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German Pages 587 [588] Year 2004
I S A B E L SCHÜBEL-PFISTER
Sprache und Gemeinschaftsrecht
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera und Detlef Merten
Band 103
Sprache und Gemeinschaftsrecht Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof
Von Isabel Schübel-Pfister
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Wintersemester 2002/2003 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 703 Alle Rechte vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11333-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im August 2002 abgeschlossen und im Wintersemester 2002/2003 von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als juristische Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten weitgehend bis Juni 2003 berücksichtigt werden; auf die Arbeit von Viviane Manz, Sprachenvielfalt und europäische Integration, Zürich 2002, konnte allerdings nicht mehr eingegangen werden. Anlässlich der Veröffentlichung möchte ich meinen besonderen Dank an verschiedene Personen und Institutionen aussprechen. Zunächst möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Rudolf Streinz, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität Bayreuth (ab Wintersemester 2003/2004 Ludwig-Maximilians-Universität München), herzlich dafür danken, dass er mich mit diesem Thema als Doktorandin angenommen hat. Durch seine geduldige Betreuung, sein stetes Interesse und seine wertvollen Ratschläge hat er zum Gelingen der Arbeit wesentlich beigetragen. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Peter M. Huber, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der sich bereit erklärt hat, die Mühen der Zweitkorrektur meiner umfangreichen Dissertation auf sich zu nehmen. Ferner möchte ich Herrn Prof. Dr. Gerhard Dannecker, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Informationsrecht an der Universität Bayreuth, für die hilfreichen Anregungen während der Bearbeitungszeit danken. Die Freude am wissenschaftlichen Arbeiten ist während der Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl entstanden. Dank gebührt schließlich Frau Rechtsreferendarin Rachel Zahner und meinem Patenonkel, Herrn Heinrich Lippert, für die sorgfältige Korrektur des Dissertationstextes sowie meinem Vater für die fachmännische Hilfe bei der elektronischen Textverarbeitung. Meinem Mann Peter und meiner Mutter danke ich für die moralische Unterstützung während der Promotionszeit. Dank schulde ich schließlich Herrn Prof. Dr. Siegfried Magiera und Herrn Prof. Dr. Dr. Detlef Merten für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe „Schriften zum Europäischen Recht44.
Vorwort
6
Die Gewährung eines Promotionsstipendiums aus dem Hochschulsonderprogramm III trug zum zügigen Abschluss der Arbeit bei.
Bayreuth, im Sommer 2003 Isabel Schübel-Pfister
Inhaltsübersicht 1. Kapitel Vielsprachigkeit als Herausforderung für den europäischen Integrationsprozess
37
A. Das mehrsprachige Gemeinschaftsrecht an der Schnittstelle zwischen Recht und Sprache 38 B. Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union als rechtswissenschaftliche Themenstellung
43
2. Kapitel Die Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte als zentrales Problem des Sprachenrechts der Europäischen Union
48
A. Die Einordnung der Auslegungsproblematik in das Sprachenrecht der EU
48
B. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
52
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
92
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
122
3. Kapitel Die Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
168
A. Einleitung und Festlegung des Untersuchungsgegenstands
168
B. Erfassung und Klassifizierung der Urteile zum Sprachvergleich
170
C. Die Behandlung von Sprachdivergenzen in der Rechtsprechung des EuGH
227
4. Kapitel Die EuGH-Rechtsprechung im Spannungsfeld zwischen Individualrechtsschutz und einheitlicher Auslegung des Gemeinschaftsrechts A. Die Pflicht zur Berücksichtigung fremder Sprachfassungen nach der Rechtsprechung
322
322
8
Inhaltsübersicht
Β. Erste Vorgabe für das Alternativkonzept: Koordinaten zulässiger Sprachregelungen in der übrigen Rechtsprechung des EuGH
361
C. Zweite Vorgabe für das Alternativkonzept: Die EuGH-Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen 384 D. Anwendung der EuGH-Rechtsprechung zum Vertrauensschutz auf Sprachdivergenzen im Verwaltungsrecht
402
E. Anwendung der EuGH-Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgrundsatz auf Sprachdivergenzen mit strafrechtlichen Bezügen
457
F. Zusammenfassung und Überprüfung der Ergebnisse
470
5. Kapitel Die Zukunft des Sprachenrechts der Europäischen Union
474
A. Punktuelle Verbesserungen
474
B. Modell für das zukünftige Sprachenregime mit Blick auf die EU-Osterweiterung
484
C. Ausblick: Europäische Einheit in sprachlicher Vielfalt
502
Zusammenfassung und Thesen
505
Literaturverzeichnis
514
Verordnung Nr. 1 des Rates (zur Regelung der Sprachenfrage)
544
Entscheidungsregister
546
Sachverzeichnis
580
Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Vielsprachigkeit als Herausforderung für den europäischen Integrationsprozess
37
A. Das mehrsprachige Gemeinschaftsrecht an der Schnittstelle zwischen Recht und Sprache 38 I.
Recht und Sprache
39
1. Sprache als Erkenntnis-, Ausdrucks- und Kommunikationsmittel
39
2. Recht als Sprachschöpfung
39
3. Die Rechtssprache
40
II. Mehrsprachiges Recht
41
1. Recht und Mehrsprachigkeit
41
2. Die Problematik der Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte
43
B. Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union als rechtswissenschaftliche Themenstellung I.
43
Behandlung in der Literatur
44
1. Behandlung aus nicht-juristischer Sicht
44
2. Behandlung aus rechtswissenschaftlicher Sicht
45
II. Gang der Untersuchung
46
2. Kapitel Die Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte als zentrales Problem des Sprachenrechts der Europäischen Union A. Die Einordnung der Auslegungsproblematik in das Sprachenrecht der EU I.
48 48
Die verschiedenen Facetten des Sprachenrechts der EU
48
1. Legislatives, exekutives, judikatives und kulturelles Sprachenrecht
49
2. Weitere Probleme der Mehrsprachigkeit in der EU
50
II. Die Bedeutung der Sprachenregelung für die Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts B. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
51 52
nsverzeichnis
10
I.
Historische Entwicklung
52
1. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)
52
a) Die Vertragssprache des Gründungsvertrags
52
b) Die Amts- und Arbeitssprachen in der EGKS
53
2. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG)
55
3. Die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften
56
4. Die Europäische Union
57
5. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union
58
6. Zusammenfassung: Vertrags-, Amts- und Arbeitssprachen in der EU
59
a) Die authentischen Sprachen der Gründungsverträge
59
b) Die Amtssprachen der Gemeinschaftsorgane
59
c) Die Arbeitssprachen der Gemeinschaftsorgane
60
d) Die Problematik der internen Arbeitssprache
61
e) Klarstellung der verwendeten Terminologie II. Die Sprachenregelung im Einzelnen 1. Die Sprachenregelung des Europäischen Parlaments
62 62 63
a) Die gesetzliche Regelung
63
b) Praxis und Reform Vorschläge
64
2. Die Sprachenregelung des Rats
65
a) Die gesetzliche Regelung
65
b) Durchbrechungen
65
3. Die Sprachenregelung der Kommission
66
a) Die gesetzliche Regelung
66
b) Die Praxis der internen Sprachenregelung
67
c) Die Praxis der externen Sprachenregelung
68
4. Die Sprachenregelung des EuGH
69
a) Die gesetzliche Regelung der Verfahrenssprache
70
b) Die Praxis der internen Arbeitssprache
71
aa) Die Existenz einer internen Arbeitssprache am EuGH bb) Die Problematik der internen Arbeitssprache am EuGH
71 73
c) Die Divergenz von Urteilsfassungen
75
d) Die Sprachenregelung des EuG
76
5. Die Sprachenregelung weiterer Organe und Einrichtungen
77
a) Anwendung der Sprachenregelung der VO Nr. 1
77
b) Besondere Sprachenregelungen
78
nsverzeichnis
aa) Die Sprachenregelung der Europäischen Zentralbank
78
bb) Die Sprachenregelung des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt
79
cc) Vereinfachte Sprachenregelung beim geplanten Gemeinschaftspatent?
80
III. Die Sprachenregelung zwischen Anspruch und Wirklichkeit 1. Anspruch: Das Sprachenregime im Lichte der Ziele und des Geistes der Gründungsverträge
82
a) Sprachenvielfait als Identifikations-und Integrationsfaktor
82
b) Das Gebot der Rechtsgleichheit von Mitgliedstaaten und Unionsbürgern
83
c) Das Gebot der Rechtssicherheit und die „Supranationalität" der Europäischen Union
84
2. Wirklichkeit: Die praktischen Implikationen des gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregimes
86
a) Die Übersetzer- und Dolmetscherdienste in der Gemeinschaft
86
aa) Die Übersetzerdienste
86
bb) Die Dolmetscherdienste
88
b) Die Kosten der Vielsprachigkeit in der Europäischen Union 3. Stellungnahme
89 90
a) Die Schwächen in den Darstellungen der Literatur
90
b) Die unbeachtete Verknüpfung zwischen Amts- und Arbeitssprachenregime
90
c) Konsequenzen für den weiteren Gang der Untersuchung
91
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten I.
82
92
Mehrsprachigkeit als Herausforderung bei der Vertrags- und Normgenese
92
1. Mehrsprachige Rechtssetzung: Vor- oder Nachteil?
92
a) Mehrsprachigkeit als Potential für die Rechtsprechung
92
b) Mehrsprachigkeit als kreatives Element der Gesetzgebung
93
2. Der Prozess der Primärrechtssetzung a) Die Erstellung der authentischen Sprachfassungen der Gründungsverträge b) Die Erstellung späterer Sprachfassungen
94 95 97
aa) Die Abfassung des englischen Vertragstexts
97
bb) Sprachprobleme bei den folgenden Erweiterungsrunden
98
3. Der Prozess der Sekundärrechtssetzung
99
a) Die Verwendung der Sprachen in den Kommissionsentwürfen
100
b) Der Sprachgebrauch im weiteren Rechtssetzungsverfahren
101
nsverzeichnis
c) Die Übersetzung der Rechtstexte durch die Übersetzungsdienste
102
d) Die Prävention von Sprachdivergenzen durch die juristeslinguistes II. Die Entstehung von Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht 1. Einteilung in Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen
103 104 105
a) Sprachwissenschaftliche Perspektive
105
b) Juristische Sicht
106
aa) Begriffsdivergenzen
106
bb) Bedeutungsdivergenzen cc) Fließender Übergang zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen
107
c) Absage an eine monokausale Begründung der Sprachdivergenzen 2. Gründe für die Entstehung von Begriffsdivergenzen a) Schwerpunktmäßige Verantwortlichkeit auf der Übersetzungsebene
107 108 109 109
aa) Die Technizität des Gemeinschaftsrechts
109
bb) Der Zeitdruck der Übersetzer
110
b) Schwächen beim Entwurf der Rechtsakte 3. Gründe für die Entstehung von Bedeutungsdivergenzen a) Die Systemgebundenheit des Rechts
111 112 112
aa) Sprache, Recht und Rechtssprache
112
bb) Sprachvergleich, Rechtsvergleich und Rechtssprachenvergleich
113
b) Bedeutungsdivergenzen in der Gemeinschaftsrechtsordnung
115
aa) Verweisende Auslegung, autonome Auslegung und Rechtsvergleichung
115
bb) Die wechselseitige Beeinflussung zwischen gemeinschaftsrechtlicher und nationaler Rechtssprache
116
c) Unbewusste Bedeutungsdivergenzen: Fehlende juristische Qualifikation der Übersetzer
117
aa) Das Problem der Äquivalenz der Rechtsbegriffe
117
bb) Die Dynamik der Rechtssprache in der Europäischen Union
118
cc) Unzureichende praktische Lösung der Übersetzungsaufgaben .... 119 d) Bewusste Bedeutungsdivergenzen: Rechtssetzungsverfahren als politischer Kompromiss
120
4. Fazit: Die Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit von Sprachdivergenzen
121
Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
122
nsverzeichnis
I.
Rechtstheoretische Fundierung der Auslegung
122
1. Funktion und Ziel der Auslegung
122
2. Auslegungskriterien im europäischen Methodenkanon
124
a) Die deutsche Methodenlehre
124
b) Hermeneutische Systeme in anderen Mitgliedstaaten
125
3. Die Rolle des EuGH II. Auslegungsmethoden in der Rechtsprechung des EuGH 1. Die einzelnen Auslegungsmethoden
126 127 128
a) Wortlautauslegung
128
b) Systematische Auslegung
129
c) Teleologische Auslegung
130
d) Historische Auslegung
131
e) Rechtsvergleichende Auslegung
132
2. Gewichtung und Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander
133
3. Das spezifische Problem der Mehrsprachenauthentizität
135
III. Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge 1. Mehrsprachige Verträge im Völkerrecht
136 137
a) Vertragssprachen und mehrsprachige Verträge in der Geschichte
137
b) Erscheinungsformen mehrsprachiger Verträge
138
2. Die Auslegung von Texten gleicher Verbindlichkeit a) Besondere Auslegungsregeln
138 139
aa) Vorrang der landessprachlichen Fassung und verwandte Auslegungsregeln
139
bb) Mehrheitsregel
140
cc) Klarheitsregel
140
dd) Günstigkeitsregel
141
ee) Auslegung contra proferentem
141
ff) Gemeinsamer-Nenner-Regel
142
gg) Arbeitssprachenregel
143
b) Allgemeine Auslegungsgrundsätze aa) Die Normierung völkerrechtlicher Auslegungsgrundsätze in Art. 31 und 32 WVRK bb) Die Spezialvorschrift für mehrsprachige Verträge in Art. 33 WVRK cc) Die Auffangregel des Art. 33 Abs. 4 WVRK im Besonderen c) Die Perspektive der nationalen Gerichte 3. Die Auslegung von Texten ungleicher Verbindlichkeit
144 144 145 146 147 147
nsverzeichnis
a) Innerstaatliche Übersetzungen
148
b) Amtliche Übersetzungen
148
c) Offizielle Texte
149
d) Zusammenfassung
149
IV. Die Auslegung mehrsprachigen Rechts in einzelstaatlichen Rechtsordnungen 1. Die Rechtslage in Belgien
150 151
a) Grundlagen des belgischen Sprachenrechts
151
b) Das exekutive, judikative und legislative Sprachenrecht
151
c) Die Auflösung von Sprachdivergenzen in der Rechtsprechung der belgischen Gerichte 2. Die Rechtslage in der Schweiz a) Die maßgeblichen Vorschriften aa) Verfassungsrechtliche Grundlagen bb) Einfachgesetzliche Vorschriften b) Die Lösung der sprachlichen Differenzen durch die Rechtsprechung
153 154 154 154 156 157
aa) Rechtliche und faktische Priorität des deutschen Textes
157
bb) Systematisch-teleologische Auslegung
158
cc) Die „liberale Methode" und die Rechtsstellung des Bürgers
159
c) Herbeiführung inhaltlicher Übereinstimmung durch Textberichtigung
160
3. Zusammenfassender Vergleich
161
V. Die Auslegung des EGKS-Vertrags
162
1. Die Behandlung von Begriffsdivergenzen
163
a) Ausschließlicher Rückgriff auf den französischen Text
163
b) Berücksichtigung der amtlichen Übersetzungen
164
2. Die Behandlung von Bedeutungsdivergenzen
165
3. Zusammenfassung
166
3. Kapitel Die Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
168
Einleitung und Festlegung des Untersuchungsgegenstands
168
I. Gemeinschaftsrechtliche Rechtsakte allgemeiner Geltung
168
II. Einbeziehung des EuGVÜ
169
nsverzeichnis
Β. Erfassung und Klassifizierung der Urteile zum Sprachvergleich I. Zahlenmäßige Bedeutung der Urteile mit Sprachvergleich
170 170
1. Notwendigkeit einer statistischen Ermittlung der einschlägigen Urteile
170
2. Sprachvergleichende Urteile in absoluten Zahlen
172
a) Die Gesamtzahl der sprachvergleichenden Urteile und Schlussanträge
172
b) Verteilung auf die einzelnen Jahre der Rechtsprechungstätigkeit
173
3. Sprachvergleichende Urteile im Verhältnis zur gesamten Rechtsprechungstätigkeit des EuGH
174
a) Das Verhältnis zwischen sprachvergleichenden und sonstigen EuGH-Urteilen
174
b) Interpretation der Zahlen
175
4. Einteilung nach der Art der auszulegenden Rechtsakte II. Einteilung nach den „Auslösern" des Sprachvergleichs
176 178
1. Legitimation und Vorstellung der Untersuchung
178
2. Auswertung der Untersuchung
179
a) Überblick über die Verteilung auf die einzelnen Verfahrensbeteiligten
179
b) Spitzenstellung der Parteien als „Sprachvergleichs-Auslöser"
179
c) Entwicklung der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten
180
d) Erstmalige Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachfassungen durch den EuGH
181
e) Untergeordnete Rolle der Vorlagegerichte und der nationalen Regierungen
181
III. Die Politikfelder mit der höchsten Quote an Sprachdivergenzen und sprach vergleichenden Urteilen
183
1. Verteilung der Urteile auf die einzelnen Politikfelder
184
2. Sprachdivergenzen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Regelungen
188
a) Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht
189
b) Sprachvergleichende Urteile mit strafrechtlichen Bezügen
190
3. Die Häufung der Textdivergenzen und der diesbezüglichen Urteile im Zolltarifrecht
191
a) Detailflut und Übersetzungsschwierigkeiten bei technischen Begriffen
191
b) Hoher Stellenwert der Wortlautauslegung beim GZT
192
c) Auslösung des Sprachvergleichs durch die Parteien des Ausgangsverfahrens
193
16
nsverzeichnis
4. Die Häufung der sprachvergleichenden Urteile in der Gemeinsamen Agrarpolitik
194
a) Parallele zur Bedeutung der GAP im Gemeinschaftsrecht
195
b) Dringlichkeit der zu erlassenden Rechtsakte
196
c) Finanzielle Bedeutung der GAP für die Rechtsunterworfenen
197
d) Sprachlich verbrämte politische Kompromisse in der GAP
198
aa) GAP und politische Kompromisse
198
bb) Sprachliche Auswirkungen politischer Kompromisse
199
5. Die Häufung der sprachvergleichenden Urteile im Steuerrecht
200
a) Die Auslegung des Steuerrechts im Allgemeinen
200
b) Die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie im Besonderen
200
6. Sprach- und Rechtsvergleich bei Auslegung des EuGVÜ
201
a) Überblick über Struktur und Inhalt des EuGVÜ
202
b) Die fehlende Äquivalenz juristischer Konzepte
202
c) Beispiele für Sprachdivergenzen aufgrund unterschiedlicher nationaler Rechtsinstitute
203
IV. Klassifizierung der Urteile nach der Intensität des Sprachvergleichs 1. EuGH-Urteile mit umfassendem Sprachvergleich
205 206
a) Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung
206
b) Auslegung bei vier Amtssprachen
207
c) Vorgehensweise bei sechs verbindlichen Sprachfassungen
207
d) Sprachvergleich nach dem Beitritt Griechenlands
209
e) Sprachvergleich nach den Erweiterungsrunden von 1986 und 1995 2. EuGH-Urteile mit partiellem Sprachvergleich a) Verkürzte Betrachtung des Sprachproblems aa) Die verschiedenen Vorgehens weisen des Gerichtshofs
210 212 213 213
bb) Differenzierung nach den vom Generalanwalt geleisteten Vorarbeiten b) Schwerpunktmäßige Heranziehung bestimmter Sprachfassungen aa) Häufigere Heranziehung der Originalfassungen
215 217 218
bb) Dominanz der großen gegenüber den kleinen Amtssprachen cc) Dominanz der „alten" gegenüber den „neuen" Sprachfassungen 3. EuGH-Urteile ohne Sprachvergleich
220 221 222
a) Keine Übernahme des Sprachvergleichs des Generalanwalts
222
b) Keine Auseinandersetzung mit von den Beteiligten vorgebrachten Sprachdivergenzen
223
nsverzeichnis
4. Stellungnahme C. Die Behandlung von Sprachdivergenzen in der Rechtsprechung des EuGH I.
225 227
Die methodische Vorgehensweise des EuGH zur Bewältigung von Sprachdivergenzen
227
1. Keine Ungültigkeit des betroffenen Rechtsakts
227
a) Keine Ungültigkeit aufgrund eines Verstoßes gegen die Begründungspflicht
228
b) Keine Ungültigkeit aufgrund inhaltlicher Unbestimmtheit der Norm c) Begründung des weiteren Vorgehens 2. Auslegungsmethoden bei der Behandlung von Begriffsdivergenzen a) Auflösung der Begriffsdivergenzen durch sprachvergleichende Wortlautauslegung
230 230 230
bb) Ablehnung eines Vorrangs der landessprachlichen Fassung
231
cc) Die sprachvergleichende Wortlautauslegung des EuGH
233 234
aa) Überblick über die methodische Vorgehensweise des EuGH
235
bb) Der Rückgriff auf systematische Erwägungen
237
cc) Die Bedeutung der teleologischen Auslegung
239
dd) Maßgeblichkeit des historischen Willens des Gesetzgebers
241
c) Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander aa) Problemaufriss bb) Die Regel „in claris non fit interpretatio" im Gemeinschaftsrecht
243 243 244
(1) „In claris non fit interpretatio" und Sprachdivergenzen
244
(2) Stellungnahme
245
cc) Anerkennung einer Wortlautgrenze im Gemeinschaftsrecht
246
(1) Die Wortlautgrenze in der Literatur
246
(2) Die Wortlautgrenze in der Judikatur
247
(3) Stellungnahme
248
3. Vorgehensweisen zur Auflösung von Bedeutungsdivergenzen a) Gemeinschaftsrechtliche Wortbedeutungen
Schübel-Pfister
229
aa) Sprachvergleich und einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts
b) Entscheidung anhand anderer Auslegungsmethoden
2
229
249 249
aa) Notwendigkeit einer autonomen Auslegung des Gemeinschaftsrechts
250
bb) Urteile zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer
250
nsverzeichnis
cc) Weitere Urteile zur gemeinschaftsrechtlichen Begriffsbedeutung b) Verweis auf die Begriffsbestimmungen des nationalen Rechts aa) Verhältnis zwischen autonomer und einzelstaatlicher Auslegung
252 255 255
bb) Die Auslegung des EuGVÜ
256
cc) Begründung der Verweisung in einzelstaatliches Recht
258
(1) „Ekro": Beachtung unterschiedlicher Traditionen in den Mitgliedstaaten
258
(2) „Meico-Fell": Fehlende Harmonisierung des nationalen Strafrechts
259
(3) „Danmols": Differenzierung nach dem intendierten Schutzniveau
260
(4) Zusammenfassung und Ausblick
260
c) Methodik der Ermittlung gemeinschaftsrechtlicher Wortbedeutungen
262
aa) Die Rolle der herkömmlichen Auslegungsmethoden
262
bb) Der Stellenwert der Rechtsvergleichung
263
4. Die Behandlung von Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen im Vergleich
265
Besondere Auslegungsregeln in der Rechtsprechung des EuGH
266
1. Mehrheitsregel
267
a) Mehrheitsentscheidungen bei der Auslegung des GZT
267
aa) Entscheidung nach der Mehrzahl der Sprachfassungen
267
bb) Die Bedeutung weiterer Auslegungsmethoden
268
cc) Das Mehrheitsprinzip im Lichte der Besonderheiten des GZT
269
b) Mehrheitsentscheidungen in weiteren Politikfeldern
270
aa) Bestätigung der Mehrheitsentscheidungen durch andere Auslegungsmethoden
270
bb) „Verdeckte" Mehrheitsentscheidungen des EuGH
272
cc) Mehrheitsentscheidungen als Ausgangspunkt für die weitere Auslegungstätigkeit c) Stellungnahme aa) Indizcharakter der Mehrheitsverhältnisse bb) Zufälligkeit der Mehrheitsverhältnisse 2. Klarheitsregel
273 273 273 274 275
a) Die Klarheitsregel in der Rechtsprechung des EuGH
276
b) Stellungnahme
277
nsverzeichnis
3. Günstigkeitsregel
278
a) „Stauder": Vorrang der dem Bürger günstigen Sprachfassung
279
b) Verwandte Auslegungsregeln in der Rechtsprechung des EuGH
280
c) Stellungnahme 4. Gemeinsamer-Nenner-Regel
281 282
a) Die in der Literatur diskutierten Urteile
282
b) Stellungnahme
283
III. Hervorgehobene Bedeutung bestimmter Sprachfassungen in der Auslegungstätigkeit des EuGH 1. Judikatives Sprachenrecht und sprachvergleichende Auslegung
284 285
a) Bedeutung der Verfahrenssprache
285
b) Auswirkungen der internen Arbeitssprache
285
c) Einfluss der Muttersprache der beteiligten Richter
286
d) Bedeutung der Muttersprache des General an waits
288
2. Die Bedeutung von Originalfassungen in der Rechtsprechung des EuGH
289
a) Die Problematik der Arbeitssprachenregel
289
b) Anerkennung des Grundsatzes der führenden Sprache in der EuGH-Judikatur aa) Existenz einer Originalfassung aufgrund der Herkunft der
290
betreffenden Rechtsmaterie
291
(1) Beamtenrecht
291
(2) EuGVÜ bb) Existenz einer Originalfassung aufgrund der konkret verwendeten internen Arbeitssprache
292 294
(1) Faktisch erhöhte Bedeutung der Urfassung des Rechtsakts
295
(2) Ausdrückliche oder konkludente Anerkennung von Originalfassungen
296
c) Beurteilung der EuGH-Rechtsprechung zur Originalfassungsproblematik
297
d) Die Bedeutung der Originalfassungsproblematik für die zukünftige Ausgestaltung des gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregimes
298
aa) Der Zusammenhang zwischen Amts- und Arbeitssprachenregime
299
bb) Konsequenzen
300
3. Hervorgehobene Bedeutung „internationaler" Sprachen bei völkerrechtlichen Abkommen der Gemeinschaft a) Problemaufriss und Überblick
301 301
nsverzeichnis
b) Auf UN-Resolutionen beruhende EG-Embargomaßnahmen
302
c) Die Fernsehrichtlinie und das Fernsehübereinkommen des Europarats
304
d) Die Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs
305
aa) Überblick über die Rechtsquellen im Zollrecht
306
bb) Maßgeblichkeit der englischen und französischen Fassung
307
cc) Gleichberechtigung aller Amtssprachen
308
dd) Widersprüche in der Vorgehensweise des Gerichtshofs
309
e) Stellungnahme
311
4. Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Erstellung der Sprachfassungen
312
a) Problemaufriss
313
b) Uneinheitliche Kasuistik des Gerichtshofs
315
c) Stellungnahme
317
aa) Der Zeitpunkt des Erlasses des Rechtsakts
317
bb) Der Zeitpunkt der in Rede stehenden Ereignisse
319
IV. Zusammenfassung: Die EuGH-Rechtsprechung zwischen Integration und Gleichberechtigung aller Amtssprachen
320
4. Kapitel Die EuGH-Rechtsprechung im Spannungsfeld zwischen Individualrechtsschutz und einheitlicher Auslegung des Gemeinschaftsrechts
322
Die Pflicht zur Berücksichtigung fremder Sprachfassungen nach der Rechtsprechung 322 I. Problemstellung 322 II. Die Pflicht des nationalen Richters zur Berücksichtigung fremder Sprachfassungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit 324 1. Anspruch: Umfassende Pflicht zum Sprachvergleich nach dem „C.I.L.F.I.T."-Urteil
324
2. Wirklichkeit: Die tatsächliche Praxis nationaler Rechtsanwender
326
a) Schwierigkeiten der Gerichte bei der Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte
326
b) Zum „Ob" des Sprachvergleichs
327
c) Zum „Wie" des Sprachvergleichs
329
3. Stellungnahme III. Die Pflicht des Bürgers zur Berücksichtigung fremder Sprachfassungen in den Einzelfallaussagen des Gerichtshofs
331 332
nsverzeichnis
1. Abgleichspflicht nur in Zweifelsfällen
332
a) „van der Vecht": Die Grundsatzentscheidung
332
b) „Cricket St Thomas": Auch bei „Einzelfallgesetzen" kein Vorrang der landessprachlichen Fassung
333
c) „EMU Tabac": Die Bedeutung der dänischen und griechischen Fassung 2. Umfassende Prüfungspflicht
334 335
a) „Lubella": Sauerkirschen statt Süßkirschen
335
b) „Kommission gegen Dänemark": Kraftstoff statt Brennstoff
336
c) „Kraaijeveld": Arbeit an Deichen als Flusskanalisierungs- und Stromkorrekturarbeiten?
337
d) „Codan": „Steuern auf die Übertragung von Wertpapieren" statt „Börsenumsatzsteuern"
338
e) „Ebony": Sanktionen ohne Grundlage in einzelnen Sprachfassungen
339
f)
„Krücken" und „Ferriere Nord": Klarheit der isoliert betrachteten Sprachfassung nicht ausreichend
3. Stellungnahme
340 341
a) Die konkrete Situation der Entscheidungsfindung beim EuGH
342
b) Verbleibende Widersprüche
343
IV. Notwendigkeit eines Alternativkonzepts 1. Die dogmatischen Brüche in der EuGH-Rechtsprechung
344 344
a) Anforderungen an die nationalen Gerichte einerseits und die Bürger andererseits
344
b) Die Judikatur zu Rechtsakten allgemeiner Geltung einerseits und zu anderen Rechtsakten andererseits
345
2. Sachliche Gebotenheit eines Konzepts zum Individualrechtsschutz 3. Übertragbarkeit der Regeln des Internationalen Privatrechts? a) Die Lösung des Sprachrisikos im IPR
345 347 347
aa) Grundsätzliches
348
bb) Die Existenz mehrerer authentischer Vertragssprachen
350
b) Übertragbarkeit auf die Situation im Gemeinschaftsrecht 4. Kein Individualrechtsschutz durch Vorrang der landessprachlichen Fassung
353
5. Individualrechtsschutz durch Vertrauensschutz
355
a) Sprachdivergenzen und das Gebot der Rechtssicherheit b) Anerkennung des Vertrauensschutzgrundsatzes in den Schlussanträgen der General an wäl te
351
355 356
nsverzeichnis
22
6. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Anwendung mehrsprachiger Rechtstexte
357
7. Festlegung der Kriterien für die Gewährung von Rechtsschutz durch den EuGH selbst
359
a) Keine autonome Entscheidung der nationalen Instanzen
359
b) Notwendigkeit dogmatischer Vorgaben durch den EuGH B. Erste Vorgabe für das Alternativkonzept: Koordinaten zulässiger Sprachregelungen in der übrigen Rechtsprechung des EuGH I.
360 361
Sprache und materielles Gemeinschaftsrecht
362
1. Personenverkehrsfreiheit und Sprachregelungen der Mitgliedstaaten
362
a) Sprachliche Anforderungen der Mitgliedstaaten an die Unionsbürger
363
b) Sprachliche Rechte der Unionsbürger gegenüber den Mitgliedstaaten
364
2. Sprachregelungen im Spannungsfeld zwischen Warenverkehrsfreiheit und Verbraucherschutz
365
a) Die EuGH-Rechtsprechung zur Produktetikettierung
366
aa) Sprachregelungen im nationalen Lebensmittelrecht und das Kriterium der „leicht verständlichen Sprache"
366
bb) Sprachregelungen im sekundären Gemeinschaftsrecht
367
cc) Stellungnahme
368
b) Generelles Verständlichkeitsgebot im Gemeinschaftsrecht
369
II. Sprache und institutionelles Gemeinschaftsrecht
371
1. Sprachprobleme bei der Rechtssetzung
371
2. Sprachprobleme bei Rechtsakten ohne allgemeine Geltung
373
3. Sprachprobleme infolge des Fehlens einzelner Sprachfassungen
374
4. Stellungnahme
375
III. Anerkennung eines Grundrechts auf eigene Sprache?
376
1. Problemaufriss
376
2. Sprachenartikel im Verfassungs- und Völkerrecht a) Staatsbezogene Sprachenartikel mit korporativem Minderheitenschutz
377
b) Grundrechtliche Sprachenartikel 3. Grundrechte im geschriebenen Gemeinschaftsrecht
377 378 379
a) Vorschriften über die Gemeinschaftssprachen
379
b) Vorschriften über die sprachliche Vielfalt
380
c) Grundrechtliche Sprachenartikel 4. Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze
381 381
nsverzeichnis
a) Sprachliche Rechte in der EMRK b) Sprachenrechtliche Bestimmungen mehrsprachiger Mitgliedstaaten 5. Zusammenfassung: Das Sprachengrundrecht im Gemeinschaftsrecht IV. Fazit
381 382 383 384
C. Zweite Vorgabe für das Alternativkonzept: Die EuGH-Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen 384 I. Geltung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Strafrecht
385
1. Der Grundsatz der Gesetzesbestimmtheit von Straftatbestand und Strafe
385
a) Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes
385
b) Reichweite des Bestimmtheitsgrundsatzes
387
c) Schranken des Bestimmtheitsgrundsatzes
387
2. Gewährleistungsumfang des Bestimmtheitsgrundsatzes
388
a) Differenzierung zwischen Straf- und Bußgeldrecht
388
b) Spezifische Anforderungen im Fall von Blankettstrafgesetzen
389
II. Vorgaben der allgemeinen Rechtsgrundsätze für das Verwaltungsrecht 1. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz 2. Dogmatische Fundierung des Vertrauensschutzgrundsatzes
391
a) Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH
391
b) Anwendung auf das Sprachdivergenzproblem
392
3. Voraussetzungen für die Gewährung von Vertrauensschutz
393
a) Existenz einer Vertrauenslage
394
b) Schutzwürdigkeit des Vertrauens
395
aa) Systemimmanente Anhaltspunkte
395
bb) Offenkundige Fehlerhaftigkeit
396
cc) Spekulationsgeschäfte c) Interessenabwägung 4. Konkretisierung des Vertrauensschutzes in Spezialbereichen
397 398 398
5. Wirkungen des Vertrauensschutzgrundsatzes
400
a) Vertrauensschutz und Normsetzung
400
b) Vertrauensschutz und Rechtsprechung D. Anwendung der EuGH-Rechtssprechung zum Vertrauensschutz auf Sprachdivergenzen im Verwaltungsrecht I.
389 389
401 402
Voraussetzungen für die Gewährung von Vertrauensschutz
403
1. Existenz einer Vertrauenslage
403
a) Vertrauensbegründendes Verhalten seitens der EG-Organe
403
nsverzeichnis
aa) Verantwortlichkeit für alle Arten von Sprachdivergenzen
403
bb) Vertrauensbegründendes Verhalten auch bei der Setzung von Primärrecht
404
b) Vertrauensbetätigung und Kausalität
405
Schutzwürdigkeit des Vertrauens
406
a) Frage der Vorhersehbarkeit
406
aa) Klarheit und Eindeutigkeit der Norm
407
(1) Keine unbedingte Prüfungspflicht des Betroffenen
407
(2) Klarheit der isoliert betrachteten Sprachfassung
408
bb) Kriterien zur Ermittlung der Unklarheit
409
(1) Unklarheit des Wortlauts selbst
410
(2) Unklarheit aufgrund weiterer Auslegungsmethoden (3) Unklarheit aufgrund übergeordneter Prinzipien des Gemeinschaftsrechts
411 411
(4) Bedeutung einer gefestigten EuGH-Rechtsprechung
412
(5) Fazit
412
b) Anforderungen an die Unionsbürger
413
aa) Differenzierung nach den verschiedenen Rechtshandlungen?
413
bb) Differenzierung nach Adressatenkreisen
415
cc) Differenzierung nach Politikfeldern
416
dd) Sonderstellung für auf internationalen Abkommen beruhendes Gemeinschaftsrecht?
418
(1) Kein prinzipieller Ausschluss der Gewährung von Vertrauensschutz
418
(2) Kriterien für die Gewährung von Vertrauensschutz
419
ee) Zusammenfassung und Ergebnis c) Die Bedeutung der „eigenen" Sprachfassung
419 420
aa) Mögliche Anknüpfungspunkte für die Frage der relevanten Sprachfassung bb) Grundsätzliche Entscheidung für die Muttersprache (1) Absage an pauschale Anknüpfungspunkte (2) Muttersprache als entscheidendes Kriterium für die subjektive Erkenntnisfähigkeit (3) Weitere Kriterien für die Einzelfallprüfung cc) Die Situation mehrsprachiger Mitgliedstaaten (1) Parallele zur Produktetikettierung in mehrsprachigen Mitgliedstaaten
420 421 421 422 422 423 423
nsverzeichnis
(2) Vertrauensschutz auf die Muttersprache in mehrsprachigen Mitgliedstaaten
424
dd) Tragfähigkeit des Muttersprachen-Konzepts im Lichte anderer Bestimmungen und Grundsätze
425
(1) Allgemeines
425
(2) Verstoß gegen Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote des EGV
426
(a) Berufung auf verschiedene Fassungen gegenüber verschiedenen Hoheitsträgern
427
(b) Berufung auf verschiedene Fassungen gegenüber dem gleichen Hoheitsträger
428
3. Interessenabwägung a) Einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts b) Verbot der Diskriminierung anderer Wirtschaftsteilnehmer
429 429 430
II. Rechtsfolgen der Gewährung von Vertrauensschutz
431
1. Wirkungen des Vertrauensschutzgrundsatzes
431
a) Ausgestaltung des Primärrechtsschutzes
431
b) Differenzierung zwischen Primär- und Sekundärrechtsschutz?
433
2. Konkrete Umsetzung der Anforderungen a) Situation vor der Einleitung eines Gerichtsverfahrens
434 434
aa) Umfang der Prüfungspflicht
434
bb) Auskunftsanspruch auf nationaler Ebene
435
cc) Auskunftsanspruch auf Gemeinschaftsebene
435
b) Situation nach der Einleitung eines Gerichtsverfahrens
436
c) Situation nach der verbindlichen Entscheidung des EuGH
437
III. Berichtigung einzelner Fassungen und Rückwirkungsbegrenzung
438
1. Rückwirkungsbegrenzung im Gemeinschaftsrecht
438
a) Echte und unechte Rückwirkung
439
b) Abgrenzung zur scheinbaren Rückwirkung
440
2. Die EuGH-Rechtsprechung zur Berücksichtigung nachträglicher Änderungen bei der Auslegung
441
a) Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs
441
b) Auseinandersetzung mit der Rückwirkungsproblematik durch die Generalanwälte
442
3. Konzept zur Behandlung der nachträglichen Korrektur von Sprachfassungen a) Anwendung der Vertrauensschutzgrundsätze
444 444
nsverzeichnis
b) Abgrenzung zwischen bloßen Berichtigungen und sachlichen Änderungen einer Norm
445
4. Tragfähigkeit des Konzepts im Lichte der übrigen EuGH-Rechtsprechung
445
IV. Bewertung der EuGH-Rechtsprechung anhand des Vertrauensschutzmodells 1. Die EuGH-Rechtsprechung im Allgemeinen
446 446
a) Sachverhalte ohne Vertrauensschutz-Problem
446
b) Fehlende Auseinandersetzung mit dogmatischen Grundkategorien
448
c) Erfüllung der subjektiven Voraussetzungen für die Gewährung von Vertrauensschutz
449
aa) Keine Mehrdeutigkeit der nationalen Sprachfassung
450
bb) Unzumutbarkeit der Ermittlung von Sprachdivergenzen
451
2. Sonderprobleme bei der Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs
452
a) Mehrdeutigkeit aufgrund grammatikalischer Auslegung b) Mehrdeutigkeit aufgrund systematisch-teleologischer Erwägungen
453
c) Mehrdeutigkeit aufgrund der Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur?
454
d) Mehrdeutigkeit aufgrund des Wortlauts anderer Sprachfassungen?
455
Anwendung der EuGH-Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgrundsatz auf Sprachdivergenzen mit strafrechtlichen Bezügen
457
I.
