsverhältnis und bloßen »Motivkorrespondenzen«167 und vereinzelten »Formulierungsübernahmen«168 zu unterscheiden. D. h. es kann unklar sein, ob eine Szene »unmittelbar ––––––––– 162 Vgl. Burghard Dedner: Die Ordnung der Varianten. Erörtert aufgrund von Büchner-Texten. In: editio 19 (2005), S. 43–66, hier S. 59–62, sowie ders.: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 159–215. 163 Vgl. etwa HA I, S. 337–406 sowie MBA 7.1, S. 97–125. – Die Texteinrichtung der MBA geht allerdings – anders als das relativ statische Prinzip einer Parallelisierung einzelner Szenen – stärker von der Vorstellung eines exzerpierenden Abschreibens aus, von der »Vorstellung also, Büchner habe als Rechtshänder aus einer oder mehreren links von seinem Schreibpapier liegenden Vorlagen abgeschrieben« (S. 172). Entsprechende Übernahmen werden durch Rotmarkierung der Textelemente kenntlich gemacht. 164 Solche Tabellen finden sich u. a. bei Ursula Paulus: Georg Büchners »Woyzeck«. Eine kritische Betrachtung zu der Edition Fritz Bergemanns. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 226–246, hier S. 245; J. Elema: Der verstümmelte Woyzeck. In: Neophilologus 49 (1965), S. 131–156, hier S. 143; Lehmann: Noten (s. Anm. 81), S. 58; Egon Krause: Georg Büchner: Woyzeck. (s. Anm. 40), S. 261; Buch: Fassungen (s. Anm. 40), S. 15, Kanzog: Wozzeck (s. Anm. 91), S. 424; Walter Hinderer: Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977, S. 178–180; Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 159f.; Poschmann: Kommentar (s. Anm. 82), S. 697–703; Schmid: Kommentar (s. Anm. 131), S. 46; Georg Büchner: Woyzeck. Faksimile, Transkription, Emendation und Lesetext. Hrsg. von Enrico De Angelis. 2. Aufl. München 2002. S. 40–42. 165 Zur Praxis senkrechter Durchstreichungen vgl. auch Dedner: Editionsbericht (s. Anm. 65), S. 97 und S. 134–136 (mit Schlussfolgerungen zum Geltungsgrad der Szenen). 166 So Kanzog: Wozzeck (s. Anm. 91), S. 426. 167 Lehmann: Noten (s. Anm. 81), S. 56; vgl. Kanzog: Wozzeck (s. Anm. 91), S. 429. 168 Kanzog: Wozzeck (s. Anm. 91), S. 426; vgl. die Zusammenstellung entsprechender Elemente in MBA 7.1, S. 126f.
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als Vorlage diente oder ob die identischen Formulierungen [...] aus dem Gedächtnis in die Szene eingegangen sind«.169 Dabei gilt jedenfalls: Der Nachweis anhand wörtlicher Übereinstimmungen (i. e. Gleichheit) ist besser zu operationalisieren und besitzt eine größere Plausibilität als der subjektive Eindruck motivlicher Ähnlichkeit. Die größere Menge (und relative Dichte) wörtlicher Übereinstimmungen erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer direkten Abhängigkeit (dies gilt umso mehr, als größere Textmengen – selbst für Büchner – mnemotechnisch schwerer handhabbar gewesen sein dürften). Schließlich ist noch auf folgende Möglichkeiten genetischer Relation hinzuweisen: Eine Szene kann (a) auf mehrere Vorlagen zurückgehen (dies trifft etwa auf H2,3 oder H4,13 zu) oder (b) als Vorlage für mehrere Szenen dienen (z. B. H1,10). Eine Parallelität nur zweier Szenen wäre damit zumindest eingeschränkt.
3. Textgenetische Interpretation der Woyzeck-Entwürfe – einige unvorgreifliche Bemerkungen Zunächst eine Vorbemerkung: Ich verwende (ungeachtet editionsphilologischer Kritik an teleologischen Implikationen des Konzepts der Textgenese bzw. Textgenese)170 den Ausdruck ›textgenetische Interpretation‹ als heuristische Sammelbezeichnung für eine relativ heterogene Menge literaturwissenschaftlicher Verfahrensweisen, die sich weiter systematisieren ließen anhand einer Klärung des allgemeinen Interpretationsbegriffs.171 So hat etwa Werner Strube darauf aufmerksam gemacht, dass »alles Interpretieren interessengebunden und perspektivisch« ist.172 Verschiedene Typen literaturwissenschaftlicher Textinterpretation lassen sich demnach anhand des jeweils verfolgten Erkenntnisinteresses unterscheiden. Je nach Fragestellung werden verschiedene Textaspekte fokussiert und es ––––––––– 169 Kanzog: Wozzeck (s. Anm. 91), S. 428; vgl. auch Schmid: Kommentar (s. Anm. 131), S. 47. 170 Vgl. nur den Überblick bei Nutt-Kofoth: Textgenese (s. Anm. 2), S. 106f., sowie die kritischen Hinweise bei Reuß: Schicksal (s. Anm. 16), S. 12f. 171 Vgl. grundsätzlich Göran Hermerén: Interpretation: Types and Criteria. In: Joseph Margolis (Hrsg.): The World of the Art and the World. Amsterdam 1984, S. 131–161. 172 Werner Strube: Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation. In: Paul Michel / Hans Weder (Hrsg.): Sinnvermittlung. Zürich 2000, S. 43–69, hier S. 69; vgl. auch Strube: Analytische Philosophie (s. Anm. 139), S. 94: »Es gibt verschiedene […] typische Interessen, mit denen man wissenschaftlich an einen Text ›herangehen‹ kann«.
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werden je relevante Kontexte herangezogen. Auch kann der »systematisch mehrdeutige Begriff ›Interpretation‹ […] auf auslegende Tätigkeiten […] angewandt werden, die keinen Totalitätsanspruch erheben«.173 Texte werden also nicht nur »in ihrer Ganzheit«,174 sondern auch nur teilweise interpretiert. Hierbei legen literaturtheoretische Vorannahmen allererst fest, was als zu explizierende Bedeutung175 des Textes oder Textteils zu gelten hat und welche Eigenschaften dem literarischen Text oder seinem Urheber zuzuschreiben sind. Bei textgenetischen Interpretationen kommen überdies – ich habe dies für den Fassungsbegriff angedeutet – Annahmen über den Status und die Relation der untersuchten Gegenstände hinzu. Annahmen über die Arbeitsweise des Autors176 oder die Modalitäten der Textentwicklung fungieren als (eher selten induktiv gewonnene) Prämissen bestimmter argumentativer Strategien der Plausibilisierung oder Entkräftung von Interpretationsaussagen. Je nach Interpretationstyp gelten – soweit regelgeleitet vorgegangen wird – je spezifische methodische Standards,177 wobei der jeweilige modus operandi (die Form der Argumentation)178 hinsichtlich des jeweils verfolgten Ziels mehr oder weniger zweckmäßig sein kann. Zu beachten ist schließlich, dass die Interpretation eines Textes eine überaus »komplexe […] Tätigkeit [ist], die sich […] in unterschiedliche Handlungen, Aussagetypen, ––––––––– 173 Simone Winko: Lektüre oder Interpretation? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), S. 128–141, hier S. 133. 174 So Axel Spree: [Art.] Interpretation. In: Harald Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Berlin, New York 2000, S. 168–172, hier S. 168. 175 Vgl. grundsätzlich Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko: Der Bedeutungsbegriff in der Literaturwissenschaft. Eine historische und systematische Skizze. In: Dies. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin, New York 2003, S. 3–30. 176 Vgl. grundsätzlich: Klaus Hurlebusch: Den Autor besser verstehen: aus seiner Arbeitsweise. Prolegomenon zu einer Hermeneutik textgenetischen Schreibens. In: Gunter Martens / Hans Zeller (Hrsg.): Textgenetische Edition. Tübingen 1998, S. 7–51, sowie Hermann Zwerschina: Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese. In: Nutt-Kofoth et al.: Text und Edition (s. Anm. 27). S. 203–229. 177 Vgl. nur Simone Winko / Tilmann Köppe: Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft. In: Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart 2007, S. 285–371. 178 Ich meine damit folgendes: Literaturwissenschaftliche Praxis lässt sich – selbst wenn sie strengen präskriptiven Standards wissenschaftlicher Argumentation und logischer Gültigkeit faktisch nicht genügt – durchaus anhand schematischer Argumentationsmodelle (i. e. als argumentativ) rekonstruieren.
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Sprechakte o. ä. untergliedern«179 lässt und »nicht ausschließlich interpretierende Anteile«180 aufweist. Im weitesten Sinne textgenetische Beschreibungen oder Interpretationsaussagen können also auch als Bestandteil oder Segment eines Aussagenkomplexes funktional in verschachtelte Sprechhandlungs-Abläufe oder »mehrsträngige Argumentationen«181 eingebunden sein. Die textgenetische Perspektive kann dabei sehr wohl nur auf Text-Teile oder auf eine bestimmte Text-Ebenen beschränkt bleiben. Jedenfalls ist festzuhalten, dass die zur Unterscheidung bestimmter Typen literaturwissenschaftlicher Textinterpretation im allgemeinen angeführten Kriterien auch zur näheren Charakterisierung textgenetischer Interpretationen im speziellen dienen können. Grundsätzlich ist noch zu bemerken, dass es sich bei dem hier infrage stehenden Verfahren der Struktur nach um einen Vergleich182 handelt, also um ein Inbeziehungsetzen mindestens zweier Gegenstände zur Ermittlung ihrer Gleichheit, Ähnlichkeit oder Verschiedenheit. Erforderlich ist ein Vergleichsmaßstab oder Vergleichskriterium (tertium comparationis), eine jeweils verglichene Eigenschaft oder Beschaffenheit also. Hierbei gilt zunächst: (a) Ist der Vergleichsmaßstab die Gleichheit, so kann »nur das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen [...] Ergebnis des Vergleichs ––––––––– 179 Spree: [Art.] Interpretation (s. Anm. 174), S. 169; vgl. Werner Strube: Über Kriterien zur Beurteilung von Textinterpretationen. In: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der »Theoriedebatte«. Stuttgart 1991, S. 185–209, hier S. 187: »Wer einen Text interpretiert, tut vielerlei; unter anderem […]«. 180 Thomas Zabka: Pragmatik der Literaturinterpretation. Tübingen 2005, S. 13. 181 Vgl. Werner Sökeland: Erklärungen und Argumentationen in wissenschaftlicher Kommunikation. In: Theo Bungarten (Hrsg.): Wissenschaftssprache. München 1981, S. 261–293, hier v. a. S. 264. 182 Vgl. grundsätzlich Albert Menne: Einführung in die Methodologie. Elementare allgemeine wissenschaftliche Denkmethoden im Überblick. Darmstadt 1980, S. 91f. (dort auch die folgenden Zitate). – Dass der Vergleich eine hermeneutische Basisoperation darstellt, wurde schon mehrfach gesehen; vgl. nur Hendrik Birus: Das Vergleichen als Grundoperation der Hermeneutik. In: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hrsg.): Interpretation 2000. Position und Kontroversen. Heidelberg 1999, S. 95–117, sowie Seiji Hattori: »Vergleichen« als ein »Ritual« des Verstehens aufgrund des Ähnlichkeitsdenkens? Überlegungen zu einer literaturwissenschaftlichen Verfahrensweise am Schnittpunkt von Hermeneutik, Dekonstruktion und Kulturwissenschaften. In: Rituale des Verstehens – Verstehen der Rituale. Hrsg. von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. München 2006, S. 73–93. – Eine systematische historische und argumentationsanalytische Rekonstruktion vergleichender philologischer Methoden – oder besser: »Argumentationsweisen« (Harald Fricke) – steht allerdings derzeit noch aus.
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sein«; ist hingegen (b) die Ähnlichkeit gefragt, so kann es graduelle Abstufungen geben: »Die Ähnlichkeit kann mehr oder weniger groß sein.« (c) »Ist eine quantifizierbare Eigenschaft der Vergleichsmaßstab, so kann das Ergebnis des Vergleichs die Angabe sein, welches Vergleichsglied die Eigenschaft mehr besitzt.« Die Angabe erfolgt in der Regel mittels komparativer Adjektive, die entweder relativ neutrale graduell-quantitative (›mehr‹, ›weniger‹, ›größer‹, ›kleiner‹) oder aber evaluative Aussagen (›besser‹, ›schlechter‹, ›schöner‹, ›hässlicher‹) beinhalten. Welche Spielarten lassen sich nun bei der textgenetisch verfahrenden Interpretation (denn wie gesagt: es gibt auch nicht-interpretierende Formen des Umgangs mit Literatur)183 der Woyzeck-Fragmente unterscheiden? – Nach dem eben Gesagten: sehr viele. Auch ist hier die ohnehin sehr große Zahl verschiedener Erkenntnisinteressen und Gegenstände noch diachronisch erweitert. Es geht nicht mehr um die Struktur eines Textes, sondern um deren Veränderung (bzw. um mehrere Texte). Es kann mir deshalb hier nicht darum gehen, die verschachtelte Struktur einer – sagen wir – intentionalistischen gattungsbestimmenden Textinterpretation en détail nachzuvollziehen, sondern lediglich darum, einige Verwendungsweisen und (argumentative) Funktionen der Bezugnahme auf textgenetische Informationen vor dem Hintergrund entsprechender Vorannahmen zu rekonstruieren. Ein Interpret könnte zum Beispiel seine These, Büchners Woyzeck sei (in toto) mit der Gattungsbezeichnung »offenes Drama« zu belegen, damit stützen,184 dass er bei einem Vergleich der einzelnen Entwürfe eine an Beibehaltung oder Veränderung entsprechender Textbestandteile (als Generalisierung aus einer induktiv gewonnenen Datenmenge) abzulesende Tendenz zur Verstärkung derjenigen Merkmale als vom Autor intendiert185 nachweist, die üblicherweise zur Intension des fraglichen Gattungs––––––––– 183 Vgl. nur Simone Winko: [Art.] Textanalyse. In: Harald Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 597–601. 184 Eine andere mittels textgenetischer Argumente plausibilisierte These könnte demgegenüber lauten, die besagte Gattungsbezeichnung widerspreche »der Formintention des Autors, der die Züge des ›Offenen‹ oder ›Balladesken‹ im Schreibprozeß gerade zu eliminieren suchte« (so Dedner: Handlung, s. Anm. 65, S. 147). 185 Anders gesagt, unterstellt der Interpret, dass die konstatierten Veränderungen eine Tendenz abbilden und die Tendenz ihrerseits (un)mittelbar der Disposition/Intention
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begriffs gehören. Die herangezogenen Belege würde er dabei so auswählen und gewichten, dass sie sich zur Plausibilisierung seiner These als relevant und zweckmäßig erweisen. Er könnte dabei verschiedene Textebenen (z. B. Entwurf, Szene, Teilszene, Szenenteil, Dialogsequenz, Replik, Satz, Wort, Silbe) und verschiedene Textaspekte186 fokussieren (z. B. Stil, Form, Struktur, Inhalt, Thematik, Motivik, Art und Ausmaß der Einbeziehung externer – intertextueller oder interdiskursiver – Bezüge bzw. der Quellenverarbeitung, einzelne Figuren, deren Charakteristik und Konstellation,187 die Sprachgestalt). Und zwar würde er dies tun in Form einer Beschreibung und Deutung der diachronen Relation verglichener Textzustände mit dem Ziel, (a) eine Veränderung (oder gar Verbesserung) festzustellen und dieser sodann (b) Relevanz für das (angemessene oder gar bessere) ›Verständnis‹ zuzuschreiben. Dabei wären vermutlich Annahmen über Büchners Poetologie, seine Arbeitsweise (die zum Beispiel als planvoll und finalistisch aufgefasst wäre) und über den qualitativen Status der untersuchten Gegenstände (wenn man so will: ihren Verwandtschaftsgrad) unausgesprochen vorausgesetzt. Die Interpretation der Textgenese geht hierbei jedenfalls (soweit sie nicht ausdrücklich selbstbezüglich bleibt) der Interpretation mittels der Textgenese voraus, wobei gilt: »Die textgenetische Betrachtung und die deutende Interpretation bleiben wechselseitig aufeinander bezogen«.188 Hinzufügung, Wegnahme, Umstellung oder Auswechslung189 von Textelementen durch den Autor (oder das Fehlen von Veränderungen) müssen zunächst beschrieben und als bemerkenswerter, gerichteter,190 begründe––––––––– des Autors entspricht, d. h. er stellt die Frage – Burdorf: Gedichtanalyse (s. Anm. 4), S. 221 –, »was der Autor mit bestimmten Bearbeitungsschritten wohl beabsichtigt hat«. 186 Prinzipiell kann jede der Analyse zugängliche Gegenstandseigenschaft im Vergleich fokussiert werden. 187 Vgl. etwa Werner: Dichtungssprache (s. Anm. 29), S. 243: »Ein Vergleich der verschiedenen Szenenkomplexe gibt darüber hinaus die Möglichkeit, relativ genau zu verfolgen, wie die Figurenkonstellation aufgebaut wurde.« – Vgl. exemplarisch die im Ergebnis stark voneinander abweichenden Interpretationen von Diersen: Genesis (s. Anm. 147) und Wetzel: Entwicklung (s. Anm. 153). 188 Bücher: Beda Allemann (s. Anm. 14), S. 333. 189 Vgl. Dedner: Ordnung (s. Anm. 162), S. 44. 190 Vgl. Martens: Textkonstitution (s. Anm. 12), S. 85f.: »Die Änderungstendenz gibt dem Interpreten […] besonders dann sichere Hinweise, wenn die Überarbeitung verschiedener Textstellen auf dieselbe Richtung verweist. In vielen Fällen dürften Text-
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ter191 Vorgang interpretiert (bzw. bewertet) werden, ehe man dazu übergehen kann, sie für weitere Interpretationsaussagen zu funktionalisieren. Die unumgänglichen Konsequenzen sind eine »sich potenzierende Interpretationsbedürftigkeit«192 und eine erhebliche Komplexion der argumentativen Struktur. Insofern nun textgenetische Informationen im Rahmen komplexer Interpretationsaussagen je nach verfolgtem Erkenntnisinteresse und je nach Einbettung in eine Argumentationsstruktur bestimmte Funktionen (v. a. als Bestandteil eines Arguments oder als Beispiel)193 erfüllen können, dienen sie (1) der Entwicklung von Interpretationshypothesen oder (2) der Hypothesenprüfung; nämlich (a) der Plausibilisierung (bzw. der »Eingrenzung des Deutungsspielraums«)194 oder aber (b) der Entkräftung einer Bedeutungszuweisung.195 Im ersten Fall (a) werden sie direkt als positive Belege identifikatorisch gebraucht, wobei (wie gesagt) eine Identität der Intention oder Konzeption bei nur punktueller Varianz unterstellt wird. Im zweiten Fall (b) werden sie als negative Belege – etwa für »negative Ersatzproben«196 – kontrastiv verwendet, wobei ein (zumindest partieller) Konzeptionswandel angenommen wird. Im ersten Fall ist aus den Belegen zu ersehen, was die Bedeutung197 des späteren Textzustands ist, im zweiten Fall, was die spätere Version gerade nicht oder nicht mehr bedeutet. Je nach Perspektive wird hierbei entweder das Geän––––––––– interpretationen auf dieser Grundlage besser abgesichert sein als durch spekulative außertextliche Bezüge.« 191 Vgl. Stüben: Interpretation (s. Anm. 27), S. 287: »Nach dem Verlauf der Genese fragen, heißt auch nach den Gründen für die Änderung fragen, und dies ist interpretatorisch relevant«. 192 Simone Winko: Einleitung. Autor und Intention. In: Dies./Jannidis/Lauer/Martínez: Rückkehr des Autors (s. Anm. 24), S. 39–45, hier S. 40. 193 Vgl. zu dieser Unterscheidung Uwe Japp: Argument und Beispiel in der Literaturwissenschaft. In: Elrud Ibsch / Dick H. Schram (Hrsg.): Rezeptionsforschung zwischen Hermeneutik und Empirik. Amsterdam 1987, S. 171–184. 194 Martens: Funktion (s. Anm. 6), S. 86. 195 Dezidiert für eine Sinnfestlegung spricht sich Herbert Kraft: Editionsphilologie. Darmstadt 1990, S. 133–135 aus. – Oft wird indes darauf hingewiesen, der Vergleich verschiedener Textzustände könne dazu dienen, Bedeutungspotentiale zu eröffnen und zu differenzieren, bzw. verhindern, Bedeutung eindimensional festzulegen. 196 Vgl. ebd. sowie dazu kritisch Reuß: Schicksal (s. Anm. 16), S. 5. 197 Von einer Klärung des notorisch mehrdeutigen Ausdrucks ›Bedeutung‹ muss ich an dieser Stelle absehen.
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derte im sonst Identischen (das Nicht-mehr) oder das Identische im sonst Geänderten (das Immer-noch) besonders beachtet. In pro- oder retrospektiver Perspektive198 wird hierbei entweder die in relativer Chronologie frühere oder die spätere Texteinheit zum primären Interpretationsgegenstand, während die jeweils andere als Bezugsgröße (Kontext) fungiert. Entweder wird Späteres im Lichte des Früheren betrachtet (von der Bedeutung des Früheren auf die Bedeutung des Späteren geschlossen) oder es wird Früheres im Lichte des Späteren (von der Bedeutung des Späteren auf die Bedeutung des Früheren geschlossen)199 wahrgenommen. Man sagt also etwa (1) »T2 ist aus T1 geworden, woraus für T2 folgt, dass p« oder (2) »T2 wird aus T1, woraus für T1 folgt, dass p«. Der Blick in die »offenbar funktionierende Praxis«200 (auch und gerade der Woyzeck-Interpretation) zeigt allerdings – und es wäre zu fragen, warum dies so ist –, dass in der Regel der frühere zur Deutung des späteren Textes herangezogen wird. Textrelationen können freilich auch – dies ist eine etwas ›reflektiertere‹ Spielart – als dialektische Aufhebung201 früherer in späteren Varianten aufgefasst werden oder mit dem Hinweis darauf beschrieben werden, die punktuelle »Veränderung einer Werkstelle« bedinge zwangsläufig die »Varianz des Gesamttextes« – in den Worten Gunter Martens’: »In Bewegung bleibt immer der Text in seiner Totalität.«202 ––––––––– 198 Vgl. Stephan Kammer: Textur. Zum Status literarischer Handschriften. In: Hans Gerhard Senger (Hrsg.): Philosophische Editionen. Erwartungen an sie – Wirkungen durch sie. Tübingen 1994, S. 15–25; vgl. auch Nutt-Kofoth: Textgenese (s. Anm. 2), S. 108f. und 112f. 199 Etwa weil eine Bedeutung in T1 bereits latent enthalten, in T2 allerdings deutlicher realisiert wird; vgl. hierzu erhellend (wenngleich bezogen auf verschiedene Werke eines Autors) Jerold Levinson: Work and Oeuvre. In: Ders.: The Pleasures of Aesthetics. Philosophical Essays. Ithaca 1996, S. 242–273, hier S. 251. 200 Simone Winko: Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis. In: Detering: Autorschaft (s. Anm. 2), S. 334–354, hier S. 336. 201 Vgl. etwa Martens: Textkonstitution (s. Anm. 12), S. 83: »Die Bedeutungserweiterung und -differenzierung, die sich durch die Analyse des Variantenmaterials ergibt, besteht also auch in diesem Fall darin, daß die entgegengesetzte Bedeutung der Vorstufen in der Endfassung nicht außer Kraft gesetzt, sondern dialektisch aufgehoben werden.« 202 Martens: Textdynamik und Edition (s. Anm. 7), S. 172 und S. 174. – Eine gewisse Komplexion erfährt die textgenetische Interpretation mit Martens’ Konzept eines ›dynamischen Textes‹, dessen Pointe ungefähr so geht: Wenn alle varianten, in einem genetischen Verhältnis stehenden Einheiten in die Extension eines umfassenden Textbegriffs eingeschlossen sind, erfasst eine Text-Interpretation den Text nur dann voll-
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In Interpretationstexten zu Büchners Woyzeck begegnen – je nach Erkenntnisinteresse, einbezogener Textebene und fokussiertem Textaspekt, je nachdem auch, wie die Frage nach dem Status der Fragmente (bzw. der Textmenge in toto) beantwortet wird – viele verschiedene Spielarten der Bezugnahme auf textgenetische Informationen. Vorherrschend ist dabei – dies mag daran liegen, dass es ja um die Arbeitsweise des Autors geht203 – eine autorintentionalistische Bedeutungskonzeption. Bei allen Unterschieden im Detail ähneln sich die Forschungsbeiträge in ihrer argumentativen Struktur und ihrer Vorgehensweise. Ein früherer Textzustand wird als Vergleichsfolie herangezogen, wobei sehr häufig das – durch synoptische Texteinrichtungen erheblich erleichterte – Verfahren einer Gegenüberstellung mehrfach variant überlieferter Parallelszenen begegnet; zum Beispiel also eine Gegenüberstellung von H2,1 und H4,1 hinsichtlich der Motivik204 oder ein Vergleich von H2,6 und H4,8 hinsichtlich der sich wandelnden Charakterisierung des Doktors.205 Im einzelnen sieht das so aus: (1) Es wird eine vergleichende Beschreibung der einzelnen Texteinheiten und Veränderungen vorgenommen (der eine gesonderte synchronische Beschreibung und Interpretation206 vorausgegangen sein kann). (2) Den beschriebenen Sachverhalten wird durch Auswahl und Gewichtung entsprechender Belege ein diachronisch-finalistisches Schema ––––––––– ständig, wenn man diese einbezieht; vgl. die vielsagende Formulierung S. 171: »Erst die Kenntnis der gesamten Veränderungen erlaubt eine präzisere Aussage über den Text selbst, macht ihn zum vollwertigen Partner im hermeneutischen Gespräch«. 203 Vgl. aus editionsphilologischer Perspektive Bohnenkamp: Autorschaft (s. Anm. 2) sowie dies.: Autor-Varianten. In: editio 17 (2003), S. 16–30; grundsätzlich zu den Funktionen des Autor-Konzepts: Winko: Autor-Funktionen (s. Anm. 200), passim sowie Fotis Jannidis: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext. In: Ders./Lauer/Martínez/Winko: Rückkehr des Autors (s. Anm. 24), S. 353–389. 204 Vgl. zum Vergleich dieser Szenen u. a.: Winkler: »Woyzeck« (s. Anm. 30), S. 67–71; Benn: Revolt (s. Anm. 30), S. 246; Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner. Persönlichkeit, Weltbild, Werk. Heidelberg 1978, S. 290–295; Werner: Dichtungssprache (s. Anm. 29), S. 246–254, sowie Diersen: Genesis (s. Anm. 147), S. 170–172. 205 Vgl. zum Vergleich dieser Szenen u. a.: Winkler: »Woyzeck« (s. Anm. 30), S. 74f.; Albert Meier: Georg Büchner: »Woyzeck«. München 1980, S. 47–51; Diersen: Genesis (s. Anm. 147), S. 180f., sowie Udo Roth: Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners »Woyzeck« unter besonderer Berücksichtigung von H2,6. In: GBJb 8 (1990–1994), S. 254–278. 206 Vgl. Hartung: Technik (s. Anm. 60), S. 206f. und S. 229, Anm. 8.
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unterlegt. Dies geschieht in der Regel durch den Nachweis einer »Tendenz« oder »Richtung«.207 (3) Unter Bezugnahme auf eine Bedeutungstheorie wird darauf geschlossen, »was Büchner mit seiner Umarbeitung erreichen wollte«,208 kurz: auf Büchners künstlerische Intention oder Disposition. D. h. es wird unterstellt, die Änderungen seien absichtsvoll, in ihnen spiegele sich also Büchners bewusste Gestaltungsabsicht wider. (In der Praxis können Teile dieser Argumentation implizit sein und müssen erschlossen werden.) Das entsprechende Argument zu (3) sieht stark vereinfacht etwa so aus: Wenn Büchner X zu Y verändert, will er, dass Y statt X gilt (praemissa maior). Büchner veränderte X zu Y (praemissa minor). Ergo: Büchner wollte, dass Y statt X gilt (conclusio). Bedeutungstheoretisch erweitert gilt: Was Büchner wollte (und vor allem: was er eben nicht mehr wollte), ist Maßstab der Bedeutungszuschreibung. Und: Als zur Plausibilisierung einer Bedeutungszuschreibung dienender Kontext besitzt das ––––––––– 207 Vgl. u. a. Benn: Revolt (s. Anm. 30), S. 218: »to ascertain at least the direction in which Büchner was working«; Wetzel: Entwicklung (s. Anm. 153), S. 376: »ist das Ziel, zu dem sie [scil. die Entwürfe] tendieren, am ehesten aus der Richtung zu erkennen, in die sie sich entwickelten«; Werner: Dichtungssprache (s. Anm. 29), S. 244f.: »Der Vergleich der Textfassungen ermöglicht noch die Feststellung weiterer Akzentuierungen, die Büchner im Prozeß seiner Arbeit vorgenommen hat«; Poschmann: Probleme (s. Anm. 35), S. 144f.: »Ausprägung von Gestaltungstendenzen, die von Entstehungsstufe zu Entstehungsstufe deutlicher werden«; Poschmann: Dichtung der Revolution (s. Anm. 37), S. 249: »Auskunft über die Richtung, in die Büchner sich mit der stufenweisen Weiterentwicklung des Stücks bewegte, gibt der Vergleich dieses Fragments mit den früheren Ausarbeitungen«; Günter Hartung: Woyzecks Wahn. In: Weimarer Beiträge 7 (1988), S. 1102–1117, hier S. 1111: »Alle genannten Tendenzen setzen sich in der Endfassung des Fragments fort und erhalten dort ihre stärkste Ausprägung.«; Glück: Woyzeck (s. Anm. 41), S. 180: »Konzeption, die schrittweise ausgearbeitet wurde in Richtung auf eine zunehmende Vertiefung«, sowie Große: Woyzeck (s. Anm. 71), S. 24: »Tendenzen, die sich während der Entstehungsstufen ausmachen lassen«. 208 Lehmann: Noten (s. Anm. 81), S. 60. – Vgl. auch Burghard Dedner: »Wie ein Mensch der stirbt.« Über Schreib-Lern-Prozesse in Büchners »Woyzeck«. In: Der Deutschunterricht 6 (2002), S. 34–46, S. 45: »Die Entwurfshandschriften sind überliefert, viele Szenen tauchen in ihnen doppelt, nämlich auf einer früheren und einer späteren Entwurfsstufe, auf, und dies erlaubt es, im Szenenvergleich den Lernprozess des Dichters zu studieren und über die Absichten seiner Umänderungen Vermutungen anzustellen.«; vgl. auch Diersen: Genesis (s. Anm. 147), S. 169: »Wo überarbeitete Szenen den Vergleich ermöglichen, läßt sich Büchners Absicht klar erkennen, den dramaturgischen Bau weiter zu lockern«.
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fragliche X seine hermeneutische Relevanz aufgrund (a) seiner Nähe zum Y (nämlich: es stammt vom Autor, ist – wie Alfons Glück das ausdrückt – »in seinem Phantasiehorizont aufgetaucht«,209 bei der Arbeit an demselben Projekt und weist eine gleiche, ähnliche oder analoge ko-textuelle Einbettung210 bzw. ›Parallelität‹ auf) sowie (b) weil es (hier) in einem bestimmten Negations-Verhältnis zum Y steht. Die im Titel dieses Aufsatzes aufgeworfene Frage nach Möglichkeiten und Grenzen textgenetischer Interpretation ›des Woyzeck‹ lässt sich schließlich perspektivieren vor dem Hintergrund dezidierter Kritik und Ablehnung besagter Vorgehensweise. Am radikalsten und nachdrücklichsten wurde eine solche von Roland Reuß vorgetragen, dessen These sich folgendermaßen wiedergeben lässt: »Zur ästhetischen Wertschätzung oder wissenschaftlichen Explikation einer Passage benötigt niemand die Kenntnis ihrer Vorstufe.«211 Diese biete »prinzipiell keine Hilfestellung«212 für die Interpretation. Reuß’ Begründung dieser Einschätzung verdient es – zumal wegen ihrer suggestiven Diktion –, hier vollständig zitiert zu werden:213 »Zudem gilt (und dies wiegt schwerer), daß jede bestimmte Stelle eines poetischen Textes sich nicht nur negativ gegenüber der betreffenden Stelle einer letztlich kontingenten Vorstufe, sondern schlechthin (sagen wir das ruhig: absolut) negativ gegenüber allen anderen Möglichkeiten sprachlicher Artikulation verhält. Etwas steht (wirklich) an seiner Stelle und alles andere (Mögliche) steht da nicht. Der Vergleich einer Vorstufe mit der konkreten Stelle eines Endtextes, auf den ersten Blick eine Bereicherung des Verständnisses (des Textes), schränkt diesen Gesichtspunkt der schlechthinnigen Ne––––––––– 209 Glück: Woyzeck (s. Anm. 41), S. 181: »als in seinem Phantasiehorizont aufgetaucht, zum Textsystem gehörig; es [scil. das Gestrichene] kann noch Fingerzeige auf die Gesamtintention enthalten«. – Hierzu ein Hinweis: Welche Bedeutungstheorie Glück hier implizit voraussetzt, ist schwer auszumachen, da er struktural-semiotische Konzepte (»Textsystem«) mit produktionspsychologischen (»Phantasiehorizont«) und hermeneutischen (»Gesamtintention«) konfundiert. 210 Der entsprechende Analogieschluss geht dann ungefähr so: Je größer die Menge gleicher Textelemente im Ko-Text der varianten Stellen, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer Bedeutungskontinuität, von der auch die abweichende Einzelstelle dominiert wäre. Anders gesagt: Aus einer Gleichheit der Textelemente wird auf eine Gleichheit der Bedeutung geschlossen. (Ob dies umstandslos möglich ist, möchte ich hier nicht näher ausführen.) 211 Reuß: Schicksal (s. Anm. 16), S. 5. 212 Ebd., S. 4. 213 Ebd., S. 5f. und S. 6, Anm. 16.
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gativität daher nur unnötig ein. […] Die Vorstufe macht, mengentheoretisch gesprochen, nur eine sehr kleine Teilmenge dessen aus, was an Negativität an jeder beliebigen Stelle eines poetischen Textes präsent ist.«
Das klingt einleuchtend und scheint keinen Widerspruch zu dulden. Die Frage ist nun freilich: Was genau »sagt das hier nicht Stehende über das, was hier steht?«214 Was ›hier nicht steht‹, hat jeweils verschiedene Qualitäten, die je nach bedeutungstheoretischem Rahmen sehr wohl für die Interpretation relevant sein können. Wie andere Äußerungen Reuß’ deutlich machen, geht er von der Verallgemeinerung einer bestimmten Literaturtheorie aus, unter anderem von der Annahme einer prinzipiellen »Polyvalenz der poetischen Sprache«215 und der Autonomie216 des einzelnen Werkes (bei ihm freilich ›Text‹ genannt). Mit der Ablehnung einer autorintentionalistischen Bedeutungskonzeption verlieren die auf den Autor zurückgehenden Entstehungsvarianten ihre hermeneutische Priorität bzw. sie sind anderen Alternativen nicht mehr vorzuziehen.217 Anders gesagt: Wird die Ermittlung der Autorintention zum Erkenntnisziel erklärt, so sind diejenigen Varianten, die aus Texten dieses Autors stammen bzw. auf dessen produktive Praxis verweisen, als Kontexte sehr viel relevanter als »alles andere (Mögliche)«.218 Reuß Ablehnung textgeneti––––––––– 214 Louis Hay: Text oder Genese: der Streit an der Grenze. In: editio 19 (2005), S. 67–76, hier S. 73 (allerdings mit produktionsästhetischem Hintergrund). 215 Reuß: Schicksal (s. Anm. 16), S. 3; vgl. ebd.: »Mehrdeutigkeiten als essentielle und integrale Bestandteile poetischer Texte« sowie S. 12–15. 216 Besonders deutlich wird dies in Reuß: Kohlhaas (s. Anm. 126), S. 10: »es ist ein Trugschluß zu meinen, man verstünde auch nur einen Satz eines poetischen Textes umfassender, gar besser, wenn man ihn mit einem anderen Satz eines anderen Textes (einer anderen Text-›Fassung‹) vergleicht. […] sprachliche Selbstbestimmung des jeweiligen Textes«. (Hervorhebung von mir). Reuß Äußerungen erinnert u. a. an Peter Szondis (Über philologische Erkenntnis, s. Anm. 8, S. 275f.) autonomieästhetisches Postulat, jedes literarische Kunstwerk besitze einen »monarchischen Zug«, eine immanente Bestimmung, »daß es nicht verglichen werde«. 217 Eine entsprechende Formulierung findet sich bereits in der Literaturtheorie des New Criticism, namentlich bei René Welleck / Austin Warren: Theory of literature. London 1949, S. 86; zitiert bei Bohnenkamp: Autorschaft (s. Anm. 2), S. 73f., Anm. 38; vgl. auch Ludwig: Schlüssel (s. Anm. 1), S. 204. 218 Reuß: Schicksal (s. Anm. 16), S. 6 empfiehlt den »Gebrauch von Wörterbüchern«, privilegiert bestimmte Kontexte, setzt also ein bestimmtes Verständnis »poetischer Sprache« voraus. Denkbar wäre ja auch der Gebrauch von Konkordanzen und Œuvre-immanenten Kontexten, die zu ihrer prinzipiellen »Negativität« in Bezug auf die zu interpretierende Stelle noch die Qualität hätten, vom Autor zu stammen bzw. in einer nachweisbaren (z. B. intertextuellen) Relation mit dem primären Interpretationsgegenstand zu stehen. Im Rahmen einer autorintentionalistischen Bedeutungs-
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scher Interpretation kann also nur vor dem Hintergrund bestimmter text- bzw. bedeutungstheoretischer Prämissen so apodiktisch ausfallen, tatsächlich ist sie m. E. genauso voraussetzungsreich wie ihr Gegenteil. Ich gehe (zusammenfassend) von folgenden differentialistischen Thesen219 aus: (1) So etwas wie die textgenetische Interpretation der Woyzeck-Entwürfe gibt es nicht. Gleichwohl lassen sich einige Spielarten derselben unterscheiden und exemplarisch beschreiben. Zu bedenken ist hierbei natürlich, dass es auch Formen nicht- oder nicht ausschließlich interpretierender Einbeziehung textgenetischer Informationen geben kann. Zu denken wäre etwa an kreativitätspsychologische Untersuchungen zur Schreibweise eines Autors. Eine grundsätzliche Abgrenzung ist hier oftmals schwierig. (2) Kriterien zur Beurteilung der Richtigkeit, des Glückens oder Missglückens220 textgenetischer Interpretationen lassen sich nicht absolut bestimmen, sondern nur relational für den jeweiligen Interpretationstyp bzw. für die einzelnen Elemente eines mehrsträngigen, zusammengesetzten Aussagenkomplexes, also etwa »relativ zu dem jeweils zugrunde gelegten Interesse des Interpreten«,221 gemessen an den jeweils vorausgesetzten bedeutungs-, literatur- und produktionstheoretischen Annahmen sowie den jeweils in Anschlag gebrachten argumentativen Standards.222 Mit dieser zweiten These ist wiederum angedeutet, dass eine pauschale Kritik oder gar apodiktische Ablehnung textgenetischer Interpretation als solcher nicht minder voraussetzungsreich ist wie entgegengesetzte Versuche, Relevanz und Nutzen besagter Interpretationskontexte zu erweisen. Hermeneutische Relevanz und Brauchbarkeit nämlich lassen sich zu- oder absprechen immer nur in Relation zur je-
––––––––– und Interpretationskonzeption sind Autor-Varianten jedenfalls als Interpretationskontexte näherliegend und relevanter – wie gesagt: sobald man methodologisch ein »Autor-Konzept« einsetzt. 219 Vgl. grundsätzlich auch Axel Spree: Drei Wege der analytischen Literaturwissenschaft. In: Journal of Literary Theory 1 (2007). S. 111–133, hier S. 118–121. 220 Vgl. Strube: Kriterien (s. Anm. 179), passim; ders.: Analytische Philosophie (s. Anm. 139), S. 113–130, sowie ders.: Analyse der Textinterpretation. In: Dilthey-Jahrbuch 5 (1988), S. 141–163, hier S. 161–163. 221 Axel Spree: Interpretation. In: Thomas Eichner / Volker Wiemann (Hrsg.): Arbeitsbuch Literaturwissenschaft. Paderborn 1996, S. 167–183, hier S. 182. 222 Vgl. hierzu die Hinweise bei Winko: Autor-Funktionen (s. Anm. 200), S. 336–339.
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weils vorausgesetzten »Bedeutungs- und Interpretationskonzeption«.223 Anders gesagt: Die regelgeleitete Selektion, Legitimation und Koordination als relevant eingestufter Kontexte erfolgt stets vor dem Hintergrund bedeutungstheoretischer und/oder methodologischer Prämissen. Ich komme zu einem (vorläufigen) Ende: Vieles habe ich nur andeuten können und zweifellos wären meine Ausführungen anhand ausführlicher argumentationsanalytischer Beispiel-Rekonstruktionen oder (besser) anhand umfassender empirischer Untersuchungen weiter zu differenzieren.224 Auch habe ich hier längst nicht alle theoretischen Voraussetzungen hinreichend darlegen können. Vor allem ging es mir darum, ein Forschungsprogramm vorzustellen.225 Jedenfalls kann ich nicht davon ausgehen, das skizzierte methodologische Problem auch nur im Wesentlichen gelöst zu haben. Selbst wenn, wäre damit ja bekanntlich lediglich gezeigt, wie wenig damit getan ist. Und doch, wenigstens hierin ist Roland Reuß zuzustimmen: »Viel ist schon gewonnen, wenn es gelingt, das Problem ins Bewußtsein zu heben.«226
––––––––– 223 Vgl. die Hinweise bei Lutz Danneberg: Philosophische und methodische Hermeneutik. In: Philosophia Naturalis 32 (1995), S. 249–269, hier v. a. S. 261f., sowie ders. / HansHarald Müller: Wissenschaftstheorie, Hermeneutik, Literaturwissenschaft. Anmerkungen zu einem unterbliebenen und Beiträge zu einem künftigen Dialog über die Methodologie des Verstehens. In: DVjs 58 (1984), S. 177–237, hier v. a. S. 198f. und 218f. – Vgl. überdies Winko: Lektüre (s. Anm. 173), S. 136: »Die Auszeichnung von Kontexten als relevant oder weniger relevant ist in jeder bedeutungszuschreibenden Handlung unumgänglich. Mit dem Akt der Hierarchisierung aber wird zumindest für die jeweils vollzogene Argumentation ein Relevanzraster erstellt, das Informationen gewichtet.« 224 Für die Interpretationspraxis zu Kafkas Vor dem Gesetz etwa liegt eine solche empirische Untersuchung vor: Els Andringa: Wandel der Interpretation. Kafkas »Vor dem Gesetz« im Spiegel der Literaturwissenschaft. Opladen 1994. 225 Eine Systematisierung der hier vorgetragenen Überlegungen werde ich demnächst im Rahmen meiner Marburger Dissertation – Textvergleiche. Zur historischen und argumentationsanalytischen Rekonstruktion der literaturwissenschaftlichen ›Parallelstellenmethode‹ – vorlegen. 226 Reuß: Kohlhaas (s. Anm. 126), S. 30.
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Wilson inszeniert Büchner oder Was ist unter der Oberfläche? Von Nora Eckert (Berlin) »Wir haben im Hochkünstlerischen noch einmal die ganze Welt. Kein Einlaß, kein Auslaß: nach Schließung des Kunstwerks.« (Botho Strauß: Die Erde ein Kopf. Dankrede zum Büchner-Preis 1989.)
Die wenig überraschende Entdeckung der Theaterkritik lautet: Eine Wilson-Inszenierung sehe immer wie eine Wilson-Inszenierung aus. Wer jedoch Augen zum Sehen hat, wird Wilsons Inszenierungen nicht miteinander verwechseln. Ihre Austauschbarkeit, also Beliebigkeit, ist dennoch eine stets wiederkehrende Behauptung in der medialen Wahrnehmung seiner Bühnenarbeiten. Sie ist verbunden mit dem Vorwurf des Dekorativen und Oberflächlichen. Nun enthält Wilsons Bühnenästhetik in der Tat wiederkehrende Elemente; ihr Wiedererkennungseffekt ist sozusagen garantiert. Wer aber nur die gespreizten Finger und die Langsamkeit, die minimalistische Lineatur der Bühne und die abgewinkelten Arme sieht, der hat so gut wie nichts von der Inszenierung verstanden. Wilson ist längst zu einem alten Bekannten geworden. Sein erster Auftritt liegt Jahrzehnte zurück, das Überraschende alles Neuen hat sich verflüchtigt. Sein Stil ist nicht mehr das Ereignis der Saison, sondern hat ein biographisches Format gewonnen; bald wird man vom Lebenswerk sprechen. Dieser Umstand erklärt vielleicht auch, warum Kritiker inzwischen gelangweilt reagieren. Ebenso häufig mischt sich in die Kritik der Vorwurf des Postmodernen. Ein zwar längst hinfälliger Modebegriff, aber als Verdikt immer noch beliebt. Künstlerisch betrachtet, ließe sich die Sache des Postmodernen als Kultur des Spiels, als Wiederentdeckung des verlorengegangenen ironischen Bewußtseins auch positiv bewerten. Wenn aber postmodern heißt, das Insistieren auf Neuheit durch die Freiheit der Kombination alter Formen zu ersetzen, dann dürften Wilson-Inszenierungen den Betrachter in jedem Fall ratlos machen. Denn, wo kombiniert und zitiert Wilson alte Formen? Haben wir auf Wilsons Bühne jemals eine historisch eklektizistische Stilmischung gesehen? In ihrer Künstlichkeit war 207
und ist Wilsons Bühne nie etwas anderes als modern – oder es gab nie eine moderne Bühne. Als das Feuilleton noch staunen konnte, galt Wilson als Bühnenmagier und kaum jemanden störte seine erklärte Interpretationsverweigerung. Heute, in deutungsbesessenen Theaterzeiten, wird dies als Sünde vermerkt. Nur stimmt es nicht. Wilson liebt die Irreführung, die freilich nur bemerkt, wer genauer hinsieht. Die stets wiederkehrende schöne, zumeist akkurat gezirkelte, von magischem Farblicht eingehüllte Oberfläche halten nur Kurzsichtige für immergleich. Als ob man einen Giorgio de Chirico oder einen Piet Mondrian dadurch zu verstehen glaubt, daß man das Sichtbare bilanziert, es bei steriler Architektur und ihren langen Schatten beläßt, bei reiner Geometrie aus Linien und Farbflächen. Nun gab de Chirico seiner Kunst nicht zufällig das Etikett der Pittura metafisica. Ohne Metaphysik werden auch Wilsons Inszenierungen nicht recht zu erklären sein. Auch wenn die Artistik der Form schon die Hauptattraktion seiner Regie zu sein scheint, herrscht darin vor allem keine Sinnleere. Wilson war noch nie ein Regisseur, der gerne Antworten gibt. Er stellt lieber Fragen. Die Schlüssigkeit, um nicht zu sagen Geschlossenheit seiner Farb-, Form- und Lichtevolutionen im Bühnenmaßstab muten freilich mehr als Antwort auf die Frage an, was schön sei, denn als eigentliche Frage, wie hält es der Regisseur mit dem Stück. Zu den wiederkehrenden Erfahrungen gehört aber beispielsweise die Aufwertung des Textes. Man hört bei Wilson besser. Ein Effekt, der durch die Choreographie der Handlungsabläufe noch unterstützt wird. Nie illustrieren die Bewegungen den Text, sie unterstreichen vielmehr seinen Eigenwert. Man sieht also nicht, was man hört. Eine naturalistische Darstellung kassiert hingegen den Text, degradiert ihn zur Regieanweisung. Eng verbunden wiederum sind Choreographie und Bühnenraum. Bewegung definiert Raum, der so niemals bloß dekorative Zutat sein kann. Im Gegenteil, Wilsons Bühnenräume sind Mitspieler. Wie genau Wilson die Texte liest, ihre jeweilige Stimmung erfaßt, zeigen ja nicht zuletzt seine Raum- und Bilderfindungen, die immer aus dem Text herausgelesen sind, übersetzt ins Zeichenhafte und Metaphorische. Hier wird ästhetische Übersetzungsarbeit geleistet. So penibel Wilson dabei vorgeht, so präzise erscheinen seine Bühnenbildstatements. Seine Sprache gilt gemeinhin als abstrakt und ist dennoch sehr konkret. Die Atmosphäre der Räume, ihre Weite oder Enge, ihre Konturen und Perspektiven, ihre 208
Farb- und Lichtwerte sind nie Selbstzweck. Nur das Dekorative genügt sich selbst. Weil nun Wilson-Inszenierungen immer eine bestimmte stilistische Sprache anwenden, verleiten sie zu dem Kurzschluß, ihr Design sei schon alles. Wer heute über Wilsons Inszenierungen spricht, gerät also leicht in die Defensive. Freilich erscheint mir Wilsons Regiekunst die Verteidigung wert und darum geht es hier. Es soll ein originärer Künstler gewürdigt werden, dessen Arbeit als ästhetischer Gewinn für das Theater des zwanzigsten Jahrhunderts zu verbuchen ist. Theater ist, wer wollte es leugnen, eine ephemere Kunst, eine Sache des Augenblicks. Es hat kein Gedächtnis, was die Theaterkritik nur beweist. Stets aufs neue müssen die Selbstverständlichkeiten des modernen Theaters verhandelt werden. So ist die Künstlichkeit der Bühne längst ein alter Hut und steht trotzdem immer wieder neu zur Abstimmung. Überhaupt ist die Bühne erst als durchschaute Täuschung möglich. Ihre ganze Anlage stellt seit jeher sicher, »daß man sie nicht mit der Alltagswelt verwechselt«, wie Niklas Luhmann in der Kunst der Gesellschaft vermerkt.1 So gesehen, ist die Künstlichkeit der Bühne die Voraussetzung, daß wir die theatrale Form als Kunst und nicht als bloße Mitteilung oder als menschliches Verhalten wahrnehmen. Im Leben mag es zuweilen theatralisch zugehen. Unsere ganze zivilisatorische Existenz erscheint uns wie ein Spiel mit verteilten Rollen und Masken. Doch sollten wir die Bühne nicht mit dem Leben verwechseln. Sie ist nicht das Leben, sondern erinnert uns allenfalls daran, daß wir im Leben ohne Spiel wohl nicht existieren könnten. Helmuth Plessner hat das in seiner Studie Grenzen der Gemeinschaft hinreichend nachgewiesen. Er kommt zu dem für unser Thema interessanten Schluß: »Die Gesellschaft lebt allein vom Geist des Spiels. Sie spielt die Spiele der Unerbittlichkeit und die der Freude, denn in Nichts kann der Mensch seine Freiheit reiner beweisen als in der Distanz zu sich selbst.«2 Das scheint für Wilsons Theaterauffassung wie maßgeschneidert. Das Bekenntnis zu Maske und Rolle, wie es jeder Theaterabend Wilsons ablegt, ist reinster Anti-Rousseau. Zwar agieren auf der Bühne Menschen und behaupten ein Leben, gleichwohl ist das Bühnenleben eine künstliche Erzeugung. Sie erfüllt vor allem einen Zweck: betrachtet zu werden. Ins Theater gehen wir, um etwas zu ––––––––– 1 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 177. 2 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Mit einem Nachwort von Joachim Fischer. Frankfurt a. M. 2001, S. 94.
