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German Pages 286 Year 2000
JENS JOKISCH
Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren
Schriften zum Prozessrecht Band 156
Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren Die Überlagerung des deutschen Strafprozeßrechts durch das Europäische Gemeinschaftsrecht, dargestellt anhand ausgewählter Problemfälle
Von Jens Jokisch
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Jokisch, Jens:
Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren: die Überlagerung des deutschen Strafprozeßrechts durch das europäische Gemeinschaftsrecht ; dargestellt anhand ausgewählter Problemfälle I von Jens Jokisch. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 156) Zug!.: Passau, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10080-8
D739 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 2000 Duncker &
ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-10080-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068
Vorwort Die vorliegende Dissertation entstand während meiner Zeit als Assistent am Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. Werner Beulke und wurde im Sommersemester 1999 von der juristischen Fakultät der Universität Passau angenommen. Die Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium des Freistaates Bayern und einen Druckkostenzuschuß des Auswärtigen Amtes gefördert. Herr Prof. Dr. Beulke hat mir jegliche wissenschaftliche Freiheit gelassen und die Arbeit mit vorbehaltloser Diskussionsbereitschaft betreut. Die Tätigkeit an seinem Lehrstuhl hat mir den Blick für wissenschaftliche Fragestellungen geschärft und mich in vielfältiger Weise geprägt. Dafür sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. Herrn Prof. Dr. Haffke gebührt Dank für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Zu danken habe ich weiterhin für wertvolle Anregungen und Hinweise Dr. Helmut Satzger und Oliver Bludovsky, sowie für die Hilfe beim "Feinschliff' Evi Christine Meier, Michael Schulte, Babsi Wibmer, Dr. Karin Franze sowie meiner Mutter. Gewidmet ist die Arbeit meinen Eltern. Hamburg, im Oktober 1999
Jens Jokisch
Inhaltsübersicht A. Einleitung .........................................................................
23
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht . . . . . . . . . .
35
I. Die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht ..................................
35
II. Die Überlagerung des nationalen Rechts .......................................
44
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts ........................................
60
IV. Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Prozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
C. Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Strafprozeßrecht ....................... 104 I. Kompetenz der EG für Strafverfahrensrecht ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 11. Die Instrumentalisierung des nationalen Strafprozeßrechts ........... . . . . . . . ... 127 III. Vorgaben für nationale Strafverfahren mit Gemeinschaftsrechtsbezug
133
D. Kollisionsrälle des Strafprozeßrechts mit Gemeinschaftsrecht ................... ISO I. Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen .......................... 150 11. Das Vorabentscheidungsverfahren im Strafprozeß .............................. 171 III. Wiederaufnahme des Verfahrens ............................................... 208 IV. Weitere Problemfelder ......................................................... 229
E. Thesenartige Zusammenfassung der Ergebnisse ................................. 252 Literaturverzeichnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 254 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 284
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ............................... . .......... . ...................... . ..... . .
23
I. Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
11. Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
III. Gang der Darstellung ..........................................................
27
IV. Eingrenzung des Themas ......................................................
29
1. Abgrenzung Gemeinschaftsrecht/EU-Recht ................................
29
2. Abgrenzung von sonstigen Maßnahmen der Strafverfolgung auf europäischer Ebene.............................. ................. ... .....................
30
3. Beschränkung auf ausgewählte Beispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht . . . . . . . . . .
35
I. Die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht ..................................
35
1. Rechtsnatur und Bedeutung der EG .............. . ....... . ................ . .
35
2. Das Recht der Europäischen Gemeinschaft ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
a) Das Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
(I) Die Verträge als Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
(2) Die Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane als Adressaten. . . . . . . .
36
(3) Der Bürger als Adressat des Primärrechts ............................
37
b) Allgemeine Rechtsgrundsätze............................................
38
(1) Funktion und Gewinnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze.........
38
(2) Die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene ...........................
39
(3) Rechtsstaatsprinzipien ...............................................
41
(4) Die EMRK und ihre Bedeutung für das Gemeinschaftsrecht .........
41
c) Das Sekundärrecht .......................................................
42
(I) Verordnung..........................................................
43
(2) Entscheidung........................................................
43
(3) Richtlinie ...........................................................
43
(4) Empfehlung und Stellungnahme.......... . . . ... . . . ........ . . . ... . . . .
44
10
Inhaltsverzeichnis 11. Die Überlagerung des nationalen Rechts ........ . . . ..... . ......................
44
I. Vorrang bei direkter Kollision ............................ . ..................
45
a) Begründung des Vorrangs ................................................
45
b) Rechtsfolgen des Vorrangs........................ . .................. . . . .
46
2. Gemeinschaftsrechtskonforrne Auslegung. . . . . . . . .. . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . .
47
a) Voraussetzungen .........................................................
48
b) Rechtsfolgen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
c) Grenzen ..................................... . .......... . ................
49
3. Die Problematik der indirekten Kollision ....................... . ............
50
a) Beschreibung der Konfliktlage ...........................................
50
b) Lösungsmöglichkeiten .............................. . ....................
52
4. Grenzen des Vorrangs. . .. . . . . . .. . . . . . . . . ... . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. .. . ... . . . .. . .
53
a) Europarechtliche Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
(1) Allgemeine Rechtsgrundsätze .......................... . ............
54
(2) Keine Kompetenzüberschreitung ....................................
55
(3) Vertragliche Ausnahmen vom Vorranganspruch? . . . . . . .... . . . . . . . . . . .
56
b) Verfassungsrechtliche Grenzen...........................................
57
c) Zusammenfassung ..................... . ..... . .......... . ................
59
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts ........................................
60
I. Einführung in die Problematik ..............................................
60
2. Geschütztes Rechtsgut ................................ . .....................
61
3. Sanktionen der EG ..........................................................
62
a) Sanktionskompetenz der EG .............................................
62
(1) Fehlende Kompetenz zum Erlaß von Strafgesetzen ..................
62
(2) Kompetenz zur Verhängung von Geldbußen .........................
65
(3) Kompetenz zur Verhängung repressiver Verwaltungssanktionen . . . . . .
66
b) Allgemeiner Teil des supranationalen Sanktionsrechts ....................
67
c) Verfahren vor Verhängung der Sanktionen.. .. . . .. . . . .... . . . . . . . ... ... . . . .
68
(1) Errnittlungsrechte der EG im Kartellverfahren ....... . ...............
69
(2) Existenz rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien .......................
70
(3) Umfassend garantierte Verfahrensrechte .............................
71
(4) Als unzureichend beurteilte Verfahrensrechte ..................... . ..
72
(5) Zusammenfassung...................................................
74
d) Errnittlungskompetenzen der EG im Rahmen der Betrugsbekämpfung ....
75
Inhaltsverzeichnis 4. Strafrechtliche Sanktionen der Mitgliedstaaten
11 77
a) Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Erlaß von Strafvorschriften .......
78
(I) Primärrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten ..................
78
(2) Verpflichtung aufgrund von Richtlinien und Verordnungen der EG .. .
80
(3) Beispiele ............................................................
82
(4) Reichweite der Verpflichtung........................................
84
(5) Verpflichtung aufgrund zwischenstaatlicher Abkommen am Beispiel des Schutzes der finanziellen Interessen der EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
b) Erweiterung des Anwendungsbereichs nationaler Strafnormen durch supranationale Verweisung ...............................................
87
c) Nationale Blanketttatbestände ................. . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . .
88
d) Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Strafrechts .....
89
e) Zusammenfassung .......................................................
91
5. Nicht-strafrechtliche Sanktionen der Mitgliedstaaten........................
92
IV. Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Prozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
1. Grundsatz der prozeduralen Autonomie .....................................
93
2. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für nationales Prozeßrecht ...............
94
a) Das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EGV) .... . ..... . ...... . .....
94
b) Funktionserweiterung nationaler Gerichte ........... . . . . . ... . ............
94
c) Grenzen der Funktionalisierung ....................... . ..... . ............
96
3. Auswirkungen im Verwaltungsprozeß .......................................
97
a) Zulässigkeitsvoraussetzungen ............................................
97
b) Begründetheitsprüfung ...................................................
98
c) Vorläufiger Rechtsschutz.. . . . . . . . .... . . . . . . . . . . . . .. . ... . . . . . . .. . . . . . . . . . .
98
4. Auswirkungen im Zivilprozeß .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 5. Zusammenfassung.......................................................... 103 C. Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und Strafprozeßrecht ....................... 104 I. Kompetenz der EG für Strafverfahrensrecht .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 1. Gemeinschaftseigenes Strafprozeßrecht ..................................... 105
a) Existierende Ennittlungsbefugnisse der EG .............................. 105 b) Der Entwurf des "Corpus Juris" .......................................... 106 2. Harmonisierungskompetenz der EG für nationales Strafprozeßrecht ......... 108 a) Grundlegendes zur Harmonisierung .................................. . ... 108
12
Inhaltsverzeichnis b) Art. 94, 95 EGV ........................................ . . . ... . .......... 110 (1) Voraussetzungen ................................... . ........... . ....
11 0
(a) Abgrenzung der Harmonisierungsnorrnen ........ . ..... . ... . .... 110 (b) Problemstellung.................................. . ..... . . . . . .... 11 0 (c) Anwendung auf Strafprozeßrecht ........... . . . . . . ..... . .. . . . .. . . 111 (2) Grenzen ............................................................. 113 (3) Zweispuriges Prozeßrecht? ..........................................
116
(4) Ergebnis.............................................................
116
c) Art. 308 EGV ............................................................ 117 d) Annexkompetenz spezieller Harmonisierungsnorrnen .................... 118 e) Zusammenfassung ....................................................... 120 3. Kompetenz der EG für Strafverfahren de lege ferenda? ...................... 120 a) Europäisches Strafgericht ................................................ 120 b) Europäische Strafverfolgungsbehörde .................................... 121 c) Nationale Strafverfolgung unter Beteiligung der EG ......... . ... . ........ 122 d) Internationales Strafprozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 125 e) Zusammenfassung....................................................... 126 H. Die Instrumentalisierung des nationalen Strafprozeßrechts ................ . .... 127
1. Einführung.................................................................. 127 2. Der prozessuale Aspekt ..................................................... 128 a) Vergleich Strafprozeß und Zivilprozeß ........... . ....................... 128 b) Vergleich Strafprozeß und Verwaltungsprozeß ............................ 130 c) Fazit.....................................................................
131
3. Der materiellrechtliche Aspekt .............................................. 132 III. Vorgaben für nationale Strafverfahren mit Gemeinschaftsrechtsbezug .......... 133
1. Voraussetzung des Eingreifens der Vorgaben ................................ 133 2. Effektivitätsgrundsatz ....................................................... 136 a) Auswirkungen ................................... . ....................... 136 b) Grenzen ............................................. . ................... 138 (1) Allgemeine Rechtsgrundsätze .......................................
138
(2) Vergleich mit kartellrechtlichem Sanktionsverfahren ................. 138 (3) EMRK .............................................................. 139 (4) Nationale Grenzen .................................................. 140 c) Ergebnis................................................................. 141
Inhaltsverzeichnis
13
3. Gleichbehandlungsgebot .................................................... 142 4. Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EGV) ....................................................................... 143 5. Integration des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 234 EGV) .............. 144 6. Berücksichtigung gemeinschaftseigener Ermittlungsergebnisse und Sanktionen ....................................................................... 146 7. Fazit .................................................... . ..... . ............. 146 D. Kollisionsfalle des Strafprozeßrechts mit Gemeinschaftsrecht ................... 149 I. Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen .......................... 149 1. Das Legalitätsprinzip und seine Durchbrechungen ....... . ................ . .. 149
2. § 153 StPO ............................................... . ................. 150 a) Voraussetzungen der Einstellung gern. § 153 StPO ....................... 150 b) Kollision mit Gemeinschaftsrecht ........................................ 151 (I) Gleichbehandlungsgebot ............................................ 152
(2) Effektivitätsgebot .............. . ................ . ..... . ............. 153 (a) Problemstellung................................................. 153 (b) Lösungsmöglichkeiten .......................................... 154 (c) Rechtsvergleichende Betrachtungen............................. 155 (d) EG-rechtskonforme Auslegung des "öffentlichen Interesses" .... 158 (e) Ermessensreduzierung auf Null ? ................................ 160 c) Zusammenfassung....................................................... 163 3. § 153a StPO
163
4. § 153c StPO
166
a) § 153c I Nr. I StPO
166
b) § 153c I Nr. 2 StPO
167
c) § 153c I Nr. 3 StPO
167
d) § 153c 11 StPO ........................................................... 168 e) Folgerungen ............................................................. 169 5. Ergebnis .................................................................... 170 11. Das Vorabentscheidungsverfahren im Strafprozeß .............................. 171 I. Funktion und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens ..... . . . . . . . . . . . . 171 a) Funktion ................................................................. 171 b) Voraussetzungen ......................................................... 172
14
Inhaltsverzeichnis c) Fakultative und obligatorische Vorabentscheidung . . . ... . .. . . . . . ... . . . . . .. 173 d) Die Wirkungen der Vorabentscheidung .... . .......... . . . . . ... . ........... 174 e) Der EuGH als gesetzlicher Richter....................................... 175 2. Fallgruppen von Vorlagen im Strafprozeß ................... . ............... 176 3. Die Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens ....................... 178 a) Zwischen- und Hauptverfahren ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178 (1) Rechtsgrundlage der Verfahrensaussetzung ........ . ..... . ...........
179
(2) Der Vorlagebeschluß ................................................ 181 (3) Überlagerung des Vorlageermessens (Art. 234 II EGV) durch den Ermittlungsgrundsatz? ................................................. 182 b) Ermittlungsverfahren ............................ . ....................... 184 (1) Beschreibung der Problemlage ...................................... 184
(2) Berechtigung zur Vorlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 186 (3) Verpflichtung zur Vorlage ................... . ................ . ...... 190 c) Zusammenfassung ........................................ . . . ............ 194 4. Konflikt mit dem Beschleunigungsgebot .................................... 195 5. Vorabentscheidungsverfahren und Rechtsmittelsystem der StPO ... .. . . .. . . .. 197 a) Die Anfechtbarkeit des Vorlagebeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 197 b) Vorabentscheidungsverfahren und Revision ................. . ............ 199 (1) Fakultative Vorlage ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (2) Obligatorische Vorlage ................................... . .......... 200 c) Vorabentscheidungsverfahren und Berufung.............................. 202 d) Bindungspflichten an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts ... 206 e) Konkurrenz von supranationalen und innerstaatlichen Vorlagepflichten ... 207 1II. Wiederaufnahme des Verfahrens ...... . .......... . . . ... . .......... . ..... . ...... 208 1. Problemstellung...................................................... . ... . .. 208 a) Rechtskräftige gemeinschaftsrechtswidrige Verurteilung
208
b) Verhältnis zur unterlassenen Vorlage nach Art. 234 EGV
209
c) Anwendbarkeit der Wiederaufnahmevorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 210 2. Gemeinschaftsrechtliche Gebotenheit der Wiederaufnahme? ....... . ........ 211 a) Funktion der Wiederaufnahme ........................................... 211 b) Tragweite des Vorranganspruchs aus rechtsvergleichender Sicht .......... 212 c) Abwägung Rechtskraft I Vorranganspruch ................................ 215 (1) Die "Reform" des Wiederaufnahmerechts 1998 ..... . ................ 215
Inhaltsverzeichnis
15
(2) Rechtskraftdurchbrechung trotz entgegenstehenden Willens des nationalen Gesetzgebers? ............................................ 218 (3) Für und gegen Wiederaufnahme ............. . ....... . ............... 219 (a) Grundsätzliche Einwände ....................................... 219 (b) Vergleich mit EMRK ............................................ 219 (c) Vergleich mit EuGVÜ ........................................... 220 (d) Rechtsprechung des BFH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . .. . . .. 220 (e) Begriff der Rechtssicherheit ....................... . ............. 222 (f) Besonderheiten des Strafurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 222
d) Ergebnis ......................................... . ... . . . . . . . ............. 224 3. Prozessuale Umsetzung des Vorranganspruchs .............................. 224 a) Wiederaufnahme gern. § 359 Nr. 5 StPO analog .......................... 224 b) Wiederaufnahme gern. § 79 I BVerfGG analog ........................... 225 c) Eigenständiger gemeinschaftsrechtlicher Anspruch auf Wiederaufnahme 227 d) Ergebnis ................................................................. 229 IV. Weitere Problemfelder .................... . ................ . ................ . .. 229 I. Ermittlungsverfahren ............................. . ......................... 229 a) Anfangsverdacht (§ 152 11 StPO) ................. . . . . . ..... . . . . . . . . . . . . .. 229 b) Haftrecht .................................................. . ............. 230 (I) Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 1\211 Nr. 2 StPO) ................ .. .. 230
(2) Hauptverhandlungshaft (§ 127b 11 StPO) ............................ 232 (3) Freilassung gegen Sicherheit (§ 127a StPO) ......................... 233 c) Sicherheitsleistung gern. § 132 I Nr. 1 StPO ................ . ............. 234 2. Prozeßvoraussetzungen ..................................................... 235 a) Auswirkungen der supranationalen Sanktionen ........................... 235 b) Ne-bis-in-idem-Wirkung durch Strafurteile aus anderen EG-Mitgliedstaaten? ..................................................................... 236 c) Anzeige des Gerichtshofs gern. Art. 27 Satzung EuGH bei Meineid als Prozeßvoraussetzung ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 238 3. Beteiligung der EG am Strafverfahren ............................. " . . .. . . .. 238 a) Klageerzwingungsverfahren (§ 172 StPO) .............. . . . . . . . . . .. . . . . . .. 239 b) Nebenklage (§ 395 StPO) ................................................ 239 c) Adhäsionsverfahren (§ 403 StPO) ........................................ 240 d) Privatklage (§ 374 StPO) ................................................. 240
Inhaltsverzeichnis
16
40
50
Der Deal im Strafverfahren Beweisrecht
0
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a) Beweiserhebung (1)
(2)
(3)
§
V
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Beweislastumkehr bei der Produkthaftung
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Zusammenwirken mit Gemeinschaftsorganen
b) Beweisverwertung
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(I) Verwertung supranationaler Ermittlungsergebnisse (2)
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Verteidigung
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a) Bestellung des Verteidigers b) Aufgaben des Verteidigers
Literaturverzeichnis
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Sachwortverzeichnis ..
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Abkürzungsverzeichnis Gemäß Art. 12 des Vertrages von Amsterdam wurden mit seinem Inkrafttreten am 01. 05. 1999 die Bestimmungen des EG- und EU -Vertrages umnumeriert. In dieser Arbeit wird grundsätzlich die Numerierung der Verträge nach Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam verwendet. Bei der Bezeichnung der Verträge wird aus Gründen der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit nicht der offiziellen Zitierweise des EuGH (AnwBI. 1999, 162) gefolgt, da es auf eine Gegenüberstellung der alten und neuen Fassung nur in wenigen Fällen ankommt. Der EuGH kürzt die Verträge mit zwei Buchstaben ab (z. B. EG-Vertrag mit EG; EU-Vertrag mit EU), während hier die vor Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam üblichen Abkürzungen (z. B. EGV für EG-Vertrag) beibehalten werden. Ein Rückgriff auf die nicht mehr geltende Fassung wird ausdrücklich gekennzeichnet. Besonders ist darauf hinzweisen, daß es durch die neue Numerierung häufig zu der Konstellation kommt, daß die Kommentierung einer Norm in der Fußnote numerisch nicht mit der im Text angeführten Norm in der derzeitigen Fassung der Verträge übereinstimmt. Dies läßt sich zur Zeit nicht vermeiden, da die meisten Kommentare noch auf der alten Rechtslage basieren. a.A. AbfG AbfVerbrlJ abI. ABlEG Abs. Abschn. Abw. AG AlDP AK-StPO Anm. AnwBI AO ArbGG AT Aufl. BayVBI BB BBPS Bd. 2 Jokiseh
andere Ansicht Abfallgesetz Abfallverbringungsgesetz ablehnend Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Abschnitt abweichend Amtsgericht Association Internationale de Droit Penal Alternativkommentar zu Strafprozeßordnung Anmerkung Anwaltsblatt Abgabenordnung Arbeitsgerichtsgesetz Allgemeiner Teil Auflage Bayerische Verwaltungsblätter Betriebsberater Beutler I Bieber I Piepkorn I Streil Band
Abkürzungsverzeichnis
18 BFH
Bundesfinanzhof
BFHE BGBI
Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen
BKA
Bundeskriminalamt
BNatSchG
Bundesnaturschutzgesetz
BR-DruckS
Bundesrats-Drucksache
BRAO
Bundesrechtsanwaltsordnung
BT-DruckS
Bundestags-Drucksache
BtMG
Betäubungsmittelgesetz
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
CELAD
Comite Europeen de la Lutte Antidrogue
CMLR
Common Market Law Reports
CR
Computer und Recht
CrimLR
Criminal Law Review
DAR
Deutsches Autorecht
DDR
Deutsche Demokratische Republik
ders.
derselbe
DÖV
Deutsche Öffentliche Verwaltung
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
DVBI
Deutsches Verwaltungsblau
EAGV
Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft
EC
European Community
EDU
European Drug Unit
EG
Europäische Gemeinschaften
EGKSV
Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGV
EG-Vertrag
Einl.
Einleitung
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
Erl.
Erläuterungen
EU
Europäische Union
EuG
Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
EuGH EuGH Slg
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Amtliche Sammlung der Entscheidungen des EuGH
EuGHVerfO
Verfahrensordnung des EuGH
EuGRZ
Europäische Grundrechtszeitschrift
Abkürzungsverzeichnis EuGVÜ
Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsabkommen
EuR
Europarecht
EUV
EU-Vertrag
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
evtl.
eventuell
EW
Europäische Wirtschaft
EWG EWGV
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag über die europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWS
Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht
FGO
Finanzgerichtsordnung
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GA
Goldtammers Archiv für Strafrecht
GedSchr
Gedächtnisschrift / Gedenkschrift
gern.
gemäß
GG
Grundgesetz
Ggf.
gegebenenfalls
GTE
Groeben / Thiesing / Ehlermann
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
GWB
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
hL
herrschende Lehre
h.M.
herrschende Meinung
HK
Heidelberger Kommentar
Hrsg.
Herausgeber
i.d.F.
in der Form
i.d.R.
in der Regel
IPBPR
Internationaler Pakt für Bürgerliche und Politische Rechte
IRG
Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
i. S. d.
im Sinne des
i.Y.m.
in Verbindung mit
JA
Juristische Arbeitsblätter
JuS
Juristische Schulung
JZ K/M-G
Juristenzeitung
KartVO
Kartellverordnung (VO 17/62)
KG
Kammergericht
KJ
Kritische Justiz
KK
Karlsruher Kommentar
Kleinknecht / Meyer-Goßner
KMR
Kleinknecht / Müller / Reitberger
krit.
kritisch
LG
Landgericht
Lit.
Literatur
2*
19
20
Abkürzungsverzeichnis
LK LMBG LR
Leipziger Kommentar Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz Löwe I Rosenberg
LS
Leitsatz
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
MüKo
Münchener Kommentar
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
n.F.
neue Fassung
NJ NJW
Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift
NStZ NStZ-RR
Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtssprechungsreport
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
OLAF OLG
Office de la Lutte AntiFraude Oberlandesgericht
OWiG
Ordnungswidrigkeitengesetz
OWiG
Ordnungswidrigkeitengesetz
RADG
Rechtsanwaltsdienstleistungsgesetz
RIDP RiStBV
Revue Intenationale de Droit Penal Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren
RIW/AWD
Das Recht der Internationalen Wirtschaft I Außenwirtschaftsdienst des Betriebsberaters
RJDA
Revue Juridique de Droit Administratif Revue du Marche Commun et de I'Union Europeenne
RMC Rn. RS RSC Rspr.
Randnummer Rechtssache Revue de Science Criminelle
RTDE
Rechtsprechung Revue TrimesterieBe de Droit Europeen
S.
Seite; siehe
Sch/Sch
Schönke I Schröder
SchwZStR SDÜ sog.
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Schengener Durchführungsübereinkommen sogenannte(r)
SGG
Sozialgerichtsgesetz
SIS
Schengener Informationssystem
SK Slg.
Systematischer Kommentar Sammlung
SLRspr.
Ständige Rechtsprechung Staatsanwaltschaft
StA StGB StPO
Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung
Abkürzungsverzeichnis str. StraFO
strittig Strafverteidiger Forum
StrEG StrRehaG
Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen Strafrechtsrehabilitationsgesetz
StV
Strafverteidiger unter anderem Unterabsatz Unite de Coordination de la Lutte Antifraude unter Umständen Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb Verfahrensordnung Verfahrensordnung des Gerichtshofes Verwaltungsarchiv vergleiche
u. a. UA UCLAF u.U. UWG VerfO VerfOGH VerwArch vgl. VO VwGO VwVfG wistra WiVerw WpHG WuB WUR z. B. ZBJI ZEuP ZfRV ZfStrVo
ZLR
ZPO ZRP ZStW ZUR zust.
ZZP
Verordnung Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht Wirtschaftsverwaltungsrecht Wertpapierhandelsgesetz Entscheidungssammlung Wirtschafts- und Bankrecht Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht zum Beispiel Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Strafvollzug Zeitschrift für Lebensmittelrecht Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Zeitschrift für Umweltrecht zustimmend Zeitschrift für Zivilprozeß
21
A. Einleitung I. Prolegomena Die Durchdringung der deutschen Rechtsordnung durch Europäisches Gemeinschaftsrecht gewinnt im Zuge des sich an Dynamik und Vertiefung ständig verstärkenden Einigungsprozesses der Europäischen Union zunehmend an Bedeutung. Es wird geschätzt, daß schon heute nahezu 80% aller Regelungen im Bereich des Wirtschaftsrechts und fast 50% aller deutschen Gesetze auf Gemeinschaftsrecht beruhen l . Das Strafrecht folgt der Europäisierung der anderen Rechtsgebiete mit genuiner Verspätung 2 und wird auch von der Strafrechtswissenschaft nur zögernd zur Kenntnis genommen 3 . Die Ursachen dafür sind vielfältiger Natur und liegen vor allem darin, daß das Strafrecht im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten wie dem Verwaltungsrecht oder dem Wettbewerbsrecht erheblich weniger Berührungspunkte zum zumeist wirtschaftspolitisch orientierten Gemeinschaftsrecht aufweist und in den Verträgen keine institutionelle Kompetenz vorgesehen ist. Zudem weist gerade das Strafrecht als in weiten Teilen "politisches Recht" eine besonders starke Bindung an Tradition und Wertebewußtsein auf. Vor allem der Besondere Teil des Strafrechts erscheint als negativ formulierter Bestandteil der Werte und Werthaltungen einer Gesellschaft. Diese Werte haben in Europa zwar gemeinsame Wurzeln und teilweise auch übereinstimmende Inhalte, weichen jedoch durch unterschiedliche Sichtweise und Schwerpunkte, auch vor dem Hintergrund der bereits erfolgten und noch geplanten EU-Erweiterungen, stark voneinander ab4 . Aufgrund dieser starken Unterschiede und der Furcht vor der Aufgabe von als essentiell angesehenen Werten werden internationale Einflüsse auf das Strafrecht sehr skeptisch beurteilt 5 . Besonders das Strafrecht wird auch heute noch als Inbegriff nationaler Souveränität verstanden und verträgt sich daher nur schlecht I So der ehemalige Präsident der Kommission Jaques Delors in: Bulletin EG 1988, Nr. 7 I 8, S. 124 und das ehemalige Kommissionsmitglied Bangemann in: Brückner, S. 5. 2 So 1iedemann in: Kreuzer I Scheuingl Sieber, S. 134; nach Jung/Schroth GA 1983,241, 263 hat die Angleichung des Strafrechts bisher nur eine untergeordnete Rolle im Rahmen des Gemeinschaftsrechts gespielt. 3 Kühl ZStW 109 (1997), 777, 790 spricht sogar vom "Desinteresse der deutschen Strafrechtswissenschaftler" . 4 Vgl. Pagliaro in: Schünemann I Suarez Gonzalez, S. 379, 380. 5 SieberZStW 103 (1991),957,958; Perron in: Dörr/Dreher,S. 135, 136.