457
Bestimmtheitsgrundsatz und Sprachdivergenzen
452
1. Gesetzliche Grundlage in jeder einzelnen Sprachfassung
457
2. Bestimmtheit jeder einzelnen Sprachfassung
458
3. Anwendungsbereich des Bestimmtheitsgrundsatzes
459
II. Analyse der EuGH-Rechtsprechung zu Sprachdivergenzen im Lichte des Bestimmtheitsgrundsatzes 1. Die strafrechtliche „Legitimationskette"
460 460
a) „Ebony": Fehlende Sanktionsnorm in der italienischen Sprachfassung
460
b) „National Farmers' Union": Unvollständiger Verweis der Sanktionsnorm auf einzelne Tatbestandsmerkmale
461
2. Inhaltliche Anforderungen an die Bestimmtheit der Norm
462
a) Die Unbestimmtheit von Normen im Gemeinschaftsrecht
462
b) Anwendungsfälle
464
3. Verstöße gegen den Bestimmtheitsgrundsatz im Kriminalstrafrecht a) „Töpfer": Strafbarkeit von Missbrauchsfällen?
465 465
nsverzeichnis
b) „RoudolffAuslegung gegen den Beschuldigten trotz Mehrdeutigkeit des Textes
467
c) „Röser": Absage an eine Differenzierung nach Strafverfahren und sonstigen Verfahren
468
F. Zusammenfassung und Überprüfung der Ergebnisse
470
I.
Zusammenfassung
470
II. Vereinbarkeit mit dem gemeinschaftsrechtlichen Methodenkanon
471
III. Vereinbarkeit mit den Vorschlägen zur Reform des Gerichtssystems
471
5. Kapitel Die Zukunft des Sprachenrechts der Europäischen Union A. Punktuelle Verbesserungen I.
474 474
Lösungsvorschläge de lege lata
474
1. Auf der Ebene der Rechtssetzung
475
2. Auf der Ebene der Rechtsübersetzung
476
3. Auf der Ebene der Rechtsanwendung II. Lösungsvorschläge de lege ferenda 1. Die Verhinderung von Bedeutungsdivergenzen
477 477 478
a) Flächendeckende Einführung von Legaldefinitionen?
478
b) Bedeutung der Rechtsvereinheitlichung
479
c) Wechselwirkung zwischen europarechtlicher und einzelstaatlicher Terminologie
480
2. Die Vorschläge zur Reform des Gerichtssystems
481
a) Vorschläge zur Gerichtsstruktur
481
b) Verfahrensfragen
483
B. Modell für das zukünftige Sprachenregime mit Blick auf die EU-Osterweiterung
484
I. Gegenwärtig diskutierte Vorschläge
484
1. Die Reformbedürftigkeit der Sprachenregelung
484
2. Die vorgeschlagenen Reforminhalte
485
II. Aiternati ν Vorschlag 1. Koordinaten einer zukünftigen Sprachenregelung der EU
487 487
a) Die Vorgaben höherrangigen Rechts
487
b) Das Gleichheitsargument
488
2. Inhalt des Alternativvorschlags a) Grundsätzliche Beibehaltung des Amtssprachenregimes
489 489
nsverzeichnis
28
aa) Exekutives Sprachenrecht
490
bb) Judikatives Sprachenrecht
490
b) Verringerung der Arbeitssprachenzahl
491
aa) Die zukünftige Arbeitssprachenregelung im Allgemeinen
491
bb) Die Arbeitssprachenregelung des Europäischen Parlaments im Besonderen
492
c) Anpassung des Amtssprachenregimes im Bereich des legislativen Sprachenrechts
493
aa) Notwendigkeit der Existenz aller Rechtsakte in den Gemeinschaftssprachen
493
bb) Übersetzungen im Lichte des Rechtsstaatsprinzips
494
cc) Folgerungen für die Sprachregelung der Gemeinschaft
495
d) Keine Verlagerung der Übersetzungen auf nationale Instanzen
496
e) Kriterien für die Auswahl der Arbeitssprachen
497
aa) Das Englische und Französische als Arbeitssprachen
497
bb) Die Anerkennung des Deutschen als dritte Arbeitssprache
498
3. Konsequenzen des Alternativvorschlags
499
a) Anwendung des Vertrauensschutzkonzepts auf die modifizierte Sprachenregelung
499
b) Vorteile für die Rechtsstellung der Unionsbürger
500
c) Praktikabilität der Sprachenregelung
501
d) Erhöhte Effizienz und Qualität der Rechtssetzung
501
C. Ausblick: Europäische Einheit in sprachlicher Vielfalt
502
Zusammenfassung und Thesen
505
Zusammenfassung
505
Summary
506
Résumé
507
Thesen
508
Literaturverzeichnis Verordnung Nr. 1 des Rates (zur Regelung der Sprachenfrage) Entscheidungsregister
514 544 546
EuGH: Urteile zum Sprachvergleich
546
EuGH: Entwicklung der Anzahl der Urteile
552
nsverzeichnis
EuGH: Urteile zum Bedeutungsproblem
553
EuGH: Schlussanträge zum Sprachvergleich
555
EuGH: Urteile zu anderen Sprachproblemen
573
EuG: Urteile zum Sprachvergleich
576
EuG: Urteile zu anderen Sprachproblemen
577
Deutsche Gerichte: Urteile zum Sprachvergleich
578
Sachverzeichnis
580
Abkürzungsverzeichnis a. Α.
anderer Ansicht
ABl.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
Abs.
Absatz/Absätze
a.E.
am Ende
a.F.
alte Fassung
AJCL
The American Journal of Comparative Law
AJP
Aktuelle Juristische Praxis
Alt.
Alternative
Anm. (m. Anm.)
Anmerkung (mit Anmerkung)
AnwBl.
Deutsches Anwaltsblatt
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ArchVR
Archiv des Völkerrechts
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Art.
Artikel
Autl.
Auflage
A WD
Außenwirtschaftsdienst (ab 1975 Recht der internationalen Wirtschaft)
Az.
Aktenzeichen
BALM
Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung
BayVBl.
Bayerische Verwaltungsblätter
ΒΒ
Betriebsberater
BB1.
Bundesblatt (Schweiz)
Bd.
Band
BFH
Bundesfinanzhof
BFHE
Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs
BFH/NV
Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGE
Entscheidungen des Bundesgerichts (Schweiz)
Abkürzungsverzeichnis
BGH
Bundesgerichtshof
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
BR-Drucks.
Bundesrats-Drucksache
BT-Drucks.
Bundestags-Drucksache
B.U. Int. L.J.
Boston University International Law Journal
BullEU
Bulletin der Europäischen Union
BV
Bundesverfassung (Schweiz)
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
Β. 'Y. I. L.
The British Yearbook of International Law
bzw.
beziehungsweise
ca.
circa
CDE
Cahiers de Droit Européen
C. de D.
Les Cahiers de Droit
ChDS
Chronique de Droit Social
C.M.L.Rev.
Common Market Law Review
Col. J. Eur. L.
The Columbia Journal of European Law
d.h.
das heißt
Diss.
Dissertation
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
DroitsRevFr
Droits : Revue Française de Théorie Juridique
DstRE
Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst
DV
Die Verwaltung
EA
Europa-Archiv
EAG
Europäische Atomgemeinschaft
EAGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft
EFA
Europäisches Forum für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll
EFG
Entscheidungen der Finanzgerichte
EG
Europäische Gemeinschaft(en)
EGBGB
Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGKSV
Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
Abkürzungsverzeichnis
32
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
E.L.Rev.
European Law Review
EMRK
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
endg.
endgültig
EP
Europäisches Parlament
EPA
Europäisches Patentamt
EPÜ
Europäisches Patentübereinkommen
E.Rev. Priv.L.
European Review of Private Law
ESZB
Europäisches System der Zentralbanken
etc.
et cetera
EU
Europäische Union
EuG
Europäisches Gericht erster Instanz
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGHE
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EuGVÜ
Europäisches Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
EuR
Europarecht (Zeitschrift)
Euratom
Europäische Atomgemeinschaft
EUV
Vertrag über die Europäische Union
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
EwiR
Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht
EWS
Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift)
EZB
Europäische Zentralbank
f./ff.
folgende
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FG
Finanzgericht
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GAP
Gemeinsame Agrarpolitik
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GazPal
Gazette du Palais
Abkürzungsverzeichnis
GeschO
Geschäftsordnung
GG
Grundgesetz
ggf.
gegebenenfalls
GLS
Grazer Linguistische Studien
GRUR Int.
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht - Internationaler Teil
GS
Gedächtnisschrift
G/T/E
von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (s. Literaturverzeichnis)
GZT
Gemeinsamer Zolltarif
HABM
Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle)
Harv. Int. L.J.
Harvard International Law Journal
h.L.
herrschende Lehre
h.M.
herrschende Meinung
Hrsg.
Herausgeber
HZA
Hauptzollamt
ICLFR
The International Contract - Law & Finance Review (ab 1983 International Financial Law Review)
i.d.F.
in der Fassung
i.d.R.
in der Regel
insbes.
insbesondere
IntPol
Internationale Politik (Zeitschrift)
IPR
Internationales Privatrecht
IPRax
Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts
IPRspr
Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des internationalen Privatrechts (Zeitschrift)
i.S.d.
im Sinne des/der
IsrLawR
Israel Law Review
IsrYrbkHumRts
Israel Yearbook on Human Rights
IStR
Internationales Steuerrecht - Zeitschrift für europäische und internationale Steuer- und Wirtschaftsberatung
i.V.m.
in Verbindung mit
i.w.S.
im weiteren Sinne
JA
Juristische Arbeitsblätter
JbltalR
Jahrbuch für Italienisches Recht
JdTrib
Journal des Tribunaux
JdTribTrav
Journal des Tribunaux du Travail
3
Schübel-Pfister
34
JöR
Abkürzungsverzeichnis
Jahrbuch des öffentlichen Rechts
Jura
Juristische Ausbildung
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
Kap.
Kapitel
KN
Kombinierte Nomenklatur
LawSocGaz
The Law Society's Gazette
LebSpr
Lebende Sprachen
LeGes
Gesetzgebung heute - Mitteilungsblatt der Schweizer Gesellschaft für Gesetzgebung
LG
Landgericht
lit.
litera
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
MMR
Multimedia und Recht
m.N./m.w.N.
mit Nachweisen/mit weiteren Nachweisen
NJB
Nederlands Juristenblad
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NotUE
Noticias de la Unión Europea
Nr.
Nummer(n)
NRZZ
Nomenklatur des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens
NuR
Natur und Recht
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
Nw.U. L.Rev.
Northwestern University Law Review
OFD
Oberfinanzdirektion
OLG
Oberlandesgericht
PasBel
Pasicrisie Beige
PJZS
Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen
RabelsZ
Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht
Rdn.
Randnummer(n)
RDP
Revue du droit public et de la science politique
RevBelDrlnt
Revue Belge de Droit International
RevInstEur
Revista de Instituciones Europeas (seit 1997 Revista de Derecho comunitario)
RevLD
Revista di Llengua i Dret
RGDIP
Revue générale de droit international public
Abkürzungsverzeichnis
RIDC
Revue internationale de droit comparé
RIE/JEI
Revue d'intégration européenne/Journal of European Integration
RivDirEur
Rivista di Diritto Europeo
RivDirlnt
Rivista di Diritto Internazionale
RIW
Recht der internationalen Wirtschaft (bis 1974 Außenwirtschaftsdienst)
RJ
Rechtshistorisches Journal
RL
Richtlinie
RMC
Revue du Marché Commun
Rs.
Rechtssache
RTDE
Revue Trimestrielle de Droit Européen
RVJ/ZWR
Revue Valaisanne de Jurisprudence/Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung
RZZ
Rat für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens
S.
Seite
s./s.a.
siehe/siehe auch
SchlA
Schlussanträge
Slg.
Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften
sog.
sogenannte(n/r/s)
SprRep
Sprachreport
SR
Systematische Sammlung des Bundesrechts (Schweiz)
StatLawRev
Statute Law Review
StE
Steuer-Eildienst
StGB
Strafgesetzbuch
st. Rspr.
ständige Rechtsprechung
SuL
Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht
s.(u./o.)
siehe (unten/oben)
Tul. L.Rev.
Tulane Law Review
T&T
Terminologie et Traduction
u.
und
u.a.
unter anderem; und andere
U.Chi. Leg.F.
The University of Chicago Legal Forum
UN
United Nations
UPR
Umwelt- und Planungsrecht (Zeitschrift)
UR
Umsatzsteuer-Rundschau
usw.
und so weiter
Abkürzungsverzeichnis
36
u.U.
unter Umständen
UVR
Umsatzsteuer und Verkehrssteuer (Zeitschrift)
v.
vom/von
Valp. U. L.Rev.
Valparaiso University Law Review
VB1BW
Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg
verb. Rs.
verbundene Rechtssachen
Verf.
Verfasser
VerfO
Verfahrensordnung
Verw.
Die Verwaltung (Zeitschrift)
vgl. (o./u.)
vergleiche (oben/unten)
VO
Verordnung
Vorbem.
Vorbemerkung
VVDStRL
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
WiB
Wirtschaftsrechtliche Beratung (Zeitschrift)
wistra
Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht
WRP
Wettbewerb in Recht und Praxis
WVRK
Wiener Vertragsrechtskonvention
Y.E.L.
Yearbook of European Law
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
z.B.
zum Beispiel
ZEuP
Zeitschrift für europäisches Privatrecht
ZEuS
Zeitschrift für europarechtliche Studien
ZfRV
Zeitschrift für Rechtsvergleichung
ZfZ
Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern
ZG
Zeitschrift für Gesetzgebung
ZGR
Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht
ZHR
Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht
ZIP
Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
ZK
Zollkodex
ZLR
Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht
ZöR
Zeitschrift für öffentliches Recht (bei manchen Autoren ÖZöR)
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
z.T.
zum Teil
ZVglRWiss
Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft
ZZP
Zeitschrift für Zivilprozess
1. Kapitel
Vielsprachigkeit als Herausforderung für den europäischen Integrationsprozess Der Turmbau zu Babel Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Stadt zu bauen.
HERR
von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die
Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder. [Genesis 11, 6-9] Das Pfingstwunder Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. [Apostelgeschichte 2, 1-4] Vielsprachigkeit ist weder ein spezifisch europäisches noch ein typisch neuzeitliches Problem. Im Alten Testament wird die Vielsprachigkeit als tragische Folge eines göttlichen Fluchs empfunden, mit dem die Menschen für ihren Übermut bestraft wurden. Nach der alttestamentarischen Darstellung des Turmbaus zu Babel schuf die confusio linguarum Unordnung und Chaos, nahm dem ins Werk gesetzten gemeinsamen Plan Ziel und Methode. Dieses Bild von der babylonischen Sprachverwirrung wird oft als Synonym für die Sprachensi-
38
1. Kapitel: Vielsprachigkeit und Integrationsprozess
tuation in der Europäischen Union herangezogen.1 Multilingualismus wird als störende Barriere bei der Konstruktion von materiellen wie ideellen Gebäuden, als Bedrohung bei der Schaffung gemeinsamer Werke empfunden. Im Neuen Testament wird vom Pfingstwunder berichtet. Plötzlich konnten alle Menschen die Botschaft in ihrer jeweiligen Muttersprache hören und verstehen. Werden die Bemühungen der Europäer, mit einer einzigen Stimme zu sprechen, nicht dadurch konterkariert, dass sich diese Stimme in elf Sprachen artikulieren muss? Ist die Vielsprachigkeit ein Hindernis beim Bau des gemeinsamen europäischen Hauses, insbesondere beim Aufbau einer gemeinsamen Rechtsordnung? Welche Probleme wirft die Vielsprachigkeit im Hinblick auf das Verständnis des Gemeinschaftsrechts auf? Die vorliegende Arbeit versucht, zur Beantwortung dieser Fragen einen bescheidenen Beitrag zu leisten.
A. Das mehrsprachige Gemeinschaftsrecht an der Schnittstelle zwischen Recht und Sprache Das Recht der Europäischen Union ist mehrsprachig. Probleme, die sich aus der Mehrsprachigkeit des Rechts ergeben, stehen im Zentrum der „ins Wesen treffenden Verbindung 44 zwischen Recht und Sprache.2 Bei Fragen der Mehrsprachigkeit des Rechts muss sich das Recht mit dem Phänomen der Sprache inhaltlich auseinandersetzen. Das Thema „Recht und Sprache44 weist aber nicht nur Bezüge zum positiven Recht auf, sondern gehört zugleich der Rechtstheorie an, soweit es nämlich um den Zusammenhang zwischen der Struktur einer Sprache und einer in ihr enthaltenen Rechtsregel geht.3
1 Schon im Titel zahlreicher Beiträge zum Thema Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union finden sich Anspielungen auf das „Sprachenbabylon" der EG, vgl. nur Ackermann, Das Sprachenproblem im europäischen Primär- und Sekundärrecht und der Turmbau zu Babel, WRP 2000, S. 807 ff.; Berteloot, Babylone à Luxembourg, Jurilinguistique à la Cour de Justice, passim; Born, Bauen wir Babel? Zur Sprachenvielfalt in der Europäischen Gemeinschaft, SprRep 1993/1, S. 1 ff.; von Donat, Europas Babylon: Das Sprachen-Problem der EG, EG-Magazin 1977, S. 10 ff.; Heynold, L'Union européenne: Jardin d'Éden ou Tour de Babel?, T & T 1999/3, S. 5 ff.; Huntington, European Unity and the Tower of Babel, B.U. Int. L.J. 1991, S. 321 ff.; Martiny , Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, ZEuP 1998, S. 227 ff.; de Witte, Surviving in Babel? Language rights and European Integration, IsrYrbkHumRts 1992, S. 103 ff. 2
Forsthoff, Recht und Sprache, S. 1. Vgl. zu diesen zwei Aspekten der Beziehung zwischen Recht und Sprache in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht auch Martiny, ZEuP 1998, S. 227 (230). 3
Α. Recht und Sprache
39
I. Recht und Sprache 1. Sprache als Erkenntnis-, Ausdrucks- und Kommunikationsmittel Die Sprache ist das Mittel, mit dem die Menschen ihre Welt erkennen und ihren eigenen Standort in der Welt bestimmen.4 Mit Hilfe der Sprache unterscheiden sie Personen, Sachen und Erfahrungen und ordnen diese einander zu. Indem die Sprache ein geschichtlich gewachsenes Weltbild vermittelt, wirkt sie gleichermaßen auf die formalen Denkstrukturen wie auf die gedanklichen Inhalte ein. 5 Die Sprache ist aber nicht nur Erkenntnismittel und Bezugsrahmen für das Denken des Individuums, sondern zugleich Ausdrucksmittel des Menschen und Träger der Kommunikation. 6 Für den Menschen stellt sie den primären Faktor seiner persönlichen und sozialen Identität dar. 7 Als Medium, das es einer Gesellschaft erlaubt, ihr Wissen festzuhalten und zu übermitteln, schafft die Sprache die Voraussetzungen für den Zusammenhalt der sprachlich konstituierten Gemeinschaft und für gemeinsames Handeln. Sprache ist als Faktor der Identifikation für die Zuordnung zu sozialen Gruppen maßgebend8 und damit auch ein Machtinstrument. 9
2. Recht als Sprachschöpfung Das Recht ist auf die Sprache als Erkenntnis-, Ausdrucks- und Kommunikationsmittel angewiesen. Recht wird erst durch das Medium der Sprache wirksam 10 ; Unsägliches bleibt auch für das Recht unregelbar. 11 Da sich die Rechtsbegriffe und Rechtsvorstellungen ohne Sprache in der Regel nicht darstellen lassen, bestimmen die von der Sprache bereitgestellten Kategorien und Strukturen auch unser rechtliches Denken. 12 Die Sprache ist damit einerseits Werkzeug des Juristen, der sich ihrer bedient, um das Recht den Rechtsunterworfenen verständlich zu machen. Andererseits wird die Sprache zum Meister des 4 Herder, Über den Ursprung der Sprache, S. 31 ff., 67 ff. und insbes. S. 86 ff. zum Zusammenhang zwischen Sprache und Verstand; vgl. auch Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, S. 69 ff. 5 Großfeld, JZ 1984, S. 1 (4 f.); Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, S. 10, 60 ff. 6 Kägi-Diener, AJP 1995, S. 443 (443). 7 Oksaar, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 16(16). 8 Vgl. Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU, S. 3 ff.; Maier, in: Hättich/Pfitzner (Hrsg.), Nationalsprachen und die Europäische Gemeinschaft, S. 79 ff.; eingehend zur integrativen und desintegrativen Funktion der Sprachen Hagège \ in: Soldatos (Hrsg.), L'Europe des cultures et des langues, S. 33 ff. 9 Der Ausdruck „cuius regio, eius lingua" legt hiervon ein beredtes Zeugnis ab; vgl. zur europäischen Sprachgeschichte im Lichte der wechselnden Machtverhältnisse van Deth, Sociolinguistica 1991, S. 1 ff.; Finkenstaedt/Schröder, Sprachen im Europa von morgen, S. 9 f. 10 Forsthoff, Recht und Sprache, S. 5. 11 Kirchhof,; Rechtssprache, S. 6. 12 Großfeld, JZ 1984, S. 1 (3).
40
1. Kapitel: Vielsprachigkeit und Integrationsprozess
Rechts, indem sie in das Recht als gestaltende Kraft hineinwirkt. 13 Die „Verwiesenheit des Rechts auf den sprachlichen Ausdruck" 14 lässt sich an der etymologischen Herkunft zahlreicher Rechtsbegriffe ablesen, die deutlich machen, dass das Hervorbringen und Vollziehen von Recht stets als ein sprachlicher Vorgang verstanden worden ist: 15 Das Entstehen eines Gesetzes hängt von der „Abstimmung" im Parlament ab; sein Wortlaut wird „verkündet". Die Exekutive handelt nicht nur in Verwaltungsakten, sondern auch mittels Regierungserklärungen" und „Verlautbarungen". Der Betroffene ge-„horcht" oder wehrt sich gegen Hoheitsakte durch einen „Widerspruch", eine „Klage" oder eine ,3erufung". Über „Einspruch" und „Freispruch" wird von der Rechtsprechung" entschieden.16 Die Begriffe Recht und Rede, Nomos (Gesetz)17 und Name, Lex (Gesetz) und Lexikon (Wort) haben jeweils einen gemeinsamen Ursprung, 18 der auf die enge Verbindung von Recht und Sprache hinweist. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Recht in der Sprache und durch die Sprache lebt. Umgekehrt ist die Sprache der Gegenwart stets Konzentrat der kulturellen, politischen und eben auch rechtlichen Geschichte der jeweiligen Sprachgemeinschaft. 19
3. Die Rechtssprache Die Verknüpfung von Recht und Sprache in Form der Rechtssprache lässt ein Spannungsverhältnis erkennen. Als zentrales Problem erweist sich hierbei, dass die juristische Sprache die Mittel der natürlichen Sprache benutzt. 20 Die bisweilen geäußerte Feststellung, dass die Rechtssprache eine Fachsprache sei, 21 geht am Kern des Problems vorbei. Zwar sind in der Tat die Sprechweisen und Begriffsbildungen des Juristen stark von der Tradition des Rechts und der Eigenart der jeweiligen Rechtskultur geprägt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Rechtssprache ausschließlich von einer bestimmten Berufsgruppe verwendet 13
Zu diesem Dualismus Großfeld, Unsere Sprache, S. 9 f.; Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, S. 60 ff., 83. 14
Forsthoff,i Recht und Sprache, S. 1. Vgl. dazu Kirchhof Rechtssprache, S. 21; Nussbaume r, Sprache und Recht, S. 1. 16 Vgl. Forsthoff,\ Recht und Sprache, S. 2; Zweigert, FS Reimer Schmidt, S. 55 (56). 17 Das griechische Verb „nemein" (νέμειν) bedeutet „weiden lassen", „zuteilen". Daran anknüpfend bezeichnet „nomos" (νόμοσ) die Ordnung, die jedem das Richtige zukommen lässt, und steht damit auch für „Brauch", „Sitte" und „Gesetz". 15
18
Großfeld, JZ 1984, S. 1 (3). Kirchhof Rechtssprache, S. 8; vgl. auch Finkenstaedt/Schröder, Sprachen im Europa von morgen, S. 12. 20 Oksaar, ARSP 1967, S. 91 (95); vgl. auch Weisgerber, Vertragstexte als sprachliche Aufgabe, S. 133. 21 So etwa Daum, in: Radtke (Hrsg.), Rechtssprache, S. 83 ff., insbes. S. 84 f.; in diese Richtung auch Κ Luttermann, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 47 (53 f.); Schwab, FS Rolland, S. 345 ff. (insbes. S. 346). 19
41
Α. Recht und Sprache
und verstanden werden dürfte. Im Unterschied zu den Fach- und Formelsprachen etwa der Naturwissenschaften bedient sich die Rechtssprache der Mittel der Alltagssprache und stellt mit Hilfe dieser Allgemeinsprache verbindliche Regelungen gegenüber jedermann auf. 22 Die Sprache des Rechtslebens ist deshalb nicht Fachsprache, sondern fachlich geprägter Teil einer an die Allgemeinheit gewendeten oder in ihren Inhalten zumindest der Allgemeinheit vermittelbaren Sprache. 23 Den Worten der Alltagssprache, derer sich der Gesetzgeber überwiegend bedient, fehlt es aber generell an semantischer Eindeutigkeit. 24 Dies liegt nicht nur in der Kontextabhängigkeit der Wortbedeutung, sondern insbesondere auch in der Tatsache begründet, dass der allgemeine Konsens der Sprachbenutzer, dem das Wort seine Aussagekraft verdankt, weder eine definitorisch verbindlich zu erfassende Größe darstellt noch in der Zeit stabil bleibt. 25 Vielmehr können sich im Laufe der Zeit innerhalb einer Sprachgemeinschaft die Inhalte von Begriffen durch die Sprechwirklichkeit verändern. 26 Der unbestreitbare Vorteil dieser Elastizität der sprachlichen Instrumente besteht darin, dass sie die Anwendbarkeit der Rechtssätze auf immer neue und zunächst noch unübersehbare Fallkonstellationen gewährleistet. 27 Allerdings führt die Tatsache, dass eine absolute Präzision des juristischen Ausdrucks sich mit dem Medium der Sprache nicht erreichen lässt, notwendigerweise zu Auslegungsschwierigkeiten, die sich in einem mehrsprachigen Raum noch vervielfachen.
II. Mehrsprachiges Recht 1. Recht und Mehrsprachigkeit Die Abhängigkeit des Rechts von der Sprache wirft insbesondere in einem mehrsprachigen Kontext Probleme auf. Da die Sprache der Nährboden des geistigen Lebens der Menschen ist, erschließt jede einzelne Sprache ein ihr eigenes geistiges Bild der Welt. Die Sprachen der Völker wirken „wie verschieden geschliffene Prismen, durch die die einzelnen Sprecher die Welt je-
22
Vgl. von Münch, NJW 2002, S. 1995 (1995). Vgl. Kirchhof Rechtssprache, S. 5 f., 14. 24 Diese Feststellung konnte Tomuschat bereits im Jahre 1972 als übereinstimmendes Fazit der Arbeiten zum Thema „Recht und Sprache" festhalten, vgl. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 66 Fn. 46 mit zahlreichen Literaturnachweisen. Sie hat auch heute noch Gültigkeit, vgl. nur Zäch, FS Meier-Hayoz, S. 45 (46 ff.). 23
25 Vgl. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, Methodenschrifttum. 26 Luttermann, FS Großfeld, S. 771 (782 f.). 27 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 68 f.
S. 66 f.
mit
Nachweisen
zum
42
1. Kapitel: Vielsprachigkeit und Integrationsprozess
weilig anders sehen" 28 ; die Verschiedenheit der Sprache bedeutet damit eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst.29 Dieser Grundgedanke des „Weltbilds der Sprache" 30 schlägt sich nicht nur bei der Bezugnahme der Sprache auf die immaterielle Rechts Wirklichkeit der verschiedenen Rechtsinstitute,31 sondern bereits dann nieder, wenn sich die Wörter auf die materielle Wirklichkeit, z.B. auf bloße Gegenstände, beziehen. Beispielsweise drücken manche Sprachen Unterschiede aus, die anderen Idiomen unbekannt sind 32 ; auch gliedern verschiedene Sprachen die Weltbefunde in unterschiedlicher Art und Weise auf. 33 Selbst wenn die Denotation eines Begriffs in zwei Sprachen gleich ist, können seine Konnotationen, also seine Nebenbedeutungen und Gefühlswerte, durchaus verschieden sein. 34 Bei dem Nebeneinander verschiedener Sprachen sind daher immer die von Idiom zu Idiom verschiedenen Wege geistiger Prägung und die daraus resultierende soziale Denkgebundenheit des einzelnen zu berücksichtigen. 35 Angesichts dieser unauflöslichen Verbundenheit zwischen Sprache und Weltsicht einerseits und der Abhängigkeit des Rechts von sprachlichen Kategorien andererseits liegt die Folgerung nahe, dass eine gemeinsame Sprache Funktionsbedingung für das Recht und wesentliche Grundlage für die Rechtsgemeinschaft ist. 36 Dass dies nicht notwendigerweise der Fall sein muss, zeigt bereits die Erfahrung mehrsprachiger Nationalstaaten wie etwa der Schweiz. Es steht aber außer Frage, dass die Mehrsprachigkeit eines Staates seine Rechtsordnung vor besondere Herausforderungen stellt. Denn es erhebt sich ähnlich wie bei der Rechtsvergleichung die Frage, was mit den durch Sprache und in Sprache lebenden Rechtsinstituten geschieht, wenn sie mit gleicher Bedeutung in verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden sollen. In jedem mehrsprachigen Kontext fehlt dem Juristen die Verlässlichkeit seiner heimischen Sprache als Ordnungsinstrument, die traditionelle Sicherheit des sprachlichen Hintergrunds für das Recht. 37 Dies gilt auch und in besonderem Maße für die Europäische Union als supranationaler Organisation, die auf gegenwärtig fünfzehn
28
Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, S. 42. von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. 30 Weisgerber, Vertragstexte als sprachliche Aufgabe, S. 131; vgl. auch Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, S. 79: „Weltbildfunktion der Sprache". 31 Beispiele bei Großfeld, JZ 1997, S. 633 (634 f.). 32 Vgl. die Beispiele bei Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, S. 66 f. und bei Zäch, Symposium Meier-Hayoz, S. 45 (45); Beispiele speziell aus dem gemeinschaftsrechtlichen Kontext bei Dwyer, LawSocGaz 1979, S. 244 (244). 29
33
Beispiele bei Zäch, Symposium Meier-Hayoz, S. 45 (46). OL·aar, ARSP 1967, S. 91 (116). 35 Neumann-Duesberg, Sprache im Recht, S. 70; s.a. Weisgerber, Vertragstexte als sprachliche Aufgabe, S. 3. 36 Vgl. Kirchhof, Rechtssprache, S. 9; s.a. von Donat, EG-Magazin 1977, S. 10 (11). 37 Großfeld, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 32 ff. 34
Β. Mehrsprachigkeit und Rechtswissenschaft
43
verschiedenen Rechtsordnungen und elf eigenständigen, aber gleichermaßen verbindlichen Rechtssprachen beruht.
2. Die Problematik der Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte Das mehrsprachige Recht der Europäischen Union wirft sprachliche Probleme sowohl auf der Ebene der Rechtssetzung als auch auf der Ebene der Rechtsanwendung auf. Im Vordergrund stehen die Probleme der Auslegung und Anwendung des mehrsprachigen Rechts. Da die Rechtsanwendung aber mit der Erstellung der mehrsprachigen Rechtstexte verzahnt ist, können die beiden Problemkreise nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Die Frage der Auslegung mehrsprachigen Rechts kann gleichermaßen aus rechtswissenschaftlicher wie aus sprachwissenschaftlicher Perspektive behandelt werden. Die Rechtsakte in der Europäischen Union sind einerseits sprachliche Dokumente, die in ihrer Entstehung und Wirkung an sprachliche Bedingungen gebunden sind. 38 Andererseits stellen die gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte gleichzeitig und in erster Linie juristische Dokumente dar, die darauf angelegt sind, rechtliche Verhältnisse zu ordnen und Rechtswirkungen zu erzeugen. Die Frage der Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts wird damit zu einem zentralen Problem der juristischen Hermeneutik.
B. Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union als rechtswissenschaftliche Themenstellung Die Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union betrifft als Thema an der Schnittstelle zwischen Recht und Sprache Juristen und Linguisten gleichermaßen. Die unterschiedliche Perspektive, mit der Sprach- und Rechtswissenschaftler sich diesem Themenkreis nähern, kommt häufig schon in der Wortwahl zum Ausdruck. Während dem Juristen die Wortfolge „Recht und Sprache" geläufiger ist, wird von den Linguisten die Thematik vorzugsweise unter dem Stichwort „Sprache und Recht" behandelt.39
38
Zu diesem Aspekt - in bezug auf völkerrechtliche Verträge - Weisgerber, sprachliche Aufgabe, S. 1 f. 39 Großfeld, JZ 1997, S. 633 (633).
Vertragstexte als
44
1. Kapitel: Vielsprachigkeit und Integrationsprozess
I. Behandlung in der Literatur 1. Behandlung aus nicht-juristischer Sicht Das Thema „Recht und Sprache in der Europäischen Union" wird aus nichtjuristischer Sicht häufiger und intensiver behandelt als aus dem rechts wissenschaftlichen Blickwinkel, 40 wobei sich verschiedene Themenschwerpunkte unterscheiden lassen. Zunächst beschäftigen sich Sprachwissenschaftler vielfach mit den - im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher interessierenden - Fragen aus dem Bereich der Minderheitensprachen in Europa. 41 Des Weiteren gibt es sprachphilosophische Ansätze, die dem Bürger den Zugang zu seinem Recht erleichtern wollen und die gemeinschaftsrechtliche Rechtstexte speziell unter dem Gesichtspunkt der Verständlichkeit des Rechts betrachten. 42 Darüber hinaus sind Studien von Sprachwissenschaftlern zu nennen, die der Entstehung von Rechtstexten unter Mehrsprachigkeitsbedingungen, 43 sprachtheoretischen Fragen bei der Übersetzung des Gemeinschaftsrechts 44 sowie der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Rechtstexte aus linguistischer Sicht 45 gewidmet sind. Schließlich setzen sich Sprachwissenschaftler auch mit der Stellung und der tatsächlichen Verwendung der deutschen Sprache und anderer Sprachen in der Europäischen Union auseinander, 46 wobei die Grenzen zwischen soziolinguistischen Analysen und politikwissenschaftlichen Ansätzen bisweilen fließend sind. Gerade zum letztgenannten Aspekt gibt es nicht nur sprachwissenschaftliche Analysen, sondern auch Stellungnahmen von linguistischen Praktikern, also von Übersetzern und Dolmetschern. 47 Diese nehmen darüber hinaus allgemein zu den praktischen Problemen der Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union, insbesondere zur Funktionsfähigkeit der mehrsprachigen Organe der Gemeinschaft, Stellung. In diesem Zusammenhang werden z.B. der Alltag der mehrsprachigen Kommunikation in den EG-Organen oder die praktische Arbeit
40 Eine umfassende Bibliographie zum Thema Sprache und Recht allgemein sowie auch speziell zum mehrsprachigen Recht in der EU findet sich bei Nussbaumer, Sprache und Recht, S. 11 ff. 41 Vgl. nur Neide, Multilingua 1990, S. 47 ff. 42 Vgl. z.B. Schütte, LeGes 1992/2, S. 11 ff. 43 Vgl. insbesondere die Monographie von Born/Schütte, Eurotexte, passim; Zusammenfassung von Schütte, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 88 ff. Born/Schütte analysieren die Schwierigkeiten, die bei der Erstellung von Rechtstexten aufgrund des Zusammenwirkens mehrerer Autoren unterschiedlicher Muttersprache auftreten, am Beispiel des Wirtschafts- und Sozialausschusses. 44
Sarcevic, New Approach to Legal Translation, passim. Braselmann, EuR 1992, S. 55 ff.; Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, passim. 46 Vgl. aus der Fülle der Literatur Born/Stickel (Hrsg.), Deutsch als Verkehrssprache in Europa, mit verschiedenen Beiträgen; Debus, in: Seifert (Hrsg.), Vereinigtes Europa, S. 47 ff.; Schloßmacher, Die Amtssprachen in den Organen der Europäischen Gemeinschaft, passim sowie jüngst Kelz (Hrsg.), Die sprachliche Zukunft Europas, mit verschiedenen Beiträgen. 47 Vgl. z.B. Quell, Multilingua 1997/1, S. 57 ff.; Voigt, T & T 1992/2, S. 186 ff. 45
Β. Mehrsprachigkeit und Rechtswissenschaft
45
der Übersetzer- und Dolmetscherdienste geschildert. 48 Bezeichnenderweise sind die Stellungnahmen der linguistischen Praktiker fast durchgehend in englischer oder französischer Sprache abgefasst.
2. Behandlung aus rechtswissenschaftlicher Sicht Angesichts der Fülle der sprachwissenschaftlichen Literatur zum Thema „Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union" überrascht die bisher nur in geringem Umfang erfolgte Auseinandersetzung von Rechtswissenschaftlern mit dieser Materie. Zwar lassen sich einige Stellungnahmen zur gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregelung allgemein sowie - in jüngster Zeit - zur Zukunft des Sprachenregimes im Lichte der EU-Osterweiterung finden; insgesamt bestätigt sich aber die Befund Pescatores, dass es nur wenig Literatur zum Sprachenregime in der Europäischen Gemeinschaft gibt. 49 Besonders augenscheinlich werden die Defizite bezüglich des Themas, das den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden soll, nämlich die Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts. Lediglich in der älteren Literatur haben sich einige Autoren mit Interpretationsfragen bei Divergenzen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen gemeinschaftsrechtlicher Rechtstexte auseinandergesetzt.50 Die jüngere Literatur scheint dieses Problem demgegenüber als geklärt zu betrachten, so dass man die Auslegungsschwierigkeiten des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts als ein weithin unterschätztes Phänomen bezeichnen kann. 51 Zahlreiche Stellungnahmen in der Literatur - gerade auch solche jüngeren Datums gehen davon aus, dass es im Gemeinschaftsrecht kaum zu Divergenzen zwischen den verschiedenen sprachlichen Fassungen gekommen sei 52 bzw. dass es nur wenige diesbezügliche Urteile des EuGH gebe.53 Zwar widersprechen ande-
48 Vgl. z.B. Alonso Madero, T & T 1992/1, S. 343 ff.; Brackeniers, T & T 1992/1, S. 337 ff.; Brackeniers, T & T 1995/2, S. 13 ff.; Flesch, T & T 1999/1, S. 92 ff.; Forrest, T & T 1998/3, S. 101 ff.; Goffin, in: Lqforge (Hrsg.), Aménagement Linguistique, S. 365 ff.; Heynold, T & T 1999/3, S. 5 ff.; Koskinen, The Translator 2000/1, S. 49 ff.; Wagner, T & T 2000/1, S. 5 ff. 49 Pescatore, in: Après l'an 2000, S. 137 (143); so auch Rogmann, in: Bongartz (Hrsg.), Europa im Wandel, S. 249 (251). Während sich beispielsweise französische Rechtswissenschaftler eingehend mit der Stellung ihrer Sprache in den Organen der Gemeinschaft befassen (vgl. nur Fosty, La langue française, passim), wird dies in der deutschen juristischen Literatur kaum thematisiert. Eine Ausnahme stellt insoweit die Analyse Hubers zur Verwendung der deutschen Sprache auf Gemeinschaftsebene dar, vgl. Huber, BayVBl. 1992, S. 1 ff.; s.a. Lwowski, Der Städtetag 1992, S. 193 ff. 50 Dickschat, RevBelDrlnt 1968, S. 40 (44 ff.); Lipstein, Tul. L.Rev. 1973/1974, S. 907 ff.; Ophiils, FS Müller-Armack, 1961, S. 279 ff.; Riese, FS Dölle, 1963, S. 507 (514 ff.); Stevens, Nw.U. L.Rev. 1967, S. 701 ff. 51 So auch Boulouis, DroitsRevFr 1991, S. 97 (103): „un phénomène en lui-même trop négligé". 52 Vgl. nur Bredinias, Methods of Interpretation, 1978, S. 40; Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (176). 53 Vgl. z.B. Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, 1990, S. 255 (259); Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (542).