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sehen und zu hören, im Anschauen mithin etwas zu erleben. Wir wollen uns im wahrsten Sinne des Wortes spielen sehen. Es gab einmal eine Zeit, da wollte die Bühne lebensecht wirken. Lebensecht wurde zum Gütesiegel für Spiel und Dekor. Umgekehrt gefiel sich das gesellschaftliche Leben in der Kategorie des Als-ob. In der Wirklichkeit spielte man Scheinwelt, das Leben wurde gewissermaßen fassadenhaft. Der Illusionismus war zu einer alles durchdringenden Denkhaltung geworden. Leben und Bühne konkurrierten um den überzeugendsten kulissenhaften Schein. Mit dem Ersten Weltkrieg zerbarsten die Idyllen und Spiegelsäle der Theater- und Gesellschaftswelt, obschon keineswegs der Realitätssinn Einzug hielt in die brüchig gewordene Kultur. Der Expressionismus trat auf und erlebte eine kurze und üppige Blüte. Modern war eine Zeitlang, was expressionistisch aussah. Alles Lebensechte war jedenfalls von der Bühne verschwunden. Gleichwohl blieben der Mensch und das Leben ihr Thema, jetzt eher drängender und ekstatischer. Der Kunstmensch und das Kunstleben wurden zum Normalfall der Bühne. Dramatiker wie Regisseure jagten die Welt durch die Stilisierungsmaschine, und herausgekommen war die Kunstwelt als Schrei und Aufschrei. Die Bühne kam zu sich selbst, denn sie wurde, was sie schon immer war: Kunst. Und die Natur der Kunst ist nun einmal ihre Künstlichkeit. Nur darin ist sie wahr. Der Expressionismus blieb bekanntlich nicht das letzte Wort in der immer wieder neu gestellten Stilfrage der Bühne, doch seit der damals so bezeichneten Retheatralisierung des Theaters blieb die Bühne ein Kunstraum. Der Rätselcharakter der Kunst war als Sinn des Theaters entdeckt worden. Wer den Sinn mit ein paar farbigen Dreiecken und Quadraten für erledigt hielt, dem antwortete man nicht zu Unrecht mit dem Vorwurf der Kunstgewerblichkeit. Die Künstlichkeit der Bühne war etwas anderes als ein Aufguß neuester Kunsttendenzen. Bis heute geht es darum, eine bestimmte Theatersprache zu finden. Deren Vokabular und Grammatik kann wechseln, sich erweitern, entscheidend bleibt eine mit Wort und Bewegung auffüllbare Form. Auch an der Künstlichkeit der Bühne kann ein Regisseur scheitern. Denn sie verlangt eine Geschlossenheit, die wir als ästhetische Konsequenz mit Absolutheitsanspruch erfahren, als eine Mischung aus Perfektion und Kompromißlosigkeit. Wilsons Bekenntnis ist in dieser Hinsicht unmißverständlich: »Ich bin überhaupt nicht an Naturalismus interessiert. Ich bin an Dingen interessiert, die künstlich sind. Ich denke, daß sie am natürlichsten sind. Wenn es um Kunst geht, die ja 210
künstlich ist, und man versucht vorzugeben, sie sei natürlich, dann ist das eine Lüge.«3 Verträgt sich das mit Büchner? Wollte der nicht, wie es in einem Brief an seine Familie heißt, Menschen aus Fleisch und Blut auf der Bühne sehen, »deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Thun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt«?4 Gewiß, aber das war als Verteidigung seines Revolutionsdramas und der zuweilen kraftstrotzenden, derben Sprache der Figuren gedacht, als Verteidigung gegen den Idealdichter Schiller mit seinen »Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos«.5 Büchner war kein Naturalist, aber doch wohl Realist in Fragen der Gesellschaftskritik. Seinen Lenz läßt er noch einmal die eigene Theaterauffassung verkünden: »Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sey das einzige Kriterium in Kunstsachen.«6 Wohlgemerkt, das ist gegen die idealistischen Gestalten à la Schiller geschrieben und sagt viel über Ethik, aber noch nichts über die Ästhetik. Verlangen also seine in Dramenform angelegten sozialen, psychologischen und politischen Befunde nach schärfstem Realismus? Wie kann dieser historisch gewordene Realismus heute aussehen? Büchner wählte für seine Gesellschaftsanalysen die literarische und dramatische Form. Er drückte sich in Kunst aus, nicht in wissenschaftlicher Theorie. Auch hat er wohl keine Tendenzliteratur geschrieben, wie man das in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nannte, als die literarischen Gattungen in die Schule der Soziologie gegangen waren. Engagiert war Büchners Kunst in der Wahl avanciertester Mittel. Genau darin war er unzeitgemäß modern – eine Ausnahmeerscheinung der biedermeierlichen Theaterlandschaft. Die Struktur seiner Stücke, ihr jeweiliger Charakter, verschließt sich nicht der artistischen Form bei Wilson. Büchners Kunst und Wilsons Kunstauffassung erscheinen mir jedenfalls hinreichend kompatibel. Ein unübersetzbarer Rest mag bleiben und ebenso das Wissen, daß man auf der Bühne alles auch anders machen kann. Büchner und Wilson verbindet das Bewußtsein von der Bühne als einer eigenen Welt. Ohne Leben gibt es zwar ––––––––– 3 Zit. nach einem nicht mehr zu ermittelnden Interview mit Robert Wilson. 4 Briefwechsel, S. 75. 5 Ebd. 6 GW VII, S. 56.
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keine Kunst, aber Kunst bleibt dem Leben gegenüber ein autonomes Gebiet. Soziale und politische Probleme werden mit einem Theaterstück nicht gelöst, höchstens ausgesprochen. Die gesellschaftliche Praxis findet nicht auf dem Seziertisch der Künstler statt. »Wer das Leben organisieren will, wird nie Kunst machen«, äußerte der Expressionist Gottfried Benn, »Kunst machen […] heißt vom Standpunkt des Künstlers aus, das Leben ausschließen, es verengen, ja es bekämpfen, um es zu stilisieren.«7 Mit einem solchen künstlerischen Selbstverständnis scheinen Büchners Theatermaximen nur schwer vereinbar, aber nur auf den ersten Blick. Der dramatische Dichter sei »ein Geschichtsschreiber«, äußerte er einmal, und Wirklichkeitsnähe »[s]eine höchste Aufgabe«.8 Doch Büchners Ansichten und Werke vermitteln unterschiedliche Positionen. Der von Shakespeare faszinierte Büchner gibt sich im Quellenstudium wirklichkeitsnah, während die daraus gewonnene Dramatisierung der Geschichte unzweifelhaft auf der Seite von Kunst und Poesie steht. Geschichte tritt als eine Art höherer Wirklichkeit auf. Die Dramatisierung verleiht ihr einen fast surrealen Charakter. Im übrigen wird das poetische Übergewicht ja der Vorwurf der Zeitgenossen an den Dramatiker Büchner sein. Er schreibt Stücke, die seine Zeitgenossen nicht verstehen. Er revolutioniert die Form, schreibt ein literarisches Bildertheater. Danton’s Tod ist eine wahre Bilderrevue – Gutzkow nannte die Szenenfolge zutreffend »skizzenartig hingeworfen[es]« «Gemälde«.9 Und nicht nur die mit »Concergerie« überschriebene große Schlußszene besteht in der Hauptsache aus poetischen Verlautbarungen. Eigentlich hat erst das zwanzigste Jahrhundert Büchners Modernität zu verstehen begonnen. Man sollte deshalb an Wilsons Büchnerinszenierungen gerade die poetische Verwandtschaft nicht übersehen. Danton’s Tod inszenierte Wilson 1998 für die Salzburger Festspiele. Die Inszenierung betonte die szenische Montage. Die einzelnen Bilder wechselten abrupt wie Filmsequenzen und zogen wiederum wie ein Film unablässig an uns vorüber. Wilson hat sich in zahlreichen Inszenierungen als ein Meister fließender Übergänge präsentiert, als vollführe die Bühne ––––––––– 7 Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verbindung mit Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster. Bd. III: Prosa 1. Stuttgart 1987, S. 334. 8 Briefwechsel, S. 75. 9 [Karl Gutzkow:] »Danton’s Tod«, von Georg Büchner. In: Phoenix. Frühlingszeitung für Deutschland 1 (1835), 2. Halbjahr, Nr. 162, Literatur-Blatt Nr. 27, 11. Juli 1835, S. 645f., hier S. 646.
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vornehmlich langsame Kamerabewegungen. Ein anderes Stilmittel ist für ihn der Schnitt: Bildwechsel werden durch plötzliche Lichtwechsel herbeigeführt. Für Danton’s Tod schienen das besonders geeignete Darstellungsmittel zu sein. Die Szenen wurden bildhaft verdichtet, ihr poetischer Charakter wirkte wie ausgestellt, und das Atmosphärische wurde als szenischer Gestus sichtbar. Die Schlußszene liefert vielleicht den eindringlichsten Beweis, wieviel mehr Innen- als Außenwelt Büchner thematisierte. Wilsons Bilderfindungen beschwören eine beklemmende Bewegungslosigkeit. Tatsächlich scheint in Danton’s Tod die Zeit stillzustehen. Mag man Revolutionszeiten mit Bewegung und Dynamik gleichsetzen, so geschieht hier das Gegenteil: der rasende Stillstand, die berstende Erstarrung. Geschichte vermag nur noch aphoristisch aufzutreten. Philosophische Rezitation wechselt mit grotesken, slapstickhaften Einschüben. Das sind Aspekte des Dramas, die Wilson in seine Inszenierung als Struktur und Rhythmus übernahm. Das Drama gefällt sich als Schauspiel im wahrsten Sinne des Wortes. Vor allem will Danton im Leben nichts anderes als ein Spiel erkennen. Alles sieht nach Theater aus. Selbst wo der Mensch Unglück erfährt, sieht er den Unterhaltungswert, ein Mittel gegen Langeweile und für Wohlbefinden. »Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben! Es ist noch vorzuziehen, sie treten mit gelenken Gliedern hinter die Coulissen und können im Abgehen noch hübsch gestikuliren und die Zuschauer klatschen hören. Das ist ganz artig und paßt für uns, wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden.«10
Da Wilson nie etwas anderes als Theater zu machen vorgibt, sieht man bei ihm, was Büchner durch seine Figuren verkündet. Weil sie Theatermenschen sind und nichts anderes sein sollen, entsteht für den Zuschauer eine produktive Distanz. Sie wirkt produktiv, so der Zuschauer sich darauf einlassen will. Der Regisseur, der Figuren von uns abrückt, bringt sie gewissermaßen auf den richtigen Erkenntnisabstand. Denn was uns hier fremd, auch verfremdet erscheint, löst ja erst den Reiz aus, verführt uns zum Hinsehen und Hinhören. Daß wir bei Wilson besser hören, wurde bereits erwähnt. Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung bestätigte dies in seiner Premierenbesprechung: »Gebannt hört man, was ––––––––– 10 GW IV, S. 58f.
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man lange kennt, und bedenkt es, als hörte man es zum ersten Mal.«11 Die Distanz wirkt gleichsam verdoppelt – nämlich einmal in der Wirkung auf uns und zum anderen im Verhältnis der Figuren zueinander. Wilson zeigt die Personen des Stücks in ihrer traumwandlerischen Abwesenheit. Auch wenn in einer anderen Rezension das Wort vom konzertanten Danton fiel, so ist dadurch keineswegs die Behauptung bewiesen, wir hätten es mit einem Lesedrama zu tun. Was wiederum an Peter Hacks’ Einwand denken läßt, das Stück sei für »ein unsichtbares Theater« geschrieben.12 Was wohl nur heißen kann, nichts von der Bühnenmechanik preiszugeben. Anders gesagt: Man darf nicht sehen, wie die Wunder entstehen. Der sicherste Weg dorthin führt auch für Wilson über die Perfektion. Nur so gewinnt das Theater die Magie des Augenblicks. Louis Aragon, der 1971 in Paris eine Wilson-Inszenierung erlebte, kam es wie eine Offenbarung vor. Er sprach vom Wunder der Schönheit und von der Vermischung von Traum und Realität. Und als ob Wilson-Inszenierungen nur in paradoxen Wendungen zu beschreiben sind, fand Aragon für die Aufführung die Formulierung von der außergewöhnlichen Maschine der Freiheit.13 Das ist wohl auch die durch Grazie und Perfektion befreite Kleistsche Marionette. Büchner wußte um die faszinierende, soghafte Illusion der Bühne. Die Empfehlung des Passanten, »Aber geh’n Sie ins Theater, ich rathe es Ihnen!«, war ernst gemeint. Der Ratgeber wußte warum. Er kannte das Stück, dessen Zeuge wir im Theater gerade waren, als wir ihn mit diesen Worten vernahmen: »Haben Sie das neue Stück gesehen? Ein babylonischer Thurm, ein Gewirr von Gewölben, Treppchen, Gängen, und das Alles so leicht und kühn in die Luft gesprengt. Man schwindelt bei jedem Tritt. Ein bizarrer Kopf.«14 Die Vermutung ist nicht unberechtigt, daß dieser bizarre Kopf der Autor selbst ist. Wir kommen bei Wilson nicht um die Frage herum, was unter der Oberfläche liegt. Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie der scheinbar nur schöne und glatte Oberflächeneffekt mit Bedeutung aufgeladen ist. ––––––––– 11 C. Bernd Sucher: Ein Couturier bedient Herrn Büchner. In: Süddeutsche Zeitung vom 27. Juli 1998. 12 Zit. nach Hauschild 1993, S. 439. 13 Siehe Louis Aragon: Offener Brief an André Breton. In: Robert Wilson: Monuments. Hrsg. v. Carl Haenlein. Ausstellungskatalog. Hannover 1991, S. 89–92. 14 GW IV, S. 66.
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Nehmen wir die Szene Marion/Danton, die metaphorisch angelegt ist bei Büchner und ebenso von Wilson inszeniert wurde. Der Kritiker als Buchhalter des Faktischen notierte, was er sah. Weder erschien ihm Marion wie eine Hure, wobei zu fragen bliebe, woran man Huren erkennt, noch fand er in der Verkörperung Marions durch Edith Clever jene Körperlichkeit, die Büchner als »große Flut« des Sehnens anspricht. Statt Sexus diagnostizierte der Kritiker nur Unterkühlung. Marion trat im langen weißen Gewand auf, als sei sie eine griechische Göttin. Nur das lange rote Haar ließ an eine moderne Diva denken. Wie ein Bildzitat waren Körper und Gewand auf einem steinernen Sofa drapiert; was wiederum mehr an eine Statue denn an ein menschliches Wesen denken läßt, mehr Liebesgöttin und Schicksalsbotin. Die Hure als Heilige sei, so der Kritiker, eine Fehlbesetzung. »Aber sie war ja auch so wenig in irgendeinem Leben befangen wie alle anderen. Man schaut dem ungefähr so ergriffen zu, wie einen die Hochglanzzeitschrift des Revolutionsluxus und der Todesmoden aus dem Jahre 1794 ergreifen würde«, las man in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.15 Wer sich mit den Oberflächenreizen begnügt, mag das so beurteilen. Aber der Kritiker legt selbst die Erkenntnisspur, ohne ihr zu folgen. Er bemerkt: Keine der Figuren sei in irgendeinem Leben befangen. Gerade die Szene Marion/Danton zeigt, wie wenig Büchner Naturalist, wie sehr ihm an der lyrischen Existenz seiner Figuren gelegen war, wie sehr sie Theaterfiguren im besten und auch ästhetisch radikalsten Sinne sind. Eine Fehlbesetzung kann man bei einem Regisseur, der alles detailliert plant, getrost ausschließen. Warum also eine solche Marion? Die Antwort liefert Büchner mit dem Text. Was ist das für eine Bordellszene? Was ist das für eine Hure, die poetische Bekenntnisse ablegt? »Aber ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur Ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in Einen Leib.«16 Darauf folgt eine Erklärung, die von Marlene Dietrich stammen könnte: So sei eben ihre Natur, sie könne halt Liebe nur. Marion ist das verkörperte Lustprinzip. Wo Eros ist, da kann Thanatos nicht weit sein: Liebes- und Todessehnsucht kennen wir als Verwandte. Marions Erinnerung wird es beweisen: Mit dem jungen hübschen Mann, der einst ins Haus kaum und der tolles Zeug sprach, das ––––––––– 15 Gerhard Stadelmaier: Der Schrecken ein Schnitt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Juli 1998. 16 GW IV, S. 33.
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Marion lachen machte, mit ihm wird sie bald »zwischen zwei Bettüchern beieinander liegen« – das gab mehr Vergnügen als die Unterhaltung auf zwei Stühlen. Aber der junge Mann wollte die Liebe für sich allein, anstatt sie zu teilen. Er ersäufte sich. »Ich mußte weinen. Das war der einzige Bruch in meinem Wesen.« Ihr Wesen, ihre Natur besteht im Einssein: »ein ununterbrochenes Sehnen und Fassen, eine Gluth, ein Strom«.17 Marion spricht sich in Freudschen Kategorien aus. Sie kennt das ozeanische Gefühl und den alles verschlingenden Sexus bis zur Selbstauflösung. Sie betreibt die Lebensphilosophie auf hohem Niveau und gleicht darin ihren antiken Vorgängerinnen, den Hetären. Die führten bekanntlich ähnliche Gespräche, bei Lukian durchaus handfester, aber ihre Frivolität enthält einen philosophischen Zug. Das gilt es zu bedenken, wenn wir uns eine Figur wie Marion vorstellen. Mit wirklichkeitsnahen Vorbildern rutscht man an der glatten Oberfläche einer WilsonInszenierung nur aus. Weiter kommen wir mit einer Edith Clever, der ehemaligen Schaubühnentragödin vom Dienst. Der hohe Ton war es, der die Stimmung dieser Szene präzise traf, auch das Unwirkliche und so gar nicht Lebendige. Die Szene war bei Wilson das, was sie in Büchners Text ist: eine Todverkündigungsszene. Lassen wir die Frage, warum ein Zeitungskritiker das nicht sieht und hört, und wenden uns den Musicalzwillingen Leonce und Lena, Franz und Marie zu. Bei Büchner wird auffallend viel gesungen. Er besaß ein Faible für Volkslieder und traurige Weisen. Ob ihm Shakespeare dazu die Anregung gab, den er besonders schätzte, sei dahingestellt. Die Idee, beide Stücke zu musikalisieren, wie dies Wilson bei Woyzeck zusammen mit Tom Waits und Kathleen Brennan und bei Leonce und Lena mit Herbert Grönemeyer tat, diese Idee hätte Büchner wahrscheinlich gefallen. Im Fall des Woyzeck ist ohnehin längst bewiesen, daß das Drama mit Gewinn auch gesungen und vom Orchester begleitet werden kann. Leonce und Lena und Woyzeck verschließen sich nicht der Musikalisierung. Das mag in ihrem Stückcharakter begründet sein. Gewiß, Leonce und Lena besitzt als satirische Zeitkritik einen realistischen Gehalt. Dennoch kommt das Lustspiel als märchenhafte Groteske daher. Alles ist darin möglich, auch Wunder. Auch wenn der Gegenstand der Kritik mittlerweile historisch geworden ist, so besitzen wir für die Gefühle der Protagonisten und ihre Verhaltensweisen übersetzbare Begriffe. ––––––––– 17 Ebd., S. 34f.
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Das Märchen von den zwei Königskindern klingt gleichermaßen nach Operette. Das Königreich Popo als Operettenstaat ist kaum größer als ein Gemüsegarten. So kommt es, daß Leonce auf seiner Flucht auch nie den im Bühnenhintergrund zu einem Quadrat zusammengeschobenen Garten verläßt. So kleinkariert ist der ganze Hofstaat: Puppenwesen mit weißem Flaumhaar, schlackernden Gliedern, zumeist devot gebeugt. Das Künstliche und Hermetische des Lustspiels springt einen in jeder Szene förmlich an. Das Königreich wird außer von König Peter von Langeweile und Senilität regiert. Ein »vertieftes Leerempfinden bei allgemein erhöhter Irrealität« hatte Botho Strauß als »Leonce-Prinzip« ausgemacht.18 Doch Wilsons karikaturenhaftes Puppenpersonal mißfiel den Kritikern. Nur Edelschmerz und Geplapper ohne Ende wollten sie vernommen haben (ob das dem Autor galt?), eingepaßt in »eine bunte Doppelbonbonniere in Form einer Puppenkiste«.19 Man vermißte das Büchnersche Stück und sah es den ganzen Abend auf der Bühne. Wilson hatte Büchner beim Wort genommen und das Stück als das gezeigt, was es ist: ein groteskes, märchenhaftes Lustspiel, in dem die Absurdität auf zwei Beinen stolziert. Leichtigkeit war das Ziel der Regie. Freilich, jeder Schwebezustand auf der Bühne ist eine Sache des Als-ob. Sehen kann ihn nur, wer ihn sehen will. Aber der Perfektionist Wilson weiß natürlich, daß Perfektion eine bedingungslose Voraussetzung für Illusion bedeutet, so wie jeder gute Witz eine Sache des richtigen Timings ist. Zum Ende hin wird das Stück abgründig. Valerio präsentiert dem versammelten Hofstaat das maskierte Paar Leonce und Lena. Keiner weiß, wer da vorgeführt wird. Man will das Paar schließlich ersatzweise und stellvertretend für die Abhandengekommenen verheiraten, sozusagen in effigie. Das Theater spielt hier mit sich selbst. Es zeigt die maskenhafte Existenz des Menschen. Jeder trägt soviel Masken, wie er braucht. »Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern«, erklärt Valerio, »[j]ede hat eine feine, feine Feder von Rubin unter dem Nagel der kleinen Zehe am rechten Fuß, man drückt ein klein wenig und die Mechanik läuft volle f[ü]nfzig Jahre.«20 Man kann ––––––––– 18 Botho Strauß: Der Gebärdensammler. Texte zum Theater. Hrsg. v. Thomas Oberender. Frankfurt a. M. 1999, S. 33. 19 Gerhard Stadelmaier: Frackhüpfen in der Puppenkiste. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. Mai 2003. 20 GW VII, S. 638.
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sie von wirklichen Menschen nicht unterscheiden, so vollkommen sind die Kopien. Aber es sind ja auch nur andere Menschen. Selbst die Liebe wird zur bloßen Funktion: »[S]ie sind jetzt in einem interessanten St[a]dium, der Mechanismus der Liebe fängt an sich zu äußern […]. Beide haben schon mehrmals geflüstert: Glaube, Liebe, Hoffnung! beide sehen bereits ganz accordirt aus, es fehlt nur noch das einzige Wörtchen: Amen.«21 Das Lustspiel geht dem Happy End aus dem Wege und wartet mit einer schockhaften Entdeckung auf, nämlich mit dem mechanisierten und funktionalistischen Leben. Ist das Sein im Schein? Ist der Schein das Sein? Wie gut Büchners Woyzeck eine Musikalisierung verträgt, wissen wir seit Alban Bergs Oper Wozzeck. Wir erleben das Stück durch die Musik emotionalisierter und wohl auch intensiver. Zugleich übersetzt die Oper Woyzecks Not ins Allgemeine. Sie macht ihn zum Repräsentanten der zum Leiden verfluchten Menschheit. Das Drama wird als ein groß angelegtes, in den musikalischen Aufschrei mündendes Crescendo fühlbar. Noch einmal, aber auf andere Weise, gelingt das mit dem Musical, das Wilson und Waits im Jahre 2000 in Kopenhagen herausbrachten. Freilich kommen wir um die Einsicht nicht herum, daß die erbärmliche Wirklichkeit des Menschen Woyzeck zum Unterhaltungsstück wird. Aber Dramen sprechen uns nicht zuletzt deshalb an, weil sie einen Unterhaltungswert besitzen. Sind wir nicht immer auch Voyeure, wenn es um das Leid geht? Büchner hatte Danton die passenden Wort in den Mund gelegt: »Sie haben Unglück; kann man mehr verlangen, um gerührt, edel, tugendhaft oder witzig zu sein, oder um überhaupt keine Langeweile zu haben?«22 Woyzeck hätte den Charakter eines szenischen Bilderbogens wohl auch in einer vollendeten Fassung behalten. In diesem Punkt hält Wilson den Woyzeck für moderner als die meisten modernen Dramen. Dazu paßt seine musikalische Konstruktion – »es gibt große Blöcke von Architektur und Konstruktionen«. »Es gibt keine Psychologie, was das Stück sehr direkt macht, und gleichzeitig handelt es von den Mysterien des Lebens.«23 Und schließlich ist in diese Mischung aus Wahnsinn, Begierde, Bosheit und Gewalt eine bizarre Liebesgeschichte eingebettet. Ihr tödli––––––––– 21 Ebd. 22 Ebd. IV, S. 58. 23 Interview mit Robert Wilson. In: Programmheft »Woyzeck«. Betty Nansen Teatret. Kopenhagen 2000, S. 33.
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ches Ende erscheint nachgerade konsequent. Alle Figuren wirken auf beklemmende Weise unmenschlich. Alles an ihnen wirkt zwanghaft und überzeichnet. Büchner erklärt nichts, sondern konstatiert die Ausweglosigkeit in immer neuen Variationen. Auch dieser Held Büchners ist, wie es Ludwig Marcuse ausdrückte, ein »Wanderer ins Nichts«.24 Woyzecks Frage, ob das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld sei, illustriert sinnfällig des Menschen Lebensgefängnis. Wie immer die Antwort ausfällt, am Verhängnis wird es nichts ändern. Schopenhauer faßt es später in die pessimistische Quintessenz: Schuldig bin ich, weil ich bin. Man ist geneigt, Woyzecks Verhalten aus seinen Lebensumständen zu erklären und versucht so nachträglich eine Psychologie in das Stück zu bringen, die es nicht kennt. Ist Woyzeck gewalttätig, weil ihm Gewalt angetan wird? In dem Stück ist die Gewalt epidemisch, jede Figur trägt in sich etwas von Woyzecks Hirnwütigkeit. Marie macht da keine Ausnahme. Büchners Drama scheint den Expressionismus vorwegzunehmen. Mehr noch, seine Sprachwut, dieser ganze Tanz am Abgrund entlang, ist von den expressionistischen Ekstatikern kaum übertroffen worden. Modern auch die Dramaturgie: Die Szenenfolge suggeriert rasche Filmschnitte. Das Stück steht wie unter Hochspannung und ist gekennzeichnet von grellen Metaphern, wie etwa jener, die Woyzeck mit einem offenen Rasiermesser vergleicht, an dem man sich schneidet. Immer wieder ist von Angst die Rede: Der Hauptmann mit seiner Angst vor der Ewigkeit und vor der Leere des Lebens, oder der Doktor mit seiner Angst vor einer schlechten Welt, die er durch Natur- und Willensbeherrschung auszuschalten sucht. Daß jeder Mensch ein Abgrund sei, wie Woyzeck feststellt, dafür bietet das Stück Anschauungsmaterial in Fülle. Wilson hatte Büchners Expressionismus beim Wort genommen und daraus ein gleichermaßen groteskes und virtuoses mechanisches Ballett choreographiert. Die Bühne zeigt grelle Bilder, scherenschnitthaft die Figuren, signalhaft die Beleuchtung, die herausgehobenen Requisiten. Manches erinnert an die Stummfilmoptik. Als sei der Schrei gestisch eingefangen. Näher kann man Büchner nicht kommen, höchstens auf einem anderen Weg. So geschlossen Wilsons Inszenierungen auch immer wirken und so einfach ihre Oberflächen erscheinen, sie bleiben dennoch offen für Assoziationen. Weil sie nicht naturalistisch abbilden, weil man anderes sieht ––––––––– 24 Siehe Ludwig Marcuse: Die Welt der Tragödie. Berlin 1923.
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als man hört, eröffnet sich eine ungeheure Komplexität. Das Theater verlangt eine Form. »Die Weise, wie man die Form füllt, die ist wichtig«, erklärte Wilson, »doch ohne Form ist es sehr schwierig, etwas auszufüllen.«25 Der Sinn aber ist nicht die Form, obschon sie sinnvoll ist. Der Sinn wird durch die Form erst erfaßbar und aufschließbar. Hugo von Hofmannsthal hat einmal auf die Frage, wo es im »Rosenkavalier« Tiefe gebe, geantwortet: Tiefe findet man an der Oberfläche. Das trifft präzise Wilsons szenische Arbeit. Auf Wilsons Bühne sei der Traum des epischen Theaters wahr geworden, befand dereinst Heiner Müller. Alle Elemente der Bühnenkunst sind gleich wichtig, überwunden ist die überkommene Hierarchie der theatralischen Mittel. Alles wird zum Mitspieler, der Stuhl ebenso wie das Licht. Mehr noch: Der Stuhl und das Licht können ebensogut die Rolle des Schauspielers übernehmen. Wer eine Wilson-Inszenierung gesehen hat, weiß, daß das funktioniert. Episches Theater und die Idee des Gesamtkunstwerks reichen sich in Wilsons Arbeit die Hand und bekunden eine Geistesverwandtschaft, die unter Theaterleuten vorzugsweise aus ideologischen Gründen gerne übersehen wurde.
––––––––– 25 »... aus einem Gespräch«. In: Programmheft »Leonce und Lena«. Berliner Ensemble. Berlin 2003, S. 13.
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Religionskritik bei Georg Büchner Von Ariane Martin (Mainz) Georg Büchner steht nicht von ungefähr im Ruf, ein Revolutionär gewesen zu sein, dessen unverstellter Blick auf die materiellen Lebensbedingungen durch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber metaphysischen Konstruktionen geprägt war. Eine religionskritische Haltung1 bei ihm anzunehmen ist aber dennoch keineswegs selbstverständlich, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt. Immerhin wurde Büchner in der westdeutschen Nachkriegsgermanistik nicht als religionskritischer, sondern, unter den Zeichen von Desillusionierung und Seinsproblematik, als religiöser Autor zu definieren gesucht. Diese ins Religiöse tendierenden Deutungen meinten, »hinter Büchners angeblichem Nihilismus die Sehnsucht nach einer neuen metaphysischen Geborgenheit aufzuspüren.«2 Büchner ist eben wissenschaftsgeschichtlich gesehen ein »Extremfall«, bei dem seit Anbeginn der Auseinandersetzung mit ihm »konservative und rebellische, sogenannte rechte und sogenannte linke Anschauungen«3 aufeinanderprallen, wie Jost Hermand vor wenigen Jahren in einem lesenswerten Aufsatz beobachtet hat. Nun sind religiöse Themen und Motive im Werk und auch in den Briefen dieses politischen Autors außerordentlich stark präsent.4 Immer wieder hat die Forschung in seinen Texten ––––––––– 1 Dem vorliegenden Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den ich im Rahmen des Interdisziplinären Symposiums Religionskritik in Philosophie und Literatur seit der Aufklärung (am 19. und 20. März 2007 veranstaltet vom Deutschen Institut an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) gehalten habe. 2 Jost Hermand: Extremfall Büchner. Versuch einer politischen Verortung. In: Monatshefte 92 (2000), H. 4, S. 395–411, hier S. 402. Hermand verweist vor allem auf die BüchnerInterpretationen von Wolfgang Martens aus dieser Zeit, denen sich auch Wolfgang Wittkowski angeschlossen habe. 3 Ebd., S. 395. 4 In der Literatur der 1830er Jahre sind Anspielungen auf die Bibel generell häufig und in den politisch begründeten kulturellen Säkularisierungsbemühungen der Jungdeutschen religionskritisch intendiert. Vgl. Wulf Wülfing: Schlagworte des Jungen Deutschland. Mit einer Einführung in die Schlagwortforschung. Berlin 1982, S. 73–286. Büchner allerdings hat sich von der literarischen Partei seines Förderers Karl Gutzkow und von der auf kulturelle Reformen abzielenden innerliterarischen Religionskritik des Jungen Deutschland klar distanziert. Vgl. Briefwechsel, S. 86f.
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Bibelsprache dingfest gemacht.5 Um es gleich zu sagen: Ich sehe darin keinen Ausdruck von Religiosität, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit Religion. Im Folgenden werde ich einige Beispiele aus Büchners Briefen und Lebenszeugnissen und aus seinem literarischen Werk daraufhin ansehen, wie Religionskritik sich dort jeweils artikuliert. Ich werde zunächst den zugleich ironischen und strategischen Umgang mit biblischen Anspielungen sowie die auffällige Christusmetaphorik hervorheben und etwas ausführlicher über das Revolutionsdrama Danton’s Tod sprechen (I). Dann werde ich danach fragen, ob konfessionelle Differenzen zwischen Protestantismus und Katholizismus in den Textzeugnissen eine Rolle spielen und dabei kursorisch auf das Erzählfragment Lenz hinweisen, in welchem der Atheismus als radikale religionskritische Haltung – ebenso wie in Danton’s Tod – zentral thematisiert ist (II). Anschließend werde ich einen Dialog aus dem Dramenfragment Woyzeck erörtern, in dem christliche Sexualmoral zur Debatte steht (III). Am Ende werde ich versuchen, die spezifische Religionskritik bei Georg Büchner zusammenfassend zu charakterisieren (IV).
I. Büchner war »lutherischer Confession«, wie es in seinem am 30. März 1831 ausgestellten Abgangszeugnis vom Großherzoglichen Gymnasium in Darmstadt heißt, wo auch die Leistung des Schülers im Fach Religion hervorgehoben ist: »Den Religionsstunden hat er mit Aufmerksamkeit beigewohnt und in denselben manche treffliche Beweise von selbstständigem Nachdenken gegeben.«6 Solche Beweise finden sich tatsächlich in den Schülerschriften Büchners.7 In Büchners Religionsunterricht sind von der neueren Forschung sogar die Wurzeln seines sozialrevolutionären Engagements aufgespürt worden.8 Büchner jedenfalls war protestan––––––––– 5 Vgl. Joachim Bark: Bibelsprache in Büchners Dramen. Stellenkommentar und interpretatorische Hinweise. In: Dedner/Oesterle, S. 476–505; Ikumi Waragai: Analogien zur Bibel im Werk Büchners. Religiöse Sprache als sozialkritisches Instrument. Frankfurt am Main 1996. 6 Briefwechsel, S. 3f. Nachfolgend im Text zitiert unter Angabe der Sigle und der entsprechenden Seitenzahl. 7 So zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit der »Sünde in den Heiligen Geist«, die dann im Lenz eine wichtige Rolle spielt. Vgl. Reinhard Papst: Zu Büchners Konfirmation im Mai 1828. Ein unbekanntes Lebenszeugnis. In: GBJb 6 (1986/87), S. 318–323. 8 Vgl. Wendy Wagner: Georg Büchners Religionsunterricht 1821–1831. Christlich-protestantische Wurzeln sozialrevolutionären Engagements. New York 1999.
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tisch sozialisiert. Die Verwandtschaft mütterlicherseits hatte Theologen hervorgebracht, so Büchners Großonkel Edouard Reuss in Straßburg, der dort an der Universität Kirchengeschichte lehrte. Als Student in Straßburg stand Büchner mit diesem Großonkel in engem Kontakt. Seine Briefe an Reuss sind geprägt von christlicher Metaphorik, die allerdings rein rhetorisch eingesetzt ist. So bezeichnete Büchner seinen offenbar schon länger erwarteten Entschuldigungsbrief vom 20. August 1832 als »papiernen Oelzweig« (Briefwechsel, S. 10), um das traditionelle christliche Friedensbild dann in einer komischen Selbststilisierung seiner Person als leidender Christus fortzuspinnen, dessen Passion die politische Ordnung ausmache: »[I]ch armseliger Kreuzträger«, schrieb Büchner, »sitze e r s t e n s im lieben heiligen teutschen Reich, z w e i t e n s im Großherzogthum H e s s e n, d r i t t e n s in der Residenz D a r m s t a d t«, in der dreifach geschichteten deutschen politischen Ordnung also, die Büchner in komischer Zuspitzung dann vor dem Anspielungshorizont des Religiösen satirisch bloßstellte, indem er die drei »Klassifikationen« Reich, Großherzogtum und Residenzstadt wie folgt charakterisierte: »Die erste umfaßt die Secte der Nabelbeschauer, die sich von der alten [...] nur dadurch unterscheidet, daß sie beym Nabel nicht mehr an Gott, sondern bey Gott an den Nabel denkt, die zweite, als Unterabtheilung umfaßt ein Stück des Theils, wo der Nabel[-] und Bauch-Gottesdienst als konstitutionell aufgeklärter Liberalismus getrieben wird, die dritte endlich umfaßt die ordinirten Geistlichen und trägt als Ordenskleid die Hoflivree […].« (Ebd., S. 11.)
Die alte Sekte der Nabelbeschauer meint die seit der Aufklärung als Omphaloskepten (= Nabelbeschauer) verspottete Bewegung des Hesychasmus im ostkirchlichen Mönchstum Griechenlands, eine auf das Mittelalter zurückgehende Form mystischer Frömmigkeit, welche von den hesychastischen Mönchen in den Klöstern ihrer Mönchsrepublik auf dem heiligen Berg Athos praktiziert wurde. Diese Mönche führten eine Art Selbsthypnose durch, indem sie mit geneigtem Kopf den Blick auf den eigenen Nabel fixierten, damit Omphaloskopie (= Nabelschau) betrieben, um eine Gottesschau zu erreichen. Nabelschau ist vor diesem Anspielungshorizont bei Büchner bereits als inzwischen umgangssprachliche Metapher für enge Selbstbezüglichkeit zu verstehen, auch wenn das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm den Begriff nicht kennt. Die moderne politische Nabelschau ist als noch antiquierter anzusehen als das überkommene mystische Ritual, weil sie in ihrer sinnlosen Selbstbezo223
genheit inhaltsleere Kostümierung ist. Im Bild der Nabelschau, bei welcher der Nabel nicht mehr Mittel zum Zweck der Gottesschau ist, sondern als Selbstzweck angesehen wird, erscheint die politische Ordnung in ihren Zeremonien (»Gottesdienst«) mitsamt den zugehörigen Trachten (»Ordenskleid«) insgesamt als fragwürdige Religion kostümiert, als selbstgefälliger sektiererischer Hokuspokus, religiöse Institution im Gegenzug als willkürlich zu inszenierender Theaterzauber. Es zeigt sich hier ein gänzlich säkularer Umgang Büchners mit religiösen Bezügen, die rhetorisch geschickt und mit Sinn für Komik zum Einsatz kommen. Außer mit dem Theologen Edouard Reuss verkehrte Büchner, obwohl er Medizin studierte, in Straßburg überdies in der Theologenverbindung ›Eugenia‹,9 wo er sich mit zwei Theologiestudenten anfreundete, den Brüdern August und Adolph Stoeber. Auch in den Briefen an diese Freunde bediente sich Büchner rhetorisch einer christlichen Metaphorik, um seine Sicht auf die Dinge zu illustrieren. So stilisierte er sich im Brief an Adolph Stoeber vom 3. November 1832 wiederum als leidenden Christus. Wenn es dort heißt, dass er sich im Sektionssaal »täglich wieder einige Stunden selbst kreuzige« (Briefwechsel, S. 17), dann sind hier nicht die politischen Verhältnisse, sondern dann ist das ungeliebte Medizinstudium das Golgatha. Solche Christus-Stilisierungen erscheinen in ihrem spezifischen Impetus nicht pathetisch, sondern ironisch und kritisch. Die später auch im literarischen Werk reflektierte Christus-Figur setzte Büchner als mehr oder weniger ironische Selbstdeutungsfigur überhaupt mit besonderer Vorliebe ein. So schrieb er über die Reaktion seiner Gießener Freunde auf eine entsprechende Selbststilisierung im Februar 1834 an Wilhelmine Jaeglé, die er zu Ostern in Straßburg besuchen wollte: »Sie sagen, ich sey verrückt, weil ich gesagt habe, in sechs Wochen würde ich auferstehen, zuerst aber Himmelfahrt halten, in der Diligence nämlich.« (Ebd., S. 36f.) In komischer Verkehrung des christlichen Kalenders wird hier Christi Himmelfahrt vor Ostern, vor der Auferstehung Christi, gefeiert, nämlich eine von der Sehnsucht nach der Geliebten inspirierte bildliche Himmelfahrt in der Postkutsche (»Diligence«) hin zu ihr nach Straßburg, wobei der Aufenthalt dort wiederum metaphorisch eine Auferstehung aus dem »Grabe« Gießen (ebd., S. 36) bedeutet. Die Selbststilisierung als Christus in diesem Liebesbrief an die ––––––––– 9 Vgl. Thomas Michael Mayer: Das Protokoll der Straßburger Studentenverbindung ›Eugenia‹. In: GBJb 6 (1986/87), S. 324–392.
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Pfarrerstochter Jaeglé hat hier eine zugleich witzig ironische und elegische Note. Noch bevor Büchner dann zu Ostern nach Straßburg fuhr, verfasste er im März 1834 die agitatorische Flugschrift Der Hessische Landbote. Der Umgang mit Religion auch in diesem berühmten Text ist strategisch, dies sei am Rande bemerkt.10 Die Bibel gehört neben Finanzstatistiken zu den Hauptquellen jener revolutionären Flugschrift, deren erste, dann von Friedrich Ludwig Weidig überarbeitete Fassung Büchner zur Agitation der verarmten hessischen Landbevölkerung verfasst hat. Dass Büchner der Religion eine besondere Wirkungskraft unterstellte, zeigt sein Brief an Karl Gutzkow von Anfang Juni 1836 über dasjenige, was seiner Ansicht nach die Masse der Armen anspreche: »Für die giebt es nur zwei Hebel«, meinte Büchner, »materielles Elend und r e l i g i ö s e r F a n a t i s m u s. Jede Parthei, welche dieße Hebel anzusetzen versteht, wird siegen.« (Ebd., S. 103.)11 Aber zurück zur Christusmetaphorik, die auch in Büchners Revolutionsdrama Danton’s Tod eine besondere Rolle spielt. Um dies zu erörtern, gilt es, das zentrale Geschehen in diesem Stück zu vergegenwärtigen. In abfallender dramatischer Linie wird das krisenhafte Revolutionsgeschehen während der Jakobinerdiktatur um den Dantonistenprozess geschildert. Die Handlung setzt am 28. März 1794 ein, wenige Tage nach der Liquidierung der ultraradikalen Hébertisten und einen Tag vor dem Beschluss des Wohlfahrts- und des Sicherheitsausschusses, die gemäßigten Abgeordneten um Danton verhaften zu lassen, und sie schließt am 5. April 1794 mit der Hinrichtung der am selben Tag abgeurteilten Dantonisten. Die Terreur der Jakobinerdiktatur erscheint im Stück als ––––––––– 10 In der älteren Forschung waren die bibelsprachlichen Versatzstücke eher Weidig zugeordnet worden. Sie stammen jedoch, dies ist inzwischen längst bekannt, auch von Büchner. Um die Textanteile von Büchner und Weidig am Hessischen Landboten zu ermitteln, wurden von der Forschung sogar bestimmte Leidensmetaphern für Büchners Autorschaft dingfest zu machen versucht. Vgl. Terence M. Holmes: Druckfehler und Leidensmetaphern als Fingerzeige zur Autorschaft einer Landboten-Stelle. In: GBJb 5 (1985), S. 11–17. 11 Den Hebel Religion hat Büchner selbst zwei Jahre zuvor 1834 mit dem Hessischen Landboten anzusetzen versucht. Adam Koch, ein Mitglied der »Gesellschaft der Menschenrechte«, hat später ausgesagt, dass Büchner der Auffassung gewesen sei, eine gesellschaftsverändernd wirksame Flugschrift müsse »ihre Ueberzeugungsgründe aus der Religion des Volks hernehmen, in den einfachen Bildern und Wendungen des neuen Testaments müsse man die heiligen Rechte der Menschen erklären.« Georg Büchner / Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart 1996, S. 39–168, hier S. 125.
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unmenschlicher Irrsinn, wenn die Republik, anstatt dass sie die materiellen und sozialen Missstände zu beseitigen sucht, als Tötungsmaschinerie agiert, wenn die Revolution nur noch den Schrecken der Guillotine bedeutet, dem die Revolutionäre selbst zum Opfer fallen. Danton’s Tod analysiert anhand des Konflikts der beiden Revolutionsführer Robespierre und Danton das Scheitern der – von Büchner prinzipiell gut geheißenen – Französischen Revolution in ihren selbstzerstörerischen Richtungskämpfen, deren fatale Eigendynamik Danton in I/5 auf den Punkt bringt: »Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eignen Kinder.« (MBA 3.2, S. 22.) Der Hedonismus des politisch desillusionierten, der blutigen Gewalt überdrüssigen und schließlich handlungsunfähigen ›Aussteigers‹ Danton, der »lieber guillotinirt werden, als guillotiniren lassen« (MBA 3.2, S. 31) will, erscheint in seiner Verweigerungshaltung dem politischen Geschehen gegenüber zwar auch problematisch. Aber im Fokus der Kritik steht der Totalitarismus des asketischen und politisch rigoros durchgreifenden Robespierre, der als »Blutmessias« (ebd., S. 28f.) charakterisiert ist (auf dieses Bild komme ich gleich näher zu sprechen) und dem die blutigen Mittel zum Zweck geworden sind. Sein Credo lautet: »Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.« (Ebd., S. 24.) Nun ist das Revolutionsgeschehen in Danton’s Tod in auffälliger Weise mit biblischen Metaphern illustriert.12 So spricht Danton in IV/5 beispielsweise in Anspielung auf den alttestamentarischen Sintflutmythos des Exodus des jüdischen Volkes im ersten Buch Mose von der »Sündfluth der Revolution« (MBA 3.2., S. 75), eine Metapher, die im Drama im Zusammenhang mit weiteren katastrophischen oder apokalyptischen Bildern steht. Neutestamentarisch inspiriert ist dagegen das prägnante Bild des »Blutmessias« für Robespierre.13 Bei diesem Bild handelt es sich um eine Wortschöpfung Büchners. Der Begriff »Blutmessias« ist weder in Büchners exzessiv genutzten Quellen noch sonst nachgewiesen (vgl. MBA 3.4, S. 107). Hier gilt es, sich an den Kontext zu erinnern, in dem dieses Bild präsentiert ist. In Szene I/6 spielt St. Just, der Chefideologe unter den Jakobinern, Robespierre ein Exemplar der von Camille Desmoulins herausgegebenen Zeitschrift Le Vieux Cordelier zu, dem Organ ––––––––– 12 Vgl. Liselotte Werge: »Ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude...«. Zur Metaphorik und Deutung des Dramas Dantons Tod von Georg Büchner. Stockholm 2000, S. 110–125. 13 Vgl. ebd., S. 211–222 zu den Blutmetaphern, S. 214–216 zum »Blutmessias«.
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der dantonistischen Opposition, um den jungen Desmoulins zu diskreditieren. Robespierre liest über sich: »Dießer Blutmessias Robespierre auf seinem Kalvarienberge zwischen den beyden Schächern Couthon und Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert wird. Die Guillotinenbetschwestern stehen wie Maria und Magdalena unten. St. Just liegt ihm wie Johannes am Herzen, und macht den Convent mit den apokalyptischen Offenbarungen des Meisters bekannt, er trägt seinen Kopf wie eine Monstranz. [...] Sollte man glauben, daß der saubre Frack des Messias das Leichenhemd Frankreichs ist und daß seine dünnen auf der Tribüne herumzuckenden Finger, Guillotinmesser sind?« (MBA 3.2, S. 28).
Die biblische Kreuzigungsszene des Erlösers ist auf das jakobinische Personal übertragen und in ihrer Botschaft umgewidmet. Der »Blutmessias« stirbt nicht den Opfertod für die Menschheit, um sie von ihren Sünden zu erlösen und das Heil zu bringen, sondern umgekehrt verlangt er Menschenopfer, bringt mörderisches Unheil und ist damit trotz seiner Tugendrhetorik moralisch unsauber. Nach der Lektüre dieser metaphorisch äußerst dichten Ausführungen, deren Bedeutungspotential noch weiter auszuschöpfen wäre und die ich nur im Kern zusammengefasst habe, gibt Robespierre den geliebten Camille preis und willigt in das Todesurteil ein. Er bekennt sich damit implizit dazu, der Blutmessias zu sein. Die Szene schließt mit »R o b e s p i e r r e a l l e i n«, der im Monolog nun explizit seine Rolle als Blutmessias als dem wahren Messias akzeptiert und sich damit zugleich als moralischen Märtyrer stilisiert: »Ja wohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. – Er hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat sie sündigen gemacht und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes und ich habe die Quaal des Henkers. Wer hat sich mehr verleugnet, Ich oder er? – Und doch ist was von Narrheit in dem Gedanken. – Was sehen wir nur immer nach dem Einen? Wahrlich des Menschensohn wird in uns Allen gekreuzigt, wir ringen Alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es erlöst Keiner den Andern mit seinen Wunden. – Mein Camille! – Sie gehen Alle von mir – es ist Alles wüst und leer – ich bin allein.« (Ebd., S. 29)
Ich brauche weder die überaus selbstgefällige messianische Stilisierung Robespierres weiter zu erläutern, noch die diversen biblischen Formen, Muster und Orte, die hier herbeizitiert sind, vom Kreuzigungsort Golgatha bis zum Garten Gethsemane in der Nacht vor der Kreuzigung aus dem Neuen Testament oder mit der Anspielung auf die Genesis »die 227
Erde war wüst und leer«14 aus dem Alten Testament, die Botschaft ist klar: Robespierre wird seiner Rolle als Blutmessias weiter gerecht werden. Er bestätigt mit der Akzeptanz oder Anmaßung einer – wenn auch umgewerteten – messianischen Rolle die Beobachtung Dantons, die dieser zuvor zu Beginn der Szene I/6 im Gespräch mit ihm geäußert hatte. »Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste« (MBA 3.2, S. 25), hatte Danton dort Robespierre klarsichtig zum christologischen Impetus als psychologisch nachvollziehbarer Verhaltensweise erklärt. Und dass Robespierre sich in diesem durchsichtigen Muster zu stilisieren gefällt, hatte er sich von Danton dort ebenfalls anhören können: »Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte, du lügst, du lügst!« (Ebd.) Robespierre in seiner messianischen Selbststilisierung lügt. Die analytische Klarsicht Dantons in dieser Hinsicht ist in Szene II/5 dann nochmals betont, als Danton über seine ihn traumatisierende Schuld im Zusammenhang mit den Septembermorden nachdenkt. Dort ist Danton der Überzeugung: »Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt.« (Ebd., S. 41) Abgesehen davon, dass Danton die Christus-Figur hier wieder in ihrer psychologischen Struktur und damit säkular interpretiert, scheint an dieser Stelle auch sein Erfinder durch. Denn die auffällige biblische Wendung vom Ärgernis15 benutzte Büchner auch in seinem sogenannten Fatalismusbrief vom Januar 1834, in dem er über sein Studium der Französischen Revolution bekannte, er sei »wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte« und er sei »kein Guillotinenmesser«, und in dem es weiter heißt: »Der Ausspruch: es muß ja Aergerniß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?« (Briefwechsel, S. 34.) Nach der biblischen Wendung vom Ärgernis stellt auch Danton die Frage, die Robespierre in seinem selbstgerechten Moralismus nicht in den Sinn kommt: »Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« (MBA 3.2, S. 41.) Robespierre hat keine ernsthafte Neigung zur Selbstkritik wie sein Gegenspieler Danton und nicht die Fähigkeit zur Selbstironie, die seinen Erfinder Büchner auszeichnet. Insofern korrespondiert die messianische Selbststilisierung Robespierres nur auf den ersten Blick mit Büchners ironischen Selbststilisierungen als Christus in seinen Briefen, die überdies ––––––––– 14 Vgl. AT Mose 1,1f. Vgl. MBA 3.4, S. 112. 15 Vgl. NT Matthäus 18,6f. Vgl. MBA 3.4, S. 140f.