24
A. Einleitung
mit dem von Souveränitätsverzicht und Kompetenzverlagerung auf die supranationale Ebene geprägten Recht der EG. Auch das Strafverfahrensrecht weist in vielen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen traditionelle Eigentümlichkeiten auf, wie etwa die starke Stellung des Untersuchungsrichters in Frankreich bei völliger Beseitigung dieser Institution in anderen Ländern, das historisch späte Erscheinen der Staatsanwaltschaft in England unter gleichzeitiger großer Machtfülle der Polizei 6 oder die unterschiedlichen Verpflichtungen zum Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden (Legalitäts- / Opportunitätsprinzip)7. Jedoch ist auch das Strafrecht nicht frei von europäischen Einflüssen 8 , und auch das Strafverfahrensrecht wird mehr und mehr in den Integrationsprozeß auf europäischer Ebene einbezogen 9 . Es ist anerkannt, daß Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für das Strafverfahrensrecht keinen Hinderungsgrund darstellt, den Staaten in diesem Bereich Einschränkungen und Verpflichtungen zugunsten der Gemeinschaft aufzuerlegen 10. Wahrend die Wechselwirkungen zwischen Gemeinschaftsrecht und materiellem Strafrecht in der Literatur zunehmend erörtert werden 11, finden sich Ausführungen über die strafprozessualen Konsequenzen des Gemeinschaftsrechts nur vereinzelt und zumeist auch nur in sehr kurzer Form 12. In der vorliegenden Arbeit soll diesem Mangel zumindest ansatzweise abgeholfen und ein Beitrag zur Erforschung des gemeinschaftsrechtlichen Einflusses auf die prozessuale Seite des Strafrechts geleistet werden.
Dazu Gandy in: Hall, The role of the prosecutor, S. 7 ff. Rechtsvergleichend zum Wandel der strafprozessualen Regeln und Institutionen Tiedemann RIDP 1993, 813. 8 EuGH Slg. 1981, 2595 (Casati); Slg. 1989, 195 (Cowan); StV 1999, 130 (Lemmens). 9 Zuleeg JZ 1992,761,768 unter Hinweis auf EuGH Slg. 1978,2151,2178; so auch Satzger StV 1999, 132; Kühne JZ 1998, \070; Vervaele in: Delmas-Marty (Hrsg.), What kind of criminal policy for Europe, S. 209, 245; Gärditz wistra 1999,293; vg!. auch BT-DruckS 131 3594 (Gesetzesentwurf der SPD-Fraktion). 10 De Angelis in: Dannecker (Hrsg.), Die Bekämpfung des Subventionsbetrugs im EG-Bereich, S. 139, 140. 11 Vg!. nur Dannecker, Strafrecht der EG, S. 26 ff.; Tiedemann NJW 1993,23; Johannes ZStW 183 (1971), 540; lescheck-Weigend § 18 VII; LK-Jescheck Ein!. Rn. 102 ff.; Bau/oe in: Melanges Levasseur, S. 103. 12 Z. B. Bleckmann in: Stree/Wesse1s-FS, S. 109, 115; Meier EuZW 1998,85,87; Rengeling/Middeke/Gellermann Rn. 1226; LR-Rieß Ein!. Abschn. B Rn. 33 konstatiert eine "sich intensivierende Tendenz zur Öffnung gegenüber internationalen und supranationalen Einflüssen"; nach LR-Lüderssen Ein!. Abschn. L Rn. 37 sind die Überschneidungen von Europarecht und Strafprozeßrecht hingegen nur "Kategorien der Zukunft" und nach Roxin, Strafverfahrensrecht § 6 Rn. 5, kann angeblich sogar "von einer Europäisierung des Strafprozeßrechts noch kaum gesprochen werden". 6 7
A. Einleitung
25
11. Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit
1. Die EG kann Verstöße gegen ihr Recht nicht selber bestrafen, da sie nach ganz h.M. keine Kompetenz zur Verhängung kriminalstrafrechtlicher Sanktionen hat 13. Die Widerstände der Mitgliedstaaten gegen eine Harmonisierung auf dem Gebiet des Straf- und Strafprozeßrechts waren so erheblich, daß auch bei fortschreitendem Integrationsprozeß weitgehend Einigkeit bestand, daß sich eine eigene Strafgerichtsbarkeit auf Gemeinschaftsebene mit eigenem Verfahrenssystem zumindest in absehbarer Zukunft nicht verwirklichen lassen würde 14 • Deshalb muß der strafrechtliche Schutz der EG-Rechtsgüter durch die Staaten gewährleistet werden. Nach der Rechtsprechung des EuGH 15 sind die Mitgliedstaaten nicht nur zu der ihnen nach der Kompetenzordnung der EG obliegenden ordnungsgemäßen Umsetzung und Durchführung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, sondern aus der allgemeinen Treuepflicht des Art. 10 EGV folgt für sie auch die Obliegenheit, den strafrechtlichen Schutz des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. In vielen Bereichen des materiellen Strafrechts ist daher der nationale Gesetzgeber verpflichtet, Verstöße gegen direkt anwendbares oder in nationales Recht umgesetzte EG-Vorschriften unter Strafe zu stellen. 2. Im hier zu behandelnden Prozeßrecht geht es um Probleme, die nach Angleichung des materiellen Strafrechts im Rahmen eines Ermittlungs- und Strafverfahrens auftreten können. Eine Rechtsangleichung im Strafprozeßrecht ist (bisher) nicht erfolgt, die Bestrafung auch bei Verstößen gegen EG-Recht richtet sich daher vor deutschen Gerichten weiterhin ausschließlich nach nationalem Straf- und Verfahrensrecht. Die insoweit agierenden nationalen Strafgerichte handeln aber trotz Anwendung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung "für die EG". Aufgrund dieses europäischen Bezuges ist es erforderlich, die Verfahren unter einem erweiterten Blickwinkel zu betrachten, denn die Verpflichtung des Staates zum strafrechtlichen Schutz gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgüter hat nicht nur materiellrechtliche Konsequenzen, sondern kann auch prozessuale Folgen haben. 3. Zwischen einer Strafe und deren Durchsetzung und Verhängung bestehen zahlreiche gegenseitige Wechsel wirkungen 16. Allgemein besteht ein enger Wirkungszusammenhang 17 zwischen materiellem Recht und Prozeßrecht dadurch, daß die tatsächliche Wirksamkeit materieller Regelungen von der Ausgestaltung des 13 Vgl. nur Gehler in: lescheck-FS, S. 1403; Vervaele S. 5; HagueTUlu RMC 1993, 351; näher zur strafrechtlichen Kompetenz der EG s. unten Teil B. III. 3. a). 14 Dannecker, Strafrecht der EG, S. 27 m. w. N.; vgl. auch Dieblieh S. 31 ff. und Eser in: Verbrechensbekämpfung in europäischer Dimension, S. 21, 25. 15 EuGH Sig. 1989,2965 (Griechischer Maisskandal) m. Anm. Tiedemann EuZW 1990, 99; Bleckmann WuR 1991, 283; zu Art. 10 EGV Blanquet S. 55 ff. 16 Lüderssen ZStW 85 (1973), 288; Krauß in: Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, S. I; Peters, Strafprozeß, S. 7 ff. 17 So die Formulierung bei Baur in: Summum ius summa iniuria, S. 97,106.
26
A. Einleitung
Prozeßrechts maßgeblich bestimmt wird 18 • Auch im Strafverfahren wirkt jeder prozessuale Vor- oder Nachteil unmittelbar auf das materielle Recht zurück 19 . Neben dieser strafrechtsgestaltenden Kraft des Prozeßrechts wird aber auch bereits seit langem die verfahrensgestaltende Kraft des Strafrechts diskutiert 2o • Wenn also ein struktureller Zusammenhang in der Weise besteht, daß das materielle Recht durch das Prozeßrecht konkretisiert werden muß, so folgt aus dem Einfluß auf das materielle Strafrecht zwangsläufig auch eine Beeinflussung des Prozeßrechts. Ausgangspunkt dafür ist die staatliche Pflicht zur effektiven Durchsetzung der EG-Rechtsordnung und die umfangreichen Vorrangwirkungen des Gemeinschaftsrechts, das stets bei Anwendung und Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen ist. Das Gemeinschaftsrecht als eigenständige Rechtsordnung 21 , deren Bindungswirkung erheblich weitreichender ist als das sonstige internationale Recht, kann bei Widersprüchen zwischen den Rechtsordnungen das nationale Recht überlagern, um auf diese Weise die europäischen Wertungen und Grundsätze durchzusetzen. 4. Da aber im Strafprozeß das auch durch die Gemeinschaftsverträge grundsätzlich nicht eingeschränkte staatliche Strafmonopol durchgesetzt wird, kommt dort mehr als in anderen Verfahrensarten die nationale Souveränität zum Ausdruck, so daß sich die Frage stellt, wie weit eine Beeinflussung durch das Gemeinschaftsrecht gehen kann. Gerade der Strafprozeß ist durch starke Eingriffe in grundrechtlieh geschützte Rechtspositionen des Einzelnen gekennzeichnet und wird wegen der daraus folgenden Beschränkungen auch als "angewandtes Verfassungsrecht" bezeichnet 22 • Die nationalen Prozeßrechtsinstitute stellen das Ergebnis einer durch lange Praxis ermittelten sorgfältigen Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteresse und Rechtsstaatsprinzipien dar, die stark durch die jeweilige nationale Rechtskultur geprägt ist. Die Durchbrechung dieser gefestigten Grundsätze durch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, die inhaltlich so wenig konkret sind wie das Effektivitätsgebot, kann daher nur in Grenzen möglich sein, bei denen die Grundrechte auf Gemeinschafts- und auf nationaler Ebene mitberücksichtigt werden müssen. Der Einfluß des Gemeinschaftsrechts bedarf somit der Konkretisierung und Begrenzung. 5. Die Arbeit will damit einen Beitrag zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht / nationales Recht leisten. Es handelt sich von der Zielsetzung her nicht um einen rechtspolitischen Beitrag, in dem schwerpunktmäßig Voraussetzungen, Möglich18 Grabitz/Hilf-Von Bogdany/Nettesheim Art. I Rn. 36; Rengeling/Middeke/Gellermann Rn. 955. 19 Käßer S. 3 m. w. N.; allgemein Vollkommer S. 2; nach Engelmann S. 131 darf aus Prozeßrechtszwängen keine "Zwangsjacke" für das materielle Recht erwachsen. 20 V g!. etwa Lüderssen ZStW 85 (1973), 288 ff. und Krauß in: Dogmatik und Praxis des Strafverfahrens, S. 1,3. 21 Darstellung bei Streinz, Europarecht, Rn. 107 ff. 22 BVerfGE 32,373,383; BGHSt 19,325,330; K/M-G Ein!. Rn. 18.
A. Einleitung
27
keiten und Konsequenzen einer Strafrechtsangleichung oder eines einheitlichen europäischen Straf- und Strafverfahrensrechts erörtert werden 23 . Diese werden bei Bedarf nur teilweise angedacht. Auch rechtsvergleichende Aspekte zur Entwicklung des Straf- und Strafverfahrensrechts in Europa24 werden nur dort angesprochen, wo es bei Einzelfragen erforderlich erscheint. Es muß auch klargestellt werden, daß es sich bei der Erörterung des gemeinschaftsrechtlichen Einflusses nicht um eine Fragestellung des internationalen Strafprozeßrechts im klassischen Sinne handelt. Diese Rechtsmaterie bezieht sich auf Fragen, die sich daraus ergeben, daß zur Verfolgung von Straftaten Prozeßhandlungen in mehreren Staaten vorgenommen werden 25 , z. B. die Zusammenarbeit von Strafverfolgungsorganen bei der internationalen Strafverfolgung oder dem Tätigwerden nationaler Behörden im Ausland 26 , während hier die Probleme behandelt werden, die sich aus der Überschneidung von zwei Rechtsordnungen mit eigentlich getrennten Regelungsbereichen ergeben. Eine derartige Fragestellung kann zwar am Rande Probleme streifen, die zum internationalen Strafprozeßrecht gehören, fällt aber nicht schwerpunktmäßig in diesen Bereich und ist auch nicht das Thema dieser Arbeit. Die Betrachtung erfolgt damit rein aus nationaler Sicht und versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wie sich die gegenwärtigen Nonnen der StPO in das System des Gemeinschaftsrechts einfügen und das deutsche Strafverfahrensrecht mit dessen Anforderungen in Einklang gebracht werden kann. 6. Mit der Arbeit werden konkret folgende Ziele verfolgt: Es soll, ausgehend vom Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf das Prozeßrecht anderer Verfahrensarten und auf das materielle Strafrecht, dogmatisch dargelegt werden, daß eine Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auch auf das deutsche Strafverfahrensrecht besteht. Nach der Erarbeitung, unter welchen Voraussetzungen dies möglich ist, sollen konkrete Vorgaben aufgestellt werden, die sich für Strafverfahren mit Gemeinschaftsrechtsbezug ergeben. Anhand ausgewählter Einzelfragen werden dann die praktischen Auswirkungen dieser Vorgaben aufgezeigt.
IH. Gang der Darstellung
1. Die Darstellung erfolgt in drei Teilen, nämlich der allgemeinen Einwirkung auf das nationale Recht, der abstrakten Betrachtung der Einwirkung auf das deut23 Dazu Storme in: Matscher-FS, S. 495; Jung/Schroth GA 1983, 241; Tiedemann in: Kreuzer/Scheuing/Sieber S. 134, 145 zum sog. "Corpus luris"; Vogel lZ 1995, 331; Sieber lZ 1997, 369; Beispiel für zivil prozessuale Überlegungen bei Prütting in: Baumgärtel-FS, S.457. 24 Dazu z. B. Weigend ZStW 104 (1992), 486; Eser ZStW \08 (1996), 86. 25 K/M-G Ein\. Rn. 208; vg\. auch Schnorr von Carolsfeld in: Maurach-FS, S. 615. 26 Zur grenzüberschreitenden Strafrechtspflege aus europäischer Sicht vg\. Bubnoff S. 3 ff.
28
A. Einleitung
sche Strafprozeßrecht und der Behandlung des Einflusses auf konkrete Fragen des Strafverfahrensrechts. 2. Im ersten Teil soll zunächst die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht vorgestellt werden, um darauf aufbauend die theoretischen Grundlagen zum Verhältnis Europarecht / nationales Recht zu erläutern. Insbesondere das Rangverhältnis sowie die Arten der Einwirkung auf das nationale Recht bilden die Grundlage für alle folgenden Ausführungen (Teil B. I. und 11.). Daran anschließend erfolgt die Darstellung, auf welche Weise die Rechtsgüter und Interessen der Gemeinschaft durch das Zusammenwirken von supranationalen und nationalen Sanktionen geschützt werden (Teil B. III.). Dabei wird besonderes Gewicht auf die Verflechtung des Gemeinschaftsrechts mit dem deutschen materiellen Strafrecht gelegt, da dieser Bereich die Grundlage für das hier zu behandelnde Strafprozeßrecht darstellt. Nach der Erörterung des Einflusses auf das materielle Strafrecht sollen die Einwirkungen auf das Prozeßrecht anderer Verfahrensarten erläutert werden (Teil B. IV.), da die dort aufgestellten Grundsätze zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht / Prozeßrecht auch im Strafverfahren Anwendung finden können. Nach Darstellung der allgemeinen Vorgaben werden beispielhaft die Auswirkungen auf das Zivil- und Verwaltungsprozeßrecht aufgezeigt. 3. Bei der daran anschließenden abstrakten Betrachtung des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und Strafprozeßrecht (Teil C.) soll zunächst erörtert werden, ob der EG de lege lata bereits eine Möglichkeit zur Beeinflussung des nationalen Rechts in diesem Bereich gegeben ist, um danach kurz Überlegungen de lege ferenda anzustellen (Teil C. 1.). Danach wird aus den Erläuterungen zur Beeinflussung des materiellen Strafrechts und des Prozeßrechts anderer Verfahrensarten eine Synthese gebildet, um festzustellen, wie die dort existierenden Vorgaben auf den Strafprozeß übertragen werden können (Teil C. 11.). Nach abstrakten Erörterungen zu Möglichkeit und Anwendbarkeit dieser Einflüsse aus anderen Rechtsgebieten resultiert dies in konkreten Vorgaben des Gemeinschaftsrechts für nationale Strafverfahren (Teil C. III.). 4. Nach dieser abstrakt gehaltenen Darstellung sollen prozessuale Probleme im Ermittlungs- und Hauptverfahren aufgezeigt werden, bei denen eine Kollision mit EG-Recht existiert (Teil D). Für diese Probleme wird der Versuch unternommen werden, Wege zur Konfliktlösung aufzuzeigen, wie sie sich aus den Erörterungen zur Instrumentalisierung des nationalen Strafprozeßrechts ergeben. Ein thesenartige Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt in Teil E.
A. Einleitung
29
IV. Eingrenzung des Themas
1. Abgrenzung Gemeinschaftsrecht / EU-Recht
a) Wenn in dieser Arbeit der Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das Strafprozeßrecht behandelt werden soll, so sind bzgl. des Zusammenspiels von "Europa" und "Strafverfolgung" vielfältige Assoziationen möglich, die mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht nichts zu tun haben. Um Konfusionen bei der Begriffsbildung zu vermeiden, soll an dieser Stelle eine klärende Darstellung des europarechtlichen Anknüpfungspunktes erfolgen. Das Gemeinschaftsrecht (auch als Europarecht "im engeren Sinne" bezeichnet 27 ) ist das Recht der drei Europäischen Gemeinschaften, deren Organe seit langem fusioniert sind 28 und die deshalb i.d.R. einheitlich handeln. Sie agieren auf Grundlage der drei Gemeinschaftsverträge EGy 29 , EGKSy 30 und EAGY(Euratom)3l. Das Gemeinschaftsrecht stellt die sog. erste Säule in der "Tempelarchitektur" der durch die Verträge von Maastricht 32 geschaffenen Europäischen Union dar. Neben das Gemeinschaftsrecht tritt als zweite Säule die gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik mit dem Ziel einer gemeinsamen Yerteidigungspolitik. b) Für das Strafprozeßrecht bedeutsamer, in dieser Arbeit durch die Beschränkung auf das Gemeinschaftsrecht jedoch ausdrücklich ausgeklammert, ist die sog. "dritte Säule", die die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres beinhaltet. Thematisch war davon nach den Verträgen von Maastricht die Ausländerpolitik, die polizeiliche Zusammenarbeit, insbesondere die Bekämpfung des Drogenhandels und sonstiger Kriminalität, sowie die justitielle Zusammenarbeit in Zivilund Strafsachen erfaßt. Die Zusammenarbeit in der dritten Säule erfolgte durch Unterrichtung und Konsultation der Mitgliedstaaten untereinander, die Festlegung gemeinsamer Standpunkte und das Ergreifen gemeinsamer Maßnahmen. Darüber hinaus konnten die Mitgliedstaaten völkerrechtliche Übereinkommen ausarbeiten, die aber erst durch Ratifikation Teil ihrer Rechtsordnung werden und nicht mit den Yorrangwirkungen des Gemeinschaftsrechts ausgestattet sind. Somit umschreibt die dritte Säule bestimmte Bereiche, in denen eine Zusammenarbeit der Staaten erfolgt, ohne daß diese in ihrer Souveränität dadurch beschränkt sind, daß sie wie im Gemeinschaftsrecht Entscheidungskompetenzen an die EG (bzw. EU) abgetreten haben. Dennoch tritt durch die Zugehörigkeit einer Rechtsmaterie zur dritten Säule eine gewisse Schweitzer, Staatsrecht I1I, Rn. 16. Fusionsvertrag bzg!. Kommission und Rat BGB!. 1965 11 S. 1454, Abkommen bzg!. EuGH BGB!. 1957 11, S. 1156. 29 BGB!. 11 1957, S. 766 geändert zuletzt durch den Vertrag von Amsterdam. 30 BGB!. 11 1952, S. 445. 3! BGB!. 11 1957, S. 1014. 32 BGB!. 11 1992, S. 1253. 27
28
30
A. Einleitung
Bindungswirkung ein, da die intergouvernementale Zusammenarbeit in der Weise institutionalisiert wird, daß das Procedere der Zusammenarbeit sowie die Art der möglichen Maßnahmen abschließend festgelegt sind. Die Mitgliedstaaten können nicht mehr gemeinsam außerhalb des institutionellen Rahmens der EU operieren, da sie dadurch die Mitwirkungsrechte anderer Organe (z. B. des Europäischen Parlaments) verletzen würden. c) Durch den Vertrag von Amsterdam wird der bisherige dritte Pfeiler der EU, die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, aufgeteilt und überwiegend dem ersten Pfeiler zugewiesen. Im EUV verbleibt aber, quasi als Rudiment der dritten Säule, der für das Strafprozeßrecht relevante Bereich der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Es sind zur gemeinsamen Bekämpfung der Kriminalität neue Handlungsformen eingeführt worden. So ist vorrangig die enge Zusammenarbeit der Polizei 33 - und Justizbehörden (Art. 31 a) bis d) EUV) vorgesehen, daneben besteht eine Koordinierungspflicht der Mitgliedstaaten, die durch Maßnahmen des Rates ergänzt werden kann (Art. 34 EUV). d) Für Maßnahmen der Strafverfolgung hat sich damit hinsichtlich der europarechtlichen Einordnung in die dritte Säule durch die Verträge von Amsterdam nichts geändert, lediglich hinsichtlich der Handlungsmöglichkeiten trat eine Erweiterung ein. Zu den bisherigen Maßnahmen soll künftig die Verabschiedung sog. Rahmenbeschlüsse hinzutreten, deren Ziel die Angleichung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ist und die insofern einer Richtlinie ähneln 34 . Zudem ist in Art. 35 EUVein spezielles Vorlageverfahren an den EuGH vorgesehen, der über Gültigkeit und Auslegung der Maßnahmen der dritten Säule entscheiden kann 35 . Die Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden eines Mitgliedstaates sowie die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit sind der Prüfung durch den EuGH ausdrücklich entzogen 36 . 2. Abgrenzung von sonstigen Maßnahmen der Strafverfolgung auf europäischer Ebene
Nach dieser Abgrenzung der ersten von der dritten Säule sollen aufgrund der häufig auftretenden Vermischung bei der genauen rechtlichen Klassifizierung von europaweit angelegten Maßnahmen zur repressiven Kriminalitätsbekämpfung hier kurz einige Bereiche angesprochen werden, die trotz ihres Charakters der StrafverMit oder ohne Beteiligung von Europol (Art. 30 EUV), dazu sogleich. Die Definition in Art. 34 II b EUV entspricht der von Richtlinien nach Art. 249 EGV, die unmittelbare Wirkung ist aber ausdrücklich ausgeschlossen. 35 V g!. dazu das EuGH-Gesetz vom 6. 8. 1998, BGB!. I 1998,2035. 36 Dazu Schima S. 142. 33
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A. Einleitung
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folgung im europäischen Bereich nicht zum Gemeinschaftsrecht gehören und daher trotz ihrer Bedeutung für den deutschen Strafprozeß nicht erörtert werden 3? a) Historisch gesehen begann die kriminalpolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene mit der Gründung des Europarates 1949, der sich u. a. mit dem Gebiet der Strafverfolgung beschäftigt. Insbesondere die EMRK hat auf das Strafprozeßrecht der Bundesrepublik einen großen Einfluß ausgeübe S , aber auch zahlreiche andere Konventionen regeln Einzelfragen wie die Auslieferung, die Rechtshilfe in Strafsachen und die Überstellung verurteilter Personen 39 . Die EMRK hat darüber hinaus Bedeutung gewonnen als Teil des Grundrechtsstandards innerhalb der EU und wurde deshalb bereits in den Verträgen von Maastricht als Maßstab für alle Handlungen in der dritten Säule anerkannt40 . b) Innerhalb der (vom Europarat völlig unabhängigen) 1957 gegründeten EG begannen Maßnahmen der repressiven Kriminalitätsbekämpfung durch eine informelle intergouvernementale Zusammenarbeit. Zur Bekämpfung des politischen Terrorismus wurde die TREVI-Arbeitsgruppe, eine regelmäßig tagende Konferenz der Justiz- und Innenminister ins Leben gerufen 41 . Dort wurden keine rechtlich verbindlichen Vereinbarungen getroffen, sondern Ministerempfehlungen, die jedes Land nach eigenem Willen politisch umsetzen konnte. Für den Bereich der Drogenbekämpfung wurde mit CELAD42 ein Ausschuß nationaler Vertreter geschaffen, der die Aufgabe hatte, Maßnahmen der Mitgliedstaaten der EG und der Mitgliedstaaten zur Drogenbekämpfung zu koordinieren 43 . c) Eine formale Verankerung grenzüberschreitender Strafverfolgung erfolgte 1985 durch das Schengener Abkommen 44 , eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen einigen Mitgliedstaaten der EG. Den durch den darin beschlossenen Wegfall der Binnengrenzkontrollen befürchteten Verlust an innerer Sicherheit45 sollte ein 37 Zur Strafverfolgung in Europa allgemein vergleiche Ne/les ZStW 109 (1997), 727; GleßILüke Jura 1998,70; Schübel NStZ 1997, 105. 38 Vgl. nur Kühl ZStW 100 (1988), 406, 601; Boulan S. 3 ff.; Jung StV 1990,514; Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 29 ff., Trechsel ZStW 101 (1989), 819; Ulsamer in: Zeidler-FS, S. 1799; zur Frage des Einflusses auf die Rechtsprechung siehe Stenger S. 24 ff.; Uerpmann S. 163 ff.; Simon S. 224 ff. 39 Vgl. dazu die Textsammlung von Müller-RappardlBassiouni sowie GrütznerlPötz Teil 11 3/1 und die Übersicht bei Vogler Jura 1992, 586. 40 Art. 6 11 EUV, vgl. auch den früheren Art. K.2 I EUV; näher zur Bedeutung der EMRK für das Gemeinschaftsrecht s. unten Teil B. I. 2. b). 41 TREVI=Terrorisme, Radicalisme, Extremisme et Violence Internationale, vgl. dazu Fischer EuZW 1994, 748; Ehlerrnann / Bieber-Degen Vor Art. K-K.9 Rn. 2, Art K.I Rn. 13; JoubertlBevers S. 38 ff.; Montreuil in: Melanges Levasseur, S. 51, 67. 42 Comite Europeen de la Lutte Antidrogue. 43 Vertreter der Kommission haben dort Beobachterstatus, vgl. im Einzelnen Rupprechtl Hellenthai in: Rupprecht/Weidenfeld, S. 23 ff., 161. 44 Dazu ausführlich Kattau S. 2 ff. 45 Vgl. dazu das Gutachten von Kühne, Kriminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Grenzkontrollen, S. 40 ff.
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A. Einleitung
weiterer völkerrechtlicher Vertrag, das Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) ausgleichen 46 . Die darin vereinbarten Maßnahmen "zur vorbeugenden Bekämpfung und Aufklärung von strafbaren Handlungen" (Art. 39 ff. SDÜ) umfassen u. a. die Einrichtung einer zentralen Personen- und Objektdatensammlung (sog. Schengener Informationssystem SIS 47 , Art. 92 ff. SDÜ), die Vollstreckungszusammenarbeit in Strafsachen (Art. 48 ff. SDÜ), Regelungen über den Strafklageverbrauch (Art. 52 ff. SDÜ) und die erleichterte Auslieferung und Übertragung der Vollstreckung von Strafurteilen (Art. 59 ff., 67 ff. SDÜ). Im Rahmen der Amsterdamer Verträge wurde beschlossen, das Schengener Abkommen in den EGV und EUV zu übertragen. Dem Amsterdamer Vertrag ist ein Protokoll beigefügt, nach dem der sog. "Schengen Besitzstand", also die bereits jetzt im Rahmen der Schengener Abkommen erreichten Maßnahmen, in den Rahmen der EU einbezogen wird48 . d) Zum Recht der Dritten Säule zählt nunmehr gern. Art. 30 EUV auch das Europäische Polizeiamt (Europol), das durch ein Europol-Übereinkommen 49 ins Leben gerufen, von Deutschland bereits ratifiziert wurde und 1998 seine Arbeit aufnehmen sollte5o . Bei der Schaffung von Europol stand ursprünglich die Funktion der Schaffung eines europaweiten Datenpools im Vordergrund, in dem die Möglichkeiten zur Datenspeicherung und Verarbeitung gegenüber der in Deutschland gültigen Rechtslage erheblich erweitert wurden 51 . Nach den Amsterdamer Verträgen sollen den Europol-Beamten innerhalb von fünf Jahren nach deren Inkrafttreten auch operative Befugnisse eingeräumt werden, was besonders hinsichtlich der mangelnden demokratischen Kontrolle, der Immunitäten-Regelung und der eingeschränkten Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Handlungen von Europol auf Kritik stÖßt52 . Bereits vor der Einrichtung von Europol wurde angesichts des dringenden Handlungsbedarfs zur Bekämpfung organisierter Drogenkriminalität und der damit ver46 BGB!. 1993 H, IOD, auch als Schengen H bezeichnet und 1995 für Deutschland in Kraft getreten; dazu Sturm Kriminalistik 1995, 162; Jaubert/Bevers 25 ff.; krit. Schamburg NJW 1995, 1934. 47 Dazu Beulke, StPO, Rn. 101; Hemesath Kriminalistik 1995, 169; Busch KJ 1990, 1,9; Gleß/ Lüke Jura 1998,70,74. 48 Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU, abgedruckt in ABI e 340/93 vom 10. 11. 1997; zur Sonderregelung für Dänemark vg!. das Protokoll ABI e 340/ 101 vom 10. 11. 1997. 49 ABI Nr. e 316 vom 27.11. 1995, vom Bundestag angenommen am 10.10.1997 (BGB!. 199711,2150, Auslegungsprotokoll BGB!. 1997 H, 2170). 50 Dazu ausführlich Frowein/Krisch JZ 1998,589; Talmein StV 1999, 108. 5! Art. 7 ff. Europol-Übereinkommen; dazu Gleß/ Lüke Jura 1998,70,77; Zeiger Kriminalistik 1998,313; Bäumler eR 1994,487,491. 52 Aus der umfangreiche Literatur vg!. Gieß EuR 1998,748, 764; Prantl DRiZ 1997,234, Hailbronner JZ 1998,283; Bull DRiZ 1998,32; Hirsch ZRP 1998, 10; OstendarjNJW 1997, 3418; Hel/mann Teil II § 3 Rn. 74.