46
1. Kapitel: Vielsprachigkeit und Integrationsprozess
re Autoren dieser Einschätzung und weisen auf die Bedeutung des Sprachenproblems in der Praxis des Europäischen Gerichtshofs hin. 54 Nichtsdestoweniger gibt es keine monographische rechtswissenschaftliche Untersuchung zu der Frage, wie der Gerichtshof das Gemeinschaftsrecht im Falle von Sprachdivergenzen auslegt und welche Konsequenzen sich hieraus für die Rechtsstellung der Bürger der Europäischen Union ergeben. Die von Hilf anlässlich seiner Untersuchung zur Auslegung mehrsprachiger Verträge im Jahre 1973 aufgestellte Forderung, das mehrsprachige Gemeinschaftsrecht müsse einer gesonderten Erfassung vorbehalten bleiben, 55 wurde bis zum heutigen Tage nicht erfüllt. Dies erscheint umso erstaunlicher, als die Rechtspraxis zeigt, dass es sich dabei um ein Thema von nicht nur fortdauernder, sondern gar noch gestiegener Aktualität handelt. Als Beispiele hierfür mögen nicht nur die auf einem Übersetzungsfehler beruhenden Konfusionen über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags dienen,56 sondern auch die im Dezember 2000 in Nizza feierlich proklamierte Grundrechte-Charta herangezogen werden. Besonders umstritten war jener Passus in der Präambel, der ursprünglich auf das „kulturelle, humanistische und religiöse Erbe" in der europäischen Tradition hinweisen sollte. 57 Da die französische Delegation hierdurch ihr laizistisches Verständnis von Staat und Kirche verletzt sah, einigte man sich schließlich auf den französischen Text „patrimoine spirituel et moral". Auf Druck der deutschen Delegation wurde dennoch in der deutschen Fassung der Terminus „geistigreligiöses und sittliches Erbe" verwendet. Die Erzielung politischer Kompromisse mittels der bewussten Inkaufnahme von Sprachdivergenzen einerseits und das unbeabsichtigte Auftreten von Übersetzungsfehlern andererseits stellen nur zwei Aspekte der Problematik dar, wie Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht entstehen und wie sie durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einer Lösung zugeführt werden können.
II. Gang der Untersuchung In dem nun folgenden zweiten Kapitel soll zunächst die Problematik der Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Zu diesem Zweck wird die gegenwärtige Sprachenregelung der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung der Entstehung von Rechtstexten unter Mehrsprachigkeitsbedingungen erläutert. Zudem
54 So z.B. Boulouis, DroitsRevFr 1991, S. 97 (103); Constantinesco, EG-Recht, S. 189; Usher, ICLFR 1981, S. 277 (284); Weber, in: G/T/E, Art. 248 Rdn. 6. 55 Hilf; Auslegung, S. 230. 56 Hierzu Huff ; EuZW 1999, S. 385. 57 Vgl. hierzu FAZ vom 27.9.2000, S. 7; FAZ vom 6.12.2000, S. 11; FAZ vom 7.12.2000, S. 3.
Β. Mehrsprachigkeit und Rechtswissenschaft
47
soll - ausgehend von den Grundlagen der Auslegung im Gemeinschaftsrecht ein Vergleichsmaßstab für die Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts gewonnen werden, indem Auslegungsprobleme in mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen sowie in Rechtstexten mehrsprachiger Nationalstaaten erörtert werden. Im dritten Kapitel wird die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts analysiert und gewürdigt. Nach einer Erfassung der Urteile, in denen sich der Gerichtshof mit divergierenden Sprachfassungen auseinandergesetzt hat, wird untersucht, anhand welcher Auslegungsmethoden und Kriterien er Sprachdiyergenzen im Gemeinschaftsrecht auflöst. Während sich das dritte Kapitel schwerpunktmäßig dem gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsprozess aus der Sicht des EuGH widmet, behandelt das vierte Kapitel die Sprachdivergenzproblematik aus der Perspektive des innerstaatlichen Rechtsanwenders. Gefragt wird, welche Konsequenzen sich aus der EuGH-Rechtsprechung für die Pflicht der innerstaatlichen Gerichte, Behörden und insbesondere der Rechtsunterworfenen ergeben, einen Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen eines gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakts durchzuführen. Dabei wird insbesondere zu untersuchen sein, ob und unter welchen Voraussetzungen sich die Unionsbürger auf die Richtigkeit ihrer eigenen Sprachfassung verlassen können. Während das vierte Kapitel die Rechtsposition der Rechtsanwender de lege lata behandelt, soll im abschließenden fünften Kapitel auf eine mögliche Ausgestaltung des Sprachenregimes de lege ferenda eingegangen werden. In Auseinandersetzung mit den gegenwärtig diskutierten Vorschlägen zur Reform der gemeinschaftsrechtlichen Sprachregelung wird ein alternatives Lösungsmodell entwickelt, das zugleich den im dritten und vierten Kapitel herausgearbeiteten Kritikpunkten an der EuGH-Rechtsprechung Rechnung tragen soll.
2. Kapitel
Die Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte als zentrales Problem des Sprachenrechts der Europäischen Union A. Die Einordnung der Auslegungsproblematik in das Sprachenrecht der E U I. Die verschiedenen Facetten des Sprachenrechts der EU In der Literatur wurden bislang - soweit ersichtlich - noch keine Versuche unternommen, das Sprachenrecht der Europäischen Union systematisch aufzubereiten. Selbst der Begriff des Sprachenrechts als solcher wurde in bezug auf die Europäische Union bzw. die Europäischen Gemeinschaften noch nicht verwendet. In der Literatur wird meist von der „Sprachenfrage' 4, der „Sprach(en)regelung" oder dem „Sprachenregime" der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union gesprochen. Außerhalb des Gemeinschaftsrechts plädierte man erstmals Anfang der siebziger Jahre für eine neue Disziplin des „Sprachenrechts", welche die rechtlichen Bestimmungen über Sprachen und ihren Gebrauch zum Gegenstand haben sollte.1 Ursprünglich befasste sich das Sprachenrecht mit der Abgrenzung von Nationalsprachen und Amtssprachen, mit den Rechtsproblemen mehrsprachiger Staaten sowie mit der Sprachplanung. 2 Auch die internationale Dimension des Sprachenrechts wurde damals bereits erkannt, allerdings primär unter dem Gesichtspunkt einer vergleichenden Analyse nationaler Rechtsordnungen und des Rechts internationaler Organisationen des Völkerrechts. 3 Es erscheint daher angebracht, den so geprägten Begriff des Sprachenrechts auch auf das Recht der Europäischen Union anzuwenden und ihn gleichbedeutend mit den Termini der „Sprach(en)regelung" oder des „Sprachenregimes" zu verwenden. Wenn man versucht, sich dem Sprachenrecht der EU anzunähern, kann man sich zum Zwecke einer Systematisierung an entsprechende Darstellungen zum Sprachenrecht der Schweiz anlehnen. Dies soll es ermöglichen, materielle Kategorien für 1
So insbesondere Héraud, REDC 1971, S. 309 ff.; vgl. auch Nussbaumer, Sprache und Recht,
S. 7. 2
Vgl. Héraud, RIDC 1971, S. 309 ff.
3
Héraud, RIDC 1971, S. 309 (310).
Α. Die Einordnung der Auslegungsproblematik in das Sprachenrecht der EU
49
das gemeinschaftsrechtliche Sprachenrecht zu gewinnen, ohne dabei die grundlegenden Unterschiede zwischen der Europäischen Union als supranationaler Organisation 4 und der Schweiz als Bundesstaat außer Acht zu lassen. In der Schweiz wird zwischen dem konstitutionellen, legislativen (legislatorischen), exekutiven (administrativen), judikativen und kulturellen Sprachenrecht unterschieden, wobei darauf hingewiesen wird, dass das konstitutionelle Sprachenrecht letztlich Bestandteil bzw. ein Spezialfall des legislativen Sprachenrechts ist.5 Diese Einteilung kann man auch in bezug auf die Europäische Union übernehmen.
1. Legislatives, exekutives, judikatives und kulturelles Sprachenrecht Das legislative Sprachenrecht umfasst die verschiedenen Fragestellungen der mehrsprachigen Rechtssetzung und Rechtsanwendung, wobei dem konstitutionellen Sprachenrecht die Problematik der authentischen Sprachen der Gründungsverträge entspricht. Auf der Ebene der Rechtssetzung stellt sich die Frage, wie der Mehrsprachigkeit bei der Erstellung von gemeinschaftsrechtlichen Rechtsnormen Rechnung getragen wird. Bei der Rechtsanwendung wirft die Mehrsprachigkeit spezifische Auslegungsfragen auf, welche die Rechtsanwender auf Gemeinschaftsrechtsebene und auf nationaler Ebene (Gerichte, Behörden und Individuen) gleichermaßen betreffen. Hier ist das zentrale Problem der vorliegenden Arbeit, die Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts im Falle von Divergenzen zwischen den einzelnen sprachlichen Fassungen, angesiedelt. Das exekutive oder administrative Sprachenrecht betrifft den Sprachgebrauch der Organe der Gemeinschaft bei der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben im Verhältnis zu Mitgliedstaaten und Bürgern, aber auch den Sprachgebrauch innerhalb der Gemeinschaftsorgane. Gegenstand des judikativen Sprachenrechts ist die Sprachenregelung im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof. Im Rahmen des legislativen, exekutiven und judikativen Sprachenrechts können jeweils der interne und der externe Bereich unterschieden werden, je nachdem, ob es um den Gebrauch der Sprachen innerhalb der Gemeinschaftsorgane oder um die Verwendung der Sprachen im Verkehr mit den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern geht. Selbst ein kulturelles Sprachenrecht lässt sich in der Europäischen Union ausmachen, wenn man an die Vorschriften der Art. 149 ff. EGV zur bildungspolitischen und kulturellen Zusammenarbeit denkt.6 Die europäische Bildungspolitik schließt gemäß Art. 149 Abs. 2 1. Spiegelstrich EGV Maßnahmen zum Erler-
4
Vgl. dazu näher unten 2. Kap. B. III. 1. c). Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 58; vgl. auch Brühlmeier, ZG 1989, S. 116 (125). 6 Zum kulturellen Sprachenrecht näher Fenet, RTDE 2001, S. 235 (254 f.); Yasue, RMC 1999, S. 277 (279 ff.). 5
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Schübel-Pfister
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
nen und zur Verbreitung der Sprachen der Mitgliedstaaten ein. 7 Auch kann sie nach Art. 151 EGV einen gemeinschaftsrechtlichen Beitrag zur nationalen Bildungspolitik leisten. Einen weiteren Schwerpunkt des kulturellen Sprachenrechts bilden die Bestrebungen zum Schutz von regionalen Sprachen und von Minderheitensprachen, die nicht als Amtssprachen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene anerkannt sind.8
2. Weitere Probleme der Mehrsprachigkeit in der EU Von dem so verstandenen Sprachenrecht der EU, das den legislativen, exekutiven, judikativen und kulturellen Bereich umfasst, sind andere Probleme der Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union zu unterscheiden, die nicht auf eine spezifische Ausgestaltung des Sprachenregimes in der EU zurückzuführen sind. Derartige Sprachenfragen, die aus den praktischen Gegebenheiten der sprachlichen Vielfalt in der Union herrühren, können sich bei der Umsetzung verschiedener Gemeinschaftspolitiken stellen:9 Bei der Verwirklichung des Binnenmarkts können sich aus nationalen Sprachregelungen gemeinschaftsrechtswidrige Behinderungen des freien Warenverkehrs oder der Personenverkehrsfreiheiten ergeben. Im Bereich der Produktetikettierung stellt sich die Frage der Vereinbarkeit sprachlicher Anforderungen mit der Warenverkehrsfreiheit im Hinblick auf nationale wie auf gemeinschaftsrechtliche Vorschriften. Des Weiteren erfordern Belange des Verbraucherschutzes bisweilen konkrete Gemeinschaftsregelungen betreffend die Verwendung von Sprachen. Schließlich ist auch die Wahrnehmung individueller Rechte im Bereich der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer häufig mit praktischen Sprachproblemen verbunden. Diese Sprachenfragen werden im Folgenden nicht als eigenständige Problemkreise erörtert, sondern sind nur insoweit Gegenstand der vorliegenden Arbeit, als sie zur Erarbeitung eines Vergleichsmaßstabs für das Sprachdivergenzproblem dienen.10
7 Hierzu gehören neben der RL 77/486 über die schulische Betreuung der Kinder von Wanderarbeitnehmern (ABl. 1977 Nr. L 199, S. 32 f.) insbesondere die von der EG beschlossenen Aktionsprogramme zur finanziellen Förderung der auf das Sprachen lernen ausgerichteter Aktivitäten im Bildungsbereich wie ERASMUS und SOKRATES, vgl. dazu im Einzelnen Fischer, in: Lenz, Vorbem. Art. 149 und 150 Rdn. 5 f.; Art. 149 Rdn. 4 ff. 8 Vgl. dazu die vier Entschließungen des EP vom 16.10.1981 (ABl. 1981 Nr. C 287, S. 106), vom 11.2.1983 (ABl. 1983 Nr. C 68, S. 103), vom 30.10.1987 (ABl. 1987 Nr. C 318, S. 160) und vom 9.2.1994 (ABl. 1994 Nr. C 61, S. 110) zum Schutz sprachlicher und kultureller Minderheiten. Des Weiteren bemüht sich das Europäische Büro für weniger verbreitete Sprachen (EBLUL) in Dublin seit 1982 um die Bewahrung des sprachlichen Erbes der regionalen und Minderheitensprachen in Europa. Vom Europarat wurde am 5.11.1992 die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen verabschiedet, deren Ratifikationsstand aber bislang dürftig geblieben ist. Vgl. zum Ganzen Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (505 f.). 9 Vgl. dazu den Überblick bei Priebe, in: Schwarze, Art. 290 Rdn. 13. 10 Dazu näher 4. Kap. Β. I.
Α. Die Einordnung der Auslegungsproblematik in das Sprachenrecht der EU
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II. Die Bedeutung der Sprachenregelung für die Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit ist die Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts als Kernproblem der Rechtsanwendung und damit als Bestandteil des legislativen Sprachenrechts. Die folgende Analyse kann allerdings nicht darauf verzichten, auch den übrigen Teil des legislativen Sprachenrechts sowie bestimmte Elemente des exekutiven und judikativen Sprachenrechts einzubeziehen. Zunächst kann das Problem der Anwendung mehrsprachigen Rechts nicht losgelöst von der Vorfrage der mehrsprachigen Rechts Setzung behandelt werden. So entscheidet beispielsweise der tatsächliche Sprachgebrauch in den an der Rechtssetzung beteiligten Gemeinschaftsorganen darüber, welche Sprachen in welchem Umfang im Rechtssetzungsverfahren verwendet werden. Daran anknüpfend wird sich bei der Rechtsanwendung die Frage erheben, inwieweit diesen internen Arbeitssprachen bei der Auflösung von Divergenzen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtsakts eine besondere Bedeutung zukommen kann. Des Weiteren ist eine Darstellung einzelner Aspekte des exekutiven Sprachenrechts erforderlich, um einen Vergleichsmaßstab für die Ausgestaltung des legislativen Sprachenrechts zu gewinnen. Schließlich wird auch das judikative Sprachenrecht für die Auslegungsproblematik relevant, da der Europäische Gerichtshof, der seinerseits über ein spezifisches Sprachenregime verfügt, über die verbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts entscheidet. Insoweit wird zu fragen sein, ob die jeweilige Verfahrenssprache sowie die interne Arbeitssprache des Gerichtshofs einen Einfluss auf die Behandlung der Sprachdivergenzen ausüben. Lediglich auf eine nähere Darstellung des kulturellen Sprachenrechts kann verzichtet werden, nicht nur, weil der Europäischen Union in diesem Bereich nur geringe Kompetenzen zukommen, sondern auch, weil das kulturelle Sprachenrecht nur wenige Berührungspunkte mit den übrigen Aspekten des Sprachenrechts aufweist. Trotz der soeben vorgenommenen materiellen Einteilung in legislatives, exekutives, judikatives und kulturelles Sprachenrecht wird sich der nun folgende Überblick über die Sprachenregelung der Europäischen Union nicht an diesem Schema orientieren. Vielmehr soll das Sprachenregime - nach einer Darstellung seiner historischen Entwicklung und der allgemeinen Grundzüge zweckmäßigerweise nach Organen getrennt dargestellt werden. Dies ist schon angesichts der komplexen Struktur des Gemeinschaftsrechts und der Kompetenz verschränkung der Organe geboten, da z.B. die Kommission Aufgaben wahrnimmt, die nach dem herkömmlichen staatsrechtlichen Verständnis sowohl den Bereich der Rechtssetzung als auch den Bereich der Verwaltung betreffen. Nichtsdestoweniger behält die materielle Klassifizierung im weiteren Gang der Arbeit durchaus ihre Bedeutung, da sie es ermöglicht, schlagwortartig den jeweils behandelten Problemkreis des Sprachenregimes zu kennzeichnen und Einzelfragen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
B. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung I. Historische Entwicklung Im Rahmen der historischen Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregimes ist zunächst die wechselvolle Geschichte der Vertragssprachenregelung in den Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union, dann aber auch die Amts- und Arbeitssprachenregelung von Interesse. Unter Vertragssprachen bzw. authentischen Sprachen versteht man allgemein diejenigen Sprachen, in denen der Wortlaut völkerrechtlicher Verträge verbindlich ist. Mit dem Begriff der Amtssprache wird die offizielle Sprache eines Staates für Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und kulturelle Angelegenheiten bezeichnet. Sie unterscheidet sich damit von den National- oder Landessprachen als den auf einem Territorium tatsächlich praktizierten Sprachen, die mit dem Amtssprachen zwar meist übereinstimmen, aber nicht notwendig übereinstimmen müssen.11 Arbeitssprache ist die Sprache, die von Organen im internen Gebrauch und im Verkehr untereinander verwendet wird. 12
1. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) a) Die Vertragssprache
des Gründungsvertrags
Den Anstoß für die Gründung einer supranationalen europäischen Gemeinschaft gab bekanntlich der Schuman-Plan vom 9.5.1950, in dem der französische Außenminister vorschlug, die Produktion der damaligen Schlüsselindustrien Kohle und Stahl in Frankreich, Deutschland sowie weiteren beitrittswilligen Staaten zusammenzuschließen.13 Der Vertrag von Paris zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-Vertrag) wurde am 18.4.1951 unterzeichnet und trat am 23.7.1952 in Kraft. Er enthielt keine Sprachklausel, sondern regelte lediglich die Frage der Urschrift des Vertrages in Art. 100: ,JLe présent traité, rédigé en un seul exemplaire, sera déposé dans les archives du gouvernement de la République française qui en remettra une copie certifiée conforme à chacun des gouvernements des autres Etats signataires". 14 Aus dieser Festlegung der Urschrift wurde geschlossen, dass das Franzö11 Die Differenzierung zwischen Amts- und Nationalsprachen ist insbesondere in der Schweiz von Bedeutung, vgl. dazu unten 2. Kap. D. IV. 2. a) aa). 12 Vgl. zur Begrifflichkeit z.B. Labrie, La construction linguistique, S. 81 f.; Pfeil, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 125 (130). 13 Vgl. dazu Streinz, Europarecht, Rdn. 15. 14 „Dieser Vertrag ist in einem einzigen Exemplar verfasst, das in den Archiven der Regierung der Französischen Republik hinterlegt wird; diese übersendet den Regierungen der anderen Unterzeichnerstaaten eine beglaubigte Abschrift des Vertrages".
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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sische die alleinige authentische Sprache des EGKS-Vertrags darstellte 15 und die übrigen Sprachfassungen nur den Charakter amtlicher Übersetzungen aufweisen sollten. 16 Das Amts- und Arbeitssprachenregime der EGKS war demgegenüber bei Unterzeichnung des Vertrags aufgrund politischer Differenzen bewusst ungeregelt geblieben.17 Zwar hatte der paraphierte Entwurf des EGKSVertrags vom 19.3.1951 noch eine Sprachklausel enthalten, jedoch musste diese vor der endgültigen Unterzeichnung des Vertrages gestrichen werden, da insbesondere der deutsche und französische Standpunkt in der Sprachenfrage weit auseinander lagen.18 Nach Ansicht der französischen Delegation ergab sich aus der Abfassung des Montanvertrags in französischer Sprache, dass auch die Durchführungsbestimmungen und die zur Auslegung des Vertrags erlassenen Entscheidungen des Gerichtshofs in französischer Sprache zu ergehen hätten. Aus deutscher Sicht hatte hingegen die Tatsache, dass der Vertrag nur in französischer Sprache abgefasst war, für die Frage der Amtssprachen und insbesondere der Gerichtssprachen in der Gemeinschaft keine Bedeutung. Die politisch hochbrisante Sprachenfrage wurde daher zusammen mit anderen ungelösten Problemen, insbesondere dem des Sitzes der Gemeinschaft, einem Interimsausschuss übertragen, der die „letzten Details" vor Inkrafttreten des EGKSVertrags regeln sollte. 19 Im Rahmen dieser Interimskommission, die zwischen Mai 1951 und Juli 1952 vier Mal zusammentrat, brachten die Vertreter der sechs Mitgliedstaaten die verschiedensten Vorschläge für eine Sprachregelung des EGKS vor, die von einer Konzentration auf die französische Sprache über ein differenziertes Amts- und Arbeitssprachenregime 20 bis hin zur vollständigen Gleichstellung des Deutschen, Französischen, Italienischen und Niederländischen reichten.
b) Die Amts- und Arbeitssprachen in der EGKS Den Durchbruch in der Sprachenfrage brachte die dritte Zusammenkunft der Interimskommission, bei der sich die Mitglieder des Ausschusses auf den Grundsatz einigten, wonach die vier Amtssprachen der sechs Mitgliedstaaten 15
Vgl. z.B. Hartley , The Foundations of European Community Law, S. 69. So ist z.B. die deutsche amtliche Übersetzung in BGBl. 1952 II, S. 448 nicht verbindlich, vgl. Oppermann, Europarecht, Rdn. 179. Zur Frage ihrer Bedeutung in der Auslegungstätigkeit des EuGH vgl. unten 2. Kap. D. V. 1. b). 17 Hemblenne, in: Heyen (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, S. 107(112). 18 Dazu Pfeil, ZfRV 1996, S. 11 (12). 19 Vgl. dazu und zum folgenden Hemblenne, in: Heyen (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, S. 107 (112 ff.) mit Fundstellennachweisen aus den Sitzungsdokumenten; Pfeil, LebSpr 1996, S. 1 (1 f.). 20 Es war daran gedacht worden, das Deutsche, Französische, Italienische und Niederländische zu Amtssprachen zu erklären, aber nur dem Deutschen und Französischen Arbeitssprachenstatus zuzubilligen. 16
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
zugleich auch Amts- und Arbeitssprachen der Gemeinschaft sein sollten. Frankreich konnte sich also mit seinen Vorstellungen von einer einzigen Amtssprache innerhalb der Gemeinschaft nicht durchsetzen. 21 Anlässlich der Konferenz in Paris vom 23. bis 25.7.1952 bestätigten die Außenminister der Mitgliedstaaten in einem unveröffentlichten Protokoll die Anerkennung der vier Sprachen als Amts- und Arbeitssprachen der Gemeinschaft. 22 Dieses Protokoll sah unter anderem vor, dass Rechtsakte von allgemeiner Geltung in den vier Amtssprachen veröffentlicht werden sollten und dass sich die Organe der Gemeinschaft für Einzelfallentscheidungen sowie für die sonstige Kommunikation mit den Unternehmen deren jeweiliger Heimatsprache zu bedienen hatten. Auch enthielt das Protokoll bereits Regelungen über die Verfahrenssprache des Gerichtshofs der EGKS. Diese Vorschriften wurden dann in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs 23 aufgegriffen und dahingehend präzisiert, dass alle vier Sprachen Amtssprachen des Gerichtshofs (Art. 27 § 1 VerfO EuGH) und zugleich potentielle Verfahrenssprachen (Art. 27 § 2 VerfO EuGH) darstellten. Schließlich bestimmte das unveröffentlichte Protokoll vom Juli 1952 noch, dass die Versammlung, der Vorläufer des Europäischen Parlaments, „die sie betreffenden praktischen Fragen des Sprachgebrauchs" selbst regeln sollte. In Umsetzung dieser Vorschrift benannte Art. 15 der Geschäftsordnung der Gemeinsamen Versammlung 24 das Deutsche, Französische, Italienische und Niederländische als Amtssprachen der Versammlung, in denen alle offiziellen Dokumente erstellt werden mussten. Gemäß Art. 16 war Simultandolmetschen bei den Sitzungen der Versammlung aus allen und in alle vier Sprachen vorgesehen. Gleiches galt nach Art. 17 auch für Ausschusssitzungen, sofern darauf nicht in gemeinsamem Einvernehmen verzichtet wurde. 25 Mit dem Protokoll der Außenminister vom Juli 1952, der Geschäftsordnung der Gemeinsamen Versammlung sowie der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hatte die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl damit zu einem endgültigen Amts- und Arbeitssprachenregime gefunden.
21 Pfeil, ZfRV 1996, S. 11 (13); zum sprachpolitischen Führungsanspruch Frankreichs näher Haarmann, Grundfragen der Sprachenregelung, S. 122 ff. 22 Unveröffentlichtes Protokoll über die Sprachenregelung der EGKS vom 25.7.1952, Text bei Gaedke, Das Recht der EGKS, S. 100 f.; Reuter, La Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, S. 81 f. mit kritischen Bemerkungen zum juristischen Wert der unveröffentlichten Erklärung; eingehend zu diesem Protokoll Labrie, La construction linguistique, S. 71 ff. 23 VerfO des Gerichtshofs vom 4.3.1953, ABl. 1953, S. 37. 24 GeschO der Gemeinsamen Versammlung vom 10.9.1952, abgedruckt bei Gaedke, Das Recht der EGKS, S. 289 ff. 25 Vgl. zum Ganzen auch Hemblenne, in: Heyen (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, S. 107 (127 f.); Wigny, Les Novelles 1969, S. 457 (459).
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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2. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) Nach der Gründung der EGKS wurden anspruchsvolle Bemühungen um eine umfassendere Integration unternommen, die sich allerdings bald auf den wirtschaftlichen Sektor konzentrierten. 26 Anlässlich der Konferenz von Messina im Jahre 1955 wurde ein Ausschuss zum Entwurf von Plänen für einen Gemeinsamen Markt und für eine Atomgemeinschaft eingesetzt, auf deren Grundlage die Vertragstexte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) ausgearbeitet wurden. 27 In dieser Redaktionsgruppe wurde erstmals im Jahre 1956 über das Sprachenregime der zu schaffenden Gemeinschaften gesprochen, eine endgültige Festlegung aber erst kurz vor der Unterzeichnung der Verträge getroffen. 2 Die Verträge zur Gründung der EWG und der EAG wurden am 25.3.1957 in Rom unterzeichnet und traten am 1.1.1958 in Kraft. Im Unterschied zur Regelung des EGKSV sahen die Römischen Verträge ausdrücklich ein „egalitäres Prinzip" 29 vor, wonach alle Amtssprachen der Mitgliedstaaten - bei mehreren Amtssprachen wenigstens eine davon - diesen Rang auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene, als authentische Sprachen der Gründungsverträge erhalten sollten. 30 Dementsprechend lautete der damalige Art. 248 EWGV: „Dieser Vertrag ist in einer Urschrift in deutscher, französischer, italienischer und niederländischer Sprache abgefasst, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist". Eine gleichlautende Regelung trafen Art. 225 EAGV sowie Art. 8 des Abkommens vom 25.3.1957 über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften. 31 Während somit Art. 248 EWGV (jetzt Art. 314 EGV) sedes materiae der Vertragssprachenregelung war, wurde die Frage der Amts- und Arbeitssprachen nicht unmittelbar im primären Gemeinschaftsrecht geregelt. Vielmehr bestimmte der damalige Art. 217 EWGV (jetzt Art. 290 EGV), 3 2 dass die Regelung der Sprachenfrage für die Gemeinschaftsorgane unbeschadet der Verfahrens-
26 Dazu Fastenratfi/Müller-Gerbes, Europarecht, Rdn. 9; Herdegen, Europarecht, Rdn. 43; Streinz, Europarecht, Rdn. 17 f. 27 Streinz, Europarecht, Rdn. 18. 28 Hemblenne, in: Heyen (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, S. 107(130). 29 Haarmann, Grundfragen der Sprachenregelung, S. 152; Haarmann, Soziologie und Politik der Sprachen Europas, S. 136 f. 30 Eine Ausnahme gilt insoweit für das Luxemburgische („Letzebuergesch"), das zum Zeitpunkt der Gründung der Europäischen Gemeinschaften noch nicht als Amtssprache in Luxemburg anerkannt war. Bei seiner Anerkennung durch Gesetz vom 24.2.1984 wurde dann darauf verzichtet, diesen Status auch im Sprachenregime der Europäischen Gemeinschaft einzufordern, da die französische und deutsche Sprache weiterhin Amtssprachen des Großherzogtums geblieben waren, vgl. dazu Labrie, La construction linguistique, S. 61 f.; Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (490). 31
Vgl. Sandrock, FS Großfeld, S. 971 (981). Gleiches gilt für das Pendant dieser Vorschrift in Art. 190 EAGV. Aufgrund der praktischen Bedeutung des E(W)GV soll dessen Sprachenregime im Folgenden in den Vordergrund gerückt werden. 32
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Ordnung des Gerichtshofs vom Rat einstimmig in einer sekundärrechtlichen Regelung getroffen werden sollte. In Ausführung dieser Basisnorm des Amtsund Arbeitssprachenregimes der Gemeinschaft erließ der Rat am 15.4.1958 die VO Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage, die erste Verordnung der Europäischen Gemeinschaft überhaupt. 33 Diese Verordnung, die sich inhaltlich an das Protokoll über das Amts- und Arbeitssprachenregime der EGKS anlehnt, sieht vor, dass die authentischen Sprachen auch Amtssprachen und Arbeitssprachen der Organe der Gemeinschaft sind.
3. Die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaften Die VO Nr. 1 wurde im Gefolge der verschiedenen Beitrittsverträge jeweils an die gestiegene Sprachenzahl angepasst,34 blieb aber vom Prinzip her unangetastet. Demzufolge stieg im Zuge der verschiedenen Erweiterungsrunden die Zahl der Amts- und Arbeitssprachen sowie die der Vertragssprachen stetig an: Anlässlich des Beitritts Großbritanniens, Dänemarks und Irlands zur Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1972 kamen die englische, dänische und gälische Sprache als Vertragssprachen hinzu. 35 Trotz der Bemühungen des damaligen Kommissionspräsidenten Thorn , die Arbeitssprachen auf Französisch und Englisch zu begrenzen, 36 wurde nicht nur die englische, sondern auch die dänische Sprache zugleich Amts- und Arbeitssprache der Gemeinschaften. 37 Demgegenüber verzichtete Irland darauf, das Gälische, trotz seines Amtssprachenstatus in Irland, 38 auch als Amts- und Arbeitssprache auf Gemeinschaftsebene zu etablieren, so dass es zunächst bei sechs Amts- und Arbeitssprachen verblieb. 39 Mit dem Beitritt Griechenlands im Jahre 1981 kam das Griechische als Vertrags-,
33 ABl. 1958 Nr. 17, S. 385 (abgedruckt auf S. 475 dieser Arbeit); gleiche Regelung für die EAG, vgl. VO Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage für die EAG vom 15.4.1958, ABl. 1958 Nr. 17, S. 401. 34 Fortschreibung der VO Nr. 1 in ABl. 1972 Nr. L 73, S. 14 (122); ABl. 1973 Nr. L 2, S. 1 (27) (Korrigendum); ABl. 1979 Nr. L 291, S. 17 (113); ABl. 1985 Nr. L 302, S. 9 (242); ABl. 1994 Nr. C 241, S. 9 (285). 35 Art. 160 Abs. 2 der Beitrittsakte, ABl. 1972 Nr. L 73, S. 14 (46). 36 Hemblenne, in: Heyen (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, S. 107(142). 37 Zur Stellung des Dänischen in der EG s. Haberland/Henriksen, Sociolinguistica 1991, S. 85 ff. 38 Gemäß Art. 8 der irischen Verfassung vom 1.7.1937, zuletzt geändert am 23.6.1999 (abgedruckt bei Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 213 ff.), ist das Irische Nationalsprache und erste Amtssprache Irlands; dazu näher Labrie, La construction linguistique, S. 77 f. 39 Vgl. Art. 155 der Beitrittsakte, ABl. 1972 Nr. L 73, S. 14 (45) sowie die Liste zu Art. 29 der Beitrittsakte, Anhang I, X I V Nr. 1, ABl. 1972 Nr. L 73, S. 14 (122), wo das Gälische nicht aufgeführt ist; zum spezifischen Sprachenregime des Irischen in der EU näher Ammundsen, T & T 1989/3, S. 5 (6); Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (489 f., 502 f.).
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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Amts- und Arbeitssprache hinzu 40 ; im Jahre 1986 erhöhte sich mit dem Beitritt Spaniens und Portugals die Zahl der Vertragssprachen auf zehn bzw. die der Amts- und Arbeitssprachen auf neun.41 In der bislang letzten Erweiterungsrunde im Jahre 1995 kamen Schwedisch und Finnisch als Vertrags-, Amts- und Arbeitssprachen hinzu. 42 Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts gibt es somit zwölf Vertragssprachen sowie elf Amts- und Arbeitssprachen.
4. Die Europäische Union Die Regelung, dass alle Vertragssprachen außer Gälisch auch Amts- und Arbeitssprachen der Gemeinschaften sind, wurde im Maastrichter Vertrag für die Europäische Union grundsätzlich übernommen und gilt nunmehr gleichermaßen für GASP und PJZS.43 Bezüglich der authentischen Sprachen des Unionsvertrages bestimmt Art. 53 EUV in Abs. 1, dass der Unionsvertrag in dänischer, deutscher, englischer, französischer, griechischer, irischer, italienischer, niederländischer, portugiesischer und spanischer Sprache abgefasst und in all diesen Sprachen gleichermaßen verbindlich ist. Anlässlich des Vertrags von Amsterdam wurde ein neuer Abs. 2 eingefügt, der klarstellt, dass nach dem Beitrittsvertrag von 1994 auch das Finnische und das Schwedische authentische Vertragssprachen sind. In entsprechender Weise wurde durch den Vertrag von Amsterdam auch der Text des Art. 314 EGV angepasst, der zwar schon vorher durch die verschiedenen Beitrittsverträge inhaltlich ergänzt, nicht aber formell dahingehend geändert worden war, dass auch die Vertragstexte in den Sprachen der Nicht-Gründungsmitglieder authentische Urschriften darstellten. 44 Trotz der fortbestehenden Auslassung des Irischen in der VO Nr. 1 ist eine gewisse Annäherung zwischen den elf Amtssprachen und den zwölf authentischen Sprachen dadurch erfolgt, dass seit dem Vertrag von Amsterdam der neue Art. 21 Abs. 3 EGV ein subjektives Recht jedes Unionsbürgers vorsieht, sich in allen zwölf authentischen Sprachen an die Organe der Gemeinschaft (vgl. Art. 7 EGV) sowie an den Bürgerbeauftragten zu wenden.45 Art. 21 EGV 40 Vgl. zur Vertragssprache Art. 152 Abs. 2 der Beitrittsakte, ABl. 1979 Nr. L 291, S. 17 (50); zur Amts- und Arbeitssprache Art. 147 der Beitrittsakte, ABl. 1979 Nr. L 291, S. 17 (50) sowie die Liste zu Art. 21 der Beitrittsakte, Anhang I, X V I Nr. 1, ABl. 1979 Nr. L 291, S. 17 (113). 41 Vgl. zur Vertragssprache Art. 402 Abs. 2 der Beitrittsakte, ABl. 1985 Nr. L 302, S. 9 (138); zur Amts- und Arbeitssprache Art. 397 der Beitrittsakte, ABl. 1985 Nr. L 302, S. 9 (138) sowie die Liste zu Art. 26 der Beitrittsakte, Anhang I, XVII, ABl. 1985 Nr. L 302, S. 9 (242). 42 Vgl. zur Vertragssprache Art. 176 der Beitrittsakte, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21 (51); zur Amts- und Arbeitssprache Art. 170 der Beitrittsakte, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21 (50) sowie die Liste zu Art. 29 der Beitrittsakte, Anhang I, X V I I I , ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21 (285). 43 Gemäß Art. 28 Abs. 1 und Art. 41 Abs. 1 EUV findet die Regelung des Art. 290 EGV Anwendung; vgl. auch die dem Maastrichter Vertrag beigefügte Erklärung Nr. 29 zum Gebrauch der Sprachen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 44 Vgl. Ruffert, in: Calliess! Ruffe rt, Art. 314 EGV Rdn. 1. 45 Vgl. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf\ Art. 290 Rdn. 8; s.a. Priebe, DV 2000, S. 379 (395).