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gänzlich profan konnotiert sind. Robespierre dagegen kennt keine Ironie und keine Distanz zur quasireligiösen Inszenierung, die ihm als Blutmessias im Wortsinn blutiger Ernst ist. Für die Deutung von Danton’s Tod gerade auch in der religionskritischen Dimension des Dramas ist die von Danton psychologisch überzeugend analysierte Figur des Robespierre zentral. Der politische Diskurs des Dramas steht »im Zeichen radikaler Ideologiekritik.«16 Im Brennpunkt der Kritik stehen Robespierre mit seinem abstrakten Tugendideal und der menschenfeindliche Dogmatismus der Jakobiner. Im Bild des Blutmessias ist Robespierre prägnant charakterisiert, die Kritik am spiritualistischen Tugendkult verdichtet. Religionskritik gestaltet sich in Danton’s Tod als Ideologiekritik.
II. Im Schlussmonolog der Szene I/6 von Danton’s Tod fällt mit Robespierres Rede von der »Wollust des Schmerzes«17 das bekannte Zitat aus Heinrich Heines Schrift Die romantische Schule (bzw. aus der zugrunde liegenden Schrift Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland), eine Formulierung, mit der Heine den Katholizismus und schließlich die deutsche Romantik ironisch kritisiert hat und die als Zitat in Danton’s Tod der Figur Robespierre eine katholische Kontur verleiht. Es stellt sich die Frage, ob die Religionskritik des protestantisch geprägten Autors Georg Büchner vor allem den Katholizismus im Blick hatte. Eine solche katholizismuskritische Haltung offenbart sich zumindest in einer Episode, die der mit Büchner befreundete Theologiestudent Alexis Muston in seinem Journal d’étudiant überliefert hat. Muston hat im Zusammenhang seiner kirchengeschichtlichen Doktorarbeit über Ursprung und Geschichte der Waldenser 1833 eine in diesem Journal d’étudiant dokumentierte Studienreise durch Deutschland unternommen, die ihn auch nach Darmstadt führte, wo Büchner ihm bei der Entzifferung deutschsprachiger Archivalien im Staatsarchiv half, das in der Hofbibliothek des Darmstädter Schlosses untergebracht war, wo sich auch ––––––––– 16 Michael Voges: Dantons Tod. In: Interpretationen. Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck. Stuttgart 1990, S. 7–61, hier S. 8. 17 Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. v. Klaus Briegleb. Bd. 5. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1981, S. 357–504, hier S. 362. Die Formulierung »Wollust des Schmerzes« findet sich zuerst in Heines der Romantischen Schule zugrunde liegenden Schrift Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland, die Büchner kannte. Vgl. MBA 3.4, S. 111.
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die Museen befanden. Nur am Rande sei bemerkt, dass die Freunde dort die Gemäldegalerie besuchten, wo sie das damals Rembrandt zugeschriebene Gemälde Christus in Emmaus von Carel von Savoy angesehen haben, welches Büchner später im Kunstgespräch seines Erzählfragments Lenz als charakteristisch für die von Lenz geschätzten niederländischen Maler beschrieb,18 ein Gemälde, das Büchner »la magie de la lumière«19 (die Magie des Lichts) habe spüren lassen, wie Muston notierte und damit die gelungene ästhetische Wirkung der religiösen Szene auf Büchner vermerkte. Und die Freunde besuchten die naturgeschichtliche Sammlung, wo sie Fossilien ansahen, Kieferknochen prähistorischer Tiere, und einen Saal, wo katholische Kultgegenstände ausgestellt waren. Darüber hat Muston festgehalten (ich zitiere nach der deutschen Übersetzung): »Es gibt einen Saal, in dem wertvolle Meßgewänder und Kultgegenstände der katholischen Kirche aus der Zeit vor der Reformation aufbewahrt sind. ›Das da sind auch Fossilien‹, sagte mir Büchner.«20 »Voilà aussi des fossiles, me dit Buchner.«21 Büchners kirchenkritischer Kommentar, katholische Kultgegenstände seien auch Fossilien, gibt sich hier dezidiert als Kritik am Katholizismus zu erkennen, der unter Hinweis auf seine kostbaren Requisiten als lebensferne, überkommen ritualisierte Glaubensform und somit als abgelebt erscheint (vergleichbar der oben zitierten Einschätzung Büchners, was die Nabelschau der hesychastischen Mönche angeht). Immerhin hatte es die Reformation gegeben. Konfessionelle Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus scheinen bei Büchners Religionskritik eine Rolle zu spielen. Sein kritischer Blick speziell auf den Katholizismus ist jedenfalls mehrfach bezeugt. So charakterisierte er im Brief an die Eltern vom 9. März 1835, den er auf der Flucht vor den hessischen Behörden nach Straßburg verfasste, den ihn verfolgenden repressiven Obrigkeitsstaat im Bild der berüchtigten katholischen Inquisitionsbehörde, indem er von »unserer politischen Inquisition« (Briefwechsel, S. 58) sprach. Die politische Ordnung mag zwar überkommen sein wie der durch die Reformation grundsätzlich in Frage gestellte Katholizismus oder wie die mystizistische ––––––––– 18 Vgl. Philippe Marty: Weit. Sur les pèlerins d’Emmaüs et la femme à la fenêtre dans »Lenz« de Büchner. In: Romantisme 32, Nr. 118 (2002), S. 23–36. 19 Heinz Fischer: Georg Büchner und Alexis Muston. Untersuchungen zu einem Büchner-Fund. München 1987, S. 258. 20 Ebd., S. 259. 21 Ebd., S. 258.
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Nabelschau der Athos-Mönche, gleichwohl ist sie gefährlich. Sie verfolgt unbarmherzig ihre Gegner. Zu diesem Zeitpunkt hatte Büchner gerade sein erstes Drama Danton’s Tod abgeschlossen, in welchem er der Figur Robespierre eine katholische Kontur verliehen hatte. Zwei Jahre zuvor bereits hatte er im Brief an die Eltern vom Januar 1833 nach seinem Besuch der Weihnachtsmesse im Straßburger Münster die rein ästhetisch anmutenden Rituale katholischer Priester mit einiger Distanz kommentiert: »Auf Weihnachten ging ich Morgens um vier Uhr in die Frühmette ins Münster. Das düstere Gewölbe mit seinen Säulen, die Rose und die farbigen Scheiben und die knieende Menge waren nur halb vom Lampenschein erleuchtet. Der Gesang des unsichtbaren Chores schien über dem Chor und dem Altare zu schweben und den vollen Tönen der gewaltigen Orgel zu antworten. Ich bin kein Katholik und kümmere mich wenig um das Schellen und Knieen der buntscheckigen Pfaffen, aber der Gesang allein machte mehr Eindruck auf mich, als die faden, ewig wiederkehrenden Phrasen unserer meisten Geistlichen, die Jahr aus Jahr ein an jedem Weihnachtstag meist nichts Gescheidteres zu sagen wissen, als, der liebe Herrgott sey doch ein gescheidter Mann gewesen, daß er Christus grade um diese Zeit auf die Welt habe kommen lassen.« (Ebd., S. 18f.)
Dieser Brief dokumentiert insgesamt aber Büchners starken Eindruck von der sinnlichen Präsenz einer sakralen Performanz, der im Kontrast zur kritischen Sicht auf kirchliche Institutionen und insbesondere auf das Priestertum umso intensiver erscheint. Jener Eindruck blieb ihm im Gedächtnis und dürfte ihn später zu der Schilderung des Gesangs der fiktiven Kirchengemeinde im Prosafragment Lenz angeregt haben, das er 1835 in Straßburg entwarf. Dieser Gesang der einfachen Leute im Steintal hat als Ausdruck von Volksfrömmigkeit zwischenzeitlich eine beruhigende Wirkung auf den psychisch äußerst angegriffenen Lenz, der unter religiöser Melancholie leidet.22 Bald darauf aber »ging es fort mit seinen religiösen Quälereien« (MBA 5, S. 42), wie es im Text heißt, auf dessen vielschichtige Auseinandersetzung mit Religion ich hier nicht näher eingehe.23 ––––––––– 22 Vgl. Carolin Seling-Dietz: Büchners »Lenz« als Rekonstruktion eines Falls »religiöser Melancholie«. In: GBJb 9 (1995–99), S. 188–236. 23 Vgl. zur Religionskritik im Lenz die wichtigen Hinweise von Heinrich Anz: »Leiden sey all mein Gewinnst«. Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. In: GBJb 1 (1981), S. 160–168.
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Zumindest hinweisen möchte ich aber auf den in der Erzählung zentralen Versuch von Lenz, ein verstorbenes Kind wiederzuerwecken, wobei er sich in ritualisierendem Gestus auf die Bibel, speziell auf die Christus-Worte »Stehe auf und wandle«,24 bezieht und sich damit als ein Jesus Christus imaginiert. Lenz »betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein Zeichen an ihm thue, und das Kind beleben möge [...]. Dann erhob er sich und faßte die Hände des Kindes und sprach laut und fest: Stehe auf und wandle! Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt.« (MBA 5, S. 42f.)
Daraufhin, als die Imitatio Christi folgenlos bleibt, verfällt Lenz in eine prometheische Empörergeste gegen den christlichen Gott und die Erzählpassage gipfelt im Atheismus-Erlebnis. »Der Wind klang wie ein Titanenlied, es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer in’s Gesicht speien; er schwur, er lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges [...] und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest.« (Ebd., S. 43.)25
Die blasphemische Brisanz im Verhalten von Lenz während des Erweckungsversuchs ist ebenso bemerkenswert wie sein zwischenzeitlicher Atheismus, wobei es interessant wäre, diese Passage im Lenz zusammen mit dem philosophischen Gespräch in Danton’s Tod III/1 über den Atheismus,26 das der Hébertist Chaumette alias Anaxagoras, die beiden ––––––––– 24 Vgl. z. B. NT Matthäus 9,5f. oder NT Markus 2,9–11. Vgl. MBA 5, S. 454f. 25 Zu jenem Lachen der Erkenntnis des autonomen Subjekts als Voraussetzung des Atheismus im Lenz vgl. Ariane Martin: Bald abgeklungenes »Lachfieber« und die Possen eines Clowns. Über das Verschwinden des Lachens in der Rezeptionsgeschichte von J. M. R. Lenz. In: Arnd Beise, Ariane Martin und Udo Roth (Hrsg.): LachArten. Zur ästhetischen Repräsentation des Lachens vom späten 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2003, S. 61–77, hier S. 69–73. 26 Das von Büchner entworfene Philosophiegespräch in III/1 gehört zu den Szenen des Dramas, die immer wieder interpretiert worden sind. Vgl. Joachim Kahl: »Der Fels des Atheismus«. Epikurs und Georg Büchners Kritik an der Theodizee. In: GBJb 2 (1982), S. 99–125; Rodney Taylor: Büchners’s Danton and the Metaphysics of Atheism. In: DVjs 69 (1995), S. 231–246; Knapp, S. 123–126; Gideon Stiening: Georg Büchner und die Philosophie. In: Der Deutschunterricht 54 (2002), H. 6, S. 47–59, hier S. 51–57; R.[odney] Taylor: Büchner’s Critique of Platonism in Dantons Tod. In: Neophilologus 87 (2003), S. 281–297.
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Girondisten Payne und Mercier und der Dantonist Hérault im Gefängnis führen, einmal ausführlicher zu diskutieren. Dort stellt Payne die Frage: »[W]arum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.« (MBA 3.2, S. 49.) Paynes Beweisführung, dass es Gott nicht geben könne, ist mit der konsequent abgeleiteten Begründung des Atheismus als theoretisch besonders forcierte Religionskritik kenntlich. Im Lenz wird diese Beweisführung gegenständlich. Religiöse Fixierung macht psychisch krank.
III. Ich komme nun auf das angekündigte Beispiel aus Büchners Dramenfragment Woyzeck zu sprechen, in dem die christliche Sexualmoral zur Debatte steht. Es handelt sich um die sogenannte Rasierszene, die Szene H4,5, in welcher der ökonomisch in desolater Lage befindliche einfache Soldat Woyzeck seinen Hauptmann rasiert, um mit diesem kleinen Zuverdienst das Geld für den Unterhalt des unehelichen Kindes aufzubringen, das er gemeinsam mit Marie hat. Der träge und selbstgefällige Hauptmann, eine karikaturistisch gezeichnete Figur, philosophiert herum, kokettiert in seiner Langeweile mit Melancholie, redet übers Wetter und krittelt an dem völlig überarbeiteten Woyzeck herum, der »immer so verhetzt« (MBA 7.2, S. 25) aussehe. Und überdies legt der Hauptmann mit moralisierenden Phrasen eine kleinliche Doppelmoral zutage, wenn er einerseits in selbstbezogener Rührung verschwiemelt von seinen eigenen erotischen Phantasien und von Tugend schwatzt und andererseits meint, Woyzeck habe »keine Moral« und »keine Tugend«, weil Woyzecks uneheliches Kind »den Segen der Kirche« (ebd.) nicht habe. In den frömmelnd bigotten Reden des Hauptmanns, der sich formelhaft auf eine christliche Sexualmoral beruft, werden bürgerliche Mentalitäten und Verhaltensweisen ideologiekritisch analysiert, indem diese Reden sich in der Konfrontation mit Woyzecks naiver Redlichkeit unfreiwillig selbst als scheinheilig entlarven. Dem redundanten Geschwätz des Hauptmanns vom »Kind, ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr G[ar]nisonsprediger sagt, ohne den Segen der Kirche«, hält der sonst wortkarge Woyzeck entgegen: »Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehn, ob das Amen
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drüber gesagt ist, eh’ er gemacht wurde. Der Herr sprach: lasset die Kindlein zu mir kommen.« (Ebd.) Die unreflektierten Moralpredigten des Hauptmanns werden durch Woyzecks unmittelbare Moral und sein unverstelltes Gottvertrauen, das sich im Bibelzitat »lasset die Kindlein zu mir kommen«27 mit diesem Satz Jesu einen toleranten und eben lieben Gott vorstellt, ad absurdum geführt. Büchner hat in seinem Dramenfragment Woyzecks lieben Gott gegen den Garnisonsprediger des Hauptmanns ausgespielt, die Volksfrömmigkeit des einfachen Soldaten und seinen alltagskulturellen Halt an der Bibel als Wort Gottes gegen die institutionalisierte Vermittlungsinstanz, die Kirche, auf welche der Vorgesetzte sich beruft. Religionskritik im Woyzeck, so könnte man also meinen, zielt nicht auf den christlichen Glauben, auf die Frömmigkeit der einfachen Leute, sondern lediglich auf die kirchlichen Institutionen, auf die institutionalisierte Religion als ideologisches Machtinstrument der Herrschenden, die im Garnisonsprediger des Hauptmanns personifiziert ist. So einfach aber stellt sich die Sache nicht dar, wenn man sich vergegenwärtigt, was Woyzeck nach seiner Berufung auf den lieben Gott gegenüber dem Hauptmann außerdem noch bemerkt: »Wir arme Leut. Sehn sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinsgleichen auf die Moral in der Welt[.]Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der andern Welt, ich glaub’ wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.« (MBA 7.2, S. 25.)
Abgesehen davon, dass Woyzeck sich seiner Armut und deren sozialer Folgen sehr bewusst ist (er weiß, dass er nicht die Mittel hat, sich zu verheiraten und damit seinem Sexualleben in der Ehe einen von der christlichen Sexualmoral nicht sanktionierten Rahmen zu geben), sieht er den Himmel als bloße Fortsetzung der irdischen Welt, geprägt von den gleichen Strukturen, von reich und arm, von Macht und Ohnmacht. Für einen wie ihn kann es nicht besser werden, auf den Himmel setzt er keine Hoffnungen und sein Glauben bedeutet für ihn überdies alles andere als psychische Entlastung. Der Glaube quält ihn vielmehr, da Woyzeck gleich in H4,1 unter apokalyptischen Visionen und also unter Halluzinationen nach biblischem Muster leidend eingeführt wird. Insofern ––––––––– 27 Vgl. NT Markus 10,14, ähnlich Matthäus 19,14 und Lukas 18,16. Vgl. MBA 7.2, S. 504.
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stehen in diesem Dramenfragment auch die religiösen Vorstellungswelten als solche in der Kritik, nicht nur die institutionelle Vermittlung der Religion durch ihre Würdenträger. Die Szene H4,5 des Woyzeck lässt eine zweifache religionskritische Schichtung erkennen, zunächst eine mentalitätskritisch konturierte Ideologiekritik daran, wie die kirchlichen Institutionen der herrschenden Schicht als perfides Unterdrückungsinstrument dienen, was vordergründig die Religion als solche außen vor lässt, dann aber ein radikales Infragestellen dieser Religion dadurch, dass sie als bloße Verlängerung der irdischen Verhältnisse angenommen wird und damit in eins fällt mit diesen Verhältnissen.
IV. Büchners Religionskritik gestaltet sich ebenso radikal wie seine Gesellschaftskritik, seine Kritik an der politischen Ordnung. Dass er nichts von sozialen Reformen hielt, verrät seine kompromisslose Äußerung, die wiederum mit der Christusmetaphorik operiert, im Frühjahr 1835 gegenüber Gutzkow zu den Voraussetzungen einer Revolution. Dort verdichtete Büchner seine politische Radikalität in mehrschichtiger religiöser Metaphorik, indem er postulierte: »[D]as Verhältniß zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden.« (Briefwechsel, S. 62.) Es muss also paradoxerweise noch schlimmer werden, damit es besser wird, das soziale Gefälle muss für die Armen unerträglich werden, damit sie gegen die Reichen revoltieren und damit einen Umsturz herbeiführen. Büchner hat dieses revolutionäre Programm im Rekurs auf bekannte biblische Stoffe formuliert, welche im Spannungsverhältnis ihrer ursprünglichen Bedeutung mit ihrer in den neuen Kontext übertragenen Funktion eine ästhetische Kraft entfalten, die mir für diesen Autor charakteristisch erscheint. Der alttestamentarische Befreier Moses, der das Volk Israel aus Ägypten führte, werde zwar zum Messias, zur neutestamentarisch in Jesus Christus personifizierten Erlöserfigur schlechthin, er werde es aber nur dadurch, indem er über sein Volk das Unheil bringe, von dem er es zu befreien sucht, damit dieses sich dagegen empöre und sich selbst befreie. Der biblische Bezugstext dieses Revolutionsprogramms ist als rhetorisch kalkuliertes Instrument politischer Rede dingfest zu machen, die um ihre ästhetische Wirkung weiß. Büch235
ner bediente sich einer auf die Bibel anspielenden Sprache, um diese inhaltlich umzuwerten und dadurch Religionskritik als Sozialkritik zu üben. In seinen Briefen zeigt sich ein operativer Umgang mit dem religiösen Anspielungshorizont, der eine grundsätzliche religionskritische Haltung des Autors erkennen lässt. Diese Haltung ist auch in seinem literarischen Werk feststellbar. Religionskritik ist dort allerdings im Zusammenhang der einzelnen Texte jeweils unterschiedlich konturiert. Sie gibt sich in Danton’s Tod in erster Linie als Ideologiekritik zu erkennen, ebenso mit Blick auf den Hauptmann im Dramenfragment Woyzeck. Zugleich wird dort Woyzecks Frömmigkeit anerkannt, aber problematisiert. Die Wertschätzung von Volksfrömmigkeit, die beruhigende Wirkung des Gesangs der Kirchengemeinde auf Lenz, wird auch im Prosafragment offenbar. Religionskritik gestaltet sich dort gewissermaßen romantisch ambivalent, denn neben der Akzeptanz volkstümlicher Frömmigkeit im humanen wie ästhetischen Ausdruck wird die religiöse Fixierung von Lenz in einer radikalen Psycho-Analyse dieser Figur als krank machend diagnostiziert. Soviel zum Lenz und zu den beiden Dramen Danton’s Tod und Woyzeck. Über das romantisierende Lustspiel Leonce und Lena habe ich nicht gesprochen. Das Schlusswort hat dort bekanntlich der Narr Valerio, der sich »eine komm[o]de Religion« (MBA 6, S. 124) für das dann vom Prinzen Leonce regierte Narrenkönigreich Popo wünscht, eine bequeme und liberale Religion also. So erscheint Religionskritik in der sensualistischen Gesellschaftsutopie der Schlussszene von Leonce und Lena in einem ironischen Licht und wird damit durchaus relativiert. Was Religionskritik angeht, so kann im Fall von Büchner von plakativer Eindeutigkeit zwar keine Rede sein, gleichwohl aber steht eine grundsätzliche religionskritische Haltung bei diesem Autor außer Frage, die sich vielschichtig artikuliert. Zusammenfassend lässt sich über das literarische Werk sagen: Religionskritik gestaltet sich dort ideologiekritisch, ambivalent, ironisch. In den Briefen Büchners ist sie selbstironisch und spielerisch kalkuliert, gleichwohl aber politisch kompromisslos.
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Heine und Holbach Zur Religionskritik der radikalen Aufklärung und über zwei zentrale Probleme der Büchner-Forschung Von Bodo Morawe (Paris) Auch wenn der Streit um Heine längst der Vergangenheit angehört, dem Schriftsteller allenfalls noch die durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers beschieden ist1 und sein Werk nirgendwo mehr Anstoß erregt, so gibt es doch ein Thema, das nach wie vor als ein Ärgernis erscheint: Heines Atheismus. Heines Atheismus? Sobald das immer noch verdrießliche Reizwort fällt, beeilt sich die Forschung, das religiöse Gefühl des Dichters zu beschwören, ihn zu einem ›homo religiosus‹ zu stilisieren, ja, ihn als den unumstrittenen Gewährsmann einer »Religion nach der Aufklärung«2 zu betrachten. Heine war kein Atheist, lautet entsprechend die Standardformel, die in Handbüchern, Monographien und Spezialuntersuchungen den ›cantus firmus‹ der Heine-Forschung bildet, die inzwischen mehr und mehr dazu übergeht, den Schriftsteller als einen religiösen Autor zu feiern,3 auch nicht zögert, ihn für das moraltheologische Lehrstück eines Lebens mit Gott in Anspruch zu nehmen, und schließlich keine Bedenken hat, ihm das Etikett des Theologen anzuheften.4 Wo die religiöse Emphase so ––––––––– 1 So das berühmte Wort von Max Frisch über Brecht. 2 Hermann Lübbe: Heinrich Heine und die Religion nach der Aufklärung. In: Der späte Heine 1848–1856. Literatur, Politik, Religion. Hrsg. v. Wilhelm Gössmann und Joseph A. Kruse. Hamburg 1982, S. 205–218. 3 Olaf Hildebrand: Emanzipation und Versöhnung. Aspekte des Sensualismus im Werk Heinrich Heines unter besonderer Berücksichtigung der »Reisebilder«. Tübingen 2001, S. 217– 254. Hildebrand spricht von »wechselnden konfessionellen Bindungen« und behauptet eine »radikale Neufundierung des Religiösen« (S. 220). 4 Karl-Josef Kuschel: Gottes grausamer Spaß? Heinrich Heines Leben mit der Katastrophe. Düsseldorf 2002. Ferdinand Schlingensiepen: Heinrich Heine als Theologe. Ein Textbuch. München 1981. Joseph A. Kruse: »Die wichtigste Frage der Menschheit«. Heine als Theologe. In: Heinrich Heine. Neue Wege der Forschung. Hrsg. v. Christian Liedtke. Darmstadt 2000, S. 147–162. Schlingensiepen bemerkt, dass Heines ›Theologie‹ »weithin [sic!] eine Antitheologie [re-sic!]« (S. 11) sei. Wenn das aber so ist, wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, über »Heine als Antitheologen« zu handeln. Eine besondere Spielart
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übermächtig wird und der neue seraphische Ton in den Heine-Studien so gewaltig anschwillt, scheint indessen Skepsis am Platz. Geradezu unausweichlich, so scheint mir, stellt sich deshalb die Aufgabe, »die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen.«5
1. Das Schulgeheimnis der Philosophie Wie Heine zweimal, in den Briefen über Deutschland von 1844 und in den Geständnissen von 1854, bemerkt hat, hat er in seiner Philosophie-Schrift von 1834 »unumwunden das Schulgeheimniß« der deutschen Philosophie, den Atheismus, »ausgeplaudert«. »Man hat mir von mancher Seite gezürnt,« hat der Autor in den Briefen geschrieben, »daß ich den Vorhang fortriß von dem deutschen Himmel und jedem zeigte, daß alle Gottheiten des alten Glaubens daraus verschwunden, und daß dort nur eine alte Jungfer sitzt mit bleyernen Händen und traurigem Herzen: die Nothwendigkeit.« (DHA 15, S. 169f.)6 Auf den gleichen Vorgang ist der Schriftsteller noch einmal zehn Jahre später in den Geständnissen zurückgekommen. Ebenso wie in den Briefen über Deutschland hat er in den Geständnissen betont, dass er in der Philosophie-Schrift »unumwunden das Schulgeheimniß ausgeplaudert« habe, »das, eingewickelt in scholastische Formeln, nur den Eingeweihten der ersten Classe bekannt war«, wobei er dieses ›Geheimnis‹ deutlicher ––––––––– religionswissenschaftlicher Studien repräsentiert die monumentale Abhandlung von Christoph Bartscherer (Heinrich Heines religiöse Revolte. Freiburg 2005), die Heine als wahllos »gottgläubig« (S. 14) darstellt, wobei »Heines Gott immer wieder ganz verschiedene weltanschauliche Gesichter« zeigt: mal nimmt er die »Züge einer heidnischen Gottheit« an, dann ist er der »Gott der sozialistischen Fortschrittsidee«, danach tritt er als »Gott der Liebe und des Sinnengenusses« in Erscheinung, zugleich wird er zum »Gott im Menschen«, am Ende enthüllt er sich als »väterlich-mütterlicher Gott der Einheit von Leib und Seele«, und ›last but not least‹ ist er »vor allem auch ein Gott der politischen Revolution, der die Mittel der gewaltsamen Erhebung heiligt« (S. 15). Sancta simplicitas! Zu Recht hat Robert Steegers in seiner exzellenten Rezension diese »literaturwissenschaftliche Variante des ontologischen Gottesbeweises« aufgespießt: »Immer wenn Heine ›Gott‹ sagt, muss er – so die Logik dieser Argumentation – auch tatsächlich an ihn glauben, es Gott tatsächlich für ihn geben.« (HeineJahrbuch 44 [2005], S. 257.) 5 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1974, S. 695. 6 Ich zitiere nach der Düsseldorfer Ausgabe (DHA): Heinrich Heine: Sämtliche Werke. Düsseldorfer Ausgabe. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. 16 Bde. Hamburg 1973–1997.
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noch als in den Briefen als den »vollständigsten Atheismus« bezeichnet hat. Unmittelbar im Anschluss an diese Feststellung sind es aber diesmal die Philosophen, die die Rolle des Schriftstellers übernehmen. »Sie rissen schonungslos und mit bacchantischer Lebenslust den blauen Vorhang vom deutschen Himmel, und riefen: sehet, alle Gottheiten sind entflohen, und dort oben sitzt nur noch eine alte Jungfer mit bleyernen Händen und traurigem Herzen: die Nothwendigkeit.« (Ebd., S. 29.) Der Zusatz »schonungslos und mit bacchantischer Lebenslust« macht jedoch deutlich, dass damit nicht die ängstlichen deutschen Philosophen gemeint sein können, von denen Heine bereits in den Eingangssätzen der Philosophie-Schrift gesagt hat, dass sie viel zu zaghaft gewesen seien, um dem Volk die »Resultate ihres eigenen Denkens« (DHA 8.1, S. 13) mitzuteilen. Die »bacchantische Lebenslust« verweist demgegenüber unverkennbar auf Heines eigene Haltung. »Ich bin nicht dazu geeignet«, hat er eindringlich im Kant-Abschnitt der gleichen Schrift erklärt, »ein Kerkermeister der Gedanken zu seyn. Bey Gott! ich laß sie los. Mögen sie sich immerhin zu den bedenklichsten Erscheinungen verkörpern, mögen sie immerhin, wie ein toller Bacchantenzug alle Lande durchstürmen« (ebd., S. 80). Auch hierbei hat Heine seine bekannten Kunstgriffe angewandt, die er in der französischen Lutezia-Vorrede dargelegt und erläutert hat. Zu diesen Kunstgriffen gehört erstens das Mittel, die eigene Auffassung »fremden Personen« (in diesem Fall den Philosophen) »in den Mund« zu legen, und zweitens die Methode, »parabolisch« zu verfahren und die für ihn wesentlichen Fakten (hier die Tatsache, dass der Himmel ›leer‹ ist) in der Form von »Historietten und Arabesken« (DHA 13.1, S. 293) zur Darstellung zu bringen. Darunter fällt offensichtlich der szenische Auftritt der Philosophen, die zunächst »schonungslos« den Vorhang vom Himmel reißen und danach wie der Chor in der griechischen Tragödie das Geschehen kommentieren. »Sehet, alle Gottheiten sind entflohen«. Die kleine Parabel zeigt insofern, dass Heine auf dem Weg von den Briefen zu den Geständnissen, also in den zehn Jahren von 1844 bis 1854, keineswegs seine Auffassung geändert, sondern lediglich die Darstellungstechnik verfeinert hat, wobei der Schriftsteller, um die Öffentlichkeit überhaupt erreichen und seinen subversiven Text verbreiten zu können, die für ihn charakteristischen Kunstmittel der ›verschlüsselten‹ Rede eingesetzt hat. Die beiden Aussagen sind inhaltlich deckungsgleich und unterscheiden sich ›formaliter‹ nur insofern, als Heine in der ersten Fas239
sung, die er deshalb nicht publizieren konnte, für sich selbst in Anspruch genommen hat, was er in der zweiten Fassung den deutschen Philosophen zugeschrieben, ihnen als »fremden Personen […] in den Mund« gelegt hat. Nur so ist es ihm gelungen, »das Verfänglichste zu referiren.« (Ebd., S. 293.)
2. Das Skandalbuch der Aufklärung: Holbachs System der Natur Die Aussage über den ›leeren‹ Himmel, das Ende des Glaubens an die Götter und die Herrschaft der ›necessitas‹, die Heine zuerst in den Briefen gemacht und dann in den Geständnissen in der Form eines programmatischen Selbstzitats wiederholt hat, gehört unverkennbar zu den wesentlichen gedanklichen Bekundungen des Schriftstellers. Sie hat jedoch in der Forschung keine besondere Beachtung gefunden und ist etwa im Kommentar der Düsseldorfer Ausgabe (DHA 15, S. 498f.) eher hilflos mit der Hegelschen Geschichtsphilosophie in Verbindung gebracht worden. Niemand hat indessen die epochalen Zusammenhänge bemerkt, die die Tradition der radikalen Aufklärung, die einzigartige Wirkungsgeschichte Spinozas in der europäischen ›littérature clandestine‹7 und eines der brisantesten Skandal-, Theorie- und Kultbücher der Zeit betreffen: Holbachs System der Natur, das als atheistische Programmschrift und ›Bibel des Materialismus‹ die »markanteste theoriegeschichtliche Zäsur des 18. Jahrhunderts«8 bezeichnet. Im 6. Kapitel des zweiten Teils, das »Vom Pantheismus oder von den natürlichen Ideen über die Gottheit« handelt, hat Holbach die ›Tat‹ derjenigen Denker beschrieben, die es gewagt ha––––––––– 7 Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650– 1750. Oxford 2001. Qu’est-ce que les Lumières »radicales«? Libertinage, athéisme et spinozisme dans le tournant philosophique de l’âge classique. Hrsg. v. Catherine Secrétan, Tristan Dagron und Laurent Bove. Paris 2007. Winfried Schröder: Spinoza im Untergrund. Zur Rezeption seines Werks in der »littérature clandestine«. In: Spinoza in der europäischen Geistesgeschichte. Hrsg. v. Hanna Delf, Julius H. Schoeps und Manfred Walther. Berlin 1994, S. 142–161. 8 Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1998, S. 86. Roland Mortier: Le »Système de la nature«, une bible matérialiste. In: Beiträge zur Romanischen Philologie 15 (1976), S. 43–71. Alan Charles Kors: The Atheism of d’Holbach and Naigeon. In: Atheism from the Reformation to the Enlightenment. Hrsg. v. Michael Hunter und David Wootton. Oxford 1992, S. 273–300.
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ben, sich unerschrocken von den alten religiösen Bindungen und Vorstellungen zu befreien. »So wagten einige Denker, das Joch, das ihnen in ihrer Kindheit auferlegt worden war, abzuschütteln. Abgestoßen von den dunklen, widerspruchsvollen, sinnlosen Begriffen, die sie auf Grund angenommener Gewohnheiten mechanisch mit dem inhaltslosen Namen eines völlig undefinierbaren Gottes verbanden; durch die Vernunft gegen die Schrecken gewappnet, mit denen man dieses furchtbare Hirngespinst umgab; empört über die gräßlichen Gemälde, mit denen man ihn darstellen wollte: waren sie so unerschrocken, den Schleier der Täuschung und des Betrugs zu zerreißen; sie betrachteten ruhigen Auges diese angebliche Kraft, die der ständige Gegenstand der Hoffnungen, Befürchtungen, Träumereien und Streitigkeiten der blinden Sterblichen geworden war. Für sie löste sich das Gespenst bald auf; die Ruhe ihres Geistes erlaubte ihnen, überall nur eine nach unveränderlichen Gesetzen wirkende Natur zu sehen, deren Schauplatz das Universum ist und deren Werke und Werkzeuge die Menschen und alle anderen Dinge sind, die die ewigen Beschlüsse der Notwendigkeit auszuführen haben.«9
Mit seinem System der Natur war Holbach weit über das hinausgegangen, was das Zeitalter zuvor an philosophischer, theologischer, politischer und sozialer »contestation« hervorgebracht hatte.10 Das zweibändige Werk markiert insofern einen epistemologischen Bruch,11 der bereits in die Vorgeschichte der Revolution gehört, und eben dies bestimmt den Charakter der Holbachschen Religionskritik. Hatte sich die gemäßigte Aufklärung darauf beschränkt, einzelne religiöse Auffassungen (etwa den Offenbarungsglauben) zu kritisieren, ohne jedoch – wie das Beispiel Voltaire zeigt – die Religion an sich in Frage zu stellen und ohne ihre soziale Kontrollfunktion anzutasten, so war es dem Autor des Systems und mit ihm dem Holbach-Kreis, also der linken Fraktion der Enzyklopädie, von ––––––––– 9 Paul Thiry d’Holbach: System der Natur oder Von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Übersetzt von Fritz-Georg Voigt. Berlin 1960, S. 389. D’Holbach: Système de la nature. 2 Bde. Hrsg. v. Josiane Boulad-Ayoub. Paris 1990 (Corpus des Œuvres de Philosophie en Langue Française). Bd. 2, S. 166. Das 1770 anonym erschienene, in Holland gedruckte, nach Frankreich eingeschmuggelte, in Paris sofort verbotene und im Untergrund oft nachgedruckte System ist noch Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein geächtetes Werk gewesen. Der Nachdruck von 1822 wurde erneut verboten und der Pariser Verleger am 5. März 1823 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. 10 Jeroom Vercruysse: Bicentenaire du »Système de la Nature«. Textes holbachiens peu connus. Paris 1970, S. 7. 11 Josiane Boulad-Ayoub: Voltaire et Frédéric II, critiques du »Système de la nature«. In: Paul Henri Thiry, baron d’Holbach. Epistémologie et politique au XVIIIe siècle. Hrsg. v. Josiane Boulad-Ayoub. Paris 1992 (Corpus 22/23), S. 43.
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vornherein darum gegangen, die Religion als solche ins Visier zu nehmen, sie als ein Mittel der politischen Herrschaftssicherung (›instrumentum regni‹) anzugreifen, im Sinne Diderots Bomben »in das Haus des Herrn« zu werfen12 und in diesem Zusammenhang die Gottheiten als Produkte der menschlichen Einbildungskraft, als Phantasiewesen, Hirngespinste und Gespenster zu enttarnen. Beides, die militante Religionskritik und die Auffassung der Religion als ›figmentum‹, ist radikale Aufklärung, und beides ist von Anfang an für Heine maßgebend gewesen.
3. Der »Unglaubensgenosse Spinoza« und das Immanenzdenken der Moderne »Gestorben ist der Herrgott oben, Und unten ist der Teufel todt.« (DHA 1.1, S. 251.)
So hat der Dichter in der »Heimkehr XXXIX« geschrieben, die wahrscheinlich Anfang 1824 entstanden ist, bevor er zehn Jahre später, 1834, mit seiner burlesken Erzählung über den Tod Gottes im zweiten Buch der Philosophie-Schrift Nietzsches Wort »Gott ist tot« eklatant vorweggenommen und noch einmal zehn Jahre danach, 1844, seine (wie der Spinoza-Forscher Yovel bemerkt hat) »spinozistische Philosophie der Immanenz« in die bekannten Verse des Wintermärchens »verpackt hat«.13 »Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen.« (DHA 4, S. 92.)
Das gleiche Verspaar hat Sigmund Freud veranlasst, den Autor des Wintermärchens in seiner Schrift Die Zukunft einer Illusion von 1927 als »unseren Unglaubensgenossen« zu bezeichnen, wobei er bewusst den eigentümlichen Neologismus aufgegriffen hat, mit dem sich Heine im zweiten Band der Reisebilder (Nordsee III) ebenso gewitzt wie provokant auf ›seinen‹ »Unglaubensgenossen Spinoza« berufen hat.14 Das ist eine der geistesgeschichtlich brisantesten und signifikantesten Wortprägungen, die sich überhaupt im Werk von Heine finden. Sie bezeichnet eine Tradi––––––––– 12 Diderot im Brief an Sophie Volland am 22. November 1768. Denis Diderot: Briefe. 1742–1781. Hrsg. v. Hans Hinterhäuser. Frankfurt a. M. 1984, S. 285. 13 Yirmiyahu Yovel: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, S. 453. Erstausgabe: Spinoza and Other Heretics. Volume I: The Marrano of Reason. Volume II: The Adventures of Immanence. Princeton und Oxford 1989. 14 H. Heine: Reisebilder. Zweiter Theil. Hamburg 1827, S. 89.
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tionslinie, die von Spinoza über Heine zu Freud führt und in allen drei Fällen auf die paradigmatische Figur des ›gottlosen Juden‹ als den Protagonisten der Moderne (und den Träger des modernen Bewusstseins) verweist. Sigmund Freud am 9. Oktober 1918 an Oskar Pfister: »Ganz nebenbei, warum hat keiner von all den Frommen die Psychoanalyse geschaffen, warum mußte man da auf einen ganz gottlosen Juden warten?«15 Die Religionskritik Heines steht insofern immer schon in einem theoriegeschichtlichen Kontext, der einerseits auf Marx (»Opium des Volkes«), Nietzsche (»Gott ist tot«) und Freud (»unser Unglaubensgenosse«) vorausdeutet, und sich andererseits, um diese einzigartige, herausragende und epochemachende Vermittlerrolle in der Entstehungsgeschichte des modernen Denkens spielen zu können, auf eine Tradition bezieht, die sich wesentlich dem »Unglaubensgenossen Spinoza« als dem kühnen Denker (»penseur téméraire«) der radikalen Aufklärung und dem furchtlosen Begründer des neuzeitlichen Immanenzdenkens verdankt. »Die Transzendenz ist negiert; Immanenz ist das Ganze.«16 Das damit begründete Denkmuster führt, wie Yovel dargelegt hat, von den Marranen über Spinoza, den »Marranen der Vernunft«, zu Kant, Hegel, Heine, Moses Hess und Feuerbach und darüber hinaus (auch und gerade über Heine vermittelt) zu Marx, Nietzsche und Freud. Das ist ›in nuce‹ das Denken der Moderne.
4. Das Spinoza-Defizit der Büchner-Forschung Die Frage allerdings, ob und wie Büchner mit seinen ebenso umfangreichen wie eingehenden Spinoza-Studien17 in diesem theoriegeschichtli––––––––– 15 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion. In: Ders.: Studienausgabe. Frankfurt a. M. 2000. Bd. 9, S. 183. Peter Gay: »Ein gottloser Jude«. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1988 (hier das Briefzitat als Motto). 16 Yovel: Spinoza (s. Anm. 13), S. 534. 17 Diese Studien haben nicht erst im Mai 1836 eingesetzt, als Büchner bei der Vorbereitung seiner geplanten Zürcher Vorlesung über die Entwicklung der deutschen Philosophie seit Descartes das Spinoza-Skript (P II, S. 280–352) verfasst hat, vielmehr zeigt bereits Danton’s Tod (und hier vor allem das Philosophiegespräch zu Beginn des 3. Aktes) ebenso einschlägige wie genaue Spinoza-Kenntnisse, ohne dass es jedoch bisher der Forschung gelungen wäre, die spinozistischen Theorieelemente des Dramas schlüssig zu deuten und den Standort Büchners im neuzeitlichen, von der radikalen Aufklärung geprägten Atheismus-Diskurs zu bestimmen. Bereits im Dezember 1833 hatte sich Büchner »mit aller Gewalt in die Philosophie« geworfen (Brief an August Stöber, 9. Dezember 1833). Rodney Taylor: Büchner’s Danton and the Meta-
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chen Kontext zu verorten ist, ist bisher weder von Yovel18 gestellt noch von der Büchner-Forschung beantwortet worden, für die die philosophiehistorischen Arbeiten des Dichters offenbar allzu lange »ein Buch mit sieben Siegeln«19 gewesen sind und die, wie es scheint, noch immer nicht den geeigneten methodischen Ansatz gefunden hat, um bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, zu überzeugenden, in sich widerspruchsfreien und der historischen Problemlage gerecht werdenden Feststellungen zu gelangen. Gleichwohl lässt sich an diesem Punkt bereits der »merkwürdigste Parallelismus«20 zwischen Heine und Büchner beobachten. Beide sind nicht nur bedeutende Spinoza-Kenner gewesen, sondern haben dieser Spinoza-Kenntnis auch einen prägnanten literarischen Ausdruck gegeben: Heine in der Philosophie-Schrift, in der er den »großen Spinoza« (»Spinosa, le grand athée«) zum »Drehpunkt der Schrift«21 gemacht hat, Büchner mit seinem noch immer rätselhaften Spinoza-Skript, das wohl zunächst einmal dazu gedient hat, den »ursprünglichen Denkanstoß der frühen europäischen Aufklärung«22 zu rekonstruieren, das aber vor allem auch in Zusammenhang mit einem grundsätzlichen philosophischen Interesse zu sehen ist, das »bis in jede Zeile« des Dramatikers ausstrahlt,23 auch wenn die Kunstform zugleich auf eine nachhaltige Weise
––––––––– physics of Atheism. In: DVjs 69 (1995), S. 231–246. Gideon Stiening: Georg Büchner und die Philosophie. In: Der Deutschunterricht 6/2002, S. 47–57. MBA 3.4, S. 169. 18 Büchner wird in dem Standardwerk von Yovel (s. Anm. 13) ebenso wenig erwähnt wie er von der Vormärzforschung berücksichtigt wird, die sich mit der SpinozaRezeption der dreißiger Jahre befasst. Olaf Briese: Substanz oder Subjekt? Zum »SpinozaStreit« im Vormärz bzw. Biedermeier. In: Wiener Jahrbuch für Philosophie 28 (1996), S. 135– 145. 19 So Poschmann (P II, S. 925). 20 Ich verwende das Wort vom »merkwürdigste[n] Parallelismus«, das Heine in einem anderen Zusammenhang (DHA 8.1, S. 77) benutzt hat, und beziehe es in einer Art ›Ideenassoziation‹ auf die Heine-Büchner-Konstellation. Vgl. den Schluss dieses Aufsatzes. 21 Willi Goetschel: Heines Spinoza: Ent/Mythologisierung der Philosophie als Projekt der Entzauberung und Emanzipation. In: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongress 1997. Hrsg. v. Joseph A. Kruse, Bernd Witte und Karin Füllner. Stuttgart 1999, S. 571–585, hier S. 576. Ders.: Spinoza’s Modernity. Mendelssohn, Lessing, and Heine. Madison 2004, S. 253–276. 22 P II, S. 955. 23 P II, S. 925. Stiening: Büchner und die Philosophie (s. Anm. 17), S. 50.
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vom »Komischwerden der Philosophie«24 gezeichnet ist. Man kann es schließlich als eine besondere ›Pointe‹ dieses »merkwürdigsten Parallelismus« ansehen, dass sich die beiden Literaten nahezu zeitgleich im letzten Lebensjahr von Büchner als Spinoza-›Dozenten‹ betätigt haben: Büchner bei der Vorbereitung seines Philosophie-Kurses, Heine als Plauderer im Pariser Salon, in dem er zwanglos (»beide Hände in den Taschen«) damit beschäftigt war, »nach seiner deutschen Weise, zu dociren, und seine Ansichten über Spinozas Philosophie zu entwickeln«.25 Es ist in der Forschung unumstritten, dass diese Philosophie auch die Anschauungsweise der beiden Schriftsteller geprägt hat und bis in die Werke hinein wirksam gewesen ist. So hat Heine, der Goethe als den »Spinoza der Poesie« (DHA 8.1, S. 101) bezeichnet hat, den ›penseur téméraire‹ »als die Quelle der Inspiration schlechthin«26 betrachtet, während die »philosophische Reflexionsleistung Büchners«, wie Stiening (etwas summarisch) bemerkt hat, »unweigerlich ihren Niederschlag in seinen literarischen und politischen Texten«27 gefunden hat. Das gilt für den spinozistischen Grundgedanken der »Selbsterhaltung« (»conservatio sui«)28 ebenso wie für die vom Autor der Ethik und seinem ›Deus sive natura‹ geprägte Naturauffassung.29 Trotzdem dürfte die Frage, wie Büchner in der Entstehungsgeschichte der Moderne und ihrem »höchst kontroversen Spannungsfeld philosophischer, naturwissenschaftlicher, politischer Ideen und Handlungsformen«30 einzuordnen ist, noch immer nicht zureichend beantwortet sein. Insbesondere greift die akribische Darstellung von Stiening31 dort zu kurz, wo sie Büchners Spinoza-Re––––––––– 24 Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ›voie physiologique‹ in Georg Büchners »Woyzeck«. In: GBJb 3 (1983), S. 200–239. 25 Dies die Schilderung eines anonymen Beobachters über eine Szene im Pariser Salon von Alfred de Vigny aus dem Jahr 1837: Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen. 2 Bde. Hrsg. v. Michael Werner. Hamburg 1973. Bd. 1, S. 352. 26 Goetschel: Heines Spinoza (s. Anm. 21), S. 576. 27 Stiening: Büchner und die Philosophie (s. Anm. 17), S. 50. 28 Friedrich Vollhardt: Das Problem der ›Selbsterhaltung‹ im literarischen Werk und in den philosophischen Nachlaßschriften Georg Büchners. In: Dedner/Oesterle, S. 17–36. 29 Robert Taylor: Georg Büchner’s Concept of Nature and its Relation to the Spinozan Absolute. In: Ders.: Perspectives of Spinoza in Works by Schiller, Büchner, and C. F. Meyer. New York 1995, S. 39–69. 30 Silvio Vietta: Selbsterfahrung bei Büchner und Descartes. In: DVjs 53 (1979), S. 417–428, hier S. 417. 31 Gideon Stiening: »Der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik«. Anmerkungen zu Georg Büchners Spinoza-Rezeption. In: GBJb 10 (2000–04), S. 207–239.
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zeption ausschließlich auf die Kriterien und Normen der akademischen Philosophiegeschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezieht. Diese Begrenzung verengt den Horizont. Das, was für die Zeitgenossen Büchners die theoriegeschichtliche (und politiktheoretische) Brisanz des radikalen Immanenzdenkers ausgemacht und seine subversive Wirkung in der Entstehungsgeschichte der Moderne zwischen Hegel, Heine, Moses Hess, Feuerbach, Marx und Nietzsche bestimmt hat,32 bleibt dabei unbeachtet. Dieses Spinoza-Defizit der Büchner-Forschung (und dieses Büchner-Defizit der Spinoza-Forschung) kann auch hier nicht behoben werden. Immerhin lassen sich am Beispiel Heines und seines »Unglaubensgenossen Spinoza« vielleicht die Koordinaten bestimmen, die auch bei der Beschäftigung mit Büchners SpinozaRezeption – so oder so – zu beachten sind.