A. Einleitung
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bundenen Geldwäsche die Europäische Drogenstelle 53 eingerichtet, die für eine Übergangszeit die für Europol vorgesehenen Aufgaben wahrnehmen soll. e) Die direkte oder über Europollaufende Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden und anderen Strafverfolgungsbehörden erfolgt auch nach den Verträgen von Amsterdam im Wege der Regierungszusammenarbeit und verbleibt damit in der dritten Säule54 . Dies gilt auch für die Rechtshilfe in Strafsachen sowie für die wichtigsten Felder der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten wie Terrorismus und organisierte Kriminalität. Die möglichen Maßnahmen in diesem Bereich ähneln denen, die schon bisher in der dritten Säule vorgesehen waren, die Mechanismen und Instrumente der Zusammenarbeit sind durch Amsterdam aber verbessert und effizienter gestaltet worden 55 . Die strafjustitielle Zusammenarbeit ist damit nicht in die erste Säule aufgenommen worden, durch die erweiterten Handlungsmöglichkeiten wird dieser Bereich aber als "auf dem Weg der Vergemeinschaftung" angesehen56 . Ebenfalls kein Teil des Gemeinschaftsrechts sind die europäischen Rechtshilfeabkommen. Dabei handelt es sich um zwischenstaatliche Abkommen, zu deren Abschluß die Mitgliedstaaten durch Art. 293 IV EGV und im Rahmen des gemeinsamen Vorgehens gern. Art. 30, 31 EUVangehalten sind57 .
3. Beschränkung auf ausgewählte Beispiele
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß in dieser Arbeit nichts behandelt werden soll, was nicht zur ersten Säule gehört. Deshalb müssen Bereiche wie die Abkommen des Europarats, Europol, die Schengener Abkommen und die sonstige Zusammenarbeit in Strafsachen im Rahmen des EUV außer Betracht bleiben. Es würde jedoch den Rahmen einer einzigen Dissertation sprengen, sämtliche Probleme ausführlich zu erörtern, die sich aus dem Überschneidungsbereich der Rechtsordnungen für das Strafprozeßrecht ergeben. Von der Vielzahl der möglichen Konstellationen, in denen das Gemeinschaftsrecht auf das nationale Recht einwirken kann, gibt bereits die Darstellung der notwendigen Modifikationen in anderen Prozeßordnungen (Teil B. IV. 3.-4.) einen Eindruck. Da das hier behan53 European Drug Unit (EDU) ABI Nr. L 62 vorn 20. 43. 1995, BGB\. II 1995, 155 dazu Storbeck Kriminalistik 1996, 17, 18, Weichert DuD 1995,450. 54 Nach Art. 73 i a) EGV erläßt der Rat Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität in Europa weiterhin im Verfahren nach Art. 31 e EUV. 55 Z. B. die "verstärkte Zusammenarbeit" gern. Art. 40, 43 ff. EUV; dazu Berg / Karpenstein EWS 1998,77,81. 56 Bergmann / Lenz- Wink/er Kapitel 2 Rn. 39. 57 Dazu Koering-Joulin in: Delmas-Marty, What kind of criminal policy for Europe, S. 169; eine Übersicht über die Rechtshilfe in Strafsachen in der Europäischen Union gibt Schomburg NJW 1999,540.
3 Jokisch
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A. Einleitung
delte Thema im Gegensatz zu anderen Rechtsgebieten bis dato in der Literatur noch kaum Beachtung gefunden hat, muß sich diese Arbeit darauf beschränken, nach einer abstrakten Darstellung der Problematik ausgewählte Beispiele zu vertiefen. Behandelt werden wegen der großen praktischen Relevanz die Einstellung aus Opportunitätsgründen gern. §§ 153 ff. StPO sowie die Integration des Vorabentscheidungsverfahrens. Aufgrund der aktuellen legislativen Diskussion um die Durchbrechung der Rechtskraft durch Gemeinschaftsrecht wird auch das Wiederaufnahmeverfahren gern. §§ 359 ff. StPO ausführlich behandelt. Um aber einen Eindruck von den zahlreichen noch weitgehend ungeklärten Kollisionsfällen zu geben, sollen als Ausblick weitere Probleme zumindest kurz dargestellt werden, ohne daß damit eine vollständige Behandlung angestrebt wird.
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht I. Die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht
1. Rechtsnatur und Bedeutung der EG
Die EG ist "eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, ( ... ) auf die die Bundesrepublik Deutschland, wie die übrigen Mitgliedstaaten, bestimmte Hoheitsrechte übertragen hat"l. Es handelt sich dabei nicht um einen Nationalstaat, aber auch nicht um eine internationale Organisation im klassischen völkerrechtlichen Sinne, sondern nach h.M. um eine Rechtsform sui generis, für die sich die Bezeichnung "supranationale Organisation" eingebürgert hat. Von sonstigen völkerrechtlichen Organisationen hebt sie sich ab durch die Tragweite ihres Programms und der ihr zu dessen Durchführung endgültig übertragenen Kompetenzen, durch ihre institutionelle und finanzielle Ausstattung, der Existenz eines stark ausgebauten Rechtsschutzsystems, sowie vor allem durch die (unter bestimmten Voraussetzungen) unmittelbare Wirkung ihrer Rechtsakte in den einzelnen Mitgliedstaaten. Insbesondere die Verleihung von Rechten und Pflichten direkt an die Unionsbürger (vgl. Art. 17 EGV) ist das zentrale Merkmal der Supranationalität, das aus einer Gemeinschaft von Staaten eine politische, wirtschaftliche und rechtliche Gemeinschaft der Staaten und vor allem der in ihnen lebenden Menschen werden läßt2 . Dabei ist die EG nicht selbst ein Staat, da sie ihre Kompetenzen weiterhin von den Mitgliedstaaten ableitet und nicht selbst die Befugnis hat, ihren Wirkungskreis zu erweitern (keine "Kompetenz-Kompetenz"). Die von der EG ausgeübte Hoheitsgewalt bedarf vielmehr der Übertragung von Hoheitskompetenzen durch die Mitgliedstaaten 3. Nach dem Prinzip der Einzelermächtigung bedarf das Handeln der Gemeinschaft stets einer Grundlage in den Verträgen. Durch das Europarecht hat sich eine autonome Rechtsordnung4 herausgebildet, die wiederum auf die vielfältigste Weise mit den nationalen Rechtsordnungen verzahnt ist. Ziel des Gemeinschaftsrechts ist die Fortentwicklung des ursprünglichen BVerfGE 22, 293. Vgl. Burgi S. 7. 3 B1eckmann-Bleckmannl Pieper, Europarecht, Rn. 143 ff. 4 EuGH Sig. 1964, 1251, 1270 (Costa/ENEL), BVerfGE 37, 271, 277; Stern, Staatsrecht I, S. 527 ff. I
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
nur wirtschaftlich, heute aber auch politisch gedachten Zweckverbandes der Europäischen Union (vgl. Art. 2 EGV). Im Zuge des Integrationsprozesses kommt es u. a. zur Rechtsvereinheitlichung in dem Sinne, daß sich nationales Recht dem Europarecht anpassen muß, wovon sowohl das Strafrecht als auch das Strafprozeßrecht nicht unberührt bleiben.
2. Das Recht der Europäischen Gemeinschaft a) Das Primärrecht ( J) Die Verträge als Rechtsquelle
Unter Primärem Gemeinschaftsrecht versteht man die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften EGKS, EWG und EAG einschließlich der Anlagen, Anhänge und Protokolle, sowie deren spätere Ergänzungen und Änderungens. Wichtigster Bestandteil ist der Vertrag über die Gründung der EWG (heute EG). Er ist dem Sekundärrecht, dessen Grundlage er bildet, vorgeordnet und vornehmlich politisch, weniger administrativ geprägt. Das Primärrecht stellt die oberste Rechtsquelle in der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie dar und wirkt insoweit als Maßstab für des Sekundärrecht. Deshalb sind Maßnahmen der EG-Organe, die gegen das Primäre Recht verstoßen, grundsätzlich nichtig (Art. 230 11, 231 EGV). Für den Bereich des Prozeßrechts relevant sind insbesondere Art. 220 (alleinige Zuständigkeit des EuGH zur Auslegung der Verträge), Art. 234 (Vorabentscheidungsverfahren) und Art. 240 EGV (Zuständigkeit einzelstaatlicher Gerichte). (2) Die Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorgane als Adressaten Adressaten des Primärrechts sind die vertragsschließenden Mitgliedstaaten und die durch die Verträge konstituierten Gemeinschaftsorgane6 . Wahrend den Gemeinschaftsorganen in erster Linie ihre Kompetenzen zugewiesen werden, beinhalten die Verträge für die Mitgliedstaaten eine Begrenzung der ihnen bis dahin zustehenden Aufgaben und Befugnisse. So haben die Mitgliedstaaten durch die Ausgestaltung ihrer innerstaatlichen Rechtsordnungen, im Prinzip einschließlich der Verfassungsordnung, sicherzustellen, daß ihre gemeinschaftsrechtlichen Pflichten erfüllt werden 7 .
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7
Schweitzer. Staatsrecht III, Rn. 251. Zu den Gemeinschaftsorganen s. den Überblick bei Funk JA 1998, 609. Dazu Huber § 6 Rn. 9.
I. Die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht
37
(3) Der Bürger als Adressat des Primärrechts
Adressat des Gemeinschaftsrechts kann aber nicht nur der vertragsschließende Staat sein, sondern über den Wortlaut der Verträge hinaus auch alle anderen Rechtssubjekte, d. h. natürliche und juristische Personen. Diese sog. unmittelbare Anwendbarkeit oder unmittelbare Wirkung des Primärrechts hat der EuGH 8 schon sehr früh bejaht. Hintergrund für diese Einbeziehung des einzelnen Bürgers in den Adressatenkreis des EG-Rechts war die (aus völkerrechtlicher Sicht sehr fortschrittliche) Vorstellung, daß die europäische Rechtsordnung nicht nur durch die Mitgliedstaaten konstituiert wird, sondern auch durch die Bürger. Dahinter stand nicht in erster Linie die deutsche Konzeption des Individualrechtsschutzes, sondern, französischen Vorstellungen entsprechend, die Idee, daß der einzelne mit der Durchsetzung seiner Individualinteressen auch eine objektivrechtliche Funktion wahrnimmt und dadurch zur Wahrung der Rechtsordnung insgesamt beiträgt 9 . Ob eine Norm des Primärrechts unmittelbar anwendbar ist, hängt in erster Linie von ihrem Regelungsgehalt ab, wobei auf den "Geist der Vorschrift", ihre Systematik und den Wortlaut abzustellen ist. Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm ist die ,,rechtliche Vollkommenheit", d. h. aus der Norm muß sich hinreichend klar eine unbedingte Handlungs- oder Unterlassungspflicht ergeben, die keiner weiteren Konkretisierung durch den nationalen Gesetzgeber zugänglich ist. Damit scheidet eine unmittelbare Anwendbarkeit grundsätzlich aus, wenn den Mitgliedstaaten ein Spielraum bei der Umsetzung verbleibt. Für den Einzelnen können sich aus dem Primärrecht Pflichten ergeben, die durch gemeinschaftseigenen Vollzug sichergestellt (z. B. im Bereich des Kartellrechts Art. 81, 82 EGV) oder durch den nationalen Gesetzgeber gewährleistet werden. In weitem Umfang lassen sich dem unmittelbar anwendbaren Primärrecht aber auch Rechte und Ansprüche entnehmen, die der einzelne gegenüber der EG und den Mitgliedstaaten durchsetzen kann. Die Berufung auf eine Verletzung einer unmittelbar anwendbaren Norm berechtigt grundsätzlich zur Erhebung einer Klage. Diese ist, wo es um Handlungen oder Unterlassungen der EG-Organe geht, beim EuGH zu erheben, und wo es um das Verhalten der Mitgliedstaaten und ihrer Untergliederungen geht, bei den zuständigen nationalen Gerichten. Wird z. B. das Recht auf Freizügigkeit (Art. 18 EGV) dem deutschen Staat zurechenbar beschränkt, so ist diese Maßnahme im Verwaltungsrechtsweg anzugreifen (§ 40 VwGO). Die Klagebefugnis i. S. d. § 42 11 VwGO ergibt sich unmittelbar aus dem EG-Recht lO • EuGH Sig. 1963, 1 ff. (Yan Gend & Loos). Huber § 6 Rn. 11. lO Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrecht auf das Yerwaltungsprozeßrecht s. unten Teil B. IV. 3. 8
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38
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
Ebenfalls unmittelbar anwendbares Recht sind die Grundfreiheiten des EGV 11, die primär an die Mitgliedstaaten gerichtet sind und diese verpflichten, die mitgliedstaatlichen Bestimmungen im jeweiligen Gewährleistungsbereich zu deregulieren. Gleichzeitig sollen sie für den einzelnen gegenüber den Mitgliedstaaten gewisse Freiheitssphären sichern. Soweit die Freiheiten nicht durch sekundäres Recht konkretisiert werden, kann sich der einzelne somit gegenüber dem Staat auf eine entsprechende Verletzung berufen. Die Wirkung der Grundfreiheiten ist aber beschränkt auf grenzüberschreitende Sachverhalte, so daß Fälle ohne Auslandsbezug nicht in den Anwendungsbereich fallen. Daraus resultiert häufig die sog. Inländerdiskriminierung, also die Konstellation, daß Deutsche durch deutsche Rechtsvorschriften schlechter gestellt werden als ausländische EU-Bürger. Diese Rechtslage resultiert daraus, daß sich Inländer nicht auf den Schutz der Grundfreiheiten berufen können. Die Problematik ist nicht auf einen Bereich beschränkt und kann nicht nur unter Rückgriff auf die Grundfreiheiten des EGV behandelt werden. Es handelt sich vielmehr überwiegend um ein nationales Problem der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlung 12 • b) Allgemeine Rechtsgrundsätze (J) Funktion und Gewinnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze
Lücken im Primärrecht können und müssen unter bestimmten Umständen vom ungeschriebenen Gemeinschaftsrecht der allgemeinen Rechtsgrundsätze geschlossen werden, die selber auch den Rang des Primärrechts innehaben. Als allgemeine Rechtsgrundsätze bezeichnet man die der Rechtsordnung der Gemeinschaft selbst inhärenten sowie die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsgrundsätze l3 . An der ausdrücklichen Erwähnung dieser Rechtsquelle in den Art. 28811 EGV und 18811 EAGV ist zu erkennen, daß diese Rechtsgrundsätze im Wege "wertender Rechtsvergleichung" gefunden werden. Über die genaue Methode der Ennittlung läßt sich weder aufgrund der Rechtsprechung des EuGH eine klare Aussage machen, noch herrscht in der Lehre eine einheitliche Meinung l4 . Der EuGH kann aber sicherlich nicht so verstanden werden, daß bei Gegensätzen in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen das "gemeinsame Minimum" übernommen werden muß. Um die Existenz eines derartigen "kleinsten gemeinsamen Nenners" zu venneiden, wird es als ausreichend angesehen, wenn der Rechts11 Warenverkehrsfreiheit (Art. 23, 28 EGV), Arbeitnehmetfreizügigkeit (Art. 39 EGV), Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV), Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV), Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 56 EGV). 12 Dazu Bleckmann NJW 1985,2856,2857; Lackhoff/Raczinski EWS 1997, 109 mit umfangreichen weiteren Nachweisen. 13 Schweitzer. Staatsrecht III, Rn. 296, vgl. auch Art. 6 II EUV. 14 Zu dieser umfangreichen Problematik vgl. Riedel in: Müller-Graff fRiedeI, S. 77, 79; Rodriguez Iglesias NJW 1999, 1,4.
I. Die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht
39
grundsatz in einigen Verfassungen tatsächlich vorhanden ist l5 . Gelegentlich wird sogar das Ziel eines ..relativierten Maximalstandards" erkennbar, wenn der EuGH zur Definition der gemeinschaftsrechtlichen Menschenrechte auf die Rechtsordnung zurückgreift, welche die betreffenden Grundrechte maximal ausformuliert l6 . Zudem müssen sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze nach Struktur und Inhalt in das Gemeinschaftsrecht einfügen. Das in Frage stehende Rechtsprinzip muß einerseits eine gewisse Verbreitung gefunden haben, andererseits aber auch nicht allen Verfassungen zugrunde liegen. Auszugehen ist zunächst von den gemeinsamen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Der EuGH benutzt auch nationale Rechtsordnungen als Erkenntnisquelle, um Standards auf europäischer Ebene festzulegen 17, zieht sie aber nicht unmittelbar als allgemeine Rechtsgrundsätze heran. Auch völkerrechtliche Verträge, an denen die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind. Wichtig ist, daß die Verfassungsüberlieferungen der Staaten und die völkerrechtlichen Verträge keine eigentlichen Rechtsquellen darstellen, sondern vielmehr nur Erkenntnisquellen für die Entwicklung der allgemeinen Rechtsgrundsätze sind. Die Rechtsgrundsätze selber ergeben sich aus dem Gemeinschaftsrecht. Bedeutung gewonnen haben die allgemeinen Rechtsgrundsätze vor allem für die Grundrechte und die Rechtsstaatsprinzipien. (2) Die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene
Die Gemeinschaft verfügt über keinen eigenen, kodifizierten Grundrechtskatalog, da wegen der ursprünglich rein wirtschaftlichen Zielrichtung keine Gefahren für die Grundrechte der Bürger gesehen wurden. Durch die unmittelbare Wirkung des EG-Rechts und die Übertragung grundrechtsrelevanter Kompetenzen stellte sich aber bald heraus, daß durch die Tätigkeit der EG zwangsläufig grundrechtlich geschützte Interessen der Bürger berührt und der effektive Schutzbereich deutscher Grundrechte beschränkt wird. Der EuGH stand dem Grundrechtsschutz durch Gemeinschaftsorgane anfangs ablehnend gegenüber, da er sich nicht mit Problemen befassen wollte, die dem nationalen Verfassungsrecht angehören l8 . Im Jahre 1969 erkannte er erstmals an, daß von den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts auch die Grundrechte 15 Zur Methode s. EuGH Slg. 1974, 491, 507 (Nold); Slg. 1989, 2859 ff. (Hoechst); Weiß S. 23 ff.; Grabitz NJW 1989, 1776; Rengeling in: Schweitzer (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht, S. 29, 40 ff. 16 Vgl. Bleckmann in: Börner-FS, S. 29 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 363; krit. Grabitzl Hilf-Pernice Art. 164 Rn. 44. 17 Streinz, Europarecht, Rn. 178,361; allgemein zu den Wechselwirkungen zwischen nationalem und EG-Recht Kirchhof! JZ 1998,965,967. 18 Vgl. Schwarze EuGRZ 1986,293,294; Lenz-Borchardt Art. 220 Rn. 30.
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
umfaßt sind l9 . Seitdem löst der EuGH Fälle mit Grundrechtsbezug dadurch, daß er im Bedarfsfall auf ungeschriebene Grundrechte zurückgreift und diese für den konkreten Fall aus dem Gemeinschaftsrecht entwickelt2o • Nunmehr bestimmt zudem Art. 6 II EUV ausdrücklich, daß die EU zur Achtung der Grundrechte verpflichtet ist, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und sich aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze ergeben. Trotzdem wird immer wieder die Forderung nach einem eigenen geschriebenen Grundrechtskatalog laut 21 , wie er auch in einem (allerdings unverbindlichen) Entwurf des Europäischen Parlaments 22 enthalten war. Grundrechtsverpflichtete sind zunächst und überwiegend die Organe der EG, wann immer sie hoheitlich tätig werden. Grundrechtsverpflichtete können aber im beschränkten Umfang auch die Mitgliedstaaten sein, z. B. bei Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten. Das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht ist dann im Sinne der europäischen Grundrechte auszulegen und dementsprechend anzuwenden. Agieren die Mitgliedstaaten außerhalb des Gemeinschaftsrechts, so sind sie nicht an die europäischen Grundrechte, sondern lediglich an das nationale Recht gebunden 23 . In seiner Rechtsprechung 24 hat der EuGH unter anderem folgende Gemeinschaftsgrundrechte anerkannt: Gleichheitsgrundsatz, Schutz der Privatsphäre, Eigentumsrecht, Unverletzlichkeit der Wohnung, Meinungsäußerungsfreiheit. Damit werden die Grundrechte umfangreich geschützt, auch wenn kein geschriebener Katalog existiert. Die prinzipielle Gleichwertigkeit des Grundrechtsstandards mit dem des Grundgesetzes hat auch das BVerfG 25 im Ergebnis anerkannt. Die Gemeinschaftsgrundrechte gelten jedoch nicht schrankenlos, sondern Eingriffe können durch die dem Allgemeinwohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt sein. Der deutschen Grundrechtsdogmatik ähnlich hat der EuGH26 als Grenzen eines Grundrechtseingriffs wiederum den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Wesensgehaltsgarantie anerkannt.
19 EuGH Sig. 1969,419 (Stauder), weiterentwickelt in EuGH Slg. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft); Slg. 1979,491 (Nold), Slg. 1979,3727 (Hauer), dazu Neuwahl in: Neuwahl/Rosas, S. 1,6. 20 Zur Methodik Bleckmann EuGRZ 1981, 257; Streinz, Europarecht, Rn. 360 ff. 21 Z. B. HilfEuR 1997,347,353; Starck EuGRZ 1981,545. 22 Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten EuGRZ 1989, 204, vgl. auch die gemeinsame Erklärung des Parlaments, des Rates und der Kommission zum Grundrechtsschutz in der EG EuGRZ 1977, 157. 23 Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S. 187 ff.; Ruffert EuGRZ 1995,518; Schweitzer ZfRV 1996,41. 24 Zur Entwicklung s. Schweitzer. Staatsrecht III, Rn. 299 ff.. 25 BVerfGE 73, 229 ff. (Solange II). 26 Vgl. EuGH Slg. 1979,3727.3747; 1974,491,507.
1. Die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht
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(3) Rechtsstaatsprinzipien Neben den Grundrechten hat der EuGH eine Reihe allgemeiner Rechtsgrundsätze anerkannt, die die Rechtsordnung der EG prägen und durch die Gemeinschaftsorgane beim Erlaß von Rechtsakten zu beachten sind. Dabei handelt es sich teilweise um Verfahrensrechte, die z. B. bei der Vollziehung des Gemeinschaftsrechts durch die Gemeinschaft selber als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung zum Tragen kommen, z.T. um grundlegende Prinzipien der europäischen Rechtsordnung, die in Deutschland aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet werden. Zu nennen ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip 27, das nunmehr in Art. 5 III EGV ausdrücklich niedergelegt ist, das Gebot der Rechtssicherheit 28 , der Grundsatz des Vertrauensschutzes 29 mit der besonderen Ausprägung des Rückwirkungsverbots, der Grundsatz rechtlichen Gehörs 30 , das Recht auf effektiven Rechtsschutz 3l und das Gebot des ne bis in idem 32 .
(4) Die EMRK und ihre Bedeutung für das Gemeinschaftsrecht Als Erkenntnisquelle für die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere die Grundrechte, kommt der EMRK eine herausragende Bedeutung zu. Die EMRK ist ein regionaler Menschenrechtspakt, der vom Europarat als seine wohl bedeutendste Konvention verabschiedet und inzwischen von 35 Mitgliedstaaten des Europarats ratifiziert wurde 33 . Die Konvention war als Kernstück einer künftigen Verfassung für das vereinte Europa gedacht und bildet mit ihren Zusatzprotokollen jetzt eine Art europäischen ordre public 34 . Bei Verletzung von Konventionsrechten ist für den Bürger ein spezielles Rechtsschutzsystem vorgesehen, an das er sich wenden kann, um auf diese Weise eine Verurteilung des handelnden Staates zu erreichen 35 . Die Feststellung der Konventionswidrigkeit einer Maßnahme führt aber nicht zur Aufhebung der Entscheidung oder des Urteils, sondern nur zu einer Entschädigungspflicht des Staates (Art. 50 EMRK)36.
27 EuGH Sig. 1973, 1091, 1095 (Balka Import-Export), Sig. 1980, 1979, 1997 (Testa), jetzt in Art. 5 III EGV verankert. 28 EuGH Sig. 1975,421,433 (Deuka). 29 EuGH Sig. 1973,723,729 (Westzucker), dazu Fuß in: Kutscher-FS, S. 201. 30 EuGH Sig. 1979,461,511 (Hoffmann La Roche/ Kommission). 31 EuGH Sig. 1986, 1651, 1681 ff. (Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary). 32 EuGH Sig. 1967,79,88 (Gutmann/ Kommission der EAG). 33 Vgl. Ratifikationstabelle in EuGRZ 1997,128. 34 Vgl. Ryssdal in: Odersky-FS, S. 245; Oppetit in: L'intemationalisation du droit, S. 311. 35 Dazu Schweitzer. Staatsrecht II1, Rn. 714 ff.; zur Reform durch das 11. Zusatzprotokoll vgl. DrzemczewskilMeyer-Ladewig EuGRZ 1994,317; Meyer-Ladewig EuGRZ 1996,374; ders. NJW 1995,2813; Schlette JZ 1999, 219.
42
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
Für die Ennittlung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze stellt die EMRK einen Mindeststandard37 dar, so daß in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtmäßig anerkannt werden können, die mit der Beachtung der darin anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind 38 . Die EG ist aber nicht Mitglied der EMRK, so daß die darin nonnierten Grundrechte trotz des Verweises in Art. 6 11 EUV die EG nach h.M. nicht unmittelbar binden 39 . Trotzdem werden der EMRK gerade im Hinblick auf die Grundrechte die maßgeblichen Orientierungspunkte entnommen. Nach der Formulierung des EuGH40 werden die "leitenden Grundsätze" als Teile des Gemeinschaftsrechts berücksichtigt. Derzeit ist der EuGH somit nicht unmittelbar an die EMRK und deren Auslegung durch die Konventionsorgane gebunden, aber durch die immer deutlichere Orientierung an den europaweit anerkannten und fein ausdifferenzierten Konventionsrechten kommt die Rechtsprechung des EuGH41 einer direkten Anwendung teilweise sehr nahe. Ein Beitritt der EG zu EMRK wurde häufig erwogen und gefordert 42 und wäre aufgrund der Vcilkerrechtspersönlichkeit der EG (Art. 281 EGV) auch grundsätzlich möglich. Der EuGH hat dies in einem Gutachten43 aber als unzulässig erachtet, da beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts keine Zuständigkeit der EG bestehe. Problematisch gestalten würde sich auch das Verhältnis des EGMR zum EuGH, da bei Übernahme des Grundrechtskatalogs der EMRK als Bestandteil des Gemeinschaftsrecht dann beide Gerichte den Anspruch hätten, die EMRK verbindlich auszulegen. An dieser Rechtslage hat sich auch durch die Amsterdamer Verträge nichts geändert. c) Das Sekundärrecht Unter sekundärem Gemeinschaftsrecht versteht man das von den Organen der EG nach Maßgabe der Gründungsverträge erlassene Recht. Im Rang steht das Sekundärrecht unter dem Primärrecht und muß sich an ihm messen lassen. 36 Vgl. Polakiewicz S. 51 ff.; Ress in: Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 232; Zwach S. 101 ff.; Beulke, StPO, Rn. 11; s. aber den neu eingeführten Wiederaufnahmegrund der Konventionswidrigkeit in § 359 Nr. 6 StPO. 37 Dazu Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK, S. 51 ff. 38 EuGH Sig. 1991, I 2925 (ERT). 39 V gl. dazu ausf. Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK, S. 79 ff.; Schweitzer JA 1982, 174; Rengeling, Grundrechtsschutz in der EG, S. 184 ff.; s. auch EuGH Sig. 1997, I 2629 (Kremzow). 40 S. EuGH Sig. 1986, 1651, 1682 (Johnston); zur Entwicklung der Rspr. Darmon in: Delmas-Marty, Vers un droit penal communautaire, S. 23, 27 ff. 41 Vgl. EuGH Sig. 1997, I 3689 (Familiapress), in dem der EuGH explizit und positiv ein Urteil des EGMR zitiert und diesem unmittelbar folgt; dazu Kühling EuGRZ 1997,297. 42 Dazu Weiß EWS 1997,253; Klose DRiZ 1997, 122; zur Situation nach dem Vertrag von Amsterdam Bergmann / Lenz- Wink/er Kapitel 2 Rn. 70. 43 Gutachten des EuGH gern. Art 300 VI EGV Nr. 2/94 EuGRZ 1996,206.