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
verpflichtet die genannten Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen zugleich, dem betreffenden Unionsbürger in derselben Sprache zu antworten. Damit wird der anlässlich seines Beitritts ausgesprochene Verzicht Irlands auf gleichberechtigte Verwendung des Gälischen jedenfalls teilweise rückgängig gemacht und quasi „durch die Hintertür" eine partielle Gleichstellung des Irischen mit den übrigen Amtssprachen herbeigeführt. 46 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das Irische, obwohl es nicht allgemein zur Amtssprache erklärt worden ist, dennoch eine der Verfahrenssprachen vor dem EuGH darstellt. 47 Teilweise wird daher auch von elf bis zwölf Amtssprachen in der Gemeinschaft gesprochen. 48
5. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Eine zusätzliche Erweiterung der Gewährleistung, sich in der eigenen Sprache an die Organe der Union zu wenden, ist in der Grundrechte-Charta der Europäischen Union enthalten. Die Grundrechte-Charta, die von einem Konvent unter dem Vorsitz des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog ausgearbeitet worden war, 49 wurde zu Beginn des EU-Gipfels in Nizza am 7.12.2000 von Europäischem Parlament, Rat und Kommission feierlich proklamiert. Art. 41 Abs. 4 der Charta gewährt jeder Person das Recht, sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten. Da sich die Gewährleistung des Art. 41 Abs. 4 der Charta auf alle Vertragssyrachen der Union bezieht, stellt sie ebenso wie Art. 21 Abs. 3 EGV eine Erweiterung im Vergleich zu dem Recht nach Art. 2 VO Nr. 1 dar, sich in einer der Amtasprachen der Gemeinschaft an ihre Organe zu wenden. Zwar wird diese Unterscheidung gegenwärtig nur hinsichtlich der gälischen Sprache relevant, jedoch könnte ihr in Zukunft größere Bedeutung zukommen, falls im Zuge der EU-Osterweiterung davon abgesehen werden sollte, allen Vertragssprachen zugleich Amtssprachenstatus in der Union zuzubilligen. Des Weiteren scheint Art. 41 Abs. 4 der Grundrechte-Charta auch gegenüber Art. 21 Abs. 3 EGV eine Erweiterung zu enthalten, da die grundrechtliche Gewährleistung nach ihrem Wortlaut ,jeder Person" zusteht. Angesichts der systematischen Stellung dieser Vorschrift im Kapitel V über die Bürgerrechte könnte man allerdings vermuten, dass es sich bei der Formulierung , jeder Person" um ein Redaktionsversehen handelt und dass der Schutzbereich des Art. 41 Abs. 4 der Charta ebenso wie Art. 21 Abs. 3 EGV auf die Unionsbürger beschränkt sein sollte. Jedenfalls formuliert Art. 41 Abs. 4 der Charta die Gewährleistung des Rechts auf Benutzung der eigenen Sprache im 46
Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 290 Rdn. 8; Heynold, T & T 1999/3, S. 5 (6). Vgl. dazu näher unten 2. Kap. Β. II. 4. a). 48 So Oppermann, Europarecht, Rdn. 180; vgl. auch Pescatore, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 91 (91): elfeinhalb Amtssprachen. 49 Vgl. zum Konventsverfahren Hilf, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS Dezember 2000, S. 5 (5). 47
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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Verkehr mit den Organen der Union erstmals als echten grundrechtlichen Anspruch. Spätestens dann, wenn die Charta verbindliches Recht geworden ist, muss sich somit die gesamte gemeinschaftsrechtliche Rechtsordnung an dieser Gewährleistung messen lassen. Im Übrigen kann der Charta bereits heute, obwohl sie noch nicht formell in das Recht der Europäischen Union einbezogen wurde, Bedeutung als Bezugspunkt und Auslegungsmaßstab in der EuGHJudikatur zukommen. 50 So hat beispielsweise das EuG schon mehrfach die Gewährleistungen der Charta zur Bekräftigung eines von ihm entwickelten Auslegungsergebnisses herangezogen.51
6. Zusammenfassung: Vertrags-, Amts- und Arbeitssprachen in der EU a) Die authentischen Sprachen der Gründungsverträge Fundamentales Prinzip der gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregelung ist der Grundsatz der Gleichberechtigung der nationalen Amtssprachen auf Gemeinschaftsebene. So sind gemäß Art. 314 EGV, Art. 225 EAGV sowie Art. 53 EUV die Amtssprachen der Mitgliedstaaten zugleich authentische Sprachen der Gründungsverträge. Nur der EGKS-Vertrag weicht von den übrigen primärrechtlichen Regelungen ab, da gemäß Art. 100 EGKSV allein das Französische Vertragssprache ist. Während sich der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Sprachfassungen der Gründungsverträge aus den soeben genannten primärrechtlichen Vorschriften ergibt, ist die Parität aller sprachlichen Fassungen der sekundärrechtlichen Normen nicht primärrechtlich, sondern sekundärrechtlich gewährleistet. So wurde die Sprachenfrage auf der Grundlage des damaligen Art. 217 EWGV (jetzt Art. 290 EGV) unbeschadet der Verfahrensordnung des EuGH in der VO Nr. 1 dahingehend geregelt, dass die authentischen Sprachen mit Ausnahme des Gälischen auch Amts- und Arbeitssprachen der Organe der Europäischen Gemeinschaft sind (Art. 1 VO Nr. 1).
b) Die Amtssprachen der Gemeinschaftsorgane Unter den Amtssprachen der Europäischen Union sind die Sprachen zu verstehen, in denen die Organe nach außen tätig werden. 52 Konkret sieht die Sprachenverordnung vor, dass Mitgliedstaaten und Individuen sich in einer der 50
Dazu näher Alber, EuGRZ 2001, S. 349 (351 f.); Calliess, EuZW 2001, S. 261 (267 f.); s.a. 4. Kap. B. III. 1. 51 So z.B. EuG, Rs. T-54/99, max.mobil/Kommission, Slg. 2002, 11-313, 333 (Rdn. 48); EuGH, Rs. Τ-177/01, Jégo-Quéré/Kommission, Slg. 2002,11-2365, 2381 f. (Rdn. 42, 47). 52 Vgl. nur Berteloot, in: Jayme (Hrsg.), Langue et Droit, S. 345 (358); Huber, BayVBl. 1992, 5. 1 (2); Priebe, in: Schwarze, Art. 290 Rdn. 6.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Amtssprachen an die Organe der Gemeinschaft wenden können und in derselben Sprache die Antwort bekommen müssen (Art. 2 VO Nr. 1). Umgekehrt müssen die Organe im Umgang mit Mitgliedstaaten und Individuen jeweils deren Sprache verwenden (Art. 3 VO Nr.l), so dass der gesamte Schriftverkehr der Gemeinschaft mit den Unionsbürgern und den Behörden der Mitgliedstaaten in deren jeweiliger Sprache abgewickelt werden muss.53 Verordnungen und andere Schriftstücke von allgemeiner Geltung müssen in allen elf Amtssprachen abgefasst (Art. 4 VO Nr. 1) und im Amtsblatt veröffentlicht werden, das in allen Amtssprachen erscheint (Art. 5 VO Nr. 1). Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat über mehrere Amtssprachen verfügt, bestimmt sich der Sprachgebrauch der Gemeinschaftsorgane gegenüber diesem Mitgliedstaat nach den auf seinem nationalen Recht beruhenden allgemeinen Regeln (Art. 8 VO Nr. 1). Der bereits in Art. 2 VO Nr. 1 anerkannte Anspruch auf Gebrauch der eigenen Amtssprache ist seit der Neufassung des Art. 21 Abs. 3 EGV durch den Vertrag von Amsterdam für das Petitionsrecht auch primärrechtlich abgesichert worden. Wie oben dargestellt, wurde er zugleich in zwei Richtungen erweitert, indem er in den Verpflichtetenkreis auch den Bürgerbeauftragten und in den Kreis der berechtigten Sprachen auch das Irische aufnahm.
c) Die Arbeitssprachen der Gemeinschaftsorgane Mit dem Begriff der Arbeitssprachen werden die zum internen Gebrauch der Gemeinschaftsorgane bestimmten Sprachen bezeichnet.54 Da Art. 1 VO Nr. 1 den Begriff der Arbeitssprache gleichberechtigt neben demjenigen der Amtssprache verwendet, hat der Rat die grundsätzliche Gleichberechtigung der Amtssprachen auch als Arbeitssprachen vorgesehen. 55 Dies könnte bedeuten, dass alle elf Sprachen gleichberechtigt in den internen Arbeits- und Sitzungsdokumenten, bei den Entwürfen und Vorlagen für zukünftige Rechtsakte sowie bei mündlichen Beratungen verwendet werden müssten. Von der h.M. wird diese Vorschrift allerdings dahingehend interpretiert, dass nur die Möglichkeit, nicht aber die Pflicht der Organe besteht, alle Amtssprachen auch als Arbeitssprachen zu verwenden. 56 In diesem Zusammenhang wird Art. 6 VO Nr. 1 von Bedeutung, der es den verschiedenen Organen überlässt, in ihrer Geschäftsordnung festzulegen, „wie diese Regelung der Sprachenfrage im Einzelnen anzuwenden ist". Demnach werden Beschränkungen des Sprachenregimes für zulässig erachtet, die das Innenverhältnis, also den internen Geschäftsablauf, vorbe53
Vgl. auch Huber, Recht der Europäischen Integration, § 2 Rdn. 20. Huber, BayVBl. 1992, S. 1 (2 f.); Priebe, in: Schwarze, Art. 290 Rdn. 6. 55 Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 4. 56 Vgl. nur Oppermann, ZEuS 2001, S. 1 (9); Schloßmacher, Die Amtssprachen in den Organen der Europäischen Gemeinschaft, S. 24; Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 4; Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rdn. 11; aus der fremdsprachigen Literatur vgl. Berteloot, Jurilinguistique, S. 7; Milian-Massana, RDE 1995, S. 485 (492); Smit/Herzog, Art. 217 Rdn 4. 54
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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reitende Papiere oder das gesprochene Wort betreffen. 57 Außerdem sieht Art. 7 VO Nr. 1 nochmals explizit vor, dass die Sprachenfrage für das Verfahren des Gerichtshofs in dessen Verfahrensordnung geregelt wird, und zeichnet damit die schon in Art. 290 EGV angelegte Einschränkung nach. Wenn somit die VO Nr. 1 durchaus Ansatzpunkte für eine Differenzierung zwischen Amts- und Arbeitssprachen enthält, so sind Einschränkungen nichtsdestoweniger nur unter der Voraussetzung zulässig, dass sie nicht der VO Nr. 1 widersprechen 58 und ihnen keine übergeordneten Gesichtspunkte entgegenstehen.59
d) Die Problematik der internen Arbeitssprache Unabhängig und abgesehen von der in Art. 6 VO Nr. 1 vorgesehenen Befugnis der einzelnen Organe, ihr Sprachenregime in ihren Geschäftsordnungen zu konkretisieren, lässt sich in der Praxis eine starke Tendenz feststellen, auch ohne gesetzliche Grundlage den Grundsatz der Gleichberechtigung aller Amtsund Arbeitssprachen zu durchbrechen. 60 Dies betrifft primär die vorrangige Verwendung bestimmter Idiome im internen Dienstbetrieb, kann aber gelegentlich sogar im Außenverhältnis relevant werden. 61 Ursprünglich war das Französische die alleinige lingua franca der täglichen Organpraxis; seit einiger Zeit wird daneben in zunehmendem Maße das Englische verwendet. Die hervorgehobene Stellung des Französischen erklärt sich aus historischen und geographischen Gründen, da das Französische als Sprache der internationalen Diplomatie die alleinige authentische Sprache des EGKS-Vertrags und zugleich Amtssprache in den Staaten war, in denen die Organe der Gemeinschaften ihren Sitz bzw. vorläufigen Arbeitsort hatten.62 Nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs und Irlands zur Gemeinschaft gewann nach und nach auch die englische Sprache im internen Dienstverkehr an Bedeutung, so dass sie heute sogar teilweise das Französische als interne Arbeitssprache überrundet hat. Während die 57
Wichard, in: Collie ss/ Ruffe rt, Art. 290 EGV Rdn. 10. Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (492); so ist es z.B. unzulässig, im Innenverhältnis der Organe eine Sprache wie Esperanto oder Latein zu wählen, die nicht Amts- und Arbeitssprache im Sinne der VO Nr. 1 ist, vgl. Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rdn. 10. 58
59 Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rdn. 11; vgl. des Weiteren die Ausführungen im fünften Kapitel. 60 Dazu eingehend Schloßmacher, Die Amtssprachen in den Organen der Europäischen Gemeinschaft, passim; Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse bereits bei Schloßmacher, Sociolinguistica 1994, S. 101 ff.; vgl. auch die Beispiele bei Burkert, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 54 (55 ff.) sowie bei Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 290 Rdn. 10. 61 So insbesondere bei der Kommission, vgl. dazu unten 2. Kap. Β. II. 3. c). 62 Goffin, in: Laforge (Hrsg.), Aménagement Linguistique, S. 365 (368). Lange Zeit konnten sich die Mitgliedstaaten lediglich über „vorläufige Arbeitsorte" der Organe einigen; erst durch Beschluss vom 12.12.1992 (ABl. 1992 Nr. C 341, S. 1), der durch das im Amsterdamer Vertrag enthaltene Protokoll über die Festlegung der Sitze der Organe der Gemeinschaft bestätigt wurde (ABl. 1997 Nr. C 340, S. 112), wurden die Sitze der Gemeinschaftsorgane endgültig festgelegt, vgl. Streinz, Europarecht, Rdn. 231; Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 289 EGV Rdn. 3.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
faktische Konzentration auf die englische und französische Sprache allgemein bekannt ist, wird die effektive Anerkennung des Deutschen als interne Arbeitssprache nicht eindeutig beurteilt. 63
e) Klarstellung
der verwendeten Terminologie
Die gegenwärtige Sprachsituation in der Union ist somit durch den in Art. 1 VO Nr. 1 ausgesprochenen Grundsatz des Gleichlaufs von Amts- und Arbeitssprachen, des Weiteren durch eine „offizielle" Konkretisierungsmöglichkeit des Arbeitssprachenregimes in den Geschäftsordnungen der Organe und schließlich durch eine faktische, ohne gesetzliche Grundlage praktizierte Reduzierung der Arbeitssprachenzahl im internen Dienstbetrieb der Organe gekennzeichnet. Angesichts dieser „Dreispurigkeit" kann es nicht verwundern, dass nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern teilweise sogar in der Fachliteratur Unklarheit über die Verwendung der Termini „Amtssprache" und „Arbeitssprache" im gemeinschaftsrechtlichen Kontext herrscht. 64 Dies geht soweit, dass sogar gefordert wurde, für die „Gleichstellung der deutschen Sprache als Amtssprache" auf europäischer Ebene zu sorgen. 65 Häufig werden die Begriffe „Amtssprache" und „Arbeitssprache" miteinander verwechselt oder ohne nähere Erläuterung die Termini „Arbeitssprache", „interne Arbeitssprache" und „Verkehrssprache" nebeneinander verwendet. 66 Im Folgenden wird der Begriff „Arbeitssprache" nur verwendet, um diejenigen konkreten Umsetzungen des Sprachenregimes zu bezeichnen, die auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage basieren, also in den Geschäftsordnungen der Organe vorgesehen sind. Für die daneben praktizierten ungeschriebenen oder inoffiziellen Einschränkungen der Sprachenzahl soll demgegenüber der Begriff der „internen Arbeitssprache" oder der „Verkehrssprache" verwendet werden.
II. Die Sprachenregelung im Einzelnen Parlament, Rat und Kommission haben in unterschiedlichem Maße von der Ermächtigung des Art. 6 VO Nr. 1 Gebrauch gemacht, Einzelheiten des Sprachenregimes in ihren Geschäftsordnungen zu regeln.
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Dazu näher unten 2. Kap. Β. II. 3. b). Z.B. Niebling, WiB 1996, S. 426 (427): „Vor dem Hintergrund, dass die Amtssprachen innerhalb der europäischen Gemeinschaft Deutsch, Französisch und Englisch sind (...)"; des Weiteren z.B. Dohmes, EG-Magazin 1990/3, S. 16 (17); Haselhuber, Sociolinguistica 1991, S. 37 (39). 65 Dohmes, EG-Magazin 1990/3, S. 16 (16). 66 Vgl. z.B. Rott, ZVglRWiss 1999, S. 382 (382), der von „der Aufwertung der deutschen Sprache zur Arbeitssprache" spricht; zum Begriff der „Verkehrssprache" aus linguistischer Sicht Amnion, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 38 (38 f.). 64
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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1. Die Sprachenregelung des Europäischen Parlaments a) Die gesetzliche Regelung Eine volle Verwirklichung der Elfsprachigkeit bei den Gesetzesberatungen im Europäischen Parlament (EP) ist in Art. 117 seiner Geschäftsordnung 67 vorgesehen. Art. 117 GeschO Parlament bestimmt in Abs. 1, dass alle Schriftstücke des Parlaments „in den Amtssprachen" abzufassen sind. Gemäß Abs. 2 werden die Ausführungen in einer der Amtssprachen simultan in alle anderen Amtssprachen übersetzt 68 sowie in jede weitere Sprache, die das Präsidium für erforderlich erachtet. 69 Für den - offenbar nicht seltenen - Fall, dass sich nach der Verkündung eines Abstimmungsergebnisses eine Diskrepanz des Wortlauts in den verschiedenen Sprachen zeigt, entscheidet der Präsident über die Gültigkeit gemäß Art. 138 Abs. 5 GeschO. Beim Europäischen Parlament handelt es sich um das Organ, das traditionellerweise am konsequentesten an der Gleichberechtigung aller Amts- und Arbeitssprachen festhält. 70 Exemplarisch hierfür lässt sich die Entschließung des EP vom 14.10.1982 im Anschluss an den Bericht des Abgeordneten Nyborg 71 zitieren, welche den Grundsatz bestätigt, „dass die Sprachen der Gemeinschaft aktiv wie passiv und schriftlich wie mündlich absolut gleichwertig verwendet werden sollen". 72 Die Notwendigkeit einer absoluten Gleichbehandlung der Sprachen ergebe sich speziell für das Europäische Parlament aus der Erwägung, dass jede Beschränkung der Sprachenzahl einem zusätzlichen Wählbarkeitskriterium in Form der fremdsprachlichen Ausdrucksfähigkeit für diejenigen Abgeordneten gleichkomme, deren Muttersprache im EP nicht mehr verwendet würde. 73 Andere lehnen eine Einschränkung der Sprachenvielfalt im EP im Hinblick auf die demokratische
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GeschO des Europäischen Parlaments vom 2.8.1999, ABl. 1999 Nr. L 202, S. 1. Dies gilt gemäß Art. 165 Abs. 4 GeschO auch für Ausschusssitzungen. Art. 117 GeschO Parlament ist, soweit ersichtlich, die einzige Regelung in den Geschäftsordnungen der Organe, die auf die Notwendigkeit nicht nur der Übersetzung schriftlicher Dokumente, sondern auch des Dolmetschens in Sitzungen hinweist. 69 Diese Vorschrift kann insbesondere für Regional- und Minderheitensprachen relevant werden, vgl. Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (493 f.); Näheres zur Stellung der Regional- und Minderheitensprachen in der EU unter besonderer Berücksichtigung des Katalanischen bei MilianMassana, RivDirEur 1995, S. 485 (504 ff.); vgl. des Weiteren die Entschließung des EP vom 11.12.1990 zur Sprachensituation in der Gemeinschaft und der Stellung des Katalanischen, ABl. 1991 Nr.C 19, S. 42. 68
70 So die Selbsteinschätzung des EP in seiner Entschließung vom 11.12.1990, ABl. 1991 Nr. C 19, S.42. 71 Bericht des Berichterstatters Nyborg über die Mehrsprachigkeit der Europäischen Gemeinschaft vom 21.6.1982, Dokument 1-306/82, PE 73 706/endg.; dazu eingehend Fosty, La langue française, S. 51 ff. 72 Entschließung des EP vom 14.10.1982, ABl. 1982 Nr. C 292, S. 96 (97). 73 Entschließung des EP vom 14.10.1982, Erwägungsgrund B, ABl. 1982 Nr. C 292, S. 96 (97); Coulnias, Sociolinguistica 1991, S. 24 (32); Goffin, in: Laforge (Hrsg.), Aménagement Linguistique, S. 365 (369); vgl. auch Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rdn. 11.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Legitimation des EP ab, die primär über die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten44 (Art. 189 EGV) und damit auch über die jeweiligen nationalen Amtssprachen vermittelt werde. 74 Außerdem gebiete es der Grundsatz der Öffentlichkeit der Sitzungen, dass alle Unionsbürger die Aktivitäten des Parlaments in ihrer Heimatsprache verfolgen könnten. 75
b) Praxis und Reformvorschläge Trotz der Absage an jegliche Diskriminierung zwischen den Amts- und Arbeitssprachen im Parlament kommt in der Praxis des Öfteren nur eine beschränkte Zahl von Arbeitssprachen zur Anwendung. 76 Dies betrifft insbesondere vorbereitende Arbeiten, Ausschusssitzungen und sonstige informelle Situationen.77 Bisweilen liegen die erforderlichen Übersetzungen nicht rechtzeitig vor; mitunter wird freiwillig oder notgedrungen auf simultanes Dolmetschen in einige Gemeinschaftssprachen verzichtet. 78 Neben diesen faktischen Durchbrechungen des Allsprachigkeitsprinzips wurden immer wieder offizielle Einschränkungen des internen Sprachenregimes aus Kosten- und Effizienzgründen diskutiert. Die größte Aufmerksamkeit hat sich dabei der Vorschlag eines asymmetrischen Systems erworben, nach dem sich zwar jeder Parlamentsabgeordnete bei Reden und Debatten seiner Muttersprache bedienen dürfe, die Reden aber nur in einige wenige allgemeinverständliche Sprachen gedolmetscht werden sollten. 79 Dieses System geht von dem Erfahrungssatz aus, dass die passive Beherrschung einer Sprache eher gewährleistet ist als die aktive. 80 Obwohl dieser Vorschlag in der Folgezeit mehrfach aufgegriffen wurde, 81 konnte er sich bislang zumindest offiziell nicht durchsetzen. 82 Generell wurde bis heute allen Vorschlägen zur offiziellen Einführung eines reduzierten Sprachenregimes eine Absage erteilt. 83 Angesichts der steigenden Sprachenvielfalt im
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Labrie, La construction linguistique, S. 116 f.; Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 7. Goffin, in: Laforge (Hrsg.), Aménagement Linguistique, S. 365 (369); vgl. auch Coultnas, Sociolinguistica 1991, S. 24 (32). 76 Schloßmacher, Sociolinguistica 1994, S. 101 (110 ff.); Randzio-Plath, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 80 (80 f.). 77 Vgl. dazu im Einzelnen Schloßmacher, Die Amtssprachen in den Organen der Europäischen Gemeinschaft, S. 64 ff., 114 ff. 78 Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (87). 79 van Hoof, in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 126 (130 ff.). 80 Dazu Pescatore, Incompréhensions et malentendus en matière linguistique, S. 14 f. 81 Vgl. z.B. Kusterer, EA 1980, S. 693 (696 f.); Patterson, Multilingua 1982/1, S. 9 (13); Seeler, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 9 (10). 82 Allerdings sollen in der Praxis mitunter asymmetrische Systeme zur Anwendung kommen, vgl. Schloßmacher, Die Amtssprachen der Organe der Europäischen Gemeinschaft, S. 109. 83 Vgl. aus jüngerer Zeit Entschließung des EP zur Verwendung der Amtssprachen in den Organen der Europäischen Union, ABl. 1995 Nr. C 43, S. 91: Vehemente Ablehnung des Vorschlags 75
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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Zuge einer künftigen Osterweiterung der EU wird aber die Diskussion über eine Einschränkung der Arbeitssprachen des EP auch in Zukunft nicht verstummen.84
2. Die Sprachenregelung des Rats a) Die gesetzliche Regelung Art. 14 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Rates85 stellt den Grundsatz auf, dass der Rat nur auf der Grundlage von Schriftstücken und Entwürfen berät und beschließt, „die in den in der geltenden Sprachenregelung vorgesehenen Sprachen44, mithin nach Art. 1 VO Nr. 1 in allen elf Amtssprachen, vorliegen. Etwaige Verletzungen der Sprachregelung können von den Ratsmitgliedern nach Art. 14 Abs. 2 GeschO gerügt werden. Allerdings sieht Art. 14 Abs. 1 GeschO eine - einstimmig zu beschließende - Abweichung von der Sprachregelung aus Dringlichkeitsgründen vor. Damit hat der Rat aus Praktikabilitätserwägungen selbst eine Beschränkungsmöglichkeit kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie vorgesehen, die eine effektivere Verhandlungsführung vor der Schlussredaktion eines Textes ermöglicht. 86 Die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Sprachregelung werden aber auch ohne Dringlichkeit sehr flexibel angewandt. 87 Insbesondere bei informellen Ministerratstreffen wird regelmäßig nur eine geringere Zahl an internen Arbeitssprachen verwendet. 88
b) Durchbrechungen Durchbrechungen des Prinzips der Gleichberechtigung aller Sprachen finden sich nicht nur im Ratsplenum, sondern erst recht in seinen Ausschüssen und Arbeitsgruppen. Der Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER) arbeitet dreisprachig in Deutsch, Englisch und Französisch 89; auch in den diversen Arbeitsgruppen des Rates ist häufig nur eine Übersetzung in diese drei Verdes damaligen französischen Europaministers Lamassoure, sich auf fünf Arbeitssprachen zu beschränken. 84 Vgl. auch unten 5. Kap. Β. II. 2. b) bb). 85 GeschO des Rates vom 22.7.2002, ABl. 2002 Nr. L 325, S. 52. 86 Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 8. 87 Dazu näher unten 2. Kap. C. I. 3. b). 88 Noch in Erinnerung ist der 1999 ausgetragene Sprachenstreit zwischen der finnischen Ratspräsidentschaft einerseits, Deutschland und Österreich andererseits, als die finnische Präsidentschaft Deutsch nicht als interne Arbeitssprache zulassen wollte, vgl. dazu Oppermann, ZEuS 2001, S. 1
(2).
89 Burkert, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 54 (55); Forrest, (106); Lopes Sabino , RTDE 1999, S. 159 (163).
5
Schübel-Pfister
T & T 1998/3, S. 101
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
kehrssprachen gewährleistet. 90 Bei den Treffen im Rahmen der früheren Europäischen Politischen Zusammenarbeit gab es keine Dolmetscher, sondern es wurde nur englisch und französisch gesprochen, 91 was sich trotz der anderweitigen Anordnung in Art. 28 Abs. 1 EUV für den Bereich des GASP fortgesetzt zu haben scheint.92 Bei Tagungen nationaler Experten auf EU-Ebene ist nicht immer ein Dolmetschen aus allen und in alle Amtssprachen gewährleistet; zudem sind die Unterlagen häufig nur in englischer und französischer Sprache verfügbar. 93 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auch im Rat faktische Einschränkungen und Durchbrechungen des Grundsatzes der Maßgeblichkeit aller Amts- und Arbeitssprachen zu beobachten sind. Dies gilt am stärksten für die Beamten- und in geringerem Maße für die Ministerebene, während auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs naturgemäß größerer Wert auf die Gleichberechtigung aller Sprachen gelegt wird.
3. Die Sprachenregelung der Kommission a) Die gesetzliche Regelung Für die Kommission sieht der kompliziert gefasste Wortlaut des Art. 18 ihrer Geschäftsordnung 94 zunächst vor, dass die von ihr gefassten Beschlüsse mit demjenigen Protokoll über diese Beschlüsse untrennbar verbunden sind, in dem sie angenommen werden, und zwar in derjenigen Sprache oder in denjenigen Sprachen, in denen sie verbindlich sind. Abs. 6 der gleichen Bestimmung stellt dann fest, dass unter den verbindlichen Sprachen alle Amtssprachen der Gemeinschaften zu verstehen sind, wenn es sich um Rechtsakte mit allgemeiner Geltung handelt; andernfalls - nämlich beim Schriftverkehr mit einem Mitgliedstaat oder dessen Bürgern - handelt es sich dabei um die jeweilige(n) Adressatensprache(n). 95 Damit werden letztlich die Bestimmungen der VO Nr. 1 wieder aufgegriffen. 96 Während offiziell von einer grundsätzlichen Gleichstellung der Amts- und Arbeitssprachen in der Kommission die Rede ist, werden in der Praxis weitergehende Beschränkungen des internen und teilweise sogar des externen Sprachenregimes bei der Kommission vorgenommen.
90
Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 4, 8. Lwowski, Der Städtetag 1992, S. 193 (196). 92 Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (93); Lopes Sabino, RTDE 1999, S. 159 (163). 93 Vgl. Huber, Recht der Europäischen Integration, § 1 Rdn. 28. 94 GeschO der Kommission (K (2000) 3614) vom 29.11.2000, ABl. 2000 Nr. L 308, S. 26 ff.; die Regelung stimmt insoweit mit Art. 16 der früheren Geschäftsordnung überein. 95 Vgl. Hummer, in: Grabitz/Hilf, Art. 163 Rdn. 15; Sandrock, FS Großfeld, S. 971 (983). 96 Vgl. Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 9. 91
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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b) Die Praxis der internen Sprachenregelung Unbestritten sind Französisch und Englisch die primären linguae francae der Kommission. 97 Nicht eindeutig wird demgegenüber die Anerkennung des Deutschen als dritte Verkehrssprache beurteilt. Die Bundesrepublik Deutschland hat mehrfach eine Diskriminierung der deutschen Sprache in den Gemeinschaftsorganen beklagt und sich für die Gleichrangigkeit des Deutschen mit den beiden anderen Idiomen eingesetzt.98 Auch nach Ansicht zahlreicher (deutschsprachiger) Autoren besteht eine Pflicht der Kommission, das Deutsche als gleichberechtigte interne Arbeitssprache zu verwenden. 99 Sie berufen sich dabei auf eine Protokollerklärung vom 1.9.1993, in der die Kommission festgelegt hat, dass alle internen Dokumente des Kommissionskollegiums in den Arbeitssprachen Deutsch, Englisch und Französisch vorgelegt werden müssen. 100 In der Praxis scheint es allerdings, dass auch und gerade in der Kommission ganz überwiegend nur das Englische und Französische im internen Dienstbetrieb gebraucht werden. 101 Dieser offensichtliche Widerspruch löst sich auf, wenn man sich den historischen Hintergrund der Entstehung dieser Protokollerklärung näher betrachtet: 102 Auf Druck der Bundesrepublik ließ der damalige Kommissionspräsident Delors in besagtem Pressekommuniqué darauf hinweisen, dass auch das Deutsche eine interne Arbeitssprache der Kommission darstelle. Diese Pressemitteilung erfolgte aber von vornherein nur in deutscher Sprache und wurde nur auf Deutsch veröffentlicht, um nicht ähnlichen Begehrlichkeiten der Spanier Vorschub zu leisten. Es besteht somit die kuriose und für das Sprachenregime der Gemeinschaft gleichsam symptomatische Situation,
97 Vgl. nur Coulmas, Sociolinguistica 1991, S. 24 (29); Labrie, La construction linguistique, S. 111 f.; Priebe, DV 2000, S. 379 (397); Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 4. 98 Dies lässt sich insbesondere den halbjährlich gegenüber dem Deutschen Bundestag abgegebenen Integrationsberichten der Bundesregierung entnehmen, vgl. z.B. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum 1.4 bis 31.12.1989), BT-Drucks. 240/90, S. 14 f.; Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum 1.1. bis 30.6.1990), BT-Drucks. 11/7887, S. 13 f. 99 So insbesondere Huber, Recht der Europäischen Integration, § 2 Rdn. 29 f.; vgl. auch Geiger, Art. 290 EGV Rdn. 3; Lwowski, Der Städtetag 1992, S. 193 ff.; Menke, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 29 (31 ff.); Röhr, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 110(111); Röttinger, in: Röttinger/ Wey ringer, Handbuch der europäischen Integration, S. 122. 100 Vgl. z.B. Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 4 Fn. 14; Wichard, in: Calliess/Rujfert, Art. 290 EGV Rdn. 11 : „nicht veröffentlichte Protokollerklärung". Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist die Protokollerklärung - wenn auch nicht amtlich, so doch immerhin in einer EG-Publikation veröffentlicht, und zwar in den EG-Nachrichten Nr. 34 vom 6.9.1993, S. 4. 101 Vgl. dazu die empirischen Untersuchungen von Gehnen, Sociolinguistica 1991, S. 51 ff. zum Sprachgebrauch in den einzelnen Generaldirektionen; Haselhuber, Sociolinguistica 1991, S. 37 ff. und Quell, Multilingua 1997/1, S. 57 ff. zu Erhebungen bei Praktikanten der Kommission sowie die umfassende Untersuchung bei Schloßmacher, Die Amtssprachen in den Organen der Europäischen Gemeinschaft, passim, insbes. S. 54 ff. 102 Dazu von Donat, EU-Magazin 1999/12, S. 18 (19).
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
dass die Protokollerklärung von 1993 auch das Deutsche als interne Arbeitssprache der Kommission ausweist, während im internen Verfahrenshandbuch der Kommission Deutsch nicht verbindlich als Verkehrssprache aufgeführt
c) Die Praxis der externen Sprachenregelung Im Unterschied zur internen Organisation der Gemeinschaftsbehörden und des Geschäftsablaufs wird in bezug auf die nach außen gerichteten Beschlüsse und Dokumente behauptet, dass in der Kommission alle elf Amtssprachen gleichberechtigt nebeneinander verwendet würden. 104 Doch auch diese Aussage trifft in ihrer Allgemeingültigkeit nicht zu. So beklagte die Bundesrepublik, dass speziell bei der Kommission „erhebliche Missachtungen der Sprachenregelung (...) bei der Korrespondenz mit der deutschen Verwaltung, Wirtschaft und Öffentlichkeit, bei Verhandlungen, Konferenzen und Anhörungen mit deutschen Teilnehmern, bei Gutachten, Aufträgen und Ausschreibungen sowie bei Publikationen feststellbar" seien. 105 Häufig erscheinen Publikationen der EU nicht gleichzeitig in allen Amtssprachen, obwohl der Grundsatz der Gleichberechtigung (der Amtssprachen und der in ihnen abgefassten Dokumente) an sich auch die Gleichzeitigkeit (ihrer Veröffentlichung) impliziert. 106 Insbesondere sind regelmäßig Klagen zu hören, dass bei Ausschreibungen der EG die Ausschreibungsunterlagen nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht in allen Sprachfassungen zugänglich seien, was zu Wettbewerbsverzerrungen für diejenigen Unternehmen führe, die keinen Zugang zu den Dokumenten in ihrer heimischen Sprachfassung haben. 107 Es wird daher gefordert, nicht nur abstrakt-generelle Regelungen gemäß Art. 4 VO Nr. 1, sondern auch all diejenigen Schriftstücke in allen Amtssprachen abzufassen, mit denen sich ein Organ an ein unbestimmtes Gemeinschaftspublikum wendet, selbst wenn diese Schriftstücke nicht rechtsverbindlich sind. 108 Die Stellung der deutschen Sprache in der Kommission wird somit nicht eindeutig beurteilt. Während einige Autoren die deutsche Sprache als dritte interne Arbeitssprache fest etabliert sehen und ihr angesichts der bereits erfolgten 103
von Donat, EU-Magazin 1999/12, S. 18 (19). Vgl. nur Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 9. 105 Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften (Berichtszeitraum 1.1. bis 30.6.1990), BT-Drucks. 11/7887, S. 13. 106 Huber, Recht der Europäischen Integration, § 2 Rdn. 21; vgl. auch die Zusammenstellung parlamentarischer Anfragen, welche die verzögerte bzw. fehlende Veröffentlichung von Dokumenten in einzelnen Sprachfassungen rügen, bei Fosty, La langue française, S. 189 ff. 107 Vgl. zu diesem und anderen Kritikpunkten Born, LeGes 1994/1, S. 69 (77); Burkert, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 54 ff.; Coubnas, Sociolinguistica 1991, S. 24 (34 f.); Huber, BayVBl. 1992, S. 1 (1 f.); Huber, Recht der Europäischen Integration, § 2 Rdn. 21. 108 Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rdn. 9. 104
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
69
Norderweiterung und der zukünftigen Osterweiterung der EU eine große Zukunft prophezeien, 109 weisen andere Autoren darauf hin, dass die deutsche Sprache um ihre Anerkennung als effektive Arbeitssprache schwer zu ringen hat. 110
4. Die Sprachenregelung des EuGH Wie von Art. 290 EGV und Art. 7 VO Nr. 1 vorgesehen, hat die Sprachenfrage in Bezug auf den Europäischen Gerichtshof eine Sonderregelung in den Art. 29 bis 31 und 110 seiner Verfahrensordnung gefunden. 111 Zwar mag es auf den ersten Blick verwundern, dass eine so wichtige Frage wie die Sprachenregelung der Autonomie des Gerichtshofs überlassen wurde, zumal für die anderen Organe eine weitgehend einheitliche Regelung durch Ratsbeschluss in der VO Nr. 1 getroffen wurde. Die Bedenken werden jedoch dadurch entkräftet, dass gemäß Art. 245 Abs. 3 EGV die vom Gerichtshof erlassene Verfahrensordnung der einstimmigen Genehmigung des Rates bedarf. Die Sprachenfrage ist mit der Tätigkeit des Europäischen Gerichtshofs in verschiedener Hinsicht verknüpft: 112 In formeller Hinsicht stellt sich die Frage, wie sich die Mehrsprachigkeit auf die Regelung der Verfahrenssprache vor dem EuGH auswirkt und welcher Sprache sich der Gerichtshof bei seinen internen Beratungen bedient. In materieller Hinsicht geht es um die Streitigkeiten, die im Zusammenhang mit der Vielsprachigkeit in der Europäischen Union stehen und zu deren Entscheidung der Europäische Gerichtshof berufen ist. 113 Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit, die Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts, kann nicht diskutiert werden, ohne zunächst die formellen Aspekte der Sprachenfrage bezüglich des Europäischen Gerichtshofs darzustellen.
109 So z.B. Burkert, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 54 (62 f.); Coulmas, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 9(19); Haselhuber, Sociolinguistica 1991, S. 37 (47 f.). 110 Born, SprRep 1990/3, S. 1 ff.; Debus, in: Seifert (Hrsg.), Vereinigtes Europa, S. 47 (50 f.); Dolunes, EG-Magazin 1990/3, S. 16 (17); Lwowski, Der Städtetag 1992, S. 193 (194 ff.); Sandrock, FS Großfeld, S. 971 (985). 1,1 VerfO des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 19.6.1991, ABl. 1991 Nr. L 176, S. 7; zuletzt geändert durch Änderungen der Verfahrensordnung vom 3.4.2001, ABl. 2001 Nr. L 119, S. 1. 112 Vgl. Sevón , RivDirEur 1997, S. 533 (534); Sprachenprobleme gibt es übrigens auch insofern, als die verschiedenen Sprachfassungen der Verfahrensordnung des EuGH zahlreiche Ungereimtheiten aufweisen, vgl. dazu Usher, ICLFR 1981, S. 277 (282 ff.) mit Beispielen. 113 Vgl. dazu unten 4. Kap. Β. I.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
a) Die gesetzliche Regelung der Verfahrenssprache Gemäß Art. 29 § 1 sind Dänisch, Deutsch, Englisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Irisch, Italienisch, Niederländisch, Portugiesisch, Schwedisch und Spanisch Verfahrenssprachen vor dem Europäischen Gerichtshof. Es fällt auf, dass Irisch als Verfahrenssprache vor dem Gerichtshof zugelassen ist, obwohl es nicht zugleich gemäß Art. 1 VO Nr. 1 Amts- und Arbeitssprache der Organe ist. Mit dieser Einbeziehung des Irischen wird der Tatsache Rechnung getragen, dass ein effektiver Rechtsschutz entscheidend von der Ausdrucks- und Argumentationsfähigkeit der Parteien und damit von der Regelung der Sprachenfrage abhängt. 114 Allerdings hat sich bislang noch niemand des Irischen als Verfahrenssprache bedient. 115 Die Verfahrenssprache beherrscht alle Stadien des Verfahrens. 116 So müssen die Parteien ihre Schriftstücke in der Verfahrenssprache einreichen, und der Gerichtshof muss sich ihrer bei allen öffentlichen Äußerungen bedienen. Insbesondere sind die Schlussanträge und das Urteil nach Art. 31 VerfO EuGH allein in der Fassung der Verfahrenssprache und nicht etwa auch in den übrigen Sprachfassungen verbindlich. Obgleich das Irische als Verfahrenssprache anerkannt ist, gibt es keine Sammlung der Rechtsprechung in Irisch, da gemäß Art. 30 § 2 VerfO EuGH die Veröffentlichungen des Gerichtshofs in den in Art. 1 VO Nr. 1 genannten Sprachen erscheinen. Die Regeln für die Wahl der jeweiligen Verfahrenssprache sind in Art. 29 näher präzisiert. An dieser Stelle soll nur auf die Grundgedanken hingewiesen werden, die für die Entscheidung über die Verfahrenssprache maßgeblich sind: 117 Bei den Organen der Gemeinschaft ist davon auszugehen, dass sie sich aller Verfahrenssprachen ohne Schwierigkeiten bedienen können und nicht auf eine bestimmte Sprache festgelegt sind. Demgegenüber sind sowohl (natürliche und juristische) Einzelpersonen als auch Mitgliedstaaten „sprachwahlprivilegiert", da ihnen die Prozessführung in einer fremden Sprache erheblich erschwert wäre. In Direktklagen gilt daher als Faustregel, dass die „sprachwahlprivilegierte" Partei gegenüber einer nichtprivilegierten Partei die Verfahrenssprache bestimmt. Beim Zusammentreffen zweier nichtprivilegierter Parteien bestimmt der Kläger die Verfahrenssprache; in den seltenen Fällen des Zusammentreffens zweier sprachwahlprivilegierter Parteien obliegt die Bestimmung der Verfahrenssprache dem Beklagten. In Vorabentscheidungsverfahren ist Verfahrenssprache die Sprache des vorlegenden nationalen Gerichts (Art. 29 § 2 Abs. 2 VerfO EuGH) 1 1 8 ; bei Berufungen gegen Entscheidungen des EuG 1,4
Vgl. Berteloot, in: Jayme (Hrsg.), Langue et Droit, S. 345 (354); Huber, BayVBl. 1992, S. 1 (3); Stevens, Nw.U. L.Rev. 1967, S. 701 (705 f.); Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 10. 115 Bericht des EuGH über die Übersetzung am Gerichtshof, EuGRZ 2000, S. 113 (114 Fn. 3); Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (534). 116 Vgl. Klinke, Gerichtshof, Rdn. 233. 117 Vgl. dazu im Einzelnen Klinke, Gerichtshof, Rdn. 235 ff.; des Weiteren Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 71 f.; Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (534 ff.). 118 Vgl. dazu näher Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (537 f.).