5. Noch einmal: das System der Natur Die für das ›Making of Modernity‹ maßgebenden Traditionslinien, die nicht zuletzt durch die Spinoza-Rezeption der radikalen Aufklärung geprägt sind, kreuzen sich im System der Natur,33 das dem ›Ancien Régime‹ schon gleich nach seinem Erscheinen als ein Elaborat erschienen war, das unter dem Vorwand der »liberté de penser« (also der spinozistischen ›libertas philosophandi‹) mit der einen Hand »den Thron erschüttern« und mit der anderen »die Altäre umstürzen« wollte. So der öffentliche Ankläger Séguier in seinem ›Réquisitoire‹.34 Das schreckliche Buch (»ce livre abominable«),35 »Synthese und Programm«36 der radikalen Aufklärung in einem, war folglich genau der Text, der den jungen Heine faszinieren und in seinen Bann ziehen musste. Es ist deshalb kein biographischer Zufall und erst recht keine geistesgeschichtliche Marginalie, dass er das Werk bereits 1813 als Schüler auf dem Düsseldorfer Lyceum durch den Philosophie-Unterricht des mit der Heine-Familie befreundeten Ägidius Jakob Schallmayer kennen gelernt und schon in jungen Jahren eben––––––––– 32 Yovel: Spinoza (s. Anm. 13), S. 265–482. 33 Jacques Moutaux: D’Holbach et Spinoza. In: Spinoza au XVIIIe siècle. Hrsg. v. Olivier Bloch. Paris 1990, S. 151–167. Anna Minerbi-Belgrado: Paura e ignoranza. Studio sulla teoria della religione in d’Holbach. Florenz 1983. 34 Abgedruckt in: Holbach: Système (s. Anm. 9), Bd. 2, S. 404. 35 Das anonyme Pamphlet Nouvelle Philosophie dévoilée. Et pleinement convaincue de Lèse Majesté Divine et Humaine au premier chef (1771). Nach Mortier (s. Anm. 8), S. 43. 36 Mortier: Le »Système de la nature« (s. Anm. 8), S. 48.
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so begeistert wie aufmerksam gelesen hat, wie sich dem Buch Le Grand (DHA 6, S. 218) sowie zwei weiteren Holbach-Anspielungen im Aufsatz Über Polen (ebd., S. 67) und in einem Bruchstück zur Reise von München nach Genua (DHA 7.1, S. 329), aber auch der Darlegung über das »große Naturavanzement« in Die Stadt Lukka (ebd., S. 160)37 entnehmen lässt. Das Système de la nature ist das einzige französische Buch des 18. Jahrhunderts, das ›expressis verbis‹ in der Nachschrift genannt wird, die der Schüler Clemens Fleckenstein 1812 unter der Überschrift Darstellung und Kritik der Hauptsysteme der Philosophie nach den Vorlesungen des Herrn Schallmayer, Professor der Philosophie zu Düsseldorf angefertigt hat. Diese Nachschrift, die sich heute im Heine-Institut befindet, aber nie veröffentlicht worden ist,38 belegt im einzelnen, dass Heine das Denken der radikalen Aufklärung seit seinem »dreyzehnten Lebensjahr« (DHA 15, S. 60) vertraut gewesen ist. Da Schallmayer der »wahre Verfasser« des Werks, wie es in der Nachschrift heißt,39 noch nicht bekannt gewesen ist, Heine aber im Herbst 1822 namentlich den »Baron Holbach« (DHA 6, S. 67) genannt und sich sogar kokett zu seinen »eifrigste[n] Anhänger[n]« in Beziehung gesetzt hat, ist ersichtlich, dass das Holbach-Interesse auch nach der Schulzeit unvermindert fortbestanden hat. Im Buch Le Grand von 1826 hat Heine lakonisch, aber pointiert auf seine Lektüre hingewiesen: »[I]ch war damals sehr irreligiös und las den Thomas Paine, das Système de la nature« (ebd., S. 218). Kennzeichnend ist dabei der punktuell aufblitzende Lektüre-Zusammenhang zwischen dem republikanischen Lehrbuch über die Menschenrechte (The Rights of Man) von Thomas Paine und der atheistischen Programmschrift von Holbach sowie die Redewendung »ich war damals«. Der Schriftsteller hat bei seinen gezielten Insinuationen, die den Republikanismus als das »staatsgefährlichste Gedankengesindel« (DHA 14.1, S. 287) und den nicht weniger brisanten Atheismus betreffen, immer nur gesagt, dass er »damals« (in der Vergangenheit) bestimmte Überzeugungen gehabt habe. Er hat aber nie schwarz auf weiß erklärt, dass das ›jetzt‹ (in der Gegenwart) der Fall sei. Dieses ›damals, nicht jetzt‹ hat offensichtlich dem Selbstschutz gedient. Es ist ein rhetorischer Topos im ––––––––– 37 Klaus Pabel: Heines »Reisebilder«. Ästhetisches Bedürfnis und politisches Interesse am Ende der Kunstperiode. München 1977, S. 210. 38 Handschrift, 181 S., Heine-Institut, Düsseldorf. Das Institut hat mir freundlicherweise eine Kopie der Handschrift zur Verfügung gestellt. 39 Ebd., S. 35.
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Rahmen der List beim Schreiben der Wahrheit, eine Brechtsche ›astuzia‹ beim Verwischen der Spuren. »Was immer du sagst, sag es nicht zweimal Findest du deinen Gedanken bei einem andern: verleugne ihn. [...] Verwisch die Spuren!«40
Das gilt offenbar auch für die Holbach-Fährte, die Heine, ohne das System der Natur und seinen Verfasser beim Namen zu nennen, in den Geständnissen und den Memoiren gelegt hat. Während der Schriftsteller in den Geständnissen betont hat, dass er »schon im Knabenalter den besagten philosophischen Vorlesungen beywohnen durfte«, in denen Schallmayer »unumwunden die freygeistigsten [...] Systeme auseinandersetzte, wie grell diese auch gegen die orthodoxen Dogmen abstachen« (DHA 15, S. 53), hat er die Philosophie-Kurse seines Mentors in den Memoiren fast schon als eine ›Schule des Atheismus‹ erscheinen lassen und am Schallmayer-Unterricht gerühmt, dass er »alle Systeme der freyen Denker« (ebd., S. 60) – in einer Variante: »alle Systeme der Freygeister« (ebd., S. 1069) – vorgetragen habe. Es versteht sich von selbst, dass zu diesen »Systemen« auch und gerade das System der Natur gehört hat. Die von Heine 1826 im Buch Le Grand genannte Holbach-Lektüre muss man sich dabei offensichtlich in Zusammenhang mit der frühen Spinoza-Lektüre denken, über die sein Bruder Maximilian berichtet hat.41 Sie illustriert die grundlegende, lebens- und werkbestimmende Wirkung, die für den Schriftsteller von den Düsseldorfer Lektionen ausgegangen ist, die ihn nicht nur mit den »freygeistigsten [...] Systeme[n]« der radikalen Aufklärung und ihrem philosophischen Stichwortgeber, dem »Unglaubensgenossen Spinoza«, vertraut gemacht, sondern auch, wie Heine unverhohlen geschrieben hat, dauerhaft seinen »Unglauben« (DHA 15, S. 61) – im Klartext gesagt: seinen Atheismus – begründet haben.
––––––––– 40 Bertolt Brecht: Aus dem Lesebuch für Städtebewohner. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Bd. 11: Gedichte I. Frankfurt a. M. 1988, S. 157. 41 Diesem Bericht zufolge hat der Schriftsteller als Schüler zusammen mit einem Freund »Spinozas Werke« im Original gelesen und sich daneben »mit rationalistischen Schriften früh vertraut« gemacht. Maximilian Heine: Erinnerungen an Heinrich Heine und seine Familie. Berlin 1868, S. 32f.
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6. Heines Atheismus: ein ganz gottloser Jude »Aus den frühesten Anfängen erklären sich die spätesten Erscheinungen« (ebd., S. 60), hat Heine am Anfang der Memoiren bemerkt. Man wird sich, wie mir scheint, daran gewöhnen müssen, diese Maxime als das zu lesen, was sie ist: ein klares und deutliches Bekenntnis des ›Unglaubensgenossen Heine‹ zu seinem eigenen »Unglauben«. Dieser »Unglaube« ist zureichend nur dann bestimmt, wenn man ihn im Sinne der klassischen deutschen Philosophie gemäß der Darstellung des Schriftstellers in der Philosophie-Schrift als den »vollständigsten Atheismus« (ebd., S. 29) versteht. Dieser »vollständigste Atheismus«, der sich im Kontext der Geständnisse – und im Selbstverständnis Heines – mit dem »krassesten Atheismus« (ebd., S. 33) der sozialen Bewegung, dem ›Helden‹ der Lutezia-Berichte, deckt, hat im Zusammenhang der europäischen Geschichte und Geistesgeschichte eine gemeinsame Quelle: die von dem »Unglaubensgenossen Spinoza« als einem kühnen Denker (»penseur téméraire«) vorbereitete, durch sein Beispiel ins Leben gerufene und sein Werk philosophisch begründete radikale Aufklärung. Heine ist von seiner Schulzeit an »sehr irreligiös« (DHA 6, S. 218) gewesen und hat diese Einstellung niemals aufgegeben, wie das immanenzphilosophische Diktum über die Notwendigkeit in den Briefen über Deutschland und den Geständnissen zeigt. Beide Aussagen beziehen sich auf das ›opus magnum‹ von 1834 und bestätigen anhand der Daten 1834 (Philosophie-Schrift), 1844 (Briefe über Deutschland) und 1854 (Geständnisse) »la plus stricte unité de pensée« (DHA 13.1, S. 165), die strengste gedankliche Einheit, die nicht nur das Pariser Werk ›in toto‹ kennzeichnet, sondern bis auf die Düsseldorfer Zeit zurückgeht und spätestens beim Verlassen des Berliner »Philosophie-Auditoriums«42 wesentlich geformt und in seiner Substanz bestimmt gewesen ist. So hat sich Heine im Brief an Moses Moser vom 18. Juni 1823 auf den ›kleinen Amsterdamer Juden‹ (»le petit juif d’Amsterdam«) bezogen, der dem alten Jehova ohne Umschweife ins Ohr gesagt hat: »entre nous, Monsieur, vous n’existez pas«,43 bevor sich der Schriftsteller 1827 im zweiten Band der Reisebilder zu ›seinem‹ »Unglaubensgenossen Spinoza« bekannt und sieben Jahre ––––––––– 42 Brief an Immanuel Wohlwill, 7. April 1823. Heinrich Heine: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Bd. 20: Briefe 1815–1831. Bearbeiter: Fritz H. Eisner. Berlin 1970, S. 73. 43 Ebd., S. 97.
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danach den Immanenzdenker in der französischen Version der Philosophie-Schrift als einen ›großen Atheisten‹ bezeichnet hat. An der gleichen zentralen Textstelle, die in der deutschen Fassung den »großen Spinoza« (DHA 8.1, S. 62) gefeiert hat, hat ihn die französische Fassung als »Spinosa, le grand athée« (ebd., S. 301) gewürdigt. Die atheistische Spinoza-Pointe der Philosophie-Schrift (»großer Spinoza« / »grand athée«) ist von der Heine-Forschung, die sich ohne Verständnis für den deutsch-französischen Doppelcharakter des Werks offenbar immer nur mit der deutschen Fassung beschäftigt hat, eigenartigerweise nie bemerkt worden. Diese Pointe ist jedoch der immanenzphilosophische Code, der nicht nur anhand der Daten 1834/1844/1854 das Pariser ›work in progress‹ entschlüsselt, sondern am Beispiel der Jahreszahlen 1823/1827/1834, die den »Unglaubensgenossen Spinoza« als den »petit juif« / »grand athée« ausweisen, die »strengste Einheit der Ansichten« (DHA 13.1, S. 293) markiert, die dem Werk des Dichters von vornherein eingeschrieben gewesen ist. Heine ist von den »frühesten Anfängen« bis zu den »spätesten Erscheinungen« ein ›ganz gottloser‹ Jude gewesen, wie es nach ihm Sigmund Freud und vor ihm Baruch de Spinoza gewesen sind, und er ist es (ebenso wie sein ›verstockter Freund‹ Marx) auch sein Leben lang geblieben. Eben dies hat seinen Beitrag zum »Making of Modernity« bestimmt, ihn zu einem »Befreier des 19. Jahrhunderts« im Sinne von Arnold Ruge (DHA 8.2, S. 588) gemacht und einen Paradigmawechsel befördert, auf den Yovel in seinem ›Klassiker‹ über den »Marranen der Vernunft« aufmerksam gemacht hat. »Wenn Freud Heine als ›Unglaubensgenossen‹ bezeichnet und damit dieselbe witzige Formulierung gebraucht, die Heine selbst für Spinoza geprägt hatte, so hat Freud alle drei mit Bedacht zusammengeschlossen. Aber die Subtilität ist noch größer: Man sagte zum Beispiel ›Deine Glaubensgenossen‹, wenn man mit einem Juden von anderen Juden sprach; Freud impliziert mit der Umkehrung ›Unglaubensgenosse‹ demnach eine Gemeinde nicht nur der Häretiker im allgemeinen, sondern der jüdischen Häretiker im besonderen, die es nur in der Geschichte der europäischen Moderne gab. Moses Hess sah in Spinoza den Archetypus dieser Erscheinung, einen Juden, der über alle geschichtlichen Religionen hinausgegangen und der Prophet einer weltlichen und diesseitigen Religion der Vernunft geworden war.«44
Der ›große Spinoza‹, den Heine als den Philosophen der Zukunft (DHA 8.1, S. 54) betrachtet hat, von dem die Gläser geschliffen worden sind, ––––––––– 44 Yovel: Spinoza (s. Anm. 13), S. 453f.
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durch die die ganze moderne Philosophie blickt (ebd., S. 187), ist Spinoza, der ›große Atheist‹. Diesen kühnen Denker hat der Schriftsteller in seinem Pariser Hauptwerk als einen »penseur téméraire« (ebd., S. 62) dargestellt, dem praktisch alle geistigen und religiösen Mächte seiner Zeit entgegengetreten sind: »Merkwürdig ist es, wie die verschiedensten Partheyen gegen Spinoza gekämpft. Sie bilden eine Armee, deren bunte Zusammensetzung den spaßhaftesten Anblick gewährt. Neben einem Schwarm schwarzer und weißer Kaputzen, mit Kreuzen und dampfenden Weihrauchfässern, marschiert die Phalanx der Enzyklopädisten, die ebenfalls gegen diesen penseur téméraire eifern. Neben dem Rabbiner der amsterdamer Synagoge, der mit dem Bockshorn des Glaubens zum Angriff bläst, wandelt Arouet de Voltaire, der mit der Pickelflöte der Persifflage zum Besten des Deismus musicirt. Dazwischen greint das alte Weib Jacobi, die Marketenderinn dieser Glaubensarmee.« (DHA 8.1, S. 62.)
Die jüdische und christliche Orthodoxie, die antiaufklärerischen Vernunftgegner, aber auch die gemäßigte Aufklärung und die deistische Fraktion der Enzyklopädisten: Sie alle haben sich dem Verfasser des Tractatus Theologico-Politicus als eine zwar komische und heterogene, aber durchweg entschlossene »Glaubensarmee« entgegengestellt, um ihn mit vereinten Kräften zu bekämpfen. Die strategische Konsequenz, die sich daraus für Heine ergeben hat, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Hier die »Glaubensarmee«, dort der »Unglaubensgenosse«. Tertium non datur.
7. Die Philosophie-Schrift als Holbach-Palimpsest: Die »politische Revolution« und die »Prinzipien des französischen Materialismus« Der furchtlose Philosoph, der, um die Menschen aufzuklären, den Schleier zu zerreißen wagt, mit dem ihre Augen bedeckt sind: Das ist die Rolle, die die radikale Aufklärung dem »freyen Denker« (›free-thinker‹, ›esprit fort‹) zugedacht, die Holbach seiner Darlegung über die ewigen Dekrete der Notwendigkeit zugrunde gelegt und die Heine aufgegriffen hat, um in der Philosophie-Schrift und besonders in der Erzählung über den ›Tod Gottes‹ sein »non est Deus« zu veranschaulichen: »Sehet, alle Gottheiten sind entflohen«. Der Heine-Text erweist sich dabei (und dies gilt auch ›in politicis‹) als ein Holbach-Palimpsest, das seine wesentlichen Theorie-Elemente dem System der Natur entnimmt, um sich im gleichen 251
Zusammenhang (sowohl vermittelt über Holbach als auch unvermittelt) auf ›seinen‹ »Unglaubensgenossen Spinoza« zu beziehen. »Alles, was existiert und in der Natur hervorgebracht wird, ist die Wirkung der Notwendigkeit.« Das ist die Auffassung, in der, wie Mortier dargelegt hat,45 die beiden Materialisten Diderot und Holbach als die geheimen ›Ko-Autoren‹ des Systems der Natur übereingestimmt haben, wobei diese Denkfigur letztlich auf Spinoza zurückgeht und eigens von Hegel im Spinoza-Kapitel seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie mit einem Zitat aus der Ethik unterstrichen worden ist: »In der Natur gibt es nichts Zufälliges.«46 Es kann deshalb auch nicht überraschen, dass der Gedanke der Notwendigkeit, in dem sich das Naturgesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung ausdrückt, als philosophisches Leitmotiv das ganze System der Natur strukturiert. Die Natur ist »die Ursache von allem« und existiert »durch sich selbst«,47 hat Holbach im Sinne Spinozas geschrieben, sich das »Deus sive natura« der Ethik zu eigen gemacht und in diesem Zusammenhang den spezifischen DiderotGedanken betont, dass die Natur im Sinne der spinozistischen Immanenzphilosophie das »große Ganze« (»le grand tout«) ist. »Alles beweist uns also, daß wir die Gottheit nicht außerhalb der Natur suchen dürfen. Wenn wir eine Idee von ihr haben wollen, so müssen wir sagen, sie sei die Natur; müssen sagen, daß diese Natur alles enthält, was wir zu erkennen vermögen, weil sie alle Dinge vereinigt, die imstande sind, auf uns zu wirken; müssen sagen, daß die Natur alles bewirkt, daß das, was sie nicht bewirkt, unmöglich ist, daß das, was außer ihr sein soll, nicht existiert und nicht existieren kann, weil es jenseits des großen Ganzen nichts geben kann; so müssen wir schließlich sagen, daß jene unsichtbaren Mächte, die die Einbildungskraft zu Triebfedern des Universums gemacht hat, entweder nur die Kräfte der wirkenden Natur oder aber überhaupt nichts sind.«48
Diese Ausführung, die Holbach im Kapitel »Vom Pantheismus und von den natürlichen Ideen über die Gottheit« gemacht hat, ist identisch mit den zentralen ›pantheistischen‹ Aussagen (und auch mit der pantheistischen ›Suada‹) der Philosophie-Schrift, wobei gerade für den Begriff des Pantheismus gilt, dass er eine Erfindung der radikalen Aufklärung ist, auf ––––––––– 45 Mortier: Le »Système de la nature« (s. Anm. 8), S. 57. 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. In: Ders.: Werke (in 20 Bänden), Bd. 20. Frankfurt a. M. 1986, S. 179. 47 Holbach: System (s. Anm. 9), S. 401. 48 Ebd., S. 402.
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den britischen »Freidenker« John Toland und sein Pantheisticon von 1720 zurückgeht49 und von Anfang an als Tarnkappe des Atheismus gedient, insofern auch das epochemachende Jacobi-Diktum vorweggenommen hat: »Spinozismus ist Atheismus«,50 und im übrigen mit dem SpinozaBild in dem für das 18. Jahrhundert richtungweisenden Dictionnaire historique et critique von Bayle übereinstimmt: »Spinoza (Benoît de), juif de naissance, et puis déserteur du judaïsme et enfin athée, était d’Amsterdam. Il a été un athée de système et d’une méthode toute nouvelle«.51 Doch dies nur am Rande. Wichtiger als die freilich nicht unerhebliche Begriffsgeschichte ist die theoriegeschichtliche (und politiktheoretische) Substanz. Das System der Natur basiert auf zwei Grundgedanken. Das ist, stichwortartig gesagt, erstens die neuzeitliche Immanenzphilosophie und zweitens die materialistische Glücksphilosophie. Geht Holbach – mit Spinoza – von der Prämisse aus, dass die Immanenz das Ganze ist, so zieht er – wie später Nietzsche – die Konsequenz, dass die Transzendenz eine Scheinwelt ist, die – und das ist die Grundthese der radikalen Aufklärung – dem theologisch-politischen Komplex, dem Machtkartell der Herren und Priester, »des Princes & des Prêtres«,52 als Mittel der Herrschaftssicherung dient und die Menschen davon abhält, dieses Machtkartell (mit den Worten Heines: »die Buhlschaft der weltlichen und der geistlichen Macht« [DHA 7.1, S. 194]) in Frage zu stellen, die vom Herren- und Priesterkartell gestützte soziale Unterdrückung zu beseitigen und menschenwürdige Verhältnisse auf Erden zu schaffen. Die »sinnlose Lehre von einem künftigen Leben«, hat Holbach im 13. Kapitel des ersten Teils geschrieben, hindert die Menschen daran, »sich mit ihrem wahren Glück zu befassen und auf die Vervollkommnung ihrer Institutionen, ihrer Gesetze, ihrer Moral und ihrer Kenntnisse bedacht zu sein; leere Trugbilder haben ihre Aufmerksamkeit gänzlich in Anspruch genommen; sie ergeben sich freiwillig in die religiöse und politische Tyran––––––––– 49 John Toland: Pantheisticon. Hrsg. v. Onofrio Nicastro und Manlio Iofrida. Pisa 1996 [Faksimile-Neudruck der lateinischen Erstausgabe von 1720 mit italienischer Übersetzung]. Ders.: Das Pantheistikon. Hrsg. v. Ludwig Fensch. Leipzig 1897. Gavina Cherchi: Pantheisticon. Eterodossia e dissimulazione nella filosofia di John Toland. Pisa 1990. 50 Friedrich Heinrich Jacobi: Schriften zum Spinozastreit. Hrsg. v. Klaus Hammacher und Irmgard-Marie Piske (Werke. Bd. 1). Hamburg 1998, S. 120. 51 Pierre Bayle: Pour une Histoire critique de la Philosophie. Choix d’articles philosophiques du »Dictionnaire historique et critique«. Hrsg. v. Jean-Michel Gros. Paris 2001, S. 525. 52 Anonymus: Traktat über die drei Betrüger / Traité des trois imposteurs (L’esprit de Mr. Benoit de Spinosa). Hrsg. v. Winfried Schröder. Hamburg 1992, S. 40.
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nei, sie verkümmern im Irrtum, schmachten im Elend, und das alles in der Hoffnung auf einen glücklicheren Tag und im festen Vertrauen darauf, daß ihre Not und ihre stumpfsinnige Geduld sie zu einer Glückseligkeit ohne Ende führen werden.«53
Demgegenüber ruft die Natur, wie Holbach bemerkt hat, die Menschen dazu auf, auf ihr »gegenwärtiges Glück« bedacht zu sein.54 Aber nicht nur dies. Das System der Natur formuliert auch bereits das politische Programm, indem es das Recht zum Widerstand, aber auch schon im Sinne der Jakobiner die Pflicht zur Revolution postuliert.55 So hat Holbach die Natur im Schlusskapitel des Systems, an dem Diderot mitgeschrieben hat, zum Sprecher in eigener Sache gemacht und sie in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten lassen, »daß Unterdrückung nur Feinde, daß Zwang nur unsichere Macht, daß Gewalt keine legitimen Rechte schafft und daß Wesen, die auf ihr Glück bedacht sind, sich früher oder später gegen eine Autorität auflehnen müssen, die sich nur auf Gewalttaten gründet.«56 Die Verbindung, die im System der Natur die moderne Immanenz- mit der materialistischen Glücksphilosophie eingeht, antizipiert nicht nur das »neue Lied« des Wintermärchens (»wir wollen auf Erden glücklich sein«), sondern bestimmt auch das Programm der Philosophie-Schrift. »Schon hier auf Erden möchte ich, durch die Segnungen freyer politischer und industrieller Instituzionen jene Seligkeit etabliren, die, nach der Meinung der Frommen, erst am jüngsten Tage, im Himmel, statt finden soll.« (DHA 8.1, S. 17.) Das ist zugleich das Programm der »politische[n] Revoluzion«, die sich – wie Heine ›expressis verbis‹ im gedanklichen Zentrum der Schrift hervorgehoben hat – »auf die Prinzipien des französischen Materialismus stützt« (ebd., S. 61).57 Diese von Heine in program––––––––– 53 Holbach: System (s. Anm. 9), S. 200. 54 Ebd., S. 205. 55 Victor Klemperer: Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Berlin 1954, Bd. 1, S. 253. Erich Köhler: Aufklärung I. Hrsg. v. Dietmar Rieger. Stuttgart 1984, S. 44. 56 Holbach: System (s. Anm. 9), S. 467. 57 Heine hat sich in der Philosophie-Schrift dreimal programmatisch zur »politische[n] Revoluzion« (DHA 8.1, S. 40, 61, 117) bekannt. Alle drei Aussagen sind von der Zensur gestrichen worden. Büchner, der die Schrift gleich nach ihrem Erscheinen Anfang 1835 gelesen und die »Stichworte« der ›Götterdemokratie‹ in Danton’s Tod »umgehend verwendet« (Poschmann) hat, hat insofern keine Gelegenheit gehabt, dem politischen Bekenntnis des Dichters zu begegnen und mit ihm die »eigentliche Tendenz dieses Buches« (DHA 8.1, S. 496) zur Kenntnis zu nehmen. Zur ›Heine-
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matischer Absicht genannten »Prinzipien des französischen Materialismus« sind unverkennbar die materialistischen Grundsätze, die Holbach als Protagonist der radikalen Aufklärung im System der Natur vertreten hat und die als Stütze/Grundlage/Fundament einer »politische[n] Revoluzion« dienen, die – so Heine wiederum wörtlich – darauf gerichtet sei, »das Wohlseyn der Materie, das materielle Glück der Völker« zu befördern (ebd., S. 61). Dieses Wohlsein deckt sich mit dem »bien-être«, das im Sinne Holbachs und der radikalen Aufklärung das Ziel einer jeden rechtmäßigen Regierung ist,58 während das »materielle Glück der Völker«, das Heine als Autor der Philosophie-Schrift zu befördern beabsichtigt, dem Streben nach Glück entspricht, das nach Ansicht der radikalen Aufklärung jeder Gesellschaft und jedem Einzelnen als elementare Antriebskraft dient. Jede Gesellschaft und jeder einzelne Mensch, so hat Holbach formuliert, ist wesentlich dadurch bestimmt, sich selbst erhalten zu wollen und nicht dem eigenen Unglück zustimmen zu können.59 Denkbar einfach hat der Verfasser des Systems der Natur seine Darlegungen zusammengefasst und so die »Prinzipien des französischen Materialismus« definiert: »Aber welches ist das Ziel des Menschen in dem ihm zukommenden Wirkungsbereich? Sein Ziel ist, sich zu erhalten und glücklich zu werden.«60 Das ist auch die Grundauffassung Heines gewesen, die er von Anfang an seinem Pariser Werk eingeschrieben hat. Beides, der naturrechtliche Grundsatz der ›conservatio sui‹ und die materialistische »philosophie du bonheur«, verbindet sich im »Recht zu leben« als dem »zunächst zu verfechtenden Menschenrecht« (DHA 10, S. 302), das zusammen mit dem »Recht zu essen« (und dies ist die programmatische Pointe der Verschiedenartigen Geschichtsauffassung) als ›Recht auf Selbsterhaltung‹ den für den ›Citoyen Heine‹ und sein Pariser Werk maßgebenden Zusammenhang von politischer Revolution und ihrer materialistischen Grundlage bildet. ––––––––– Montage‹ zuerst Thomas Michael Mayer in: GB I/II, S. 390–392 (Mayers Kommentar S. 126f.). Poschmann, S. 137–163, hier S. 155f. T. M. Holmes: The Rehearsal of Revolution. Georg Büchner’s Politics and his Drama »Dantons Tod«. Bern 1995, S. 100–106. Knapp, S. 113. MBA 3.4, S. 45. Takanori Teraoka: Spuren der »Götterdemokratie«. Georg Büchners Revolutionsdrama »Danton’s Tod« im Umfeld von Heines Sensualismus. Bielefeld 2006. 58 Holbach: System (s. Anm. 9), S. 109. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 103.
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8. Heine und Büchner: Republikanischer Kairos und republikanischer Diskurs im Krisenjahr 1832 »Unsere Zeit ist rein materiell«, hat Büchner Anfang Juni 1836 im Brief an Gutzkow geschrieben und bei dieser Gelegenheit seine wesentlichen politischen Ansichten zum Ausdruck gebracht. »Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen.«61 Über die grundsätzliche Bedeutung dieser Erklärung besteht in der Büchner-Forschung kein Zweifel. Auch wenn sich der Schriftsteller im gleichen Zusammenhang von den Jungdeutschen und damit, ohne ihn zu nennen, von Heine abgegrenzt hat, so lässt sich doch nicht übersehen, dass in der Sache der »merkwürdigste Parallelismus« (DHA 8.1, S. 77) besteht. Das betrifft die Zeitdiagnose ebenso wie die Gesellschaftstheorie und die Rechtsauffassung, schließt aber auch die entschiedene Parteinahme für das Volk, das vorbehaltlose Bekenntnis zur Revolution und das kategorische Verdikt über die »abgelebte moderne Gesellschaft« ein, von der Heine schärfer noch als Büchner gesagt hat: »Elle est depuis longtemps jugée, condamnée, cette vieille société. Que justice se fasse! Qu’il soit brisé, ce vieux monde, où l’innocence a péri, où l’égoïsme a prospéré, où l’homme a été exploité par l’homme!« (DHA 13.1, S. 167.) Der eklatante Parallelismus, der allerdings der landläufigen Auffassung der Heine-Forschung62 ebenso wie den einschlägigen Ansichten der Büchner-Forschung63 widerspricht, ist umso weniger ein Zufall, als Heine und Büchner, der Autor der Französischen Zustände und der Verfasser des Hessischen Landboten, wesentlich vom republikanischen Kairos im
––––––––– 61 P II, S. 440. 62 Norbert Altenhofer: Harzreise in die Zeit. Zum Funktionszusammenhang von Traum, Witz und Zensur in Heines früher Prosa (zuerst 1972). In: Ders.: Die verlorene Augensprache. Über Heinrich Heine. Hrsg. v. Volker Bohn. Frankfurt a. M. 1993, S. 54f., 268f. 63 Henri Poschmann: Heine und Büchner. Zwei Strategien revolutionär-demokratischer Literatur um 1835. In: Heinrich Heine und die Zeitgenossen. Geschichtliche und literarische Befunde. Berlin 1979, S. 203–228. Beide, Altenhofer und Poschmann, sind profunde Kenner der Materie und hier nur ›pars pro toto‹ genannt.
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Krisenjahr 183264 geprägt gewesen sind und beide den im Schnittpunkt von jakobinischer Menschenrechtsprogrammatik, saint-simonistischer Gesellschaftsanalyse und neobabouvistischer Revolutionstheorie in den Pariser Volksgesellschaften, der Gesellschaft der Volksfreunde und der Gesellschaft der Menschenrechte, entstandenen ›neuen Republikanismus‹65 als die maßgebende politische und soziale Kraft der Epoche er––––––––– 64 Der republikanische Kairos ist der Augenblick, der erstens durch den kometenhaften Aufstieg Blanquis zu einer emblematischen Jahrhundertgestalt, zweitens durch das kühne Auftreten der Gesellschaft der Volksfreunde im Prozess der Fünfzehn, drittens durch die folgenreiche Begegnung der ›gauche républicaine‹ mit der entstehenden Arbeiterbewegung und viertens durch die kultur-, mentalitäts- und mediengeschichtliche ›Sternstunde‹ gekennzeichnet ist, die das ›Dreigestirn‹ Blanqui/Daumier/Heine mit den Mitteln der Volksrede, der Karikatur und des Zeitungsartikels in der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« herbeigeführt hat. Mit dem republikanischen Kairos sind im engeren Sinne die Monate Januar und Februar 1832 bezeichnet, die durch die beiden Blanqui-Reden vom 12. Januar (Prozess der Fünfzehn) und 2. Februar (Versammlung der Gesellschaft der Volksfreunde), die ersten Bildsatiren von Daumier in der Zeitschrift La Caricature sowie die Artikel I bis III der Französischen Zustände bestimmt sind. Der republikanische Kairos betrifft aber auch in einem weiteren Sinne den Zeitraum, der vom ersten Seidenweberaufstand in Lyon (Ende November 1831) bis zum Pariser Republikaner-Aufstand vom 5. und 6. Juni 1832 reicht. Das ist zugleich der Zeitraum, den die Französischen Zustände (Artikel I bis IX und die Tagesberichte) abdecken. Auf den Seidenweberaufstand hat sich Heine im Artikel I bezogen, während der Republikaner-Aufstand den Fluchtpunkt der ganzen Artikelserie bildet. Bodo Morawe: Daumiers »Sujets«, Blanquis Rede und der Citoyen Heine. Republikanischer Kairos und intermediales ‚crossover‘ im Krisenjahr 1832. In: Textprofile intermedial. Hrsg. v. Dagmar von Hoff und Bernhard Spies. München 2008. Ders.: Juni 1832: Heine und der Aufstand. In: »Dichter unbekannt«. Heine lesen heute (Internationales Heine-Symposium Bonn, Mai 1997). Hrsg. v. Dolf Oehler und Karin Hempel-Soos. Bonn 1998, S. 81–108. 65 Ich übernehme den Begriff des ›neuen‹ Republikanismus von Lorenz von Stein: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. 3 Bde. Darmstadt 1959. Bd. 2, S. 368. Bodo Morawe: Heines »Französische Zustände«. Über die Fortschritte des Republikanismus und die anmarschierende Weltliteratur. Heidelberg 1997. Ders.: »La force des choses! Die Macht der Dinge!« Heine und der französische Republikanismus: 1830 bis 1835. In: Euphorion 93 (1999), S. 10–31. Ders.: Republikanischer Diskurs. Ein Paralipomenon zu Heines Philosophie-Schrift und zur Metropolenforschung. In: Zwischen Zentrum und Peripherie. Die Metropole als kultureller und ästhetischer Erfahrungsraum. Hrsg. v. Christian Moser u. a. Bielefeld 2005, S. 199–231. Ders.: Eine andere Politik: Heines Republikanismus. In: Entstehen des Öffentlichen – Eine andere Politik. Hrsg. v. Lars Lambrecht. Frankfurt a. M. 2007, S. 53–75. Grundlegend für die Beschäftigung mit dem ›neuen‹ Republikanismus als Protestbewegung, Fundamentalopposition und ›Gegengesellschaft‹ ist die zwölfbändige Dokumentensammlung, die in der Büchner-Forschung unter dem Blickwinkel des Streits um die Danton-Auslegung nur selektiv und in der HeineForschung überhaupt nicht wahrgenommen worden ist. Les Révolutions du XIXe siècle. Première Série: 1830–1834. 12 Bde. Paris 1974 (photomechanischer Nachdruck von 479 Flugschriften, Manifesten etc.). Besonders wichtig sind die Bände I–IV: Les
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fahren, durchdacht und verstanden haben: Heine in der Metropole Paris, Büchner an der Straßburger Peripherie. Für beide Literaten ist diese unmittelbare Erfahrung, aber auch dieser politische Denk- und Lernprozess gleichermaßen grundlegend, ja werkbestimmend gewesen. »Eine neue Kunst, eine neue Religion, ein neues Leben wird hier geschaffen,« hat Heine am 10. Februar 1832 im Artikel III der Französischen Zustände geschrieben, »und lustig tummeln sich hier die Schöpfer einer neuen Welt. Die Gewalthaber gebärden sich kleinlich, aber das Volk ist groß und fühlt seine schauerlich erhabene Bestimmung.« (DHA 12.1, S. 103.) Desgleichen hat er im Artikel IX vom 16. Juni 1832, der von der Augsburger Allgemeinen Zeitung nicht mehr gedruckt worden ist, über den ›peuple de Paris‹ bemerkt: »Wahrlich, wenn ich dieses Volk betrachte, wie es zuweilen hervorstürmt, und auf dem Tische, den man Altar nennt, die heiligen Puppen zerschlägt, und von dem Stuhl, den man Thron nennt, den rothen Sammet abreißt, und neues Brod und neue Spiele verlangt, und seine Lust daran hat, aus den eigenen Herzwunden das freche Lebensblut sprudeln zu sehen: dann will es ––––––––– Associations Républicaines, 1830–1834; La Société des Amis du Peuple, 1830–1832; La Société des Droits de l’Homme et du Citoyen, 1832–1834; Naissance du Mouvement Ouvrier, 1830–1834. Weitere Quellen erschließt: Gabriel Perreux: Au temps des sociétés secrètes. La propagande républicaine au début de la Monarchie de Juillet (1830–1835). Paris 1931. Die frühe Sichtung dieser Quellen ist das große Verdienst von Thomas Michael Mayer (GB I/II) gewesen. Ihre selektive Auswertung hat jedoch zur ›Konstruktion‹ von Fraktionen geführt, die so nicht bestanden haben oder in der Geschichte der Bewegung unerheblich gewesen sind. Das betrifft beispielsweise die Unterscheidung, die noch der Danton-Kommentar zwischen dem »neobabouvistisch-materialistischen« und dem »neojakobinisch-spiritualistischen Flügel« der republikanischen Bewegung (MBA 3.2, S. 193) macht. Desgleichen wird die Frage »Georg Büchner – Spätjakobiner oder Frühkommunist?« (GB I/II, S. 19–158) nicht dem sozialgeschichtlich bedeutsamen Theoriebildungsprozess der französischen Linken in den dreißiger und frühen vierziger Jahren gerecht. Die neobabouvistischen »Travailleurs Egalitaires« von 1839 sind noch immer von der jakobinischen Menschenrechtsprogrammatik geprägt gewesen, und die im Zeichen der Jakobinismus-Renaissance am Beginn der dreißiger Jahre entstehende ›gauche républicaine‹ hat bereits die Grundgedanken Babeufs (und die ›soziale‹ Robespierre-Deutung von Buonarroti) rezipiert. Die neue ›french theory‹ der vierziger Jahre kann ohne die jakobinische Menschenrechtsprogrammatik (und ohne die programmatische Rechteerklärung von Robespierre) mit ihren vier Pfeilern, dem Recht zu leben, dem Recht zu essen, dem Recht zu wissen und dem Recht zum Aufstand, nicht gedacht werden. Das spiegelt sich insbesondere auch in der Programmatik des Pariser Werks von Heine. Der Schriftsteller ist ein seismographischer Beobachter der ›französischen Zustände‹ gewesen, der den Theoriebildungsprozess der Pariser Linken nicht nur genau registriert, sondern auch im Sinne der »Fortschritte des Republikanismus« (DHA 11, S. 217) als ›Kämpe der Revolution‹ mitvollzogen hat.
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mich bedünken, dieses Volk glaube nicht einmal an den Tod.« (Ebd., S. 181.)66
Heine musste seine Berichterstattung abbrechen, nachdem der Metternich-Intimus Gentz bereits am 21. April 1832 beim AZ-Verleger Cotta interveniert und mit den heftigsten Angriffen gegen den »verruchte[n] Abentheurer« Heine aufgewartet hatte. »Endlich aber – verzeihen Sie mir das starke Wort – ist das Maß dieser falschen, und wie ich glaube, höchst verderblichen Richtung voll geworden, durch die Aufnahme der schmählichen Artikel, die Heine seit einiger Zeit, unter dem Titel: Französische Zustände, wie einen Feuerbrand, in Ihre, solchem pöbelhaften Muthwillen bis dahin unzugängliche Zeitung geworfen hat.«67
Unverhohlen hatte Gentz dabei am Beispiel des Artikel V der Französischen Zustände vom 25. März 1832 (DHA 12.1, S. 116) auch die ›republikanische‹ Tendenz der Heine-Artikel zur Zielscheibe seiner Kritik gemacht. »Die Geistlichkeit und den Adel mag man längst nicht mehr; sie sind abgethan; requiescant in pace! Wenn aber Männer, wie Perier, und ihre ›Anhänger, das heißt, Angestellte, Banquiers, Gutsbesitzer, und Boutiquiers‹ noch mehr perhorreszirt werden, als die ehemaligen Fürsten, Grafen und Barone, wer soll denn zuletzt die Staaten regieren?«68
Zur gleichen Zeit hat Büchner in der Straßburger Studentenverbindung ›Eugenia‹ den »Kampf der Freiheit in Deutschland« erörtert (Protokoll vom 16. Februar 1832), in »grellen Farben« von der »Verderbtheit der deutschen Regierungen« gesprochen (Protokoll vom 24. Mai 1832), über »das Unnatürliche unsers gesellschaftlichen Zustandes, besonders in Beziehung auf Reich und Arm« debattiert (Protokoll vom 28. Juni 1832) und »alle mögliche Blitze und Donnerkeile, gegen alles was sich Fürst ––––––––– 66 Im gleichen Zusammenhang hat Heine berichtet: »Es giebt hier keine Atheisten; man hat für den lieben Gott nicht einmal so viel Achtung übrig, daß man sich die Mühe gäbe, ihn zu läugnen.« (DHA 12.1, S. 181.) Acht Jahre später hat der Schriftsteller das Diskursmuster der Kritik am theologisch-politischen Komplex (Thron und Altar) erneut aufgegriffen und die Franzosen als »das tapferste und intelligenteste Volk, nein, ich will sagen eine Handvoll von dreyzig Millionen Unruhestifter[n] und Gottesläugnern« (DHA 13.1, S. 303) bezeichnet. 67 Friedrich von Gentz: Ungedruckte Denkschriften, Tagebücher und Briefe. Hrsg. v. Gustav Schlesier. Mannheim 1840, S. 213. 68 Ebd., S. 214. Das ist bereits die Frage nach dem neuen politischen Subjekt, die Heine gestellt und Gentz als nicht statthaft zurückgewiesen hat. Es ist die Schlüsselfrage des ›programme républicain‹.
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und König nennt«, geschleudert. Im Protokoll vom 5. Juli 1832 heißt es ›in extenso‹: »Freund Büchner dieser so feurige und so streng republicanisch gesinnte deutsche Patriot, schleudert einmal wieder, alle mögliche Blitze und Donnerkeile, gegen alles was sich Fürst und König nennt; und selbst die constitutionelle Verfassung unseres Vaterlands bleibt von ihm nicht unangetastet; weil sie seiner Meinung nach, nie das Wohl und das Glück Frankreichs befördern wird, so lange noch eine aristocratische Macht, wie die Pairs Cammer, eine dritte mächtige Hand an das Staatsruder zu legen berechtigt ist.«69
Auch in dieser Hinsicht belegen die Quellen, der Gentz-Brief und die ›Eugenia‹-Protokolle, den ›merkwürdigsten Parallelismus‹. Während Heine seine Berichte »wie einen Feuerbrand« in das Cotta-Blatt geworfen hat, »schleudert« Büchner »Blitze und Donnerkeile« gegen Fürsten und Könige. Das gleiche Diskursmuster zeigt sich bei der Einschätzung des Bürgerkönigs Louis-Philippe, den Büchner im Hessischen Landboten im Sinne der ›neuen‹ Republikaner als einen politischen »Heuchler«70 charakterisiert und Heine in der gleichen Weise als einen Adepten der machiavellistischen »simulatio und dissimulatio« (DHA 13.1, S. 23) gekennzeichnet hat, um diese wirkungsmächtige Formel mit dem Zusatz zu kommentieren: »wir Deutschen haben nur ein einziges rohes Wort für beides, nämlich Heucheley!« (Ebd., S. 676.)71 Beide Schriftsteller haben im Bann einer virulenten (radikaldemokratischen, fundamentaloppositionellen und antidynastischen) Protest- und Volksbewegung gestanden, die zunächst in der Gesellschaft der Volksfreunde und dann in der Gesellschaft der Menschenrechte ihr informelles Zentrum gehabt hat (wobei dieses Zentrum zugleich als ein politisches Ideen-Laboratorium und ein sozialer ›Schmelztiegel‹ gewirkt hat), und beide sind bereit gewesen, die von dieser Bewegung, den »Fortschritten des Republikanismus« (DHA 11, S. 217), ausgehenden geschichtlichen Impulse zum Movens ihrer eigenen literarischen Arbeit zu machen. Unter den »Fortschritten des Republikanismus« hat Heine zum ––––––––– 69 Thomas Michael Mayer: Das Protokoll der Straßburger Studentenverbindung ›Eugenia‹. In: GBJb 6 (1986/87), S. 324–392. Die Protokollauszüge finden sich auf S. 360, 366, 368f. Im Protokoll vom 5. Juli 1832 steht »Bügner« statt »Büchner«. Desgleichen wurden bei der Wiedergabe die Abkürzungen aufgelöst. 70 P II, S. 61. 71 Der kommentierende Zusatz war zunächst von Kolb gestrichen worden, bevor die AZ den ganzen Artikel vom 12. Februar 1840 abgelehnt hat. Das Wort »roh« ist in der Handschrift ein nachträglicher Zusatz von Heine.
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einen die notwendige Verbreitung des republikanischen Gedankens, zum andern seine unerlässliche Vertiefung zur »neuen Doktrin, die alle socialen Fragen von einem höheren Gesichtspunkt betrachtet« (DHA 13.1, S. 32), und schließlich den politischen Akt ›par excellence‹, die erforderliche ›constitutio libertatis‹, die praktische Gründung einer Republik der Freien und Gleichen, verstanden. Das ist die Grundlage seiner ›höllischen Reklame‹ für die Republik und der Form-Inhalt-Dialektik der Lutezia.72 Nichts anderes hat dem jungen Büchner als Folge seiner Straßburger Erfahrungen und Lernprozesse vorgeschwebt, der in Gießen und Darmstadt nach französischem Muster seine Gesellschaft der Menschenrechte gegründet hat.73 Auch für Heine ist das französische Beispiel das epochale Muster gewesen. Die Deutschen glaubten noch »an Autoritäten, an eine hohe Obrigkeit, an die Polizey, an die heilige Dreyfaltigkeit, an die hallesche Literaturzeitung, an Löschpapier und Packpapier, am meisten aber an Pergament. Armer Wirth! du hast die Rechnung ohne die Gäste gemacht!« (DHA 12.1, S. 181) hat Heine im brisanten ›Hambach-Artikel‹, dem subversiven Artikel IX der Französischen Zustände, geschrieben, in dem er das französische Exempel als das politische Paradigma und soziale Pattern der Moderne herausgestellt und kenntlich gemacht hat: Frankreich ist »seinem Wesen nach republikanisch« (ebd., S. 179). Das gleiche Paradigma »Französische (= Republikanische) Zustände«74 wird auch noch späteren Generationen – beispielsweise in den zwölf Jahren – im Sinne Heines als historisches Vorbild dienen. Es ist verhältnismäßig leicht, die vom republikanischen Kairos geprägten Haltungen zu beschreiben, die für Heine genauso wie für Büchner bestimmend gewesen sind: das betrifft die Liebe zum Volk, das Be––––––––– 72 Bodo Morawe: Höllische Reklame für die Republik. Zur Form-Inhalt-Dialektik der »Lutezia«. In: Zu Heinrich Heines Spätwerk »Lutezia«. Kunstcharakter und europäischer Kontext. Hrsg. v. Arnold Pistiak und Julia Rintz. Berlin 2007, S. 275–303. 73 Die Fakten sind allenthalben bekannt und haben zuletzt bei Knapp eine konzise Darstellung gefunden. Wie Adam Koch vor den Untersuchungsbehörden ausgesagt hat, hat Büchner »eine republikanische Verfassung als die einzige, der Würde des Menschen angemessene« betrachtet, die Gesellschaft der Menschenrechte nach französischem Vorbild geschaffen und »das materielle Elend des Volks« als den »revolutionären Hebel der geheimen Presse« zur allmählichen (»mit der Zeit«) Herbeiführung einer Republik angesehen. Katalog Marburg, S. 188. Thomas Michael Mayer: Die ›Gesellschaft der Menschenrechte‹ und ›Der Hessische Landbote‹. In: Katalog Darmstadt, S. 168–186. Hauschild 1993, S. 153–225, 275–287, 333–353. Knapp, S. 11–25. 74 Thomas Lange: Zwischen Gott und Teufel. Das Frankreichbild deutscher Schriftsteller im französischen Exil. In: Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und Publizistik. Hrsg. v. Dietrich Harth. Frankfurt a. M. 1994, S. 85.
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kenntnis zur Volkssouveränität, das Eintreten für die Volksherrschaft, die Verteidigung der Volksrechte, die Verachtung der Julimonarchie, den Hass auf die ›Geldaristokratie‹, den Kampf gegen die Geldherrschaft, die »bourgeoisie régnante«,75 die Parteinahme für die Mühseligen und Beladenen (die Pauper und Proletarier), den Protest gegen das Skandalon der Ausbeutung (»l’exploitation de l’homme par l’homme«), die Zustimmung zum Aufstand und ›last but not least‹ das Plädoyer für die politische Revolution und die soziale Emanzipation. Damit ist ein politiktheoretisches Raster, aber auch ein mentalitätsgeschichtliches Modell76 bestimmt. Ebenso wie Büchner hat sich Heine im Denk- und Verhaltensmuster des ›Citoyen‹ erkannt,77 und ebenso wie Heine ist Büchner im Sinne des ›neuen‹ Republikanismus und der Pariser Volksgesellschaften davon überzeugt gewesen, dass »nicht bloß die Form des Staates, son––––––––– 75 »[U]nablässig«, hat Heine in der französischen Lutezia-Vorrede geschrieben, habe er »die Misère der herrschenden Bourg[e]oisie« in »ihrer widerwärtigsten Blöße« (DHA 13.1, S. 293) gezeigt. Schärfer noch wird in der französischen Fassung »l’outrecuidance ignoble et ridicule et la nullité complète de la bourgeoisie régnante« betont. (DHA 13.1, S. 166) 76 Der Modellbegriff gestattet es, »spezifischer Phänomene so innezuwerden, daß von ihnen aus Licht auf das Ganze fällt«. Theodor W. Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (1964/65). Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2001, S. 255. 77 Dieses Denk- und Verhaltensmuster hat sich für beide in erster Linie im »Citoyen Blanqui« (DHA 12.1, S. 98) und seiner epochemachenden Verteidigungsrede im Prozess der Fünfzehn dargestellt, in der der ›Volksfreund‹ spektakulär das »Recht zu leben« reklamiert und sich unter dem Eindruck des Lyoneser Seidenweberaufstands die babouvistische Programmatik des Kriegs der Armen gegen die Reichen zu eigen gemacht hat. Blanqui: »Ja, meine Herren, dies ist der Krieg zwischen Reichen und Armen. Die Reichen haben es so gewollt, denn sie sind die Angreifer. Nur finden sie es schlecht, dass die Armen Widerstand leisten. Und über das Volk würden sie gerne sagen: ›Dieses Tier ist so wild, dass es sich verteidigt, wenn man es angreift.‹« Die Rede ist sogleich als Flugschrift in Paris und im März 1832 in einer deutschen Übersetzung in Straßburg verbreitet worden. Büchner hat sie ebenso zweifellos wie Heine gekannt. Défense du Citoyen Louis Auguste Blanqui devant la cour d’assises. 1832. Paris 1832 (Flugschrift, 15 S.) Prozess der Volksfreunde zu Paris. Ein Vorbild des Ernstes und der Kraft. Straßburg: gedruckt bei der Witwe Silbermann (deutsche Übersetzung, 1832, Flugschrift, 12 S.), Katalog Marburg, S. 95f. Louis-Auguste Blanqui: Schriften zur Revolution, Nationalökonomie und Sozialkritik. Hrsg. v. Arno Münster. Hamburg 1971, S. 40–51. Ders.: Œuvres I. Des origines à la Révolution de 1848. Hrsg. v. Dominique Le Nuz. Nancy 1993, S. 189–205. Der Citoyen und der Republikaner sind im zeitgenössischen Sprachgebrauch der europäischen Linken Synonyma gewesen. Herrgen: »Bei J.-J. Rousseau findet sich erstmals der revolutionäre Begriff des ›citoyen‹ als Subjekt der staatlichen Souveränität.« Joachim Herrgen: Die Sprache der Mainzer Republik (1792/93). Historisch-semantische Untersuchungen zur politischen Kommunikation. Tübingen 2000, S. 209–222, hier S. 210.