1. Die Europäische Gemeinschaft und ihr Recht
43
Der Gemeinschaft steht keine generelle Ermächtigung zum Erlaß von Rechtshandlungen zu, sondern nur Einzelermächtigungen für ganz bestimmte Handlungen. Die Organe sind damit hinsichtlich Inhalt und Form ihrer Rechtssetzung beschränkt, wodurch sich die Gemeinschaft wesentlich von der nationalstaatlichen Legislative unterscheidet, die grundsätzlich jede Materie gesetzlich regeln kann. Gemeinschaftsrechtlich ergibt sich dieses Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung aus Art. 249 I EGV, der den Erlaß von Gemeinschaftsrecht durch die Organe "nach Maßgabe der Verträge" vorsieht; Art. 5 EUV schreibt dieses Prinzip für alle drei Säulen der EU fest. Staatsrechtlich gesehen entspricht das Prinzip Art. 23 I und 24 I GG, die den Bund nur zur Übertragung einzelner, nicht aller Hoheitsrechte ermächtigen. Die verschiedenen Arten des sekundären Gemeinschaftsrechts werden in Art. 249 EGVaufgelistet: ( 1) Verordnung
Die Verordnung (Art. 249 11 EGV) wirkt als "Europäisches Gesetz" mit ihren abstrakt-generellen Regelungen grundsätzlich unmittelbar in den nationalen Rechtsraum hinein, ohne daß dies eines mitgliedstaatlichen Umsetzungsaktes bedarf. Unmittelbare Wirkung bedeutet, daß Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts direkt an die Gemeinschaftsbürger und / oder Staaten adressiert sind, indem sie diesen Rechte gewähren bzw. Pflichten auferlegen. Die unmittelbare Wirkung ist von Amts wegen zu beachten, so daß es nicht davon abhängt, ob sich die Betroffenen auf die jeweilige Bestimmung berufen. (2) Entscheidung
Ebenfalls mit unmittelbarer Wirkung ausgestattet ist die Entscheidung (Art. 249 IV EGV), soweit sich die in ihr enthaltene konkret individuelle Regelung an einzelne Private oder eine Gruppe von Privaten richtet. Die Regelung entspricht damit der des nationalen Verwaltungsakts. Adressaten einer Entscheidung können auch Staaten sein. Ob eine an Staaten gerichtete Entscheidung ebenfalls unmittelbar für die Individuen wirkt, ist umstritten 44 . Die rechtliche Überprüfung von Entscheidungen erfolgt durch den EuGH im Verfahren nach Art. 230 IV EGV. (3) Richtlinie
Die Richtlinie (Art. 249 III EGV) ist an die Mitgliedstaaten gerichtet und für diese nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich. Die Bestimmung der für die Umsetzung geeigneten Form und der dazu notwendigen Mittel bleibt grundsätzlich den Staaten überlassen, so daß hier von einer institutionellen und 44
Schweitzer; Staatsrecht III, Rn. 270.
44
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
verfahrensmäßigen Autonomie gesprochen wird45 . Auf diese Weise wird die Verwirklichung gemeinschaftlich definierter Ziele unter Berücksichtigung nationaler Rechtsformen und Rechtstraditionen ermöglicht46 . In der Praxis sind allerdings äußerst detaillierte Richtlinien keine Seltenheit. Sie belassen der mitgliedstaatlichen Legislative kaum eigenständige Umsetzungsspielräume und reduzieren deren Rolle häufig darauf, Richtlinienbestimmungen wortgetreu in das nationale Recht umzusetzen47 • Unter bestimmten Umständen kann auch Richtlinien eine unmittelbare Wirkung zukommen. Wenn die Frist zur Umsetzung abgelaufen ist und die dem Einzelnen aus der Richtlinie zustehenden Rechte derartig bestimmt und abschließend sind, daß den Mitgliedstaaten kein Umsetzungsspielraum bleibt, so ist die Berufung direkt auf die Richtlinie möglich. Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung48 war die Erkenntnis, daß die subjektiv-öffentlichen Rechte, die dem Einzelnen von der EGRechtsordnung zugewiesen werden, nicht durch mangelnde Umsetzung des Staates verhindert oder verzögert werden sollen49 . Dies wäre der praktischen Wirksamkeit (effet utile) des Gemeinschaftsrechts abträglich, weshalb der EuGH abweichend vom Wortlaut des Art. 249 III EGV in richterlicher Rechtsfortbildung dieses Rechtsinstitut geschaffen hat. Das BVerfG50 hat die Rechtsprechung als vertragskonforme Fortbildung des Primärrechts gebilligt.
(4) Empfehlung und Stellungnahme Gern. Art. 249 V EGV sind die EG-Organe zu unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen ermächtigt51 .
11. Die Überlagerung des nationalen Rechts Im Normalfall stehen aufgrund der Kompetenzabgrenzung Gemeinschaftsrecht und nationales Recht nebeneinander. Jeder Rechtskreis hat seinen eigenen Anwendungsbereich: Die Gemeinschaftsvorschriften regeln bestimmte Vorgänge im zwischenstaatlichen Bereich, während die nationalen Vorschriften Vorgänge innerhalb des einzelnen Staates umfassen. Wenn sich Regelungen widersprechen oder in ih-
4S
46 47 48
EuGH Sig. 1991, I 2567 . Oppermann Rn. 547. Beispiele bei Huber § 6 Rn. 50. St.Rspr., vgl. EuGH Sig. 1970, 1213 (Spa SACE); Sig. 1974, 1337 (Van Duyn).
Schweitzer I Hummer Rn. 364 ff. so BVerfGE 75, 223 ff., die die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ablehnende Rspr.
49
des BFH (EuR 1985, 191) wurde darin aufgehoben. SI ZU Voraussetzungen und Auswirkungen s. Schweitzerl Hummer Rn. 380 ff.
II. Die Überlagerung des nationalen Rechts
45
rer Wirkung beeinträchtigen, d. h. ein sog. Kollisionsfa1l 52 vorliegt, sind die Rechtsfolgen unklar, da das Gemeinschaftsrecht keine explizite Kollisionsnorm kennt und auch die deutsche Verfassung, im Gegensatz zu einigen anderen Mitgliedstaaten 53, keine ausdrückliche Regelung trifft.
1. Vorrang bei direkter Kollision
a) Begründung des Vorrangs Treffen Normen des Gemeinschaftsrechts und solche des nationalen Rechts in der Weise aufeinander, daß sie denselben Sachverhalt mit unterschiedlichen Rechtsfolgen regeln, so spricht man von einer direkten oder unmittelbaren Kollision. Für diese Konstellation hat der EuGH 54 die Kollisionsregel vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrecht entwickelt. Begründet wird dies mit dem autonomen, von den nationalstaatlichen Grundlagen losgelösten Charakter der Gemeinschaftsrechtsordnung, deren einheitliche Geltung und Anwendung in den Mitgliedstaaten für das Funktionieren der Gemeinschaften unerläßlich ist und nur bei einem Vorrang des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht gesichert werden kann. Zudem stützt sich der EuGH noch auf Art. 10, 12 und 249 EGV55 . Diese Sichtweise ist vom EuGH 56 später ausdrücklich auf den Bereich der Grundrechte ausgedehnt worden. Nach seiner Ansicht ist es damit nicht zulässig, sich gegenüber einem Rechtsakt der EG auf eine Verletzung nationaler Grundrechte zu berufen, sei sie auch noch so schwer. Prüfungsmaßstab für die Maßnahmen des EG-Rechts ist danach allein das übergeordnete Gemeinschaftsrecht und die darin enthaltenen Grundrechte. Konsequenterweise nimmt der EuGH 57 auch den uneingeschränkten Vorrang des EG-Rechts vor jeglicher Norm des deutschen Verfassungsrechts an. Dem grundsätzlichen Ergebnis des Vorrangs hat sich das BVerfG angeschlossen mit der leicht differierenden Begründung, daß nicht der eigenständige Charakter 52 Erforderlich ist ein hinreichend klarer Regelungsgehalt der Gemeinschaftsnorm, so daß Voraussetzung einer Kollision i.d.R. deren unmittelbare Anwendbarkeit sein wird, dazu Burgi S. 22; Komendera S. 34 ff.; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EGRechts, S. 3. 53 Z. B. Art. 29 IV VA 3 Irische Verfassung; Art. 94 Niederländische Verfassung, näher dazu Streinz. Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 356 ff. 54 Grundsatzurteil EuGH Sig. 1964, 1251 (Costa/ENEL); Überblick zur Entwicklung bei Oppennann Rn. 616 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. ss EuGH Sig. 1964, 1251, 1269 ff. (Costa/ENEL); später wurde noch Art. 83 11 EGV (früher Art 8711) herangezogen: EuGH Sig. 1969, I. 14. S6 EuGH Sig. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft). 57 EuGH Sig. 1978.629 (Simmenthal).
46
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
des EG-Rechts, sondern der dahingehende Rechtsanwendungsbefehl des Art. 23 I GG (früher Art. 24 I GG) dafür verantwortlich sei. Ausschließlich die Mitgliedstaaten seien als Herren der Gemeinschaftsverträge befugt, Inhalt und Umfang der Tätigkeitsfelder der Gemeinschaften zu bestimmen. Allein ihnen obliege es daher, das Verhältnis ihrer Rechtsordnung zum Gemeinschaftsrecht festzulegen und den EG-Normen Vorrang zu verschaffen. Damit kann im Einzelfall eine Ausnahme vom Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts zulässig oder sogar geboten sein. Innerstaatliche Gesetze können nach Sicht des BVerfG nur soweit verdrängt werden, wie die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten reicht. Fraglich kann deshalb sein, in welchem Umfang die Bundesrepublik überhaupt den Rechtsanwendungsbefehl für gemeinschaftsrechtliche Normen erteilen kann. Die Beurteilung dieser Frage, im Ergebnis die Normenkontrolle über die Zustimmungsgesetze zu den EG-Gründungsverträgen und mittelbar auch über das Primärrecht, nimmt das BVerfG nach wie vor für sich in Anspruch 58 . Wahrend also nach Ansicht des EuGH den nationalen Gerichten keine Jurisdiktionskompetenz über Gemeinschaftsrechtsakte zusteht, da nur er selbst als allein zur Auslegung des EGV zuständiges Organ (Art. 220 EGV) über Vorrangfragen entscheiden kann, kann das BVerfG nach seiner Rechtsprechung über die Reichweite der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 I GG selber judizieren, da der Bund nicht schrankenlos zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt wird59 . b) Rechtsfolgen des Vorrangs Folge des Vorrangs ist, daß die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte gemeinschaftsrechtlich verpflichtet sind, die entgegenstehende innerstaatliche Norm, auch Strafnorm 60 , außer Anwendung zu lassen und der Gemeinschaftsrechtsnorm den Vorzug zu geben. Dazu bedarf es weder einer Remonstration des Beamten bei seinem Vorgesetzten noch, im Falle des Richters, einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 I GG. Der Vorrang erstreckt sich auf vorheriges und zukünftiges Recht, die lex-posterior-Rege1 gilt insoweit nicht. Es handelt sich nach ganz überwiegender Ansicht um einen Anwendungsvorrang, der die Gültigkeit des entgegenstehenden mitgliedstaatlichen Rechts unberührt läßt61 . Die entgegenstehende Norm ist damit im Kollisionsfall lediglich unanwendbar, soweit und solange sie im Einzelfall unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Es liegt kein Geltungsvorrang BVerfGE 52, 187; 73, 339; 73, 379; 75, 223. Schweitzer. Staatsrecht III, Rn. 46e. 60 V gl. de Massiac RJDA 1993, 587, 590 mit zahlreichen Beispielen der französischen Rechtsprechung; Delmas-Marty, Le flou de droit, S. 108 f. , 323. 61 Z. B. Zuleeg EuR 1990, 123. 58
59
H. Die Überlagerung des nationalen Rechts
47
vor, bei dem die entgegenstehende niederrangige Norm wie bei Art. 31 GG nichtig wäre. Diese gegenüber dem nationalen Recht mildere Lösung wird als vorzugswürdig angesehen, da das Fortbestehen bestimmter Regelungen in Fällen ohne Gemeinschaftsrechtsbezug sinnvoll und erforderlich ist62 . Auch wird auf diese Weise die Souveränität der Mitgliedstaaten stärker geschont. In innerstaatlichen Sachverhalten ohne Gemeinschaftsrechtsbezug ist das nationale Recht dann unverändert anzuwenden, wodurch es U.U. dadurch zu einer umgekehrten Diskriminierung (sog. Inländerdiskriminierung, discrimination rebours) kommen kann, daß EGRecht zugunsten von Ausländern eingreift, aber der rein nationale Bereich nicht in seinem Anwendungsbereich liegt.
a
Als Folge des Anwendungsvorrangs sind die Strafverfolgungsorgane beispielsweise daran gehindert, nationale Strafrechtsnormen anzuwenden, wenn diese nicht im Einklang mit EG-rechtlichen Regeln stehen63 , da das interne Recht nicht Verhaltensweisen verbieten kann, die durch das Gemeinschaftsrecht erlaubt werden 64 . Daß diese Rechtswirkungen des Gemeinschaftsrecht auch mehrere Jahrzehnte nach seinem Inkrafttreten in der Strafrechtspflege noch teilweise unbekannt sind, zeigt ein Urteil des LG Bonn, das noch 1986 den Vorrang verkannte und ausführte: "Die Kammer glaubt dem Angeklagten nicht, daß er bei seinen steuerlichen Fachkenntnissen im entferntesten davon ausging, daß die deutsche Steuergesetzgebung durch Europäische Gemeinschaftsrichtlinien außer Kraft gesetzt wird". Diese Ansicht mußte als totale Verkennung der Rechtslage durch den BGH65 in der Revision aufgehoben werden.
2. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Im vorangegangenen Abschnitt ist erläutert worden, wie das nationale Recht im Kollisionsfall verdrängt werden kann, also daß im Falle eines tatsächlichen Widerspruchs i.d.R. die gemeinschaftsrechtliche Norm zur Anwendung gelangt. Häufig liegt aber nicht der stärkste Normenkonflikt vor, bei dem sich EG-Recht und nationales Recht diametral entgegenstehen, sondern das nationale Recht läßt einen Auslegungsspielraum, um die Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht herzustellen. Folge des Vorrangs ist dann nicht die "Neutralisierung" des nationalen Rechts, sondern nach Art. 10 EGV trifft die nationalen Behörden und GeStreinz, Europarecht, Rn. 200. EuGH Slg. 1983,2739 (Auer), EuGH EuZW 1999,52, zum Widerspruch gegen die Grundfreiheiten vgl. EuGH Slg. 1989, 195, 221 f. (Cowan / Tresor public). 64 Insoweit teilweise "Neutralisierung" des materiellen Strafrechts genannt, vgl. Haguenau RMC 1993, 351, 353; dazu auch Decocq in: Droit communautaire et droit penal, S. 3, 30 f. ; Jung/Schroth GA 1983,241,264; Guldenmund/Harding/Sherlock in: Harding/Fennel !Jörg / Swart, S. \07, \09 mit Beispielen des englischen Rechts; Bouloc RSC 1995, 810, 811 zum französischen Recht. 65 BGHSt 37, 168, 175, dazu Dannecker JZ 96,872. 62 63
48
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
richte 66 auch die Pflicht, das Gemeinschaftsrecht und seine Wertungen in ihre Entscheidungspraxis mit einzubeziehen. Wegen der Breite der möglichen Anwendungsfelder beruht die Beachtlichkeit des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Rechtsraum zum großen Teil auf diesem Institut 67 .
a) Voraussetzungen Gemeinschaftsrechtskonform auszulegen ist nicht nur nationales Recht, das in Umsetzung von Gemeinschaftsrecht ergangen ist, sondern auch sämtliche anderen Rechtsvorschriften, sofern sie einen Bezug zu den in Frage stehenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts aufweisen. Betroffen ist nationales Recht jeder Rangstufe, auch nationales Verfassungsrecht 68 . Voraussetzung ist sowohl bei der primärrechts- als auch bei der sekundärrechtskonformen Auslegung, daß das deutsche Gesetz auslegungsfähig ist. Wo der Wortlaut eindeutig und mit dem Regelungsgehalt einer EG-Rechtsnorm nicht in Übereinstimmung zu bringen ist, kommt eine Auslegung gegen den Wortlaut nicht in Betracht. Hier kann aber bei unmittelbarer Anwendbarkeit der Vorrang des Gemeinschaftsrechts die Nichtanwendung der Norm erfordern 69 . Sofern ein Spielraum besteht, ist die Auslegungsalternative zu wählen, die mit den Wertungen des EG-Rechts am weitesten übereinstimmt. Keine Voraussetzung ist es, daß die Norm, in deren Lichte die Auslegung stattfinden soll, unmittelbar anwendbar ist7o . Im Fall der richtlinienkonformen Auslegung ist umstritten, ob die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen sein muß, da diese Zeit dem nationalen Gesetzgeber zur Anpassung des nationalen Rechts gewährt wird, oder ob die Richtlinie schon vorher als Auslegungsmaßstab für nationale Normen in Betracht kommei.
b) Rechtsfolgen Die gemeinschaftskonforme Auslegung kommt als neue und eigenständige Methode zu den klassischen Auslegungsmethoden der grammatischen, teleologischen, 66 Nachzuweisen für den Bereich des Strafrechts bei BGHSt 37, 168, 174, BGH NStZ 1991,282,283, dazu Thomas NJW 1991,2233,2235. 67 Burgi S. 19. 68 EuGH Slg. 1984,1891,1909 (Colson&Kamann/Nordrhein-Westfalen). 69 Vgl. dazu Otto § 2 Rn. 58. 70 EuGH Slg. 1987, 3969 (Kolpinghuis); Scherzberg Jura 1993, 232; Jarass Grundfragen S.90. 71 So BGH NJW 1998,2208; a.A. Brechmann S. 265; näher Jarass EuR 1991,217.
11. Die Überlagerung des nationalen Rechts
49
historischen und systematischen Auslegung hinzu 72. Der EuGH 73 spricht davon, daß auf diese Weise die Gerichte nationales Recht "so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtline ausrichten" müssen. Soweit das nationale Recht in einer bestimmten Auslegung den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben genügen kann, ist damit die Wahl dieser Alternative geboten. Im Zweifelsfall ist diejenige Auslegung zu wählen, die die juristische Wirkungskraft der EG-Rechtsnorm am stärksten entfaltet. Auch Verwaltungen haben das nationale Recht "im Licht" des anzuwendenden Gemeinschaftsrechts auszulegen 74 • Mittels der gemeinschaftskonformen Auslegung sind Widersprüche zu Geboten und Verboten auch des sonstigen Gemeinschaftsrechts zu vermeiden. Konkret 75 kann beispielsweise der in einem deutschen Gesetz verwendete Begriff nicht mehr seinen herkömmlichen Inhalt aufweisen, sondern einen gemeinschaftlichen Bedeutungsgehalt besitzen. Außerdem ist es denkbar, daß durch Auslegung nunmehr der Tatbestand einer Norm Sachverhalte erfaßt, die nach herkömmlicher Auslegung nicht darunter zu subsumieren gewesen wären oder daß über die nach allgemeinen Auslegungsregeln ermittelten Rechtsfolgen eines Tatbestandes hinaus weitere Rechtsfolgen angeordnet werden. Schließlich kann der Einfluß des EG-Rechts dazu führen, daß das nach einem deutschen Gesetz eingeräumte Ermessen reduziert wird 76 .
c) Grenzen Problematisch wird die Reichweite der gemeinschaftskonformen Auslegung dann, wenn ein klar erkennbarer Widerspruch zwischen nationalem Gesetz und Richtlinie oder zwischen einer am EG-Recht orientierten Auslegung und nationalem Verfassungsrecht besteht. Hier geht es im Ergebnis um die Frage, ob die Richtlinie ein imperatives, andere Auslegungsarten überspielendes Interpretationsgebot enthält 77 oder ob das Verfassungsrecht eine bei der Berücksichtigung des EGRechts zu beachtende Grenze darstellt 78 .
72 73 74
Kohler-Gehrig JA 1998, 807. EuGH Slg. 1990, I 4159 Rn. 8; Slg. 1994, I 3325, 3357 Rn. 26. EuGH Slg. 1977,765,777 (Thieffry).
75 Zu den typischen Modifikationen des nationalen Rechts durch Auslegung s. Huber § 8 Rn. 18 ff. m. w. N. zur Rechtsprechung. 76 Zur sonstigen Berücksichtigung außerstaatlicher Normen bei der Ermessensausübung siehe den zwischen Europa-, Vcilker- und nationalem VerwaItungsrecht vergleichenden Überblick bei Bleckmann, Ermessensfehlerlehre S. 21 ff. 71 So z. B. Everling RabelsZ 50 (1986), 193, 225; Spetzler RIW 1991, 579, 580; dagegen GelIermann S. 112; umfassend dazu Brechmann S. 127 ff. 78 Grundlegend dazu Streinz. Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 164 ff.
4 lokisch
50
B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
Gegen eine Anerkennung als ranghöchstes Auslegungsprinzip spricht, daß auch der EuGH79 eine gemeinschaftsrechtsimmanente Beschränkung der Auslegung durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Rückwirkungsverbot anerkennt. Das schließt es beispielsweise aus, mit Hilfe der EG-rechtskonformen Auslegung Straftatbestände zu erweitern 8o . Der EuGH 81 führte außerdem aus, daß es allein Sache des nationalen Gerichts ist, über die Auslegungsmöglichkeiten des nationalen Rechts zu entscheiden. Damit wird anerkannt, daß eine EG-rechtskonforme Auslegung nur insoweit zum Tragen kommen kann, als das nationale Recht und die nationalen Auslegungsregeln dies gestatten 82 • Diese Beschränkung auf nationale Auslegungsregeln ist Folge des Umstandes, daß die aus Art. 10 EGV resultierende Verpflichtung aller staatlichen Organe, zur Umsetzung und Anwendung von EG-Recht beizutragen, grundsätzlich nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit zum Tragen kommt 83 . Die Grenze der gemeinschaftskonformen Auslegung liegt nach deutschen Regeln im Bedeutungsgehalt der nationalen Norm 84 . Durch die Auslegung darf einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen nationalen Vorschrift nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen oder deren grundlegender Gehalt normativ neu bestimmt werden, auch darf es nicht dazu kommen, daß das Ziel der nationalen Regelung in einem wesentlichen Punkt verfehlt wird 85 . Der Wortlaut des Gesetzes, aber auch der erkennbare Wille des Gesetzgebers bilden somit die Grenze für die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung. Mit Hilfe der EG-rechtskonformen Interpretation können daher im nationalen Recht keine neuen Rechtsinstitute geschaffen werden.
3. Die Problematik der indirekten Kollision
a) Beschreibung der Konfliktlage Ein Widerspruch zwischen den Rechtsordnungen kann aber nicht nur auftreten, wenn eine Norm des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Rechts dieselbe Frage regeln und in der angeordneten Rechtsfolge ein Widerspruch besteht (direkte Kollision), sondern auch, wenn die Durchsetzung und praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts durch die Anwendung nationalen Verfahrens- oder ProzeßEuGH Sig. 1987,3986 (Kolpinghuis), dazu Zuleeg JZ 1992,761,765. Jarass OVBI. 1995,954,958; vgl. auch EuGH vom 12. 12. 1996 RS C-74/95 wonach es der allgemeine Rechtsgrundsatz der Rechtssicherheit verbietet, Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit extensiv auszulegen. 81 EuGH Sig. 1984, 1891, 1908; 1984, 1921, 1942. 82 Jarass EuR 1991, 211, 218; Langen/eid OÖV 1992,964; Gellennann S. 107 ff. 83 EuGH Sig. 1984,1891, 1908; 1987,3969,3986. 84 BVerfGE 8, 28; BGHSt 13, 117, vgl. K / M-G Einl. Rn. 193 ff. zur parallelen Situation der verfassungskonformen Interpretation. 85 BVerfGE 71,81,105; Brechmann S. 266. 79
80
11. Die Überlagerung des nationalen Rechts
51
rechts (mittelbar) beeinträchtigt werden könnte. Die tatsächliche Wirksamkeit einer unmittelbar anwendbaren Vorschrift des EG-Rechts hängt nicht nur vom Inhalt ihrer Rechtsfolgenanordnung ab, sondern wird auch von den Auswirkungen anderer materieller nationaler Regelungskomplexe bestimmt, selbst wenn sie in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben 86 . Solche Fälle der indirekten Kollision 87 können durch die typische Verzahnung der Rechtsordnungen auftreten, die dadurch entsteht, daß die Mitgliedstaaten damit betreut sind, gemeinschaftsrechtliche Interessen durchzusetzen und dabei auch zur Berücksichtigung des EG-Rechts in Bereichen verpflichtet sind, für die die EG keine Kompetenz hat. Ein Gebiet, in dem es aufgrund des Fehlens spezieller gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen besonders häufig zu indirekten Kollisionen kommt, ist die Verwirklichung des materiellen Gemeinschaftsrechts durch nationale Behörden und Gerichte 88 . Diese mitgliedstaatlichen Organe arbeiten weiterhin nach ihrem Verfahrensrecht, das aber nicht speziell auf gemeinschaftsrechtliche Belange zugeschnitten ist und daher zu vielfältigen Konstellationen einer indirekten Kollision führen kann. Das Gemeinschaftsrecht kann beispielsweise bestimmte Folgen beanspruchen, die nach dem nationalen Prozeßrecht nicht durchzusetzen sind. So treten ganz allgemein nationale Verfahrensregelungen wie Fristen, die die Durchsetzung von Ansprüchen ausschließen, in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht, das die Durchsetzung dieser Ansprüche fordert 89 . Das führt zu einer Gefährdung des Effektivitäts- und Vollzugsanspruchs des Gemeinschaftsrechts und damit zu einer indirekten Gefährdung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts 90 . Die Problematik der indirekten Kollision kann auch im Strafprozeß relevant werden, da dort der strafrechtliche Schutz der EG-Interessen gewährleistet werden muß, ohne daß die EG insoweit Regelungskompetenzen besitzt. Es wird bei den strafprozessualen Kollisionsfällen daher nur selten eine direkte Kollision auftreten, sondern die Beeinträchtigung des Gemeinschaftsrechts wird in der Regel auf indirekte Weise erfolgen.