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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wird grundsätzlich die Verfahrenssprache des erstinstanzlichen Verfahrens beibehalten (Art. 110 VerfO EuGH). 1 1 9 Zur Sicherstellung eines geordneten Verfahrensablaufs in dem vielsprachigen Gerichtshof trägt der Sprachendienst bei, dessen Angehörige gemäß Art. 22 VerfO EuGH eine angemessene juristische Ausbildung und gründliche Kenntnisse in mehreren Amtssprachen des Gerichtshofs aufweisen müssen.
b) Die Praxis der internen Arbeitssprache Von der Verfahrenssprache ist die nur informell festgelegte interne Arbeitssprache des Gerichtshofs zu unterscheiden.
aa) Die Existenz einer internen Arbeitssprache am EuGH Gemäß Art. 29 § 5 VerfO EuGH sind Präsident, Kammerpräsident, Richter und Generalanwälte nicht verpflichtet, sich für bestimmte Verfahrensabschnitte der jeweiligen Verfahrenssprache zu bedienen. Diese auf den ersten Blick bestehende Freiheit zur Wahl einer beliebigen Sprache ist aber in der Praxis durch den Zwang zu einer einheitlichen, allen verständlichen Arbeitssprache für den gerichtshofsinternen Gebrauch eingeschränkt. 120 Im Unterschied zu anderen Organen der Gemeinschaft, die gegenwärtig mehrere Verkehrssprachen nebeneinander benutzen, hat sich am Gerichtshof die aus historischen Gründen gewählte französische Sprache 121 als alleinige interne Arbeitssprache bis heute erhalten. Obwohl dies nirgendwo schriftlich fixiert ist, ist allgemein anerkannt, dass sich die gesamte interne Arbeit des Gerichtshofs in französischer Sprache vollzieht. 122 Konkret bedeutet dies unter anderem, dass sämtliche von den Parteien in der Verfahrenssprache eingebrachten Schriftsätze ins Französische übersetzt werden müssen, eine angesichts der Länge der Schriftsätze arbeitsund kostenintensive Aufgabe. 123 Des Weiteren werden Vorbericht, Sitzungsbe1,9
Zur Sprachenregelung vor dem EuG sogleich unten 2. Kap. Β. II. 4. d). Eine Andeutung für die Existenz einer internen Arbeitssprache findet sich in der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der EGKS, ABl. 1953, S. 37 ff. Art. 27 § 2 a.E. sieht nämlich vor, dass der Gerichtshof die Sprache bestimmt, in welcher der Urteilsentwurf abzufassen ist. Diese Bestimmung ist nur sinnvoll, wenn es innerhalb des Gerichtshofs eine einheitliche lingua franca gibt, die unabhängig von der Wahl der jeweiligen Verfahrenssprache ist. 121 Dazu näher Mancini/Keeling, Col. J. Eur. L. 1994/95, S. 397 (399). 122 Vgl. nur Berteloot, Jurilinguistique, S. 11; Due, FS Schockweiler, S. 73 (77); Everling, EuR 1994, S. 127 (136 ff.); Hirsch, MDR 1999, S. 1 (1 f.); Kennedy, FS Mackenzie-Stuart, S. 69 (82); Schilling, ZEuS 1999, S. 75 (89 f.); Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (541); Usher, ICLFR 1981, S. 277 (279, 281 f.). 123 Vgl. Fosty, La langue française, S. 128; Usher, ICLFR 1981, S. 277 (279). Die Vorschrift des Art. 37 § 2 VerfO EuGH, wonach an sich eine Übersetzung der Schriftsätze der Organe in alle Amtssprachen erforderlich wäre, wird insoweit in der Praxis nicht vollständig umgesetzt. 120
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
rieht, Urteile und sonstige Beschlüsse gerichtshofsintern zunächst ausschließlich auf Französisch erarbeitet, bevor sie zur mündlichen Verhandlung bzw. zum Verkündungstermin in die jeweilige Verfahrenssprache übersetzt werden. 124 Sogenannte „lecteurs d'arrêts" überprüfen die oft von NichtMuttersprachlern abgefassten französischen Originaldokumente und wachen darüber, dass sie in verständlichem Französisch abgefasst sind und sich an der Terminologie früherer Urteile orientieren. 125 Da die vom Gerichtshof endgültig gebilligte Version des Urteils stets die französische ist, stellt die nach Art. 31 VerfO EuGH allein in der Verfahrenssprache verbindliche Fassung des Urteils de facto stets eine Übersetzung aus dem Französischen dar. 126 Umgekehrt entsteht die etwas kuriose Situation, dass die französische Fassung der Urteile als Übersetzung bezeichnet wird, obwohl sie das eigentliche Original darstellt. 127 Die Schlussanträge erarbeitet und verliest der Generalanwalt in aller Regel in seiner Muttersprache. 128 ihre schriftliche Fassung wird unmittelbar danach sowohl in die Verfahrenssprache als auch ins Französische als interne Arbeitssprache, später dann in alle übrigen Amtssprachen übersetzt. 129 Die Konzentration auf eine einzige interne Arbeitssprache wird mit den Argumenten gerechtfertigt, dass die Beratungen der Richter geheim bleiben müssten, 130 dass Entscheidungsprozesse im Gerichtshof ohne Dolmetscher und Übersetzer ohnehin besser funktionierten 131 und dass der Gebrauch einer einzigen Sprache das Zusammengehörigkeitsgefühl des Richterkollegiums stärke. 132 Für die Verwendung speziell der französischen Sprache wird ins Feld geführt, dass sie aufgrund ihrer strikten Logik zu einer besonderen Klarheit der Urteile des Ge124 Wenn z.B. ein deutschsprachiger Berichterstatter für das Vorlageverfahren eines deutschen Gerichts zuständig ist, müssen trotzdem die Akten vollständig ins Französische übersetzt und alle Berichte und der Urteilsentwurf von dem deutschen Mitarbeiter in französischer Sprache erstellt werden, vgl. Hakenberg, ZEuP 2000, S. 860 (867 Fn. 25). Die Dokumente werden erst anschließend wieder in die Ausgangssprache zurückübersetzt, was dazu führen kann, dass in der zurückübersetzten deutschen Fassung statt der ursprünglich vorhandenen Fachbegriffe nunmehr Umschreibungen zu finden sind, die aus der wörtlichen Übersetzung der französischen Formulierungen stammen, vgl. dazu das instruktive Beispiel bei Hirsch, MDR 1999, S. 1 (2). 125 Berteloot, Jurilinguistique, S. 13; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Communities, § 787; Sevón , RivDirEur 1997, S. 533 (541). 126 Everting, EuR 1994, S. 127 (137); Hirsch, MDR 1999, S. 1 (2); Klinke, Gerichtshof, Rdn. 248. 127 Berteloot, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 105 (106); Usher, ICLFR 1981, S. 277 (281). 128 Tabory, Multilingualism, S. 26; zu vereinzelten Gegenbeispielen Usher, ICLFR 1981, S. 277 (279). 129 Klinke, Gerichtshof, Rdn. 249; Sevón , RivDirEur 1997, S. 533 (540). 130 Art. 32 der Satzung des EuGH vom 17.4.1957, abgedruckt in BGBl. 1957 II, S. 1166; vgl. zu diesem Argument Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 72; Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (495); Usher, ICLFR 1981, S. 277 (281). 131 So bereits Riese, DRiZ 1958, S. 270 (272); des Weiteren Edward, E.L.Rev. 1995, S. 539 (547). 132 Vgl. Mancini/Keeling, Col. J. Eur. L. 1994/95, S. 397 (398); s.a. Klinke, EG-Magazin 1991/12, S. 6 (8 f.).
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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richtshofs führe, 133 was sich schon in dem ursprünglich am französischen Urteilsstil angelehnten Urteilsstil des EuGH niedergeschlagen habe. 134
bb) Die Problematik der internen Arbeitssprache am EuGH Allerdings wirft die Konzentration auf das Französische als alleinige interne Arbeitssprache gleichermaßen rechtspolitische wie handfeste juristische Bedenken unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten und ihrer Amtssprachen auf. Schon mehrfach wurde von berufener Stelle Kritik am Zwang zum internen Gebrauch der französischen Sprache geübt, der diejenigen Richter, deren Muttersprache nicht das Französische ist, gegenüber ihren frankophonen Kollegen benachteiligt. 135 Diese Benachteiligung beruht auf der unbestreitbaren Tatsache, dass die volle Beherrschung einer Sprache mit all ihren Feinheiten und Konnotationen dem Richter ein nicht zu unterschätzendes Plus an Selbstsicherheit und Überzeugungskraft in den Beratungen zur Urteilsfindung verschafft, ein Vorteil, den die französischen Muttersprachler bewusst oder unbewusst ausnutzen werden. 136 Diese eher psychologische Benachteiligung der nicht-frankophonen Richter kann sogar zu einer rechtlichen Benachteiligung werden, wenn die Ernennungen zum Richter am EuGH de facto von entsprechenden Französischkenntnissen abhängig gemacht werden. 137 Des Weiteren kann der Gebrauch des Französischen als alleinige interne Arbeitssprache Auswirkungen gleichermaßen auf die äußere Form der Urteile wie auch auf den Inhalt der Entscheidungsgründe haben. Während der Einfluss auf
133 Vgl. Mancini/Keeling, Col. J. Eur. L. 1994/95, S. 397 (398); Martiny, ZEuP 1998, S. 227 (239); zur Bedeutung der französischen Sprache als diplomatischem und juristischem Ausdrucksmittel näher Rudolf, Die Sprache in der Diplomatie, S. 42 ff. 134 Bis Mitte Mai 1979 begannen die Entscheidungsgründe der EuGH-Urteile in ihrer französischen Fassung stets mit der am französischen Urteilsstil angelehnten „attendu que"-Formel, vgl. Mancini/Keeling, Col. J. Eur. L. 1994/95, S. 397 (399); Usher, ICLFR 1981, S. 277 (281); zum Urteilsstil des EuGH im Vergleich zu anderen Gerichten eingehend Lashöfer, Zum Stilwandel in richterlichen Entscheidungen, S. 130 ff. 135 Mancini/Keeling, Col. J. Eur. L. 1994/95, S. 397 (398): „Yet the fact of having to speak French, which has been the Court's working language since 1952, in the deliberation room and having to draft judgments in French, puts the non-francophones at a definite disadvantage vis-à-vis their brethren from France, Belgium and Luxembourg"; ebenso Everling, EuR 1994, S. 127 (140); Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 73; Hirsch, MDR 1999, S. 1 (2); Riese, DRiZ 1958, S. 270 (272) in bezug auf den Gerichtshof der EGKS; Tabory, Multilingualism, S. 26; eingehend zur Problematik Bächle, Rechtsstellung, S. 51 ff. 136 Mancini/Keeling, Col. J. Eur. L. 1994/95, S. 397 (398): „(...) the full mastery of a language especially of so noble and captivating a language - is an irresistible weapon; and the owner of that weapon will not be likely to refrain from using it"; vgl. auch Bächle, Rechtsstellung, S. 52 f. 137 Dies soll laut Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 72 der Fall sein.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Form und Stil der Urteile in rechtlicher Hinsicht eher unproblematisch ist, 1 3 8 erscheint es bedenklich, dass sich die Richter beim Entwurf der Urteile manchmal unbewusst an französischen Rechtskonzepten orientieren, deren Inhalte mit den französischsprachigen Begriffen untrennbar verbunden sind. Da die erste Fassung aller Berichte und Urteile stets auf Französisch erstellt werden muss, besteht die Gefahr, dass Rechtskonzepte, die anderen Rechtsordnungen zu Eigen sind, einfach deswegen unberücksichtigt bleiben, weil sie nicht ohne weiteres mit französischen Rechtstermini ausgedrückt werden können. 139 Auch wenn diese Art der Rechtsentwicklung nicht ausschließt, dass den Rechtskonzepten später ein gemeinschaftsrechtlicher Sinn beigelegt wird, der sich von ihrer ursprünglichen Bedeutung im französischen Recht entfernt hat, so wird doch oftmals die Prägung der gemeinschaftlichen Rechtskonzepte durch das französische Rechtsdenken unverkennbar sein. Schließlich beeinflusst die interne Arbeitssprache sogar bisweilen die Wahl der Verfahrenssprache. Obwohl die sprachprivilegierten Parteien an sich das Recht haben, ihre nationale Sprache als Verfahrenssprache zu wählen, besteht ein faktischer Anpassungsdruck, die französische Sprache oder zumindest eine der großen Amtssprachen 140 als Verfahrenssprachen zu wählen. 141 Die Bedenken, dass die Benutzung weniger verbreiteter Sprachen zu Missverständnissen führen kann, 142 erscheinen nicht aus der Luft gegriffen, wenn man die Verständnisschwierigkeiten berücksichtigt, denen die Richter trotz oder oftmals gerade wegen der Simultanübersetzung in den mündlichen Verhandlungen ausgesetzt sind. 143 Zudem besteht auch in der schriftlichen Kommunikation immer das Risiko, dass infolge ungenauer Übersetzungen der Schriftsätze in die interne Arbeitssprache juristische und sprachliche Feinheiten der Argumentation verloren gehen. 144 Man kann daher mit Fug und Recht behaupten, dass die Wahl des Französischen als alleinige interne Arbeitssprache zu einer faktischen Diskriminierung der übrigen Amtssprachen und damit letztlich der dahinterstehenden Mitglied138 Nichtsdestoweniger kritisch zu diesem Einfluss Sevón , RivDirEur 1997, S. 533 (543); vgl. auch Oppermann, ZEuS 2001, S. 1 (10) mit dem Hinweis, dass die Konzentration auf die französische Sprache auch Einfluss auf die Auswertung von Literatur und sonstigen Materialien hat. 139 So dezidiert Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 73; ähnlich Becker, Der Einfluss des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, S. 137. 140 Vgl. zur Rangordnung der Amtssprachen nach der Anzahl der Muttersprachler innerhalb der EG und weltweit die Statistiken bei Ammon, Sociolinguistica 1991, S. 70 (71 ff.) sowie die Eurobarometer-Umfrage vom April 2000, Bericht Nr. 52, S. 93 f. 141 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 72; Rabe, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 108 (109); Tabory, Multilingualism, S. 26; Usher, ICLFR 1981, S. 277 (278) mit Beispielen; vgl. auch die Übersicht über die Wahl der Verfahrenssprachen bei Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (495). 142 Stevens, Nw.U. L.Rev. 1967, S. 701 (712); vgl. auch Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (545). 143 Vgl. Huntington, B.U. Int.L.J. 1991, S. 321 (333); Tabory, Multilingualism, S. 26. 144 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 72.
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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Staaten und ihrer Bürger führt. Im Folgenden Kapitel wird bei der Analyse der sprachvergleichenden Rechtsprechung auch näher zu untersuchen sein, inwieweit die interne Arbeitssprache des Gerichtshofs einen Einfluss auf die Art und Weise der Lösung von Sprachdivergenzen ausübt. 145
c) Die Divergenz von Urteilsfassungen Aus der Sprachenregelung des EuGH, insbesondere aus dem Spannungsverhältnis zwischen Verfahrenssprache und interner Arbeitssprache, folgt das weitere Problem der Divergenz von Urteilsfassungen. Wie oben dargelegt, werden die Urteile ausnahmslos zunächst in französischer Sprache beraten und abgefasst, bevor sie in die Verfahrenssprache übersetzt und dann offiziell verkündet werden. Die Richter unterzeichnen daher oft Urteile in einer ihnen nicht verständlichen Sprache, so dass dem Richter, dessen Muttersprache gerade Verfahrenssprache ist, eine große Verantwortung bei der Abstimmung der Übersetzung mit der ursprünglichen Fassung zukommt. 146 Es kann nun aber passieren, dass entweder schon bei der Übersetzung der französischen Originalfassung in die Verfahrenssprache oder aber bei der anschließenden Erstellung der übrigen Sprachfassungen des Urteils Übersetzungsfehler auftreten, die Divergenzen zwischen den verschiedenen Urteilsfassungen zur Folge haben. 147 Derartige Urteilsdivergenzen können zu Missverständnissen führen, wenn sich Bürger, Mitgliedstaaten oder nationale Vorlagegerichte später auf die fehlerhafte Fassung des Urteils beziehen.148 Fraglich ist, wie derartige Urteilsdivergenzen zu behandeln sind. 149 Da gemäß Art. 31 VerfO EuGH die Urteile nur in ihrer jeweiligen Verfahrenssprache verbindlich sind, läge es nahe, bei derartigen Unklarheiten in nicht verbindlichen Urteilsfassungen einfach auf die authentische Sprachfassung zu verweisen. 150 Andererseits ist zu bedenken, dass die Originale der Urteile stets in französischer Sprache erstellt werden und daher in dieser Sprache verlässlicher als in der Verfahrenssprache erscheinen. 151 Während sich der Gerichtshof in der Regel nicht mit Urteilsdivergenzen auseinandersetzt, haben die Generalanwälte 145
3. Kap. C. III. l.b). Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 73; vgl. dazu bereits Riese, DRiZ 1958, S. 270 (272 f.). 147 Due, FS Schockweiler, S. 73 (78); Tabory, Multilingualism, S. 26; Beispiele für derartige Urteilsdivergenzen bei Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 73 f.; Schilling, ZEuS 1999, S. 75 (90 Fn. 88). 148 Vgl. zur immensen praktischen Bedeutung dieses Problems Everling, A W D 1967, S. 182 (184): Die fehlerhafte deutsche Fassung eines EuGH-Urteils hatte zu rund 200 000 Rechtsmittelverfahren und über 10 000 Finanzgerichtsverfahren geführt; Sarcevic, Legal Translation, S. 126 f. 149 Dazu eingehend Ackermann, WRP2000, S. 807 (808 f.); Everling, A W D 1967, S. 182 ff. 150 Berteloot, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 105 (106). 151 Everling, AWD 1967, S. 182 (183). 146
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
schon häufig divergierende Urteilsfassungen aufgedeckt, wenn sie sich mit der Bedeutung eines früheren Urteils für die ihnen vorliegende Rechtssache befassen. Mitunter nahmen sie sogar Umformulierungen von Übersetzungen vor, die ihnen nicht treffend erschienen. 152 Zur Erhellung der Divergenzen griffen sie teilweise auf die verfahrenssprachliche Fassung,153 teilweise aber auch auf den französischen Wortlaut zurück. 154 Angesichts dessen ist zu empfehlen, in Zweifelsfällen die Urteilsfassung nicht nur in der Verfahrenssprache, sondern auch in der französischen Arbeitssprache zu konsultieren. 155 Darüber hinaus sollten die fehlerhaften Urteilsfassungen berichtigt werden, wobei streitig ist, ob Übersetzungsfehler im Wege einer Urteilsberichtigung gemäß Art. 66 VerfO EuGH korrigiert werden können. 156
d) Die Sprachenregelung des EuG Die Sprachenregelung des EuGH wurde eins zu eins auf das Gericht erster Instanz übertragen und ergibt sich im Einzelnen aus den Art. 35 bis 37 VerfO EuG. 1 5 7 Verfahrenssprachen sind die Amtssprachen der Gemeinschaft plus das Irische. Die Regeln zur Bestimmung der Verfahrenssprache stimmen in der Sache mit denen der Verfahrensordnung des EuGH überein und wurden nur entsprechend der vor dem EuG zugelassenen Klagearten modifiziert. 158 Auch im EuG dient das Französische als interne Arbeitssprache für die Beratungen der Richter untereinander, und ebenso wie beim EuGH entbehrt diese Festlegung auch hier einer positiv-rechtlichen Grundlage. 159 Obwohl der Parallelismus zwischen der Verkehrssprachenregelung am EuGH und am EuG auf den 152
So Generalanwalt Jacobs, SchlA zu EuGH, Rs. C-425/98, Marca Mode, Slg. 2000, 1-4861, 4872 (Rdn. 25). 153 So beispielsweise Generalanwalt Lenz, SchlA zu EuGH, Rs. C-324/93, Evans Medical and Macfarlan Smith, Slg. 1990,1-561, 579 (Rdn. 37); Generalanwalt van Gerven, SchlA zu EuGH, Rs. C-188/89, Foster u.a., Slg. 1990,1-3313, 3330 (Rdn. 6). 154 So z.B. Generalanwalt Elmer, SchlA zu EuGH, Rs. C-189/95, Franzén, Slg. 1997, 1-5909, 5932 (Rdn. 58 Fn. 41); Generalanwalt Jacobs, SchlA zu EuGH, Rs. C-173/98, Sebago und Maison Dubois, Slg. 1999,1-4103, 4111 (Rdn. 23). 155 Due, FS Schockweiler, S. 73 (77); Hartley , The Foundations of European Community Law, S. 73; so auch Generalanwalt Lenz, SchlA zu EuGH, Rs. C-30/89, Kommission/Frankreich, Slg. 1990,1-691, 703 f. (Rdn. 9). 156 Vgl. dazu Everlingy A WD 1967, S. 182 (183); zu den Möglichkeiten und Grenzen der Urteilsberichtigung näher Degenhardt, Die Auslegung und Berichtigung von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 91 ff. 157 VerfO des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 2.5.1991, ABl. 1991 Nr. L 136, S. 1, zuletzt geändert durch die Änderungen der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 6.12.2000, ABl. 2000 Nr. L 322, S. 4, die am 1.2.2001 in Kraft getreten sind. 158 Vgl. Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (496). 159 Vgl. zur internen Arbeitssprache am EuG Sandrock, FS Großfeld, S. 971 (984) mit Hinweis auf eine entsprechende Auskunft eines Mitglieds des Gerichts.
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
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ersten Blick naheliegend erscheint, muss die Konzentration auf das Französische dennoch bei näherer Betrachtung verwundern, weil das EuG für Rechtsmaterien zuständig ist, die - wie etwa das Wettbewerbsrecht - stark von der englischen Terminologie geprägt sind. Außerdem wurde die Festlegung auf die französische Sprache erst bei der Aufnahme der Arbeit des EuG getroffen, 160 also zu einer Zeit, als sich in anderen Organen längst weitere Sprachen neben dem Französischen als Verkehrssprachen etabliert hatten.
5. Die Sprachenregelung weiterer Organe und Einrichtungen a) Anwendung der Sprachenregelung der VO Nr. 1 Wie oben dargelegt, regeln Art. 290 EGV und die VO Nr. 1 nur das Sprachenregime der Organe der Gemeinschaft, wobei gemäß Art. 6 VO Nr. 1 die Einzelheiten der Sprachenregelung der Geschäftsautonomie der einzelnen Organe vorbehalten sind. Keine ausdrückliche Regelung der Amts- und Arbeitssprachen enthalten beispielsweise die Geschäftsordnungen des Rechnungshofs 161 und des Ausschusses der Regionen, 162 so dass hier die allgemeinen Regelungen der VO Nr. 1 gelten. 163 Demgegenüber hatte der Wirtschafts- und Sozialausschuss eine Regelung über die Verwendung der Arbeitssprachen bei der Durchführung der vorbereitenden Arbeiten getroffen, 164 die in der aktuellen Geschäftsordnung allerdings nicht übernommen wurde. 165 Außerhalb der Organe der Gemeinschaft hat der Rat in einzelnen Fällen die allgemeine Sprachenregelung für anwendbar erklärt, so etwa beim Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung, 166 bei der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen 167 sowie beim GemeinschaftsSortenamt. 168 Interessant ist noch die Bestimmung des Art. 84 Abs. 4 der VO
160
Sandrock, FS Großfeld, S. 971 (984). GeschO des Rechnungshofs vom 8.9.1986, ABl. 1986 Nr. L 354, S. 1. 162 GeschO des Ausschusses der Regionen vom 18.11.1999, ABl. 2000 Nr. L 18, S. 22. 163 Vgl. auch Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (91); Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 11. 164 Art. 36 Abs. 1 lit. J GeschO des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 6.7.1995, ABl. 1996 Nr. L 82, S. 1 (12); zur tatsächlichen Sprachpraxis im Wirtschafts- und Sozialausschuss s. Fosty, La langue française, S. 121 ff. sowie insbesondere die empirische Untersuchung von Born/Schütte, Eurotexte, passim; zusammenfassende Darstellung des Projekts bei Schütte, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 88 ff. 161
165
GeschO des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 17.7.2002, ABl. 2002 Nr. L 268, S. 1. Art. 15 VO 337/75, ABl. 1975 Nr. L 39, S. 1. 167 Art. 19 VO 1365/75, ABl. 1975 Nr. L 139, S. 1. 168 Art. 34 Abs. 1 VO 2100/94, ABl. 1994 Nr. L 227, S. 1; zu weiteren Sprachregelungen vgl. Gundel, EuR 2001, S. 776 (782 f.); Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 11. 166
78
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
1408/7l 1 6 9 , wonach Behörden, Träger und Gerichte eines Mitgliedstaats die bei ihnen eingereichten Anträge und sonstigen Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen dürfen, weil sie in der Amtssprache eines anderen Mitgliedstaates abgefasst sind.
b) Besondere Sprachenregelungen Zwar gibt es einerseits Bestrebungen, die Stellung kleiner Sprachen in der Europäischen Union aufzuwerten. 170 Andererseits ist jedoch in jüngerer Zeit verstärkt die entgegengesetzte Tendenz zu beobachten, für bestimmte Rechtsbereiche eine geringere Zahl an verbindlichen Sprachen festzulegen. Auch wenn diese besonderen Sprachregelungen auf den ersten Blick für das Problem der Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts nicht relevant zu sein scheinen, sollen sie im Folgenden behandelt werden. Es wird sich nämlich an späterer Stelle die Frage erheben, inwieweit angesichts der Interpretationsprobleme bei der gegenwärtigen Ausgestaltung des Gemeinschaftsrechts diese „reduzierten" Sprachregelungen Vorbild für eine Neuordnung des allgemeinen Sprachenregimes sein können. 171
aa) Die Sprachenregelung der Europäischen Zentralbank Zunächst stellt die Sprachenregelung der Europäischen Zentralbank eine Besonderheit dar. Da die EZB kein Gemeinschaftsorgan gemäß Art. 7 EGV, sondern eine selbständige Sonderorganisation des Gemeinschaftsrechts (vgl. Art. 8 EGV) ist, unterliegt sie weder den nur für die Organe geltenden Vorschriften der VO Nr. 1 noch den Anforderungen des Art. 21 Abs. 3 EGV. Vielmehr kann sie über ihr Sprachenregime grundsätzlich kraft ihrer Organisationsautonomie selbst entscheiden.172 In Art. 17.8 GeschO E Z B 1 7 3 hat die EZB ihr Sprachenregime dahingehend fixiert, dass für die in Art. 34 ESZB-Satzung vorgesehenen Rechtsakte174 mit Außenwirkung der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Amtssprachen gilt. Demgegenüber können die nur intern verwendeten EZB169 VO 1408/71 vom 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. 1971 Nr. L 149, S. 2. 170 Vgl. zur Aufwertung der gälischen Sprache oben 2. Kap. Β. I. 4.; zum Schutz von regionalen und Minderheitensprachen oben 2. Kap. Α. I. 1. 171 Vgl. dazu die Ausführungen im fünften Kapitel. 172 Selmayr, in: Simma/Schulte (Hrsg.), Völker- und Europarecht, S. 125 (141). 173 Geschäftsordnung der Europäischen Zentralbank in der geänderten Fassung vom 22.4.1999, ABl. 1999 Nr. L 125, S. 34 ff. 174 Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, ABl. 1992 Nr. C 191, S. 68 ff.
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
79
Leitlinien nach Art. 17.2 GeschO und EZB-Weisungen nach Art. 17.6 GeschO in einer einzigen Sprache verabschiedet und bekannt gegeben werden. Nur im Falle ihrer amtlichen Veröffentlichung müssen auch die EZB-Leitlinien und EZB-Weisungen in allen elf Amtssprachen vorliegen. 175 In der Sache erfolgen die interne Kommunikation und die Korrespondenz mit den nationalen Zentralbanken vorwiegend auf Englisch, was mit der unbestrittenen Vorherrschaft des Englischen in den Finanzmärkten gerechtfertigt wird. 1 7 6
bb) Die Sprachenregelung des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt Während die Sprachenregelung der EZB ein reduziertes Sprachenregime nur für die interne Kommunikation vorsieht, entfaltet die Sprachenregelung des Harmonisierungsamts für den Binnenmarkt für Marken, Muster und Modelle (HABM) auch im Außenverhältnis Wirkung. Art. 115 Abs. 2 der Verordnung zur Errichtung des H A B M 1 7 7 sieht als Sprachen des Markenamts nur Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch vor. Dabei handelt es sich nicht lediglich um eine eingeschränkte Arbeitssprachenregelung, 178 sondern auch um eine Reduzierung der Zahl der Amtssprachen, da die Begrenzung auf fünf Sprachen auch die Kommunikation des H A B M im Verkehr mit den Anmeldern betrifft. 179 Das Sprachenregime des H A B M stellt gegenwärtig das einzige Beispiel für eine Einschränkung der gleichberechtigten Verwendung aller Amtssprachen gegenüber den Unionsbürgern dar. Sie wird damit gerechtfertigt, dass das H A B M typischerweise nicht im Verkehr mit natürlichen Personen steht, sondern dass es sich bei den Anmeldern einer Gemeinschaftsmarke regelmäßig um größere, vielleicht auch multinationale Unternehmen handelt, die ohnehin in mehreren Sprachen arbeiten. 180 Hinzu kommt, dass die registrierbaren Marken, Muster und Modelle sich häufig auf hochtechnisierte Bereiche beziehen, in denen die Verwendung einiger oder gar nur einer einzigen Amtssprache branchentypisch ist. 181 Die Vereinbarkeit der Sprachregelung des H A B M mit höherrangigem Gemeinschaftsrecht ist Gegenstand eines noch andauernden Rechtsstreits. Zu175
Dazu im Einzelnen Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 290 Rdn. 14. Vgl. auch Selmayr, in: Simma/Schulte (Hrsg.), Völker- und Europarecht, S. 125 (141); kritisch zum Verzicht auf Mehrsprachigkeit als Benachteiligung der Nicht-Briten Voigt, T & T 1999/2, S. 186(194). 177 VO 40/94 vom 20.12.1993, ABl. 1994 Nr. L 11, S. 1; zur geschichtlichen Entwicklung des Sprachenregimes des HABM informativ Forrest, T & T 1998/3, S. 101 (107 ff.); von Mühlendahl, GRUR Int. 1989, S. 353 ff. 178 So aber Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 11. 179 Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (92); vgl. im Einzelnen von Mühlendahl, FS Piper, S. 575 (577 ff.). 180 Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (92). 181 Vgl. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 290 Rdn. 11 f. mit kritischen Anmerkungen. 176
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
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nächst war die Klage einer niederländischen Markenbevollmächtigten gegen das Sprachenregime des Markenamts sowohl vom EuG 1 8 2 als auch vom EuGH 1 8 3 aus prozessualen Gründen zurückgewiesen worden. Mangels eines entsprechenden Antrags auf Eintragung einer Marke in das Markenregister hatte es an der von Art. 230 Abs. 4 EGV vorgesehenen individuellen Betroffenheit der Klägerin gefehlt. 184 Daraufhin meldete die Klägerin ihren Namen als Marke beim H A B M an und wählte in bewusster Abweichung von den Formvorschriften der Verordnung das Niederländische als Sprache für das Verfahren vor dem HABM. Die auf den Formverstoß gestützte Ablehnung des Antrags griff sie vor dem Gericht erster Instanz an und führte dadurch eine inzidente Überprüfung des Sprachenregimes des Amtes herbei. Das EuG verneinte einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EGV mit der Begründung, dass die vom Rat geschaffene Regelung den legitimen Zweck verfolge, eine Lösung des Sprachenproblems für Verfahren vor dem H A B M zu finden. 185 Die Regelung in der Verordnung beruhe auf einer „sachgerechten und angemessenen Wahl" des Rates und sei verhältnismäßig. 186 Auch eine Berufung der Klägerin auf Art. 21 Abs. 3 EGV sei ausgeschlossen, da das Markenamt nicht zu den von Art. 21 EGV erfassten Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft gehöre. 187 Die endgültige Entscheidung des Rechtsstreits durch den Europäischen Gerichtshof steht noch aus. 188
cc) Vereinfachte Sprachenregelung beim geplanten Gemeinschaftspatent? Noch unklar ist gegenwärtig, in wieweit dem reduzierten Sprachenregime beim H A B M Vorbildfunktion im Zusammenhang mit dem geplanten Gemeinschaftspatent zukommen wird. Der derzeitige Patentschutz in der Europäischen Union erfolgt über die nationalen Patentschutzsysteme und ein europäisches Patentschutzsystem.189 Das europäische Patentschutzsystem beruht im wesentlichen auf dem Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) aus dem Jahre 1973, das nicht Bestandteil der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsordnung ist, 182
EuG, Rs. Τ-107/94, Kik/Rat und Kommission, Slg. 1995,11-1717, 1729 ff. (Rdn. 30 ff.). EuGH, Rs. C-270/95 P, Kik/Rat und Kommission, Slg. 1996,1-1987, 1994 f. (Rdn. 11 ff.). 184 Vgl. dazu Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 290 Rdn. 12. 185 EuG, Rs. Τ-120/99, Kik/HABM, Slg. 2001, 1-2235, 2261 (Rdn. 62); zu diesem Urteil näher Gundel, EuR 2001, S. 776 ff. 183
186
EuG, Rs. T-120/99, Kik/ HABM, Slg. 2001,1-2235, 2261 (Rdn. 63). EuG, Rs. T-120/99, Kik/ HABM, Slg. 2001,1-2235, 2261 f. (Rdn. 64). 188 Die Klägerin hat Rechtsmittel eingelegt; beim EuGH wird das Verfahren als Rs. C-361/01 Ρ geführt, vgl. ABl. 2001 Nr. C 331, S. 11. 189 Vgl. zum folgenden die zusammenfassende Darstellung im Rahmen der Begründung des Vorschlags der Kommission für eine Verordnung des Rates über das Gemeinschaftspatent, KOM (2000) 412 endg., ABl. 2000 Nr. C 337 E, S. 278 ff.; zur Reform des EPÜ vgl. die in GRUR Int. 2001, S. 309 ff. abgedruckte „Akte zur Revision des Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente". 187
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
81
sondern als internationales Abkommen ein einheitliches Verfahren für die Erteilung eines europäischen Patents durch das Europäische Patentamt (EPA) in München festlegt. Nach seiner Erteilung zerfällt das europäische Patent aber in nationale Patente und unterliegt dem innerstaatlichen Recht der in der Patentanmeldung benannten Vertragsstaaten. Der mit dem sogenannten „Luxemburger Übereinkommen" von 1975 unternommene Versuch zur Schaffung eines Gemeinschaftspatents, das für das gesamte Gemeinschaftsgebiet einheitlich erteilt werden sollte, scheiterte vornehmlich aufgrund der zu erwartenden Übersetzungskosten, da das Übereinkommen eine Übersetzung des Patents in alle Amtssprachen der Gemeinschaft vorsah. Diese Lücke im Patentschutz soll nach einem Verordnungsvorschlag der EUKommission vom August 2000 190 durch die Schaffung eines Gemeinschaftspatents geschlossen werden, das nach der Erteilung nicht länger dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich dem Gemeinschaftsrecht unterliegt. Es soll deutlich kostengünstiger und damit für die Unternehmen attraktiver als das europäische Patent werden. Dessen Übersetzungskosten schlagen nämlich mit ca. 40 % der Gesamtkosten für das europäische Patent zu Buche, da die Patentschrift in die drei Arbeitssprachen des Europäischen Patentamts (Deutsch, Englisch und Französisch) übersetzt werden muss und jeder Vertragsstaat des Weiteren eine Übersetzung der so erstellten Patentschriften in eine seiner Landessprachen verlangen kann. Für das geplante Gemeinschaftspatent, dessen Anmeldung ebenfalls über das EPA erfolgen soll, 1 9 1 wird eine erhebliche Kostensenkung angestrebt, indem das Patent schon dann gemeinschaftsweit gültig sein soll, wenn die Patentschrift in einer der Arbeitssprachen des Amtes vorliegt und lediglich die Patentansprüche in die beiden anderen Arbeitssprachen übersetzt worden sind. Eine Übersetzung in weitere Sprachen wäre nur in einem Verfahren wegen mutmaßlicher Patentverletzung notwendig, wobei hier bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgegangen würde, dass ein mutmaßlicher Verletzer eines Patents, dem keine Patentschrift in seiner Amtssprache zur Verfügung stand, das Patent nicht wissentlich verletzt hat. 192 Bis zur Zustellung einer Patentübersetzung an den Verletzer würde somit kein Schadensersatzanspruch des Patentinhabers bestehen, so dass im Ergebnis die auf wenige Sprachen beschränkte Übersetzung des Patents keine Rechtsnachteile für die potentiellen Patentverletzer mit sich brächte. 193 190 KOM (2000) 412 endg., ABl. 2000 Nr. C 337 E, S. 278 ff. = BR-Drucks. 527/00; Zusammenfassung in EuZW 2000, 739 f. 191 Das EPA soll zwar auch in Zukunft kein Gemeinschaftsorgan werden; es soll jedoch Gemeinschaftspatente auf der Grundlage eines Beitritts der Gemeinschaft zum EPÜ und einer Überarbeitung des Übereinkommens erteilen. Im Rahmen des EPÜ wurde eine Einigung auf Zentralsprachen mittels eines fakultativen Abkommens erreicht, das allerdings erst noch ratifiziert werden muss, vgl. Nack/Phélip , GRUR Int. 2001, S. 322 (322). 192 BR-Drucks. 527/00, S. 10 f. 193 Mögliche Rechtsnachteile für den Patentinhaber, die aus der Nichtgewährung von Schadensersatz resultieren könnten, wären demgegenüber als notwendige Folge der geänderten Sprachenregelung hinzunehmen.
6
Schübel-Pfister
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Sollte das Gemeinschaftspatent wie geplant verwirklicht werden, so würde dies zu einem reduzierten Sprachenregime führen, das ebenso wie die Sprachregelung des H A B M auch Außenwirkung für die anmeldenden Unternehmen hätte. Gegenwärtig ist die Regelung allerdings mangels Zustimmung des Europäischen Parlaments noch nicht verabschiedet; 194 entgegen anderslautender Zeitungsmitteilungen 195 liegt bislang lediglich ein gemeinsamer Standpunkt des Rates vom 3.3.2003 vor. Der herbeigeführte Kompromiss sieht für das Sprachenregime vor, dass die Patentansprüche innerhalb von zwei Jahren in alle Amtssprachen übersetzt werden müssen. Dagegen soll der überwiegende Teil der Patentanmeldung nur in deutscher, französischer oder englischer Sprache wiedergegeben werden. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob die angestrebte Kostenreduzierung tatsächlich realisiert werden kann. 196
I I I . Die Sprachenregelung zwischen Anspruch und Wirklichkeit Die gemeinschaftsrechtliche Sprachregelung gibt in der Literatur zu sehr konträren Bewertungen Anlass, wobei sich aus der Fülle von Detailaspekten zwei grobe Leitlinien entnehmen lassen. Einerseits wird darauf hingewiesen, dass die gegenwärtige Ausgestaltung des Sprachenregimes durch die spezifischen Grundsätze und Ziele der Gemeinschaft bestimmt ist, an denen sich auch zukünftige Änderungen der Sprachregelung messen lassen müssten. Andererseits wird erkannt, dass die praktischen Schwierigkeiten der Sprachenregelung so gravierend sind, dass eine Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Regelung in Zukunft - insbesondere im Hinblick auf die zukünftige EU-Osterweiterung nicht mehr möglich erscheint. Im Folgenden soll versucht werden, die einschlägigen Stellungnahmen in der Literatur auszuwerten und zu systematisieren. Auf die Konsequenzen für eine zukünftige Modifizierung des Sprachenregimes wird dann im Schlusskapitel der Arbeit eingegangen.