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dern das ganze gesellschaftliche Leben, nicht geflickt, sondern neu umgestaltet, neu begründet, ja neu geboren werden sollte.« (DHA 7.1, S. 266.) Das ist der radikaldemokratische und sozialrevolutionäre Grundgedanke, den Heine dem programmatischen Subtext seines Pariser Werkes von den Französischen Zuständen bis zur französischen Lutezia-Vorrede eingeschrieben hat, der aber auch für das Denken und Handeln von Büchner in jeder Hinsicht richtungweisend gewesen ist. Dieser Grundkonsens betrifft nicht zuletzt die elementaren Einschätzungen, die Büchner im Brief an Gutzkow Anfang Juni 1836 vorgenommen hat. Ebenso wie Büchner hat Heine die Bildung eines neuen Lebens im Volk gesucht (»je suis peuple moi-même«).78 Das »materielle Glück« zu verwirklichen, ist auch für ihn im Sinne der Gesellschaft der Volksfreunde und ihres im Prozess der Fünfzehn vertretenen Konzepts79 das politische Programm gewesen, das er seiner PhilosophieSchrift, dem ›opus magnum‹ der dreißiger Jahre, zugrunde gelegt hat, und genauso wie Büchner hat er sich in sozialen Dingen auf einen »absoluten Rechtsgrundsatz« bezogen: das Recht zu essen (»Le pain est le droit du peuple«), in dem sich für den Autor der Verschiedenartigen Geschichtsauffassung »das zunächst zu verfechtende Menschenrecht, das Recht zu leben« (DHA 10, S. 302) materialisiert hat und das von ihm im Sinne der historischen Maxime der Pariser Sansculotten80 zu einem »volle[n] unveräußerliche[n] Genußrecht« (DHA 8.1, S. 217), dem Programm der ›égalité des jouissances‹, ausgeweitet worden ist. Das sind zugleich, wie Heine in den AZ-Berichten der frühen vierziger Jahre geschrieben hat, die »heutigsten Plebejer-Ideen« (DHA 13.1, S. 89), in denen er die »idées démocratiques les plus modernes« (ebd., 228) gesehen hat.81 Ebenso wie ––––––––– 78 Bodo Morawe: »Ich selber bin Volk, je suis peuple moi-même«. Heines Philosophie-Schrift als Palimpsest und die Republik der Gleichen. In: Palimpseste. Zur Erinnerung an Norbert Altenhofer. Hrsg. v. Joachim Jacob und Pascal Nicklas. Heidelberg 2004, S. 63–114. 79 Im gleichen Prozess der Fünfzehn, in dem sich Blanqui zum »droit de vivre« bekannt hat, hat Raspail das »materielle Glück« zum wesentlichen Ziel des ›neuen‹ Republikanismus erklärt: »Cependant le peuple est né pour le bonheur matériel, cependant la nature en nous donnant le bienfait de respirer, n’a condamné aucun de nous à mourir de misère.« Société des Amis du Peuple. Procès des Quinze. Paris 1832, S. 68. 80 Albert Soboul: Französische Revolution und Volksbewegung: die Sansculotten. Die Sektionen von Paris im Jahre II. Frankfurt a. M. 1978, S. 70–89. Ders.: Die Utopie und die Französische Revolution. In: Geschichte des Sozialismus. Von den Anfängen bis 1875. Hrsg. v. Jacques Droz. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1974, S. 260–340, hier S. 268–277: Gesellschaftliche Bestrebungen der Sans-Culotten: vom Recht auf Existenz zur »Gleichheit im Genuß«. 81 Von diesen ›idées démocratiques‹ hat Heine im Nachwort zum Romanzero vom 30. September 1851 gesagt: »[I]ch verharrte bey denselben demokratischen Prinzipien, denen
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Büchner ist Heine aber auch in seiner ganzen Pariser Zeit, wie zuletzt noch einmal die französische Lutezia-Vorrede deutlich gemacht hat, entschlossen gewesen, aus diesem »absoluten Rechtsgrundsatz«, dem ›droit de manger‹ als einem »Urgesetz«: Jeder hat ein Recht zu essen Das ist ja das Urgesetz Das der Schöpfer selbst geschrieben In den Bauch der Creatur – Essen! Essen! Schrecklich, furchtbar, Wie die Stimme Gottes donnert Mir im Bauch das Urgesetz: Jeder hat ein Recht zu essen. (DHA 4, S. 221)
alle nur denkbaren Konsequenzen zu ziehen. »[E]t si je ne puis réfuter cette prémisse: ›que les hommes ont tous le droit de manger,‹ je suis forcé de me soumettre aussi à toutes ses conséquences.« (DHA 13.1, S. 167)82 Der Schriftsteller hat deshalb auch nicht gezögert, sich für die soziale Revolution zu entscheiden und wie Büchner die abgelebte ›moderne‹ Gesellschaft, die in seinen Augen bereits die »seit langem gerichtete, verurteilte«, eben die »alte Gesellschaft« gewesen ist, zum Teufel gehen zu lassen. »[F]iat justitia, pereat mundus!« (DHA 13.1, S. 167)83 Es wird vermutlich noch einige Zeit vergehen, bis dieser »merkwürdigste Parallelismus« (DHA 8.1, S. 77) von der Büchner- ebenso wie der Heine-Forschung zur Kenntnis genommen werden kann. Aber am Ende, so scheint mir, wird man sich der Einsicht nicht verschließen dürfen, dass zwei der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts, ––––––––– meine früheste Jugend huldigte und für die ich seitdem immer flammender erglühte.« (DHA 3, S. 180.) Sie entsprechen den »idées démocratiques de la révolution« in der französischen Lutezia-Vorrede vom 30. März 1855 (DHA 13.1, S. 165). 82 Das Konsequenzdenken von Heine ist eine weitere Konstante des Pariser Werks. Es betrifft (wie hier) das Bekenntnis zur Sozialrevolution, die Eigentumsfrage (vgl. DHA 14.1, S. 34), den »Sieg der Republik« (DHA 14.1, S. 292) und den Atheismus als die »letzte Consequenz des Denkens« (DHA 3, S. 180). Der Radikalismus ist nach Auffassung von Karl Nauwerck das »System der Konsequenz«. Entsprechend hat Eßbach kommentiert: »Wenn ›Vermittlung‹ und ›Aufhebung‹ die Zauberworte der Hegelschen Philosophie sind, so ist das junghegelianische Zauberwort ›Konsequenz‹.« Wolfgang Eßbach: Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe. München 1988, S. 169. 83 Heine und Büchner dürften sich bei dem »absoluten Rechtsgrundsatz« und dem ›pereat mundus‹ gleichermaßen auf Kants Friedens-Schrift (Anhang I) bezogen haben. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Ders.: Politische Schriften. Hrsg. v. Otto Heinrich von der Gablentz. Köln 1965, S. 142.
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eben Heine und Büchner, ›in politicis et in aestheticis‹ eine Grundauffassung vertreten haben, die sie durch die ›gauche républicaine‹ der Pariser Volksgesellschaften im Zeichen des republikanischen Kairos kennen gelernt, in Buonarrotis Kultbuch Verschwörung für die Gleichheit gelesen und dem programmatischen Artikel 1 seiner Analyse der Lehre Babeufs entnommen haben: »La nature a donné à chaque homme un droit égal à la jouissance de tous les biens.«84 In die Sprache der beiden Dichter übersetzt: »Die Natur hat jedem Menschen ein gleiches Recht auf den Genuss aller Güter gegeben.«85
––––––––– 84 Ph. Buonarroti: Conspiration pour l’égalité dite de Babeuf. 2 Bde. Brüssel 1828 (Pariser Titelauflage: 1830). Bd. 2, S. 137. 85 Die frühen Sozialisten. Hrsg. v. Frits Kool und Werner Krause (zuerst 1967). 2 Bde. München 1972. Bd. 1, S. 126.
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Über Wilhelm Liebknechts Verwandtschaft mit Friedrich Ludwig Weidig und seine Beziehung zur Familie Büchner Von Matthias Gröbel (Jugenheim) Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Friedrich Ludwig Weidig und Wilhelm Liebknecht1 Die Verwandtschaft zwischen Wilhelm Liebknecht und Friedrich Ludwig Weidig geht auf Johann Georg Liebknecht, geboren am 23. April 1679 in Wasungen/Thüringen, zurück. Johann Georg Liebknecht studierte in Jena, wirkte dort nach 1702 als Privatdozent für Mathematik und Theologie und übernahm 1707 in Gießen eine Professur für Mathematik. Er sei »Freund des Philosophen Leibniz, Gegner des Grafen Zinzendorf und seiner Brüdergemeinde; mathematisch begabt, literarisch tätig« gewesen, hält man in einer Butzbacher Chronik zu Weidig fest.2 In erster Ehe war Johann Georg Liebknecht ab dem 27. September 1707 mit Catharina Elisabeth Elwert, geboren am 11. Januar 1686 in Bensheim und Tochter des dortigen kurmainzischen Stadtphysikus Nicolaus Caspar Elwert, verheiratet. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor. Catharina Elisabeth Elwert starb am 31. Juli 1719 in Gießen. Nach ihrem Tod heiratete Johann Georg Liebknecht am 2. Februar 1720 Regina Sophia Hoffmann. Mit ihr hatte er 16 Kinder. Friedrich Ludwig Weidig und die anderen mit den Liebknechts verwandten Weidigs entstammen Johann Georg Liebknechts Ehe mit Catharina Elisabeth Elwert. Das dritte Kind aus dieser Ehe, Franz Eberhard (Erhard)3 Liebknecht, geboren am 28. Juni in Gießen, war Friedrich ––––––––– 1 Zur Abstammung Liebknechts siehe vor allem: Friedrich Wilhelm Euler: Karl Liebknecht. In: Genealogie 9 (1969), S. 481–495. 2 Friedrich Ludwig Weidig: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Hans-Joachim Müller. Darmstadt 1987 (Hessische Beiträge zur Deutschen Literatur), S. 504. 3 Bei Euler steht Eberhard, während eine im Staatsarchiv Darmstadt vorhandene Abstammungstafel, die anonym im 20. Jahrhundert erstellt wurde, den Namen Erhard gebraucht. Siehe Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, P 610/55.
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Ludwig Weidigs Großvater. Franz Eberhard Liebknecht wirkte als Justizamtmann in Cleeberg bei Butzbach und heiratete am 3. September 1743 in Darmstadt Anna Elisabeth Luise Hoffmann, Tochter des Regierungsdirektors Wilhelm Ludwig Hoffmann. Dieser war ein Bruder der oben erwähnten zweiten Frau Johann Georg Liebknechts.4 Anna Elisabeth Luise Hoffmann war demnach die Stiefcousine ihres Mannes Franz Eberhard Liebknecht. Zwei Kinder aus dieser Ehe sind für die weitere Verwandtschaft von Bedeutung: Helene Caroline Liebknecht, geboren am 9. November 1759 in Homberg/Ohm, und Wilhelmine Christine Liebknecht, geboren am 8. März 1766 ebenfalls in Homberg/Ohm. Wilhelmine Christine Liebknecht heiratete am 23. März 1790 in Oberkleen bei Butzbach den Oberförster Ludwig Christian Weidig, geboren am 24. Juli 1765 in Darmstadt. Aus dieser Ehe gingen fünf Kinder hervor, darunter das älteste Kind, Alexander Friedrich Ludwig Weidig, geboren am 13. Februar 1791 in Oberkleen bei Butzbach, also unser Friedrich Ludwig Weidig. Er heiratete am 1. Januar 1827 in Hungen Amalie Hofmann, die Tochter seiner Tante Helene Caroline Liebknecht. Das jüngste Kind aus der Ehe zwischen Ludwig Christian Weidig und Wilhelmine Christine Liebknecht und die einzige Schwester Friedrich Ludwig Weidigs war Karoline Theodore Luise Weidig, geboren am 30. Oktober 1801 in Oberkleen. Sie heiratete am 11. September 1824 in Butzbach den Hofgerichtsadvokaten Jakob Ludwig Theodor Reh.5 Theodor Reh, geboren am 4. November 1801 in Darmstadt, war spätestens seit 1831 auf Seiten der liberalen und demokratischen Opposition im Großherzogtum Hessen aktiv. Er war der letzte Präsident der Paulskirchenversammlung 1849, engagierte sich anschließend in den Reichswahlvereinen. Reh war seit 1834 immer wieder in den hessischen Landtag gewählt worden. Aus seiner ersten Ehe mit der Schwester Friedrich Ludwig Weidigs ging Wilhelmine Natalie Reh, geboren am 19. Juli 1835 in Darmstadt, hervor. Sie wurde am 30. Juli 1868 in Darmstadt die zweite Frau Wilhelm Liebknechts. Wilhelm Liebknecht selbst stammt aus einer anderen Linie der Familie Liebknecht. Sie geht zurück auf das neunte der 16 Kinder aus der zweiten Ehe Johann Georg Liebknechts mit Regina Sophia Hoffmann: ––––––––– 4 Euler: Karl Liebknecht (s. Anm. 1), S. 482. 5 Zu Theodor Reh siehe u. a.: Hessen in der Revolution von 1848/1849. Hrsg. v. Werner Wolf und Rainer Koch. Kelkheim 1989, S. 117f.
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Gottlieb Wilhelm Liebknecht, geboren am 2. April 1736 in Gießen, gestorben am 19. September 1809, ebenfalls in Gießen. Er wirkte als Regierungsadvokat und Prokurator, war promovierter Jurist und Beamter der landgräflichen Regierung, aus der nach 1806 eine großherzogliche Regierung wurde. Am 30. Mai 1782 heiratete Gottlieb Wilhelm Liebknecht Elisabeth Katharina Kempff (6. März 1759 – 17. Mai 1834), die Tochter eines Gießener Postrates. Das fünfte von zwölf Kindern6 dieser Ehe ist der am 17. November 1790 in Gießen geborene Ludwig Christian Liebknecht. Nach einem nicht abgeschlossenen Studium der Kameralistik wurde er Regierungsregistrator, zunächst in Darmstadt, dann in Gießen. Noch in Darmstadt heiratete er am 10. Mai 1822 Katharina Elisabeth Hirsch, geboren am 12. Mai 1803 in Hanau, Tochter eines Oberpostrates. Aus dieser Ehe gingen zwischen 1823 und 1830 fünf Kinder hervor, von denen aber das zweite Kind schon nach acht Monaten starb.7 Das dritte Kind war Wilhelm Philipp Martin Christian Ludwig Liebknecht, bekannt als Wilhelm Liebknecht. Er wurde am 29. März 1826 in Gießen geboren. Wilhelm Liebknecht verlor schon als Kind seine beiden Eltern. Die Mutter starb nach der Geburt ihres fünften Kindes am 27. Oktober 1831 in Gießen. Ein gutes Jahr später, am 24. Dezember 1832, starb auch der Vater, so dass die vier Kinder vorläufig von der Großmutter Elisabeth Katharina Liebknecht, die bei ihrem Sohn im Hause wohnte, versorgt wurden, bis auch sie am 17. Mai 1834 starb.
Die beiden Ehen Wilhelm Liebknechts Wilhelm Liebknecht heiratete am 17. August 1854 im Londoner Exil Ernestine Landolt. Liebknecht hatte die damals 15jährige Tochter des Freiburger Gefängnisaufsehers Martin Landolt während der Revolution im Mai 1849 in Freiburg, wo Liebknecht seit Oktober 1848 interniert war, kennen gelernt und ein Liebesverhältnis mit ihr begonnen.8 Nach seiner Abreise aus Freiburg verlor Liebknecht Ernestine Landolt zunächst aus den Augen, nahm aber ab Dezember 1852, er lebte nun schon ––––––––– 6 Friedrich Wilhelm Weitershaus: Die Liebknechts. Eine thüringisch-hessische Beamtenfamilie. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins. Neue Folge. 60. Band. Gießen 1975, S. 107. 7 Ebd., S. 108. 8 Friedrich Wilhelm Weitershaus: Wilhelm Liebknecht. Eine Biographie. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins. 61. Band. Gießen 1976, S. 49ff.
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seit zwei Jahren in London, den Kontakt wieder auf. Er bemühte sich, die Liebesbeziehung mit der inzwischen verlobten Ernestine Landolt wiederzubeleben, was ihm schließlich auch gelang. Allerdings verursachte dies in London deswegen Probleme, weil Liebknecht in den Jahren zuvor ein Verhältnis mit einer Engländerin aufgenommen hatte. Karl Marx kommentierte dies mit dem ihm eigenen Humor gegenüber seiner Frau Jenny: »Dem Liebknecht, der, wie Du weißt, sehr melancholisch schwankte zwischen einer Engländerin, die ihn heiraten wollte, und einer Deutschen in Deutschland, die er heiraten wollte, ist endlich die Deutsche über den Hals gekommen, und er hat sie geheiratet, kirchlich und bürgerlich.«9 Dies sei hier erwähnt, weil Liebknechts späteres Werben um Natalie Reh ähnliche Züge wie das um Ernestine Landolt aufweist. Und auch der Spott von Marx und Engels hat Wilhelm Liebknecht später noch häufiger getroffen. Mit Ernestine Landolt hatte Liebknecht drei Kinder, einen Sohn – er starb schon nach 15 Monaten10 – und zwei Töchter. Nach dem Tod von Ernestine Landolt, sie starb am 29. Mai 1867 in Leipzig, heiratete Wilhelm Liebknecht am 30. Juli 1868 in Darmstadt Wilhelmine Natalie Reh. Durch diese Ehe wurden zwei Liebknechtlinien, die beide auf Johann Georg Liebknecht, den Gießener Mathematik- und Theologieprofessor, zurückgehen, wieder miteinander verbunden.
Friedrich Ludwig Weidigs Position im Familiengeflecht der Liebknechts Wenn wir nun versuchen, Friedrich Ludwig Weidigs Position in dieser Verwandtschaft zu bestimmen, so ergeben sich drei verschiedene Verbindungen. Einerseits war er der leibliche Onkel – Onkel ersten Grades – von Natalie Reh, der Frau Wilhelm Liebknechts. Auf diese Weise wurde er zum angeheirateten Onkel Wilhelm Liebknechts. Gehen wir dagegen von Weidigs Mutter aus – Wilhelmine Christine Liebknecht war eine Cousine von Wilhelm Liebknechts Vater Ludwig Christian Liebknecht, deren Väter waren Brüder, wenngleich Stiefbrüder –, dann müssen wir Friedrich Ludwig Weidig als einen Cousin zweiten Grades von
––––––––– 9 Zitiert nach ebd., S. 68. 10 Ebd.
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Verwandtschaftstafel Hoffmann – Liebknecht – Weidig
Johann Justus Hoffmann (1663−1703)
1. Ehe: 1707 Johann Georg Liebknecht (1679−1749)
Wilhelm Ludwig Hoffmann (1689−1764)
Anna Elisabeth Luise Hoffmann (1726−1795)
Catharina Elisabeth Elwert (1686−1719)
Franz Erhard Liebknecht (1712−1788)
∞ 1743
Helene Caroline Liebknecht (1759−1823)
2. Ehe: 1720 Johann Georg Liebknecht (1679−1749)
Regina Sophia Hoffmann (1698−1778)
Gottlieb Wilhelm Liebknecht (1736−1805)
Ludwig Christian Liebknecht (1790−1832)
Wilhelmine Christine Liebknecht (1766−1831)
∞ 1827 Amalie Hofmann (1796−1839)
Friedrich Ludwig Weidig (1791−1837)
Karoline Theodore Luise Weidig (1801−1843)
Wilhelmine Natalie Reh (1835−1909)
Wilhelm Liebknecht (1826−1900)
∞ 1868
Wilhelm Liebknecht bezeichnen. »Großonkel«,11 wie Wilhelm Liebknecht Weidig bezeichnet hat, war er jedenfalls nicht, auch nicht als Onkel von Natalie Reh.12 Wilhelm Liebknecht hat dagegen mit Natalie Reh eine Nichte dritten Grades geheiratet. Eine dritte Verwandtschaftslinie haben wir oben schon angedeutet. Sie rührt von der Familie Hoffmann her. Friedrich Ludwig Weidigs Großmutter, Anna Elisabeth Luise Hoffmann (1726–1795) war, wie erwähnt, die Nichte der zweiten Frau ihres Schwiegervaters Johann Georg Liebknecht. Somit waren sowohl Friedrich Ludwig Weidig als auch Wilhelm Liebknecht Ururgroßenkel von Johann Justus Hoffmann (1663– 1703), einem Dr. med., Stadtphysikus und Leibphysikus aus Butzbach. In dieser Hinsicht waren Weidig und Wilhelm Liebknecht Cousins dritten Grades.
Liebknechts Verhältnis zur Geschichte seiner Familie Vermutlich wegen seiner Orientierung an der proletarischen Arbeiterbewegung distanzierte sich Wilhelm Liebknecht von seiner Familie. Die verwandtschaftlichen Beziehungen selbst waren ihm wohl auch nicht wirklich klar, wie die Bezeichnung »Großonkel« für Weidig und auch die Bestimmung seines Verwandtschaftsverhältnisses zu Natalie Reh deutlich machen. Zwar könnte man den »Großonkel« noch als eine ganz allgemeine Bezeichnung für einen älteren Verwandten – und das war Weidig – durchgehen lassen. Aber eine solche Erklärung greift bei der falschen Bestimmung des Verwandtschaftsgrades mit Natalie Reh nicht. So schrieb Liebknecht in einem Brief an Karl Marx, Natalie Reh sei »eine entfernte Verwandte, ihre Großmutter war die Schwester meines Großvaters.«13 Tatsächlich war, oben wurde es gezeigt, Natalie Rehs Großmutter die Cousine von Liebknechts Vater. Man sollte aus den Verwandtschaftsbeziehungen gewiss nicht – wie der Genealoge Friedrich Wilhelm Euler in seiner Darstellung der Her––––––––– 11 Wilhelm Liebknecht: In der Lehre. In: Ders.: Erinnerungen eines Soldaten der Revolution. Zusammengestellt und eingeleitet von Heinrich Gemkow. Berlin 1976, S. 35. 12 Jan-Christoph Hauschild nennt Liebknecht den »Großneffen Weidigs« (Hauschild 1985, S. 281) und dreht damit Liebknechts Bezeichnung Weidigs als Großonkel lediglich um. 13 Zitiert nach: Wolfgang Schröder: Ich muss mich ganz hingeben können (Natalie Liebknecht). In: Friderun Bodeit (Hrsg.): Ich muss mich ganz hingeben können: Frauen in Leipzig. Leipzig 1990, S. 151 (im Folgenden Schröder: Natalie Liebknecht).
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kunft Karl Liebknechts, des zweiten Sohnes von Wilhelm Liebknecht und Natalie Reh – das »Erbe« ableiten, »aus dem [Karl Liebknecht] seine zweifellos hohe Begabung und auch die inneren Kräfte seines unbedingten Einsatzes für seine politische Überzeugung mit auf den Weg bekommen hat.«14 Euler behauptet sogar, dass sich in Karl Liebknecht wegen der doppelten Liebknecht-Herkunft das »genealogische Bild« Wilhelm Liebknechts »ergänzt und gewissermaßen […] noch weiter verstärkt«15 hat. Dagegen macht der Blick auf die Herkunft Liebknechts tatsächlich deutlich, dass sie im Wesentlichen aus Familien besteht, die zum gehobenen Beamtenbürgertum, teilweise auch zum ratsfähigen gehobenen Handwerk gehören. Euler stellt fest, dass es nur »ganz wenige Übergänge […] zum Bauerntum und zum kleineren städtischen Handwerkertum«16 gibt. Friedrich Ludwig Weidig teilt diese Herkunft über die LiebknechtLinie. Über seinen Vater, den Butzbacher Oberförster Ludwig Christian Weidig, entstammt er aber einer Verwandtschaft, »die neben Pfarrern und kleinen Beamten auch Bauern und städtische Handwerker aufweist.«17 Trotzdem wurde Friedrich Ludwig Weidig zu einer hervorragenden Gestalt der politischen Opposition des Vormärz in Deutschland. Euler bleibt in der Deutung dieses Sachverhalts bei seiner genealogischen Erblehre und behauptet, man müsse Weidig »auch mehr als den geistigen Erben seiner Mutter, der geborenen Liebknecht«,18 sehen. Tatsächlich darf dreierlei nicht übersehen werden. Gerade im Beamtenbürgertum und im gehobenen Handwerk waren die Voraussetzungen gegeben, um die Kinder umfassend zu bilden und ihnen damit das geistige Rüstzeug für ein gestaltendes Eingreifen in die politischen Verhältnisse zu geben. Auch macht – zweitens – die Beschäftigung mit der oppositionellen Bewegung in der Landgrafschaft und im Großherzogtum Hessen vor der Entstehung der Arbeiterbewegung deutlich, dass es hauptsächlich die Pfarrer- und Beamtenfamilien waren, aus denen sich sowohl die gemäßigte als auch die radikale Opposition rekrutierte. Schließlich – drittens – besaßen die Familien in der Vormärzzeit eine ––––––––– 14 Euler: Karl Liebknecht (s. Anm. 1), S. 481. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 483. 18 Ebd.
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wichtige politische Funktion, worauf schon Büttner in seiner Darstellung der »Anfänge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt« hingewiesen hat. In vielen Fällen ist demnach »die persönliche Einzelentscheidung« für die Politik »durch persönliche Bindungen« bestimmt worden, »woraus sich die auffallende Erscheinung liberaler Beamtenfamilien, die oft sogar untereinander durch Verschwägerung verbunden sind, erklärt.«19 Gerade Friedrich Ludwig Weidig könnte als ein Beispiel für diesen Sachverhalt genannt werden. Weidig war mit seiner Cousine Amalie Hofmann – diese Hofmanns haben mit den ausführlich erwähnten Hoffmanns nichts zu tun – verheiratet. In seinem riskanten politischen Leben konnte er sich immer auf die Familienstützpunkte, z. B. die Hofmanns in Hungen und seine Brüder, verlassen. Später hat sich sein Schwager Theodor Reh intensiv um die Aufklärung seines skandalösen Todes gekümmert. Der Impuls für Weidigs politische Tätigkeit kam dagegen weniger aus dem Erbgut, sondern aus den Zeitumständen, die auf dem Boden der Französischen Revolution, der Herrschaft Napoleons und den so genannten Befreiungskriegen sowie dem System Metternich entstanden sind.
Wilhelm Liebknechts Elternhaus und die Bedeutung Weidigs für seine weitere Entwicklung Für Wilhelm Liebknecht gab es ein solches familiäres Netzwerk zunächst nicht, im Gegenteil. Sein Leben war gerade dadurch geprägt, dass er schon 1831, im Alter von fünf Jahren, seine Mutter verlor. 1832 starb sein Vater, so dass er und seine Geschwister Vollwaisen wurden. Zwar half noch für eine kurze Zeit die im Hause lebende Großmutter, sie übernahm die Pflege der Enkel. Aber auch sie starb 1834, so dass nun »Freunde und Nachbarn der Familie Liebknecht«20 die Kinder versorgten. Wilhelm Liebknechts erster Vormund wurde Karl Wilhelm Osswald, ein »ewiger Kandidat der Theologie«21 und Freund des Vaters, der sich aufopferungsvoll um seine Mündel kümmerte. Er starb 1845, drei Jahre, nachdem Liebknecht den Besuch des Gießener Gymnasiums abgeschlossen und sein Studium am 4. Mai 1843 in Gießen aufgenommen ––––––––– 19 Siegfried Büttner: Die Anfänge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das du Thilsche System. Darmstadt 1969, S. 128. 20 Weitershaus: Die Liebknechts (s. Anm. 6), S. 110. 21 Ebd.
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hatte. Kurz nach Osswalds Tod wechselte Liebknecht für ein Semester nach Berlin. Und dort begann Liebknechts intensive Beschäftigung mit Politik bzw. sozialistischer Literatur und Philosophie. Neben Osswald waren es wenige Menschen, die sich ernsthaft um Wilhelm Liebknecht und seine Geschwister kümmerten. So wird in Liebknechts Biographie erwähnt, dass es »nicht zuletzt […] die fehlende Fürsorge wie mangelnde christliche Nächstenliebe gegenüber den verwaisten Kindern Liebknecht«22 gewesen sei, die bei Wilhelm und seinem Bruder Louis Liebknecht eine starke Abneigung gegen die Theologie habe entstehen lassen. Im Widerspruch zu dieser behaupteten Abneigung gegen die Theologie steht allerdings, dass Wilhelm Liebknecht 1843 in Gießen zwar zunächst mit dem Philologiestudium begann, dann aber zur Theologie wechselte.23 Über die politischen Einstellungen im Elternhaus Wilhelm Liebknechts ist nur wenig bekannt. So weist Liebknecht verschiedentlich darauf hin, dass er schon sehr früh in einer bestimmten Weise politisch festgelegt war. In seiner Erklärung vor Gericht sagte er: »Seit ich fähig bin zu denken, bin ich Republikaner, und als Republikaner werde ich sterben.«24 Wir können uns nun fragen, wann Liebknecht begonnen hat zu denken. War es eventuell mit fünf Jahren, als seine Eltern noch gelebt haben? Wir können uns allerdings auch fragen, ob diese Bemerkung mit ihrer apodiktischen Festlegung nicht eher eine Legendenbildung ist. Jedoch dürfte es im Elternhaus Liebknecht keineswegs ausschließlich obrigkeitshörig und unpolitisch zugegangen sein, wie es die abschätzigen Bemerkungen Liebknechts über seine Familie in seinen Erinnerungen vermuten lassen. Einen Hinweis darauf liefern zwei Briefe Liebknechts aus den Jahren 1894 und 1895, in denen er ein Ereignis aus seiner Kindheit schildert: »Ich war 6, oder gar erst 5 Jahre alt, als die Polen 1831, nach dem Scheitern der Revolution durch Deutschland zogen. Wir hatten damals eine Familie bei uns, und das Bübchen, so alt etwa wie ich, hieß Stanislaus und hatte die rothe Mütze. Das habe ich nie vergessen.«25 Demnach gehörten die Eltern Liebknechts zu denen, die mit dem polnischen Auf––––––––– 22 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 35. 23 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 37. 24 Liebknecht: Nennen Sie mich einen Soldaten der Revolution. In: Liebknecht: Erinnerungen (s. Anm. 11), S. 19. 25 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 24.
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stand sympathisierten, so dass sie durchziehenden Polen Unterkunft gewährten. Diese Hilfe wurde von der politischen Opposition organisiert. Auch Friedrich Ludwig Weidig und Theodor Reh waren dabei engagiert; Weidigs Frau sammelte auf Wohltätigkeitsversammlungen in Butzbach Geld für die exilierten Polen. Dass Wilhelm Liebknecht diese Episode aus dem Jahr 1831 nur in den zwei Briefen an einen polnischen Adressaten erwähnt, nicht aber in seinen Lebenserinnerungen, ist bemerkenswert. Allerdings ist erneut daran zu erinnern, dass Liebknechts Erinnerungen in der Hauptsache aus der letzten Phase seines Lebens stammen, als er schon einen festen Platz im öffentlichen Leben als einer der maßgeblichen Führer der Arbeiterbewegung eingenommen hatte. In diesem Sinne gibt Liebknecht einer autobiographischen Skizze den Titel »In der Lehre«.26 Dieser Titel nimmt Bezug auf eine Lehre als Zimmermann, die Liebknecht während seines Studiums im Sommer 1846 in »anderthalb Monaten«27 absolvierte. Mit ihr wollte er sich auf eine geplante Auswanderung nach Amerika vorbereiten. Auswandern wollte er wiederum, weil er weder im Studium der Theologie noch in dem der Philosophie oder Philologie eine Perspektive für sich gesehen hatte, denn alle diese Studien mündeten im Staatsdienst. Nun entstammte aber Liebknecht einer Beamtenfamilie, und in dem Maße, wie er sich dem Staatsdienst verweigern wollte, musste er sich von seiner Familie distanzieren: »Einer Familie entsprungen, aus der, mit Ausnahme eines einzigen ›Hochverräters‹ und ›Demagogen‹, nur Gelehrte, Beamte und Offiziere hervorgegangen waren, hatte ich mich dem so genannten ›Staatsdienst‹ widmen sollen, allein der Gedanke der Dienstbarkeit, sei es in welcher Gestalt, war mir von Jugend auf verhaßt.«28 Die »eine Ausnahme war Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig, der im Frühling 1835 wegen ›demagogischer Umtriebe‹ verhaftet wurde und nach fast zweijähriger raffiniert grausamer Untersuchungshaft am 23. Februar 1837 in seiner Gefängniszelle im Blut schwimmend aufgefunden wurde, unter Umständen, die keinen Zweifel darüber lassen, dass er körperlich aufs roheste misshandelt worden war, und die es fast als sicher erscheinen lassen, dass er, durch die erlittene Folterqualen zu einem erfolgreichen Selbstmordversuch getrieben, von seinem Todfeind, den man ihm zum Untersuchungsrichter ––––––––– 26 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 32. 27 Ebd., S. 51. 28 Ebd., S. 34.
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gegeben hatte, entweder direkt oder in dessen Auftrag ermordet worden war.«29
Folgt man Liebknechts Erinnerungen, dann war es dieses Ereignis, das ihn für den Rest seines Lebens prägte und später zu einem entschieden politischen Menschen machte: »Ich war zu jener Zeit elf Jahre alt. Obgleich man in meiner Gegenwart gar nicht oder nur andeutungsweise von dem Schrecklichen sprach, so kam ich doch hinter die Wahrheit; und hatte ich auch meinen Großonkel […] persönlich nicht gekannt, so machte diese entsetzliche Familientragödie, in der sich mir unsere politischen Zustände enthüllten, einen tiefen, vielleicht für mein Leben bestimmenden Eindruck, der sehr oft wieder aufgefrischt wurde, wennschon es einer Wiederauffrischung nicht bedurft hätte, um ihn unauslöschlich mir einzubrennen.«30
Wilhelm Liebknechts erste politische Erfahrungen. Gemeinsame Aktionen mit Ludwig Büchner Als Weidig im Februar 1837 starb, besuchte Wilhelm Liebknecht seit zwei Jahren das Gießener Gymnasium. Seine Eltern waren schon einige Jahre tot, genauso seine Großmutter. In Gießen gab es keine Liebknechtsche Verwandtschaft mehr. Dort lebten nur noch Verwandte seiner Mutter, einer geborenen Kempff. Mit diesen aber hatten die Geschwister Liebknecht keinen unmittelbaren Kontakt.31 Auch waren die Kempffs nicht mit der Liebknecht-Weidig-Linie verwandt. Das relativiert die Aussage, in Wilhelm Liebknechts »Gegenwart [sei] gar nicht oder nur andeutungsweise von dem Schrecklichen« gesprochen worden. Wenn Liebknecht damit suggerieren wollte, in der »Beamten- und Militärfamilie« Liebknecht – mit diesem Hinweis beginnt die Darstellung des Geschehens um Weidig – sei nicht offen über Weidigs Tod gesprochen worden, dann ist dies schon deswegen falsch, weil es diese Familie in Gießen nicht mehr gab. Tatsächlich war der Tod Weidigs ein Skandal, über den man nur hinter vorgehaltener Hand reden konnte, weil man sich sonst ebenfalls der Verfolgung ausgesetzt hätte. Dass die Kenner der Familienverhältnisse eventuell Wilhelm Liebknecht schützen wollten, ist natürlich nicht auszuschließen. ––––––––– 29 Ebd., S. 35. 30 Ebd. 31 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 24.
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Wilhelm Liebknecht studierte ab dem Sommersemester 1843 in Gießen Philologie und evangelische Theologie. Im Wintersemester 1845/46 wechselte er nach Berlin, wo er nur in Philosophie eingeschrieben war. Dieser Berlin-Aufenthalt besitzt in Liebknechts Erinnerungen einen besonderen Stellenwert, weil er so etwas wie die politische Wende in seinem Leben darstellt. Der Wechsel nach Berlin war einerseits Ausdruck einer vorhandenen politischen Einstellung. So schreibt Liebknecht: »Schon ehe ich nach Berlin ging, stand für mich fest, dass ich dem herrschenden System nur als Feind gegenübertreten konnte.«32 Auch habe er sich neben dem Studium »dem Sozialismus und der Politik«33 gewidmet. An praktischer Politik nennt Liebknecht aber lediglich seine Mitwisserschaft von einem polnischen Aufstandsversuch in den preußischen, russischen und österreichischen Gebieten Polens. Andererseits ist Liebknecht in Berlin in einen »Gärungsprozess«34 geraten, der ihn »nicht zur Entscheidung, allein doch auf den Weg zu ihr brachte.«35 In dieser unentschiedenen Stimmung kehrte Liebknecht schon im Frühjahr 1846 nach Gießen zurück. Offensichtlich geriet er dort schnell in einen Streit mit seinem Vormund – Georg Wilhelm Kempff, ein Verwandter aus der Familie seiner Mutter, später wurde er hessischer Justizminister36 –, in dem es auch und besonders um die politische Einstellung Wilhelm Liebknechts ging. Vor diesem Hintergrund entwickelte Liebknecht Auswanderungspläne, zu denen nun auch eine praktische Ausbildung gehörte: »So beschloss ich denn mit einem der Zukunfts-Reisegefährten, bei einem Zimmermann in die Lehre zu gehen. Es bot sich eine treffliche Gelegenheit. Die alte Lahnbrücke mit einem Buckel wie ein Dromedarhöcker war längst ein abscheuliches Verkehrshindernis geworden, und nach zehnjährigem Besinnen und Wiederbesinnen hatte man sich endlich zum Bau einer neuen Brücke entschlossen, der bereits seit einiger Zeit im Gang war. […] Abgesehen davon, dass wir des Tages nur sechs Stunden arbeiteten – wir hatten doch noch viel anderes zu tun –, arbeiteten wir genau so wie die übrigen Lehrburschen und konnten nach anderthalb Monaten in den Gesellenstand erhoben werden«.37 ––––––––– 32 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 37. 33 Ebd., S. 38f. 34 Ebd., S. 38. 35 Ebd. 36 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 40. 37 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 51.
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Bevor Liebknecht aber in diese Lehre ging, nahm er im Mai 1846 sein Studium in Gießen wieder auf. Er fand Anschluss an Studenten, die ähnlich dachten wie er, allerdings »für den Sozialismus […] wenig Verständnis hatten.«38 Durch diese Gruppe wurde Liebknecht wieder an das Schicksal Weidigs erinnert. Denn zu jenen Studenten gehörten auch »der Sohn und ein Brudersohn des Pfarrers Weidig.«39 Vor allem die Erscheinung und das Auftreten von Weidigs Sohn sind es, die Liebknecht erschrecken lassen: »Der Sohn erdrückt und gebrochen durch das Schicksal seines Vaters, ließ in seinem verschüchterten Wesen, das ihn an Geltendmachung seiner Fähigkeiten und seiner Persönlichkeit hinderte, damals schon ahnen, dass die Mörder seines Vaters auch dessen Söhnchen ins Lebensmark getroffen und einen Doppelmord begangen hatten. Das langsame Verkommen dieses jungen Menschen, der nicht die Kraft hatte, das ungeheure Verbrechen, das an dem Haupt der Familie verübt worden, zu tragen, noch weniger die Kraft, es zu rächen, und der – ein Hamlet40 im Kleinen – an der Größe der vom Schicksal ihm gestellten Aufgabe zollweise zugrunde ging, ohne auch nur für einen Augenblick sich zur Tat aufraffen zu können – das bildet ein blutloses Trauerspiel, kaum minder ergreifend als die blutige Tragödie, deren unschuldiges Opfer er geworden.«41
Im Kreise dieser Studenten erlebte Wilhelm Liebknecht im August 1846 in Gießen ein Ereignis, das das politische Klima jener Zeit treffend deutlich macht. Es ging um einen angetrunkenen Studenten, dem am 31. Juli 1846 der Zugang zu einem Ball im so genannten Busch’schen Garten verweigert wurde. Als dieser Student darauf trotzdem beharrlich Zugang verlangte, erkundigte sich der am Eingang postierte Polizeisergeant beim auf dem Ball anwesenden Polizeirat Zulehner, was zu tun sei. Er kehrte zurück und zog dem Studenten den Säbel über Stirn und Nase. Am nächsten Morgen schon kam es deswegen zu Studentenprotesten.
––––––––– 38 Ebd., S. 45f. 39 Ebd., S. 46. 40 Auch Ludwig Büchner gehörte zu dieser Studentengruppe. Er publizierte später ein Buch mit dichterischen Texten unter dem Titel Der neue Hamlet. Mit dem HamletCharakter macht L. Büchner »die spezifisch deutschen Gründe von Melancholie kenntlich.« (Dedner: Einleitungen, S. 56.) Dass auch Liebknecht auf diese Charakterisierung zurückgreift, ist ausgesprochen interessant. Zumindest seine Kenntnisse über Georg Büchner bezog Liebknecht über Ludwig Büchner. 41 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 45f.
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Dieses Ereignis, »so unpolitisch es an sich war«,42 nahm Wilhelm Liebknecht zum Anlass, seine Lehre für mehrere Tage zu unterbrechen. 308 Studenten beschwerten sich schriftlich beim Senat. Wilhelm Liebknecht hat diese Beschwerde an zwölfter Stelle unterschrieben.43 Ein Studentenausschuss wurde gebildet, zu dem neben Rudolf Fendt auch Ludwig Büchner gehörte.44 Folgt man den Aufzeichnungen Rudolf Fendts und den dort abgedruckten Quellen, dann gehörte Wilhelm Liebknecht diesem Komitee nicht an, auch wenn es in der Biographie von Weitershaus behauptet wird.45 Am Sonntag, dem 6. August 1846, wurde der katholische Pfarrer Hartnagel Opfer politischer Demonstrationen. Man störte seinen Gottesdienst und warf ihm die Fenster ein. Drei namhaft gemachte Rädelsführer wurden am 7. August relegiert. Als die Studentenschaft deren Auszug begleiten wollte, rückte Militär aus Butzbach an. Daraufhin zog die gesamte Gießener Studentenschaft nach Staufenberg, 10 km nördlich von Gießen gelegen, aus. Sie wurde dort von Gießener Bürgern, die Angst um ihre Mieter und Kunden hatten, gut versorgt. Von Gießen aus führten die Studenten, vermittelt durch den Gießener Gemeinderat, Verhandlungen mit dem Senat der Universität.46 Zu den eigentlichen Organisatoren des Auszugs nach Staufenberg gehörte Liebknecht allerdings nicht, wohl aber neben Rudolf Fendt auch Ludwig Büchner, der 1824 geborene jüngere Bruder von Georg Büchner. Liebknecht selbst nimmt in seinen Erinnerungen Bezug auf »die für die Zeitgeschichte hochinteressante Selbstbiographie meines Freundes Rudolf Fendt aus den sechziger Jahren«,47 in der die Ereignisse in aller Ausführlichkeit dargestellt werden. Fendt wiederum bezeichnet Ludwig Büchner und dessen Bruder Alexander als seine »intimen Freunde und Gesinnungsgenossen.«48 Auch wenn Ludwig Büchner weder in Liebknechts Erinnerungen erwähnt wird, noch aus den Schriften Ludwig und Alexander Büchners ein besonderes Verhältnis zwischen Liebknecht und ––––––––– 42 Ebd., S. 52. 43 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 45. 44 [Rudolf Fendt:] Von 1846 bis 1853. Erinnerungen aus Verlauf und Folgen einer akademischen und politischen Revolution. Von einem weiland Gießener Studenten und badischen Freischärler. Darmstadt 1875, S. 15 (im Folgenden [Fendt:] Erinnerungen). 45 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 43. 46 [Fendt:] Erinnerungen (s. Anm. 44), S. 11–38. 47 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 52. 48 [Fendt:] Erinnerungen (s. Anm. 44), S. 231.
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Ludwig Büchner abzuleiten ist, so haben sich Liebknecht und vor allem Ludwig Büchner zweifellos schon 1846 gekannt.49 Das ergibt sich zunächst aus den Umständen des studentischen Protests im Sommer 1846. Denn die Organisatoren des Auszugs, zu denen Ludwig Büchner führend gehörte,50 bestimmten neben dem Studenten Theodor Götz aus Mainz Wilhelm Liebknecht zum Verhandlungsführer mit dem Senat in Gießen. Diese Delegation bestand, so Rudolf Fendt in seinen Erinnerungen, »durch einen charakteristischen Zufall aus zwei extrem radikalen Persönlichkeiten, die sich später bei der hohen Staatsbehörde politisch mehr oder minder stark compromittirt haben, meine beiden Freunde stud. jur. Th. Götz aus Mainz, der später kurz vor mir wegen irgend einer ditto Ministeramtsehrenbeleidigung von anno 48 Correctionshaushaft verbüßen musste und, nachdem er in Paris Banquier gewesen, in den letzten Jahren für mich verschollen ist, einem Exaltado erster Classe, und dem damaligen Studiosus der Philosophie Wilhelm Liebknecht aus Gießen, jetzigem Reichstagsabgeordneten und Führer der Eisenacher Socialdemokratie. Warum wir gerade nach zwei so verwegenen Kameraden griffen, erklärte sich höchst einfach. Die Mission war ganz und gar keine beneidenswerthe, da […] unsere »Gesandten« riskirten, sofort in den Carcer abgeführt zu werden, also, so zu sagen, ihr akademisches Todtenhemd auf dem Leibe trugen. Wir waren froh, dass wir überhaupt nur zwei Commilitonen fanden, die das bedenkliche Mandat freiwillig zu übernehmen bereit waren. Und das waren allerdings zwei Kerle, die Haare auf den Zähnen hatten und, wie mein seliger Freund A. Becker zu sagen pflegte, nöthigenfalls den Teufel auf dem flachen Felde gefangen hätten.«51
Liebknecht schildert seinen Anteil an den Ereignissen vom August 1846 so: »Vor dem Senat verliefen die Dinge nicht ganz programmäßig. Ein anderer, Nicht-Gießner, legte kurz vor dem gestrengen, sehr ernst dreinschauenden Kollegium unsere Wünsche dar. Die Antwort des Herrn Rector magnificus lautete kurz und schroff: ›Von Verhandlungen kann in diesem Falle nicht die ––––––––– 49 Hauschild behauptet dagegen einerseits, die Bekanntschaft Ludwig Büchners mit Wilhelm Liebknecht sei 1848 entstanden, als Ludwig Büchner »August Becker zum Vorparlament nach Frankfurt begleiten durfte.« (Hauschild 1985, S. 76.) Dies ist schon deswegen nicht möglich, weil Liebknecht sich damals nicht im Frankfurter Raum aufgehalten hat. An anderer Stelle weist Hauschild dann auf Fendts Angaben hin, wonach Ludwig Büchner und Wilhelm Liebknecht sich »aus der gemeinsamen Gießener Studienzeit« (ebd., S. 281) kannten. 50 [Fendt:] Erinnerungen (s. Anm. 44), S. 32. 51 Ebd., S. 27f.
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Rede sein, solange die akademischen Bürger in ihrer Widersetzlichkeit verharren. Sie haben ihren Herren Kommilitonen mitzuteilen, daß die Vorbedingung für alles Weitere die Rückkehr in die Universität ist. Dann wird der allezeit zur Milde geneigte Senat jedem berechtigten Wunsch gerne willfahren.‹ Bei diesen Worten stieg mir das Blut in den Kopf, und da der Sprecher stumm blieb, so trat ich vor und erklärte, mühsam meine Leidenschaft bemeisternd, der Senat verkenne die Sachlage, er habe uns keine Bedingungen aufzuerlegen, sondern unsere Bedingungen entweder anzunehmen oder abzulehnen. Die Herren Senatoren sahen einander an, und der Rektor, mit nicht sehr freundlichen Blicken mich musternd, erklärte höchst ungnädig, wir seien entlassen. Hintennach wurden mir wegen meines hitzigen Draufgehens Vorwürfe gemacht, obgleich ich nur zum Ausdruck brachte, was wir auf unserem ›heiligen Berg‹ uns gelobt hatten.«52
Man könnte meinen, Liebknecht habe sich auch deswegen in die riskante Position eines Unterhändlers mit dem Senat der Universität hineinwählen lassen, weil er ohnehin auswandern wollte und nicht zuletzt deswegen die Lehre als Zimmermann absolvierte. Tatsächlich hatte Liebknechts Auftreten vor dem Senat für ihn schwerwiegende Folgen. Wegen dieser Ereignisse wurde Liebknecht im Herbst 1846 nahe gelegt, die Universität in Gießen zu verlassen, weil ihm sonst ein »Consilium abeundi«53 drohe. Liebknecht forcierte deswegen aber nicht seine Auswanderungspläne, sondern wechselte, nachdem er seine Zimmermannslehre zu einem »regelrechten Abschluss«54 gebracht hatte, an die Universität nach Marburg, wo er sich am 21. Dezember 1846 immatrikulierte.55 Allerdings kümmerte sich Liebknecht in Marburg weniger um sein Studium als um »die tollsten Tollheiten des Studentenlebens,«56 die er in seinen Erinnerungen mit der »etwas zu strengen und von den Vergnügungen der Jugend zu weit entfernten Erziehung«57 rechtfertigt. Zu diesem Studentenleben gehörte »ein Kreis von Gesinnungsverwandten«,58 in dem auch über Politik diskutiert wurde.