Grabitz / Hilf-von Bogdany-Nettesheim Art. I Rn. 36. Der Begriff wurde eingeführt durch Komendera S. 3, 143 und weiter erläutert von Huthmacher; abw. Burgi S. 23, ders. DVBI. 1995,772,775 und Stern JuS 1998,769,773, die eine indirekte Kollsision erst dann annehmen, wenn mangels unmittelbarer Anwendbarkeit eine Kollisionslage im eigentlichen Sinne entfällt und daher der Betroffene von den Wirkungen des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen bleibt; Rengeling/Middeke/Gellennann Rn. 943 unterscheiden noch zwischen "mittelbarer" und "indirekter" Kollision. 88 Zur Situation im Zivilprozeß vgl. Koch S. 28; im Verwaltungsprozeß Fragstein S. 28. 89 Vgl Z. B. die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Gebühren oder Beihilfen (dazu Teil B. H. 4. a). 90 Dazu Winkler DVBI. 1979,263,267; Schwarze NJW 1986, 1067, 1973; Kasten DÖV 1985,570,573. 86
87
4'
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
b) Lösungsmöglichkeiten (I) Eine Regel zur Auflösung des Konflikts bei indirekten Kollisionen enthält weder das deutsche noch das europäische Recht und ist auch von der Rechtswissenschaft noch nicht gefunden worden 91 . Der EuGH 92 hat das Problem auf die Weise gelöst, daß er den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auf Fälle erstreckt, in denen die Anwendung des nationalen Rechts die praktische Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung unangemessen beeinträchtigen würden, selbst wenn sie mit deren Regelungsausspruch nicht unmittelbar kollidiert. Voraussetzung der Unanwendbarkeit ist nach der Rechtsprechung des EuGH, daß die nationale Bestimmung die Verwirklichung des gemeinschaftsrechtlich bezweckten Erfolges in qualifizierter Weise behindert. Grundlage des Vorrangs bei der indirekten Kollision ist die allgemeine Verpflichtung der Staaten, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Um eine einheitliche Realisierung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, können damit dem nationalen Verfahrens- oder Prozeßrecht im Fall der indirekten Kollision gemeinschaftsrechtliche Grenzen gezogen sein, es kann verdrängt oder modifiziert werden 93 . Umgekehrt ist es genauso denkbar, daß durch nationales Prozeßrecht gemeinschaftsrechtliche Ansprüche beeinflußt werden 94 . (2) Die Entscheidung, ob sich im Einzelfall der gemeinschaftsrechtliche Vorrang durchsetzt, hängt von einer komplexen Abwägung ab, die sich bei der Auflösung der indirekten Kollision erheblich schwieriger gestaltet als beim direkten Aufeinandertreffen unterschiedlicher Regelungsfolgen. Eine Lösung muß stets auf der Grundlage einer Gewichtung der im Konflikt stehenden Rechtspositionen und Interessen getroffen werden 95 , wobei einerseits die nationale Gestaltungsautonomie, andererseits die Effektivität des Gemeinschaftsrechts und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft96 beachtet werden müssen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, die Anforderungen an die praktische Wirksamkeit des EG-Rechts zu begrenzen. Aus Subsidiaritätsgründen wird daher postuliert, daß der Vorrang bei der indirekten Kollision im wesentlichen die Fälle betrifft, in denen der gemeinschaftsrechtlich erstrebte Erfolg nicht nur behindert, sondern "weitgehend vereitelt" oder "unangemessen beeinträchtigt" wird 97 . 91 Allgemein zu den Lösungsmöglichkeiten Huthmacher S. 142 ff.; Vorschläge und Überlegungen auch bei Jarass DVBI. 1995, 954, 959 f.; Langen/eid DÖV 1992,955, 963; Scherzberg Jura 1993, 225; Bach JZ 1990, 113. 92 Z. B. EuGH Slg. 1982, 1449, 1463; Streinz in: Isenseel Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 27 strebt dagegen eine Lösung durch Zusammenwirken mit den Gemeinschaftsorganen an für den Einzelfall. die die Gemeinschaftsbestimmungen voll beachtet. 93 Dazu Streil in: Schwarze S. 69 f.; Rengeling DVBI. 1986,306,307; Streinz Die Verwaltung 1990, 153, 157. 94 Vgl. Rengeling DÖV 1981,366,369; Everling DVBI. 1983,649,657. 95 Schmidt-Aßmann DVBI. 1993,924,931.
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Grabitz I Hilf-von Bogdany Art. 5 Rn. 8.
11. Die Überlagerung des nationalen Rechts
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Wegen des nur schwer zu bestimmenden Aussagegehalts dieser Anforderungen ist der Abwägungsvorgang bei indirekten Kollisionen aber bzgl. des Ergebnisses mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet. (3) Zudem ist bislang nicht allgemein geklärt, wann genau ein Fall der indirekten Kollision vorliegt, da insbesondere die Abgrenzung von der direkten Kollision im konkreten Fall große Schwierigkeiten hervorrufen kann 98 . Trotz dieser bestehenden Abgrenzungsschwierigkeiten ist aber die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Kollision durchaus von praktischer Relevanz, da bei direkten Kollisionen eine Vermutung dahingehend besteht, daß das nationale Recht im Wege des Anwendungsvorrangs verdrängt wird. Nur im Wege der Abwägung läßt sich präzise die Frage prüfen, ob das bei direkten Kollisionen anerkannte Vorrangprinzip auf Fälle der vorliegenden Art ausgedehnt werden darf9. Aufgrund der nur schwer vorhersehbaren Rechtsfolgen bei der Abwägung, die dazu noch zusammentreffen mit einem Einflußbereich, der aufgrund der Breite der möglichen Anwendungsfalle nur schwer abgrenzbar ist, wird es als wichtige Aufgabe der Rechtswissenschaften angesehen, hierfür sachgerechte Eingrenzungen zu finden l()(). 4. Grenzen des Vorrangs
Die Grenzen der Öffnung der deutschen Rechtsordnung sind im Spannungsfeld zwischen dem grundsätzlichen Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der Bindung der Staatsgewalt an die verfassungsmäßige Ordnung zu bestimmen 101. Der EuGH darf über die Grenzen, die das nationale Verfassungs- und Verfahrensrecht den nationalen Richtern zieht, nicht leichtfertig hinweggehen 102. Eine abstrakte, einheitliche Festlegung dieser Grenzen ist jedoch angesichts der unterschiedlichen betroffenen Rechte und ihren rechtlichen Konsequenzen de facto ausgeschlossen. Vielmehr sind die Grenzen sowohl aus europarechtlicher als auch aus nationaler Sicht festzulegen und dann in einem Abwägungsvorgang für den konkreten Fall zu gewichten. Zu unterscheiden sind dabei die Grenzen des Vorrangs, die bereits dem Europarecht immanent sind 103 und solche, die durch die nationale Rechtsordnung gesetzt werden 104. Grabitz/Hilf-von Bogdany/Nettelsheim Art. 1 Rn. 38. Komendera S. 163 mit dem Beispiel der strafrechtlichen Sanktionen. 99 Huthmacher S. 140. 100 Dazu Nettesheim in: Grabitz-GedSchr, S. 447, 459 ff.; Jarass DVBL 1995,954,960. 101 Vgl. Waitz von Eschen BayVB11991, 321, 324; Schmitt GlaeserS. 72 ff. 102 Bleckrnann-Bleckmann, Europarecht, Rn. 733. 103 Auch "Grenzen des Übertragenen" (vgl. Burgi S. 24) oder "Binnengrenzen des Gemeinschaftsrechts" (vgl. Schilling Der Staat 1994, S. 555) genannt. 104 Auch "Grenze des Übertragbaren" genannt (vgl. Burgi S. 25). 97 98
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
a) Europarechtliche Grenzen (J) Allgemeine Rechtsgrundsätze
(a) Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht ist der Vorrang immanent beschränkt durch die al1gemeinen Rechtsgrundsätze, insbesondere die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene, die stets Maßstab für das Handeln der EG und die Rechtmäßigkeit von auf Gemeinschaftsrecht beruhenden Rechtsakten sind. Die al1gemeinen Rechtsgrundsätze verfolgen oftmals Ziele, die ihrerseits mit den Forderungen einer unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsnorm nach uneingeschränkter Geltung kol1idieren. Sofern nationales Recht eine derartige unmittelbar anwendbare Norm einschränkt, kommt den Rechtsgrundsätzen die Aufgabe zu, den rechtlichen Rahmen dafür abzustecken, daß nationales Recht nicht der Vorrangwirkung unterfäl1t. Dies hat zur Folge, daß nationale Vorschriften, die den Vorrang beschränken, nicht verdrängt werden, wenn der ihnen zugrundeliegende Zweck sich in Einklang mit den al1gemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts befindet 105 . Die Geltung des nationalen Rechts muß also nur dort in Frage gestel1t werden, wo sie dem Gemeinschaftsrecht widerspricht. Unter Gemeinschaftsrecht ist dabei aber nicht nur die jeweils unmittelbar anwendbare Einze1norm zu verstehen. Der Begriff ist hier vielmehr weiter zu fassen, im Sinne eines die Gesamtheit von Einzelnormen tragenden Rechtssystems lO6 • Hierzu zählen auch die Rechtssätze des nationalen Rechts, soweit sie in Übereinstimmung mit den übergeordneten Regelungszielen des EG-Rechts zur Komplettierung der Gemeinschaftsordnung beitragen. (b) Dies sol1 anhand einer grundlegenden Entscheidung des EuGH I07 deutlich gemacht werden. In diesem Fal1 ging es um die Rückerstattung von Gebühren, die eine staatliche Stel1e EG-rechtswidrig erhoben hatte. Dem Belasteten steht aus EG-rechtlicher Sicht ein Rückerstattungsanpruch zu, der aber im konkreten Fal1 wegen Überschreitung der Widerspruchsfrist (§ 70 VwGO) zurückgewiesen wurde. Denkbar wäre es nun, daß bei dieser indirekten Kol1ision der europarechtlich begründete Anspruch aufgrund des Effektivitätsprinzips Vorrang vor der nationalen Verfahrensnorm hätte, die diesen Anspruch durch Aufstel1ung von Verfahrensfristen beschränkt. Der EuGH führte dazu aus, daß zwar nationale Verfahrensregeln die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Gemeinschaftsrecht nicht unmöglich machen dürften 108, aber die Festlegung von Fristen vom "grundlegenden Prinzip der Rechtssicherheit" gedeckt sei. Somit wurde der grundsätzlich anzunehmende Vorrang des im EG-Recht begründeten Anspruchs durch die nationale Ver105 106 107 108
Koch S. 51 ff.; Huthmacher S. 188 ff., vgl. auch Pühs S. 196. Huthmacher S. 183. EuGH Slg. 1976, 1989, 1999 (Rewe), vgl. dazu die Erläuterungen bei Fragstein S. 71 ff. Vgl. dazu die allgemeinen Vorgaben für das Prozeßrecht unten Teil B. IV. 3.
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fahrensnorm zulässigerweise beschränkt, da diese die nationale Konkretisierung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes darstellt. Ebenso wird die Rücknahme einer gemeinschaftsrechtswidrig gewährten Beihilfe für die deutsche Behörde, ungeachtet des Vertrauensschutzes in § 48 II VwVfG, nur soweit zur Pflicht, wie ein gemeinschaftsrechtlich (nicht national) schutzwürdiges Vertrauen des Empfangers nicht entgegensteht 109. (c) Als Grenzen des Vorranganspruchs bei der direkten und indirekten Kollision sind somit, ebenso wie bei der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung, die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu beachten. Im Ergebnis findet auf gemeinschaftsrechtlicher Seite stets eine Abwägung zwischen der vollen Wirksamkeit einer konkreten Regelung und den übergeordneten Zielen der allgemeinen Rechtsgrundsätze statt "0. (2) Keine Kompetenzüberschreitung
Kompetenzgrundlage des Gemeinschaftshandelns sind die Gemeinschaftsverträge, denen auch der Gesetzgeber in Deutschland seine Zustimmung erteilt hat. Der Gemeinschaft ist dadurch ein Rahmen gezogen, den sie nicht eigenmächtig verlassen darf. Das sog. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bringt zum Ausdruck, daß die Kompetenzen der Gemeinschaft von den Mitgliedstaaten abgeleitet sind. Problematisch ist, daß der EuGH bei der Auslegung der gemeinschaftsrechtlich zugestandenen Kompetenzen im Gegensatz zum deutschen Recht nicht klar zwischen Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung unterscheidet und, in Anlehnung an die französische Auslegungsdoktrin, auch Fälle klarer Rechtsfortbildung noch als Interpretation bezeichnet 111. Grundsätzlich ist dies auch vom BVerfG akzeptiert worden, da das Gemeinschaftsrecht als "neue Rechtsordnung" zwangsläufig Lücken enthält, die aus rechtsstaatlichen Gründen nicht hingenommen werden können. Zudem war offensichtlich, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind 112. Es wurde aber deutlich gemacht, daß dem EuGH keine Befugnis übertragen worden ist, auf dem Wege richterlicher Rechtsfortbildung Gemeinschaftskompetenzen beliebig zu erweitern und damit durch Auslegung im Ergebnis zu einer Vertragserweiterung zu kommen 113. 109 Dazu EuGH NJW 1999, 129; Stern JuS 1998,769,773, vgl. Grabitz/Hilf-von Wallenberg Art. 93 Rn. 74; Streinz Die Verwaltung 1990, 153; s. auch den Beispielsfall bei KamannlSelmayr JuS 1998, 148, 152 . 110 Huthmacher S. 201. 111 Siehe SchweitzerlHummer Rn. 451 ff.; Streinz. Europarecht. Rn. 495 ff.; Bleckmann NJW 1982, 1177, 1180 spricht von "dynamischer Auslegung". 112 BVerfGE 75, 223. 241 ff.
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
(3) Vertragliche Ausnahmen vom Vorranganspruch ?
(a) Der EGV gestattet den Mitgliedstaaten unter bestimmten Voraussetzungen, Maßnahmen aufrechtzuerhalten, obwohl die ganzheitliche und einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt wird. Daher könnte die Anwendung nationaler Vorschriften im Konfliktfall mit unmittelbar wirksamen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts als zulässige Ausnahme vom Grundsatz des Vorrangs gerechtfertigt sein 114. (b) Bei den vertraglichen Ausnahmen vom Vorranganspruch kann man zwischen zwei Gruppen von Vorschriften unterscheiden: den sog. Schutzklauseln 115, die eine Freistellung von gemeinschaftsrechtlichen Bindungen mit Ermächtigung bzw. Genehmigung der Gemeinschaft bewirken, und den Notstandsklauseln l16 , die eine solche Freistellung ohne Ermächtigung oder Genehmigung vorsehen. Diese Klauseln bewirken eine Freistellung von allen gemeinschaftsrechtlichen Bindungen des jeweiligen Sachbereichs. Ihre Aufgabe besteht darin, zur Überwindung größerer wirtschaftlicher Schwierigkeiten oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung von Gemeinschaftsnormen abzuweichen. Der Erlaß von Schutznormen hat jedoch gerade in der Gemeinschaft aufgrund der finalen Ausrichtung auf die Herstellung des Binnenmarktes eine besondere Brisanz, da die Einräumung staatlicher Freiräume eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Erreichung dieses integrationspolitischen Ziels bedeutet. (c) Umstritten ist, ob neben oder in Analogie zu den ausdrücklich im EGV verankerten Schutz- und Notstandsklauseln weitere "ungeschriebene Schutznormen" anerkannt werden können ll7 . Zur Begründung könnte der ungeschriebene Grundsatz des Völkerrechts, wonach Staaten in einer die Existenz bedrohenden Notstandssituation von ihren Verpflichtungen befreit sind, herangezogen werden. Dementsprechend hatte sich die Regierung von Großbritannien in einem Verfahren 1l8 , in dem es um die Vereinbarkeit einer nationalen Verfahrensnorm mit dem Gemeinschaftsrecht ging, auf "wichtige Gründe der öffentlichen Ordnung" berufen und damit konkludent auf die erwähnten Notstandsklauseln abgestellt 1l9 . Weder der EuGH noch der Generalanwalt haben sich im angesprochenen Verfahren mit einer (evtl. analogen) Anwendung der Notstandsklauseln als vertragliche Ausnahme vom Vorranganspruch auch nur auseinandergesetzt. (d) Dies erscheint konsequent, da die Schutz- und Notstandsklauseln nur die Aufgabe haben, in bestimmten klar definierten Fällen dem Staat die Möglichkeit BVerfGE 89, 155 LS 6 (Maastricht). Dazu Koch S. 54 ff. und Pühs S. 186 ff. m Z. B. Art. 76, 95 V, 134 EGY. 116 Z. B. Art. 30, 39 III, 46 EGV. 117 Dazu BBPS-Beutler S. 94 und Pühs S. 190. 118 EuGH Sig. 1990, I 2433, 2440 (Factortame). 119 Koch S. 54. 113
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zur Abweichung von einer Gemeinschaftsnonn zu geben. Diese Fälle sind aber eng auszulegen und daher nicht analogiefähig 120, zudem dürften solche Fälle einer massiven Gefährdung staatlicher Interessen im abgestuften System vertraglich geregelter Ausnahmetatbestände die absolute Ausnahme darstellen 121. Dies bedeutet aber nicht, daß die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei der Vorrangfrage keine Rolle spielt. Die grundlegenden Wertentscheidungen eines Staates finden Berücksichtigung bei den sogleich zu erörternden Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsennächtigung.
b) Verfassungsrechtliche Grenzen (1) Das Grundgesetz konzipiert die Bundesrepublik als einen offenen Nationalstaat, der u. a. an der europäischen Integration mitwirken, sich kollektiven Sicherheitssystemen anschließen und die allgemeinen Regeln des Völkerrechts achten soll. Diese Bekenntnisse zu einer internationalen Kooperation Deutschlands zusammenfassend wird auch von der "offenen Staatlichkeit" des Grundgesetzes gesprochen 122 . Aus diesem Grunde können in Deutschland Rechtssätze des Gemeinschaftsrechts zur Anwendung gelangen und evtl. sogar nationales Recht verdrängen, ohne daß es eines Transfonnationsaktes des deutschen Gesetzgebers oder anderer Staatsorgane bedarf. Seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung findet diese unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts in der Integrationsennächtigung des Art. 23 GG (früher Art. 24 GG), seine rechtliche Grundlage im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen.
Noch zur alten Rechtslage des Art. 24 GG hatte das BVerfG I23 die Grenzen der Integrationsennächtigung negativ dahingehend fonnuliert, daß diese Vorschrift die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen "nicht schrankenlos" zulasse, genauer "die Identität der geltenden Verfassungsordnung ( ... ) durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen" nicht aufgegeben werden dürfe. Dahinter steht die Erwägung, daß das Grundgefüge der Verfassung auch vor der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft Bestand haben muß und weder durch primäres noch durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geändert werden kann. Die Grenze für den Einfluß des Gemeinschaftsrechts bildet somit die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Einer konkreteren positiven Festlegung über die Fonnel "Essentiale, Grundgefüge, Identität der Verfassung" hinaus konnte sich das BVerfG jedoch bis jetzt entziehen. 120 So auch Koch S. 54, a.A. Huthmacher S. 175, der in den Schutz- und Notstandsklauseln ein integriertes gemeinschaftliches Konzept zur Sicherung des ordre public sieht, das in die Grenzen der Vorrangs integriert werden kann. 121 Pühs S. 191; vgl. aber Bleckmann-Bleckmann, Europarecht, Rn. 2923 ff. 122 Dazu Streinz, Europarecht, Rn. 73 ff.; Schweitzer. Staatsrecht II1, Rn. 93 ff.; Schmitt Glaeser S. 58 ff. 123 BVerfGE 58, 1, 40; 73, 339, 375.
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
(2) Letztlich wäre die Existenz der Gemeinschaft jedoch in Frage gestellt, wenn jeder Mitgliedstaat seine eigenen Maßstäbe an das Gemeinschaftsrecht anlegt und danach über dessen Geltung in seinem Hoheitsgebiet entscheidet l24 . Gerade in einem Staat wie der Bundesrepublik, in der fast jede politische Frage verfassungsrechtlich determiniert ist, könnte die Rücksichtnahme auf verfassungsrechtliche Belange vernichtende Folgen für die einheitliche Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts haben 125. Die Schranken der Integrationsermächtigung sind nunmehr positiv in Art. 23 I GG in Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG fixiert worden l26 . Danach wird die weitere Übertragung von Hoheitsrechten, und damit auch der Rechtsanwendungsvorrang, von der Gewährleistung eines dem "Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes" abhängig gemacht. (3) Das Gemeinschaftsrecht und seine Auswirkungen müssen daher nicht in vollem Umfang den Vorgaben des Grundgesetzes entsprechen und die Grundrechte in ihrer konkreten Ausgestaltung beachten. Die in mitgliedstaatlichen Verfassungen enthaltenen Prinzipien können nur in einer den Eigenheiten der Gemeinschaft angepaßten Form in die Verfassung der Gemeinschaft Eingang finden. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden also durch eine systemkonforme Einbeziehung des Europäischen Gemeinwohls in die deutsche Grundrechtsdogmatik reIativiert 127 , wobei dessen grundlegende Strukturprinzipien mit Art. 79 III GG als Mindestschranke angesehen werden. Nur wenn die in Art. 79 III GG niedergelegten Grundsätze und damit die unabänderlichen Verfassungsprinzipien angetastet werden, findet das Gemeinschaftsrecht in Deutschland keine Anwendung. Hält es sich dagegen in diesen engen Grenzen, so ist es verbindlich und geht dem nationalen Recht, auch dem Grundgesetz, vor. Art. 79 III GG fordert zwar keine strikte strukturelle Kongruenz zwischen supranationaler und deutscher Hoheitsgewalt, es wird aber überwiegend eine "Homogenität" der demokratischen und rechtsstaatlichen Wertvorstellungen gefordert 128 • Zugunsten des Staatsziels der europäischen Integration 129 wurden somit Relativierungen und Durchbrechungen verfassungsrechtlicher Grundsätze vorgesehen, die dazu führen, daß die Gemeinschaftsorgane verbindliche Rechtsakte erlassen können, die wegen der umfassenden Bindung deutscher Staatsorgane an das Vgl. Waitz von Eschen BayVBI1991, 324. Zutreffend Grabitz/Hilf-von Bogdany Art. 5 Rn. 82; vgl. auch Pühs S. 201. 126 Vgl. dazu Maunz I Dürig-Scholz Art. 23 Rn. 9 ff., aufgrund des durch die Verträge von Maastricht erreichten Integrationsstadiums wurde die verfassungsrechtliche Behandlung der EU lediglich als "zwischenstaatliche Einrichtung" nicht mehr als ausreichend angesehen, die "neue rechtliche Qualität" machte eine Neuregelung erforderlich, dazu Scholz NJW 1992, 2593; Huber§ 3 Rn. 4ff., krit. BreuerNVwZ 1994,417. 127 Vgl. Streinz. Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht. S. 247 ff.• 295. 128 Stern. Staatsrecht Bd. I, S. 536. 129 Dazu Sommennann DÖV 1994,596, Burgi S. 25. 124 125
II. Die Überlagerung des nationalen Rechts
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GG für den nationalen Bereich nicht zulässig wären 130. Im Ergebnis ist die nationale Grenze der Integration und damit auch des Vorrangs vor nationalen Vorschriften festzustellen in einer Abwägung zwischen dem öffnungs bereiten Staat bzw. dem völkerrechtsfreundlichen Grundgesetz und dem Kernbereich bzw. den Grundstrukturen eines Staates 13l . (4) Diese Problematik des grundrechtlichen Vorbehalts gegenüber den Rechtsakten der Gemeinschaft, im Kern ein fortbestehender Kompetenzkonflikt mit dem EuGH, ist in der Praxis jedoch weitgehend entschärft 132 . Hatte das BVerfG noch im Solange I-Beschluß l33 die Etablierung eines formell und materiell mit dem des Grundgesetzes vergleichbaren Grundrechtskataloges gefordert, so trug es im Solange II-Beschluß l34 der Grundrechtsentwicklung auf Gemeinschaftsebene Rechnung und bescheinigte der EG die Existenz eines ausreichenden Grundrechtsschutzes, der durch den EuGH gewährleistet werde. Daher übt das BVerfG seine Gerichtsbarkeit nicht, bzw. nur in einem "Kooperationsverhältnis" mit dem EuGH 135, aus, solange sich das Niveau des Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene nicht generell und offenkundig verschlechtert. Im Ergebnis verbleibt dem BVerfG lediglich eine, angesichts der um Erweiterung und Effektuierung des Grundrechtsschutzes bemühten Rechtsprechung des EuGH praktisch nur noch in Ausnahmefällen bedeutsamen, Restkompetenz zur Korrektur eines von Verfassungs wegen nicht mehr hinnehmbaren Gewährleistungsgefälles zwischen gemeinschaftsrechtlichen und grundgesetzlichen Grundrechtsstandards 136.
c) Zusammenfassung Treffen Gemeinschaftsrecht und nationales Recht im Fall einer direkten oder indirekten Kollision aufeinander, so tritt grundsätzlich die nationale Norm auf die beschriebene Art und Weise zurück. Der Vorranganspruch des Gemeinschaftsrecht ist aber sowohl aus gemeinschaftsrechtlicher als auch aus nationaler Sichtweise beschränkt. Er kann gemeinschaftsrechtsimmanent begrenzt sein durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Es ist daher zu überprüfen, ob die Beschränkung der unmitStreinz in: Isensee/ Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, § 182 Rn. 32. Drastischer fonnuliert Kirchhof! in: Isensee/ Kirchhoff, Handbuch des Staatsrechts, § 183 S. 855, 856 "zwischen Europaoffenheit und Selbstaufgabe des Staates", vgl. auch Schmitt Glaeser S. 86. 132 Neßler DVBI. 1993, 1240, 1246. 133 BVerfGE 37, 271. 134 BVerfGE 52, 187,202 ff., dazu Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz, S. 37 ff. 135 BVerfGE 89, 155 (Maastricht). 136 So zutreffend GersdoifDVBI. 1994,674. 130 131
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
telbar wirksamen Nonn durch nationales Recht durch die übergeordneten Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gedeckt ist. In diesem Fall tritt die Vorrangwirkung nicht ein. Liegt eine solche immanente Beschränkung nicht vor, so ist zu prüfen, ob die in Frage stehende nationale Nonn zum Kernbereich der nationalen Rechtsordnung gehört, der nicht durch Einwirkung supranationalen Rechts angetastet werden darf. Liegt ein solcher Eingriff in die durch Art. 23 GG und die Rechtsprechung des BVerfG vorgezeichneten Grundstrukturen vor, so kann sich ebenfalls das Gemeinschaftsrecht nicht durchsetzen.
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts 1. Einführung in die Problematik Nach den allgemeinen Erläuterungen zur Einwirkung des Gemeinschaftsrecht auf das nationale Recht soll nun das Sanktionensystem zum Schutz des Gemeinschaftsrechts erläutert werden, in das sich das nationale Strafrecht einfügt und daher ebenfalls starken europäischen Einflüssen ausgesetzt ist. Das Gemeinschaftsrecht enthält als eigenständige Rechtsordnung Ge- und Verbote, die sich nicht nur an die vertragsschließenden Staaten, sondern auch an den einzelnen Bürger richten können und die, wie jedes Rechtssystem, der Durchsetzung durch Sanktionen bedürfen 137 . Die zunehmende Bedeutung der EU in allen Rechtsbereichen führt dabei zu neuen europäischen Rechtsgütern und Schutzbedürfnissen, die in die nationalen Systeme von repressiven Sanktionen erst integriert werden müssen. Zur Verhinderung der gemeinschaftsrechtsspezifischen Delinquenz entsteht zur Zeit in der EU ein neues sanktionsrechtliches System, das sowohl nationale als auch supranationale Maßnahmen einschließt 138. Es ist nicht nur auf das klassische Kriminalstrafrecht beschränkt, sondern umfaßt daneben auch das Ordnungswidrigkeitenrecht sowie verwaltungs- und zivilrechtliche Sanktionen. Dieses System soll im folgenden analysiert werden. Bevor erläutert wird, welche Sanktionen dabei den Staaten und der EG zur Verfügung stehen, ist es zunächst erforderlich, sich über die dadurch zu schützenden Güter und Interessen klar zu werden.
137 Zu Aufgaben und Existenzberechtigung des Strafrechts WesselslBeulke Rn. 4 ff. m. w. N.; grundlegend zu den Wechselwirkungen zwischen Regelungsmaterie und Sanktionierung Tiedemann. KarteIlrechtsverstöße und Strafrecht, S. 95 ff. 138 Zu der Sanktionstypen Appel DVBI. 1995, 280.