1. Anspruch: Das Sprachenregime im Lichte der Ziele und des Geistes der Gründungsverträge a) Sprachenvielfalt
als Identifikations-
und Integrationsfaktor
Zunächst wird vielfach darauf hingewiesen, dass die Sprachenvielfalt in der Europäischen Union einen Wert als solchen darstelle, den es zu bewahren und
194 195 196
Probst/Wurzel, BayVBl. 2003, S. 229 (233). Vgl. FAZ vom 4.3.2003, S. 13. Probst/Wurzel, BayVBl. 2003, S. 229 (233); vgl. auch FAZ vom 25.7.2003, S. 13.
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
83
zu schützen gelte. 197 Die Sprache sei nicht nur kulturelles Erbe der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger, sondern diene auch einem auf Transparenz, Bürgernähe, Demokratie und Subsidiarität gründenden Integrationsverständnis. 198 Gerade in einer Zeit, in der viele Bürger die Europäische Union als zu bürokratisch empfänden, sei die Anerkennung jeder einzelnen Sprache ein wesentlicher identitätsstiftender und vertrauensbildender Faktor. Das primär politische bzw. soziokulturelle Argument der Sprachenvielfalt als Identifikations- und Integrationsfaktor gewinnt rechtliche Relevanz, wenn man hieraus folgert, dass die Akzeptanz der europäischen Integration und der Politiken der Gemeinschaft von einer gleichberechtigten Verwendung der verschiedenen Sprachen auf europäischer Ebene abhängig ist. Allerdings ist die Reichweite einer daraus resultierenden Verpflichtung für eine bestimmte Ausgestaltung des gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregimes umstritten. Teilweise wird es für erforderlich, aber auch ausreichend gehalten, dass alle Unionsbürger in ihrer eigenen Sprache mit den Organen der Gemeinschaft verkehren können, mithin dass der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Amtssprachen aufrechterhalten wird. 1 9 9 Teilweise wird aus der Bedeutung der Sprachenvielfalt aber auch die grundsätzliche Notwendigkeit einer Anerkennung aller Sprachen als Arbeitssprachen geschlossen.200 Auch Mitglieder des Europäischen Parlaments, europäische Beamte sowie nationale Experten, die an Tagungen der Gemeinschaft teilnehmen, müssten frei sein, sich bei der internen Arbeit ihrer Muttersprache zu bedienen.
b) Das Gebot der Rechtsgleichheit von Mitgliedstaaten
und Unionsbürgern
Ein weiterer Gesichtspunkt, auf den bei der Frage der Ausgestaltung des Sprachenregimes hingewiesen wird und bei dem der Übergang zwischen rechtlichen und politischen Erwägungen fließend ist, betrifft die Rechtsgleichheit der Mitgliedstaaten und ihrer Bürger. 201 Zahlreiche Autoren weisen darauf hin, dass eine Verringerung der Sprachenzahl zu einer Diskriminierung derjenigen Mitgliedstaaten und Unionsbürger führen würde, deren Sprache nicht mehr auf 197 Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 27 (27); van Deik, Sociolinguistica 1991, S. 1 (6); Fenet, RTDE 2001, S. 235 (236 ff.); Roche, in: Coulmas (Hrsg.), Language Policy, S. 139 ff.; Sanmarti Rosei, Las politicas lingüisticas, S. 145; Weir, ZEuP 1995, S. 368 (370 f.). 198 Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 12; ähnlich Heusse, RMC 1999, S. 202 (205 f.); Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 290 Rdn. 11; anders Constantinesco, EG-Recht, S. 189: Sprachenvielfalt als Hemmschuh der Integration. 199 So offensichtlich Heusse, RMC 1999, S. 202 (206); Kusterer, EA 1980, S. 693 (695 f.); Rogtnann, in: Bongartz (Hrsg.), Europa im Wandel, S. 249 (255). 200 So wohl Barents, EC Tax Review 1997, S. 49 (50); Labrie, La construction linguistique, S. 322 f.; Randzio-Plath, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 66 (71). 201 Vgl. Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rdn. 2, 11.
84
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Gemeinschaftsebene vertreten wäre. Zum einen wird der Gleichbehandlungsgrundsatz im Sinne der Rechtsgleichheit der Bürger der Mitgliedstaaten verstanden, die alle in gleichem Maße die Möglichkeit haben müssten, sich auf Gemeinschaftsebene ihrer Muttersprache zu bedienen. 202 Es dürfe nicht nur „auf dem Papier" gewährleistet sein, dass die Bürger der EU mit den europäischen Institutionen in ihrer Heimatsprache verkehren könnten, sondern dies müsse auch ohne Furcht vor rechtlichen oder tatsächlichen Nachteilen möglich sein. 203 Zum anderen wird auf das Gebot der Rechtsgleichheit der Mitgliedstaaten hingewiesen, das eine gleichberechtigte Anerkennung ihrer Amtssprachen auf Gemeinschaftsebene erfordere. 204 Darüber hinaus wird das Gleichheitsargument bisweilen auf die Gemeinschaftssprachen als solche bezogen und deren egalitäre Verwendung in der Union angemahnt.205 Allerdings wird nicht immer präzisiert, ob nur die Anerkennung als gleichberechtigte Amtssprachen der Gemeinschaft oder auch als gleichrangige Arbeitssprachen geboten ist.
c) Das Gebot der Rechtssicherheit und die „Supranationalität" der Europäischen Union Das entscheidende Argument für eine gemeinschaftsrechtliche Sprachregelung, die der Vielsprachigkeit adäquat Rechnung trägt, bezieht sich auf die besondere Rechtsnatur der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union. Von vielen Autoren wird der grundlegende Unterschied zwischen den Sprachregelungen herkömmlicher internationaler Organisationen und dem gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregime hervorgehoben, 206 das dem Charakter der Gemeinschaften als qualitativ neue Entwicklungsstufe des Rechts der internationalen Organisationen Rechnung trägt. 207 Herkömmliche internationale Organisationen kommen regelmäßig mit einer reduzierten Zahl an Amts- und Arbeitssprachen aus. 208 So arbeiten beispielsweise der Internationale Gerichtshof, 2 0 9 der Nordatlantikpakt 210 und die Westeuropäische Union 2 1 1 nur in engli202
Oppermann, NJW 2001, S. 2663 (2664); Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 290 Rdn. 11; Siguan, La Europa de las lenguas, S. 145 f.; vgl. auch Heusse, RMC 1999, S. 202 (206). 203 Huber, Recht der Europäischen Integration, § 1 Rdn. 18; Randzio-Plath, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 66 (69); Rogmann, in: Bongartz (Hrsg.), Europa im Wandel, S. 249 (257). 204 Andràssy , FS Benedek, S. 11 (19); Menke, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 29 (31 f.). 205 Kusterer, EA 1980, S. 693 (695); Priebe, in: Schwarze (Hrsg.), Art. 290 Rdn. 2. 206 Vgl. z.B. Berteloot, in: Jayme (Hrsg.), Langue et Droit, S. 345 (345 f.); Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (83); Heusse, RMC 1999, S. 202 (202 f.); Lab rie, La construction linguistique, S. 141. 207 Vgl. zu dieser besonderen Rechtsnatur Streinz, Europarecht, Rdn. 113. 208 Dazu im Einzelnen Tabory, Multilingualism, S. 27 ff.; s.a. Blanc , in: van Deth/Puyo (Hrsg.), Langues et coopération européenne, S. 191 ff.; Siguan, La Europa de las lenguas, S. 153. 209 Vgl. zur Gerichtssprache Art. 39 IGH-Statut, BGBl. 1973 II, S. 505.
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
85
scher und französischer Sprache. Art. 111 S. 1 der Charta der Vereinten Nationen erkennt das Chinesische, Französische, Russische, Englische und Spanische als gleichermaßen verbindliche Vertragssprachen an. 1 2 Vom Europarat verabschiedete Rechtsakte sind nur in englischer und französischer Sprache verbindlich 213 ; als Arbeitssprache werden neben dem Englischen und Französischen allerdings auch die deutsche und italienische Sprache verwendet. 214 Zur Rechtfertigung eines Sprachenregimes der Europäischen Union, das sich grundlegend von den Regelungen der beschriebenen internationalen Organisationen unterscheidet, wird auf die sogenannte „Supranationalität" der Europäischen Union Bezug genommen. Mit diesem Schlagwort fasst man grundlegende Charakteristiken der Gemeinschaften wie die Ausstattung mit eigener Rechtssetzungsbefugnis, die Durchgriffswirkung des Gemeinschaftsrechts, die Einsetzung unabhängiger Organe und die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen zusammen, Merkmale, die in ihrer Kumulation und Intensität gegenwärtig einzigartig sind. 215 Insbesondere die unmittelbare Wirksamkeit des autonom gesetzten Gemeinschaftsrechts, das nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch unmittelbar deren Bürger verpflichten kann, wird für eine besondere Ausgestaltung des Sprachenregimes der Gemeinschaft ins Feld geführt. Im Lichte der rechtsstaatlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sei der Erlass und die Veröffentlichung der Rechtsakte in allen Amtssprachen der Gemeinschaft erforderlich. 216 Dem Unionsbürger dürften die Rechtsakte nur dann entgegengehalten werden, wenn er davon in seiner Sprache Kenntnis nehmen konnte und damit in der Lage war, sein Verhalten an den Normen auszurichten. 217
210
Vgl. zur Vertragssprache Art. 14 des NATO-Vertrags, BGBl. 1955 II, S. 289. Rudolf" Die Sprache in der Diplomatie, S. 39; zur Vertragssprache s. Art. X I I des WEUVertrags, BGBl. 1955 II, S. 283. 212 Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945, BGBl. 1973 II, S. 431, in der Fassung vom 28.8.1980, BGBl. 1980 II, S. 1252; zu sprachlichen Problemen bei der Übersetzung der amtlichen UN-Dokumente ins Deutsche s. Paqué, Multilingua 1983/2-4, S. 203 ff. 2,3 Art. 12 der Satzung des Europarats vom 5.5.1949, BGBl. 1954 II, S. 1126, in der Fassung vom 9.12.1996, BGBl. 1997 II, S. 159; es hat sich allerdings als durchaus problematisch erwiesen, dass die EMRK als in der Praxis sehr bedeutsames Dokument nur in englischer und französischer Sprache verbindlich ist, vgl. dazu unten 2. Kap. D. III. 3. b). Gleiches gilt für die Urteile des EGMR, von denen nicht durchgehend eine deutsche Übersetzung vorliegt. 214 Vgl. Art. 17 Nr. 3 der Geschäftsordnung der Parlamentarischen Versammlung vom 8.12.1951, abgedruckt bei Hummer/Wagner (Hrsg.), Dokumente und Materialien zum Europarat, S. 60; dazu Ammon, Sociolinguistica 1991, S. 70 (80); Blanc , in: van Deth/Puyo (Hrsg.), Langues et coopération européenne, S. 191 (194 f.); zum Sprachenregime des Europarats eingehend During , T & T 1995/3, S. 39 ff. 215 Vgl. dazu Streinz, Europarecht, Rdn. 113 ff. 216 Bruha, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (97); Pescatore, in: Après l'an 2000, S. 137 (142); vgl. auch Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (498); Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rdn. 2. 217 Vgl. nur Ciancio, in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 113 (114); Lopes Sabino, RTDE 1999, S. 159 (166 f.); Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 5. 2,1
86
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
2. Wirklichkeit: Die praktischen Implikationen des gemeinschaftsrechtlichen Sprachenregimes Der Bedeutung der Sprachenvielfalt stehen die praktischen Implikationen des Sprachenregimes gegenüber, die sich insbesondere in den Kosten- und Funktionsproblemen der Verwaltung auf Gemeinschaftsebene niederschlagen.
a) Die Übersetzer- und Dolmetscherdienste in der Gemeinschaft Theoretisch muss die Gesamtheit aller offiziellen Dokumente in allen elf Amtssprachen vorhanden sein und bei Sitzungen die Kommunikation zwischen Sprechern aller Amtssprachen sichergestellt werden. Für den schriftlichen Verkehr sind die Übersetzerdienste zuständig, während für die gesamte mündliche Kommunikation bei den Sitzungen in den verschiedenen Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft die Dolmetscherdienste verantwortlich zeichnen. Übersetzer- und Dolmetscherdienste sind im „Sprachendienst der Europäischen Union" zusammengefasst.
aa) Die Übersetzerdienste Allen Gemeinschaftsorganen sind eigene Übersetzerdienste zugeordnet. 218 In ihrer Gesamtheit verfügen sie gegenwärtig über etwa 3000 Übersetzer und damit über mehr Mitarbeiter als vergleichbare Dienste jeder herkömmlichen internationalen Organisation. 219 Allein der Übersetzerdienst der Kommission beschäftigt etwa 1200 Übersetzer und Terminologen sowie fast fünfhundert weitere Angestellte und ist damit der größte auf der Welt. Im Europäischen Parlament waren im Jahre 1991 etwa 800 Beamte direkt mit Übersetzungsaufgaben befasst; für den Ministerrat wurde eine Zahl von 450 Übersetzern genannt. 220 Im Europäischen Gerichtshof betrug die Zahl im Jahre 1991 230 Mitarbeiter; inzwischen ist sie auf rund 400 Mitarbeiter angestiegen.221 Insgesamt werden mehr als 1,5 Millionen Seiten pro Jahr von den Übersetzerdiensten übersetzt, wobei die Übersetzung aus den und in die zwei Hauptverkehrsspra-
2,8
Daneben gibt es das für die Einrichtungen der Europäischen Union zuständige Übersetzungszentrum, vgl. VO 2965/94 zur Errichtung eines Übersetzungszentrums für die Einrichtungen der Europäischen Union, ABl. 1994 Nr. L 314, S. 1 ff. 219 Vgl. dazu und zum folgenden die Zahlen bei Brackeniers, T & T 1995/2, S. 13 (14 f.); Cole/Haus, JuS 2001, S. 435 (437); Hemblenne, in: Heyen (Hrsg.), Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, S. 107 (109 f.); Oppermann, NJW 2001, S. 2663 (2665 f.). 220 Labrie, La construction linguistique, S. 91 f. 221 Abschlussbericht der Reflexionsgruppe zur Zukunft des Gerichtssystems der EG, Sonderbeilage zu NJW und EuZW, Mai 2000, S. 5 (6).
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
87
chen Englisch und Französisch die größte Rolle spielt. 222 Allein für den Europäischen Gerichtshof müssen jährlich ungefähr 300 000 Seiten juristischer Dokumente übersetzt werden, deren größter Anteil wegen der internen Arbeitssprache des Gerichtshofs die Übersetzungen aus der und in die französische Sprache darstellen. 223 Angesichts der Masse der zu übersetzenden Dokumente verwundert es nicht, dass in der Literatur vielfach die Schwerfälligkeit der internen Verfahrensabläufe in den einzelnen Organen beklagt wird. 2 2 4 Im Hinblick auf die besondere Notwendigkeit juristischer und sprachlicher Präzision sind die Übersetzungen am Europäischen Gerichtshof ausgesprochen arbeitsund zeitintensiv, was auch im Hinblick auf die Verfahrensdauer kritisiert wird. 2 2 5 Sowohl aus Rationalisierungsgründen als auch mit dem Ziel einer Verbesserung der Qualität der Übersetzungen wurden verschiedene Hilfsmittel für die Übersetzer entwickelt. Beispielsweise richtete man ein Terminologiebüro ein, in dem Terminologen aller Gemeinschaftssprachen zusammenarbeiten, um multilinguale Glossare und Thesauri mit der gemeinschaftsrechtlichen Terminologie verschiedener Rechtsbereiche zu erstellen. 226 Im Zuge dessen wurden diverse Terminologie-Datenbanken geschaffen, die den Übersetzern - allerdings meist nur in den großen Amtssprachen - den schnellen Zugriff auf die Terminologie bestimmter Politikfelder wie etwa des Agrar- und Steuerrechts ermöglichen. 227 Daneben setzt die Europäische Gemeinschaft heute in zunehmendem Maße auf den Einsatz automatischer Übersetzungshilfen, wie z.B. EUROTRA und SYSTRAN, deren Erfolgsquote allerdings im Einzelnen sehr unterschiedlich beurteilt wird. 2 2 8 Abgesehen davon, dass derartige Übersetzungshilfen bislang nur für einzelne Politikfelder und Sprachpaare (meist Englisch-Französisch) existieren, können sie eine gründliche Überarbeitung der automatisch erstellten Texte nicht entbehrlich machen bzw. in weiten Bereichen überhaupt nicht die „menschliche" Übersetzung ersetzen. 229 Als Bilanz der bisherigen Rationalisierungsmaßnahmen kann festgehalten werden, dass das Ziel einer Beschleunigung und Effektivierung der Übersetzertätigkeit nur bedingt erreicht wurde. Noch weniger konnte der weiteren Zielsetzung des 222
Vgl. dazu im Einzelnen die Zahlen bei Labrie, La construction linguistique, S. 114 f. Zahlen bei Hakenberg, ZEuP 2000, S. 860 (868 f.); Sevón , RivDirEur 1997, S. 533 (544). 224 Vgl. z.B. Barents , EC Tax Review 1997, S. 49 (50 f.); Fosty, La langue française, S. 32; Labrie, La construction linguistique, S. 121. 225 Vgl. Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (541 ff.). 226 Ciancio, in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 113 (120); Voigt, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 50 (50). 227 Vgl. Röttinger, in: Röttinge r/Wey ringer, Handbuch der europäischen Integration, S. 122; zu der wichtigsten dieser Datenbanken, EURODICAUTOM genannt, s. näher Labrie, La construction linguistique, S. 100 f. 228 Positive Beurteilung z.B. bei Bachrach, in: van Deth/Puyo (Hrsg.), Langues et coopération européenne, S. 181 (186 ff.); Labrie, La construction linguistique, S. 106 ff.; Patterson, Multilingua 1982/1, S. 9 (14 f.); kritische Bemerkungen demgegenüber beispielsweise bei Ciancio, in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 113 (121 f.); Siguan, La Europa de las lenguas, S. 151 f. 229 Vgl. auch Ciancio, in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 113 (122). 223
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
88
Hilfsmitteleinsatzes Rechnung getragen werden, für eine konstantere Verwendung der jeweiligen Terminologie zu sorgen. Dies wird eine nähere Analyse der Gründe für die Entstehung der Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht 230
zeigen.
bb) Die Dolmetscherdienste Für die mündliche Kommunikation stehen in der Europäischen Union drei Dolmetscherdienste zur Verfügung. Je ein Dolmetscherdienst ist dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Gerichtshof zugeordnet; für das Dolmetschen in den übrigen Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft trägt der sogenannte Gemeinsame Dolmetscher-Konferenzdienst Sorge. 231 Dem Gemeinsamen Dolmetscher-Konferenzdienst als größtem Dienst gehören derzeit 460 festangestellte Dolmetscher an, 2 3 2 die etwa 1000 Sitzungen in einem Jahr abdecken. Die Zahl der in allen drei Diensten festangestellten Dolmetscher beläuft sich gegenwärtig auf ca. 900. Hinzu kommen ca. 150 sogenannte „Free lance"-Dolmetscher, die nicht dem Sprachendienst angehören und je nach Bedarf zusätzlich eingesetzt werden. 233 Bei den Sitzungen der Organe wird regelmäßig das Prinzip des Simultandolmetschens und nicht des Konsekutivdolmetschens angewandt. 234 Dabei muss beim Dolmetscherdienst im Unterschied zum Übersetzungsdienst, der in der Regel aus einigen wenigen Ausgangssprachen in die verschiedenen Zielsprachen übersetzt, an sich das Dolmetschen zwischen allen denkbaren Sprachkombinationen gewährleistet sein. 235 Die Zahl der dementsprechend möglichen Sprachkombinationen erhöht sich mit dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten überproportional zu der Anzahl neuer Sprachen. Bei vier Amtssprachen sind zwölf Sprachrichtungen, bei sechs Amtssprachen 30 und bei neun Amtssprachen 72 Sprachrichtungen erforderlich. Bei der gegenwärtigen Zahl von elf Sprachen gibt es bereits 110 Sprachrichtungen und damit 55 Sprachkombinationen, was dazu führt, dass man in der Praxis oft auf das Dolmetschen zwischen bestimmten seltenen Sprachkombinationen verzichtet. Man behilft sich stattdessen mit sogenannten „Relais-Übersetzungen", die über den Zwischenschritt bestimmter - bisweilen sogar mehrerer - Vehikelsprachen
230
Dazu unten 2. Kap. C. II. Dazu näher van Hoof-Haferkamp, Sociolinguistica 1991, S. 64 ff.; Labrie, La construction linguistique, S. 102 ff. 232 Vgl. FAZ vom 9.1.2002, S. 7. 233 Vgl. Cole/Haus, JuS 2001, S. 435 (437). 234 Vgl. dazu van Hoof in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 126 (126 f.); van Hoof-Haferkamp, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 59 (62). 235 van Hoof in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 126 (127). 231
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
89
vorgenommen werden. 236 Allerdings wird kritisiert, dass die Qualität und Verlässlichkeit bei derartigen Relais-Übersetzungen leidet und dass sich Übersetzungsfehler und sonstige Irrtümer unter Umständen multiplizieren können. 237
b) Die Kosten der Vielsprachigkeit
in der Europäischen Union
Angesichts der soeben zusammengestellten Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass die Aufrechterhaltung der Vielsprachigkeit in der Europäischen Union zu erheblichen Ausgaben führt. Zu diesen Kosten gibt es verschiedene Zahlenbeispiele, welche die gewaltige finanzielle Belastung durch das gegenwärtige Sprachenregime veranschaulichen. Bereits im Jahre 1982 wies der NyborgBericht darauf hin, dass 60 % der Verwaltungsausgaben des Europäischen Parlaments und des Rats auf die Vielsprachigkeit zurückzuführen seien; für den Gerichtshof wurden immerhin noch 50 % und für die Kommission 33 % der administrativen Kosten veranschlagt. 238 Diese Zahlen entsprachen damals insgesamt 2 % des Gesamtbudgets der Gemeinschaft, wobei jeweils die Hälfte auf die Übersetzerdienste und die Dolmetscherdienste entfielen. Man kann davon ausgehen, dass diese Kosten zwischenzeitlich mit dem Beitritt weiterer Staaten zur Union und der Erweiterung ihrer Politikfelder noch erheblich zugenommen haben, 239 da man als Faustregel für jede neu hinzukommende Sprache einen zusätzlichen Bedarf von 200 Mitarbeitern rechnet. 240 Es kann daher auch nicht überraschen, dass im Haushaltsplan für das Jahr 1999 Übersetzungskosten in der EU von rund 686 Millionen Euro ausgewiesen sind. 241 Angesichts dieser Bilanz gibt es verschiedene Ansätze, um die Kosten der Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union zu reduzieren, zu deren Praktikabilität und rechtlicher Zulässigkeit im Schlusskapitel der Arbeit Stellung genommen werden soll.
236 Dazu van Hoofi in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 126 (128); Labrie, La construction linguistique, S. 105. 237 van Hoof in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 126 (128); van HoofHaferkamp, in: Bruha/Seeler (Hrsg.), Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 59 (62). 238 Bericht über die Mehrsprachigkeit der Europäischen Gemeinschaft, PE 73 706/endg., S. 6; vgl. dazu bereits oben 2. Kap. Β. II. 1. a). 239 Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (500 Fn. 41). 240 Ciancio , in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 113(117). 241 Vgl. die Anfrage McNally an die Kommission, ABl. 1999 Nr. C 297, S. 134.
90
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU 3. Stellungnahme a) Die Schwächen in den Darstellungen der Literatur
Die Auswertung der Literatur hat ergeben, dass uneinheitliche Auffassungen über die gegenwärtige Ausgestaltung der Sprachregelung sowie ihre Tragfähigkeit und Praktikabilität für die Zukunft bestehen. Allerdings weisen viele der Stellungnahmen, so unterschiedlich sie in der Sache auch sein mögen, die gleichen methodischen Schwächen auf. Die Problematik der Darstellungen liegt zunächst darin begründet, dass sie ihre Konzeption des gemeinschaftlichen Sprachenregimes oft mit einer bedenklichen Vermischung rechtlicher und politischer Argumente rechtfertigen. 242 Des Weiteren beschränkt sich eine Diskussion der praktischen Auswirkungen des Sprachenregimes meist einseitig auf die administrativen, personellen und finanziellen Schwierigkeiten. Das zentrale Problem der Vielsprachigkeit in der Europäischen Union, die Auslegung der mehrsprachigen Rechtstexte bei Divergenzen zwischen den einzelnen sprachlichen Fassungen, wird demgegenüber in der Betrachtung oft vernachlässigt. 243 Darüber hinaus bleiben die Schlussfolgerungen der Literaten aus den von ihnen postulierten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Sprachenregimes oft unklar. Wenn für bestimmte Modifizierungen des Sprachenregimes plädiert wird, bleibt dabei bisweilen offen, ob die Amtssprachenregelung, die Arbeitssprachenregelung oder Amts- und Arbeitssprachenregime gleichermaßen geändert werden sollen.
b) Die unbeachtete Verknüpfung
zwischen Amts- und Arbeitssprachenregime
Wenn somit oft nicht hinreichend zwischen der Frage des Amts- und des Arbeitssprachenregimes unterschieden wird, bleibt umgekehrt aber auch die Verzahnung zwischen der Amts- und der Arbeitssprachenregelung weitestgehend unbeachtet. Die meisten Autoren gehen teils explizit, teils unausgesprochen davon aus, dass eine gesonderte Betrachtung von Amts- und Arbeitssprachenregime möglich ist und dass das Arbeitssprachenregime ohne Auswirkungen auf den Status der Amtssprachen und die Rechtsstellung des Bürgers geändert werden könnte. 244 Eine nähere Betrachtung enthüllt jedoch, dass sich die Aus242 Vgl. z.B. die Darstellungen bei Labrie, La construction linguistique, S. 135 ff.; Roche, in: Coulmas (Hrsg.), Language Policy, S. 139 ff. 243 Vgl. z.B. die Ausführungen von Berteloot, in: Jayme (Hrsg.), Langue et Droit, S. 345 ff., die nur im Schlussabschnitt auf das Sprachdivergenzproblem hinweist; selbst Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (501), der die Auslegungsschwierigkeiten als Hauptproblem der Mehrsprachigkeit erkennt, erspart sich eine vertiefte Behandlung dieses Problemkreises. 244 Vgl. nur Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 12: Dies hindert freilich nicht, über Reformansätze nachzudenken, die von einer klaren Abgrenzung zwischen Amts- und Arbeitssprachen ausgehen"; des Weiteren z.B. Quell, Multilingua 1997/1, S. 57 (73); Siguan, La Europa de las lenguas, S. 183.
Β. Die gemeinschaftsrechtliche Sprachenregelung
91
gestaltung des Amts- und des Arbeitssprachenregimes in gewisser Weise wechselseitig bedingen und dass Modifizierungen der Arbeitssprachenregelung auch Auswirkungen auf den Status der Amtssprachen haben können. Wie oben dargelegt, bestimmt das Arbeitssprachenregime diejenigen Sprachen, in denen sich das Rechtssetzungsverfahren vollzieht. Würde nunmehr in den Geschäftsordnungen der Organe eine Reduzierung der Arbeitssprachenzahl vorgesehen, dann würde damit offiziell die bereits bestehende Praxis anerkannt, die Entwürfe in den verschiedenen Stadien des Rechtssetzungsverfahrens nur in einigen wenigen Sprachen abzufassen. Konsequenterweise müssten dann die verbindlich erlassenen Rechtstexte in den arbeitssprachlichen Fassungen bei der Auslegung für verlässlicher als die übrigen nachträglich erstellten Sprachfassungen erachtet werden. Dies würde wiederum zu einer Ungleichgewichtung auch der Amtssprachen führen, so dass eine Modifizierung des Arbeitssprachenregimes durchaus Auswirkungen auf den Status der Amtssprachen hätte.
c) Konsequenzen fiir den weiteren Gang der Untersuchung Im Hinblick auf die vorangegangenen Ausführungen und angesichts der Schwierigkeiten einer abstrakten Bestimmung des „richtigen" Sprachenregimes soll im Folgenden zur Lösung des Sprachproblems in der Europäischen Union ein anderer Weg beschritten werden. Um die konzeptionellen Schwächen mancher der in der Literatur erörterten Entwürfe zu vermeiden, wird nicht von rechtspolitischen Prämissen ausgegangen, um eine bestimmte Ausgestaltung des Sprachenregimes zu rechtfertigen. Vielmehr soll losgelöst von politischen Erwägungen eine induktive Problemlösung erfolgen, die bei dem Hauptproblem der Sprachenregelung, der Auslegung des mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts, ansetzt. Ausgegangen wird dabei von dem gegenwärtigen Sprachenregime mit seiner grundsätzlichen Anerkennung der Amtssprachen der Mitgliedstaaten als Amts- und Arbeitssprachen der Gemeinschaft. Anhand der EuGHRechtsprechung zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Falle von Divergenzen zwischen den einzelnen sprachlichen Fassungen wird untersucht, inwieweit die gegenwärtige Praxis überhaupt (noch) der formellen Ausgestaltung des Sprachenregimes sowie den Vorgaben des übrigen Gemeinschaftsrechts Rechnung trägt. Daran anknüpfend und darauf aufbauend kann dann eine Bewertung der rechtlichen Möglichkeiten und Grenzen einer Modifizierung des Sprachenregimes erfolgen. Dabei wird auch dem bislang vernachlässigten Zusammenhang zwischen Amts- und Arbeitssprachenregime Rechnung zu tragen sein.
92
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
C. M e h r s p r a c h i g k e i t u n d die Erstellung von Rechtstexten Unter den verschiedenen Aspekten des Sprachenregimes in der EU nimmt das legislatorische oder legislative Sprachenrecht 245 einen besonderen Platz ein. Nicht nur die Gründungs Verträge (mit Ausnahme des EGKS-Vertrags), sondern auch das gesamte Sekundärrecht in der EU sind mehrsprachig. Die Mehrsprachigkeit stellt nicht nur eine besondere Herausforderung bei der Auslegung der Rechtstexte, sondern bereits bei der Vertrags- und Normgenese dar.
I. Mehrsprachigkeit als Herausforderung bei der Vertrags- und Normgenese 1. Mehrsprachige Rechtssetzung: Vor- oder Nachteil? a) Mehrsprachigkeit
als Potential für die Rechtsprechung
Angesichts der vorangegangenen Ausführungen ist man geneigt zu glauben, dass die mehrsprachige Normgenese in erster Linie eine Belastung bedeutet, die sowohl den Rechtssetzungs- als auch den Rechtsanwendungsprozess erschwert. Demgegenüber wird in der Literatur verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die mehrsprachige Rechtssetzung auch oder sogar primär ihre guten Seiten habe. Die Vielsprachigkeit einer Norm sei für den Richter ein äußerst wertvolles Hilfsmittel, um die in einer Sprachfassung bestehenden Unklarheiten anhand des Wortlauts der übrigen Versionen aufzuhellen. 246 Noch weitergehend wird von manchen Autoren positiv hervorgehoben, dass die Existenz mehrerer authentischer Texte - selbst wenn die einzelnen Sprachfassungen nicht mehrdeutig sein sollten - den Spielraum der Gerichte bei der Suche nach der vernünftigsten Auslegung erweitert. 247 Den soeben genannten Ansichten ist insoweit zuzustimmen, als die Mehrsprachigkeit dann ein Potential für die Rechtsprechung darstellt, wenn sie es ermöglicht, den Sinn einzelner mehrdeutiger Sprachfassungen anhand des klaren Wortlauts in den übrigen Versionen zu ermitteln. Hier ist vor allem an diejenigen Fälle zu denken, in denen einzelne Sprachfassungen aufgrund syntaktischer und/oder grammatikalischer Spezifika nie so präzise sein können wie der
245
Vgl. zur Begrifflichkeit oben 2. Kap. Α. I. 1. Breditnas, Methods of Interpretation, S. 37 f.; Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (502); Scherme rs/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Communities, § 20; vgl. auch Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 204. 247 Bonn, RGDIP 1964, S. 708 (716); Daig, AöR 1958, S. 132 (157); Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung, S. 143 (156 f.). 246
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
93
Wortlaut in den anderen Sprachen, die diese Eigenart nicht aufweisen. 248 Beispielsweise kann der besondere Charakter einzelner Sprachen eine ausführlichere Umschreibung von Begriffen notwendig machen, die in anderen Sprachfassungen im Nominalstil wiedergegeben werden. 249 Abgesehen von diesen Spezialfällen, in denen einzelne Sprachfassungen aus sich heraus unklar sind, erscheint es allerdings fraglich, ob die Tatsache, dass dem Richter bei der Rechtsanwendung verschiedene Sprachfassungen zur Verfügung stehen, generell als Vorteil angesehen werden kann. Die Existenz sehr vieler authentischer Sprachen birgt vielmehr die Gefahr, den Richtern einen übergroßen Entscheidungsspielraum einzuräumen. 250 Dies kann nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung, sondern auch angesichts des Gebots der Rechtssicherheit für den Bürger problematisch sein. 251
b) Mehrsprachigkeit
als kreatives Element der Gesetzgebung
Nach der hier vertretenen Ansicht muss der entscheidende Vorteil mehrsprachiger Gesetzgebung nicht erst auf der Ebene der Rechtsanwendung seitens der Richter, sondern vielmehr im Vorfeld, im Rahmen der Rechtsetzung, gesucht werden. 252 Wenn man Gesetzesentwürfe in mehreren Sprachen erstellt und dann vergleicht, so lassen sich aufgrund des gerade beschriebenen besonderen Charakters einzelner Sprachen möglicherweise Schwächen des Gesetzesentwurfs erkennen, die man anhand der anderen Sprachfassungen nicht sehen konnte. Beispielsweise kann der Text in einer einzelnen Sprachfassung zunächst klar und eindeutig sein, so dass man ohne Schwierigkeiten zu erkennen glaubt, auf welche Fälle der Rechtstext anwendbar ist. Wenn man aber den in ein anderes Idiom übertragenen Entwurf heranzieht, entdeckt man unter Umständen, dass die Anwendbarkeit des abstrakten Textes auf bestimmte Konstellationen problematisch ist, 253 was man zunächst nicht vorausgesehen hatte. Versucht man nunmehr, die Vorentwürfe in den verschiedenen Sprachfassun248 So ist etwa die französische Sprache durch eine strengere Logik, präzisere Syntax und damit insgesamt größere Klarheit gekennzeichnet, während sich das Deutsche durch seinen reicheren und flexiblen Wortschatz mit der größeren Möglichkeit neuer Wortbildungen auszeichnet; vgl. zu dieser Eigengesetzlichkeit der Sprachen Brühlmeier, ZG 1989, S. 116 (130 ff.); Fattal, Multilinguisme et traités internationaux, S. 86 ff.; Mezger, JZ 1963, S. 520 (520); vgl. auch die anschauliche Übersicht bei Zweigert, FS Reimer Schmidt, S. 55 (59 ff.) zur französischen, deutschen, österreichischen und englischen Gesetzessprache sowie unten 2. Kap. C. I. 2. b) bb) zu Unterschieden zwischen der deutschen und österreichischen Gesetzessprache. 249 250
Dazu Pescatore , in: de Groot/Schulze
(Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 91 (96 f.).
Vgl. dazu Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (145). 251 Vgl. dazu im Einzelnen unten 4. Kap. Α. IV. 5. 252 Diesem Aspekt wurde allerdings im Gemeinschaftsrecht bislang zu wenig Beachtung geschenkt. Vgl. demgegenüber zur mehrsprachigen Gesetzgebung in der Schweiz die Ausführungen von Brühlmeier, ZG 1989, S. 116 ff. und von Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 86. 253 Vgl. dazu treffend Mincke, ARSP 1991, S. 446 (457).
94
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
gen auf einen gemeinsamen Nenner zusammenzuführen, entdeckt man vielleicht neuartige Lösungen, die ansonsten nicht ins Auge gefallen wären. Erst recht können Unklarheiten in einzelnen Entwurfsfassungen durch die Koredaktion in einer anderen Sprache von vornherein eliminiert werden: Da es geradezu unmöglich ist, unklare Gesetzestexte in eine andere Sprache zu übertragen, fördert der „Übersetzungstest" die Genauigkeit der Ausdrucksweise und wirkt damit „erzieherisch". 254 Generell gibt die parallele Redaktion von Gesetzesentwürfen in mehreren Sprachen oft Hinweise auf Verständnisschwierigkeiten, falsche Begriffsbildungen und andere redaktionelle Mängel. 255 Somit kann ein mehrsprachiges Gesetzgebungsverfahren zu einer größeren Präzision und Klarheit des zu erstellenden Rechtstextes führen und damit die Gesetzesqualität insgesamt verbessern. Die Arbeit mit mehrsprachigen Gesetzesentwürfen hat schließlich auch den positiven Effekt, dass Divergenzen zwischen den einzelnen Sprachfassungen gleichsam im Vorfeld eliminiert werden können und dass ihre Ausmerzung nicht mehr dem Richter vorbehalten bleibt. Der Regelfall sollte nämlich die Erzielung inhaltlicher Übereinstimmung zwischen den Sprachfassungen schon bei der Erstellung der Rechtstexte und nicht erst bei deren Anwendung sein. Insoweit sollte die Auflösung von Sprachdivergenzen durch den Richter nur einen „Notbehelf 4 darstellen. Stellt man beispielsweise fest, dass es unmöglich ist, für einzelne Begriffe in der französischen Fassung ein Synonym in der englischen Sprache zu finden, so kann man entweder den Sinn des französischen Textes im Englischen mit einer längeren Wendung umschreiben oder aber schon den französischen Originaltext ändern, um von vornherein einen Ausdruck zu finden, den man adäquat ins Englische übertragen kann. Somit kann es durchaus sein, dass im Stadium des Gesetzgebungsverfahrens „Übersetzungen" von Entwürfen ihrerseits auf die Urfassungen zurückwirken und damit die Gesetzgebungstechnik insgesamt positiv beeinflussen. Im Folgenden ist zu untersuchen, inwieweit bei der Vertrags- und Normgenese im Gemeinschaftsrecht eine echte Plurilingualität verwirklicht wird.
2. Der Prozess der Primärrechtssetzung Im Rahmen der Primärrechtssetzung ist sowohl auf die Abfassung der vier authentischen Sprachfassungen der Gründungsverträge der EWG und der EAG als auch auf die Erstellung der später hinzugekommenen Sprachfassungen im Rahmen der sukzessiven Erweiterungsrunden der Gemeinschaft einzugehen. Lediglich eine nähere Betrachtung der Entstehung des EGKS-Vertrags erübrigt
254 255
Brühlmeier, ZG 1989, S. 116 (127) m.w.N. Vgl. Brühlmeier, ZG 1989, S. 116 (120) in bezug auf die Gesetzesredaktion in der Schweiz.