––––––––– 52 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 54f. 53 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 43. 54 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 57. 55 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 45. 56 Liebknecht: Aus der Jugendzeit. In: Liebknecht: Erinnerungen (s. Anm. 11), S. 69. 57 Ebd.. 58 Ebd., S. 66f.
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Liebknechts Erinnerungen an Sylvester Jordan und Weidig In dieser Vermischung von Kneipen und Politik erinnerte sich Liebknecht im Mai 1847 an den im Marburger Schloss zwischen 1839 und 1845 inhaftierten Sylvester Jordan, aber auch an seinen Verwandten Friedrich Ludwig Weidig. Die Verhaftung Jordans 1839 deutete Liebknecht als eine Wiederkehr der Vorkommnisse, die »zur Vernichtung des unglücklichen Weidig, meines Großonkels, benutzt worden waren.«59 Zwar war 1845 das Urteil gegen Jordan vom Oberappellationsgericht in Kassel aufgehoben worden, aber dies bestätigte Liebknecht in seiner Ansicht, dass hier eine willkürliche Justiz am Werke war. Offensichtlich hatte sich Liebknecht schon als Schüler bei gelegentlichen Besuchen Marburgs zum Schloss begeben und »hinter dem Gitter die bleichen Züge des Mannes, der nur selten sichtbar war, jedoch mitunter gedankenvoll und sehnsüchtig hinausschaute«, gesucht. Was nun 1847, also zwei Jahre nach Jordans Freilassung, Liebknecht zu seiner Erinnerung an Jordan veranlasste, bleibt undeutlich. Liebknecht schreibt, dass ihm zunächst ein Gedicht des aus Oberhessen stammenden Dichters und späteren Theaterleiters Franz Dingelstedt durch den Kopf gegangen sei, in dem dieser die Freilassung Jordans gefordert hatte. Darauf habe er sich zu einer Tat verpflichtet gefühlt: »Das Bild des Mannes, der, nachdem er jahrelang dort oben geschmachtet, Tantalusqualen erduldend beim Anschauen des Paradieses, das zu betreten ihm versagt war, vor kurzem, vom obersten Gerichtshof für ganz unschuldig erklärt, den Kerker verlassen hatte – das bleiche Bild Sylvester Jordans stieg vor mir auf, neben ihm die blutige Gestalt Weidigs und die Engelsgestalt seines [Jordans, MG] sechzehnjährigen Töchterchens, das daheim gestorben war, während er im Kerker sich härmte –, und es blitzte mir durch den Kopf: Du mußt etwas tun! Deinem Gefühl Luft machen. Wir müssen dem Opfer der Kabinetts- und Bundestags-Justiz ein Vivat bringen und seinen Henkern ein Pereat«.60
Liebknecht und seine Kommilitonen wurden bei ihrer Tat, bei ihrem »Vivat« und »Pereat«, beobachtet. Die Aktion wurde nach Kassel als die einer geheimen politischen Verbindung gemeldet. Liebknecht selbst bekam den Hinweis, dass die Behörden gegen ihn vorgehen wollten. Daraufhin verließ Liebknecht Marburg, und erst jetzt forcierte er von Gießen aus seine Auswanderungspläne. In diesem Zusammenhang er––––––––– 59 Ebd., S. 75. 60 Ebd., S. 80.
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wähnt Liebknecht seinen »Großonkel« Weidig in seinen Erinnerungen zum letzten Mal. Als Liebknecht zusammen mit einem Freund, der ihn bis zum Hamburger Hafen begleiten wollte, im Zug nach Mainz saß, hörte ihren Gesprächen ein »Herr«61 zu und mischte sich ein: »Entschuldigen Sie, habe ich recht gehört – Sie wollen auswandern?«62 Liebknecht fühlte sich von dem »Herrn« zunächst nur provoziert und erklärte ihm schließlich: »Was soll ich denn hier tun? Was kann ich hier tun? […] In einem deutschen Gefängnis meine Jugend verlieren, ermordet werden wie Weidig, flügellahm werden im Käfig wie der arme Jordan – dazu habe ich keine Lust. Besser drüben im freien Lande, wo ich ein freier Mann bin und meine Kraft übe. Geht dann endlich der Tanz los in Frankreich, so ist Amerika nicht aus der Welt, und ich werde am Posten sein.«63
Am Ende ließ sich Wilhelm Liebknecht aber überzeugen, statt nach Amerika in die Schweiz auszuwandern, wo er zunächst an einer MusterLehranstalt in Zürich als Lehrer eine Anstellung fand. Während der vermeintliche »Großonkel« Friedrich Ludwig Weidig etwa zwölf Jahre zuvor, im März bzw. April 1835, einen Fluchtversuch in die Schweiz – oder nach Frankreich – abgebrochen hatte, veränderte 1847 Weidigs 35 Jahre jüngerer Cousin Wilhelm Liebknecht sein Emigrationsziel und wanderte statt nach Amerika in die Schweiz, nach Zürich, aus. Zwar erwähnt Liebknecht in seinen Erinnerungen »die Flüchtlinge der dreißiger Jahre in der Schweiz«,64 aber dass dort zehn Jahre zuvor der Hauptautor des Hessischen Landboten und Mitkämpfer Weidigs, Georg Büchner, wohnte und starb, ist ihm keine Bemerkung wert. Und es ist zu vermuten, dass Liebknecht im Jahre 1847 auch nicht an Georg Büchner gedacht hat. Etwa zwanzig Jahre später, im Jahr 1876, wird Wilhelm Liebknecht dann doch auf Georg Büchner zu sprechen kommen. Dem ging 1867 eine Wiederbegegnung mit Ludwig Büchner voraus, den er vermutlich zuletzt 1846 in Gießen bzw. Staufenberg gesehen hatte.
––––––––– 61 Ebd., S. 90. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 91. 64 Ebd., S. 95.
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Wilhelm Liebknechts Wiederbegegnung mit Ludwig Büchner und sein Werben um Natalie Reh Den eigentlichen Grund für das erneute Zusammentreffen von Wilhelm Liebknecht und Ludwig Büchner bildete die Bismarcksche Deutschlandpolitik nach dem preußisch-österreichischen Krieg im Jahre 1866. Das Großherzogtum Hessen war davon insofern betroffen, als dessen Provinz Oberhessen zum Norddeutschen Bund geschlagen wurde und dadurch auch Abgeordnete im Reichstag des Norddeutschen Bundes stellte, während die Provinzen Starkenburg und Rheinhessen nur am Zollparlament teilnehmen durften.65 Bei den Wahlen zum Zollparlament im Frühjahr 1868 unterstützen August Bebel und Wilhelm Liebknecht die demokratische Partei Ludwig Büchners mit Kundgebungen u. a. in Darmstadt. August Bebel hat dies in seiner Autobiographie beschrieben: »Bei einer dieser Versammlungen kamen wir auch nach Darmstadt in das Haus von Louis Büchner (des »Kraft und Stoff«-Büchner), woselbst Liebknecht die Bekanntschaft seiner späteren zweiten Frau machte. Die erste war das Jahr zuvor gestorben. Liebknecht machte in diesem Wahlfeldzug die einzige Eroberung, eben seine zweite Frau; im übrigen zogen wir als die Geschlagenen nach Hause. Die demokratischen Kandidaten in Mainz und Darmstadt waren unterlegen.«66
Anlässlich des Auftretens von August Bebel und Wilhelm Liebknecht – Liebknecht hielt am 16. März 1868 in Darmstadt eine viel beachtete Rede, in der er u. a. das allgemeine Wahlrecht in einem despotischen Staat kritisierte – gaben Ludwig Büchner und seine Frau Sophie ein Essen, bei dem auch Natalie Reh anwesend war. Der gerade verwitwete Wilhelm Liebknecht, Vater von zwei Töchtern im Alter von vier und zehn Jahren, für die er dringend eine Mutter brauchte, verliebte sich in Natalie Reh. August Bebel musste einen Tag nach diesem Zusammentreffen »die Rolle des postillon d’amour übernehmen und durch Frau Büchner eine zweite Zusammenkunft vermitteln.«67 Dazu kam es aber zunächst nicht. Die unverheiratete Natalie Reh war zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt; sie galt als gebildet und anspruchsvoll.68 Vermittelt durch Bebel, vor ––––––––– 65 Siehe dazu: August Bebel: Aus meinem Leben. Berlin und Bonn 1986, S. 143ff. 66 Ebd., S. 143. 67 Schröder: Natalie Liebknecht (s. Anm. 13), S. 139. 68 Ebd.
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allem aber durch Ludwig Büchner und dessen Frau Sophie, deren Freundin Natalie Reh war, ergab sich ein Briefwechsel, in den sich auch Ludwig und Sophie Büchner gelegentlich einmischten. Aus dem wohl ersten Brief Liebknechts an Natalie Reh wird deutlich, dass Liebknecht mit der familiären Situation nach dem Tode seiner ersten Frau nur schwer zurecht kam. Dort heißt es: »Es war Nacht um mich, als ich nach Darmstadt kam. Mein Glück lag im Grab; sorgenvoll gedachte ich der verwaisten Kinder. Auf dem Rückweg von der Ludwigshöhe69 fiel wieder der erste Sonnenschein auf mein verdüstertes Dasein. Anfangs hatte ich gar keine Acht auf Sie gehabt. Erst auf dem Heimweg fiel mir eine Binde von den Augen und plötzlich, wie wenn ein Blitz niedergefahren wäre, wurde es mir klar, dass ich an einem Wendepunkt meines Lebens stand.«70
Um Natalie Reh auf ihre Rolle als Stiefmutter vorzubereiten, schickte Liebknecht an Ludwig und Sophie Büchner eine Photographie. Wie aus Briefen Sophie Büchners an Liebknecht hervorgeht, war Natalie Reh durchaus nicht abgeneigt, auf das Werben Liebknechts einzugehen, wurde allerdings von ihrer Familie, vor allem ihrem Vater, Theodor Reh, zunächst in ihre Schranken gewiesen. Er zog in Gießen Erkundigungen über Liebknechts Vorleben ein und prüfte neben der politischen Gesinnung vor allem Liebknechts Möglichkeiten, eine Familie zu ernähren. Dies alles führte dazu, dass Theodor Reh die damals noch notwendige Einwilligung in den Ehewunsch seiner Tochter verweigerte. Allerdings hielt dieses Veto bestenfalls 14 Tage, denn schon am 31. März 1868 starb Theodor Reh, so dass Ludwig Büchner über den Rechtszustand Natalie Rehs an Liebknecht schreiben konnte, »dass sie nunmehr vollkommen frei und im Besitz ihres Vermögens ist […]. Nach eingezogenen Erkundigungen soll Nataliens Erbteil zirka 8000 fl betragen; jedoch kann es auch mehr oder weniger sein.«71 Bis zur Verlobung am 28. Mai 1868 und der Eheschließung am 30. Juli 1868 lief ein Großteil der Kommunikation zwischen Wilhelm Liebknecht und Natalie Reh über das Ehepaar Ludwig und Sophie Büchner. Auch in den schließlich möglichen direkten Briefwechsel zwischen Liebknecht und Natalie Reh griffen die Büchners ein, als Liebknecht in sei––––––––– 69 Die Ludwigshöhe ist ein Berg im Süden der Stadt Darmstadt; Ludwig Büchner wohnte damals in Darmstadt noch in der Grafenstraße; MG. 70 Schröder: Natalie Liebknecht (s. Anm. 13), S. 138. 71 Ebd., S. 140.
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nem Werben und seinem sich schnell einstellenden Überschwang zu weit ging. So schrieb Sophie Büchner: »Lieber Herr Liebknecht! Sie werden mich entschuldigen, wenn ich einmal ganz offen und ehrlich ein Wörtchen mit Ihnen spreche […]. Durch verschiedenes, was ich von N. höre und sehe, scheinen Sie mir in einer Weise aufgeregt und exaltiert zu sein, dass es einem dabei förmlich unheimlich zumute sein könnte. Mich könnte eine solche Leidenschaftlichkeit eher abstoßen wie anziehen. Es wäre Ihnen sehr zu raten, dass Sie sich besser beherrschen. Ja, wenn Sie sich schon oft gesehen hätten und nach und nach in ein solches Feuer gekommen wären, so entschuldigte ich dies eher, aber so, nur durch briefliches Kennenlernen, finde ich eine solche Leidenschaftlichkeit, die fast an Raserei grenzt, verzeihen Sie mir diesen Ausdruck, fast unwahr, weil unnatürlich. Wo soll es denn hier noch eine Steigerung geben? […] Natalie leidet sichtlich darunter und ich muss sagen, dass ich fast für ihre Zukunft zu fürchten anfange, wenn ich bedenke, wie sie bei Ihnen in jeder Weise auf Exaltation und Leidenschaftlichkeit stoßen wird […]. Von einem richtigen Mann verlange ich, dass er in jeder Lage des Lebens das richtige Maß einzuhalten versteht, denn das scheint mir eine Vorbedingung des Glücks zu sein.«72
Auf diese Weise erlebte die Familie Büchner das Verhalten sozialdemokratischer Parteiführer gegenüber Frauen. Auch Ferdinand Lassalle war in dieser Hinsicht im Hause Büchner unangenehm aufgefallen. Anlässlich des Werbens Ferdinand Lassalles um die Arbeiterbildungsvereine vor der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines (ADAV) hatte Lassalle Ludwig Büchner im Mai 1863 in Darmstadt besucht. Bei der damaligen Begegnung war auch Ludwigs ältere Schwester Luise Büchner – »Verfasserin von ›Die Frauen und ihr Beruf‹ u. s. w.«, wie Ludwig Büchner etwas spitz bemerkte – anwesend. Als sie sich »einmal in die Diskussion gemischt hatte, rief (Lassalle ihr zu): ›Davon verstehen Frauenzimmer nichts‹«.73 Wilhelm Liebknecht reagierte allerdings auf Sophie Büchners selbstbewusste Vorhaltungen nicht beleidigt, sondern nahm sie sich zu Herzen, so dass Liebknecht Anfang Juli an Marx in London schreiben konnte: »Am 30. dieses Monats werde ich heiraten, ein Fräulein Reh in Darmstadt, Tochter des ehemaligen Vizepräsidenten bzw. Präsidenten des Frankfurter Parlaments, der früher ein fanatischer ›Kaisermacher‹ war, aber durch 1866 ––––––––– 72 Ebd., S. 150. 73 Ludwig Büchner: Meine Begegnung mit Ferdinand Lassalle. Berlin 1894, S. 29.
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zur Vernunft kam. Meine Braut – eine entfernte Verwandte, ihre Großmutter war die Schwester meines Großvaters – ist sehr klug, gesund und gutmütig, 29 Jahre alt und eine ausgezeichnete Hausfrau. In der alten Weise konnte ich nicht weiterleben. Entweder musste ich mich von meinen Kindern trennen oder tun, was ich zu tun im Begriff bin. Bei nächster Gelegenheit werde ich Dir eine Photographie schicken.«74
Dreierlei ist an diesen Zeilen bemerkenswert: Zum einen macht Liebknecht seine zukünftige Frau nahezu vier Jahre jünger; Natalie Reh wurde wenige Tage später 33 Jahre alt. Zum anderen mildert er die politische Einstellung seines inzwischen verstorbenen Schwiegervaters und teilt dessen Veto gegen die Eheschließung nicht mit. Schließlich weist Liebknecht zwar auf seine Verwandtschaft mit Natalie Reh hin, aber dass sie die Nichte von Friedrich Ludwig Weidig ist, bleibt dabei unerwähnt. Entweder ist der Name Weidig im Umfeld von Karl Marx nicht wohlgelitten, so dass Liebknecht hier nicht auf ihn zu sprechen kommt; oder aber, und das ist wahrscheinlicher, war Weidig mehr oder weniger vergessen – genauso wie Georg Büchner im Jahr 1847, als Liebknecht nach Zürich kam. Allerdings müssen wir an dieser Stelle noch einmal auf das Verhältnis zwischen Karl Marx und Friedrich Engels auf der einen Seite und Wilhelm Liebknecht auf der anderen Seite zu sprechen kommen. In der Liebknecht-Biographie von Kurt Eisner heißt es: »In London lernte Liebknecht Karl Marx kennen. Bald verband ihn innige Freundschaft mit dem großen Denker und reinen Menschen. Er gehörte mit zur Familie, und im Umgang mit ihm und Jenny Marx, seiner herrlichen Jugendgespielin und Lebenskameradin, im fröhlichen Verkehr mit den Kindern der beiden, gewann Liebknecht immer wieder frischen Mut, wenn ihn das Elend hinabzuziehen drohte.«75
Die Londoner Wirklichkeit war tatsächlich wesentlich rauer, als es die legendenhaft biedere Darstellung Eisners zu suggerieren versucht. Vor allem der Ton, den Marx und Engels im persönlichen Umgang anschlugen, stößt heute auf größeres Befremden. Deutlich wird das vor allem in den Briefen, die nach Liebknechts Rückkehr nach Deutschland geschrieben wurden. In diesen nennt Marx, wenn er es gut mit Liebknecht meint, ihn häufig das »Wilhelmchen«,76 manchmal auch »das feurige Wilhelm––––––––– 74 Schröder: Natalie Liebknecht (s. Anm. 13), S. 151. 75 Kurt Eisner: Wilhelm Liebknecht. Sein Leben und Wirken. Berlin 1906, S. 29. 76 Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 101.
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chen«. Wenn Liebknecht sich in Deutschland nicht so verhielt, wie Marx und Engels es wünschten, dann ist er »konfus im Koppe«,77 oder es heißt: »Der Wilhelm wird jeden Tag dümmer.«78 Liebknecht zahlte in seinen Briefen nach London allerdings in gleicher Münze zurück. Darüber war nun auch Marx erbost, so dass er an Engels schrieb: »Du siehst […], was der Wilhelm mir für Ungezogenheiten sagen lässt. Ich liebe diese grobianischen Sentimentalitäten nicht, und da Wilhelm ein geborner Darmstädter [gemeint ist: Hessen-Darmstädter, MG], also nicht einmal die Entschuldigung hat, geborner Westfale [wie Engels, MG] zu sein, habe ich ihm eine etwas derbe Antwort zugehn lassen.«79
Friedrich Engels urteilte über Liebknecht, er »bleibt ein Rindvieh sein Leben lang.«80 Trotzdem bat Liebknecht Marx schon um die Patenschaft für seinen ersten Sohn aus zweiter Ehe, Theodor Liebknecht: »Wenn ich den Kleinen taufen lasse, bekommt er auch Deinen Namen. Du verweigerst doch die Patenschaft nicht? Das wurde gleich nach der Geburt festgesetzt.«81 Da Marx unter den Paten des Sohnes Theodor nicht aufgeführt wird, hat er vermutlich die Patenschaft abgelehnt. Aber für den zweiten Sohn aus der Ehe mit Natalie Reh, Carl Paul Friedrich August Liebknecht, also den berühmten Karl Liebknecht, hat er sowohl Marx als auch Engels als Paten gewinnen können. Die weiteren Vornamen beziehen sich auf Paul Stumpf aus Mainz und auf August Bebel.
Liebknecht und Ludwig Büchner im sozialdemokratischen Parteibildungsprozess Auch wenn bisher der private Anteil an Liebknechts Besuch bei Ludwig Büchner in den Vordergrund gerückt wurde, müssen wir doch auf den eigentlichen Grund zurückkommen. Dieser bestand in der Sammlung der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Ludwig Büchner gehörte wie Wilhelm Liebknecht zu den frühen Organisatoren dieser Arbeiterbewegung. So spielte Ludwig Büchner bei der Gründung des Darmstädter Arbeiterbildungsvereins am 5. Februar 1863 eine wichtige Rolle. Im Vorfeld der Gründung des ADAV hielt Ludwig ––––––––– 77 Ebd., S. 101. 78 Ebd., S. 103. 79 Ebd., S. 101. 80 Ebd., S. 105. 81 Ebd., S. 106.
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Büchner am 19. April 1863 auf dem Arbeitertag des Maingaus in Rödelheim eine viel beachtete Rede, in der er auftragsgemäß Lassalles Positionen vorstellte. Nach der Gründung des ADAV distanzierte er sich von Lassalle. Differenzen gab es im Hinblick auf die genossenschaftliche Selbsthilfe und das eherne Lohngesetz, dessen Urheberschaft er ohnehin eher Ricardo oder Marx zuschrieb. Besonders kritisierte Büchner Lassalles Vorschlag der Staatskredite für Genossenschaften. Statt dessen setzte er auf die kommunitäre Selbsthilfe, mit der das Lebensniveau der Arbeiter verbessert werden sollte – für Lassalle eine Illusion.82 In der Folge des Arbeitertages in Rödelheim erhielt Büchner von den Arbeiterbildungsvereinen des Maingaus den Auftrag, eine Redeveranstaltung mit Ferdinand Lassalle und Hermann Schulze-Delitzsch zu organisieren. In diesem Zusammenhang kam es zu dem oben erwähnten Besuch Ferdinand Lassalles im Hause Büchner in Darmstadt. Die Redeveranstaltung selbst fand am 17. Mai 1863 in Frankfurt statt, allerdings ohne SchultzeDelitzsch, der abgesagt hatte. Lassalle konnte an jenem Abend seine Rede nicht beenden, obwohl er länger als vier Stunden zu den Anwesenden sprach, so dass es am 19. Mai 1863 zu einer weiteren Veranstaltung kam, bei der sich die überwiegende Anzahl der Anwesenden für das Lassallesche Konzept der Gründung des ADAV aussprach. Auch der Darmstädter Arbeiterbildungsverein schloss sich der Lassalleschen Richtung an. Der ADAV wurde wenige Tage später, am 23. Mai 1863, in Leipzig gegründet. Mit der Gründung des ADAV war die dezentrale, genossenschaftlich organisierte und den liberalen Parteien nahe stehende Arbeiterbewegung aber noch nicht am Ende, zumal der ADAV 1864 nach dem Tode Lassalles und dem deutsch-dänischen Krieg in eine Krise geriet. 1865 entstand in diesem Zusammenhang vor allem im hessischen Raum die Idee, eine Volkspartei zu gründen, in der die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung und der ihr nahe stehenden liberalen Bewegung zusammengefasst werden sollten. Am 16. Juli 1865 trafen sich deswegen in Darmstadt Vertreter der Arbeitervereine des Maingauverbandes. Zu ihnen gehörten »sowohl Lassalleaner aus Offenbach als auch Ludwig Büchner.«83 Die »demokratischen Kandidaten«,84 die Bebel und Liebknecht bei den Wahlen zum Zollparlament 1867 unterstützen wollten, ––––––––– 82 Siehe dazu auch: Ludwig Büchner: Begegnung (s. Anm. 73). 83 Gerhard Beier: Arbeiterbewegung in Hessen. Frankfurt 1984, S. 136. 84 Bebel: Aus meinem Leben (s. Anm. 65), S. 143.
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sind aus dieser von Ludwig Büchner unterstützten Bewegung hervorgegangen. Inzwischen war Ludwig Büchner außerdem in die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) eingetreten; er gehörte neben Paul Stumpf aus Mainz, einem Freund von Karl Marx, und Friedrich Albert Lange, dem späteren Marburger Neukantianer, zu den ersten Mitgliedern aus Deutschland und nahm im September 1867 am Kongress der IAA in Lausanne teil.85 Damit war Büchner allerdings genauso wenig wie Lange zum Marxisten geworden, und Marx verzichtete auch nicht darauf, spöttische Bemerkungen über Büchner zu machen. So schrieb Marx am 5. Dezember 1868, also nach Liebknechts Eheschließung, an Louis Kugelmann: »Ich habe Büchners Vorlesungen über Darwinismus erhalten. Er ist offenbar ein ›Buchmacher‹ und heißt deshalb wahrscheinlich ›Büchner‹. Das oberflächliche Geschwätz über die Geschichte des Materialismus ist offenbar aus Lange abgeschrieben«.86 Noch abfälliger äußerte sich allerdings Friedrich Engels in einem Brief an Wilhelm Liebknecht über Ludwig Büchners Buch »Die Stellung des Menschen in der Natur«: »Was Büchner angeht so brauchst Du nur sein letztes angeblich sozialistisches Machwerk anzusehn um den Neid und Haß zu sehn den dieser kleine Krüppel gegen Marx hat, den er bestiehlt und verdreht ohne ihn je zu nennen«.87 Gerade auf dieses Buch hatte Ludwig Büchner Liebknecht zwei Jahre zuvor, in einem Brief vom 22. April 1870, hingewiesen, als er ihm zur Geburt des ersten Kindes aus der Ehe mit Natalie Reh gratulierte: »Mit großem Vergnügen haben wir heute die Nachricht von Eurem glücklichen Familienereigniß erhalten, und lassen wir Alle (ich, meine Frau und die Schwestern) Dir und Natalie herzlich Glück wünschen. Auch wird es uns recht sehr freuen, Dich bald wieder hier zu sehen. Du kannst dann einmal ein Sträußchen mit Deinem Schwager Theodor pflücken, der über Deine Theilnahme an dem Basler Congreß und seine Beschlüsse über das Eigentum an Grund und Boden sehr in Aufregung war und sich vor Verwunderung gar nicht lassen konnte, als ich ihm auf Befragen gestand, dass ich mit jenen Beschlüssen principiell einverstanden sei. Ich kramte vor einiger Zeit in alten Papieren und fand darin zwei, früher von mir verfasste Gedichte sozialistischer Tendenz, von denen ich Dir Abschrift einlege, in der Idee, dass sie Dir vielleicht für den Volksstaat [die sozialde––––––––– 85 Ebd., S. 145. 86 Zitiert nach Weitershaus: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 8), S. 115. 87 Ebd., S. 115.
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mokratische Parteizeitung, MG] angenehm sein könnten. Ist dieses der Fall, so drucke sie ohne Namensnennung. Könntest Du nicht auch im Volksstaat etwas über mein neues Buch: »Die Stellung des Menschen in der Natur« bringen? Hast Du kein Exemplar, so lasse Dir nun ein solches als Recensions-Exemplar bei Thomas gratis holen, indem Du Dich auf mich berufst. Die dritte Auflage wird auch meine socialistischen Ideen enthalten. Daß Ihr die Frauenfrage auf dem Stuttgarter Congreß behandeln wollt, ist sehr zweckmäßig, sie ist nachgerade sehr brennend geworden.«88
Liebknechts Versuch, Georg Büchner in den sozialdemokratischen Traditionszusammenhang einzufügen Wenn sich Liebknecht 1876 doch mit Georg Büchner beschäftigte, so ist dies sicherlich eine Folge der seit 1868 neu geknüpften Verbindung zwischen den Familien Büchner und Liebknecht.89 Im Januar und Februar 1876 publizierte die von Wilhelm Liebknecht herausgegebene Neue Welt »eine Artikel-Serie über Büchner.«90 Es sind die ersten Ausgaben der gerade gegründeten Neuen Welt, in denen Liebknecht Georg Büchner vorstellt und damit in die Tradition der Sozialdemokratie einfügt. Dabei stützt Liebknecht sich auf die »von Ludwig Büchner verfaßte biographische Einleitung zu den Nachgelassenen Schriften«91 Georg Büchners. Jan-Christoph Hauschild hat schon 1985 die wenigen Differenzen zwischen der biographischen Einleitung Ludwig Büchners und dem von Wilhelm Liebknecht herausgegebenen Text über Georg Büchner herausgearbeitet: »Im großen und ganzen war es das Büchnerbild des Jahres 1850, das Liebknecht unversehrt passieren ließ. Bis auf ganz wenige eingefügte Briefzitate, Auszüge aus der Probevorlesung und gelegentliche Erläuterungen handelt es sich um einen ziemlich wortgetreuen, leicht gekürzten Wiederabdruck aus der biographischen Einleitung zu den Nachgelassenen Schriften. Nur an drei Stellen erlaubte sich Liebknecht, wie aus dem Vergleich mit seiner Vorlage ersichtlich wird, relevante eigene Kommentare.«92
––––––––– 88 Ebd., S. 110. 89 Siehe dazu auch Hauschild 1985, S. 281. 90 Georg Büchner / Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Studienausgabe. Hrsg. v. Gerhard Schaub. Stuttgart 1996, S. 131 (im Folgenden Der Hessische Landbote. Studienausgabe). 91 Ebd., S. 131. 92 Hauschild 1985, S. 283.
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Auch Burghard Dedner hat 1990 noch einmal auf diese Übernahme hingewiesen: »Die wenigen Veränderungen und Erweiterungen, mit denen Liebknecht den inzwischen 26 Jahre alten Text auf den neuesten Stand zu bringen sucht, lassen sich kurz so charakterisieren: Liebknecht ›aktualisiert‹ einige Namen, er verschärft die Angriffe auf Liberale wie Heinrich von Gagern oder Sylvester Jordan; er stellt Georg Büchner eindeutiger in die Tradition der Französischen Revolution und trennt ihn zugleich vom Jungen Deutschland. Auffällig ist weiterhin, dass er Büchners naturwissenschaftliche Leistungen und Interessen auf Kosten der poetischen und philosophischen hervorhebt, daß er also schon abwehrt, was Mehring später die ›Verbelletristung‹ Büchners nennen wird, und daß er schließlich die Melancholismen und psychischen Brüche, die Ludwig Büchner akzentuiert hatte, eher zurückdrängt. […] Wilhelm Liebknecht hat Ludwig Büchners summierende Einschätzung, ›was seinen politischen Charakter anlangt, so war Büchner noch mehr Socialist, als Republikaner‹, ohne Einschränkungen wieder abgedruckt«.93
Dedner stellt in seiner Darstellung der Rezeption Georg Büchners durch seinen Bruder Ludwig auch fest, dass dessen Aufarbeitung der Geschichte der Landboten-Gruppe angesichts der vorhandenen Möglichkeiten »fast schon enttäuschend«94 erscheine. Auch wenn man berücksichtigt, dass Ludwig Büchner die Schriften seines Bruders 1850, in der gerade beginnenden Reaktions- und Restaurationszeit, also gewissermaßen zur Unzeit, dem breiten Publikum bekannt machen wollte, deswegen gewaltig in den Textkörper eingriff und auch in seiner Kommentierung zurückhaltend sein musste, so macht doch auch die Weidig- und BüchnerRezeption von Wilhelm Liebknecht deutlich, dass die Landboten-Gruppe dem Bewusstsein dieser Generation – Liebknecht wurde 1826, 13 Jahre nach Georg Büchner geboren – kaum präsent war. Immerhin versuchte Ludwig Büchner dem abzuhelfen. Aber schon die Publikation der Einleitung Ludwig Büchners durch Liebknecht enthält einige Veränderungen, die Hauschild als »vorsichtige Distanzierungen«95 wertet. Auch durch die Veröffentlichungen Franzos’ 1877 und Eduard Davids 1896 wurde der Hessische Landbote kein populärer Text, zumal Eduard David gerade auf die Differenzen zwischen Inhalten und Sprache des Hessischen Landboten
––––––––– 93 Dedner: Einleitungen, S. 57f. 94 Ebd., S. 28. 95 Hauschild 1985, S. 24.
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und den Auffassungen der Sozialdemokratie hingewiesen hat.96 Der Kommentar von Gerhard Schaub zur Studienausgabe des Hessischen Landboten erwähnt die »Auffassung von Jürgen Kuczynski, der ›aufgrund seiner Kenntnis von mehreren Tausend Autobiographien aus dem 19. und 20. Jahrhundert‹ urteilt« und zu dem Schluss kommt, dass »Büchner ›nicht zur ‚Alltagslektüre der Deutschen’, auch keineswegs etwa der Arbeiterklasse‹«97 gehörte. Vermutlich hat auch Wilhelm Liebknecht erst auf der Basis der Neuedition durch und nach der Wiederbegegnung mit Ludwig Büchner 1868 einen inhaltlichen Zugang zur Landboten-Gruppe, zu Georg Büchner, aber auch zu Friedrich Ludwig Weidig, bekommen. Es ist kein Text bekannt, in dem sich Liebknecht vor 1868 über Weidig oder gar über Büchner äußert. Auch in Liebknechts Darstellung seines politischen Lebens im Leipziger Hochverratsprozess von 1872 fehlen Hinweise auf Weidig, obwohl er ansonsten durchaus auf die Beweggründe seines politischen Engagements eingeht. Insofern ist anzunehmen, dass Liebknecht erst in den Jahren zwischen 1872 und der Publikation der im Wesentlichen von Ludwig Büchner stammenden Lebensbeschreibung Georg Büchners die Geschichte der Landboten-Gruppe und das Werk Büchners rezipierte. Ob der Anstoß von Ludwig Büchner kam oder vielleicht von seiner Frau Natalie Reh, die in einer engeren Verwandtschaft zu Weidig stand und mit der Familie Büchner länger vertraut war als Liebknecht, muss hier offen bleiben.
Liebknecht und Martin Luther Zum Schluss müssen wir noch auf eine in der Familie Liebknecht gepflegte Legende eingehen. Demnach soll die Familie Liebknecht genealogisch auf Martin Luther zurückgehen. In der Leichenpredigt für den am 19. September 1749 in Gießen beerdigten Mathematik- und Theologieprofessor Johann Georg Liebknecht hieß es: »›Natus […] patre […] Michaele Liebknechtio […] cuius maiores beato Luthero nostro consanguinitate iuncti fuerent.‹ Dies besagt, daß des Professors Vorfahren ›mit unserem seligen Luther durch Blutsverwandtschaft verbunden waren.‹«98 ––––––––– 96 Zur Rezeption Georg Büchners im Umfeld der Sozialdemokratie siehe vor allem: Hauschild 1985, S. 279–288. 97 Der Hessische Landbote. Studienausgabe (s. Anm. 90), S. 135f. 98 Weitershaus: Die Liebknechts (s. Anm. 6), S. 99.
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Diese vor über 250 Jahren behauptete Verwandtschaftsverbindung, die von Genealogen nicht nachgewiesen werden konnte, hat sich auch in der Familie Wilhelm Liebknechts gehalten. So sprach der »im Februar 1972 verstorbene 95jährige Sohn Wilhelm Liebknechts, der Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Liebknecht, Berlin, […] von einer offenbar schon alten Überlieferung in der Familie, wonach sie ›in irgendeiner Weise, sei es direkt, sei es indirekt, von Luther abstammen solle‹.«99 Diese Familienüberlieferung wäre hier nicht weiter interessant, wenn nicht auch Wilhelm Liebknecht in seinen Erinnerungen auf Luther oder andere Reformatoren zu sprechen käme. So behauptet Liebknecht, dass es gerade seine Ähnlichkeit mit Luther gewesen sei, die ihn um 1846/47 vom Theologiestudium weggebracht und zur Politik geführt habe: »Und da ich inzwischen der Schriften Saint-Simons und anderer französischer Sozialisten habhaft geworden war, so kam ich sehr bald aus dem Himmel der Theologie und Philosophie auf den harten Boden der Erde und Wirklichkeit. Die mir angeborene, aufs Praktische gerichtete ›unverwüstliche Bauernnatur Luthers‹, die Dr. Franz Mehring mit dem ihm eigenen Scharfsinn so blitzschnell entdeckt hat, gelangte mir selber nur sehr langsam zum Bewußtsein. Im lebendigen Menschenherz und Menschenhirn zu lesen ist schwieriger als in Büchern und Zeitungen. Die Luthersche Bauernnatur hatte manch Jährchen in mir mit der spekulativ grübelnden Stubenhockernatur zu kämpfen. Und niemand hat über meine Entpuppung als politischer Schmetterling aus stubenhockerischer Raupe sich mehr gewundert als meine Gymnasial- und ersten Universitätslehrer, die mir sämtlich eine ruhige Gelehrtenlaufbahn voraussagten.«100
Es ist demnach nicht der Theologe Luther, sondern dessen aufs Praktische ausgerichteter Charakter, den Liebknecht geerbt habe will. Auch in der Sozialdemokratie war diese Legende bekannt. Eisner erwähnt in seiner Liebknecht-Biographie eine Rede Liebknechts anlässlich einer Versammlung in Klein-Linden bei Gießen im September 1899. Dort soll Liebknecht gesagt haben: »Ich will nichts gegen die Reformation sagen, gehöre ich doch selbst einer Familie an, die sich rühmt von Luther abzustammen.«101 Hat auch Friedrich Ludwig Weidig geglaubt, seine Abstammung gehe auf Luther zurück? Es gibt von ihm keine diesbezügliche Äußerung. Natürlich hat sich Friedrich Ludwig Weidig als evangelischer Theologe ––––––––– 99 Ebd. 100 Liebknecht: In der Lehre (s. Anm. 11), S. 37f. 101 Eisner: Wilhelm Liebknecht (s. Anm. 75), S. 12.
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lutherischen Glaubens mit Luther auseinandergesetzt. Findet man Spuren Luthers in Weidigs Leben, so kann das demnach nicht heißen, dass hier jemand seine Familientradition kannte. Im Übrigen ist aber auffällig, dass Weidig die politischen Kämpfe der 1830er Jahre sprachlich in die konfessionellen Auseinandersetzungen der Reformationszeit bzw. Gegenreformation verwandelt. Den Worten der Bibel »Wer wahrhaftig ist, der sagt frei, was recht ist« – so das Motto des Leuchter und Beleuchter für Hessen – werden die politischen Jesuiten gegenübergestellt. Im Leuchter ist vielfach abschätzig von den Jesuiten oder von Ignatius von Loyola die Rede.102 Auch auf Philipp den Großmütigen als den Gründungsvater Hessens, also auf den hessischen Fürsten, der die Reformation eingeführt hat, weist der großhessische Patriot Weidig hin. Weidig sieht also seinen politischen Kampf in einer auf die Lutherzeit zurückgehenden Tradition. Aber er sieht sich dabei auch als ein Kritiker Luthers. Im »Hessischen Landboten« wird in Bezug auf die deutschen Fürsten der 1830er Jahre gesagt, sie seien »nicht von Gott« und »keine rechtmäßige Obrigkeit«.103 Und an anderer Stelle fragen Büchner/Weidig in Anlehnung an Paulus bzw. Gottfried August Bürger: »Ist das eine Obrigkeit von Gott zum Segen verordnet?«104 Natürlich kannten die damaligen Kirchgänger auch Martin Luthers Kleinen Katechismus und dessen Anhänge. In der »Haustafel« erläutert Luther in den Worten der Bibel, wie man sich gegenüber der weltlichen Obrigkeit und als Untertan zu verhalten habe. Für Weidig gab es nicht nur die von Gott verordnete Obrigkeit, der man zu gehorchen hatte. Auch die Worte Jesu aus dem Matthäus-Evangelium, dass man dem Kaiser geben soll, was des Kaisers ist, die Luther in der »Haustafel« im Anhang zum Kleinen Katechismus zu einer eindeutigen Aufforderung, der Obrigkeit die Steuern zu zahlen, macht, kritisiert der Hessische Landbote. Dort wird behauptet: »Diese Regierung ist nicht von Gott, sondern vom Vater der Lügen. Diese deutschen Fürsten sind keine rechtmäßige Obrigkeit.«105 Deshalb komme diesen Fürsten der Lohn des Verräters, der »T h e i l v o n J u d a s« 106 zu. Zu dieser Luther revidierenden und überbietenden Haltung passt, dass Weidig im Gefängnis das Projekt einer Neuübersetzung der Bibel in ––––––––– 102 Weidig (s. Anm. 2), S. 91ff., 94ff. 103 Der Hessische Landbote. Studienausgabe (s. Anm. 90), S. 20. 104 Ebd., S. 32. 105 Ebd., S. 20. 106 Ebd.
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Angriff nahm, wobei einerseits die Fehler Luthers beseitigt, andererseits dessen poetische und das Volk ergreifende Kraft bewahrt werden sollte. In einem der ersten biographischen, wohl von Karl Buchner107 stammenden Texte über Weidig heißt es: »In der Gefangenschaft beschäftigte Weidig sich sehr mit der Bibel; er schrieb darüber: ›Ich setze jetzt, so weit sich dies thun läßt, meine früher begonnenen Vorarbeiten zu einer Uebersetzung der Bibel fort, die sich auf die Lutherische, nun einmal mit kirchlicher Weihe versehene, Uebersetzung gründen, und nur die, durch das spätere Fortschreiten der Philologie erwiesenen Unrichtigkeiten schonend ausmerzen soll, vorzüglich in den poetischen Schriften. Für diesen Zweck vergleiche ich jetzt Luthers und de Wette’s Uebersetzungen, für welche letztere ich dir nochmals herzlich Dank sage. Sie ist vortrefflich, hat aber Luthers Volksbibel ganz auf der Seite liegen lassen, und ist in den poetischen Schriften unpoetisch abgefaßt. Grade darin glaube ich nun etwas leisten zu können, so wie ich denn auch schon eine Anzahl Psalmen frei in deutsche verwandelt habe.‹«108
Weidig hat seine poetische Kraft und seine Volkstümlichkeit als durchaus mit Luther ebenbürtig begriffen. In politischer Hinsicht, und es handelt sich bei Weidig dabei immer um eine politische Theologie, fühlte er sich Luther sicherlich überlegen. Dabei orientierte sich Weidig am Apostel Paulus und, wie dieser, an Jesus selbst. In seiner Antrittsrede in Obergleen am 7. September 1834 definiert Weidig sein geistliches Amt ganz in der Nachfolge des Apostels Paulus. Wie Paulus habe er, Weidig, zu »strafen mit dem Schwerdte des Geistes, […] zu leiden als ein guter Streiter Christi, d. h. um der Wahrheit willen, wenn es Noth wäre, Verfolgung zu erdulden, wie die ersten Christen, wie der Apostel selbst Anfechtung erduldete. […] Derselbe Apostel gebeut mir endlich, im Geiste und Namen von Christus, was das Zeitliche betrifft, mich nicht in Händel der Nahrung zu flechten, offenbar nicht um zeitlichen Gewinnstes willen und zur Versäumniß des christlichen Amtes.«109
Weidigs zögerliches und letztendlich ablehnendes Verhalten gegenüber den Fluchtmöglichkeiten im Frühjahr 1835 ist sicherlich auch vor diesem Hintergrund zu sehen: Auch Jesus hat den Garten Gethsemane am Vorabend seiner Verhaftung nicht verlassen. ––––––––– 107 Weidig (s. Anm. 2), S. 468. 108 Ebd., S. 158. 109 Ebd., S. 245.
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»Waren die nicht mal in Gießen?« Karl Viëtor über Georg Büchner in den Jahren 1928–1933/34–1949 Mit einem unveröffentlichten Büchner-Vortrag Viëtors von 1928 im Anhang Von Carsten Zelle (Bochum) »Vietor? War der nicht mal in Giessen?« Mit diesem selbstironischen Satz kommentierte der vormalige Ordinarius für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Ludwigs-Universität im Jahre 1950 die Bemühungen seines Schülers (und späteren Biographen) Walter Hof, die kurz zuvor erschienenen Summen des »Auswanderer[s]« zu Büchner und Goethe bekannt zu machen und »im Hessenland den Ruhm des vertriebenen Propheten« zu verkünden.1 Büchner und Viëtor – es ist zweierlei, das sie verbindet: Beide waren »in Giessen« auf der Universität, der eine als Medizinstudent, der andere als Germanistikprofessor, und beide sind ›Auswanderer‹, der eine nach Straßburg und Zürich, um vor der Restauration und ihrer Politik auszu––––––––– 1 Karl Viëtor, Berkeley, 28. Mai 1950, an Walter Hof; zit. nach Karl Viëtor: Briefe an seine Gießener Schüler. Auszüge. Mit Vorbemerkungen herausgegeben von Walter Hof. Gießen 1980 (masch.) (Universitätsbibliothek Gießen, Hs NF 434), S. 66 (im folgenden zitiert als: Hof). Für die Erlaubnis, aus unveröffentlichten Quellen zitieren zu dürfen, danke ich der Houghton Library der Harvard University in Cambridge MA (zit.: Harvard) und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach (zit.: Marbach). Für wichtige Hinweise zur Büchnerforschung danke ich meinem Lehrer Burghard Dedner (Marburg/Lahn). – Die Ausführungen gehen auf eine Vorlage für das Internationale Arbeitstreffen Modernisierung oder Überfremdung. Die Wissenschaft der Exilierten in der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft der Aufnahmeländer des Deutsches Literaturarchivs Marbach/Neckar vom 2.–4. Sept. 1991 zurück. Der damals von den Veranstaltern zugesagte Abdruck der Vorlagen unterblieb. Gegenüber dem Druck der ursprünglichen Vorlage u. d. T. »...tätiger Sozialist, Anatom und revolutionärer Dichter«. Karl Viëtors Büchnerbild in der Forschungskontinuität des Traditionsbruchs. In: Michigan Germanic Studies 25 (1999), S. 188–225, ist die hier vorgelegte Fassung, die vor der Georg-BüchnerGesellschaft am 1. Juli 2001 in Gießen vorgetragen wurde, durchgreifend verdichtet und ergänzt.
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weichen, der andere nach Cambridge in den USA, um dem Rassismus der Nazis zu entgehen. Eine dritte Affinität soll im folgenden im Mittelpunkt stehen, insofern nämlich das Werk Büchners zum Bezugspunkt lebenslanger Forschung auf Seiten Viëtors geworden ist. Ich gliedere in drei Teile: 1. Ein deutscher Germanist in Amerika – ein amerikanischer Germanist aus Deutschland, 2. Viëtors Büchnerforschungen – Forschungskontinuität im Traditionsbruch, 3. Viëtors nihilistische Büchnerinterpretation am Beispiel von Danton’s Tod.
ad 1. Ein deutscher Germanist in Amerika – ein amerikanischer Germanist aus Deutschland Karl Viëtor2 war einer der bedeutendsten Vertreter der geistesgeschichtlichen Germanistik in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts – ihrer philologischen Tugenden wie ihrer politischen Gefährdungen. Er ist im Fach bekannt geblieben als einer der Begründer der Barockforschung, als Hölderlin-Kenner, durch seine Bücher zu Goethe und vor allem durch seine lebenslangen Forschungen zu Georg Büchner.3 An diese knüpft sich freilich auch jener Vorwurf einer »faschistischen Umfälschung« Büchners, den Georg Lukács 1937 gegen die Deutung von Danton’s Tod ––––––––– 2 Zur Biobibliographie Viëtors siehe Verf.: Karl Viëtor. Zum Gedächtnis seines 100. Geburtstages. Mit einem Verzeichnis seiner Schriften und Lehrveranstaltungen. In: Gießener Universitätsblätter 25 (1992), S. 25–42; ders.: Karl Viëtor (1892–1951). Gesamtbibliographie. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 4: Bibliographien. Schriftsteller, Publizisten und Literaturwissenschaftler in den USA. Hrsg. v. John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt, Sandra H. Hawrylchak. Tl. 3: N-Z. Bern, München 1994, S. 1892–1913; ders.: Karl Viëtor. In: Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Hrsg. v. Christoph König. 3 Bde. Berlin, New York 2003. Bd. 3, S. 1943–1946. 3 Karl Viëtor: Die Lyrik Hölderlins. Frankfurt a. M. 1921; ders.: Geschichte der deutschen Ode. München 1923; ders.: Probleme der deutschen Barockdichtung. Leipzig 1928; ders.: Der junge Goethe. Leipzig 1930; ders.: Deutsches Dichten und Denken von der Aufklärung bis zum Realismus (Deutsche Literaturgeschichte von 1700 bis 1890). Berlin, Leipzig 1936 (recte 1935); ders.: Georg Büchner als Politiker. Bern, Leipzig 1939 (im folgenden: BaP); ders.: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. Bern 1949 (im folgenden: Viëtor); ders.: Goethe. Dichtung, Wissenschaft, Weltbild. Bern 1949; ders.: Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Geistesgeschichte. Bern 1952.