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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2. Geschütztes Rechtsgut
a) Durch das Zusammenspiel von nationaler und supranationaler Sanktion soll ganz allgemein "das Gemeinschaftsrecht" geschützt werden. Die Frage nach einer Präzisierung des Begriffs "Schutz des Gemeinschaftsrechts" läßt sich aber nur differenzierend beantworten. Sanktionen sichern nicht nur unmittelbar die Geltung von Rechtsnormen der EG, sondern eine Vielzahl gemeinschaftsrechtlicher Einzelinteressen, die sich auch aus nationalem Recht ergeben können, sofern es EGRecht umsetzt oder zumindest davon beeinflußt wird 139 . Da das Sanktionensystem damit nicht nur eingreift, wenn ein Bürger gegen eine unmittelbar anwendbare Norm des Gemeinschaftsrechts verstößt, sondern auch, wenn eine nationale Norm gemeinschaftsrechtliche Interessen beinhaltet, wäre es inkorrekt, von Sanktionen bei "Verletzung des Gemeinschaftsrechts" zu sprechen. Besser ist es, von Sanktionen zum "Schutz des Gemeinschaftsrechts bzw. der Gemeinschaftsinteressen,.140 oder "Sanktionen mit dem Zweck, die Beachtung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen" 141 , zu sprechen. b) Bei der Feststellung, welche gemeinschaftsrechtlichen Interessen im Einzelnen durch Sanktionen geschützt werden bzw. zu schützen sind, ist vieles umstritten. Es kann aber zwischen zwei großen Gruppen differenziert werden 142 . Einerseits geht es um die Eigeninteressen der EG, also insbesondere um den Schutz ihres Haushaltes, die Unbestechlichkeit ihrer Beamten, den Schutz ihrer Geheimnisse und ihrer Rechtspflege (d. h. die Rechtsgüter der supranationalen Institutionen). Andererseits ist die Anwendung des materiellen Gemeinschaftsrechts sicherzustellen, wozu der Schutz der verschiedenen europäischen Politiken und des entsprechenden Sekundärrechts wie z. B. der gemeinsamen Wettbewerbspolitik, der Umweltpolitik oder dem Binnenmarkt, etwa im Bereich des Lebensmittelrechts gehört, sowie die Rechte der Unionsbürger, insbesondere die europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten (d. h. die Individualrechtsgüter der europäischen Bürger). Dieses System soll im folgenden nicht nach den zu schützenden Rechtsgütern erläutert werden 143, sondern gegeben werden soll ein Überblick über die verschiedenen Sanktionsinstrumente, die der EG und den Nationalstaaten zur Verfügung stehen und die Voraussetzungen ihrer Anwendung. Vgl. die Beispiele bei GrÖblinghoffS. 46 ff. So Sieber in: Geerds-FS, S. 113 ff. 141 So Haguenau RMC 1993.351:" Sanctions destinees 11 assurer le respect du droit communautaire" . 142 Zu den Schutzgütem vgl. mit teilweise abweichenden Differenzierungen Pabsch S. 47 ff.; GrÖblinghoffS. 38 ff. und die tabellarische Übersicht auf S. 185; Sieber in: GeerdsFS, S. 113. 118; [saae S. 208 ff.; Oehler in: Melanges Levasseur. S. 155.159. 143 So das methodische Vorgehen von Sieber in: Geerds-FS, S. 113, 118 ff. 139
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
c) Das System der Verflechtung von nationalen und supranationalen Sanktionen ist sowohl in dogmatischer als auch in praktischer Hinsicht mit großen Problemen verknüpft und kann daher hier nur ansatzweise erörtert werden. Dabei soll wegen der engen Verknüpfung mit dem Prozeßrecht insbesondere deutlich werden, auf welche Weise das materielle Strafrecht vom Gemeinschaftsrecht beeinflußt ist. Ohne das Bewußtsein, warum der Verfahrensgegenstand des Strafverfahrens nicht mehr nur auf einer rein nationalen Ebene betrachtet werden kann, ist es kaum möglich, auch die Überlagerung des Verfahrensrechts zu erfassen. Zudem resultieren aus der Beeinflussung des materiellen Strafrechts wichtige Prinzipien, die auch bei der Betrachtung des Prozeßrechts zu berücksichtigen sind. d) Vor der Betrachtung des materiellen Strafrechts wird der Rechtsgüterschutz der EG durch ihre eigenen Maßnahmen erläutert. Dies erfolgt vor dem Hintergrund, daß das nationale Strafrecht in Bezug auf gemeinschaftliche Interessen nur noch im Zusammenhang mit anderen Sanktionsarten gesehen werden kann. Den Schwerpunkt der Ausführungen stellen prozessuale Aspekte der Verhängung EG-eigener Sanktionen dar, um das nationale Prozeßrecht dazu in Relation setzen zu können. Zudem wird das bereits existierende gemeinschaftseigene Ermittlungsverfahrensrecht als mögliche Grundlage eines noch zu schaffenden einheitlichen europäischen Strafverfahrensrechts angesehen l44 , so daß auch im Hinblick auf die Ausführungen de lege ferenda (Teil C. I. 3.) eine Kurzdarstellung erforderlich ist.
3. Sanktionen der EG a) Sanktionskompetenz der EG
(1) Fehlende Kompetenz zum Erlaß von Strafgesetzen (a) Nach dem "Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung,,145 bedürfen die Rechtssetzungsorgane der EG einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung aus dem Primärrecht der Gemeinschaft (vgl. Art. 249 I EGV und Art. 5 EUV, sowie Art. 5 I EGV). Für strafrechtliche Maßnahmen existiert eine solche Zuweisung nicht, jedoch sind die einzelnen Ermächtigungen so weit formuliert, daß sie grundsätzlich auch strafrechtliche Maßnahmen rechtfertigen könnten 146. Es besteht aber in der Litera-
Vgl. Dannecker ZStW 111 (1999), 256. Zum Begriff vgl. Schweitzerl Hummer Rn. 335 ff. 146 Pache S. 336; Böse S. 78; vgl. auch Pache EuR 1993, 179 zu Art. 34, 37 EGV (früher Art. 40, 43). 144
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III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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tur l47 und der Rechtsprechung von EuGH I48 und BGH I49 weitgehende Einigkeit darüber, daß die Mitgliedstaaten beim Abschluß der Römischen Verträge der EG keine kriminalstrafrechtliche Kompetenz übertragen haben. Die EG kann somit weder Straftatbestände setzen noch Kriminalstrafen verhängen 150. (b) Teilweise wird dagegen geltend gemacht, das Strafrecht dürfe nicht schlechthin aus dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen werden, da die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, ihr nationales Recht in den Dienst der Integration zu stellen und ein absoluter Souveränitätsvorbehalt der Mitgliedstaaten sich gegenüber der angestrebten Integration kontraproduktiv verhalten könne l51 . Gleichwohl herrscht im Ergebnis Einigkeit darüber, daß die vertragsschließenden Staaten die Ausübung einer so wesentlichen Befugnis wie die Androhung und Verhängung echter Kriminalstrafen ohne eine entsprechende ausdrückliche Ermächtigung dem Rat nicht überlassen haben. Dafür spricht umso mehr die mangelnde bzw. nur sehr mittelbare demokratische Legitimation des Rates l52 . (c) Diese Auffassung wird auch durch die Verträge von Maastricht bestätigt, in dem die Regeln über die Kooperation in Strafsachen der intergouvernementalen Zusammenarbeit ("Dritte Säule") zugeordnet wurden l53 . Daher sahen auch in der neugegründeten Europäischen Union das Strafrecht nach wie vor als Ausdruck ihrer nationalen Souveränität an 154. Umstritten ist aber, ob durch den Vertrag von Amsterdam 155 , der den Unionsvertrag von Maastricht fortentwickelt, diese Kompetenzverteilung beibehalten wird. Insbesondere im Bereich der Betrugsbekämpfung zu Lasten der Gemeinschaft trat eine Veränderung ein. Es war bereits lebhaft umstritten, ob der frühere Art. 209a EGV als Kompetenztitel für eine rechtssetzende Tätigkeit der EG angesehen werden konnte l56 . In der Neufassung durch Art. 280 EGV wird nunmehr ausdrücklich dem Rat die Kompetenz zum "Erlaß aller not-
147 Für viele: Oehler in: Jescheck-FS 1985, S. 1399; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht Bd. 11, S. 216; Cuerda in: Schünemann/Suarez Gonzalez, S. 367, 370; Swart in: Harding/Swart, S. I, 5: "community of law without criminal law"; abw. aber Appel in: Dannecker (Hrsg.) LebensmitteIstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der EU, S. 165, 183; Böse S. 61 ff., 94. 148 EuGH Slg. 1981,2595,2618 (Casati); Slg. 1989195,221 (Cowan/Tresorpublic). 149 BGHSt25,I90, 193;27, 181, 182;41, 127, 131. 150 Tiedemann NJW 1979,1849, 1852: weder ,jurisdiction to prescribe" noch ,jurisdiction to enforce". 151 Zuleeg JZ 1992, 762; vgl. auch Appel in: Dannecker (Hrsg.), Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der EU, S. 165, 177. 152 Oehler in: Baumann-FS, S. 561, 562; [saac S. 210. 153 Sieber in: Schünemann 1Suarez Gonzalez, S. 349, 356; Dannecker WiVerw 1996, 190; s. dazu bereits oben Teil A. IV. 2. 154 WeigendZStW 105 (1993), 775 m. w. N. 155 Unterzeichnet am 02. 10. 1997, vgl. BR-Drucks. 784/97. 156 Vgl. dazu GI T 1 E-Bieber Art. 209a Rn. 23 ff.; Grabitz 1 Hilf-Magiera Art. 209a Rn. 18, 22 jeweils m. w. N.
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
wendigen Maßnahmen in den Bereichen der Vorbeugung und Bekämpfung von Betrügereien gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft" zugestanden. Aus dieser Formulierung wird aufgrund der Ergänzung des früheren Art. 209a EGV teilweise eine partielle (Kriminal-) Strafrechtssetzungskompetenz der EG abgeleitet 157, da die Gewährleistung gleichmäßigen Schutzes durch die nationalen Strafrechtsordnungen zwingend die Befugnis einschließen soll, das nationale Strafrecht durch supranationale Regeln zu ergänzen, wo es notwendig erscheint. Wird z. B. ein Strafschutz gegen leichtfertige Subventionserschleichung für notwendig gehalten, so soll der Rat unter dem Vorbehalt der Notwendigkeit einen solchen Straftatbestand schaffen können, der dann freilich in solchen Ländern keine Anwendung findet, die bereits leichtfertige oder sogar fahrlässige Erschleichung unter Strafe stellen. Auch bereichsspezifische supranationale Regeln des Allgemeinen Teils sollen jedenfalls soweit erlassen werden können, soweit sie die Reichweite der Strafbarkeit betreffen i58 . Es wird sogar angenommen, daß die neue Fassung der Vorschrift als Ermächtigung zur Schaffung europäischer Straftatbestände, die neben dem nationalen Recht Anwendung finden, anzusehen ist l59 . In Satz 2 der Vorschrift wird aber ausdrücklich klargestellt, daß das Strafrechtssystem der Mitgliedstaaten unberührt bleibt. Dies stellt einen kompetenzrechtlichen Vorbehalt zugunsten der Anwendung des nationalen Strafrechts dar, so daß strafrechtliche Maßnahmen von der EG-Kompetenz ausgenommen werden sollten 160. (d) Eine Erweiterung auf strafrechtliche Materien hat aber die dritte Säule des EU-Rechts durch den Vertrag von Amsterdam erfahren 161. Durch die Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierter Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel kann es zu einer Harmonisierung auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts kommen (Art. 31 e) EUV). Die Rechtsangleichung ist in diesem Bereich neben dem Einstimmigkeitsprinzip aber beschränkt, u. a. durch die Wahl der Handlungsformen (Art. 34 11 EUV) und den Erlaß bloßer Mindestvorschriften l62 . Zudem handelt es sich nicht um eine gemeinschaftsrechtliche Kompetenz, sondern als Bestandteil der dritten Säule um die Zusammenarbeit souveräner Staaten. 157 Z. B. Teilnahme und Versuch, Irrtum und sonstige Gründe des Ausschlusses der Verantwortung; dazu Tiedemann GA 1998, 107, 108; ders. AGON Nr. 17, Dez 1997, S. 12; etwas unklar Berg / Karpenstein EWS 1998, 77, 81. 158 Beispiele nach Tiedemann GA 1998, 107, 108. 159 So Wolffgang / Ulrich EuR 1998, 616, 644. 160 Ebenso White AGON Nr. 16, Sept 1997, S. 3; Satzger StV 1999, 132; vgl. auch BRDrucks 784/97, S. 159. 161 Dazu s. bereits oben Teil A. IV. 2. 162 Vgl. Berg/Karpenstein EWS 1998,77,79.
1II. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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De lege lata ist damit die EG nicht zur Schaffung eines supranationalen Kriminalstrafrechts befugt l63 , was der Befugnis zur Schaffung von Verwaltungssanktionen aber nicht entgegensteht l64 .
(2) Kompetenz zur Verhängung von Geldbußen (a) Von den Kriminalstrafen sind die Geldbußen zu unterscheiden, zu deren Einführung die EG gern. Art. 83 EGV 165 ausdrücklich ermächtigt ist. Damit wird der EG für den speziellen Bereich des Wettbewerbsrechts eine Bußgeldkompetenz zugestanden, von der sie bereits mehrfach Gebrauch gemacht hat. Das Wettbewerbsrecht wird von der EG nicht nur selber vollzogen, sondern sie stellt auch die Beachtung dadurch sicher, daß den betroffenen Unternehmen im Anwendungsbereich des Vertrages auch repressive Sanktionen auferlegt werden können. Es ist von der h.M. anerkannt, daß kein Verbot besteht, über Art. 83 EGV hinaus für bestimmte Bereiche Bußgeldsanktionen im Gemeinschaftsrecht zu begründen l66 . Dies wird aus der allgemeinen Bezugnahme auf ,,zwangsmaßnahmen" in Art. 229 EGV hergeleitet, der jedoch keine allgemeine Ermächtigungsgrundlage zur Einführung von Sanktionen darstellt l67 . (b) Bei den im EG-Recht verhängten Geldbußen handelt es sich nach h. M. um Strafen im weiteren Sinne l68 , vergleichbar den italienischen, portugiesischen und deutschen Geldbußen im Ordnungswidrigkeitenrecht, das dem Gemeinschaftsrecht insoweit als Vorbild diente l69 . Die EG-Geldbußen dienen zwar auch Ahndungszwecken, weisen aber keine kriminalstrafrechtliche Qualität auf l70 . Diese Zuordnung ist angesichts der Höhe der Bußgelder von teilweise mehreren Millionen DM und den daraus folgenden einschneidenden Wirkungen nicht un"Community of law without criminallaw", vgl. Swart in: Harding 1Swart, S. I, 4. Dieblieh S. 237 ff.; Johannes EuR 1968,63, 108 ff. 165 Konkretisiert z. B. durch VO Nr 17 v. 6. 2.1962 (ABI Nr. 204/62) mit AusführungsVO v. 3.5. 1962, ferner VO Nr. 11 (ABI Nr 1121/60 v. 16. 8. 1990), VO Nr. 1017/68 (Abi Nr L 1751 Iv. 23. 7.1968), dazu Oehler, Internationales Strafrecht, S. 562 ff. 166 Z. B. wurde auch für den Agrar- und Fischereibereich aus Art. 3411 und 230 EGV (früher Art. 40 11 und 172) die Kompetenz zur Einführung und Verhängung supranationaler Geldbußen bejaht, vgl. 1iedemann in: Pfeiffer-FS, S. 114; Zuleeg JZ 1992,763; EuGH NJW 1993, 47 m.Anm. 1iedemann; krit. Sieber Z!)tW 103 (1991), 956, 972. 167 Dannecker, Strafrecht der EG, S. 42; Zuleeg JZ 1992, 760, 763; umfassend Heitzer S. 134 ff. 168 1iedemann, Karteilrechtsverstöße und Strafrecht, S. 57; ders. GA 1969, 321, 328; Mestmäcker, S. 535; Winkler S. 17; Böse S. 19; Dannecker Z!)tW 111 (1999),246, 257. 169 Thomas NJW 1991,2243; dazu auch Heitzer S. 18 ff. 170 Dies ist ausdrücklich normiert z. B. in Art. 15 IV VO 17/62, dazu Spielmann in: Tulkens/Bosly, S. 509, 511; a.A. Schroth S. 187, der die Geldbußen als Kriminalstrafen einordnet; vgl . Winkler, S. 51 und Jung/Schroth GA 1983,241,263 mit Verweis auf die niederländische Rechtslage. 163
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5 Joki,eh
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
umstritten 171. Im Ergebnis kann eine Klassifizierung jedoch dahingestellt bleiben, da die Einordnung gemeinschaftlicher Rechtsakte in nationalstaatliche Kategorien bereits methodisch angreifbar ist 172 und jedenfalls Einigkeit darüber besteht, daß aufgrund des Sanktionscharakters rechtsstaatliche Prozeßgrundsätze Anwendung zu finden haben 173. (3) Kompetenz zur Verhängung repressiver Verwaltungssanktionen
Neben der Verhängung von Geldbußen besitzt die EG noch andere Handlungsmöglichkeiten als Reaktion auf Gemeinschaftsrechtsverstöße l74 , bei denen der Sanktionscharakter aber im einzelnen umstritten ist. Beispiele für derartige Maßnahmen l75 sind Kautionsverfall l76 , Strafzuschläge, Streichung bzw. Kürzung von Subventionen für den laufenden Begünstigungszeitraum oder der künftige Ausschluß von der Subventionsgewährung 177 . Die Zulässigkeit dieser Maßnahmen ist nicht unumstritten, da sie teilweise als Strafsanktionen eingestuft werden, für die die EG über keine Kompetenz verfüge 178 . Nach Ansicht des EuGH jedoch handelt es sich bei den angesprochenen Maßnahmen um Verwaltungs sanktionen 179, zu denen die Gemeinschaft berechtigt sei, da sie zumindest für den hier bis jetzt relevant gewordenen Agrarbereich die 171 Hennau-Hublet in: Tulkens/Bosly, S. 487, 495; Haguenau RMC 1993, 351, 353, nimmt hinsichtlich der Rechtsnatur der Geldbuße eine "nature quasi-pena1e" an, geht aber hinsichtlich des Verfahrens von einem Verwaltungsverfahren aus (,,repression penale en la forme administrative"); Oehler in: Jescheck-FS, S. 1408 sieht in den Geldbußen Sanktionen sui generis, auf die strafrechtliche Grundsätze Anwendung finden. 172 So hält Sieber ZStW 1991, 956, 972 die Abgrenzung zwischen Strafrecht, OWiG und Verwaltungsstrafrecht für unmöglich und daher für ,.Etikettenschwindel" . 173 TIedenumn in: Jescheck- FS, S. 1411; nach Schu/z in: Rengeling, S. 183, 190 beinhaltet die Forderung nach rechtsstaatlichen Garantien die mittelbare Anerkennung eines Strafcharakters. 174 Dannecker; Strafrecht der EG, S. 43. 175 Ausführliche Darstellung der möglichen Maßnahmen mit Erörterung der Sanktionsqualität bei Heitzer S. 18 ff. 176 Ähnl. §§ 116 I Nr. 4, 124 StPO; vgl. dazu dazu Tiedemann, NJW 1977, 1977; BVerfG NStZ 1991,142. 177 Z. B. 12-monatiger Ausschluß in der Verordnung über Einkommensbeihilfen für Landwirte Art. 13 1II VO (EWG) 3813/89 i.d.F. VO (EWG)l279/90, ABI 1990 L 126 S. 20 sowie Art. 9 VO (EWG) 714/89 ABI 1989, L 78, S. 38 (Sonderprämien für Rindfleischerzeuger). 178 Dazu Schu/z in: Rengeling, S. 183, 195; Biancarelli in: Delmas-Marty, What kind of criminal policy for Europe, S. 249, 252; krit. auch Sieber ZStW 103 (1991), 956, 972; Weigend ZStW 105 (1993), 800; Paul TIedemann NJW 1993, 2727. 179 EuGH Sig. 1970, 1125 (Internationale Handelsgesellschaft); dazu sehr kritisch Schu/z in; Rengeling, S. 183, 196, der auf die Unklarheit des Begriffs "Verwaltungssanktion" hinweist und einen Rückfall in eine "verschuldensunabhängige pauschalisierende Erfolgshaftung" befürchtet.
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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Kompetenz habe, alle Verwaltungs sanktionen einzuführen, die für die wirksame Anwendung der Regelungen erforderlich sind 180. Die Verhängung der angesprochenen repressiven Verwaltungssanktionen ist damit in der Praxis anerkannt.
b) Allgemeiner Teil des supranationalen Sanktionsrechts Es haben sich durch die Rechtsprechung des EuGH einige Prinzipien bei der Verhängung der Sanktionen herausgebildet, die als "Allgemeiner Teil der supranationalen Sanktionen" bezeichnet werden können 181. Diese bislang ungeschriebenen Grundsätze richten sich an der zutreffenden Erkenntnis aus, daß die klassischen strafrechtlichen Garantien, insbesondere das Gesetzlichkeits- und Schuldprinzip, auch für Maßnahmen gelten müssen, die nur strafahnlich wirken, weil sie, unabhängig von der gesetzgeberischen Bezeichnung und Einordnung, auch repressive Zwecke verfolgen. Dies entspricht auch der Haltung des EGMR 182 , des BVerfG I83 und anderer europäischer Länder, die ihr Ordnungswidrigkeitenrecht ebenfalls am Kriminalstrafrecht ausrichten 184. Als elementare Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips im Gemeinschaftsrecht sind daher das Rückwirkungsverbot 185 und der Grundsatz "nullum crimen, nulla poena sine lege,,186 anerkannt. Besondere Sorgfalt verwendet der EuGH auf die Einhaltung des Analogieverbotes l87 , da angesichts der Erforderlichkeit werten180 EuGH NJW 1993,47 m. krit. Anm. Tiedemann. 181 Dazu Tsolka S. 71 ff.; Tiedemann in: Jescheck-FS S. 1411; Böse S. 149; Dannecker in: Schünemann I Suarez Gonzalez, S. 331; Wagemann S. 180; zur Bedeutung für eine europaweite Harmonisierung des kriminalstrafrechtlichen AT 1iedemann in: Lenckner-FS, S. 411, 413. 182 EGMR Publ Serie A Bd. 22, 1977, §§ 80-82 (Engel); Bd. 73, 1984, §§ 46-56 (Öztürk); EuGRZ 1985,62; dazu Jung EuGRZ 1996, 370. 183 BVerfGE 20, 323, 331; 38, 348, 371; dazu Maunz I Dürigl Herzog I Scholz Art. 103 Rn. 114, vgl. auch 1iedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 15. 184 Colette-Basecqz in: Tulkensl Bosly, S. 463; rechtsvergleichend Delmas-Marty RIDP 1988, 27 ff.,; vgl. auch die Empfehlungen des XIV Internationalen Strafrechtskongresses der AIDP in ZStW 102 (1990), 683, 684. 185 EuGH Sig. 1984,2689,2718 (Regina/Kirk), Sig. 1984,3302 (Könecke); eine Rückwirkung außerstrafrechtlicher Regelungen hat der EuGH ausnahmsweise für zulässig erklärt, die Abgrenzung zum punitiven Charakter aber hervorgehoben (EuGH Sig. 1990, I 4023); zum Rückwirkungsverbot vgl. Heukels S. 232 ff., Biancarelli RSC 1987, 131; bemerkenswert ist, daß die Grundrechtsgewährleistung des EuGH hier über die der EMRK hinausgeht, da Art. 7 EMRK nur Strafsanktionen betrifft, während der EuGH das Erfordernis der vorherigen gesetzlichen Umschreibung von Sanktionen sogar dann verlangt, wenn die Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter besitzt. 186 EuGH Sig. 1981, 1931, 1942 (Gondrand Freres); EuGH Sig. 1984, 3291, 3302 (Könekke); krit. da Verordnungen mit Gesetzen gleichgesetzt werden und dem europäischen "Gesetzgeber" die demokratische Legitimation fehlt Rupp ZRP 1990, 1,3; Bruns S. 90. 187 Vgl. dazu Danneckerl Fischer-Fritsch S. 345 ff. m. w. N. 5"
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
der Rechtsvergleichung bei Ermittlung der al1gemeinen Rechtsgrundsätze und des dynamischen Charakters des Gemeinschaftsrechts die Grenze zwischen zulässiger Auslegung und verbotener Analogie nur schwer zu ziehen ist. Es zeichnet sich deshalb im Wettbewerbsrecht ebenso wie auf dem Agrarsektor die Tendenz ab, daß Bußgelder nur in juristisch eindeutigen und schweren Fäl1e verhängt werden 188. Durch das vom EuGH anerkannte umfassende Verschuldenserfordemis l89 wurde im Ergebnis auch der strafprozessuale Grundsatz des in dubio pro reo anerkannt l90 . Damit sind al1e wesentlichen rechtsstaatlichen Prinzipien, wie sie auch im deutschen Sanktionenrecht gelten, Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. Um Fragen wie Täterschaft und Teilnahme 191 , die Anerkennung von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen l92 oder die Behandlung des lrrtums l93 zu klären, schließen die europäischen Instanzen die bestehenden Lücken ebenfalls durch Rückgriff auf die al1gemeinen Rechtsgrundsätze. Insoweit erkennt die Rechtsprechung die einzelnen Institute grundsätzlich an, wenn auch unter teilweise engeren oder abweichenden Voraussetzungen als im nationalen Recht.
c) Verfahren vor Verhängung der Sanktionen Um die ErmittIungsrechte der Gemeinschaft selber darzustel1en, sol1 hier das Beispiel des Kartel1verfahrens gewählt werden. Diese Wahl erfolgt aus der Überlegung, daß in diesem Bereich eine weitgehende Normierung durch Sekundärrecht stattfand, zudem hat die EG hier die bis dato am weitestreichenden Befugnisse, in die Rechtsstel1ung des Bürgers einzugreifen l94 . Keine andere Materie hat in Recht188 7iedemann NJW 1993, 23, 28; zur daraus folgenden Problematik der erleichterten Schein- und Umgehungshandlungen s. Reisner S. 51 ff. 189 EuGH Slg. 1983, 3721, 3740 (Thyssen), vgl. Tsolka S. 218. 190 Dannecker Strafrecht der EG S. 100; Grabitz / Hilf-Pernice Art. 15 VO 17/62 Rn. 6; vgl. aus nationaler Sicht BVerfGE 20, 323, wonach das Schuldprinzip auch für straflihnliche Sanktionen gelten muß. 191 Vgl. dazu die kartellrechtliche Kommissionsentscheidung ABI 1980, L 383, S. 26 (Gußglas in Italien), allgemein 7iedemann in: Jescheck-FS, S. 1420; Tsolka S. 268 ff.; Hamann S. 21 ff. 192 Im Anschluß an die französische Tradition kennen die Gemeinschaftsorgane keine scharfe Trennung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld. Als Gründe anerkannt sind Notwehr (EuGH Slg. 1980, 907 ff. Valsabbia 1), Notstand (EuGH Slg. 1983, 1825, 1901 Pioneer) und höhere Gewalt; eingehend dazu Wagemann S. 87 ff.; Tsolka S. 185 ff.; 7iedemann NJW 1993,23,29. 193 Unterschieden wird zwischen Tatsachen- und Rechts- bzw. Verbotsirrtum, wobei letzterer unabhängig von der Vermeidbarkeit generell unbeachtlich sein soll (str., vgl. EuGH Slg. 1983,3415; Kommission ABI 1980, L 377, S. 25); DanneckerlFischer-Fritsch S. 280 ff.; Hildebrandt S. 76 ff. mit umfangreicher Kasuistik; abw. Tsolka S. 236 ff. und Tiedemann in: Jescheck-FS, S. 1411, 1437, der jegliche Kategorisierung in nationale Begriffe ablehnt. 194 Gil/meister S. 17.
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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sprechung und Literatur über einen derartig langen Zeitraum bisher ein ähnliche Relevanz gewonnen wie das EG-Kartellrecht. Da die hier herausgearbeiteten Verfahrensrechte sich aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ableiten, müssen diese auch bei anderen Verfahren zur Vorbereitung von Sanktionen Anwendung finden, so z. B. bei der bereits eingeführten Ermittlungskompetenz zur Betrugsbekämpfung.
(1) Ermittlungsrechte der EG im Kartellverfahren Zur Durchsetzung des Kartellverbots gern. Art. 81 EGV und des Verbots des Mißbrauchs marktbeherrschender Stellungen gern. Art. 82 EGV untersucht die Kommission Fälle, in denen Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln vermutet werden. Art. 83 EGV verpflichtet den Rat, dazu alle zweckdienlichen Verordnungen und Richtlinien zu erlassen 195. Eingriffe in die Rechtssphäre von Unternehmen und Bürgern müssen dabei stets besonders normiert sein, da die allgemeine Mitwirkungspflicht aus Art. 10 EGV nur die Mitgliedstaaten als Vertragspartner betrifft, nicht aber die hier involvierten Unternehmen. Die Kommission hat weitreichende Auskunftsansprüche l96 (Art. 11 KartVO, Art. 284 EGV), nach denen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sowie Unternehmen und Unternehmensvereinigungen verpflichtet sind, über alle Tatsachen Mitteilung zu machen, die zur Durchsetzung der in Art. 85 und 86 EGV enthaltenen Wettbewerbsregeln dienen l97 . Zudem ist die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen zulässig (Art. 11 KartVO). Weiterhin hat die Kommission ein Nachprüfungsrecht bzgl. der durch Auskunft erlangten Informationen. Das Nachprüfungsrecht beinhaltet eine Mitwirkungspflicht des Unternehmens und berechtigt die Kommission, durch nationale Behörden 198 (Art. 13 KartVO) oder eigene Bedienstete (Art. 14 KartVO) Ermittlungsmaßnahmen wie Buchprüfungen, die Anfertigung von Kopien in den Räumlichkeiten der betroffenen Unternehmen vornehmen zu lassen 199. Es besteht aber nach h.M. kein Recht zur Durchsuchung 200 und Beschlagnahme201 und bei Widerstand 195 Auf der Grundlage des früheren Art. 87 EWGV erging die VO 17/62 vom 06. 02. 1962 ABI. 1962, L 13, S. 204, die wegen ihrer für das Kartellrecht grundlegenden Bedeutung im folgenden mit "KartVO" abgekürzt wird. Ergänzend wurden die Erste Ausführungsverordnung zur VO Nr. 17 (VO 27/62 vom 03. 05. 1962 ABI. 1962, L 27, S. 1118) über Form, Inhalt und andere Einzelheiten von Anträgen und Anmeldungen und die VO 99/63 (ABI. 1963, L 127, S. 2268) über die Anhörung und Beteiligung Dritter erlassen. 196 Zum Umfang vgl. Mestmäcker S. 598 f. 197 Gillmeister S. 126 ff.; zum Ablauf des Auskunftsverfahren s. Rohlfing S. 75 ff. 198 Vgl. dazu §§ 2,4 Ausführungsgesetz zur VO Nr. 17/62, BGBI. 1974 I, S. 911. 199 Vgl. umfassend Gil/meister S. 163 ff., Rohlfing S. 104 ff. 200 Str. wegen der Schwierigkeit der Abgrenzung einer Nachprüfung durch gezielte Einsichtnahme von einer Durchsuchung, vgl. Weiß, Verteidigungsrechte, S. 132 auch m. w. N. zur Gegenansicht.