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
95
sich, da dieser Vertrag nur in französischer Sprache abgefasst wurde und in dieser Sprache auch allein verbindlich ist. 2 5 6
a) Die Erstellung der authentischen Sprachfassungen der Gründungsverträge Obwohl die Verträge zur Gründung der EWG und EAG jeweils in allen vier Amtssprachen verbindlich sein sollten, heißt dies noch lange nicht, dass diese vier Idiome auch bei der Ausarbeitung der Verträge gleichberechtigt gewesen wären, da die Vertragsverhandlungen nicht gleichzeitig in allen vier Amtssprachen geführt wurden. 257 Die Entwürfe wurden ursprünglich ganz überwiegend in französischer Sprache abgefasst; nur einige wenige Bestimmungen wurden auf Deutsch oder parallel in französischer und deutscher Sprache entworfen. 258 Die anderen Sprachfassungen wurden jeweils erst nachträglich von Übersetzern ohne direkte Beteiligung der Verhandlungsdelegationen erstellt. 259 Aufgrund des Zeitdrucks bei der Erstellung der einzelnen Sprachfassungen blieben nicht wenige Redaktionsversehen und sonstige inhaltliche Abweichungen des deutschen vom französischen Text bestehen,260 die teilweise nach der Unterzeichnung des Vertrages korrigiert wurden. 261 Die Verzögerungen der Übersetzungen ins Italienische und Niederländische führten sogar dazu, dass die Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25.5.1957 „blanko" vorgenommen werden musste. 262 Trotz dieser bewegten Entstehungsgeschichte der Römischen Verträge wurde gelegentlich die Ansicht vertreten, dass es bei der Redaktion der Vertragstexte kaum zu Sprachdivergenzen gekommen sei. 263 Diese Ansicht hält jedoch einer näheren Betrachtung nicht stand. Sowohl die einschlägige Rechtsprechung des EuGH 2 6 4 als auch Untersuchungen in der Literatur 265 haben zahlreiche und teils 256
Vgl. dazu oben 2. Kap. Β. I. 1. a); zur Geltungsdauer des EGKSV vgl. unten 2. Kap. D. V. Smit/Herzog, Art. 248 Rdn. 4. 258 Maas, NJB 1966, S. 301 (301); Tabory, Multilingualism, S. 114. 259 Stevens, Nw.U. L.Rev. 1967, S. 701 (721); vgl. auch Hilf, Auslegung, S. 38. 260 Vgl. Ophüls, FS Müller-Armack, S. 273 (287): „Der Versuch, die mühsam erreichten Einzelkompromisse nachträglich terminologisch zu vereinheitlichen, hätte manchmal die prekäre Einigung wieder gefährdet". 257
261
Vgl. die Beispiele bei Maas, C.M.L.Rev. 1969, S. 205 (205 Fn. 1). Maas, C.M.L.Rev. 1969, S. 205 (205); Pescatore, C. de D. 1984, S. 989 (991). 263 Vgl. z.B. Bredimas, Methods of Interpretation, S. 40; Degan, RTDE 1966, S. 189 (199). 264 Die Problematik divergierender Sprachfassungen im Gemeinschaftsrecht wurde erstmals von Generalanwalt Lagrange erkannt, und zwar in seinen Schlussanträgen zu EuGH, Rs. 13/61, de Geus/Bosch, Slg. 1962, 97, 149 f.: Bei der Frage, ob das Vertriebssystem der Bosch GmbH gegen Art. 85 EWGV (jetzt Art. 81 EGV) verstieß, kam es darauf an, ob das System geeignet war, „den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen". Während das französische Wort „affecter" (und ähnlich das italienische „pregiudicare") sowohl eine positive als auch eine negative Beeinflussung erfassten, schienen die deutsche und die niederländische Fassung („ongunstig beinvloeden") eine negative Einwirkung auf den innergemeinschaftlichen Handel zu fordern. Angesichts dieser 262
96
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
gewichtige Divergenzen zwischen den authentischen Versionen der Gründungsverträge ermittelt. Auch heute noch bestehen Abweichungen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen, die nicht nachträglich korrigiert wurden 266 bzw. bisher nicht Gegenstand der Rechtsprechung waren. Wohlbekannt ist aber nicht nur, dass zwischen den Vertragstexten teilweise erhebliche Diskordanzen bestanden und bestehen, sondern auch, dass den unterschiedlichen Sprachfassungen zumindest in früherer Zeit nicht das gleiche Vertrauen entgegengebracht wurde. 267 Die größte Autorität kam naturgemäß dem französischen und, in geringerem Maße, auch dem deutschen Text zu, wobei gerade zwischen diesen beiden Sprachfassungen die größten inhaltlichen Unterschiede bestanden. 268 Demgegenüber wich der italienische Text kaum vom französischen Text ab, was sich dadurch erklärt, dass seine Erstellung weitgehend in Anlehnung an die französische Sprachfassung erfolgte. 269 Am wenigsten verlässlich erschien der niederländische Text der Gründungs Verträge, 270 zum einen, weil er sich nicht durchgängig am französischen oder deutschen Vorbild orientierte, und zum anderen, weil die Gesetzesterminologie in den Niederlanden und in Flandern nicht immer übereinstimmte. 271
sprachlichen Unterschiede könne, so Langrange, nur der Sinnzusammenhang der Vorschriften zu dem richtigen Ergebnis führen. Vgl. dazu eingehend Coing, ZHR 1963, S. 271 ff.; zu Beispielen für primärrechtliche Sprachdivergenzen in der Rechtsprechung des EuGH selbst s.u. 3. Kap. Β. I. 4. 265 Vgl. Constantinesco, EG-Recht, S. 189, der allein im damaligen Art. 235 (jetzt Art. 308) EGV drei Sprachdivergenzen nachweist; des Weiteren van Ginsbergen, ZfRV 1970, S. 1 (11 f.) zu Art. 177 (jetzt Art. 234) und Art. 185 (jetzt Art. 242) EGV; Frohnmeier, in: Grabitz/Hilf, Art. 78 Rdn. 1 zu Art. 78 (jetzt Art. 74) EGV; Lutter, JZ 1992, S. 593 (599) zu Art. 100 a (jetzt Art. 95) EGV sowie Smit/Herzog, Art. 248 Rdn. 6 zu Art. 172 (jetzt Art. 229) EGV. Vgl. darüber hinaus die ausführliche Analyse von Weyers, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 151 (154 ff.) der anhand zahlreicher Artikel des EGV nachweist, dass die in der französischen Fassung durchgängig verwendete Terminologie (z.B. der Terminus „l'action de la Communauté") in den übrigen Sprachfassungen nicht konsequent mit einem einzigen Begriff, sondern mit mehreren unterschiedlichen Übersetzungen wiedergegeben wurde. 266
Tabory, Multilingualism, S. 115. Vgl. dazu Tabory, Multilingualism, S. 116. 268 Akehurst, in: Wortley (Hrsg.), Law of the E.E.C., S. 20 (24); Tabory, Multilingualism, S. 116. 269 Vgl. Akehurst, in: Wortley (Hrsg.), Law of the E.E.C., S. 20 (22); zur Verwandtschaft zwischen der italienischen und französischen Rechtssprache Malintoppi, RivDirlnt 1962, S. 237 (238 f.). 267
270
Vgl. dazu van Ginsbergen, NJB 1966, S. 129 ff. mit zahlreichen Beispielen für Fehlübersetzungen und mit dem Hinweis, dass die niederländische Fassung zwar formell ein Original, tatsächlich aber eine Übersetzung darstelle; zu diesem Übersetzungscharakter näher van Ginsbergen, NJB 1968, S. 353 (357 ff.). 271 Vgl. Maas, NJB 1966, S. 301 (301 f.); Smit/Herzog, Art. 248 Rdn. 4; Tabory, Multilingualism, S. 115 f.; zu den Unterschieden zwischen der niederländischen und flämischen Rechtsterminologie mit instruktiven Beispielen de Groot, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 407 (408 f.).
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
97
b) Die Erstellung späterer Sprachfassungen Idealiter müssten bei der Erstellung späterer „Übersetzungen" der Verträge im Rahmen des Beitritts neuer Mitgliedstaaten alle authentischen Sprachfassungen gleichermaßen berücksichtigt werden, 272 da den neuen Vertragstexten die gleiche Authentizität wie den ursprünglichen vier Fassungen zukommen soll. Dies war allerdings bei den verschiedenen Erweiterungsrunden nicht durchgängig der Fall.
aa) Die Abfassung des englischen Vertragstexts Anlässlich des Beitritts des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks im Jahre 1973 befasste man sich eingehend mit der Frage der korrekten Übertragung der Verträge in die Rechtssprache der neuen Mitgliedstaaten. Die Diskussion in Großbritannien nahm dabei eine herausgehobene Stellung ein. Dies lag nicht nur in den Besonderheiten des englischen Rechtssystems, sondern auch darin begründet, dass in diesem Staat die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft bereits seit ihrer Gründung kritisch beobachtet wurde. Aus diesem Grund gab es bereits lange Zeit vor dem Beitritt Großbritanniens zur Gemeinschaft mehrere inoffizielle englische Versionen der Römischen Verträge, die sich jeweils bemühten, die Fehler des vorausgegangenen Entwurfs auszumerzen. 2 3 Einige bedeutsame Diskrepanzen zwischen den ursprünglichen Fassungen und der zukünftigen englischen Version, die auf grundlegenden Unterschieden zwischen der kontinentaleuropäischen und der angelsächsischen Rechtstradition beruhten, 274 konnten so bereits im Vorfeld erkannt und beseitigt werden. 275 Dieser „antizipierten Konfliktbewältigung" ist es zu verdanken, dass in der endgültigen englischen Vertragsfassung relativ wenige linguistische 272
Tabory, Multilingualism, S. 116. Bowyer, C.M.L.Rev. 1972, S. 439 (440); vgl. auch Maas, C.M.L.Rev. 1969, S. 205 ff., der allerdings darauf hinweist, dass sich bei den Überarbeitungen auch neue Fehler einschlichen. 274 Vgl. nur die Analyse Martins zum früheren Art. 177 (jetzt Art. 234) EGV, der herausarbeitet, dass der französische Begriff „recours juridictionnel" eine viel weitere Bedeutung als das englische Wort „appeal" in der inoffiziellen englischen Übersetzung hatte: Martin, C.M.L.Rev. 1969, S. 7 (45 ff.). 273
275 Vgl. dazu die instruktiven Beispiele bei Bowyer, C.M.L.Rev. 1972, S. 439 (440 ff.) unter anderem zu den Art. 4, 37, 52, 85, 167, 172, 189, 192 und 226 EGV (jeweils in der Fassung vor Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags). So wurde z.B. die Formulierung des damaligen Art. 189 (jetzt Art. 249) EGV zum Rechtscharakter der Verordnungen geändert, in der ursprünglich nicht von „be directly applicable", sondern von „take direct effect" die Rede war. Darauf hinzuweisen ist, dass einige der bereits bei der Vertragserstellung angesprochenen Problemfälle später auch Gegenstand einschlägiger EuGH-Urteile wurden. Beispielsweise wurde im früheren Art. 175 (jetzt Art. 232) EGV die konkretere Formulierung „refrain from reaching a conclusion" in der endgültigen Fassung durch die allgemeinere Wendung „fail to act" ersetzt (vgl. Bowyer, C.M.L.Rev. 1972, S. 439 (446)). Mit der Auslegung eben jener Passage in den verschiedenen Sprachfassungen hatte sich der Gerichtshof später in EuGH, Rs. 13/83, Parlament/Rat, Slg. 1985, 1513 zu befassen.
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Schübel-Pfister
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Divergenzen im Verhältnis zu den ursprünglichen authentischen Fassungen auftraten. Berichte der an der Entwicklung der endgültigen englischen Fassung beteiligten Autoren zeigen, dass in der Tat alle vier Originalfassungen des Vertrages zur Ermittlung des passenden englischen Textes herangezogen wurden. 276 Diese intensive Auseinandersetzung mit allen vier ursprünglichen Sprachfassungen hatte die weitere Folge, dass einige seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften bestehende und nicht korrigierte linguistische Diskrepanzen zwischen den vier Original Versionen aufgedeckt wurden. 277 Die englische Arbeitsgruppe entwickelte daraufhin verschiedene praktische Regeln, um die korrekte Urfassung als Grundlage für die englische Übersetzung zu ermitteln, 278 wobei sie sich davor hütete, schematisch die Mehrheit der Sprachfassungen als Grundlage für die englische Übersetzung heranzuziehen. Vielmehr wurde teilweise dem klareren Text oder demjenigen Text der Vorzug gegeben, in dem die jeweilige Vertragsbestimmung ausgearbeitet worden war; teilweise wurde die maßgebliche Version auch anhand des Gesamtsystems des Vertrags sowie des Zwecks der fraglichen Vorschrift ermittelt. Hervorzuheben ist, dass sich die Autoren bei der Redaktion des englischen Textes bemühten, der seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften erfolgten Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen, indem sie insbesondere die vom EuGH gefundenen Lösungen zu einzelnen Sprachdivergenzen in die englische Vertragsfassung übernahmen. 279 Die Erstellung einer weiteren Sprachfassung der ursprünglich viersprachigen Verträge führte also nicht nur zur Aufdeckung linguistischer Diskrepanzen zwischen den vier Originalfassungen, sondern auch zu einer neuen Dynamik in der Auslegung des Gemeinschaftsrechts.
bb) Sprachprobleme bei den folgenden Erweiterungsrunden Bei den darauffolgenden Erweiterungsrunden ist wenig darüber bekannt, wie die Erstellung der neuen Vertragsfassungen vonstatten ging. Da allerdings stets darauf hingewiesen wird, dass die Übersetzungen in großer Eile erfolgten, 280 kann man davon ausgehen, dass nicht so sorgfältig wie bei der ersten Erweiterungsrunde vorgegangen wurde und dass nicht wie bei der englischen Arbeitsgruppe alle verbindlichen Sprachfassungen berücksichtigt wurden. Beim Bei276
Dazu eingehend Akehurst, in: Wortley (Hrsg.), Law of the E.E.C., S. 20 (22 ff.). Vgl. die Beispiele bei Bowyer, C.M.L.Rev. 1972, S. 439 (451 ff.). 278 Dazu im Einzelnen Akehurst, in: Wortley (Hrsg.), Law of the E.E.C., S. 20 (24 f.). 279 So wurden z.B. die Begriffe „affecter" bzw. „beeinträchtigen" im damaligen Art. 85 (jetzt Art. 81) EGV nicht, wie ursprünglich geplant, mit „impair" übersetzt, sondern es wurde das Wort „affect" verwendet, um der oben erörterten Rechtsprechung in der Rechtssache „Bosch" (EuGH, Rs. 13/61, de Geus/Bosch, Slg. 1962, 97; dazu oben 2. Kap. C. I. 2. a)) Rechnung zu tragen; vgl. Akehurst, in: Wortley (Hrsg.), Law of the E.E.C., S. 20 (25). 280 Vgl. nur Sevón , RivDirEur 1997, S. 533 (543). 277
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
99
tritt Spaniens und Portugals im Jahre 1986 ist aufgrund der Verwandtschaft der Sprachen die Vermutung berechtigt, dass sich die spanische und portugiesische Fassung - ebenso wie ursprünglich der italienische Entwurf - weitgehend am französischen Text der Gründungsverträge orientierten. 281 Als im Jahre 1995 Schweden, Finnland und Österreich der Europäischen Union beitraten, mussten nur zwei neue Sprachfassungen erstellt werden, die sich offenbar weitgehend den englischen Text zum Vorbild nahmen. 282 Im Falle Österreichs schien zunächst kein Handlungsbedarf zu bestehen, da bereits eine deutschsprachige Version der Römischen Verträge existierte. Immerhin hat mit dem Beitritt Österreichs die „Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache" eine ausdrückliche Anerkennung im primären Gemeinschaftsrecht erfahren: Aufgrund des der Beitrittsakte beigefügten Protokolls Nr. 10 2 8 3 sind seither in der deutschen Fassung von Rechtsakten, die nach dem Beitritt Österreichs verabschiedet wurden, die im Anhang des Protokolls genannten 23 spezifischen österreichischen Ausdrücke den in Deutschland verwendeten entsprechenden Ausdrücken in geeigneter Form hinzuzufügen. Dieses Protokoll wurde allerdings von österreichischen Juristen kritisiert, weil es nur kulinarische Bezeichnungen, nicht aber juristische Fachbegriffe mit spezifisch österreichischem Inhalt enthielt 284 - und dies trotz bedeutsamer Unterschiede zwischen der deutschen und österreichischen Rechtssprache. 285
3. Der Prozess der Sekundärrechtssetzung Nicht nur im Bereich des Primärrechts, sondern auch im Sekundärrecht stand man bei den verschiedenen Erweiterungsrunden vor der Notwendigkeit, die bereits vorhandenen Rechtstexte in die Sprachen der Beitrittskandidaten zu übersetzen. 286 Bedeutsamer als die spezifischen Probleme nachträglicher Über281 So Labrie, La construction linguistique, S. 115; vgl. auch Fosty, La langue française, S. 113 mit dem Hinweis, dass die Beitrittsverhandlungen in französischer Sprache geführt worden seien. 282 Born/Schütte, Eurotexte, S. 386. Dies zeigen auch einige Sprachdivergenzen, die Gegenstand jüngerer EuGH-Urteile waren: So wurde z.B. in EuGH, Rs. C-354/95, National Farmers' Union u.a., Slg. 1997, 1-4559 ein auf den ersten Blick banaler Übersetzungsfehler thematisiert - statt von „Absätzen 1 bis 3" war von „Absätzen 1 und 3" die Rede - , der nur in der englischen, finnischen und schwedischen Fassung enthalten war. Des weiteren lassen sich die „Übersetzungswege" der Rechtstexte deutlich anhand der Sprachdivergenz nachzeichnen, die Gegenstand des Urteils des EuGH, Rs. C-437/97, EKW und Wein & Co, Slg. 2000, 1-1157, 1205 (Rdn. 43) war: In der deutschen, französischen, italienischen, portugiesischen und spanischen Fassung wurde das Wörtchen „oder" verwendet, während in der dänischen, englischen, finnischen, griechischen, niederländischen und schwedischen Fassung die Konjunktion „und" enthalten war. 283
ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21 (370); kundgemacht in Österreich in BGBl. 1995, S. 45. Posch, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung, S. 219 (229). 285 Zu ihnen Hilf, Auslegung, S. 22 m.w.N. 286 Die neuen Mitgliedstaaten müssen sich bei ihrem Beitritt dazu verpflichten, in allen Punkten den gemeinschaftlichen Besitzstand, den sogenannten Acquis communautaire, zu übernehmen. Daher muss anlässlich jeder Erweiterungsrunde das gesamte bereits existierende Gemeinschafts284
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Setzungen287 erscheint aber die Frage, wie den Anforderungen der Mehrsprachigkeit im Prozess der Sekundärrechtssetzung generell Rechnung getragen wird. Abgesehen von den Fällen, in denen die Kommission zur eigenständigen Rechtssetzung befugt ist, 2 8 8 sind Rat, Parlament und Kommission regelmäßig gemeinsam am Rechtssetzungsverfahren beteiligt. Während der Rat früher den Hauptgesetzgeber der EG darstellte, wird im jetzigen faktischen Regelfall des Mitentscheidungsverfahrens das Europäische Parlament als echter Mitgesetzgeber tätig. 289 Das Zusammenwirken zweier im wesentlichen gleichberechtigter Gesetzgebungsorgane sagt allerdings noch nicht zwangsläufig etwas darüber aus, ob in den verschiedenen Verfahrensabschnitten eine echte Mehrsprachigkeit verwirklicht wird.
a) Die Verwendung der Sprachen in den Kommissionsentwürfen Entscheidende Bedeutung kommt der Frage zu, in welcher Sprache der Vorschlag der Kommission abfasst ist, da diese Fassung auch Diskussionsgrundlage in den späteren Stadien des Rechtssetzungsverfahrens ist. 2 9 0 Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Kommissionsentwürfe niemals in allen Amtssprachen gleichzeitig, sondern regelmäßig in einer einzigen Sprache abgefasst sind, die sich grundsätzlich nach der internen Arbeitssprache in der jeweiligen Generaldirektion richtet. 291 Da, wie oben dargelegt, in der Kommission eine faktische Konzentration auf zwei bis drei linguae francae festzustellen ist, kann es nicht überraschen, dass die Arbeitsdokumente dieses Organs durchgängig zunächst auf französisch oder englisch, ausnahmsweise auch in deutscher Sprache, abgefasst sind. Offizielle Statistiken zu diesem Phänomen gibt es offenbar nicht diese würden die Gleichsetzung der Arbeitssprachen mit den Amtssprachen in der Europäischen Gemeinschaft als bloße Fiktion entlarven. Einen Anhaltspunkt zur Verwendung der drei „großen" Sprachen bei der Erstellung der Kommissionsentwürfe vermitteln allerdings inoffizielle Zahlen, die sich den recht in die neuen Amtssprachen übersetzt und in Spezialausgaben des Amtsblatts veröffentlicht werden, vgl. Art. 155 der Beitrittsakte Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreichs, ABl. 1972 Nr. L 73, S. 14 (45); Art. 147 der Beitrittsakte Griechenlands, ABl. 1979 Nr. L 291, S. 17 (50); Art. 397 der Beitrittsakte Spaniens und Portugals, ABl. 1985 Nr. L 302, S. 9 (50); Art. 170 der Beitrittsakte Finnlands, Österreichs und Schwedens, ABl. 1994 Nr. C 241, S. 21 (50). 287
Vgl. dazu Bowyer, C.M.L.Rev. 1972, S. 439 (452 ff.); Tabory, Multilingualism, S. 119 ff. Dazu näher Streinz, Europarecht, Rdn. 453 ff. Auf die sprachlichen Probleme im Zusammenhang mit der eigenen Rechtssetzung des Kommission wird im Folgenden nicht näher eingegangen, vgl. dazu Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 255 (257 ff.). 289 Vgl. zu den einzelnen Rechtssetzungsverfahren z.B. Koenig/Haratsch, Europarecht, Rdn. 314 ff.; Streinz, Europarecht, Rdn. 438 ff. 290 Vgl. von Donat, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 77 (81). 291 Alonso Modero, T & T 1992/1, S. 343 (345); zu den internen Arbeitssprachen in den verschiedenen Generaldirektionen Fosty, La langue française, S. 105 ff.; Gehnen, Sociolinguistica 1991, S. 51 (55 ff.). 288
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
101
Stellungnahmen und persönlichen Beobachtungen verschiedener Kommissionsmitarbeiter, insbesondere der Mitarbeiter des Übersetzungsdienstes, entnehmen lassen. Auch wenn diese Zahlen im Einzelnen nicht unerheblich schwanken, lassen sich aus ihnen gewisse Gesetzmäßigkeiten über die Bedeutung der Sprachen im Entwurfsverfahren ableiten. Noch bis vor kurzem wurden die meisten Initiativen der Kommission in französischer Sprache als traditioneller lingua franca der EG-Organe verfasst. Quellen aus früheren Jahren geben daher - mit im Einzelnen schwankenden Zahlen - eine überproportionale Verwendung der französischen Sprache in den Kommissionsentwürfen an. 292 Bereits seit einigen Jahren lässt sich jedoch ein Trend zur stärkeren Verwendung des Englischen in den Originaltexten der Kommission feststellen. 293 Insbesondere in wissenschaftlichen und technischen Bereichen mit ihrer spezifischen Terminologie ist die englische Sprache schon seit längerem auf dem Vormarsch. 294 Auch der Beitritt der nordischen Staaten zu der Europäischen Union im Jahre 1995 hat die Stellung der Sprache Shakespeares gestärkt. Inzwischen hat das Englische offenbar sogar insgesamt das Französische als die am meisten benutzte Sprache bei den Kommissionsentwürfen überholt. 295 Die Stellung des Deutschen war und ist marginal - maximal 10 % der Entwürfe sollen aus einer deutschen Feder stammen. 296 Immerhin werden aber die englischen und französischen Arbeitsdokumente vor ihrer Beratung in der Kommission regelmäßig noch ins Deutsche übersetzt, was bei anderen Amtssprachen nicht der Fall ist. 2 9 7 Andere Sprachen als die drei genannten werden in den Arbeitsdokumenten der Kommission offenbar überhaupt nicht verwendet.
b) Der Sprachgebrauch im weiteren Rechtssetzungsverfahren Auch im weiteren Rechtssetzungsverfahren ist man teilweise erheblich von einer echten Gleichberechtigung der elf offiziellen Sprachen entfernt, wenn auch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit geringer als bei der
292 Alonso Madero, T & T 1992/1, S. 343 (345): 60 % französische, 25 % englische Ausgangstexte; Dohmes, EG-Magazin 1990/3, S. 16 (17): 75 % französischsprachige Vorarbeiten; Morgan, Multilingua 1982/2, S. 109 (114): 80 % französische Originalfassungen; Volz, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, 1993, S. 64 (70): 56 % französische, 37, 5 % englische Ausgangstexte. 293 Ursprünglich wurde die englische Sprache nur in Fischereiangelegenheiten sowie in Abkommen mit englischsprachigen Drittstaaten verwendet, vgl. Morgan, Multilingua 1982/2, S. 109 (114). 294 Alonso Madero, T & T 1992/1, S. 343 (345); Reynold, T & T 1999/3, S. 5 (7). 295 So Forrest, T & T 1998/3, S. 101 (110); vgl. auch Heynold, T & T 1999/3, S. 5 (8): 47 % englische und 40 % französische Originale. 296 Alonso Madero, T & T 1992/1, S. 343 (345) nennt die Zahl von 10 %; Morgan, Multilingua 1982/2, S. 109 (114) weist daraufhin, dass das Deutsche „gelegentlich" verwendet wird. 297 von Donat, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 77 (85); Volz, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 64 (69).
102
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Kommission ist. Wie bereits oben dargestellt, 298 legt das Europäische Parlament traditionell großen Wert auf die in Art. 117 seiner Geschäftsordnung vorgesehene Gleichrangigkeit aller Amtssprachen. Zwar wird intern das Beharren auf der Vorlage aller Sprachfassungen bei den Beratungen teilweise kritisiert, da es zu einer Instrumentalisierung der Sprachenfrage für andere Zwecke führe. 299 In manchen Fällen würden sich Mitglieder des EP nämlich nur deswegen auf die fehlende Vorlage eines Dokuments in ihrer Muttersprache berufen, um Sitzungen zu vertagen und damit das Tagesgeschäft des Parlaments zu blockieren. Die meisten Abgeordneten stehen einer möglichst weitgehend verwirklichten Vielsprachigkeit bei den Beratungen des Europäischen Parlaments aber trotzdem positiv gegenüber. Weniger strikt als im EP wird die Sprachenregelung im Ministerrat gehandhabt. Von der in Art. 14 GeschO vorgesehenen Sprachenregelung 300 wird aus Praktikabilitätsgründen vielfach abgewichen. Nicht nur stehen bei den Beratungen die Dokumente teilweise nur in französischer und/oder englischer Sprache zur Verfügung, 301 sondern es kann sogar vorkommen, dass der Rat zunächst auf der Grundlage nur einer oder weniger Sprachfassung(en) beschließt. 302 Dies wird damit gerechtfertigt, dass es in der Praxis schlicht unmöglich sei, effektive Detailverhandlungen über Rechtsvorschriften unter gleichzeitiger Bezugnahme auf alle Sprachfassungen zu führen, selbst wenn die Möglichkeiten des Simultandolmetschens bestehen.303 Der vom Rat zunächst informell angenommene „Originaltext" wird anschließend in alle anderen Amtssprachen übertragen und erst dann förmlich vom Rat beschlos-
c) Die Übersetzung der Rechtstexte durch die Übersetzungsdienste Die Rechtstexte müssen theoretisch in jedem Stadium des Gesetzgebungsverfahrens, spätestens aber bei der endgültigen Verabschiedung eines Rechtsakts in allen elf Amtssprachen vorliegen. Hierfür tragen die Übersetzungsdienste Sorge, die allerdings, wie oben dargelegt, unter ständiger Überlastung leiden. 305 298
2. Kap. B.II. l.a). Vgl. Patterson , LebSpr 1981, S. 7 (8). 300 Vgl. dazu oben 2. Kap. Β. II. 2. a). 301 Lwowski, Der Städtetag 1992, S. 193 (193); Dohmes, EG-Magazin 1990/3, S. 16 (17) geht davon aus, dass im Ratssekretariat 85 % der Vorarbeiten in französischer Sprache erfolgen; vgl. in bezug auf eine konkrete Richtlinie Giesberts, NVwZ 1999, S. 600 (604), der „unter Zugrundelegung der im Rat verhandelten englischen Sprachfassung" eine Analyse der Richtlinie über gefährliche Abfälle vornimmt. 299
302
Smit/Herzog, Art. 217 Rdn. 4 b; Tabory, Multilingualism, S. 24; vgl. schon Bonn, RGDIP 1964, S. 708 (710). 303 Smit/Herzog, Art. 217 Rdn. 4 b. 304 Weber, in: G/T/E, Art. 217 Rdn. 8; vgl. auch Smit/Herzog, Art. 217 Rdn. 4 b; Tabory, Multilingualism, S. 24 Fn. 117. 305 Vgl. zur Rolle der Übersetzungsdienste bereits oben 2. Kap. B. III. 2. a) aa).
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
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Die Übersetzer versuchen der zu übersetzenden Dokumentenflut Herr zu werden, indem sie verschiedene „Qualitätsstufen" von Übersetzungen unterscheiden: 306 Vorbereitenden Texten, Texten zu Informationszwecken und Texten, die sich noch in einem frühen Stadium des Rechtssetzungsverfahrens befinden, wird weniger Aufmerksamkeit geschenkt als Texten, die kurz vor ihrer endgültigen Verabschiedung als authentischer Text stehen.307 Allerdings weisen die Mitglieder des Sprachendienstes darauf hin, dass ihnen nicht immer mitgeteilt wird, welche Qualitätsstufe ein Dokument bereits erreicht hat und welches Niveau an Sorgfalt seine Behandlung damit erfordert. 308 Grundsätzlich wird sowohl die Übersetzung selbst als auch deren Kontrolle - sofern überhaupt eine interne Revision erfolgt - durch Übersetzer vorgenommen, die keine juristische Qualifikation besitzen; auf eine Überprüfung durch einen Juristen wird im Rahmen des Übersetzungsdienstes meist verzichtet. 309
d) Die Prävention von Sprachdivergenzen
durch die juristes-linguistes
Erst kurz vor der endgültigen Annahme und Veröffentlichung der Rechtstexte erfolgt eine Überprüfung der vom Sprachendienst vorgenommenen Übersetzungen durch die Rechts- und Sprachsachverständigen, die sogenannten juristes-linguistes. 310 Dieser 1966 gegründete Dienst, der Teil des Juristischen Dienstes ist, versammelt Juristen mit besonderen Sprachkenntnissen, um die Konkordanz der verschiedenen sprachlichen Fassungen des zukünftigen Rechtsakts aus sprachlich-juristischer Sicht zu überprüfen. 311 Divergenzen zwischen den einzelnen Texten sollen - mit Hilfe von Glossaren und Terminologiehandbüchern - möglichst noch im Vorfeld ausgemerzt werden. Die juristes-linguistes orientieren sich bei ihrer Tätigkeit insbesondere an der Originalsprache des Gesetzesentwurfs sowie an Vorläufern des Rechtsakts, die eine ähnliche Terminologie verwenden. 312 Korrekturen dürfen nur in bezug auf die Form, nicht aber hinsichtlich des materiellen Gehalts des Rechtsakts vorgenommen werden, wobei die Abgrenzung im Einzelnen schwierig ist. 3 1 3
306
Mills, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 471 (472). Brackeniers, T & T 1995/2, S. 13 (16); zur geringeren Bedeutung korrekter Übersetzungen bei Arbeitsdokumenten als bei Texten, die den Status eines authentischen Textes bekommen sollen, s.a. de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (288). 308 Dwyer, LawSocGaz 1979, S. 244 (244); Mills, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 471 (472). 309 Mills, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 471 (472 f.). 3,0 Vgl. dazu eingehend Morgan, Multilingua 1982/2, S. 109 (113 ff.). 311 Mills, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 471 (473). 312 Morgan, Multilingua 1982/2, S. 109 (114). 3,3 Morgan, Multilingua 1982/2, S. 109 (115). 307
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
II. Die Entstehung von Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht Angesichts der präventiven Tätigkeit der juristes-linguistes ist man geneigt zu glauben, dass es im Gemeinschaftsrecht nicht zu Sprachdivergenzen kommen könnte. Die zahlreichen zu Sprachdiskrepanzen ergangenen Entscheidungen des EuGH, die im dritten Kapitel analysiert werden sollen, vermitteln aber ein anderes Bild. 3 1 4 Zwar scheinen die in den Urteilen behandelten gut 150 Sprachdivergenzen auf einen ersten Blick eine geringe Zahl darzustellen, wenn man sie in Relation zur Gesamtzahl der zu fertigenden Übersetzungen setzt. 315 Die ermittelte Zahl von Urteilen zeigt aber, dass es sich bei der Sprachdivergenzproblematik jedenfalls nicht um einen zu vernachlässigenden Problemkreis handelt. Zudem ist zu bedenken, dass vermutlich nur ein kleiner Teil der tatsächlich existierenden Sprachdivergenzen überhaupt vor den Europäischen Gerichtshof gelangt und dass die Dunkelziffer in diesem Bereich sehr hoch sein dürfte. Im Folgenden soll der Frage nach der Entstehung und den Fallgruppen von Sprachdivergenzen nachgegangen werden. Dabei ist vorab darauf hinzuweisen, dass mit der Bezeichnung „Sprachdivergenz" nur die Konstellation erfasst werden soll, dass die verschiedenen Sprachfassungen eines gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakts voneinander abweichen. Davon zu unterscheiden ist der bei Richtlinien möglicherweise auftretende Fall, dass die gemeinschaftsrechtlichen Sprachfassungen zwar übereinstimmen, dass aber einzelne Sprachfassungen fehlerhaft in nationales Recht umgesetzt wurden. 316 Auch wenn man hierbei begrifflich ebenfalls von einem Sprachdivergenzproblem sprechen könnte, handelt es sich letztlich um ein allgemeines Problem der fehlerhaften Umsetzung von Richtlinien, das an dieser Stelle nicht näher zu behandeln ist. 3 1 7 Mit dem Begriff der Sprachdivergenz wird somit im Folgenden nur die „horizontale", nicht auch die „vertikale" Wortlautabweichung erfasst.
314 Dies wird allerdings von einigen juristes-linguistes bestritten, vgl. Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 255 (259): ,,(L)e mécanisme de la révision en groupe par les juristes-réviseurs fonctionne de manière très satisfaisante: les cas rarissimes de non-concordance qui ont pu être relevés se citent presque de mémoire". Diese Feststellung darf angesichts der über 150 ermittelten und im Entscheidungsregister aufgelisteten EuGH-Urteile durchaus bezweifelt werden. Treffend demgegenüber Weber, in: G/T/E, Art. 248 Rdn. 6: „Die Vorstellung, dass die Gemeinschaftsverträge kaum sprachliche Interpretationsdifferenzen aufweisen, ist unzutreffend und gilt noch weniger für das Sekundärrecht der Gemeinschaft, das - wie die Judikatur des EuGH zeigt - immer häufiger zu sprachlichen Auslegungsproblemen führt". 315
Vgl. dazu oben 2. Kap. B. III. 2. a) aa). Vgl. dazu z.B. den Sachverhalt in EuGH, Rs. C-306/91, Kommission/Italien, Slg. 1993, I2133, 2156 f. (Rdn. 15 ff.): Beibehaltung einer nationalen Vorschrift, deren Formulierung nicht mit den entsprechenden Bestimmungen der umzusetzenden Richtlinie übereinstimmte. 317 Vgl. zu den Anforderungen an die Umsetzung von Richtlinien Streinz, Europarecht, Rdn. 391 ff. 316
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
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1. Einteilung in Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen In den vorhergehenden Abschnitten wurde allgemein von „Sprachdivergenzen" gesprochen, um das Problem zu beschreiben, dass bei mehrsprachigen Rechtstexten die verschiedenen sprachlichen Fassungen nicht übereinstimmen. Die Frage, welche „Qualität" die Sprachdivergenzen im Einzelnen aufweisen, wird zunächst aus sprachwissenschaftlicher Perspektive behandelt, bevor die sprachwissenschaftliche Analyse in juristische Kategorien überführt wird.
a) Sprachwissenschaftliche
Perspektive
Eine aus sprachwissenschaftlicher Sicht vorgenommene Analyse unterscheidet zwei Arten von Sprachdivergenzen: die „Divergenzen im Text" einerseits und die „Divergenzen im Denken" andererseits. 318 Divergenzen im Text sind dadurch gekennzeichnet, dass der Wortlaut eines Rechtsakts in den verschiedenen sprachlichen Fassungen nicht übereinstimmt. Divergenzen im Denken kommen demgegenüber bei „völlig korrekten, in den verschiedenen Sprachfassungen übereinstimmenden Wortlauten" 319 vor, die aber in den verschiedenen Mitgliedstaaten eine unterschiedliche Bedeutung haben. Die Divergenzen im Text lassen sich formal-linguistisch weiter in Polysemien und Diskrepanzen untergliedern. Eine Polysemie liegt vor, wenn ein Begriff nicht nur über eine einzige, sondern über mehrere mögliche Bedeutungen verfügt. 320 Diese Mehrdeutigkeiten können sich entweder aus den semantischen Merkmalen eines Wortes 321 - dann semantische Polysemie - oder aus dem Satzbau bzw. der Grammatik - dann syntaktische Polysemie - ergeben. Während somit bei den Polysemien die einzelne sprachliche Fassung eines mehrsprachigen Rechtsakts schon für sich betrachtet mehrdeutig ist, ist bei den Diskrepanzen jede Fassung für sich allein eindeutig; die Fehlerhaftigkeit offenbart sich erst im Sprachvergleich. 322 Diskrepanzen finden sich vor allem im Bereich der Semantik, sind aber auch im Bereich der Syntax theoretisch möglich.
3,8
Vgl. dazu und zum folgenden Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 57 ff. Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 81. 320 Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 20. 321 Bei dem semantischen Sinn der Worte geht es um ihre Bedeutung entweder in dem von den Rechtssetzern festgelegten besonderen Sprachgebrauch oder im allgemeinen Sprachgebrauch, der sich nach dem gewöhnlichen Sinn der Begriffe bzw. den relevanten sprachlichen Konventionen bestimmt, vgl. Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 119. 322 Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 75. 319
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
b) Juristische Sicht Die Klassifizierung der Sprachdivergenzen aus sprachwissenschaftlicher Perspektive deckt sich teilweise mit der juristischen Einordnung, wobei allerdings die jeweilige spezifisch juristische Problematik der Divergenzen noch stärker herauszustellen ist. Auch in der vorliegenden Arbeit wird demzufolge zwischen „Divergenzen im Text" und „Divergenzen im Sinn" unterschieden, wobei diese im Folgenden mit den prägnanteren Ausdrücken ,3egriffsdivergenzen" und ,3edeutungsdivergenzen" gekennzeichnet werden sollen. Neben den Termini „Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen" wird gleichbedeutend das Begriffspaar „Text- und Sinndivergenzen" verwendet. Nach der hier verwendeten Terminologie sind somit die „Textdivergenzen" mit den ,3egriffsdivergenzen" identisch; der Ausdruck „Sprachdivergenzen" soll als Oberbegriff für alle Arten von Divergenzen gebraucht werden. 323
aa) Begriffsdivergenzen Bei den Begriffsdivergenzen stimmen schon die in den verschiedenen sprachlichen Fassungen verwendeten Begriffe zur Bezeichnung einer bestimmten Sach- oder Rechtslage nicht überein. Es stellt sich daher bei der Auslegung verkürzt formuliert - die Frage, welche der sprachlichen Fassungen den „richtigen" Sinn des Rechtstextes wiedergibt. Die sprachwissenschaftliche Untergliederung der Begriffsdivergenzen in Polysemien und Diskrepanzen kann auch für die rechtswissenschaftliche Analyse Bedeutung gewinnen. Zum einen werden im dritten Kapitel die einschlägigen Urteile daraufhin untersucht, ob der Gerichtshof die verschiedenen Sprachfassungen miteinander in Einklang bringt, oder ob er sein Auslegungsergebnis nur auf der Grundlage einzelner Sprachfassungen bzw. überhaupt losgelöst vom Wortlaut der Sprachfassungen trifft. Eine Vereinbarkeit des Wortlauts aller Sprachfassungen kommt aber von vornherein nur bei Polysemien und nicht auch bei Diskrepanzen in Betracht. Zum anderen soll diese Differenzierung inhaltlich im vierten Kapitel wieder aufgegriffen werden, wenn es um die Frage geht, welche Anforderungen an den Rechtsanwender bezüglich der Erkennbarkeit von Sprachdivergenzen gestellt werden. Diese könnten nämlich unterschiedlich sein, je nachdem, ob bereits eine einzelne sprachliche Fassung mehrdeutig ist ( „ P o l y s e m i e n " ) oder ob sich erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Sprachfassungen die Unklarheit des Textes ergibt („Diskrepanzen"). Nichtsdestoweniger soll im Folgenden der Begriff „Diskrepanzen" nicht im engen sprachwissenschaftlichen Sinn, sondern
323 In der Literatur schwankt die Terminologie von Fall zu Fall, so verwendet beispielsweise Hilf\ Auslegung, S. 20 ff., den Terminus „Textdivergenzen" als Oberbegriff für die „Textdivergenzen sprachlicher Art" und die „Textdivergenzen rechtlicher Art".