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als einer »Tragödie des heldischen Pessimismus« erhoben hat.4 Zwar ist die Invektive sachlich kaum haltbar, sie wies gleichwohl in die richtige ideologische Richtung, hatte doch Viëtor 1933 den »Sieg der nationalsozialistischen Bewegung« in einem Leitartikel der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift für deutsche Bildung begrüßt.5 Karl Otto Conrady hat diesen »Kotauartikel«6 Mitte der 60er Jahre stellvertretend für die Anfälligkeit der damaligen Germanistik für die »völkisch-nationalen Parolen des Nationalsozialismus« wieder ins Gedächtnis gerufen.7 Freilich war Viëtor 1937, dem Jahr, in dem Lukács seinen Artikel publizierte, selbst das Opfer der Nazis geworden, da er vor deren Rassismus, der seine Frau Alice Beatrice und dadurch auch ihn, den Gießener Ordinarius, bedrohte, in die USA fliehen mußte. Spätestens seit den Nürnberger Rassegesetzen im Jahre 1935 muß Viëtor erkannt haben, daß er seine Frau nur durch die Emigration würde retten können. Durch mehrere Gastprofessuren in den USA (Columbia NY, SoSe 1932; Harvard, WiSe 1935/36 und 1936/37) und ältere, früh eingefädelte Kontakte vorbereitet, hat er seine Berufung an die Harvard-University betrieben. In Amerika ist Viëtor ein erbitterter Gegner der »stattlichen Anzahl der vertrauten Nazi-Gestalten«8 unter der ehemaligen Kollegenschaft geworden, wie seine im Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar aufbewahrten Briefe an Walther Rehm, seinen Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Gießen, aber auch zwei in den vierziger Jahren in Harvard gehaltene Vorträge über das Versagen der Geisteswissenschaften in Deutschland9 eindrucksvoll belegen. Wäre er 1949, im wieder groß gefeierten ––––––––– 4 Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner. Zu seinem hundertsten Todestag am 19. Febr. 1937. In: Ders.: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten. Neuwied, Berlin 1964 (Werke, Bd. 7), S. 249–272. Zuerst erschienen in: Das Wort 2, H. 2 (1937). Einen kommentierten Abdruck bietet Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Büchner im »Dritten Reich«. Mystifikation, Gleichschaltung, Exil. Eine Dokumentation. Bielefeld 1990, S. 185–203 und 263–268. 5 Karl Viëtor: Die Wissenschaft vom deutschen Menschen in dieser Zeit. In: Zeitschrift für deutsche Bildung 9 (1933), S. 342–351. 6 So die Erinnerung von Ortrud Bollnow, geb. Bürger, einer Gießener Schülerin Viëtors. 7 Karl Otto Conrady: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Reinbek 1966, S. 216–220. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich. In: Wissenschaft im Dritten Reich. Hrsg. v. Peter Lundgreen. Frankfurt a. M. 1985, S. 140–162 (dort weitere Literatur). 8 Viëtor an Walther Rehm, 26. Nov. 1948 (Marbach [s. Anm. 1]). 9 Typoskript ohne Titel, »After luncheon speak [!], May 26th. 1943« (Viëtors Ansicht, »why most of the humanists in Germany failed in their work«), 10 S.; Typoskript
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Goethejahr, nach Deutschland gekommen, hätte er – eine Vorstellung, die er Rehm gegenüber evoziert – z. B. Benno von Wiese gegenüber freundlich sein müssen.10 Das wollte Viëtor nicht. Über seine Emigration nach Amerika hat Viëtor kurz nach Kriegsende das Fazit gezogen, daß das, »was 1935 [!] wie Exil und Verlust aussah, [...] sich inzwischen als die Rettung erwiesen« habe.11
ad 2. Viëtors Büchnerforschungen – Forschungskontinuität im Traditionsbruch Weder die Beschäftigung mit Hölderlin (zu Beginn der Karriere),12 noch die mit dem Barock (in den 20er Jahren), mit Goethe (seit Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre und in der Emigration) oder mit der Dekadenz (das eigentliche Thema im Exil) nimmt für Viëtor die Dimension ein wie seine kontinuierliche Forschung zu Büchner. Sein pessimistisches Büchner-Bild hat die Germanistik bis in die 70er Jahre beeinflußt, nicht zuletzt wegen des von Wolfgang Martens veranstalteten Bands in der Reihe Wege der Forschung (Darmstadt 1968, 31973), in dem die wichtigsten Büchner-Studien Viëtors zwischen 1934 und 1937 wiederabgedruckt wurden. Zu den Verdiensten von Viëtors Büchner-Forschungen wird man jenseits aller denkbaren Vorbehalte drei Dinge zählen müssen: 1.) Seine Arbeit zu den Quellen von Danton’s Tod, 2.) die Archivstudien im Umkreis der Oberhessischen Verschwörer, die zum Fund der NovemberFassung des Hessischen Landboten führten und 3.) der heuristische Drei––––––––– ohne Titel (über »the chances of belles lettres [...] in the German speaking countries in the near future«, ca. 1945/46), 8 S., englisch [Harvard, s. Anm. 1]). 10 Viëtor an Walther Rehm (s. Anm. 8): »[...] oder wenn ich daran denke, daß es mir passieren könnte, daß ich den mich besuchenden Benno von Wiese freundlich empfangen müsste [...] nun, da erscheint mir denn im Lichte solcher Dinge das Emigrantenlos wieder relativ leicht und ich bin froh, daß ich dem allem nicht mehr ausgesetzt bin.« 11 Viëtor an Gertrud Bollnow, geb. Bürger, 26. Nov. 1945; zit. nach Hof (s. Anm. 1), S. 88. 12 In der Petersen-Festschrift von 1938 erschien Viëtors letzter Hölderlin-Aufsatz: Hölderlins Liebeselegie. In: Internationale Forschungen zur deutschen Literaturgeschichte. Julius Petersen zum 60. Geburtstag dargebracht. Hrsg. v. Herbert Cysarz u. a. Leipzig 1938, S. 127–158. Im übrigen erhärtet ein unveröffentlichter Hölderlin-Vortrag vom Januar 1934 (Harvard [s. Anm. 1]), daß Viëtor anfangs durchaus bereit war, wie sein Lehrer Petersen, einen germanistischen Beitrag zum »tausendjährigen Reich der Deutschen« zu leisten.
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klang von Büchner dem Politiker, Dichter und Wissenschaftler, der noch den Titel der großen Darmstädter Ausstellung zu Büchners 150. Todestag – »Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler«13 – prägen sollte. Viëtors erste archivalische Studien über den Weidig-Kreis reichen bis 1921 zurück. In einem Zeitungsartikel von 1925 über Büchners Helden hatte der Frankfurter Privatdozent bereits die grundlegenden Eckwerte seines Büchner-Bildes umrissen. Der Anfang 1928 vor dem Oberhessischen Geschichtsverein in Gießen gehaltene, unveröffentlichte Vortrag »Georg Büchner« legte das Fundament jener dreifaltigen Formel – »zugleich tätiger Sozialist, Anatom und revolutionärer Dichter«14 –, die später Viëtors abschließende Büchner-Summe aus dem Jahre 1949 mit ihrer im Untertitel »Politik, Dichtung, Wissenschaft« zum Ausdruck kommenden inneren Gliederung wieder aufnahm. In der halbseitigen, gedruckten Zusammenfassung des Gießener Vortrags hieß es farbloser »Politiker, Denker und Dichter«.15 Diese Dreiteilung zielte weniger auf eine Entgegensetzung verschiedener biographischer Phasen oder Werkgruppen, sondern diente vielmehr als heuristische, den Stoff gliedernde Disposition. Büchner sei, was Viëtor betont hat, bis zu seinem frühen Tod in Zürich »der gleiche entschiedene Sozialist und revolutionäre Aktivist« geblieben (BaP, S. 121). Die erneute, eingehende Beschäftigung mit den Quellen Anfang der 30er Jahre verraten einige in Harvard aufbewahrte Archivalien. Diese Forschungen schlagen sich in der 1933 einsetzenden Folge von Viëtors bis in die 70er Jahre nachgedruckten Büchner-Artikeln nieder: Dem Musterartikel Georg Büchner für die Neue Folge von Goedekes Grundriß (1934), den Aufsätzen zu Danton’s Tod (1933/34), »Woyzeck« (1936) und ––––––––– 13 Katalog Darmstadt. 14 Karl Viëtor: Georg Büchner (Vortrag vor dem Oberhessischen Geschichtsverein in Gießen am 23. Febr. 1928), Typoskript, 41 S., hier S. 10 (Harvard [s. Anm. 1]; im folgenden: Vortrag; s. Anhang, S. 21). 15 Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins. Neue Folge 29 (1930), S. 138–139, hier S. 138. Offenbar hat Viëtor seinen Büchner-Vortrag im März 1930 »in der Reihe der vom Goethe-Bund gemeinsam mit dem Stadttheater veranstalteten Einführungsvorträge« (Ueber Georg Büchner. In: Gießener Anzeiger, 28. März 1930) aus Anlaß der Aufführungen von »Woyzeck« und Leonce und Lena nochmals wiederholt. Plastischer als der Berichterstatter des Geschichtsvereins weiß der Zeitungsredakteur Viëtors Formel festzuhalten: »Büchner als Naturwissenschaftler, aktiver Politiker und revolutionärer Dichter ist, wie dargelegt wurde, eine Erscheinung, die erst etwa 60 Jahre später am Platz gewesen wäre.« (Ebd.) Für den freundlichen Hinweis auf den zuletzt zitierten Artikel danke ich Jörg-Peter Jatho (Gießen, 14. Juli 2001, brieflich).
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zur »Lenz«-Erzählung (1937).16 Den Abschluß dieser Reihe bildet das Buch Georg Büchner als Politiker über die revolutionären oberhessischen Umtriebe und den Hessischen Landboten, das 1939 in Viëtors Berner ›Exilverlag‹, dem Francke Verlag, in dem auch Lukács’ Die Zerstörung der Vernunft gedruckt werden sollte, erschien und 1950 neu aufgelegt werden mußte, weil im Krieg die Hälfte der Auflage vernichtet wurde. Überdies hat Viëtor von der Frankfurter Privatdozentur bis in sein letztes Lebensjahr in Harvard regelmäßig ein einschlägiges Seminar über »Das Drama des jungen Deutschlands« (Frankfurt am Main, WiSe 1924/25) bzw. »German Literature in the Nineteenth Century« (zuletzt Harvard, Winter 1950/51) angeboten. Daß diese wissenschaftliche Kontinuität mit Viëtors Leben verknüpft gewesen ist, mag an der Dedikation seiner endlich 1949 gedruckten Büchner-Summe »Meiner Frau gewidmet« abgelesen werden. Dem Stoff nach ist das abschließende Büchner-Buch freilich noch vor Viëtors Emigration entstanden. Er hatte die Gesamtschau schon im »Vorwort« von Georg Büchner als Politiker angekündigt. Dieses schmale Büchlein sei nur Vorläufer eines »fast vollendeten Werkes« (BaP, S. 4), das er »für normale Leser«17 schreiben wolle. Die »Materialmassen« über Büchners politische Tätigkeit seien dagegen »für die Forscher«18 aus dem Projekt ausgekoppelt worden. Die Abgrenzung einer »esoterische[n] Forschungsliteratur« von der »exoterischen Darstellungsliteratur«, durch die jene erst gerechtfertigt würde, findet sich in Viëtors Briefen aus der ersten Exilzeit auch an anderer Stelle.19 ––––––––– 16 Im einzelnen: Karl Viëtor: Die Quellen von Büchners Drama Dantons Tod. In: Euphorion 34 (1933), S. 357–379; ders.: Zur Textkritik von Dantons Tod. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 58 (1933), S. 322–325; ders.: Georg Büchner. In: Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Neue Folge (Fortführung von 1830 bis 1880); ders.: Grundsätze der Bearbeitung. Für die Mitarbeiter als Handschrift gedruckt. Leipzig 1934, S. 43–67 (2. veränderte und erw. Aufl. Berlin 1956, S. 15–23; auch abgedr. in: Georg Büchner. Hrsg. v. Wolfgang Martens. Darmstadt 1965, 31973, S. 1–15); ders.: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. Über Büchners Drama Dantons Tod. In: DVjs 12 (1934), S. 173–209 (im folgenden: ThP; wiederabgedr. in: Martens, S. 98–137); ders.: »Woyzeck«. In: Das innere Reich 3 (1936), S. 182–205 (wiederabgedr. in: Martens, S. 151– 177); ders.: »Lenz«. Erzählung von Georg Büchner (Zu Büchners 100. Todestag, 19. Febr. 1937). In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 25 (1937), S. 2–15 (wiederabgedr. in: Martens, S. 178–196). 17 Viëtor an Erika Jansen, 17. Juni 1939; zit. nach Hof (s. Anm. 1), S. 23. 18 Viëtor an Erika Jansen, 11. März 1939; zit. nach ebd., S. 21. 19 Viëtor an Walter Hof, 7. März 1938; zit. nach ebd., S. 56.
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Anfang 1940 meldet Viëtor aus Harvard, daß seine Büchner-Monographie im letzten Stadium sei und anschließend in die Schreibtischschublade wandere: »auf wer weiss wie lange. Die nächsten Bücher will ich für dies Land schreiben, wo soviel zu tun ist, unter so günstigen Bedingungen.«20 1943 war die Arbeit abgeschlossen und lag dann in der Tat für Jahre »fertig im Schreibtisch« und wartete »auf das Kriegsende«.21 Die Veröffentlichung verzögerte sich wegen mehrfachen Verlagswechsels und aus der Konkurrenzsituation mit Hans Mayers »politische[r] Biographie«22 Büchners, die 1935 bis 1939 entstanden und 1946 erschienen war.23
ad. 3. Viëtors nihilistische Büchner-Interpretation am Beispiel von Danton’s Tod Dietmar Goltschnigg24 hat in seiner Untersuchung über das BüchnerBild nach 1933 anhand von Publikations- und Aufführungszahlen feststellen können, daß das Werk Büchners an den Rand des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses gedrängt wurde. Vor der Gleichschaltung der Lektüre stand die Verdrängung seines Werks. Der Druck von Einzel- und Gesamtausgaben ging in Deutschland von 22 (1919–1932) auf bloß 4 (1933–1945), von Dissertationen zu Büchner von 7 auf 2 zurück. Bücher zu Büchner wurden offenbar nach 1933 gar keine mehr geschrieben (Viëtors Georg Büchner als Politiker erschien in der Schweiz), gegenüber 5 in der Weimarer Republik. Bei den Theateraufführungen war der Rückgang noch eklatanter: ––––––––– 20 Viëtor an Erika Jansen, 6. Jan. 1940; zit. nach ebd., S. 24. 21 Karl Wolfkehls Briefwechsel aus Neuseeland 1938–1948. Hrsg. v. Cornelia Blasberg. Darmstadt 21988, S. 806 (Viëtor an Wolfskehl, 16. April 1946), S. 809 (Viëtor an Wolfskehl, 7. Juni 1946). 22 Hans Mayer, Genf, an Viëtor, 25. Jan. 1937 (Harvard [s. Anm. 1]). Vgl. ders.: Georg Büchner und seine Zeit. Wiesbaden 1946. 23 »Mit meinem Büchner-Buch geht es auch nicht nach Wunsch. Suhrkamp konnte es diesen Herbst nicht herausbringen, weil kurz vorher ein Herr Mayer in Frankfurt ein Buch über B.[üchner] veröffentlicht hatte und die Engländer und Amerikaner meinten, das genüge für einige Zeit. Wir hoffen nun auf das Frühjahr.« (Viëtor an Gertrud Bollnow, 22. Okt. 1947.) »Den Büchner nehme ich nun dem Suhrkamp weg, wenn er ihn jetzt wieder nicht drucken kann. Zwei Jahre sind schon verloren.« (Viëtor an Gertrud Bollnow, 5. Sept. 1948) Frau Dr. Bollnow danke ich für die großzügig gestattete Einsichtnahme in die Korrespondenz. 24 Goltschnigg: Büchner im »Dritten Reich« (s. Anm. 4).
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Danton’s Tod Leonce und Lena Woyzeck
1919–1932 80 40 65
1933–1945 8 7 2
(Quelle: Goltschnigg 1990)
Der politische und soziale Dramatiker war nach 1933 in Deutschland nicht mehr erwünscht. Vor diesem Hintergrund ist es zunächst bemerkenswert, daß Viëtors wissenschaftliche Akzentsetzung auf Büchner in die Mitte der 30er Jahre fällt, d. h. daß sie dem Trend zur Büchner-Verdrängung gerade entgegenläuft. Die völkisch-nationale und nationalsozialistische »Gleichschaltung« der Büchner-Lektüre bzw. -Interpretation geschah unter Fortsetzung der »entpolitisierenden Mystifikation Büchners«,25 die insbesondere von der geistesgeschichtlichen Germanistik (z. B. Gundolfs Büchner-Vortrag von 1929) betrieben worden war. In Viëtors Interpretation von Danton’s Tod als einer »Tragödie des heldischen Pessimismus« sieht Goltschnigg den »maßgeblichen Beitrag« der Büchner-Forschung im »Dritten Reich«, in dem Viëtor vor allem auch die Programmatik seines o. g. germanistischen Leitartikels vom September 1933 verwirklicht habe. In der Tat setzt sich Viëtor von einer historischen oder politischen Deutung des Stücks radikal ab, indem er es als eine »untendenziöse« und »reine« Dichtung vorstellt, die auf »ein Überzeitliches« ziele, insofern es Büchners Anliegen gewesen sei, eine »religiöse«, d. h. auf die »letzten, ewigen Fragen der Menschheit« bezogene Wahrheit aufzuzeigen (ThP, S. 174 und 205). Es ist ein »radikaler«, »auswegslose[r] Pessimismus« (ebd., S. 206 und 184), den Viëtor als philosophisches Zentrum des Dramas auszumachen glaubt, wobei er seiner Deutung insbesondere den Dialog zwischen Danton und Julie (II, 5), der Motive des sog. Fatalismus-Briefs Büchners an seine Braut wiederaufnimmt, sowie die Gefängnisszenen zugrundelegt. Diese pantragische Pessimismus-Deutung – »Bis in die bodenlose Tiefe der Welttragik reicht der Blick des jungen Genies.« (ThP, S. 208) – wird einerseits durch ihren Bezug auf Schopenhauer objektiviert, andererseits als Folge des Zusammenbruchs des deutschen Idealismus philosophiegeschichtlich verortet. Es konnte Lukács daher leicht fallen, Viëtors geistesgeschichtlichen Zugriff in das Gravitationsfeld einer »Zerstörung der Vernunft« einzuordnen. In Viëtors ––––––––– 25 Ebd., Einleitung, S. 7–41, hier S. 15.
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Emphase, daß sich Büchner nach dem Zusammenbruch der »Kunstperiode« »entschlossen in das Nichts« (ThP, S. 185) gestellt habe, hört Lukács das Echo auf Heideggers Existenzialismus eines »nichtenden Nichts« (aus Was ist Metaphysik [1929]).26 Daß sich diese pessimistische Deutung freilich auch auf die Tradition einer dem Kommunismus nahestehenden Lesart Büchners hätte berufen können, hat Burghard Dedner insbesondere mit Blick auf Adam Kuckhoffs Büchner-Ausgabe von 1927 hervorgehoben.27 Wohl in bezug auf solche ›Abweichler‹ wird Lukács seine »antifaschistischen Freunde« unter den Exilschriftstellern davor gewarnt haben, jedem mißverstandenen Modernismus kritiklos zu folgen, da sie auf diese Weise den »gefährlichen Vorbereitungsideologien des Faschismus zu weitgehende Konzessionen« machen würden.28 Seine Spitze erhält jedoch Viëtors Aufsatz von 1934 dadurch, daß er seine Büchner-Deutung tagespolitisch gegen das »bodenlose Kritisieren und Beschwätzen aller Probleme« (ThP, S. 185) durch die jungdeutschen Literaten ausspielt und philosophisch vor allem gegenüber Hebbels oder Gutzkows an Hegel orientierten Tragikkonzeptionen abgrenzt. Hierin bestehe die Büchners Helden auszeichnende Weise ihres Pessimismus, denn die Art, in der diese Wahrheit ertragen werde, sei nicht sentimentalisch oder dekadent, »sondern hart, heldisch« (ebd., S. 180).29 Gerade diese »fatale, opportunistische Titelformel« von Viëtors Aufsatz mit ihrem soldatisch-nationalistischen Assoziationspotential habe, so ist geurteilt worden, »der Aktualisierung Büchners im Dienste des ›Dritten Reiches‹ Vorschub geleistet«,30 wenn etwa der nationalsozialistische Literaturhistoriker Walther Linden Danton’s Tod 1937 eine »Tragödie eines heroischen Pessimismus« nennt31 und schließlich 1941 der Bücherverbrenner Gerhard Fricke in seinem Beitrag zum ›Kriegseinsatz‹ der Germanistik einen »tragisch-heldischen Sinn« von seinen Adressaten fordert, ––––––––– 26 Lukács (s. Anm. 4), S. 269. Darauf, daß die Bühnenrezeption Büchners in den fünfziger Jahren von Viëtors »pantragischem Pessimismus« geprägt blieb und Programmhefte deutscher Theater aus Viëtors Aufsätzen gerne nachdruckten, wies Wolfram Viehweg (Krefeld) während der Diskussion hin. 27 Dedner: Einleitungen, S. 92ff. 28 Lukács (s. Anm. 4), S. 272. 29 In vergleichbarer Weise begründet Viëtor schon 1928, daß Hebbel »uns fast entrückt [ist], weil wir seinen harten Objektivismus nicht mehr ertragen können.« Vortrag (s. Anm. 14), S. 1; s. Anhang, S. 16. 30 Goltschnigg: Büchner im »Dritten Reich« (s. Anm. 4), S. 18. 31 Walter Linden: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 1937, S. 370ff.; zit. nach Goltschnigg: Büchner im »Dritten Reich« (s. Anm. 4), S. 26.
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damit an den Fronten gesiegt werde.32 Zuvor hatte Linden 1933 die Genealogie des »neuen Heroismus« gezeichnet, der mit den Nazis zum »siegreichen Durchbruch« gekommen sei. Vorangegangen sei diesem »Sieg« im 19. Jahrhundert eine »heroisch-tragische Dichtung« und endlich der »heroische Nihilist« Nietzsche mit seiner Forderung nach dem »heldenhaften Menschen«.33 Wohl kaum wird Viëtor bei der Abfassung seines Danton-Aufsatzes Lindens Terminologieangebot übersehen haben, stand dessen Aufsatz doch unmittelbar hinter einer einschlägigen germanistischen Ergebenheitsadresse an die neuen Machthaber von August Hermann Korff,34 der Viëtor 1925 nach Gießen geholt hatte. Hätte Viëtor damals Distanz gegenüber der Vereinnahmung Büchners durch die nationalsozialistische Ideologie halten wollen, hätte er Worte für seinen Dichter finden können wie diejenigen, mit denen sich im gleichen Jahr Walther Rehm gegenüber dem »Heldenideal« verwahrte.35 Rehm, Nachfolger Viëtors in Gießen, hatte seinen Aufsatz durch die Akzentuierung eines völlig unheroischen und unerhabenen Mitleidstheoretikers Lessing als einen bewußten »Gegenentwurf«36 gegen das nationalsozialistische Geschichtsbild vom germanischen Herrenvolk konzipiert. Nach dem Krieg hat Viëtor in einer pädagogischen Reflexion, die sich in einem Brief an eine seiner Schülerinnen, die Gymnasiallehrerin geworden war, findet, das »Soldatische« als das verhängnisvollste aller Erziehungsziele bezeichnet: »Diesem Moloch sind die christlichen und die humanistischen Werte geopfert worden.«37 Ich glaube nicht, daß Viëtor ––––––––– 32 Gerhard Fricke: Erfahrung und Gestaltung des Tragischen in deutscher Art und Dichtung. In: Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Hrsg. v. Gerhard Fricke, Franz Koch, Klemens Lugowski. 5 Bde. Stuttgart, Berlin 1941, Bd. 5, S. 57–93; zit. nach Goltschnigg: Büchner im »Dritten Reich« (s. Anm. 4), S. 29. Zum germanistischen ›Kriegseinsatz‹ vgl. Frank-Rutger Hausmann: »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940–1945). Dresden 1998, bes. S. 169ff. 33 Walther Linden: Entwicklungsstufen scheidender Bürgerlichkeit. Thomas Mann, Hans Grimm und der neue Heroismus. In: Zeitschrift für Deutschkunde 47 (1933), S. 345–361, hier S. 360 und 349f. 34 Hermann August Korff: Die Forderung des Tages. In: Zeitschrift für Deutschkunde 47 (1933), S. 341–345. 35 Walther Rehm: Römisch-französischer Barockheroismus und seine Umgestaltung in Deutschland. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 22 (1934), S. 81–106 und 213–239. 36 Hans Peter Herrmann: Germanistik – Auch in Freiburg eine »Deutsche Wissenschaft«? In: Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus. Hrsg. v. Eckhard John, Bernd Martin, Marc Mück, Hugo Ott. Freiburg, Würzburg 1991, S. 115–149, hier S. 128. 37 Viëtor an Erika Jansen, 23. April 1950; zit. nach Hof (s. Anm. 1), S. 42.
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hier selbstkritisch sich selbst im Blick gehabt hat, auch wenn im gleichen Brief von seinem Büchner-Buch die Rede ist. Viëtor hat im amerikanischen Exil seinen ideologischen Kotau vor den Nazis 1933 und seine literaturwissenschaftlichen Annäherungsversuche an die faschistische Literaturgeschichtsschreibung in den ersten zwei Jahren des Regimes vor sich selbst versteckt und verdrängt. Gleichwohl verraten die Briefzeilen den Grund für die semantischen Modifikationen der späteren BüchnerArbeiten. Es wäre jedoch verfehlt, Viëtors Formel vom »heldischen Pessimismus« als unmittelbare Reaktion auf die Machtergreifung der Nazis von 1933 und als eine bewußte ›Faschisierung‹ Büchners deuten zu wollen, wie es Georg Lukács 1937 unterstellt hat. Ansätze, Büchner in antisemitischer Absicht als einen ›artechten‹ Dichter zu vereinnahmen, was Goltschnigg als eine der wesentlichen Argumentationsstrategien nationalsozialistischer Literaturgeschichtsschreibung herausgestellt hat,38 finden sich bei Viëtor nicht. Daß Danton die »dunkelste, bis zum Nihilismus pessimistische Gestalt« des deutschsprachigen Dramas sei, hatte Viëtor dagegen schon 1925 im Feuilleton des Berliner Tageblatts geschrieben. Er hatte deshalb Büchner einen »Heros der Desillusion« genannt, der einerseits wegen seines frühen Materialismus Feuerbach und Heine nahestehe, andererseits wegen des unethischen und unmetaphysischen Menschenbilds eines »unheroische[n] ›Heldentum[s]‹« Flaubert und Zola vorangehe.39 Zu Lukács’ Invektive hat Viëtor nie direkt Stellung bezogen, obwohl sie ihm sofort bekannt geworden sein wird.40 Im Büchner-Buch 1949 wendet sich Viëtor gegen die ausschließlich politische Deutung von Danton’s Tod durch »moderne Partei-Interpreten« (Viëtor, S. 100). In der Rezension einer französischen Habilitationsschrift macht er die Frage, ––––––––– 38 Goltschnigg: Büchner im »Dritten Reich« (s. Anm. 4), S. 40f. 39 Karl Viëtor: Büchners Helden. In: Berliner Tageblatt, 25. Febr. 1925. Zur Positionierung Viëtors innerhalb der geistesgeschichtlichen Germanistik am Ende der 20er Jahre vgl. Verf.: »Ein deutscher Voltaire« – Karl Viëtors Lessingbild im Gedenkjahr 1929 und dessen geistesgeschichtliche Voraussetzungen. Mit einem Anhang: [Karl Viëtor:] »Lessing. Zum 200. Geburtstag«. In: Lessing-Yearbook (in Vorb.). 40 In BaP (S. 126, Anm. zu S. 49) setzt Viëtor sich mit einem Aufsatz von Walter Haenisch auseinander, der ebenfalls in Das Wort erschienen war, und zwar im unmittelbaren Anschluß an den Artikel von Lukács. Walter Haenisch: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Georg Büchners »Hessischer Landbote« und die »Gesellschaft der Menschenrechte«. In: Das Wort 2 (1937), S. 27–34; auch abgedr. in: Goltschnigg: Büchner im »Dritten Reich« (s. Anm. 4), S. 204–211 und 268–270.
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ob Büchners erstes Drama eine revolutionäre Tendenz habe oder vielmehr die Darstellung einer pessimistischen Weltanschauung sei, zum Prüfstein zwischen einer marxistischen und einer undoktrinären Büchnerinterpretation. »This particular question has become a touchstone for distinguishing between Marxist critics and those whose interpretations are free of political doctrine and propagandistic intentions.«41 In diesem Zusammenhang nennt Viëtor ausdrücklich Lukács’ Artikel in der Büchner-Nummer, der, wie er hinzufügt, »Moskauer« Zeitschrift Das Wort. Viëtors Büchner-Deutung ist erneut politisch fungibel – diesmal im aufziehenden Ost-West-Konflikt mit seinem antikommunistischen Ressentiment. Damit stand Viëtor freilich nicht allein. Die brillante Besprechung der Viëtor-Monographie durch Walter Boehlich folgt ihm darin, wenn sie die Polemik gegen den »unangenehmen Eindruck« kehrt, den »Mayers Feuilletonismus und seine sozialistische Dogmatik« hervorgerufen habe.42 Viëtor ergänzt die Polemik gegen eine politische Interpretation jedoch mit dem konstruktiven Vorschlag, daß dieses fundamentale Problem ohne den Fund neuer Materialien nicht gelöst werden könne. In der Tat ist die Büchner-Diskussion ja erst durch Quellenstudien und philologische Akribie aus den alten interpretatorischen Frontstellungen herausgekommen. Das Assoziationspotential des »Heldischen« hat Viëtor in seinem Buch aufgrund seiner durch die Erfahrung des Faschismus gewandelten Einstellung zum soldatischen Ideal weitgehend modifiziert. Während er seine, wie Goltschnigg urteilt, »ideologisch weniger vorbelasteten« Aufsätze zu »Woyzeck« und zur »Lenz«-Erzählung im wesentlichen unverändert übernimmt, hat er 1949 die Formel vom »heldischen Pessimismus« abgeschwächt,43 freilich ohne das gehaltlich Gemeinte zu revozieren. Es scheint vielmehr, als habe Büchner für Viëtor einen bestimmten intellektuellen Habitus verkörpert. In der Besprechung der BüchnerMonographie von 1949 hat Heinrich Schneider, der 1933 aus politischer ––––––––– 41 Karl Viëtor: [Rez.] Pier Westra: Georg Büchner dans ses rapports avec ses contemporains (Rotterdam 1946). In: Erasmus 1 (1947), Sp. 798–800. 42 [Walter] Boehlich: [Rez.] Karl Viëtor: Georg Büchner (Bern 1949). In: Zeitschrift für deutsche Philologie 73 (1954), S. 228–229. »Daß Viëtor stets der Sachlichere, Nüchternere und Vorsichtigere bleibt, braucht nicht betont zu werden, und trotzdem hat er das lesbarere Buch geschrieben, in dem der ganze Büchner so ungleich vollständiger geschildert ist. Daß er ein Dichter war, davon merkte man in Mayers Buch kaum etwas«. 43 Goltschnigg: Büchner im »Dritten Reich« (s. Anm. 4), S. 19.
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Überzeugung nach Bulgarien und 1936 in die USA emigrierte, hervorgehoben, daß in manchen von Viëtors Formulierungen »etwas wie Selbstbekenntnis« zu stecken scheine: »Einige Ausdrücke klingen sehr modern und verdanken deutlich ihre Prägung politischen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit.«44 In der 1939 veröffentlichten Schrift über Georg Büchner als Politiker heißt es noch allgemein über die Gießener Revolutionäre, daß es sich um eine »Elite der deutschen Jugend« – und Viëtor fügt im Blick auf seine Gegenwart hinzu: »die geistig hochstehendste, die Deutschland je gehabt hat« – und überdies um einen Kreis »entschlossener Männer« gehandelt habe (BaP, S. 12). In seiner Büchner-Monographie hat Viëtor den aktuellen Bezug noch verstärkt. Jetzt schreibt er, daß Deutschland in der Restaurationszeit »seine ersten politischen Emigranten« gehabt habe und dem Terror der Macht eine Auslese »diamantene[r] Herzen« entgegensetzt worden sei, die den »Glauben an die großen Ideen des Morgen in einer dunklen Gegenwart« nicht aufgegeben hätten (Viëtor, S. 35). Erst nach dieser Reflexion kehrt Viëtor zur Schilderung des politischen Hintergrunds von Büchners Hessischem Landboten zurück. Politisch sei Büchner von einem entschiedenen, »harten Willen« (ebd., S. 286) getrieben worden. Mit dieser Haltung, das betont Viëtor ein ums andere Mal, habe er sich auch der Einsicht in die dunkle Wahrheit des Pessimismus gestellt: Von ihr heißt es 1949 weiterhin, daß man sie »wohl heldenhaft nennen« (ebd., S. 294) dürfe. Eine Affinität Viëtors zu der von ihm bei Büchner diagnostizierten Weltanschauung ist nicht zu übersehen. Freilich tritt dieser biographische Subtext erst in einigen Briefen aus dem Exil hervor, als das Büchner-Bild schon seit mehr als einem Jahrzehnt fixiert war. Nur »starke[n] Menschen«, schreibt Viëtor 1938 aus Cambridge MA an eine seiner Gießener Schülerinnen, könnten die »Dämonen des Lebensekels« nichts anhaben. Er sehe von Amerika aus jetzt »vollständiger und tiefer als früher«, welche »ungeheure Lebensqual allenthalben am Werke« sei.45 Der oberflächlichen Anpassung an soldatischen Jargon, den der Aufsatz von 1934 praktiziert, entspricht darin die Aussparung eines interpretatorischen Aspekts, den sowohl die früheren als auch die späteren
––––––––– 44 Heinrich Schneider: [Rez.] Karl Viëtor: Georg Büchner als Politiker. Bern, Leipzig 1939. In: Germanic Review 15 (1940), S. 224–226. 45 Viëtor an Erika Jansen, 17. März 1938; zit. nach Hof (s. Anm. 1), S. 12.
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Arbeiten umkreisen, und zwar die Liebesszenen in Danton’s Tod, in die sich, so Viëtor 1925, Büchners Idealismus »gerettet« habe.46 In der unveröffentlichten Rede von 1928 führt er dazu aus: »In wenige Züge nur hat sich ein Rest von Idealismus und Pathos gerettet: in ein paar Sätze, die hier von liebenden Frauen gespochen werden [...]. Das Herz des Dichters revoltiert noch gegen den Pessimismus seines Wissens von der Welt.«47 Dieser Gedanke ist 1934 gestrichen – zum soldatischen Assoziationsangebot hätte es schwerlich gepaßt, daß die »heldische Tat«, mit der das Drama unvermittelt (und gegen die Quellenlage) schließt, eine »Tat der persönlichen Freiheit« sei: »am Schluß steht groß und erhaben das Liebesopfer einer Frau«.48 Auf die Frauengestalten inmitten zynischen Männergeredes kommt Viëtor erst in seinem abschließenden Büchner-Buch zurück: Der Schlußsatz des frühen Zeitungsartikels wird dem Duktus, nicht jedoch den Worten nach wieder aufgenommen und weibliche Erhabenheit um »bewußtlose Naturrichtigkeit« ergänzt: »Nicht mit Dantons stoischer Gelassenheit und seiner nihilistischen Absage an das Leben endet das Drama; sondern mit einem strahlenden Akkord, einer Tat der Treue: mit einem Liebesopfer.« (Viëtor, S. 147ff.) Verbunden ist die Aufwertung der Frauengestalten in der abschließenden Monographie mit eingehender Strukturanalyse. Das bereits früh angeschlagene, nun aber griffiger formulierte Motiv der »Arzneibüchse der désillusion« wird mit der Analyse eines stilistischen Gestaltungsmittels verbunden, das Viëtor in seiner Monographie im Blick auf die kontrastdramaturgische Szenenfügung als das »Prinzip des antipathetischen Gegensatzes« (ebd., S. 155) bezeichnet. Die fast formalistische Formel, mit der das konstruktive Verfahren der szenischen Kontrastfügung markiert wird, signalisiert
––––––––– 46 Viëtor: Büchners Helden (s. Anm. 39). 47 Vortrag (s. Anm. 14), S. 31; s. Anhang, S. 32. 48 Viëtor: Büchners Helden (s. Anm. 39).
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den Abstand, den Viëtor im amerikanischen Exil gegenüber der geistesgeschichtlichen Methode zugunsten der Interpretation des gestalteten Einzelwerks gewonnen hatte.49
––––––––– 49 Vgl. Karl Viëtor: Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Ein Rückblick. In: PMLA 60 (1945), S. 899–916 (auch als Separatdruck: Bern 1967, 35 S.). Vgl. schon den Brief Viëtors an Erika Jansen, 13. Juni 1938; zit. nach Hof (s. Anm. 1), S. 14 (»Die hohen kühnen, oft zu kühnen Sprünge der modernen deutschen ›Geistesgeschichte‹, ihre spekulative Klugrednerei – alle diese ›romantischen‹ Kapriolen sind mir schlechterdings unmöglich. Wer sie noch nicht kennt, versteht sie nicht, wer sie kennt lehnt sie als deutsche Phantasterei ab. Deshalb will man dort [d. i. Harvard] hohes geistiges Niveau. Aber dass so auf Klarheit und eine gewisse rationale Einfachheit gehalten wird, ist ja auch ganz gut. Und Sie kennen mich gut genug um sich vorstellen zu können, dass ich diese Wendung gut vollziehen kann. Im Grunde sind es ja Dinge, um die es mir drüben auch immer zu tun war.«) Tatsächlich war Viëtor z. B. gegenüber Fritz Strich bereits früh auf Distanz zu einzelnen Methodenoperationen der Geistesgeschichte gegangen, die noch eingehender Untersuchung bedürfte. Die jüngere Auseinandersetzung mit der geistesgeschichtlichen Methode (vgl. Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hrsg. v. Christoph König, Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M. 1993) geht an Viëtors frühen Abrechnungen und späten ›Rückblikken‹ vorbei.
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Anhang [Karl Viëtor:] »Georg Büchner« [Vortrag vor dem Oberhessischen Geschichtsverein in Gießen am 23. Februar 1928, unveröffentlicht, Typoskript, 41 pag. S.]1
Georg Büchner {gest. 1837 im Alter v. noch nicht 24 Jahren} Gründlich hat unsere Zeit mit dem geistigen Bestand des {frühen} 19. Jahrhunderts aufgeräumt. Mit dem bürgerlichen Liberalismus, mit dem naturwissenschaftlichen Positivismus ist auch die zugehörige Literatur aus unserm Gesichtskreis weggefegt. Und was so in die gleiche Zeit gehört. Wer mit den Schätzen unserer Dichtung lebt, wie wenig bedeutet ihm dieser Bücherberg, der zwischen Romantik und [Moderne] {Realismus} aufgetürmt worden ist. Ein paar Inseln ragen heraus: die wahrhaft große Dichtung, selten in diesem Zeitalter ausschweifender »Literatenliteratur«. [Möricke natürlich, Keller, die Sonette Platens, einige Lieder von Heine. Hebbel ist uns fast entrückt, vielleicht, weil wir seinen harten Objektivismus nicht mehr ertragen können. Dafür haben wir Stifter entdeckt.] [[Aber] t{T}ote Literatur {aber} ist alles, was im Vormärz entstand:] Junges Deutschland – nun sehr alt und verstaubt geworden. [Es scheint wirklich, als wären wir groß nur da gewesen, wo wir das Volk der Dichter und Denker sind: ––––––––– 1 Aufbewahrungsort: Cambridge MA, Harvard University, Houghton Library (*51M– 49 [36]). 41 masch. pag. und drei eingelegte Seiten (pag. 9a, gez. 36a und 36b) (ca. 21x17 cm). Eineinhalbzeilige Maschinenschrift mit hs. Korrekturen und Streichungen von Viëtors Hand (Tinte) sowie in der Transkription nicht dokumentierte, offenbar vortragsbedingte Streichungen (mit Bleistift) und zahlreiche Intonationszeichen (mit blauem Buntstift). Gedankt sei der Houghton Library, Harvard University, für die Erteilung der Abdruckerlaubnis. Folgende diakritische Zeichen werden benutzt: Grundsätzlich weist Grundschrift auf Viëtors Hand, Groteskschrift auf den Herausgeber. [Text] = gestrichener Text, [[Te[x]t]] = Tilgung in der Tilgung [Text↵] = Sofortkorrektur ⇒[Text] = nach Tilgung wieder in Geltung gesetzter Text {Text} = interlinear oder marginal ergänzter Text (Spätänderung) Text = hervorgehobene Passage = vom Herausgeber ergänzter Text
= unlesbares Wort /45/ = Seitenwechsel im Original (hier: Beginn von Seite 45).
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im deutschen Idealismus, und nun vielleicht wieder in der erneuerten seelenhaften Dichtung unserer Epoche.] /2/ Wenn es auf geschichtliches Urteil ankäme, so wären wir grade gegen diese Zeit nach dem {Absinken des} Idealismus tief ungerecht. Nicht daß da große dichterische Werte zu retten und zu entdecken sind – wirklich, es ist alles »Literatur« bei den Jungdeutschen. Objektive Geschichtsbetrachtung aber heißt, darin die höchste Gerechtigkeit üben, daß man ein{e} [Zeitalter] {Epoche] nur mit [seinen] {ihren} eigenen Maßen mißt, nach [seinen] {ihren} eigenen Möglichkeiten wertet, [seine] {ihre} »Unmittelbarkeit zu Gott« versteht. Und da muß man sagen: diese Jungdeutschen, was hätten sie denn Größeres vollbringen sollen? Wie ein Albdruck lag die neue Wirklichkeit auf diesem Geschlecht – plötzlich, weil nun erst bewußt empfunden und erkannt. Die neue Wirklichkeit war dies: ungeheure Aufgaben{, die sich} türmten [sich], Revolutionierung des Wirtschaftslebens, vom Produktionsprozeß her wurden die sozialen Formen zerbrochen, das Kapital marschierte, die neuen Klassen entstanden. Gleichzeitig entbrannte der Endkampf um die politische Geltung des Bürgertums, um Demokratie und nationale Einigung. Und während diese ungeheuren Dinge {der Lebenswirklichkeit} sich vorbereiten und in Gang kommen, bricht das weltanschauliche und sittliche Fundament der Bildungsschicht zusammen. Diese /3/ bürgerlichen Intellektuellen, voll guten Willens und Entschloßenheit, sich in die übermenschliche Aufgabe zu werfen, sich der dämonisch auftretenden, und grade darum faszinierenden Gegenwart hinzugeben – sie fühlen den Boden unter sich wanken, sie wißen nicht, wo[rauf] sie Fuß fassen sollen, [wenn sie den Kampf aufnehmen] {während sie doch kämpfen sollen}. Die Welt scheint mit einemmal von allem Geist und Sinn sich zu entleeren; das stolze Selbstbewußtsein des idealistischen Menschen, der sich hoch über alle{s} [Materie] {gegenständliche Leben} auf den Turm der Freiheit und des unbedingten Schöpfertums zurückgezogen hatte, bricht [hoffnungslos] zusammen: Nichts wollte mehr standhalten von den alten geistigen Gütern aus der großen Epoche, die eben vorbei war und in deren Luft die Jungdeutschen doch aufgewachsen, mit deren Ethos sie gebildet waren. Ihr Talent aber war, allgemeine Ideen zu faßen und so auszusprechen, daß aktuelle Probleme daraus wurden. Sie diskutierten die brennenden Fragen der Gegenwart in den könnerisch beherrschten Formen der Literatur. Niemand durfte jetzt mehr als abgesonderter Künstler existieren – das begriffen sie. Das Zeitalter der »Schönheit in sich selber selig« war durchaus vorbei. /4/ Literatur und gegenwärtiges Leben [mußten] {sollten} verbunden, Literatur und Wirklichkeit in [engste] {die} Beziehung {absichtsvoller Wirkung} gesetzt werden. Und so leben sie eine neue Existenzform, amphibienartig halb auf dem Festlande der Politik, halb in den Gewässern der Dichtkunst. Demagogen und zugleich Aestheten zu sein, solche Halbheiten machten sie unglücklich.
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{Aber:}[G]{g}roße Worte von kommenden Umwälzungen stehen in ihren Schriften. [Aber] {Nur:} sie [sahen] {erkannten} nicht deutlich [genug], daß der nächste [End-] {Entscheidungs-}kampf {in der sozialen Sphaere, dass er} zwischen Kapitalismus und Arbeiterproletariat ausgefochten werden [müße] {würde}. Nur Heine sah klar und dachte scharf genug, um dies zu wißen. Aber er sowenig wie die andern schrieb für das Volk, von dem doch diese Revolution ausgehen mußte. Wie hätte die Stimme der bürgerlich-liberalen Literat[ur]{en} zur Masse dringen sollen? Und sie erlahmten schließlich bei den Versuchen, gegen die politische Reaktion der Regierungen und mit dem trägen Tempo der bürgerlichen Entwicklung zugleich zu kämpfen. Von kommenden Dingen schrieben sie. Aber handelte es sich eigentlich letztlich wirklich nur um all das, was sie darunter verstanden? Um Verfaßung und Einheitsstaat, Republik oder Kaiser[staat]{tum}, Österreich oder Preußen, Ehe /5/ oder freie Liebe, altes oder neues Christentum? Sie selbst sind gequält von der Ungewißheit, was sich eigentlich begeben wird und ob sie sich richtig eingesetzt haben. Es fehlt ihnen, so tapfer und bereit sie sind, die Klarheit und die Genialität des geschichtlichen Verstehens, die Ursprünglichkeit des konstruktiven Denkens, die{allein} [nur] mit einer so undeutlichen und verwickelten Lage hätte fertig werden können. An ihrem Interesse für die ersten sozial[istischen]{reformerischen} Programme, die aus [St. Simons] Schule {des französ. Frühsozialismus} hervorgingen, zeigt sich aber doch, daß ihnen zum Bewußtsein kam, die soziale Frage enthalte {in erster Linie} das Schicksal der Zukunft. Und doch: auch dies alles blieb literarische Angelegenheit. Von ihnen gilt, was Heine von den SaintSimonisten selbst sagte: »Diese ehrenwerten Männer bewegt doch nur das Wort, die soziale Frage als Frage, der überlieferte Begriff: und sie werden nicht getrieben von dämonischer Notwendigkeit, sie sind nicht die praedestinierten Knechte, womit der höchste Weltwille seine ungeheuren Beschlüße durchsetzt.« Aber einer war in dieser jungen Generation, der /6/ sprach diese klaren und entschloßenen Sätze: »Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und Absolutisten geteilt und muß von der ungebildeten und armen Klasse aufgefressen werden; das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt. Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende Minorität, soviel Konzessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältnis zur großen Klasse aufgeben wollen. Und die große Klasse selbst? Für sie gibt es nur zwei Hebel: materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brot – und dann ein Kreuz oder sonst sowas.«
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Diese Sätze stehn in Briefen an Gutzkow, die 1836 der dreiundzwanzigjährige Georg Büchner schreibt. Man sieht, hier ist eine neue Anschauung und ein neuer Ton, einzigartig in diesem Zeitalter der Ideologien aus der Vorratskammer des deutschen Idealismus. Und dieselbe Deutlichkeit und Entschloßenheit in den Worten, mit denen dieser Einspänner seine Stellung gegenüber dem Jungen Deutschland bezeichnet. Ja, auch er will Revolution, aber er meint, daß sie aus andern Kräften kommen wird, und andere /7/ Geburtshilfe braucht, als die Literaten glauben. Er hat früh gelernt, »daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien des einzelnen vergebliches Torenwerk ist. Sie schreiben – man liest sie nicht; sie schreien – man hört sich nicht; sie handeln – man hilft ihnen nicht.« Und an Gutzkow: »Übrigens um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittels der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell; wären Sie je direkter politisch zu Werke gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen.« »Wären Sie je direkter zu Werke gegangen« – also: hätte Gutzkow je versucht, statt zu schreiben, zu handeln, seine Ideen und Reformen [wären bald verpufft] {hätten bald versagt}. Der so überlegen spricht, er hat vor all diesen Literaten etwas voraus: die gegenständliche Erfahrung. Während die Jungdeutschen das Leben durch die Bücher reformieren wollten, /8/ hatte Büchner gehandelt. Und dabei [gelernt] {gefunden}, was er schon [wußte] {zu wissen glaubte}: daß die Gewalten, aus denen allein eine soziale Revolution geschehen ⇒[konnte], aus einer andern Region stammen, als in der der Geist wohnt. Und daß es ganz anderer Hebel bedurfte als [] Diskussionen in Literatenkreisen, um diesen Gewalten zum Losbrechen zu verhelfen. So entschloßen wie sein Handeln ist sein Denken, entschloßen zur Wirklichkeit seiner Zeit, wie sie war. Sein Blick reicht über die Grenzen der Epoche, er [erkennt] {ahnt} im Chaos von heute die Geburt von morgen. Keiner von allen Literaten seiner Generation war ihm darin gleich. Keiner der Jungdeutschen war Politiker durch die Tat geworden. Und keiner hatte so unbedingten Glauben an Recht und Art der kommenden Revolution. Auch Heine nicht. Obgleich Heine noch am klarsten sah. Aber sein Traum von einem goldenen Zeitalter, in dem alle und auch die sozialen Probleme herrlich gelöst sein würden, war mehr und mehr ein Angsttraum geworden. Die brutale Schärfe des Radikalismus vertrug er nicht: »Wir wollen keine Sansculotten sein«. Und sein Glaube an eine kommende kommunistische Revolution machte ihn zittern. Er war Aristokrat des Lebensgefühls und der Bildung.
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/9/ Büchner aber fand, daß jede Art von Aristokratismus die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes [sei↵] im Menschen sei. Heine zitterte für die Kultur, wenn die dämonischen Kräfte der sozialen Unterwelt hervortreten würden. Büchner aber meinte, man solle die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehn lassen, eine neue Kultur werde sich aus dem Volke entwickeln. Sein politisches Denken überspringt mit einem Schwung die Konvention des Liberalismus. Seine Anschauung vom sozialen Klassenunterschied als dem einzigen revolutionären Element und der Notwendigkeit einer radikalen Gesellschaftsrevolution stellt ihn in den Kreis der materialistischen Geschichtsphilosophie; in die Nähe der Theorie eines Marx und Engels, von deren Lehren er nichts wißen konnte. /9a/ Um es zusammengedrängt zu sagen – ich folge hier den Forschungsarbeiten von [Dr.] {Georg} Honigmann –: zum Liberalismus steht Büchner dadurch im Gegensatz, daß er antibürgerlich ist, die Gebildeten schlechthin zur herrschenden Klasse rechnet. Daß ihn geistige Freiheit nicht kümmert, solange die materielle noch nicht errungen ist. Mit dem Saint-Simonismus verbindet ihn die Forderung nach neuer Gesellschaftsorganisation. Aber er glaubt nicht, daß sie durch friedliche Entwicklung erreicht und daß [sie] {am Ende} ein[e] kollektivistische{s} Produktions[gemeinschaft]{verfahren} sein werde. Am nächsten steht Büchner dem deutschen Handwerkerkommunismus (Theodor Schuster), der auch die Interessen von Arbeitern und Unternehmern für unvereinbar und eine soziale Revolution für notwendig hielt. Aber Büchner denkt noch nicht volkswirtschaftlich. Er sieht nur Reiche und Arme schlechthin. Das trennt ihn auch von dem nach ihm auftretenden Marxismus, mit dem er im übrigen die materialistische Auffassung des Gesellschaftsproblems gemeinsam hat. //2 Büchner ist seinem Beruf nach Naturwißenschaftler. Die Naturwißenschaft wird {damals eben} die revolutionärste und lebendigste Wißenschaft. Von ihr gehen die mächtigsten weltanschaulichen Impulse aus in dieser Epoche nach dem Zusammenbruch der idealistischen Ideenwelt, des beginnenden Materialismus. Ein genialer politischer Denker, der /10/ zugleich tätiger Sozialist, Anatom und revolutionärer Dichter ist – eine solche Erscheinung war um 1835 schlechthin einzigartig. Denn sie war vorzeitig. Ihr geschichtlicher Ort wäre die Zeit um 1890 gewesen, die Zeit des ausgebildeten materialistischen Naturalismus. Seine Natur verwies ihn zuerst und vor allem auf die revolutionäre Tat. Seine Jugendgeschichte ist eine einzige Vorbereitung auf die entscheidende Stunde. Früh schon nährt er sein Wissen und seine Phantasie mit Bildern, die seinen Willen entflammen m[ü]{u}ss{t}en. Der Vater schwärmte für Frankreich. Er war Arzt in der Napoleonischen Garde gewesen. Erst der Sohn fühlt ––––––––– 2 Ende der eingefügten pag. Seite 9a.