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
gegen die Nachprüfung ist die Kommission nicht berechtigt, diese mit unmittelbarem Zwang durchzusetzen, sondern muß die Hilfe der Mitgliedstaaten in Anspruch nehmen 202 . Kritisch beurteilt 203 wird aus nationaler Sicht die Befugnis zum Betreten der Geschäftsräume, da diese dem Schutz der Art. 13 GG unterfallen 204 und eine Durchsuchung gern. Art. 13 11 GG nur durch den Richter angeordnet werden darf. Da aber hier keine Durchsuchung angenommen wird und das reine Betreten von Geschäftsräumen bei gesetzlicher Grundlage auch ohne richterliche Anordnung für zulässig erachtet wird 205 , wird ein Verstoß gegen das Grundgesetz überwiegend abgelehnt 206 . Es ist aber trotzdem festzuhalten, daß sich der vom Gemeinschaftsrecht gewährleistete grundrechtliche Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung im Gegensatz zur deutschen Rechtslage nicht auf Geschäftsräume erstreckt 207 . (2) Existenz rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien Nicht umfassend kodifiziert 208 sind die Verfahrensrechte der Beteiligten, insbesondere die "Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren"209. Angesichts der Grundrechtssensibilität des Verfahrens 210 sah sich der EuGH in einer Reihe von Entscheidungen gefordert, durch die Orientierung an den allgemeinen Rechtsgrundsätzen (insbesondere von Art. 6 EMRK) Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz in das EG-Kartellverfahren einzuführen 21l • Die Notwendigkeit gesicherter Rechtspositionen ergibt sich daraus, daß, wie oben gezeigt, in die RechtssteIlung der Betroffenen bereits durch das Verfahren eingegriffen wird und nicht Unstreitig, vgl. Rohlfing S. 137. § 4 II i. Y.m. § 3 I Ausführungsgesetz zur VO 17/62 verweist insoweit auf das Verwaltungsvollstreckungsgesetz, vgl. Gillmeister S. 199 sowie die Gegenüberstellung der Ermittlungsrechte nationaler und EG-Behörden bei Gillmeister S. 233 ff. 203 Von Winterfeld RIW 1 AWD 1981,801,804. 204 BVerfGE 32, 54 zum Betretungs- und Besichtigungsrecht nach § 17 11 HandwerksO. 205 BVerfGE 32, 76 f. 206 Gillmeister S. 198. 207 Dannecker ZStW 111 (1999), 256, 292. 208 Ausdrückliche Regelungen finden sich z. B. in Art. 19 KartVO bezüglich der Anhörungen, in Art. 287 EGV und 20 KartVO hinsichtlich des Schutzes des Berufsgeheimnisses und in Art. 19 III und 23 II KartVO hinsichtlich des Geschäftsgeheimnisses bei Veröffentlichungen 209 So der Titel der umfangreichen Monographie von Weiß; dazu auch Dannecker, Strafrecht der EG, S. 1127. 210 So Grabitz/Hilf-Pernice nach Art. 87 Vorbemerkung zu VO 17/62 Rn. 10; Harding S. 43; Sherlock in: Harding/Swart, S. 43, 45. 211 Dazu De Angelis in: Delmas-Marty, The Criminal Processus and Human Rights, S. 189; Harding S. 41 ff. 201
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erst durch die Sanktion 212 . Im Kartellverfahren sollten alle wesentlichen Verfahrensgarantien und alle notwendigen Verteidigungsrechte gewährleistet sein 213 . (3) Umfassend garantierte Verfahrensrechte
Die wesentliche Elemente eines den deutschen Anforderungen entsprechenden rechtsstaatlichen Verfahrens 214 werden durch Sekundärrecht und die Rechtsprechung des EuGH garantiert. So wurde der fundamentale Charakter des Anspruchs auf rechtliches Gehör vom EuGH bereits mehrfach hervorgehoben 215 . Angewendet auf das Kartellverfahren bedeutet dies, daß die betroffenen Unternehmen während des Verfahrens Anspruch darauf haben, ihren Standpunkt effektiv der ermittelnden Behörde nahe bringen zu können 216 . Zur Realisierung eines effektiven Rechts auf rechtliches Gehör und zur Umsetzung des Prinzip der Waffengleichheit 217 haben die Betroffenen ein Akteneinsichtsrecht 218 , das durch den Vertrag von Amsterdam sogar im Primärrecht festgeschrieben wurde (Art. 255 EGV). Es besteht jedoch nicht uneingeschränkt und wird enger gehandhabt als das weitgehende Akteneinsichtsrecht des Verteidigers gern. § 147 StP0219 , da Grenzen insbesondere in der Wahrung von fremden Geschäftsgeheimnissen gesehen werden 22o . Das Akteneinsichtsrecht ist andererseits aber für den Betroffenen günstiger als im deutschen Strafprozeßrecht, da es von ihm selbst ausgeübt werden kann 221 . Das Recht auf Beiziehung eines juristischen Beistandes wird in jedem Verfahrensstadium anerkannt 222 . Ähnlich wie im deutschen Recht 223 (§§ 148,97 I Nr. 1 StPO) ist auch im EG-Ermittlungsverfahren das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant besonders geschützt, um eine effektive Verteidigung zu gewähr2I2 Gillmeister S. 123. m EuGH Sig. 1983, 1825, 1880 (Pioneer); vgl auch Grabitz/Hilf-Pernice nach Art 87 vorVO 17/62Rn.9. 214 Dazu Beul/ce StPO Rn. 5. 215 Siehe insbesondere EuGH Sig. 1983,3461 Rn. 7 (Michelin), dies hat seinen Ausdruck in den Bestimmungen des Art. 19 I KartVO und Art. 3 III VO 99 I 63 gefunden; umfassend zum Anspruch auf rechtliches Gehör Girnau S. 14 ff. 216 Weiß S. 318. 217 Dazu Kerse, S. 27 ff. 218 Ausführlich Hix S. 53 ff. 219 Vgl. dazu BVerfGE 18, 405; Beulke StPO Rn. 160 ff., 603; ders. in: Dünnebier-FS S. 285; ders. Strafbarkeit Rn. 42 ff.; ders. StV 1994,572,575. 220 Dazu ausführlich Gir/Ulu S. 103 ff.
221 Im deutschen Strafprozeßrecht dagegen grds nur durch den Verteidger; K/ M-G § 147 Rn. 3; Beulke, Verteidiger, S. 142; ders,. StPO, Rn. 603; krit. dazu EGMR NStZ 1998,429 m. Anm. Deumeland. 222 EuGH Sig. 1989, 2859, 2924 (Hoechst). 223 Dazu ausführlich Beulke, Verteidiger, S. 195 ff.; Welp in: Gallas-FS, S. 391.
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
leisten 224 . Aus der Rechtsprechung des EuGH 225 ergibt sich ein Schutz der Vertraulichkeit des anwaltlichen Schriftverkehrs in ähnlich umfassender Weise wie im deutschen Strafverfahren. Für Beweismittel, die die Kommission aufgrund rechtswidriger Nachprüfungsentscheidungen oder Auskunftsbegehren, z. B. ohne Gewährung rechtlichen Gehörs, erlangt hat, gilt ein Beweisverwertungsverbot226 . Im Bereich der Verwertungsverbote sind aber mangels Normierung und Rechtsprechung noch viele Fragen offen 227 . (4) Als unzureichend beurteilte Verfahrensrechte
Als unzureichend geregelt wird jedoch in der Literatur ganz überwiegend die Problematik des Aussageverweigerungsrechts 228 angesehen. (a) Wie bereits erläutert, trifft die Beteiligten in jeder Verfahrensstufe eine Mitwirkungspflicht dahingehend, daß alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet werden müssen. Stark umstritten ist mangels ausdrücklicher Regelung, ob durch die Pflicht zur wahrheitsgemäßen Auskunftserteilung de facto ein Zwang zur Selbstbelastung besteht. Mit dem Argument des umfassenden Auskunftsanspruchs der Kommission wurde in der Praxis daher früher ein Auskunftsverweigerungsrecht gänzlich abgelehnt 229 . Der EuGH230 erkennt jedoch nunmehr an, daß trotz der Kooperationspflicht die Beweisführung für den behaupteten Rechtsverstoß grundsätzlich bei den Ermittlungsbehörden verbleibt und judiziert nach der "sybillinischen Formel"231, daß ein Aussageverweigerungsrecht nicht besteht, aber die Unternehmen nicht zu Antworten verpflichtet werden können, durch die die Zuwiderhandlung eingestanden werden müßte. Aus diesem Grund wurden einige der von der Kommission dem Unternehmen zur Beantwortung vorgelegten Fragen für unzulässig erklärt. Dies wird in der Literatur fast einhellig kritisiert 232 und als nicht konsequent zu Ende gedacht bezeichnet, insbesondere wegen der Abgrenzungsschwie224 EuGH Sig. 1982, 1575, 1585 (AM & S), vgl. dazu Schwarze EuGRZ 1986,293,296; Forrester CMLR 1983,75. 225 EuGH Sig. 1982, 1575, 1614 (AM & S) mit Bespr. Beutler RIW 1982,820. 226 Dazu Huber/ Ruegenberg ZStW 110 (1998), 279, 290; Dannecker. Strafrecht der EG, S.117. 227 Krit. daher Dannecker ZStW III (1999), 256, 294. 228 Die europarechtliche Terminologie differenziert insoweit nicht wie das deutsche Recht zwischen Zeugnisverweigerung (§§ 52, 53 StPO) und Auskunftsverweigerung (§ 55 StPO); zum Aussageverweigerungsrecht durch Zeugen bei der Gefahr selbstbelastender Aussagen liegt noch keine Stellungnahme des EuGH vor, vgl. Weiß JZ 1998,289,293 Fn. 51. 229 Kreis RIW 1981,281 mit zahlreichen Nachweisen zur Praxis, s.auch Rohlfing S. 82. 230 EuGH Sig. 1989, 3283, 3351 (Orkem), bestätigt durch EuGH Sig. 1993, I 5683, 5711 Rn. II (Ouo BV); dazu Kerse CMLR 1994, 1375, 1378. 231 So Grützner/ Reimann/Wissel Rn. 275. 232 Weiß, Verteidigungsrechte, S. 357.
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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rigkeiten zwischen einem (weiterhin nicht existierenden) Aussageverweigerungsrecht und einem zugestandenen "Geständnisverweigerungsrecht". Die Existenz eines Aussageverweigerungsrechts hängt damit von den Formulierungskünsten der Kommission bei ihrem Auskunftsverlangen ab. (b) Zwar erkennt der EuGH 233 an, daß nach Art. 14 III g IPBPR234 und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts ein Aussageverweigerungsrecht besteht, bezieht dies jedoch nur auf gerichtliche Strafverfahren, nicht auf Untersuchungen in Wettbewerbssachen. Insofern ist anzumerken, daß der EGMR 235 aus Art. 6 I EMRK ein Aussageverweigerungsrecht auch bei außerstrafrechtIichen Sanktionsformen ableitet und damit zumindest diesem Teilaspekt der Begründung des EuGH die Grundlage entzog. Trotz der bereits dargelegten Bedeutung der EMRK für die allgemeinen Rechtsgrundsätze hielt der EuGH aber auch in nachfolgenden Urteilen an seiner Rechtsprechung fest 236 . Auch die Differenzierung zwischen juristischen und natürlichen Personen bzgl. des Anwendbarkeit des nemo-tenetur-Grundsatzes 237 ist nicht konsequent, da sich das nemo-tenetur-Prinzip nicht allein aus der Menschenwürde, sondern auch aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt 238 . Im Ergebnis kann festgestellt werden, daß das EG-Kartellrecht grundsätzlich kein Auskunftsverweigerungsrecht kennt 239 , obwohl dies von der Literatur zumindest de lege ferenda 240 gefordert wird. Nur wenige Ausnahmen vom Grundsatz der Ablehnung eines Aussageverweigerungsrechts werden zugestanden im Bereich der nationalen Sicherheit (vgl. Art. 296 EGV) und zur Sicherstellung der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandanten 241 . (c) Die Rechtslage ähnelt damit dem deutschen Besteuerungsverfahren, bei dem der Beschuldigte ebenfalls zur Mitwirkung verpflichtet ist (§ 90 I AO), die gern. §§ 328 ff. AO auch erzwungen werden kann. Die in einem Besteuerungsverfahren offenbarten Informationen dürfen gern. § 30 IV Nr. 1 AO in einem Steuerstrafverfahren verwertet werden. Im Steuerstrafverfahren gilt aber wie im normalen Strafverfahren der Nemo-tenetur-Grundsatz, so daß die steuerrechtliche MitwirkungsEuGH Sig. 1989,3283,3350 (Orkem), vgl. Habetha WM 1996,2133,2137. Abgedruckt bei LR-Gollwitzer Bd. 6/2, Vorbemerkung zu EMRK und IPBPR. 235 EGMR vom 25. 2. 1993 Series A Vol 256, S. 7 (Funke), zum Schweigerecht s. auch Kühne EuGRZ 1996,572. 236 Dazu Weiß EWS 1997, 523. 237 Vgl. BVerfGE 95, 220, wonach nach deutschem Recht für juristische Personen ein Aussageverweigerungsrecht wegen Art. 19 III GG nicht existiert. 238 Dannecker ZStW 111 (1999),256, 186; näher dazu Weiß JZ 1998, 289, 292; zudem fallen im europäischen Kartellrecht unter den Unternehmensbegriff sowohl juristische als auch natürliche Personen, vgl. EuGH Sig. 1961, 109, 164 (SNUPAT). 239 EuGH Sig. 1989, 3283, 3350 (Orkem), dazu Bechtold EuZW 1992,675,676. 240 Z. B. Dannecker ZStW 111 (1999),256,285. 241 Gillmeister S. 138, 204. 233
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pflicht in Konflikt zum strafverfahrensrechtlichen Mitwirkungsverweigerungsrecht tritt 242 . Um die Aushöhlung des nemo-tenetur-Grundsatzes zu verhindern, verbietet § 393 I 2 AO daher die Androhung und Anwendung von Zwangsmitteln im Besteuerungs verfahren, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen wäre, sich wegen einer Steuerstraftat zu belasten. Obwohl die steuerrechtliche Mitwirkungspflicht bei einer steuerstrafrechtlichen Selbstbelastungsgefahr also formal bestehen bleibt, führt das Zwangsmiuelverbot faktisch zu einer Suspendierung dieser Pflicht, da eine Mitwirkungsverweigerung letztlich ohne Folgen bleibt 243 . Darüber hinaus unterliegen steuerliche Informationen, die den Strafverfolgungsbehörden oder dem Strafgericht dennoch bekannt werden, gern. § 393 11 AO einem Verwertungsverbot in Strafverfahren wegen einer Nichtsteuerstraftat. Für Delikte besonderer Schwere ist es allerdings durchbrochen 244 . Trotz der bestehenden Mitwirkungspflicht respektiert das deutsche Steuerstrafverfahren damit trotz eines ähnlichen Ausgangspunktes, anders als das europäische Kartellverfahren, das Verbot der Selbstbelastung. (5) Zusammenfassung Das EG-Kartellverfahren ist einem Strafverfahren ähnlich, da es der Vorbereitung von Sanktionen dient. Allerdings behält es den Charakter eines Verwaltungsverfahrens bei, da das ermittelnde Verwaltungsorgan (die Kommission) auch die entsprechenden Sanktionen verhängt. In der Ausgestaltung besteht insoweit eine Ähnlichkeit, als das Kartellverfahren bei den Betroffenen klassische strafprozessuale Duldungspflichten auslöst, wenn es die ermittelnden Behörden auch nicht zu schwerwiegenden Grundrechtseingriffen ermächtigt. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß für die Beteiligten (die "Beschuldigten") eine Mitwirkungspflicht existiert, die das deutsche Strafverfahren nicht kennt (nemotenetur-Grundsatz 245 ). Im Hinblick auf die Verteidigungsrechte hat sich im EG-Kartellrechtsverfahren unter Heranziehung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ein gewisser Standard herausgebildet 246 , der in weiten Teilen mit den deutschen strafprozessualen Rechten vergleichbar ist. Trotzdem wird die partiell unzureichende Ausgestaltung der Verfahrensrechte der Beteiligten kritisiert 247 , insbesondere die Lückenhaftigkeit der Aussageverweigerungsrechte stellt eine erhebliche Abweichung von in Deutschland als unverzichtbar erachteten Rechten dar. Zudem Dazu umfassend StrecklSpatschek wistra 1998,335; Rüpingl Kopp NStZ 1997,530. Hel/mann Teil VI § 3 Rn. 14. 244 § 30 IV Nr. 5a, ab und § 393 11 2 AO, krit. zur Verfassungsmäßigkeit Hel/mann Teil VI § 3 Rn. 15 m. w. N. 245 Dazu Beulke, StPO, Rn. 125 ff., vgl. zum Bußgeldverfahren § 46 V GWB. 246 Dazu EuGH Slg. 1989,2859 (Hoechst), Jansen RMC 90, 696. 247 Vgl. nur Weiß, Verteidigungsrechte, S. 3 mit zahlreichen Nachweisen. 242 243
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unterfallen im Gemeinschaftsrecht Geschäftsräume nicht dem Schutzbereich des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung. d) Ermittlungskompetenzen der EG im Rahmen der Betrugsbekämpfung (1) Neben dem Bereich des Kartellverfahrens entfaltet die EG eine eigene Ermittlungstätigkeit im Rahmen der Betrugsbekämpfung zu Lasten des Gemeinschaftshaushalts. Da dieser Bereich durch die Neufassung des Art. 280 EGV (früher Art. 209a) zunehmend an Bedeutung gewinnen wird und zudem einen erheblich stärkeren Bezug zum nationalen Strafverfahren aufweist als das Kartellrecht, soll hier eine kurze Darstellung der neu eingeführten Kompetenzen erfolgen.
(2) Aufgrund des großen Ausmaßes an Betrügereien gegenüber dem Vermögen der Gemeinschaft bemühte sich die Kommission seit Ende der 60er Jahre darum, eine eigene Zuständigkeit zur Bekämpfung dieser Betrügereien zu erhalten. Problematisch war das, weil für die Gemeinschaft eine Kompetenz zur strafrechtlichen Ahndung von Betrug auch zu Lasten der EG nicht vorgesehen war. Erst in den 80er Jahren wurde anerkannt, daß aus Gründen einer effektiven Strafverfolgung auch den Gemeinschaften eine Kompetenz zur Betrugsbekämpfung zustehen müsse, so daß diese durch die Verträge von Maastricht im früheren Art. 209a EGV verankert wurde. Es wurde aber immer wieder betont, daß auch in diesem Bereich die Strafverfolgung grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sei 248 . Im Jahr 1988 richtete die Kommission die Abteilung UCLAF249 als eigene Stelle zur Bekämpfung der Betrügereien zu Lasten der Finanzen der Gemeinschaft ein. Nach dem Rücktritt der gesamten Kommission am 16. 3. 1999, der maßgeblich auf finanziellen Unregelmäßigkeiten durch die Mittelvergabe der Kommission beruhte 25o , wurde ein Beschluß über die Einrichtung einer unabhängigen Behörde zur Betrugsbekämpfung (OLAF251) gefaßt252 . Diese mit Wirkung vom 01. 06. 1999 geschaffene neue Behörde stellt keine Unterabteilung der Kommission mehr dar, sondern arbeitet weisungs unabhängig und wird nur von einem in konkreten Untersuchungen nicht eingriffsbefugten "Überwachungsausschuß" kontrolliert. Zur Entwicklung ABI Nr. C 191 vom 23. 6. 1997, I. Unite de Coordination de la Lutte Antifraude, dazu Prieß/Spitzer EuZW 1994,297, 302; Sieber SchwZStrR 1996, 357, 386 ff.; Knudsen in: Delmas-Marty (Hrsg.), Vers un droit penal communautaire, S. 65; GTE-Bieber Art. 209a EGV Rn. 124. 250 Siehe zu Verdachtsmomenten kommissionsinterner Korruption den Sonderbericht des Rechnungshofes Nr. 8/98, ABlEG Nr. C 230 v 22. 07. 1998, S. I sowie den Bericht des Ausschusses für Haushaltskontrolle des Europäischen Parlaments A 4-0297/98 PE225.069/ end. 251 Office pour la Lutte Antifraude. 252 VO 1073/99 (ABlEG Nr. L 136 vom 31. 05. 1999, S. 1,8), vgl. bereits den Entwurf der Kommission in BR-DruckS 1022/98. 248
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
(3) Ein wesentliches Anliegen war die Verbesserung der internen Kontrolle, also die Untersuchungen innerhalb der Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen. Insoweit wurde UCLAF kaum tätig 253 , während für OLAF weitgehende Kompetenzen bestehen 254 . Die externen Untersuchungen in den Mitgliedstaaten werden von OLAF in Ausübung der vorher an die Kommission (UCLAF) übertragenen Befugnisse durchgeführt. OLAF deckt also genau wie UCLAF zunächst durch den Abgleich von Daten Unregelmäßigkeiten auf. Ein Recht, selbst Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durchzuführen, stand den Kommissionsbeamten bis 1997 nur für begrenzte Sektoren zu. In der Regel begleiteten sie lediglich die Beamten der Mitgliedstaaten bei Kontrollen. Um eine bessere Verfolgung der Betrugskriminalität zu Lasten des Gemeinschaftshaushalts zu ermöglichen, ist den Kontrolleuren in der VO 2185/96 255 das Recht eingeräumt worden, in allen Bereichen gemeinschaftlicher Mittelvergabe selbst vor Ort zu ermitteln. Voraussetzung ist jeweils, daß es sich im Einzelfall als erforderlich erweist, die Kontrollen vor Ort zu verstärken oder daß ein Mitgliedstaat einen entsprechenden Antrag stellt 256 . Als Voraussetzung für ein Eingreifen ist damit das Wort "Verdacht" vermieden, es ist aber davon auszugehen, daß sich die Formulierung der begründeten Annahme mit der im deutschen Strafprozeß geläufigen Definition des Anfangsverdachts deckt 257 . (4) Die Kontrollen sind in Zusammenarbeit mit den Behörden der betreffenden Mitgliedstaaten vorzunehmen, die auch ein Teilnahmerecht haben (Art. 4 VO 2185/96). Kontrollunterworfen sind jene Operateure, gegen die nach der Verordnung 2988/95 gemeinschaftsrechtliche Verwaltungssanktionen ergriffen werden können. Die Kontrol1eure haben ohne richterliche Genehmigung Zugang zu den Räumlichkeiten, Grundstücken, Verkehrsmitteln und sonstigen gewerblich genutzten Örtlichkeiten der kontrollunterworfenen Personen (Art. 5 2. UA VO 2185/96). In Sonderfällen bestehen diese Zugangsrechte auch gegenüber Operateuren, gegen die nicht unmittelbar ermittelt wird (Art. 53. UA VO 2185/96). Die zwangsweise Durchsetzung dieser Zugangsrechte obliegt den nationalen Stellen, die die dazu notwendigen Maßnahmen ergreifen müssen (Art. 9 VO 2185/96). Der Aktenzugang und die Kontrollgegenstände sind in Art. 7 der Verordnung geregelt. Vgl. Gieß EuZW 1999,618,619. Art. 4 VO 1073/99, vgl. auch die interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Parlament, dem Rat und der Kommission über die internen Untersuchungen (ABlEG Nr. L 136 vorn 31. 05. 1999, S. 15) sowie die Beschlüsse des Rates und der Kommission über die Bedingungen und Modalitäten der internen Untersuchungen (ABlEG Nr. L 149 vorn 16.06. 1999, S. 36, 57). 255 VO (EG / Euratom) 2185/96 ABI Nr. L 292 vorn 15. 11. 1996, 2, die aber nicht auf der Grundlage vorn früheren Art. 209a sondern Art. 308 EGV (früher Art. 235) erging; vgl. auch VO (EG/Euratom) 2988 (AbI Nr. L 312 vom 23. 12. 1995, 1) und VO (EG, Euratom) Nr. 2185 (ABI Nr. L 292 vorn 15. 11. 1996,2). 256 Dazu Kuhl Kriminalistik 1997, 105; Hamacher Kriminalistik 1996,770; Mögele EWS 1998, 1,7. 257 Ne/les ZStW 108 (1997), 727, 744; zum Anfangsverdacht s. Beulke StPO Rn. 111 . 253
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IIJ. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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Damit steht der EG eine Ermittlungskompetenz ähnlich der des Kartellverfahrens zu. Die Ermittlungsrechte sind ebenfalls weit geringer als im nationalen Strafverfahren 258 , insbesondere bleibt die Durchsuchung oder Anwendung von Zwangsmitteln den Mitgliedstaaten vorbehalten. Wichtige Verfahrensfragen, wie z. B. die Beweiserhebung, Verfahrens garantien und die Beschuldigtenrechte sind auch in bei der Schaffung von OLAF nur sehr spärlich normiert worden 259 und werden sich durch die Rechtsprechung des EuGH erst im Laufe der Zeit herausbilden können. Aufgrund der Ähnlichkeit der Ermittlungsrechte mit denen des Karteilverfahrens wird vorgeschlagen, die dafür vor allem aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleiteten Prinzipien auch im Rahmen der Betrugsbekämpfung anzuwenden 260 . (5) Neben diesen bereits bestehenden Befugnissen ist die Verpflichtung zum Informationsaustausch zwischen den europäischen Organen bzw. den Mitgliedstaaten und OLAF konkretisiert worden. Ein Novum stellt die Umsetzung von Art. 280 EGV in eine Kompetenz zur Koordination der Betrugsbekämpfung durch mitgliedsstaatliche Behörden dar, der neben der gemeinschaftseigenen Ermittlungstätigkeit in Zukunft eine wichtige Funktion zukommen könnte261 . Nach Durchführung einer Untersuchung erstellt OLAF unter Berücksichtigung der im Recht des betroffenen Mitgliedstaates vorgesehenen Verfahrenserfordernisse einen Bericht über deren Ergebnisse einschließlich von Empfehlungen des Direktors zu zweckmäßigen Folgemaßnahmen (Art. 9 VO 1073/99). Insbesondere werden auch nationale Strafverfolgungsbehörden informiert, die dann eine Ahndung entsprechend ihren nationalen Vorschriften einleiten. Die so erstellten Berichte stellen in gleicher Weise und unter denselben Bedingungen wie die Verwaltungsberichte der Kontrolleure einzelstaatlicher Verwaltungen zulässige Beweismittel in den Verwaltungs- und Gerichtsverfahren der Mitgliedstaaten dar (Art. 9 11 2,3 VO 1073/99).
4. Strafrechtliche Sanktionen der Mitgliedstaaten
Neben den gemeinschaftseigenen Sanktionen existieren kriminalstrafrechtliche Sanktionen der Mitgliedstaaten für "besonders gravierende" Rechtsverstöße 262 , denen im Interesse der Gemeinschaft und des Rechtsfriedens nur dadurch Rech258 Aus dieser Beschränkung resultiert die Forderung nach einer Europäischen Staatsanwaltschaft. vgI. dazu den "Corpus luris" in Teil C. I. 1. b). 259 Krit. dazu Gieß EuZW 1999.618.621 260 VgI. dazu die Überlegungen von Dannecker ZStW 111 (1999), 256, 290. 261 GleßEuZW 1999,618.619. 262 1iedemann, KarteIIrechtsverstöße und Strafrecht. S. 164 zur Problematik, inwieweit KarteIIrechtsverstöße einer strafrechtlichen Würdigung bedürfen; vgI. auch die amtliche Begründung zur vierten KarteIInoveIIe 1980 (BT-Drucks. 8/2136 S. 27).