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{wirklich} revolutionär. [Als] {Der} Darmstädter Gymnasiast wagt [er] es, die letzte Revolution in einer Schulrede zu verherrlichen als Gericht über schändliche Despotie. In Straßburg, wo er zunächst studiert, gerät er unter die politischen Flüchtlinge und nun, sollte man glauben, beginnt seine Tat. Aber statt dessen setzt ein [später] {zäher} Kampf ein, in dem seine Besonnenheit mit seinen Wünschen ringt. Als hätte er Angst vor {einem} dunklem Verhängnis, das auf ihn zu warten scheint, wenn er sich [in] [die] {der} Tat [wirft] {hingibt – und} als wollte er sich selbst bis /11/ zum Bersten mit Enschloßenheit und Kraft anfüllen spricht er sich und den Angehörigen immer wieder vor: noch sei es nicht an der Zeit, noch sei jede Tat Wahnsinn und töricht der Glaube, das deutsche Volk werde jetzt schon für sein Recht kämpfen wollen. [Solange] {Soweit} treibt er diese Despotie seiner Besonnenheit, seiner Schicksalsangst, [bis] {dass} ihn eine schwere Krisis überfällt. In Gießen war es, wo er nach Straßburg sein Studium beenden wollte. Hier tritt er in den Kreis all der politischen Bewegungen, die damals in der Jugend gären. Seit den Freiheitskriegen waren die Burschenschaften Sammelbecken der [politischen↵] oppositionellen Elemente. Grade in Gießen hatte [liberalistische] Geheimbündelei unter den Burschenschaftlern, geführt von den Brüdern Follen, nach dem Kriege [besonders] geblüht. Die Ideen von 1789, durchsetzt mit romantischnationalen, waren der Gärstoff: Christentum, Vaterland, Freiheit. Mit diesen Gefühlen und Ideen hatte Büchner nichts zu tun. Zwar fühlte er durchaus deutsch – grade in Straßburg war er mit Kreisen verbunden, die das Deutschtum des Elsaß erhalten wollten – und über daß Christentum dachte er, obgleich selbst daran uninteressiert, /12/ weniger radikal als die jungdeutschen Literaten. Aber alle diese burschenschaftlichen Ideen schienen ihm genau so schwärmerisch und untüchtig, wie die des bürgerlichen Liberalismus. Die Kämpfe, die sich ganz auf die Fragen: Kaisertum oder Republik, Groß- oder Kleindeutschland festgebissen hatten – sie waren in seinen Augen nur gegen die Symptome einer Krankheit gerichtet, die viel tiefer, die in der sozialen Ordnung saß. Er hat unter seiner Generation keine Parteigänger. Den Adel haßt er, wie die Fürsten. Die Liberalen verachtet er als unklare und unentschlossene Ideologen, gebunden an bürgerliche Denktradition. Er aber ist ganz und gar ohne Tradition, ohne Respekt vor [dem Alten] {den Gütern der Kultur} und ohne Sinn für irgendeine Art von konservativer Gesinnung. [Hat er nicht] {Er fühlt in sich} Kraft genug, die Gegenwart mit seinem unbestechlich-klaren und schneidenden Geist zu durchdringen und dem verzwickten Kräftespiel sein Geheimnis zu entreißen, wie er {es} als Naturforscher im Reich des Animalischen gelernt hatte. So paßt sein politisches Denken in kein Schema seiner Zeit. Es durchdringt die Schleier der Epoche und seine Erkenntnisse reichen in die Tiefe, wo sich die /13/ geschichtlichen Mächte sammeln, um 40 Jahre später erst hervorzutreten.
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Damals in Gießen überfällt ihn eine schwere Lebenskrisis. Sie ergreift seinen Körper: er leidet, fiebert – und sie faßt seine Seele und seinen Geist gefährlich an. Diese Welt der Ungerechtigkeit und der Schuld, die[se] Verstrickung von Verhängnis und bösem Willen, die er überall in der Herrschaft dieser Welt sieht – sein ohnmächtiger Drang nach der Tat seiner Gedanken{,} [und] dem Ausdruck seiner Gefühle, dazu die Trennung von seiner Braut – die qualvolle Einsamkeit – alles dies bringt ihn an den Rand des Wahnsinns. Er erschr[ak]{ickt} vor sich selbst. Lebte er überhaupt noch, war das Leben? Seine eigene Stimme, sein Spiegelbild machen ihm Angst. Die in sich gestaute Kraft und der gefesselte Wille [drohn] {wollen} sein Inneres [zu] ersticken. »Alles verzehrt sich in mir selbst«, schreibt er der Braut; »hätte ich einen Weg für mein Inneres –; aber ich habe keinen Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für die Seligkeit. Dies Stummsein ist meine Verdammnis.« Ein ungeheurer Drang nach Äußerung, nach Ausdruck /14/ droht das zarte Gefäß seines Körpers und seines Gemütes zu zerreißen. Die Krisis löst sich körperlich in einer Nervenkrankheit, aus der er gesünder als je aufsteht. [Und] [s]{S}ie löst sich geistig und sittlich: Büchner wirft sich der Tat in die Arme. Und am Ausgang dieses aufregenden Erlebnisses trifft er auf den Genius der Dichtung. Jetzt endlich also gibt Büchner seinen Tatwillen frei. Er hatte in Gießen eine ausgebreitete Verschwörung vorgefunden, deren Teilnehmer Studenten, Akademiker und Handwerker waren. Ihre Seele war der Butzbacher Pfarrer Weidig. Zwar wollten diese Leute durchaus nicht das gleiche, wie Büchner, und sie dachten anders. [Sie] [s]{S}chwärmten für Körner und Schiller, für deutsche Freiheit, für neues Christentum – lauter liberalistische Ideale. Immerhin, sie [trieben↵] waren aktive Revolutionäre, trieben revolutionäre Propaganda unter den Bauern und Handwerkern. Industrieproletariat gab es ja damals noch [gar nicht] {kaum}, jedenfalls nicht in Hessen. Büchners Besonnenheit verstummte. Es war ein kleines Unternehmen, in das er sich nun {mit diesen Leuten} wagte – aber es war endlich Aktivität und Ziel und Ansatzpunkt richtig gewählt. /15/ Man beginnt mit breiter Agitation, verbreitet, wie {früher schon,} Flugschriften unter den Bauern. Büchner verfaßt nun selber eine, die schärfste, beste und doch – erfolgloseste: den Hessischen Landboten. »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« so begann sie. Und legte dann mit Zahlen und Daten genau dar, wie das wahre Gesicht der großherzoglichen hessischen Regierung, welches die Rolle des Volkes in diesem Staate sei, und was sie nach Vernunft und Menschenrecht eigentlich sein müßte. »Ihr seid nichts, ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos!« Das Neue und Aufreizende an dieser Flugschrift aber war, daß alle politischen Mißstände abgeleitet wurden aus dem sozialen Klassengegensatz. Denn was sie alle nicht sahen, die
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liberalen Enthusiasten, das erkannte dieser leidenschaftliche und doch nüchterne, klare Revolutionär[;]{:} daß die Verfassung immer nur der politische Ausdruck der gesellschaftlichen Ordnung ist. Daß, wenn man die materielle Lage der untern Schicht ändern wollte, es sich nicht um Konstitution, um Republik oder Kaisertum letzten Endes handeln könne; sondern daß die Freiheit und Gleichheit, wie er sie wollte, eine Aufhebung des bisherigen /16/ Eigentumsrechtes, eine Neuordnung des Besitzes verlangte. Und doch hatte die Besonnenheit recht gehabt: Auf die Sache angesehen, war es falsch, daß er sich zum Handeln hinreißen ließ. Die Zeit war für seine Ideen und sein Ziel nicht bereit. Selbst diese kleine Verschwörung, diese bescheidene Tat mißlang. Bei der Vorbereitung schon erlebte Büchner deutlich, daß er mit seinem sozialistischen Denken allein stand. Seine Schrift sprach von den Reichen, deren Leben ein langer Sonntag sei, die in schönen Häusern wohnen und eine eigene Sprache reden: »Das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.« Aber solche Angriffe auf den Besitz waren nicht einmal nach dem Sinn der Mitverschworenen. Und so ging der Landbote heraus in einer stark verwässerten Form. Weidig schnitt die stacheligsten Zweige heraus und setzte dafür die bekannten Blüten aus dem Garten der liberalistischen Schlagworte ein. Er gab biblisch redende Zutaten hinzu und machte aus den Reichen die Vornehmen, die Aristokraten. Aber selbst dieser verwässerte Wein war zu stark für die Bauern. Ihnen lag noch der so kläglich mißlungene hessische Bauernaufstand von 1830 zu lebhaft i[m]{n} [Sinn] {den Gliedern}. Sie gaben die Flugblätter auf dem Amte ab oder vernichteten /17/ sie erschreckt. Und schlimmer noch für Büchner: alles wurde entdeckt, ein Mitverschworener verriet die Genossen, Büchners Verhaftung stand bevor. Er geht nach Darmstadt und wartet von Stunde zu Stunde voller Angst auf die Polizei. Es ist nicht Feigheit. Dieser einsame, leidenschaftliche und zu schwermütigem Grübeln neigende junge Mensch wird gequält von nervösen Aufregungen, die in ihm das Vorgefühl eines frühen Todes nähren. Im letzten Augenblick, da die Polizei ihn schon überwacht, flieht er [nach Straßburg]. Nach diesen Erfahrungen hat sich Büchner nicht mehr revolutionär betätigt. Er lebt in Straßburg, wo ihn die Braut erwartet, schließlich in Zürich für seine wißenschaftliche Arbeit. Er ist überzeugt, daß nichts zu tun sei und jeder, der sich opfern wolle, seine Haut wie eine Narr zu Markt trüge. Die Zeit werde für die Revolution arbeiten. Fünfzig Jahre später wäre sein Platz an der Seite der sozialistischen Führer gewesen. Im Frühjahr 1834 macht er die große Krisis durch, im Sommer ist er einer der Führer der Verschwörung, im Herbst war alles verloren und Büchner wurde von dem mißtrauischen /18/ Vater nach Darmstadt gerufen. Und während er
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nun hier für sich wissenschaftlich arbeitet, werden ihm die Bücher lebendig. Die Welt der großen Dichtung steigt auf, die Welt der großen Wirklichkeit: er vertieft sich von neuem in die Geschichte der französischen Revolution, die so nahe zusammenhing mit der Geschichte seines eigenen Lebens. In diesen gedrückten, angstvollen Monaten der Einsamkeit beginnt er zu schreiben. Unter den anatomischen Tafeln liegen die Blätter auf denen er die Scenen seines ersten Dramas [ent]{hin}wirft. Die Art der Entstehung zeigt die innere Verfassung des Dichters an: in wenigen Wochen sind die 51 Scenen des »Danton« geschrieben. Diese seine erste Dichtung ist Äußerung [s]eines von der Wirklichkeit abgeschnittenen Tatwillens, Ausdruck seiner entschlossenen und zugleich schmerzlichen Leidenschaft für das Leben – alles zugleich, und ist bewundernswert gefaßte, volle, starke Gestaltung der ganzen Summe vom Wollen, Denken und innerm Leben dieses zweiundzwanzigjährigen Genies. /19/ Unter den merkwürdigen Geschichten vom plötzlichen, eruptiven Werden eines Künstlers, ist dies eine der merkwürdigsten, aber doch auch eine der klarsten. Wir wißen nichts von früheren dichterischen Versuchen Büchners. Aber er ist auch nicht das, was man einen Menschen mit später Entwicklung nennt. Eine krisenhafte Lage, äußere Bedrängnis und ein gefährlich gestauter Ausdruckswille bedrängen ihn qualvoll, sein Vorstoß in die Sphaere der Tat[en] mißlingt; da sprengt die schöpferische Quelle, die [den] {im} Mittelpunkt seines Wesens sitzt, an einer andern Stelle den Boden, unerwartet und doch notwendig. [Sein Dichtertum wird geboren aus dem Element der Tat. Ich möchte nicht sagen, wie Gundolf das bei Kleist getan hat, daß Büchners Dichtungen »versetzte Taten« sein. Sondern so ist es: daß d]{D}er schöpferische Drang, der vom Schicksal, von den Umständen verhindert wird, sich{,} wie er {zunächst} will{,} in die Tat zu ergießen, {sucht sich} nun [sich] einen andern Ausdruck [sucht,]{;} {einen,} der ebenfalls von Büchners Wesen her möglich und erlösend war, der im Kreis des Gesetzes lag, unter dem sein Ich stand. Es wäre sehr falsch, wollte man sagen, dies /20/ Drama mit dem Stoff aus der französischen Revolution sei ein Tendenzstück, sei Fortsetzung der mit dem »Heßischen Landboten« begonnenen revolutionären Propaganda mit andern: mit Mitteln der Literatur. Wie könnte auch ein Drama für die Sache der Revolution werben, das eine der dunkelsten und am meisten tragischen Partien aus der Endkrisis der französischen Revolution darstellt mit der gleichen entschiedenen Klarheit und Wahrhaftigkeit, die Büchner in allen seinen Äußerungen auszeichnet? Und wenn man 1918 dies Stück dem revolutionären Deutschland mit der Absicht der Propaganda gespielt hat, so hat man es schlecht verstanden. Büchner dachte darüber sehr anders, und sein Werk ist aus ganz andern Kräften geboren, als aus revolutionärer Absichtlichkeit.
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Nein, in diesem Drama erscheint die Revolution nicht in der himmlischen Gestalt der Freiheitsgöttin. Keine heroischen Fanfaren tönen und da ist nichts vom idealistischen Pathos des Erhabenen. {Denn da ist keine Freiheit.} Dantons Tod – es sind die zwei Wochen, in denen der große Revolutionär von {dem andern großen Revolutionär, von } Robespierre gejagt wird, um klanglos zu enden. Danton und Robespierre – sie sind die beiden /21/ Exponenten der Revolution. Bisher Bundesgenossen im Kampf gegen die soziale Ungleichheit, trennen sie sich in der letzten Entscheidung. Danton ist Revolutionär aus dem Blut, Robespierre aus Ethos und Prinzip. [Indem] {Als} Robespierre die Führung an sich reißt, beginnt die Konsequenz des prinzipiellen Denkens das Leben zu brutalisieren. Gleichheit, die nicht {rasch genug} wachsen will, soll gemacht werden. Um der Idee willen der Terror. Da tritt Danton aus der Reihe. Freiheit und Gleichheit ja – dafür hatte er sein Leben immer wieder eingesetzt. Aber nun war es genug. Danton will das neue Dasein genießen. Wozu hätte sonst das alles gedient? Kampf und Führertum, das war Genuß gewesen – jetzt sollte das [Nichtstun] {lässige Hintreiben}, das Verschwenden der neuen Güter, der Rausch der Sinne Genuß geben. Freiheit{, verstanden} als Sittenlosigkeit, aber souverän traktiert von einem Lebenskünstler. Die Natur hat Robespierre zu Dantons Gegner gemacht, der Gang der Ereignisse macht ihn zu seinem Feinde. Die Revolution will zu Ende gespielt sein, Danton aber will nicht mehr mitspielen. »Wer in einer Masse, die vorwärts drängt, stehen bleibt, leistet so gut Widerstand, /22/ als trät er ihr entgegen.« Robespierre findet die tödliche Formel: Die republikanische Tugend verlangt, daß alle Nichttugendhaften, d.h. alle Genießer und Aristokraten beseitigt werden. Auch Danton. Die Konsequenz der Idee arbeitet wie eine Maschine, das Absolute vernichtet das Leben. So kommt es zu diesem sinnlos-verhängnisvollen Schauspiel, wie der eine Revolutionär den andern beseitigt. Die Revolution ist wie Saturn, sie verschlingt ihre eigenen Kinder. Das ist die Handlung dieses Dramas, denn dies war der »Sinn« der geschichtlichen Ereignisse, die sie wiederholt. Der Sinn? Kann es eine grausamere, verhängnisvollere Geschichte geben als diesen Endkampf zwischen Robespierre und Danton? Zu nichts konnte sie weniger dienen, als zur Verherrlichung, zur Heroisierung der Revolution. Es kommt Büchner auf etwas ganz anderes an. Er will das erschütternde Gesicht mitteilen, das ihm offenbart hat: allem Geschehen liegt ein furchtbares, majestätisches Gesetz zu Grunde dem die Menschen untertan sind. Und wenn er, um dies Gesetz sichtbar zu machen, grade diesen Stoff aus der Geschichte der französischen /23/ Revolution wählt, so darum, weil [der Dich-
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ter] {er selbst} hier unmittelbarer, quälender, tiefer erleben konnte, weil hier sein Wille und sein Blut auf eine wahlverwandte Wirklichkeit stießen. Der Revolutionär erfährt das Gesetz der Menschheitsgeschichte am tiefsten, unmittelbarsten in der Geschichte der letzten großen Revolution. Was das für eine Erfahrung sei und wie sie ihn erschütterte, sagen seine Briefe. Er schreibt an die Braut: »Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das Muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. /24/ Der Ausspruch. Es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich dies kalte und gemarterte Herz an Deine Brust legen.« Diese unabwendbare Gewalt, diese grausame Notwendigkeit ist die Macht, die durch Büchners Drama souverän schreitet. Da ist die Wirklichkeit, die sich nach ihren eigenen Gesetzen entwickelt, und da sind einige besondere Menschen, die versuchen, den unerbittlichen Gang durch ihre Ideen und ihr Handeln zu beeinflussen. Es ist lächerlich. Puppenspiel, sinnlos, kaum mit einem Schimmer von tragischer Größe. Ein anderer Dichter hätte sich vielleicht aus solchem Inferno der Erkenntnis in selbstbereitete Himmel der Idee gerettet. Dieser der Wirklichkeit verschworene, der erfaßten Wahrheit hörige Dichter hat den Mut, den Blick der dunklen Sphinx Auge in Auge zu ertragen. Wie unbegreiflich, wie zweideutig der Sinn dieser Welt auch sei, sie ist Wirklichkeit, und darum dem radikalen Realisten unantastbar. Mit einem Ruck, mit diesem seinem ersten Werk vollbringt er, was alle Zeitgenossen nicht /25/ konnten: er überwindet die Denk- und Kunstsphäre des deutschen Idealismus und stellt eine so gegenständliche, wirklichkeitsstrotzende und naturwahre Welt auf die Bühne, wie sie das deutsche Theater vor ihm noch niemals und nach ihm bis zu {Gerhart}Hauptmann [und Holz] nicht gekannt hat[te]. Er setzt seinen erschrockenen Verwandten das neue Programm auseinander, das niemand außer ihm zu denken und viel weniger zu leisten wagt: der dramatische Dichter ist nichts als ein Geschichtsschreiber, nur mit andern Mitteln, in einer andern Ausdrucksform. Er hat keine höhere Aufgabe als die, daß er Wirk-
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lichkeit in ihrer unverfälschten Wahrheit sichtbar mache. Lächerlich, von ihm zu verlangen, er müße die Welt zeigen, wie sie nach der Idee sein solle! {Nicht Ideen sind der Gehalt der Welt – sie ist nichts als Wirklichkeit, die völlig unabhängig von uns da ist und lebt.} Es gibt keine höhere Wahrheit als die der gegenständlichen Wirklichkeit. Und also keine andere Wirkung der Dichtung als die durch diese ungeschminkte Wahrheit. Über Schiller kann man nur lachen. Shakespeare, Goethe – die wußten etwas von diesem Geheimnis der wahren Kunst. Wirklichkeit, Leben, daß ist entscheidend; schön /26/ und häßlich sind veraltete Kategorien des aesthetischen Urteils. Und der sogenannte Idealismus scheint ihm schmähliche Verachtung der menschlichen Natur. Hier wird die neue materialistische Idee des Menschen zum erstenmal eindeutig formuliert: »Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen, nichts, nichts wir selbst! die Schwerter, mit denen Geister kämpfen – man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.« So ähnlich las man auch bei Hegel: die großen Männer, die für sich selbst und frei zu handeln glauben, dienen doch nur höheren Zwecken; sind Werkzeuge nur dessen, was in der Geschichte waltet nach sinnvollem Gesetz: des sich sukzessive verwirklichenden objektiven Geistes der Weltvernunft. Aber wie idealistisch ist das neben Büchners Geschichtsdeutung! Büchner weiß nichts mehr von einer vernünftigen Konsequenz des Geschehens. Die Welt ist von jedem einsichtigen Sinne entleert. Unbekannte Gewalten ziehen uns am Draht. Was ists, das mit uns spielt? Dunkles Verhängnis, dämonisches Fatum – kein Glaube, kein Vertrauen mehr wagt es sich zu enträtseln. Ihm war die Welt entgöttert. /27/ Durch den Mund einer Episodenfigur des »Danton« spricht er schonungslos seine Skepsis aus. Ein vollkommener Schöpfer dieser unvollkommensten aller Welten? Unmöglich. Aber es ist kein gedachter, es ist ein unter Qualen erlebter Atheismus. »Schafft das Unvollkommene weg, dann allein könnt ihr Gott demonstrieren; Spinoza hat es versucht. Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Verstand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich dagegen ... Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.« Dieser traditionslose Revolutionär räumt auf, die Weltanschauung seiner Zeit schlägt er in Trümmer, als gälte es endlich wieder der Schöpfung auf den verschütteten Grund zu kommen. »Ich leugne die Tugend und das Laster. Es gibt nur Epikuräer, und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß, das heißt er tut, was ihm wohl tut.« /28/ Und
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dann der bittere Abschied Dantons: »Die Welt ist das Chaos. Das Nichts der zu gebärende Weltgott.« Noch war dieser Radikalismus ohne Bundesgenoßen. Höchstens, daß Schopenhauers Lehre von der Leidgebundenheit der Welt verwandte Züge hat. Bald nach Büchners Tod beginnt die allgemeine materialistische Kritik und Lehre. Keine Frage, daß Büchner auf ihrer Seite gewesen wäre. »Unsere Zeit ist rein materiell«. Darin wenigstens stand Büchner nicht allein. Die Überzeugung gewann an Boden, die Comte geschichtsphilosophisch so formulierte: daß nach dem theologischen und dem metaphysischen Zeitalter nun das dritte der Menschheitsgeschichte anbreche, wo der Mensch sich entschlossen der ihn umgebenden Wirklichkeit zuwendet. Aus diesem dunklen Grunde ist das Drama erwachsen. Wahr sollte es sein, es sollte das eherne Gesetz, das überall unbegreiflich am Werke ist, sichtbar machen. Der dramatische Dichter [sei, so schreibt er der erschrockenen Familie] {ist für ihn ja} nichts als ein Geschichtsschreiber ,nur mit andern Mitteln und unmittelbarer, lebendiger. »Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen.« /29/ Wie sie sich wirklich begeben ... der Dichter weiß, daß diese {»}Wirklichkeit{«} nur die charakteristische Wahrheit des Ereignisses sein kann, aber nicht die mechanische [Summierung] {Abschilderung} des Tatsächlichen. Aus den Geschichtswerken, aus Mignet und Thiers übernimmt Büchner ganze Stücke im Wortlaut: Reden, Äußerungen, [auch] Charakterzüge. Aber er macht sie erst lebendig, indem er die {menschliche} Bedeutsamkeit aus ihnen herausspringen läßt[, sie pointiert]. Nichts ist am geschichtlichen Hergang geändert, kein wichtiges Handlungsmotiv hinzuerfunden. Und doch wird durch Auswahl, Anordnung und Einordnung das Tatsächliche erst zum sprechen gebracht. Vor allem: wenn Büchner Danton und Robespierre sich gegenübertreten läßt, so gibt er damit den Ereignissen und Charakteren zugleich seine Deutung, seine geniale Auslegung, die niemand so noch gefunden hatte und die nach ihm die Geschichtsschreibung von neuem erst finden mußte. Niemand und nichts ist idealisiert. Die Helden sind keine, wenn man sittliche Maßstäbe nur gelten lassen will. Ihre Größe ist vitale und intellektuelle Größe. Wenn sie mehr sind, sind sie es durch ihre stärkere Lebens- und Tatkraft, [sind] {weil sie} die Entschloßeneren, die Begabteren {sind}. Aber /30/ [auch] das gilt nur unter Menschen. Vor dem Schicksal stehen {auch} sie ohnmächtig, willenloses, schließlich zerbrochenes Werkzeug. Sie haben nicht die Revolution, sondern die Revolution hat sie gemacht. Und verschlingt sie auch wieder. Nichts ist idealisiert, auch das Volk nicht. Dieser junge Mensch, der seine Leben für das Volk hergeben will, der glaubt hier durchaus nicht, daß die Masse darum die Herrschaft beanspruchen dürfte, weil sie moralisch überlegen war.
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Aus Büchners Überzeugung von der Ohnmacht des persönlichern Wollens und der brutalen Macht der Gewalten, die man Schicksal, Verhängnis oder das Gesetz nennen mag – aus diesem Glauben folgt die Form des Dramas. Daher die[se] Diesseitigkeit der Konflikte, der Materialismus ihrer Wurzeln – keine höhere Einheit der Idee über den Gegensätzen. Die Dinge nehmen ihren Gang, wer weiß Warum? Eine andere Gesetzmäßigkeit, als die von Ursache und Wirkung, eine andere Irrationalität als die [des] {von} Zufall[s] {und Verhängnis} wird in der Handlung nicht sichtbar. Nur der Selbstausdruck des Dichters durch den Mund Dantons offenbart das in Lust und Qual zuckende Herz. /31/ Ohne Emphase vollzieht sich das alles. Büchner fand, wie es La Bruyere [einmal] ausgedrückt hat, daß die größten Dinge nur einfach gesagt werden dürf[t]en, weil Emphase sie verdirbt. In wenige Züge nur hat sich ein Rest von Idealismus und Pathos gerettet: in die paar Sätze, die hier von liebenden Frauen gesprochen werden. Da ist vor allen Dingen der Schluß des Dramas merkwürdig! Es endet nicht mit dem geschichtlich beglaubigten Apercu, das Danton auf dem Schafott spricht. Sondern mit einer von Büchner erfundenen Scene, wo die liebende Frau heldenhaft dem Toten nachfolgt. Das ist ein fast pathetischer, ist ein heroischer Schluß, der sonderbar fremdartig dies brutal-realistische Spiel endet. Das Herz des Dichters revoltiert noch gegen den Pessimismus seines Wissens von der Welt.
****** Gebunden, in Wahrheit unfrei, Werkzeug sinnlos waltender, unbekannter Gewalten, so sieht Büchner den Menschen. Nach unten hin muß das alles noch viel schlimmer sein. Wie muß es einem Proletarier gehn, der in der schützenden Masse irgendwie einen ungünstigen Platz hat, da, wo die Kräfte /32/ des unbekümmerten Weltmechanismus sich reiben! Von solchen und damit zusammenhängenden Dingen handelt Büchners anderes Drama[, der] »Woyzeck.« Die Geschichte dieses Mannes war einige Jahre vorher ein berühmter Kriminalfall gewesen. Da hatte ein Leipziger Proletarier aus Eifersucht seine Geliebte erstochen. Das hätte kein Aufsehn gemacht, wenn dieser Mörder nicht offenbar [irgendwie] geistig verwirrt gewesen wäre. Um seine Zurechnungsfähigkeit entspann sich ein grosser Kampf in der Öffentlichkeit, der die Psychiater noch nach der Hinrichtung lange beschäftigte. Das klärt aber doch nur die Veranlassung auf. Denn aus dem vielleicht geistesgestörten Mörder wird [hier] {bei Büchner} ein Opfer der Umstände und der Gesellschaft. Die Nöte seines armseligen Daseins, seine unmenschliche Ausnutzung durch die Gesellschaft, das Unglück treiben ihn in Verwirrung und
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Verbrechen. Was kann so ein armes Tier schließlich anderes tun, als um sich schlagen? – will Büchner sagen. Wo hätte es jemals vorher und wo bei den Zeitgenossen ein so wirklichkeits[nahes]{brutales}, so unheroisches Theaterstück gegeben? Ein armseliger Proletarier als Held, eine Mordgeschichte als Handlung, das Leben der primitiven /33/ Menschen als Thema, verstehendes Mitgefühl und soziale Anklage als Gehalt – das war alles unerhört in der deutschen Dichtung. In seinem literarischen Programm, das er in der Erzählung »Lenz« auseinandersetzt, hatte Büchner gefordert, statt in Ideale sich zu flüchten, solle der Dichter einmal versuchen, sich in das Leben des einfachsten, geringsten /34/ Wesens zu versenken und es in seinen lebendigen Zuckungen seiner Blutwärme wiederzugeben. Nichts verschönern, nichts vergeistigen – wahr sein, wirklich sein. Die idealistische Kunst will nicht mehr genügen – sie ist zu lebensfern, zu wahrheitsscheu. Was nützt es, sich in den Geist und die {Illusion der} Freiheit zu flüchten, da doch die Masse der Menschen einsam und schicksalhaft dem entsetzlichen Zwang des Naturhaften ausgeliefert ist? Und die Menschen selbst – wie grauenhaft fremd existieren sie nebeneinander? »Wir wißen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben uns nur das grobe Leder aneinander ab – wir sind sehr einsam« (Danton) Und hier steht, inmitten der Primitivität des Denkens und Sprechens der Proletarier das dunkle Wort: »Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.« Er käme dem Volk immer näher, hat Büchner damals seiner Braut geschrieben. Ja, er ist der einzige Literat seines Zeitalters, dem sich die Naturform offenbart, in der das Volk existiert. Das Verlangen nach Lust, nach Genuß /35/ ist in diesem Wesen {doch} genau dasselbe, wie in den Gesellschaftsmenschen. Aber für sie ist alles unendlich schwerer, weil sie die Armen, die Hörigen sind. Die Geliebte des Woyzeck sagt: »Unsereins hat nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel, und doch hab ich einen so roten Mund als die großen Madammen mit ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren schönen Herrn, die ihnen die Hände küssen. Ich bin nur ein arm Weibsbild.« Wie die innere Not des Proletariers aus seiner sozialen Not herkommt, wie sein Verhältnis zur gesellschaftlichen Moral nicht ursprünglich, nicht lebendig sein kann – diese ganze fremde Welt des proletarischen Fühlens und Wollens, ihr Anderssein gegenüber der herrschenden Schicht das hat Büchner in diesem Drama als erster Deutscher sichtbar gemacht. »Wir arme Leut ... Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat ... Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt einen Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm werden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es
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muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.« /36/ Geburt, Umwelt, [Geschick] {Missgeschick} – das sind die Mühlsteine zwischen denen solch ein armer Teufel zu Tode gemahlen wird. Dies erste [soziale] {proletarische} Drama unserer Zeit steht vielleicht noch kühner, noch unerhörter in Büchners Epoche da, als der Danton. Das gilt für die Absicht, den Gehalt, wie für die fast schon ganz naturalistische Form. [Ja, es ist radikaler noch als Hauptmanns naturalistische Dramen.] Der Elan seiner Entwicklung stößt weiter in der Richtung dieses revolutionären Dramas. Aber der frühe Tod macht, daß er ins Leere [stößt] {trifft}. Büchners drittes Theaterwerk‚ »Leonce und Lena«, [liegt nicht im Zuge der Entfaltung seiner eigentümlichen Kräfte. Es ist ein romantisches Produkt. Romantisch zunächst von der Biographie des Dichters aus gesehn: einmal noch, ehe er den Kreis der Jugend verläßt, wendet er den Blick zurück in die herbstliche Landschaft der sterbenden Vergangenheit, durch die er als Jüngling eine Strecke lang gewandert ist. Daher die [gefaßte] {verhaltene} Melancholie dieses Lustspiels. Und romantisch ist es auch selbst, als Kunstwerk,] {ist} eine Schwester der kapriziösen Komödien der Tieck, Brentano, Musset. [Wir haben in unserer Literatur /37/ so wenig dichterische Lustspiele, daß auch dies Nebenwerk des so ganz anderswohin gerichteten Genies seinen Ruhm verbreitet hat. Aber es ist, vom Dichter aus gesehn, doch nur ein gefälliges Nebenwerk.] //3 [Leonce.] Ein anmutig-komödienhaftes Spiel auf dunklem Grundton Tragende Stimmung ist Jugendmelancholie – die gefährliche Stimmung des Weltschmerzes und der verhaltenen Verzweiflung am Sinn und der Grösse des Lebens. »Mein Leben gähnt mich an wie ein grosser weisser Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus ... Gott, was habe ich denn verbrochen, dass du mich wie einen Schulbuben meine Lektion so oft hersagen lässt?« »Ich bin so jung, und die Welt ist so alt.« »... so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen und den Winter im Herzen.« Es ist das {seufzende} Ach! – das unpathetische, unter Spässen sich verbergende Ach des gefährlichsten Lebensüberdrusses. {Ist} [D]der Seufzer des Herzens, das mit seiner Fülle und seinen reinen Wünschen zögernd steht an der Grenze eines Lebens, das mit seiner karikierten Banalität und Kleinheit nichts zu versprechen scheint. ––––––––– 3 Statt des gestrichenen Absatzes fügt Viëtor – vermutlich für die Wiederholung des Vortrags im März 1930 im Gießener Stadttheater – zwei unpag. Seiten (gez. Seite 36a und 36b) ein.
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Tiefe Einsamkeit des jungen, sehnsüchtigen Menschen. Lena: »Mein Gott, mein Gott, ist es denn /36b/ wahr, dass wir uns selbst erlösen müssen mit unserm Schmerz?« {Sie suchen das Glück, Pilger sind sie, müde melancholische Pilger. Die Liebe erlöst sie beide, Leonce und Lena. Aus ihren reinen Quellen steigt das Bild des wahren, erfüllenden Lebens neu und [göttlich] {schön} auf. Nicht die unverbindliche Zärtlichkeit, die Liebe als Spiel, das Spiel mit Rosetta. Sondern die schicksalhafte, die Leonce nicht suchte, sondern die er fliehend fand. »Ich glaube, das war die Flucht ins Paradies.« Die Liebe – das ist die einzige reine Erfüllung, die dem vor der Fragwürdigkeit der Welt zurückschreckenden jungen Büchner das Leben zu [geben] {bieten} vermag. Und so ist dies melancholische und dann [triumphierende] {jubelnde} Lustspiel sein einziger heller Dank an das schöne Leben. //4
****** Dieser einsame, traditionslose junge Mensch nimmt, getrieben von den ersten Wehen einer neuen Epoche und seiner Leidenschaft für Wahrheit, mit diesen paar genialisch hingeworfenen Werken vorweg, wozu die geschichtliche Entwicklung nach ihm noch ein halbes Jahrhundert braucht. Wenn Genialität ursprüngliches Schöpfertum ist, dann ist Büchner ein Genie von höchstem Rang. Man kann erkennen, wie er mit den [keimhaften] {keimenden} Mächten seiner Epoche zusammenhängt – aber man ermißt grade an diesem Zeitgenößischen, in das er eingebettet ist, auch am besten, wie er schon zu Ende denkt, was kaum erst beginnen will; wie er das Leben fühlt auf eine Art, die erst viel später typisch wird. Mit [heldischer] Entschlossenheit wendet er sein Gesicht dem naturhaften Leben zu, das glühend, brausend, gärend vor ihm liegt. /38/ Tief taucht er in den gefährlichen, chaotischen Strom des naturhaften Lebens, in die Wirklichkeit, die trotz ihrer tiefen, erschütternden Zweideutigkeit für ihn schön ist, weil sie seiend ist, aber ohne einende Idee, ohne erlösenden Sinn und ohne Frieden. Noch ohne Sinn. Vergessen Sie nicht, daß Büchner ein sehr junger Mensch ist. Seine Genialität, die ursprüngliche Kraft, die ihm das Wesen der Dinge offenbar[t↵] macht und ihre deutende Gestaltungen hervortreibt – alles, was in ihm Vermögen der künstlerischen Lebenserfassung und Lebensdarstellung ist, tritt vollendet aus der Lebenskrisis des Zweiundzwanzigjährigen hervor. Aber noch ordnen sich seinem innern Blick nicht die Linien und Farbflecken im Bild des Lebens zu Gestalten und Gruppen. Noch hat er sich nicht ins Rechte gedacht, und das Leben ist ihm mehr ein gestaltlos wogendes Meer auf dem sein ––––––––– 4 Ende der eingefügten Seite gez. 36b.
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Schiff willenlos treibt, als [wie] ein durch Tal und Berg und Flur gegliedertes Reich, in dem er sich mit Bewusstsein und Freiheit seinen Weg suchen könnte. Noch ist dies Gefühl für Wirklichkeit stark genug, daß es sich um Ziel und Sinn nicht zu kümmern braucht. Alles was er tut, denkt, gestaltet, geschieht aus dämonischer, /39/ und doch zugleich merkwürdig besonnener Leidenschaft für das wirkliche Leben, das er als Revolutionär frei und rein herstellen, als Wissenschaftler klar [und wahr] erkennen, als Dichter in seiner verzehrenden [Schönheit] {Wahrheit}, seiner großartigen und erschütternden Selbstherrlichkeit {fassen und} darstellen will. Diese Poesie [erhebt] erlöst nicht und beseligt nicht. Es ist schwer, ihre harte, schneidende Luft zu ertragen, und es läßt sich nicht leugnen, daß die Schwermut der Jugend, daß die Gewaltsamkeit eines unfertigen Radikalismus problematisch machen, was sie als Deutung der Welt und des Lebens zu geben beansprucht. Büchner ist noch nicht vierundzwanzigjährig, als er stirbt. Wir haben nur den ersten Satz der Symphonie, das heldische und leidvolle Allegro, dem kein friedvolles Andante antwortet. In der Geschichte der deutschen Dichtung repräsentiert Büchner zum erstenmal einen Menschentypus, der seitdem der höchste und kraftvollste Typus des modernen Europäers in deutscher Prägung geblieben ist. Er zuerst weiß und sieht in unverschleierter Klarheit die ungeheure Spannung zwischen dem vereinsamten Ich und seiner Umwelt, der naturhaften und der vom menschlichen Geist selbst geschaffenen. Diese Spannung, die – wir wissen es nur zu gut – /40/ fast zur abendländischen Katastrophe geworden wäre und die uns immer noch bedroht. Nie noch trat in unserer Geschichte die Wirklichkeit dem Menschen so dämonisch, {so übermächtig} entgegen, denn niemals noch war er seelisch {und geistig} so wenig gegen sie gerüstet. Büchner erlebt es beispielhaft, was es heißt, vor der Aufgabe zu stehen, neue Existenz- und Denk- und Lebensformen zu schaffen, wenn man nicht mehr den unbedingten Glauben and die Macht des Geistes, die Freiheit des Willens und den metaphysischen Sinn der Welt festzuhalten vermag. Aber an ihm zeigt sich zugleich der Anfang einer neuen Glaubenshaltung, um die wir heute noch ringen; die in der Entschlossenheit, der Bereitschaft zur Hingabe an diese chaotisch gärende Wirklichkeit wurzelt. Darin ist er groß, neu und noch unveraltet. Ist dies alles auch als Dichter, als Gestalter. Denn: Was Büchners Zeitgenossen und die nächsten Generationen immer wieder sehnsüchtig gewollt haben: eine Kunst, die über Bildungs- und Gesellschaftsgrenzen hinweg zu allen Menschen spräche – von Büchner ist sie fast erreicht, von ihm wäre sie sicherlich neu geschaffen worden. Immer näher kam er dem Wesen des Volkes, immer näher dem künstlerischen /41/ Ausdruck, der einfach und stark genug wäre, sich die Gebildeten zugleich zu erobern. Was wir [seit dem ausgehenden Mittelalter] {seit Schiller} niemals [] {mehr}, oder doch nur in Annäherung [kennen] {kannten}: Dichtung, die bei höchster Kunst
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zugleich verständlich wäre für jedes fühlende Herz, jeden lebendigen Sinn – dies eigenwüchsige Genie war {damals schon} auf dem Wege, sie uns [wieder]zugewinnen. Das, meine ich, ist die größte Hoffnung die der deutschen Dichtung mit Georg Büchner begraben wurde.
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PROJEKTANZEIGE Georg Büchner im Medientransfer Von Ariane Martin und Dagmar von Hoff (Mainz) Das literarische Werk Georg Büchners im engeren Sinne ist durchaus überschaubar. Es umfasst bekanntlich neben dem Prosafragment Lenz lediglich die drei Dramen Danton’s Tod, Leonce und Lena und den fragmentarischen Woyzeck. Alles andere als überschaubar aber ist die Wirkung dieses lediglich vom Umfang her schmalen Œuvres, die breite Rezeption, welche nach der Entdeckung Georg Büchners durch die frühe Moderne einsetzte und bis heute anhält. Neben den literarischen, musikalischen und bildkünstlerischen Adaptionen sind bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts filmische Adaptionen zu verzeichnen, die im hier angezeigten Projekt neben der Theaterwirkung von besonderem Interesse sind. Angesichts der breiten Büchner-Rezeption und vor allem auch angesichts der Tatsache, dass das Werk dieses Autors heute als modern rezipiert wird, bietet sich Georg Büchner als Ausgangspunkt geradezu an, exemplarisch das bisher noch nicht systematisch erfasste Phänomen des Medientransfers zu untersuchen und dabei zugleich wesentliche Aspekte seines Werkes in neuem Licht zu erschließen. Das Projekt ist zunächst unter dem Titel Literarische Wissensräume im Medientransfer (am Beispiel von Werk und Wirkung Georg Büchners) angesiedelt in der inter- und transdisziplinären Forschungseinrichtung »HistorischKulturwissenschaftliches Forschungszentrum« (HKFZ) der Universitäten Mainz und Trier (in der Arbeitsgruppe II: »Raum als Organisationsmodus von Wissen in literarischen Texten«), deren Rahmenthema »Wissensräume« gebündelt in insgesamt sieben Arbeitsgruppen mit etwa 60 Teilprojekten behandelt wird. Das hier vorgestellte Projekt soll unter dem dann thematisch breiter gefassten Thema Georg Büchner im Medientransfer allerdings noch weiter ausgearbeitet werden. 333
Vorerst gestaltet sich das Projekt Literarische Wissensräume im Medientransfer (am Beispiel von Werk und Wirkung Georg Büchners) wie folgt: Es ist in zwei Teilprojekte gegliedert und will exemplarisch anhand von Werk und Wirkung Georg Büchners untersuchen, wie in den 1830er Jahren literarisch imaginierte und konstruierte Raumstrukturen sich als Wissensräume darstellen (I), diese dann in der Moderne aufgegriffen und in der medialen Adaption, insbesondere im Film, institutionalisiert wurden, wobei dieser Prozess selbst als eigener Wissensraum zu begreifen ist (II). Teilprojekt I (Koordination: Ariane Martin): Wissensräume im Werk Büchners. Besonders auffällig im literarischen Werk Büchners sind die diversen Raumkonstellationen, die sich als bedeutungskonstituierend erweisen. Zu denken ist nicht nur an die eigenwillig konkreten Raumkonstruktionen, sondern auch an die vielfältig variierte Gestaltung von Enge und Weite bis hin zur Thematisierung klaustrophobischer Ängste oder an die räumliche Situierung von Wissensinstanzen. Insgesamt erscheint Wissen in diesem Werk durchaus räumlich gedacht, was nicht zuletzt auf das intertextuelle Verfahren Büchners zurückzuführen sein dürfte. Teilprojekt II (Koordination: Dagmar von Hoff): Medientransfer als Wissensraum. Nicht weniger auffällig ist, dass diese in den 1830er Jahren von Büchner entworfenen Raumkonstellationen, die als imaginierte Wissensräume im Medium der Literatur zu begreifen sind, vor allem für die filmischen Adaptionen seiner Texte (aber auch für andere Medien wie etwa die Oper) eine besondere Herausforderung darstellten, wobei die zunächst literarisch imaginierten Wissensräume durch den Medientransfer jeweils andere Konturen erhalten. Die Übersetzung von einem Medium in ein anderes (z. B. Text in Bild wie in der Literaturverfilmung) ist dabei als eigener Wissensraum dingfest zu machen, als ein seine Konstitutionsbedingungen reflektierender Zwischen- oder Schwellenraum, in dem mindestens zwei distinkt voneinander wahrgenommene Medien miteinander kommunizieren, welche ihrerseits räumlich zu begreifen sind. Die historische Bearbeitung des gesamten Projekts hat sich mit den beiden eng kooperierenden Teilprojekten grundsätzlich zweifach zu orientieren: einerseits hinsichtlich der Texte Büchners in den 1830er Jahren (I), andererseits in der Moderne des 20. Jahrhunderts mit seinen neuen medialen Möglichkeiten (II), wobei hier wiederum jeweils unterschiedliche historische Kontexte zu berücksichtigen sind. Zwei wichtige 334
Verfilmungen des 1836/37 von Büchner entworfenen Woyzeck-Fragments beispielsweise – Georg C. Klarens in der Tradition expressionistischer Formensprache operierende Verfilmung Wozzeck (Deutschland/SBZ, DEFA/Berlin 1947) und der einer dokumentarischen Ästhetik verpflichtete Woyzeck (BRD 1979) Werner Herzogs – unterscheiden sich signifikant, ganz abgesehen von Alban Bergs Oper Wozzeck (Uraufführung 1925). Das Projekt befindet sich in der Phase der vorbereitenden Sichtung und konzeptionellen Differenzierung. Die Materialbeschaffung ist noch nicht vollständig abgeschlossen. Derzeit in Arbeit sind Beschaffung von medienbezogener Sekundärliteratur zum engeren Thema und bibliographische Auswertungen, Rekonstruktion theater- und filmgeschichtlicher Sachverhalte, Ermitteln von Kino- und Fernsehfilmen sowie zu diesen Zwecken auch material- und kontextbezogene Recherchen in Archiven. Anschriften: Prof. Dr. Ariane Martin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, D-55099 Mainz. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Dagmar von Hoff, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, D-55099 Mainz. E-Mail: [email protected]
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Anschriften der Autorinnen und Autoren PD Dr. habil. Arnd Beise, Otto-von-Guericke-Universität, Institut für Germanistik, Zschokkestr. 32, D-39104 Magdeburg Nora Eckert, Sennockstr. 17, D-12103 Berlin Prof. Dr. Norbert Otto Eke, Universität Paderborn, Fakultät für Kulturwissenschaften, Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Warburger Str. 100, D-33098 Paderborn Yvonne Fauser, Friedrich-Ebert-Str. 17, D-35041 Marburg PD Dr. habil. Annette Graczyk, Martin-Luther-Universität HalleWittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Franckeplatz 1, Haus 54, D-06110 Halle Matthias Gröbel, Gutenbergstr. 6, D-64342 Seeheim-Jugenheim Prof. Dr. Dagmar von Hoff, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, D-55099 Mainz Prof. Dr. Ariane Martin, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, D-55099 Mainz Christian Milz, Lamboystr. 18, D-60598 Frankfurt a. M. Dr. Bodo Morawe, 16, allée de la Bonne Vallée, F-78620 L’Étang-la-Ville Per Röcken, c/o Forschungsstelle Georg Büchner im Fachbereich 09 der Philipps-Universität, Biegenstr. 36, D-35032 Marburg Dr. Anja Schonlau, Goethe-Universität Frankfurt a. M., Institut für deutsche Sprache und Literatur II, Grüneburgplatz 1, D-60323 Frankfurt a. M. Prof. Dr. Wolfram Viehweg, Taubenstr. 35, D-47800 Krefeld Prof. Dr. Carsten Zelle, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Philologie, Germanistisches Institut, Universitätsstr. 150, D-44780 Bochum
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Das Killy Literaturlexikon präsentiert bio-bibliographische Artikel zu allen wichtigen deutschsprachigen Autoren vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Es informiert anschaulich, zuverlässig und umfassend über Leben und Werk eines jeden Autors und ermöglicht so eine leichte Einordnung in den zeit- und literaturgeschichtlichen Kontext. Der Killy erfasst nicht nur die größten und wichtigsten Autoren einer jeden Epoche, sondern auch Journalisten, Drehbuchautoren, Literaturwissenschaftler und Fachschriftsteller. Die Artikel bieten eine Zusammenschau von Biographie, zeitgeschichtlichem Kontext und Œuvre, wie sie kein anderes Lexikon zur deutschen Literatur bietet.
Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums 2., vollständig überarbeitete Auflage Begründet von Walther Killy Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer Jürgen Egyptien Karina Kellermann Helmuth Kiesel Steffen Martus Reimund B. Sdzuj Redaktion: Christine Henschel (Leitung) Bruno Jahn
Bereits erschienen: Band 1 A–Blu 2008. XXXII, 607 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-11-018962-9
Band 2 Boa–Den 2008. VI, 598 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-11-020375-2
Band 3 Dep–Fre 2008. IV, 587 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-11-020376-9 Erscheinungstermine der nachfolgenden Bände: 2009: Bände 4, 5 und 6 2010: Bände 7, 8 und 9 2011: Bände 10, 11 und 12 2012: Band 13: Register
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Neu bei de Gruyter n Kritikon Litterarum Internationale Rezensionszeitschrift für Romanistik, Slavistik, Anglistik und Amerikanistik Herausgegeben von Kirby Farrell, Gerhard Giesemann, Alain Niderst, Manfred Pütz
Band 36 (2009) Zwei Doppelhefte pro Band ISSN 0340-9767 (Print) ISSN 1865-7249 (Online)
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Die traditionsreiche, mit zwei Doppelheften pro Jahr erscheinende Zeitschrift bietet Rezensionen zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Neuerscheinungen in der Romanistik, Slavistik, Anglistik und Amerikanistik. Ein internationales Kollegium aus Vertretern der vier Fachbereiche garantiert die Qualität und Relevanz der ausgewählten Besprechungen. Jedes Heft bietet ausführliche Rezensionen zu etwa 40 Neuerscheinungen, die in den jeweiligen Kontext laufender Forschungsdebatten gestellt werden. Die Publikationssprache richtet sich in der Regel nach der Sprache der rezensierten Titel. Die Zeitschrift fokussiert insbesondere fächerübergreifende Themen der internationalen Literatur- und Kulturwissenschaft, dient der fachwissenschaftlichen und interdisziplinären Orientierung und bildet eine ideale Ergänzung zu den bestehenden Fachzeitschriften in den genannten Philologien.
DE GRUYTER
n Benn Forum Beiträge zur literarischen Moderne Hrsg. v. Joachim Dyck, Christian M.Hanna Im Auftrag der Gottfried-Benn-Gesellschaft Band 1 2008. Ca. 176 Seiten. 10 Abb. Gebunden. ISBN 978-3-11-019250-6 Das Benn Forum bietet wissenschaftliche Beiträge zu Leben und Werk Gottfried Benns und zum literarischen Kontext seiner Zeit. Jedes Jahrbuch bietet Aufsätze zu einem speziellen Themenschwerpunkt sowie neue Forschungen zur Biographie Benns und zu Text-Neufunden, außerdem Rezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen und eine fortgeschriebene Benn-Bibliographie. Das neue Benn Forum stellt damit das zentrale Periodikum der internationalen Benn-Forschung dar.
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