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
nung getragen werden kann, daß die Rechtsordnung sie bei Strafe verbietet 263 . Zweck der Strafe ist grundsätzlich der Schutz der nationalen Rechtsordnung unter spezial- und generalpräventiven Aspekten 264 . Durch das Einwirken des Europarechts kommt als zusätzlich zu schützendes Rechtsgut die "Gemeinschaftsrechtliche Rechtsordnung" hinzu. Im folgenden sollen die Verknüpfungen des Gemeinschaftsrechts mit dem materiellen Strafrecht dargestellt werden, insbesondere auf welche Weise EG-Interessen bei der Anwendung und Auslegung Berücksichtigung finden. Dies führt zu spezifischen Problemstellungen, mit denen sich der nationale Strafrichter befassen muß und bildet die Grundlage für die hier zu untersuchende Überlagerung des Strafverfahrensrechts. Das Gemeinschaftsrecht wirkt einerseits in bereits bestehende Straftatbestände ein, andererseits besteht eine Verpflichtung der Staaten, neue Bestimmungen zu erlassen. a) Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Erlaß von Strafvorschriften ( 1) Primärrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten
(a) Es folgt aus Art. 10 EGV, daß es den Mitgliedstaaten nicht verboten ist, Strafsanktionen anzuwenden, um die Einhaltung der Verpflichtungen aus einer Richtlinie auch dann zu gewährleisten, wenn die Richtlinie selbst keinen Sanktionsmechanismus enthält 265 . Die Staaten haben aber nicht nur die Befugnis zum strafrechtlichen Schutz des Gemeinschaftsrechts, sondern sie können dazu auch verpflichtet sein. Eine automatische Ausdehnung nationaler Strafvorschriften auf EG-rechtswidriges Verhalten kann aber nicht aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EGV) folgen, da dies gegen den, auch im EG-Recht anerkannten, Nulla-poena-Grundsatz (Art. 103 11 GG) verstoßen würde 266 . Daher ist ein Tätigwerden des deutschen Gesetzgebers nötig, um die volle Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Nach der Rechtsprechung des EuGH 267 ergibt sich aus Art. 10 EGV, daß die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zu treffen haben, um Verstöße gegen BVerfGE 51,324,434, vgl. auch Wesselsl Beulke Rn. 4 ff. Zu den Strafzwecktheorien umfassend Roxin AT § 3 Rn. 2 ff. 265 EuGH Sig. 1996, 14345. 266 Söllner S. 78. 267 Grundsatzurteil EuGH Sig. 1989, 2965 (Griechischer Maisskandal) mit Anm. Tiedemann EuZW 1990, 100 und Bleckmann WUR 1991,285, vgl. auch Lück S. 31. Das Urteil bezieht sich nur auf den Agrarbereich, nach ganz h.M. sind die darin aufgestellten Grundsätze aber konsequenterweise al\gemein auf den Schutz der europäischen Interessen anzuwenden. 263
264
III. Sanktionen zum Schutz des EG-Rechts
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das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie gleichartige Verstöße gegen nationales Recht. Die Sanktionsnorm muß - wirksam, - verhältnismäßig und - abschreckend sein 268 . (b) Die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten zum Schutz europäischer Interessen ergibt sich unmittelbar aus dem Primärrecht und besteht auch ohne Aufforderung oder ein sonstiges weiteres Tätigwerden der Gemeinschaft. Der nationale Gesetzgeber muß daher jede Gemeinschaftsnorm daraufhin untersuchen, ob er zum Erlaß einer entsprechenden Sanktionsnorm verpflichtet ist und wie die Sanktion ausgestaltet sein muß. Ein Verstoß der Mitgliedstaaten gegen die Sanktionspflicht kann im Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 EGV) geltend gemacht werden. Bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes zum Schutz des Gemeinschaftsrechts und der entsprechenden Sanktion ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Gleichbehandlung mit nationalen Rechtsgütern und die ,,Mindesttrias" zu berücksichtigen. Dabei zielen die Erfordernisse der Wirksamkeit und Abschreckung auf generalund spezialpräventive Zwecke ab. Die Sanktion muß im Verhältnis zur Schwere des Verstoßes stehen, die sich nach dem Gewicht des verletzten Rechtsgutes und dem Grad der drohenden Gefahr richtet 269 . Die Verhältnismäßigkeit stellt jedoch auch eine Grenze für das zulässige Ausmaß einer Sanktion dar, da unverhältnismäßige Sanktionen nicht die Grundfreiheiten oder den Wettbewerb beeinträchtigen dürfen 27o • (c) Seit dem grundlegenden Urteil des EuGH zeichnet sich ein Wandel ab hin zu einer faktischen Assimilierung bzw. innerstaatlichen Harmonisierung supranationaler und nationaler Interessen und damit zugleich die strafrechtliche Anerkennung gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgüter. So sah der durch die Verträge von Maastricht eingeführte Art. 209a EGV vor, daß zur Bekämpfung von Betrügereien gegen die Gemeinschaft die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen ergreifen wie bei Betrügereien gegen ihre eigenen Interessen 271 • Die aus dem früheren Art. 209a EGV folgende Handlungspflicht stellte für die Staaten inhaltlich keine Neuerung gegenüber den bereits vorher vom EuGH aus Art. 10 EGV abgeleiteten umfangreichen Pflichten dar. Die positivrechtliche Normierung war aber trotzdem In der Lit. teilweise "Mindesttrias" genannt, vgl. Gröblinghoff S. 13, 24 ff. Zur Verhältnismäßigkeit von Sanktionen bereits EuGH Slg. 1984, 1891, 1909 (von Colson und Kamann) und EuGH Slg. 1976, 1931 (Donnerwo1cke). 270 Vgl. auch EuGH Slg. 1990,12911,2934 (Hansen). 271 Vgl. dazu für die deutsche Rechtslage § 264 VI StGB und § 6 Nr. 8 StGB, relevant geworden z. B. bei BGHSt 36, 373, dazu ausführlich Sann wald S. 53 ff.; Thomas NJW 1991, 2237 phrophezeit eine zunehmende Bedeutung dieses Tatbestandes. 268
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B. Grundlagen zum Verhältnis Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
nicht nur von deklaratorischer Bedeutung, da den Staaten im früheren Art. 209a II EGV zusätzlich eine Verpflichtung zur engen Zusammenarbeit auferlegt wurde 272 . (2) Verpflichtung aufgrund von Richtlinien und Verordnungen der EG
(a) Neben der Möglichkeit, die Mitgliedstaaten durch ein Vertragsverletzungsverfahren zur Einführung strafrechtlicher Sanktionen zu verpflichten, kann die EG die Staaten zur Verabschiedung nationaler Strafvorschriften anweisen. Obwohl der EGV keine ausdrückliche Grundlage hierfür enthält, wird eine solche Anweisungskompetenz 273 grundsätzlich bejaht 274 • Sie ist streng von der Kompetenz, selber Straftatbestände auf Gemeinschaftsebene einzuführen, zu trennen. Insbesondere führt die Tatsache, daß die EG selber keine Kompetenz zur Schaffung supranationaler Strafsanktionen besitzt, nicht zwangsläufig dazu, daß die Gemeinschaft keine Anweisung zur Verabschiedung von nationalem Strafrecht erteilen kann. (b) Als Rechtsgrundlage einer Anweisungskompetenz kommen zunächst Spezialvorschriften des EGV in Betracht, die die entsprechenden Gemeinschaftsorgane zur Angleichung, Koordinierung oder Harmonisierung bestimmter Rechtsgebiete ermächtigen 275 • Die betreffenden Normen enthalten nicht ausdrücklich die Kompetenz zur Harmonisierung des zum jeweiligen Sachgebiet gehörenden Strafrechts, jedoch wird teilweise eine Annex-Kompetenz bejaht 276 , da die Einflußmöglichkeiten der EG durch VerwaItungssanktionen oder die Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens häufig als nicht ausreichend bewertet werden 277 . Sofern die Gemeinschaft nicht auf anderem Wege die Einhaltung der angeglichenen Normen sicherstellen könne, sei daher die Möglichkeit eröffnet, eine Sanktionsregelung gleichzeitig mit der fachlichen Maßnahme zu treffen. (c) Die Anweisung zum Erlaß von Strafnormen kann auch auf Art. 94, 95 EGV (früher Art. 100, JOOa) gestützt werden 278 . Diese Vorschriften regeln den Erlaß 272 Dannecker Jura 1998, 79, 81; 1iedemann NJW 1993, 25; Mennens in: Delmas-Marty, What Kind of criminal policy for Europe, S. 127, 131. 273 Zum Begriff s. Appel in: Dannecker (Hrsg.) Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der EU, S. 165, 173. 274 S. nur Dieblieh S. 262 ff.; Gröblinghojf S. 104; Vogel in: Dannecker (Hrsg.) Die Bekämpfung des Subventionsbetrugs im EG-Bereich, S. 170, 172; Bottke wistra 1991, 1,5; LKJescheck Einl. Rn. 106; Zu leeg JZ 1992,761,767; nach Johannes EuR 1968,67, 107 ist eine direkte Anordnung ist nur noch deklaratorisch, da bereits eine Verpflichtung zur Einführung von Straftatbeständen aus Art. 5 besteht; Cuerda in: Schünemann 1Suarez Gonzalez, S. 367, 373 leitet daraus sogar ein ius puniendo der EG ab; kritisch dagegen die Bundesregierung in BR-DruckS 235165 und der Bundesrat in BR-DruckS 98/92. 275 Z. B. im Bereich des Umweltstrafrechts, vgl. die Beispiele bei GrÖblinghojfS. 93. 276 Z. B. Johannes EuR 1968, 63, 107; Annexkompetenz bzgl. "ob" nicht aber "wie", vgl. Bleckmann in: Stree 1Wessels-FS, S. 111; einschränkend GröblinghojfS. 96; ablehnend Bruns S. 92; Dieblieh S. 275; zu den Wechselwirkungen zwischen Sekundärrecht und nationalem Strafrecht s. auch Vervaele AGON 1999, Nr. 23, S. 9. 277 So Mögele EWS 1998, I, 8 m. w. N.
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von Rechtsakten zur Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungs vorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Insbesondere die Angleichung von Wirtschaftsstrafnormen kann Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben, da Unterschiede in nationalen Straftatbeständen, -sanktionen und evtl. auch in der Struktur des Allgemeinen Teils des StGB Einfluß auf den Wettbewerb haben 279 . Durch möglichst unzureichende Strafgesetze könnte ein Staat versuchen, sich als Unternehmensstandort attraktiv zu machen. Als weitere Kompetenznorm kommt subsidiär Art. 308 EGV in Betracht, wenn ein Vorgehen aufgrund anderer Bestimmungen nicht möglich oder nicht ausreichend ist 28o . (d) Bedenken begegnet eine Anweisungskompetenz der EG jedoch im Hinblick auf das Demokratieprinzip 2Rl, da die gemeinschaftsrechtlichen Anweisungen von den demokratisch nur sehr mittelbar legitimierten EG-Organen erfolgt 282 . Nach dem deutschen Strafrechtsverständnis besteht ein strafrechtlicher Gesetzesvorbehalt in dem Sinne, daß das Strafrecht als ultima ratio der gesellschaftlichen Reaktion auf ein Fehlverhalten durch ein formelles Gesetz parlamentarisch legitimiert sein muß (Art. 10311 GG)283. Diese Anforderung ist zwar formal erfüllt, da Grundlage der Sanktion weiterhin die nationalen Gesetze bleiben, aber der Entscheidungsspielraum des nationalen Gesetzgebers wird durch die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts stark eingeengt. Durch das Mitspracherecht des Europäischen Parlaments wurde das Demokratiedefizit aber zumindest in den Bereichen erheblich reduziert, in denen das Verfahren der Mitentscheidung (Art. 251 EGV) eingreift 284 . Obwohl diese Bereiche 278 Dieblich S. 276 (zu Art. 94 EGV, früher Art. 100); Sevenster CMLR 1992,29,67; Fornasier RMC 1982,398,407; Johannes EuR 1968,67, 102; ein praktisches Beispiel ist die Geldwäscherichtlinie, die auf Art. 47 IIl, 95 EGV (früher Art. 57 II I, lOOa) gestützt wurde, dazu sogleich. 279 Dazu Gröblinghojf S. 99 ff.; Sevenster CMLR 1992, 29, 50; Oppennann Rn. 1260; zur Sogwirkung wirtschaftsdelinquenten Verhaltens auf Konkurrenten, die sich auf dem Markt behaupten müssen vgl. Tiedemann, WirtschaftsstrafR Bd. I, S. 25 ff.; Kaiser, Kriminologie, S. 749; Eisenberg, Kriminologie, § 47 Rn. 13. 280 Bleckmann-Bleckmann, Europarecht, Rn. 787; Grabitz/Hilf-Grabitz Art. 235 Rn. 37, 53; G /T /E-Schwartz Art. 235 Rn. 277, vgl. auch Magiera in: Friauf-FS, S. 13,35. 281 Vgl. nur Bruns S. 90; Dieblich S. 282; LK-Jescheck Einl. Rn. 107; Sieber 'Z15tW 103 (1991),957,969; Tiedemann NJW 1993,23,28; weniger kritisch Pache S. 341. 282 Ress in: Geck-GedSchr, S. 625; Perron in: Dörr/Dreher, S. 135, 141: "demokratische Legitimation fraglich"; kril. auch Rupp ZRP 1990, I: "Ausdünnung demokratisch-parlamentarischer Substanz der nationalen Strafgesetzgebung durch Richtlinien einer VerwaltungssteIle"; zur Rechtslage nach dem Vertrag von Maastricht Streinz in: Dannecker (Hrsg.), Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der EU, S. 219. 283 Dazu Roxin, Strafrecht AT, § 5 Rn. I ff.; Krey in: Blau-FS, S. 123, 130. 284 Dannecker Jura 1998, 79, 81; Streinz ZLR 1994, 540; a.A. Sieber in: Schünemann / Suarez Gonzalez, S. 349, 358; vgl. auch Sieber ZStW 103 (1991) S. 965, 972.
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durch den Vertrag von Amsterdam erheblich ausgeweitet wurden, besteht die grundsätzliche Kritik aber fort. Zur Minimierung des Demokratiedefizites wird gefordert, daß die Anweisungen der EG dem nationalen Gesetzgeber einen hinreichenden Umsetzungsspielraum belassen285 oder dem Europäischen Parlament ein ebenso starkes Mitspracherecht wie den nationalen Parlamenten bei der innerstaatlichen Gesetzgebung zugestanden wird 286 .
(3) Beispiele Von der Möglichkeit, die Mitgliedstaaten allgemein zum Erlaß von Strafnormen zu verpflichten, hat die EG mittlerweile mehrfach Gebrauch gemacht. Im folgenden soll beispielhaft auf die Verordnung zur Bekämpfung des Abfalltourismus, die Richtlinie zur Bekämpfung der Geldwäsche und die Insider-Richtlinie eingegangen werden, auch wenn in den bei den letzten Fällen aufgrund des Widerstandes der Staaten nicht ausdrücklich strafrechtliche Sanktionen verlangt wurden 287 . Weitere Richtlinien 288 , die zur Einführung nationaler Strafnormen verpflichten, betreffen z. B. den Mißbrauch von Begleitpapieren für den Transport von Weinbau-Erzeugnissen und die im Weinsektor zu führenden Ein- und Ausgangsbücher, das Bilanz- und Außenwirtschaftsrecht sowie das Datenbankrecht. Kriminalpolitische Elemente finden sich auch in der Richtlinie zur Koordinierung der Verfahren zur Vergaben öffentlicher Bauaufträge 289 , die es ermöglicht, Unternehmer von der Auftragsvergabe auszuschließen, die bereits verurteilt worden sind oder die gegen die Sozialgesetzgebung verstoßen haben. (a) Bei der Bekämpfung des "Abfalltourismus" zeigten sich erste Ansätze, durch eine Verordnung (Art. 249 II EGV) unmittelbaren Einfluß auf die nationalen Strafrechtsordnungen zu nehmen und auf eine Harmonisierung der nationalen Strafgesetze hinzuwirken. Um die völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem "Baseler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung,,290 zu erfüllen, erließ die EG die Abfallverbringungsverordnung 291 , in der die Mitgliedstaaten zur Einführung nationaler 285 Gröblinghoff S. 150; Weigend ZStW 105 (1993), 774; 798; Ttedemann NJW 1993,23, 26; Oehler in: Jescheck-FS S. 1399, 1408. 286 Perron in: Dörr/Dreher S. 135, 141; Sieber in: van Gerven/Zuleeg S. 71, 78 hält ein Vetorecht des Europäischen Parlaments ähnlich Art. 95, 251 EGV (früher Art. 100a, 189b) für ausreichend. 287 Vg\. Pieth ZStW 109 (1998),757,767; Haguenau RMC 1993,351,357. 288 Überblick bei Hülsmann in: Eser / Huber (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Europa 4.1, S. 182 ff.; vgl auch die Beispiele des französischen Rechts bei Bouloc in: Melanges Levasseur, S. 103,103. 289 Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14.6.1993, ABI 1993 Nr. L 199,53 ff.; zum Submissionsbetrug vgl. umfassend Satzger, Submissionsbetrug, S. 38 ff. 290 Abkommen vom 22.3. 1989, BGB\. 1994 I1, S. 2703 ff., deutsches Ausführungsgesetz BGB\. 1994 I, S. 2771. 29\ Verordnung Nr. 259/93/EWG vom I. 3.1993 ABI 1993 Nr. L 30.
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Strafrechtsvorschriften in diesem Bereich verpflichtet wurden (Art. 26 V). Aufgrund dieser Verpflichtung wurde die Vorschrift des § 326 11 StGB geschaffen, wonach sich strafbar macht, wer Abfälle ohne Genehmigung nach dem Verfahren der Abfallverbringungsverordnung i.Y.m. § 4 AbfVerbrG verbringt 292 . (b) In der Geldwäscherichtlinie 293 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems finden sich Umschreibungen der Geldwäschehandlungen und Vorgaben für die strafrechtliche Bekämpfung der Geldwäsche. Damit wurde, zusammen mit weiteren internationalen Abkommen 294 , ein international harmonisiertes Niveau der materiell-rechtlichen Strafbarkeit der Geldwäsche geschaffen 295 . Auf dieser Grundlage wurde 1992 der Straftatbestand der Geldwäsche (§ 261 StGB) eingefügt 296 . Um zu verhindern, daß illegale Gelder in den legalen Wirtschaftskreislauf geraten, wird es jedem Bürger verboten, solche illegal erlangten Gelder anzunehmen. (c) Um die Funktionsfähigkeit der Kapitalmärkte zu sichern, hat die EG neben der Tranzparenzrichtlinie vom 12. 12. 1988 297 die Insiderrichtlinie vom 13. 11. 1989298 erlassen. Die Insider-Richtlinie enthält die Verpflichtung für die Staaten, geeignete Sanktionen einzuführen. Das Phänomen des Insiderhandels betrifft das Ausnutzen von Kenntnissen bei Wertpapiergeschäften, die nicht allgemein bekannt sind und sich nach ihrer Veröffentlichung auf den Kurs des betreffenden Wertpapiers erheblich auswirken. Hierbei kann es sich um für die Entwicklung eines Unternehmens positiv oder negativ beeinflussende vertrauliche Unternehmen handeln. Mit Einführung des Wertpapierhandelsgesetzes299 wurde die InsiderRichtlinie in nationales Recht umgesetzt und erstmals Börsentransaktionen, bei denen Insiderinformationen Grundlage des Wertpapiergeschäfts waren, unter Strafandrohung gestellt (§ 4 WpHG). In diesem Fall geht das nationale Recht sogar über die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben hinaus, indem auch der privatrechtlich organisierte Freiverkehr (außerhalb der geregelten Märkte) in den Regelungsbereich der Insideruberwachung einbezogen wurde 3OO • Zum Ganzen siehe Heine in: Triffterer-FS, S. 401; Laclcner/Kühl § 326 Rn. 8a. Richtlinie 91/308/EWG vom 10.06. 1991, ABI EG Nr. L 166 v. 28. 06. 1991, S. 77. 294 Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotrophen Stoffen vom 20. 12. 1988 (BGB!. 1993 11, S. 1136) und Europaratsübereinkommen über das Waschen, das Aufspüren, die Beschlagnahme und Einziehung der Erträge aus Straftaten (European Treaties Series No. 141). 295 Vg!. den Überblick bei Vogel ZStW 109 (1997), 342 ff. 296 Vertiefend Großwieser passim; zur Kritik der Literatur Dannecker JZ 1996, 873; Tiedemann in: Stree/Wessels-FS, S. 539; Lampe JZ 1994, 123, 126, Löwe-Krahl wistra 1993,123, 124. 297 ABI 1988 Nr. L 364, 62. 298 ABI 1989 Nr. L 334, 30. 299 Eingeführt durch das Zweite Finanzförderungsgesetz vom 1. 8. 1994, BGB!. 1994 I, S.1749. 300 Weiterführend und kritisch Dannecker Jura 1998,79,83. 292 293
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(4) Reichweite der Verpflichtung (a) Die Gemeinschaft hat sich bislang im wesentlichen damit begnügt, die Forderung nach wirksamen Sanktionen im Recht der Mitgliedstaaten zu erheben, ohne die konkrete Art und das Ausmaß der Sanktion näher festzulegen 30I . Insoweit wurde insbesondere die Formulierung verwandt, die Mitgliedstaaten hätten "geeignete Maßnahmen" zum Schutz bestimmter Interessen zu treffen 302 . Angesichts des Wortlauts des Art. 249 III EGV, der die Richtlinie nur hinsichtlich des zu erreichenden Zieles für verbindlich erklärt, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl und Form der Mittel überläßt, ist fraglich, ob die EG die Mitgliedstaaten gleichwohl zur Wahl bestimmter Sanktionen und Tatbestände verpflichten kann. (b) Bezüglich der Höhe der Sanktionen wird dies teilweise im Hinblick auf das Effektivitätsgebot bejaht. Es wird angeführt, daß Unterschiede in Strafrahmen und Verfolgungsintensität zu schwerwiegenden Wettbewerbsverzerrungen 303 führen können, da sie gewisse Lenkungseffekte auf die Kriminalität, z. B. Wahl des Begehungsortes bei multinationalen Delikten oder Festlegung des Firmensitzes, ausüben würden 304 . Überwiegend jedoch wird die Zu lässigkeit von detaillierten Vorgaben bei Art und Höhe der Sanktion abgelehnt 305 . Der nationale Umsetzungsakt würde nur noch einen Formalismus bedeuten, wenn Art und Höhe der strafrechtlichen Sanktionen detailliert vorgegeben werden könnten. Die Einschätzungsprärogative der Staaten sollte auch unter dem Gesichtspunkt beibehalten werden, daß noch kein gesichertes empirisches Mittel existiert, um die praktische Wirksamkeit einzelner Sanktionsdrohungen zu messen 306 und eine genaue Vorgabe der Sanktionshöhen somit unverhältnismäßig erscheint (Art. 5 III EGV). Auch die praktischen Konsequenzen einer derartigen Strafrahmenharmonisierung wären schwerwiegend, z. B. würde eine Anpassung der Strafen auf mittlerem Niveau in den Niederlanden eine Verdoppelung der Gefängniskapazitäten erfordem 307 . Die Existenz 301 Z. B. im Rahmen der Insider-Richtlinie oder der Geldwäsche-Richtlinie (s.o.) hat der Rat von der ursprünglich vorgesehen Verpflichtung zur Androhung von Kriminalstrafen abgesehen. Zur Frage, ob auch ein Ordnungwidrigkeitentatbestand zur Sanktionierung der Geldwäsche ausgereicht hätte siehe Vogel ZStW 109 (1997), 342 Fn. 32. 302 Z. B. Art. 5 der Richtlinie zur Erhaltung der wildlebenden Vogel arten (Richtlinie 79/ 409/ EWG, ABI 1979 Nr. L 103, I), die in England zur Einführung eines Straftatbestandes zum Vogelschutz führte, vgl. Dannecker Jura 1998,79, 82 Fn. 35. 303 So GrÖblinghoffS. 99 m. w. N. 304 Zum Problem unterschiedlicher Kontroll- und Sanktionssysteme unter dem Aspekt des unverfalschten Wettbewerbs s. Streinz WiVerw 1993,1, 55; Beispiele bei Keller-Mayer S. 73 ff. 305 7iedemann NJW 1993,23,26; den in: Kreuzer/Scheuing/Sieber, S. 135 mit Nachweisen zum italienischen und spanischen Schrifttum in Fn. 6; umfassend Bouloc in: Melanges Levasseur, S. 103, 117. 306 7iedemann NJW 1993, 26; ders., Tatbestandsfunktion im Nebenstrafrecht, S. 146 m.w.N. 307 Greve in: Sieber (Hrsg.), Europäische Einigung und europäisches Strafrecht, S. 107, 111.
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unterschiedlicher Sanktionshöhen muß somit zum gegenwärtigen Stand der gemeinschaftsrechtlichen Integration hingenommen werden 308 . (c) Umstritten ist ebenfalls, inwieweit den Mitgliedstaaten bereits die Ausgestaltung des Sanktionstatbestandes vorgeschrieben werden darf. Mit den gleichen Argumenten wie zur Höhe der Sanktion ist hier die überwiegende Literatur 309 der Ansicht, daß die EG zwar den Inhalt des zu schützenden Rechtsgutes vorgeben, aber keine gen auen Vorgaben bzgl. der Struktur des Tatbestandes machen darf3 \O. Im Ergebnis besteht damit zwar eine stärkere Einwirkung auf den Inhalt des Tatbestandes als auf Art und Höhe der Sanktion, es existiert aber auch hier keine bis ins Detail gehende Anweisungskompetenz. (d) Da teilweise sogar innerhalb der EG-Staaten Unterschiede im Strafrecht bestehen, z. B. in Großbritannien 31l mit drei verschiedenen Strafrechtssystemen, erscheinen diese Differenzen auch tolerierbar. Eine detaillierte Anweisungskompetenz wäre die Einführung einer kriminalstrafrechtlichen Kompetenz der EG durch die Hintertür312 . Die weitgehende mitgliedstaatliehe Autonomie bedeutet jedoch nicht, daß die EG überhaupt keine Kontrolle über die Sanktionen der Mitgliedstaaten hätte. Das Ziel der wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden Sanktion 313 muß von den Staaten erreicht werden, so daß z. B. die EG im Einzelfall über ein Mindeststrafniveau urteilen darf, das die Staaten nicht unterschreiten dürfen 314 . Andererseits kann eine Sanktion unzulässig sein, wenn sie den Zielen des EGV nicht genügend Rechnung träge l5 . Strafen dürfen auch kein Handelshemmnis im Sinne einer Maßnahme gleicher Wirkung (Art. 28 EGV) darstellen, um nicht den Handel durch überhöhte Strafen für kleine Vergehen zu behindern, insoweit gilt ebenfalls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 316 .
So auch Jung StV 90, 515. Oehler in: Jescheck-FS Bd. 2, S. 1399, 1408; ders. in: Baumann-FS, S. 561, 566; Dieblieh S. 262, 288; kritisch zum aus dieser mangelnden Kompetenz resultierenden lückenhaften strafrechtlichen Rechtsgüterschutz Oehler in: Melanges Levasseur, S. 155, 156. 310 Weitergehend 7iederrwnn NJW 1993, 23, 26; vgl. auch ders. Verfassungsrecht und Strafrecht S. 46. 311 Vgl. dazu Van den "yngaert, Criminal procedure systems in the EC, S. 73. 312 Kritisch wegen der zunehmenden Detailliertheit der Richtlinien daher Bruns S. 92 und GrÖblinghoffS. 135. 3I3 So EuGH Slg. 1989, 2965, 2985 f. (Griechischer Maisskandal). 314 Johannes EuR 1968, 107, Delrrws-Marty, Droit penal des affaires I, S. 35,47; Daniele Mayer in: L'internationalisation du droit, S. 269; vgl. EuGH NJW 1997, 1839 zur erforderlichen Abschreckungswirkung zivilrechtlicher Sanktionen. 315 Vgl. EuGH Slg. 1976, 1185, 1199 (Watson und Bellmann) und Sig. 1977, 1495, 1506 (Sagulo) zu den Auswirkungen der Ausweis- und Meldepflicht auf die Freizügigkeit. 316 V gl. Zuleeg JZ 1992, 766; Rönnau wistra 1994, 203; Godard La semaine juridique (JCP), &1. E, 1994,619. 308
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Im Ergebnis übt damit die Gemeinschaft eine negative Kontrolle über die Erfüllung gemeinschaftlicher Erfordernisse aus, wofür ihr die allgemeinen Instrumentarien der mitgliedstaatlichen Kontrolle (z. B. das Vertragsverletzungsverfahren Art. 226 EGV) zur Verfügung steht. Positive Vorgaben werden dagegen grundsätzlich als unzulässig angesehen.
(5) Verpflichtung aufgrund zwischenstaatlicher Abkommen am Beispiel des Schutzes der finanziellen Interessen der EG (a) Kompetenzrechtliche Schwierigkeiten werden vermieden, wenn sich die Mitgliedstaaten in zwischenstaatlichen Übereinkommen, also außerhalb des eigentlichen Gemeinschaftsrechts, zum Erlaß bestimmter strafrechtlicher Vorschriften verpflichten. Ein wichtiges Beispiel für die Beeinflussung des n