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
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als Synonym für den allgemeinen Terminus „Divergenzen" verwendet werden, da dies in der rechtswissenschaftlichen Literatur überwiegend so gehandhabt wird.
bb) Bedeutungsdivergenzen Während es bei den Begriffsdivergenzen schon an der formellen Konkordanz der Sprachfassungen fehlt, kann man die Bedeutungsdivergenzen mit dem Schlagwort der „formellen Konkordanz bei inhaltlicher Dissonanz" kennzeichnen. Denn im Falle einer Bedeutungsdivergenz stimmen im Unterschied zu den Begriffsdivergenzen die verschiedenen sprachlichen Fassungen auf den ersten Blick überein. Eine nähere Betrachtung, insbesondere eine Anwendung der mehrsprachigen Norm auf konkrete Fallkonstellationen, enthüllt jedoch, dass die verschiedenen Sprachfassungen einen unterschiedlichen Inhalt haben. Die vermeintlich übereinstimmenden Texte führen in den verschiedenen Amtssprachen zu Lösungen, die sich teils widersprechen, teils auch nur in Varianten unterscheiden. Der unterschiedliche „Inhalt" der verschiedenen Sprachfassungen beruht dabei regelmäßig darauf, dass der jeweilige Rechtsanwender dem Text sein spezifisches nationales Rechtsdenken zugrunde legt, das durch die Eigentümlichkeit jeder nationalen Rechtsordnung und ihrer Rechtsinstitute geprägt ist. Zudem spielt die Eigengesetzlichkeit der Sprachen eine Rolle, die dazu führt, dass sich bestimmte Nuancen des einen Textes im Text der anderen Sprachen nicht oder nur unvollkommen ausdrücken lassen. Bei Bedeutungsdivergenzen fragt es sich daher, ob das jeweilige nationale Verständnis des Textes maßgeblich sein kann und, wenn dies verneint wird, wie ein einheitlicher gemeinschaftsrechtlicher Begriffsinhalt ermittelt werden kann. Die Unterscheidung zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen ist daher nicht nur aus sprach-, sondern auch aus rechtswissenschaftlicher Sicht geboten, weil die beiden Fallgruppen jeweils einer eigenständigen juristischen Betrachtung bedürfen.
cc) Fließender Übergang zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen Nichtsdestoweniger ist die Abgrenzung zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen nicht immer so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Zwar sind Bedeutungsdivergenzen im Regelfall dadurch gekennzeichnet, dass die verschiedenen sprachlichen Fassungen in begrifflicher Hinsicht übereinstimmen. Teilweise ist es jedoch angesichts der Eigengesetzlichkeit der Sprachen schwierig festzustellen, ob noch eine begriffliche Kongruenz zwischen zwei Termini besteht oder nicht. Jeder Sprache sind Bedeutungsnuancen und Konnotationen zu Eigen, die bis zur Unübersetzbarkeit bestimmter Begriffe
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
führen. 324 Eine strikte Trennung zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen ist nicht nur im Bereich der Alltagssprache, sondern auch in der Rechtssprache problematisch, weil die verschiedenen Rechtssprachen bisweilen einen unterschiedlichen Abstraktionsgrad aufweisen. Da manche Rechtssprachen durch eine starke Kasuistik, andere hingegen durch die häufige Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen gekennzeichnet sind, kann insoweit der Übergang zwischen Text- und Sinndivergenzen fließend sein. 325 Zudem treffen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen gelegentlich insofern zusammen, als bei ein und demselben Rechtstext zwischen einem Sprachpaar eine Begriffsdivergenz infolge einer Fehlübersetzung entsteht, in einer anderen Sprachkombination hingegen eine Bedeutungsdivergenz auftritt. 326
c) Absage an eine monokausale Begründung der Sprachdivergenzen Einige Stimmen in der Literatur unterscheiden nicht hinreichend zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen. Außerdem vertreten nicht wenige Autoren einen „monokausalen" Ansatz, indem sie den entscheidenden Grund für das Auftreten von Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht entweder in den Übersetzungsfehlern 327 oder in den Verständnisfehlern 328 sehen. Allein die Tatsache, dass sich diese Autoren nicht einig über die , Jiauptursache" von Sprachdivergenzen sind, zeigt aber, dass dieser monokausale Ansatz nicht tragfähig sein kann. Es muss daher zunächst festgehalten werden, dass Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen im Gemeinschaftsrecht gleichermaßen eine Rolle spielen. 329 Ferner ist davon auszugehen, dass für beide Arten von Sprachdivergenzen je-
324 Beispiele bei Born, SprRep 1992/2-3, S. 1 (2 f.); Pescatore , in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 91 (97 f.). 325 Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 255 (259). 326 Vgl. z.B. den Sachverhalt in EuGH, Rs. 188/83, Witte/Parlament, Slg. 1984, 3465. Einerseits stellte sich ein Bedeutungsproblem zwischen dem deutschen Ausdruck „ständiger Wohnsitz" und dem französischen „domicile". Andererseits lag eine Begriffsdivergenz zwischen der deutschen und der italienischen Fassung der gleichen Passage vor, da in der italienischen Fassung fälschlicherweise von „abitazione" anstatt von „residenza" die Rede war. 327 Vgl. in bezug auf das Primärrecht Smit/Herzog, Art. 248 Rdn. 5: „(...) occasional differences in the different versions of the Treaty are not normally the result of different meanings put on the Treaty by the negotiators for different countries, but rather accidents due to the haste in which the various translations were prepared"; gleichlautende Formulierung bei Morgan , Multilingua 1982/2, S. 109 (110), der sich aber in dem einschlägigen Abschnitt auf primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht gleichermaßen bezieht; Sarcevic, Legal Translation, S. 223. 328 So Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 147; van Ginsbergen, ZfRV 1970, S. 1 (11); ähnlich Kjcer, in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (66 ff.), die zwar beiläufig auch die Übersetzungsfehler nennt, diese aber in ihren folgenden Ausführungen vernachlässigt. 329 Von zahlreichen Autoren wird diese Unterscheidung anerkannt bzw. ganz selbstverständlich durchgeführt, vgl. nur Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 73; Sevón, RivDirEur 1997, S. 533 (542).
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
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weils mehrere Entstehungsgründe verantwortlich sind. Neben den spezifischen Gründen, die entweder für Begriffsdivergenzen oder für Bedeutungsunterschiede verantwortlich sind, gibt es auch Faktoren, die das Entstehen von Begriffsund Bedeutungsdivergenzen gleichermaßen begünstigen. Nichtsdestoweniger sollen der besseren Übersicht halber die Ursachen für die Entstehung von Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen getrennt dargestellt werden. Grundsätzlich können Sprachdivergenzen auf zwei Ebenen der Rechtssetzung entstehen: Zum einen können sie auf „politischer" Ebene begründet werden, nämlich beim Entwurf der Rechtsakte, ihrer Verhandlung oder ihrer Verabschiedung durch die Gemeinschaftsgesetzgeber. Zum anderen kann die Übersetzungsebene als die „technische" Ebene für das Auftreten von Sprachdivergenzen verantwortlich sein. Wie oben dargelegt, werden die gemeinschaftsrechtlichen Texte meist erst nachträglich aus dem Originaltext in die übrigen Sprachfassungen übertragen, da eine Parallelformulierung in den verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens oft schon aus praktischen Gründen unterbleibt. 330
2. Gründe für die Entstehung von Begriffsdivergenzen a) Schwerpunktmäßige
Verantwortlichkeit
auf der Übersetzungsebene
aa) Die Technizität des Gemeinschaftsrechts Die Hauptursachen für das Auftreten von Begriffsdivergenzen sind auf der Übersetzungsebene zu suchen, wobei zunächst die technische Diktion vieler Gemeinschaftsrechtstexte zu nennen ist. 331 Denkt man an weite Gebiete des Steuer- und Zollrechts sowie des Agrarrechts, wird deutlich, dass es sich bei den Übersetzern eigentlich zugleich um Experten der jeweiligen Materie handeln müsste. Da sich die Übersetzer im Sprachendienst der Europäischen Union jedoch mit einer großen Bandbreite von Texten befassen müssen, fehlt es ihnen häufig an dem nötigen Fachwissen, so dass gerade in wissenschaftlichen und technischen Bereichen immer wieder Übersetzungsfehler zu beklagen sind. 332 Insbesondere führt die hohe Technizität und die juristisch-ökonomische Komplexität der zu übersetzenden Texte dann zu Begriffsdivergenzen infolge von Übersetzungsfehlern, wenn die Übersetzer nicht wissen, was sich hinter den zu übersetzenden Wörtern der Ausgangssprache verbirgt. In der einschlägigen Literatur werden zahlreiche Beispiele kolportiert, von denen hier nur die Übersetzung des Begriffs „Armenrecht" mit „poor law" anstelle von „legal aid"
330 331 332
2. Kap. C. I. 3. Schütte, LeGes 1992/2, S. 11 (33). Pedersen, Essays on Translation, S. 48; Wagner, T & T 2000, S. 5 (9).
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
genannt sein soll. 3 3 3 Begünstigt werden derartige Verständnisprobleme noch durch die Tatsache, dass die Übersetzer regelmäßig nicht nur innerhalb einer Sprachkombination übersetzen, sondern üblicherweise Texte aus zwei oder noch mehr Ausgangssprachen in ihre Muttersprache übertragen müssen. 334
bb) Der Zeitdruck der Übersetzer Der entscheidende Faktor für die Entstehung von Begriffsdivergenzen auf Übersetzerebene ist allerdings nicht im technischen Charakter vieler Übersetzungen, sondern in dem zeitlichen Druck zu suchen, dem viele Übersetzer quasi permanent ausgesetzt sind. 335 Angesichts der verschiedentlich beklagten Normflut im Gemeinschaftsrecht müssen die Übersetzungen zukünftiger Rechtsakte häufig in großer Eile vorgenommen werden. Der Zeitmangel führt dazu, dass die überlasteten Mitglieder des Übersetzungsdienstes nicht immer gründlich arbeiten (können), wodurch sich Flüchtigkeitsfehler in die Übersetzungen einschleichen. Diese Übersetzungsfehler bleiben nicht selten unbemerkt, da die Übersetzungen infolge des Zeitdrucks oft nicht - wie eigentlich vorgesehen vor Verlassen des Übersetzungsdienstes nochmals überprüft werden können. 336 des Weiteren wird ein Mangel an qualifizierten Schreibkräften beklagt, der bei eiligen Übersetzungen dazu führe, dass die Reinschriften von anderssprachigen Schreibkräften vorgenommen werden müssten.337 Insoweit erscheint die mangelnde Qualität der Rechtstexte teilweise verständlich, da nicht auf jeden Rechtstext - man denke nur an manche schnelllebigen Texte des Sekundärrechts - so viel Zeit und Energie verwendet werden kann, wie es beispielsweise bei der Abfassung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs in deutscher, französischer und italienischer Sprache geschah.338 Darüber hinaus hat die Eile oft zur Folge, dass ein Dokument nicht durchgehend von einem einzigen Übersetzer bearbeitet, sondern zwischen mehreren Personen aufgeteilt wird. 3 3 9 Teilweise werden zusätzlich „Free lance"Übersetzer eingesetzt, die isoliert vom Stab des Übersetzerdienstes arbeiten und keinen ausreichenden Zugang zu dokumentarischen Übersetzungshilfen ha-
333
Dwyer, LawSocGaz 1979, S. 244 (244); weitere Beispiele aus dem primären und sekundären Gemeinschaftsrecht bei Weyers, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 151 (153 ff.)· 334 Pedersen, Essays on Translation, S. 48. 335 Schütte, LeGes 1992/2, S. 11 (33); Volz, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 64 (71). 336 Tabory, Multilingualism, S. 121. 337 Volz, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 64 (73 f.). 338 Dazu eingehend Brühlmeier, ZG 1989, S. 116 (128 ff.). 339 Ciancio, in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 113 (119); Pedersen, Essays on Translation, S. 49.
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ben. 340 Diese Zerstückelung hat negative Auswirkungen auf die inhaltliche Kohärenz der Rechtstexte. Wenn in der Originalfassung beispielsweise ein bestimmter Begriff mehrmals verwendet wird, um damit immer ein und denselben Sachverhalt zu beschreiben, wird in den von verschiedenen Personen angefertigten Übersetzungsteilen diese Identität oftmals nicht mehr vorhanden sein. 341 Der Rechtsanwender, der von dieser „Entstehungsgeschichte" keine Kenntnis hat, steht in derartigen Fällen vor erheblichen Auslegungsschwierigkeiten. Er wird dazu neigen, aus der Verwendung unterschiedlicher Begriffe auf einen unterschiedlichen Sinn zu schließen, was durch die Verwendung identischer Begriffe im Ausgangstext gerade nicht intendiert war. 3 4 2
b) Schwächen beim Entwurf der Rechtsakte Es wäre allerdings verfehlt, wenn man die ausschließliche Verantwortlichkeit für die Entstehung von Begriffsdivergenzen den Übersetzern anlasten würde. Oft fallen nämlich Fehler auf die Übersetzer zurück, obwohl sie bereits im Ausgangstext angelegt waren. 343 Viele Übersetzer beklagen zu Recht die schlechte Qualität der Ursprungstexte, die es ihnen unmöglich mache, Übersetzungsfehler zu vermeiden. 344 So wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Originaltexte oft nicht klar strukturiert und präzise abgefasst sind. 345 Der Hauptgrund für die zu Übersetzungsfehlern Anlass gebenden Unklarheiten in den Originalentwürfen ist darin zu suchen, dass sie häufig von Nichtmuttersprachlern in englischer oder französischer Sprache verfasst werden. 346 Da die Kommission nur über wenige Verkehrssprachen verfügt, herrscht bei den Kommissionsbeamten ein faktischer Anpassungsdruck, auch als Nichtmuttersprachler die Entwürfe in der lingua franca der zuständigen Generaldirektion zu erstellen. Hierdurch entsteht beispielsweise die kuriose Situation, dass ein Ent340 Schütte, LeGes 1992/2, S. 11 (33); vgl. auch Volz, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 64 (73), der darauf hinweist, dass sogar manche der im Amtsblatt erscheinenden Texte nicht vom Übersetzungsdienst stammten, sondern sogenannte „graue Übersetzungen" zweifelhafter Verlässlichkeit darstellten. 341 Vgl. Akehurst, in: Wortley (Hrsg.), Law of the E.E.C., S. 20 (28). 342 S. dazu die instruktiven Beispiele aus dem Primärrecht bei van Ginsbergen, ZfRV 1970, S. 1 (14) und bei Weyers, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 151 (157 ff.); vgl. auch die Anekdote bei Basedow, ZEuP 1996, S. 749 f. 343 Pescatore, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 91 (94). 344 So etwa Koskinen, The Translator 2000/1, S. 49 (59 f.); Pedersen, Essays on Translation, S. 48 f.; Volz, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 64 (71); Wagner, T & T 2000/1, S. 5 (6). 345 Vgl. Brackeniers, T & T 1995/2, S. 13 (15 f.); Wagner, T & T 2000/1, S. 5 (6); treffend erscheint daher die Bemerkung von Generalanwalt Mancini , SchlA zu EuGH, Rs. 100/84, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1985, 1169, 1173 (Rdn. 4), dass er „zwar die Weisheit des Gemeinschaftsgesetzgebers bewundere, jedoch nicht seine schludrige und allzu oft ungenaue Sprache". 346 Labrie, La construction linguistique, S. 99; Patterson, Multilingua 1982/1, S. 9 (11), Schütte, LeGes 1992/2, S. 11 (33, 36); Volz , in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 64 (71).
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
wurf, der von einem Dänen in Dänisch „gedacht" und konzipiert, dann aber in französischer Sprache formuliert wurde, wiederum ins Dänische „rückübersetzt" werden muss, so dass sich Übersetzungs- und Flüchtigkeitsfehler multiplizieren. 347 Hervorgehoben sei bereits an dieser Stelle, dass die schlechte Qualität der Ursprungstexte nicht nur zu Begriffs-, sondern auch zu Bedeutungsdivergenzen führen kann.
3. Gründe für die Entstehung von Bedeutungsdivergenzen Während sich die Begriffsdivergenzen überwiegend auf Schwächen des Liber setzungs Verfahrens zurückführen lassen, erfordert die Entstehung von Bedeutungsdivergenzen eine differenziertere Beurteilung. Gesetzesredaktoren und Übersetzer können gleichermaßen - wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten - für Bedeutungsunterschiede verantwortlich sein. Bevor den Gründen für die Entstehung von Bedeutungsdivergenzen im Einzelnen nachgegangen wird, ist zunächst die spezifische Problematik der Bedeutungsdivergenzen im Gemeinschaftsrecht darzustellen.
a) Die Systemgebundenheit des Rechts aa) Sprache, Recht und Rechtssprache Schon in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass jede sprachliche Äußerung wegen der Begrenztheit der sprachlichen Mittel eine Abstraktion des auszudrückenden geistigen Inhalts darstellt und damit zu Mehrdeutigkeiten führen kann. 348 Dies gilt auch und besonders für die Rechtssprache, deren Formulierung, Übermittlung und Verständnis durch die Unvollkommenheit der sprachlichen Möglichkeiten erschwert ist. 3 4 9 Das Recht ist seinem Wesen nach an die Vorgegebenheiten des sprachlichen Ausdrucks gebunden und damit gleichermaßen unvollkommen wie die Sprache selbst. Tritt man - nicht nur in der Rechtssprache, sondern generell - aus dem Kreis einer Sprache hinaus, um einen Sprachinhalt in eine andere Sprache zu übertragen, so potenziert sich aufgrund des unterschiedlichen linguistischen und soziokulturellen Kontexts eines Begriffs die Gefahr von Mehrdeutigkeiten. 350 Angesichts der Verschie347 In diesem Zusammenhang wird teilweise vom Phänomen der „Eurotexte" gesprochen, vgl. Born/Schütte, Eurotexte, passim, insbes. S. 45; Kjœr, in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (74). 348 Vgl. nur Oksaar, ARSP 1967, S. 91 (116). 349 Hilf, Auslegung, S. 21. 350 de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (280); Hilf, Auslegung, S. 22.; K. Luttermann, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 47 (54 f.).
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
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denheit des sprachlichen Umfelds und der sprachlichen Strukturen ist aus sprachtheoretischer Sicht keine Übersetzung in der Lage, den ursprünglich in eine Sprache gelegten Gedanken unverändert so in eine andere Sprache zu übertragen, dass der Sinn in allen Einzelheiten genau übereinstimmt. 351 Übersetzen ist im wahrsten Sinne des Wortes „Über-setzen" von Bildern aus einer Sprache in eine andere; 352 jede Übersetzung stellt zugleich einen Prozess der Auslegung dar. 353 Dies gilt gerade bei der Übersetzung von Rechtstexten, da in den Rechtswissenschaften - im Unterschied zu den internationalen Fachsprachen der Naturwissenschaften - im Prinzip keine international einheitliche Terminologie existiert. 354
bb) Sprachvergleich, Rechtsvergleich und Rechtssprachenvergleich Die Übersetzung zwischen verschiedenen Rechtssprachen wird durch ihre Systemgebundenheit, also ihre Abhängigkeit von der ihr zugehörigen Rechtsordnung, erschwert. 355 Bei der Übersetzung von Rechtstexten ist stets zu beachten, dass der Wortschatz der Rechtssprache Träger der nationalen Rechtskultur und des jeweiligen nationalen Rechtssystems ist, die sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheiden. 356 Das rein philologische Problem der Übersetzung im Rahmen der allgemeinen Sprache wird durch das ungleich schwierigere Problem der juristischen Qualifikation überlagert. 357 Die Übersetzer müssen den in Rede stehenden Rechtsbegriff zunächst in seinem Systemzusammenhang auf seine Bedeutung hin untersuchen, um dann in der Zielsprache rechtsvergleichend einen äquivalenten Begriff zu finden. 358 Bei jeder Übersetzung eines fremdsprachigen Rechtstextes ist damit nicht nur die vergleichende Sprachwissenschaft, sondern auch die vergleichende Rechtswissenschaft gefordert, da zur
351 Oksaar, ARSP 1967, S. 91 (105); vgl. auch Kjœr, in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (67); teilweise a.A. Mincke, ARSP 1991, S. 446 (448 ff.), der das Problem eher auf der Ebene des Verständnisses des Originaltexts als auf der Übersetzungsebene angesiedelt sieht. 352 Großfeld, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 35; näher Luttermann, FS Großfeld, S. 771 (779); Luttennann, JZ 1998, S. 880 (882). 353 So insbesondere Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 362 f.; im römischen Recht wurde der Übersetzer daher „interpres" genannt, was sich für die Dolmetscher bis in die heutige Zeit in mehreren Sprachen erhalten hat (französisch „interprète"; spanisch „intèrprete"), vgl. Hilf, Auslegung, S. 22. 354 de Groot, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 407 (408); de Groot, T & T 1991/3, S. 279
(282). 355
Vgl. dazu Kjœr, in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (64 f.). Kjœr, in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (67). 357 Hilf, Auslegung, S. 22. Der Begriff der Qualifikation entstammt dem Internationalen Privatrecht und bezeichnet dort die Subsumtion unter den Tatbestand einer Kollisionsnorm, vgl. nur Martiny, RabelsZ 1981, S. 427 (430). 358 van Ginsbergen, ZfRV 1970, S. 1 (9 f.). 356
8
Schübel-Pfister
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Übersetzung aus einer in eine andere Rechtssprache stets ein struktureller Vergleich des Ausgangsrechtssystems mit dem Zielrechtssystem notwendig ist. 3 5 9 Schon zwischen verwandten Rechtsordnungen wie denen der kontinentalen Mitgliedstaaten, die aufbauend auf bzw. in Auseinandersetzung mit dem römischen Recht entstanden sind, 360 kann es Schwierigkeiten bei der Vergleichbarkeit und Qualifikation der Rechtsbegriffe geben. 361 Manche Rechtskonzepte und Rechtsvorstellungen sind überhaupt nur einem einzigen Mitgliedstaat zu eigen und haben kein Äquivalent in den übrigen Rechtssystemen.36 Aber selbst dann, wenn Rechtskonzepte in mehreren Mitgliedstaaten bekannt sind, besteht immer die Gefahr, dass sie - zumindest in Randbereichen - einen unterschiedlichen Inhalt und Bedeutungsschattierungen aufweisen. 363 Auf den ersten Blick identische juristische Begriffe haben in den nationalen Rechtsordnungen häufig spezifische Inhalte durch die Rechtsprechung und Lehre erhalten, so dass sie sich in ihrer juristischen Bedeutung im jeweiligen Rechtssystem nicht decken. 364 Noch augenfälliger sind die Schwierigkeiten, wenn man die grundlegenden Unterschiede in der Dogmatik in Betracht zieht, die zwischen den römisch-rechtlich geprägten Rechtsordnungen einerseits und den Rechtsordnungen des Common Law andererseits bestehen.365 Insbesondere eine wort- und sinngetreue Übersetzung der abstrakten und synthetischen Begriffe des kontinentalen Rechts in das kasuistisch geprägte angloamerikanische Recht erscheint oft unmöglich. 366 Es lässt sich daher der Erfahrungssatz aufstellen, dass Bedeutungsdivergenzen bei mehrsprachigen Texten unvermeidbar sind. 367
359
de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (287); Hilf, Auslegung, S. 22 f.; Sarcevic, Legal Translation, S. 12 ff. 360 Vgl. Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 130 f. 361 Mills, in: Neketnan (Hrsg.), Translation, S. 471 (473). 362 Vgl. Tabory, Multilingualism, S. 132 sowie die Beispiele bei Pescatore , ZEuP 1998, S. 1 (7 ff.). 363 Vgl. Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 255 (259). 364 Hirsch, M DR 1999, S. 1 (2). 365 Hilf, Auslegung, S. 23; speziell bezüglich des Gemeinschaftsrechts Berteloot, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 101 (106); Ciancio, in: Wallace/Herreman (Hrsg.), A Community of Twelve?, S. 113 (119); zu den verschiedenen Rechtskreisen allgemein Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 73 ff. 366 Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 255 (259); zahlreiche Beispiele zu Übersetzungsschwierigkeiten zwischen der französischen und der englischen Rechtssprache bei Kisch, in: Rotondi (Hrsg.), Inchieste di diritto comparato, S. 407 (413 ff.); vgl. auch Malintoppi, Unidroit Annuaire 1959, S. 249 (259). 367 So schon - in bezug auf das Völkerrecht - Métall, ZöR 1930, S. 357 (362); Weisgerber, Vertragstexte als sprachliche Aufgabe, S. 132 f.; Hilf, Auslegung, S. 24; ebenso bezüglich mehrsprachigen nationalen Rechts Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 192.
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
b) Bedeutungsdivergenzen
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in der Gemeinschaftsrechtsordnung
Vereinzelt wird jedoch gerade die These der Unvermeidbarkeit von Bedeutungsdivergenzen in bezug auf das mehrsprachige Recht der Europäischen Union in Abrede gestellt. Da es sich bei der Europäischen Union um ein einheitliches Rechtssystem handele, sei bei der Übersetzung der verschiedenen Sprachfassungen nur ein interlingualer Vergleich, nicht auch ein Vergleich zwischen verschiedenen Rechtssystemen erforderlich. 368 Im Unterschied zu der Übersetzung von Texten eines einsprachigen nationalen Rechtssystems in eine andere Sprache sei die Übersetzung supranationaler Texte geradezu einfach, 369 da sich Ausgangs- und Zielsprache auf ein und dasselbe Rechtssystem bezögen. Insoweit gelte nichts anderes als für die Übersetzung von Texten im Rahmen eines mehrsprachigen nationalen Rechtssystems wie etwa der Schweiz und Belgien, wo man ebenfalls innerhalb ein und desselben Rechtssystems verbleibe.3 0 Aufgrund der eigenständigen und einheitlichen Begrifflichkeit des Gemeinschaftsrechts könne es damit per definitionem nicht zu Bedeutungsdivergenzen zwischen den einzelnen sprachlichen Fassungen kommen.
aa) Verweisende Auslegung, autonome Auslegung und Rechtsvergleichung Diese Prämisse hält allerdings einer näheren Betrachtung nicht stand. Zum einen kann der Grundsatz der autonomen Auslegung und Begriffsbildung im Gemeinschaftsrecht nicht verabsolutiert werden; vielmehr lassen sich der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinzelte Fälle entnehmen, in denen gemeinschaftsrechtliche Begriffe als Verweis auf die einzelstaatliche Rechtssprache und Rechtsordnung interpretiert wurden. 371 Es stellt sich daher nicht nur im Völkerrecht, sondern bis zu einem gewissen Grad auch im Gemeinschaftsrecht die Frage, ob ein Begriff im Sinne der staatlichen Rechtssprache oder als autonomer Begriff aufzufassen ist. Zum anderen entbindet der Grundsatz der autonomen Begrifflichkeit des Gemeinschaftsrechts den Rechtssetzer und Rechtsanwender nicht von der Notwendigkeit rechtsvergleichender Bemühungen. Bekanntlich stellt das Gemeinschaftsrecht - zumindest bei seinem gegenwärtigen Stand - kein einheitliches Rechtssystem in dem Sinne dar, dass alle Rechtsakte von einer eigenständigen, kohärenten Terminologie, die nur dem Gemeinschaftsrecht zu Eigen ist, geprägt wären. Zwar gibt es sowohl im primären als auch im sekundären Gemeinschaftsrecht durchaus Begriffsbildungen, die speziell für die neuen Rechtskonzepte der Gemeinschaft entwickelt
368 So Weyers, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 151 (154); ähnlich BauerBernet, RevLD 1989, S. 15 (21); Sanmarti Roset, Las politicas lingüisticas, S. 152. 369 Vgl. die einschlägigen Literaturhinweise bei de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (283). 370 Dazu Sarcevic, Legal Translation, S. 14 f. 371 Dazu näher unten 3. Kap. C. I. 3. b).
116
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
worden sind. 372 In der Mehrzahl der Fälle werden im Gemeinschaftsrecht als einer im Aufbau befindlichen Gemeinschaftsrechtsordnung aber Termini verwendet, die den nationalen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten entlehnt sind, da die Verfasser der Rechtstexte diese Begriffe beherrschen und bei der Formulierung zur Verfügung haben. 373 Zugespitzt könnte man sagen, dass viele Rechtstexte des Gemeinschaftsrechts mit einer falschen, nämlich einer national geprägten Begrifflichkeit formuliert sind, die durch die Interpretationstätigkeit des Europäischen Gerichtshofs erst allmählich in eine gemeinschaftsrechtliche Begrifflichkeit umgewandelt werden. 374 Um die national geprägten Begriffe ihrer „Lokalfarbe" zu entkleiden und mit einem gemeinschaftsrechtlichen Sinn zu versehen, ist somit ein Vergleich der verschiedenen Rechtssprachen und Rechtssysteme geboten.
bb) Die wechselseitige Beeinflussung zwischen gemeinschaftsrechtlicher und nationaler Rechtssprache Bei der Frage der Bedeutungsdivergenzen im Gemeinschaftsrecht ist des Weiteren zu bedenken, dass die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften von den nationalen Rechtsordnungen nicht klar getrennt werden kann. Vielmehr ist das Gemeinschaftsrecht wegen der unmittelbaren Geltung bzw. Wirkung bestimmter Rechtshandlungen in den Mitgliedstaaten 375 gleichzeitig Teil der nationalen Rechtssysteme der Mitgliedstaaten. Aufgrund der vielfältigen Verzahnungen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht 376 nehmen auch die Adressaten der Rechtsnormen das Gemeinschaftsrecht nicht als einheitliches, von den nationalen Rechtsordnungen abgekoppeltes Rechtssystem wahr. Wenn die verwendeten Begriffe keine Neologismen in Form originär gemeinschaftsrechtlicher Rechtsschöpfungen sind, sondern aus dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten stammen, wird der unbefangene Rechtsanwender unbewusst sein tradiertes Rechtsdenken in die Auslegung einfließen lassen. Dass es dadurch zu Bedeutungsschwankungen je nach dem nationalen Rechtsverständnis kommt, liegt auf der Hand. Aber selbst die Schaffung von Neologismen im Gemeinschaftsrecht garantiert keine dauerhafte Trennung des gemeinschaftsrechtlichen und des einzelstaatlichen Rechtsvokabulars. Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass das nationale Recht nach einer gewissen Zeit
372
Vgl. die Beispiele bei Goffin, in: Laforge (Hrsg.), Aménagement Linguistique, S. 365 (373 f.). Kjœr , in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (71). 374 So Kjœr, in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (71); vgl. auch de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (283) mit dem Hinweis, dass sich im Europarecht „allmählich" eine internationale mehrsprachige Terminologie entwickelt. 375 Vgl. Streinz, Europarecht, Rdn. 375 ff. 376 Dazu näher Streinz, Europarecht, Rdn. 175 ff. 373
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diese Neologismen rezipiert und für das einzelstaatliche Recht fruchtbar macht, dabei den Begriffen aber möglicherweise einen anderen Inhalt zumisst. 377 Die Europäische Union stellt damit nicht nur eine mehrsprachige, sondern auch eine rechtspluralistische Rechtsordnung dar. Die rechtskulturelle und sprachliche Vielfalt der Mitgliedstaaten ist beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts (noch) nicht durch eine gemeinschaftssprachliche und gemeinschaftsrechtliche Einheitlichkeit ersetzt worden. Die Bedeutungsprobleme im mehrsprachigen Gemeinschaftsrecht ergeben sich daraus, dass aus Formulierungen in elf bzw. zwölf Sprachen und aus Begriffen, die fünfzehn nationalen Rechtsordnungen entstammen, im Prinzip ein Sinn zu ermitteln ist. Wie es dabei im Einzelnen zu Bedeutungsdivergenzen kommen kann, soll in den zwei nunmehr folgenden Abschnitten dargelegt werden.
c) Unbewusste Bedeutungsdivergenzen: Fehlende juristische Qualifikation der Übersetzer Unbewusste Bedeutungsdivergenzen, die bei der Verabschiedung der Rechtsakte von den am Rechtssetzungsverfahren Beteiligten nicht erkannt wurden, sind regelmäßig auf spezifische Schwierigkeiten der mehrsprachigen Gesetzgebungstechnik zurückzuführen. Die größte Rolle spielen in diesem Zusammenhang mangelhafte, da ohne hinreichendes rechtsvergleichendes Bemühen vorgenommene Übersetzungen des Sprachendienstes.
aa) Das Problem der Äquivalenz der Rechtsbegriffe Die Schwierigkeiten, mit denen die Übersetzer in der Europäischen Union konfrontiert sind, scheinen dabei auf den ersten Blick mit denjenigen anderer juristischer Übersetzer identisch zu sein. 378 Die im Urtext verwendeten Termini, die vom Verfasser oft unbewusst aus dem ihm bekannten einzelstaatlichen Rechtssystem entlehnt werden und zunächst mit dieser „nationalen" Bedeutung behaftet sind, müssen adäquat in die übrigen Gemeinschaftssprachen übertragen werden. Dabei entstehen Übersetzungsprobleme nicht nur dann, wenn die bezeichneten Rechtsinstitute in anderen Rechtsordnungen überhaupt nicht existieren, sondern auch dann, wenn ihnen vermeintlich ein Fachterminus in den übrigen Rechtssprachen entspricht, der jedoch einen anderen Bedeutungsgehalt als in der „Ausgangsrechtsordnung 44 aufweist. 379 Im letztgenannten Fall ergeben
377
Vgl. dazu Tabory, Multilingualism, S. 132. Dazu allgemein de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (287 ff.); Mincke, ARSP 1991, S. 446 ff. 379 Vgl. zu diesen zwei Fallgruppen auch Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 255 (259). 378
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
sich besondere Schwierigkeiten bei der Übersetzung linguistisch verwandter Rechtssprachen, wie sie in der Europäischen Union häufiger vorkommen. 380 Hier laufen die Übersetzer besonders leicht Gefahr, juristischen „faux amis" aufzusitzen, die in Ausgangs- und Zielsprache identisch wirken, aber gerade eine unterschiedliche Bedeutung aufweisen. 381 Auch gibt es Wörter, die in manchen Sprachen als juristische Fachbegriffe verwendet werden, in anderen Sprachen aber nur in einem alltagssprachlichen Kontext vorkommen und dadurch spezifische Übersetzungsschwierigkeiten für juristisch nicht qualifizierte Übersetzer darstellen. 382 Diese allgemeinen Schwierigkeiten, mit denen letztlich alle Übersetzer juristischer Texte konfrontiert sind, sind auch für die Mitglieder des Sprachendienstes der Europäischen Union von Bedeutung. Im gemeinschaftsrechtlichen Kontext gewinnen sie aber eine spezifische Dimension.
bb) Die Dynamik der Rechtssprache in der Europäischen Union Die Dynamik der Rechtssprache in der Europäischen Union als einer im Aufbau begriffenen Rechtsordnung stellt die Übersetzer vor besondere Herausforderungen. Oben wurde dargelegt, dass die Hauptschwierigkeit bei der Übersetzung juristischer Texte in der Systemgebundenheit der Rechtssprache liegt, die es erfordert, bei der Übersetzung von Rechtsbegriffen ihre Funktion und Bedeutung im Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung zu berücksichtigen. Während aber bei der Übersetzung von Texten eines einsprachigen nationalen Rechtssystems in eine andere Sprache „nur" versucht werden muss, ein potentielles Äquivalent des zu übersetzenden Begriffs in der anderen Sprache zu finden, ist bei der Übersetzung gemeinschaftsrechtlicher Texte gleichsam als Vorfrage zu klären, an welches System der Autor die von ihm verwendeten Begriffe überhaupt gebunden hat. So kann es sein, dass die in der Urfassung verwendeten Termini noch mit einer nationalen Begrifflichkeit behaftet sind, aber auch, dass sie vom Autor des Entwurfs bereits mit einer originär gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung verwendet wurden. Gerade für nicht juristisch qualifizierte Übersetzer ist es schwierig zu ermitteln, aus welcher Rechtsordnung der zu übersetzende Begriff seine Bedeutung schöpft bzw. welche Bedeutung einem ursprünglich national geprägten Begriff im gemeinschaftsrechtlichen Kontext zukommt. 383
380 So sind etwa die deutsche und die niederländische Rechtssprache linguistisch eng verwandt, wohingegen sich die dazugehörigen Rechtssysteme in Inhalt und Systematik erheblich voneinander unterscheiden, vgl. dazu de Groot, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 407 (410); de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (295 ff.). 381 Vgl. auch die Beispiele bei von Donat, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 77 (82 f.). 382 Vgl. dazu Mincke, ARSP 1991, S. 446 (458 ff.). 383 So Kjœr , in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (72 ff.).
C. Mehrsprachigkeit und die Erstellung von Rechtstexten
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Erschwert wird dem Übersetzer seine Aufgabe noch durch die Spezifika des gemeinschaftsrechtlichen Rechtssetzungsverfahrens. Zum einen werden, wie oben dargestellt, viele Entwürfe von Rechtsakten - ungeachtet der Muttersprache des Redaktors - in einer der beiden linguae francae der Gemeinschaft abgefasst. 384 So kommt es, dass sich viele Autoren einer fremden Rechtssprache bedienen, dabei aber gleichzeitig von Rechtsinstituten ausgehen, wie sie ihnen aus ihrem nationalen Rechtsdenken geläufig sind. Diese nationalen Rechtskonzepte werden dann von den Gesetzesredaktoren oft unvollkommen und unklar in der „Verkehrsrechtssprache" wiedergegeben, was die nicht juristisch geschulten Übersetzer vor besondere Verständnis- und Übertragungsschwierigkeiten stellt. 385 Zum anderen ist zu bedenken, dass die ursprünglichen Gesetzesentwürfe im Laufe des Rechtssetzungsverfahrens oft von einer Vielzahl von Redaktoren mit einem unterschiedlichen nationalen Verständnishorizont bearbeitet und verändert werden, so dass die ursprünglich dahinterstehende Konzeption verwischt wird und das schließlich zu übersetzende Dokument insgesamt nicht mehr aus „einem Guss" ist. 3 8 6 Die Spezifika des gemeinschaftsrechtlichen Rechtssetzungsverfahrens erhöhen damit das Risiko unbewusster Bedeutungsdivergenzen.
cc) Unzureichende praktische Lösung der Übersetzungsaufgaben Schließlich spielen in diesem Zusammenhang die unzureichenden praktischen Lösungen der Übersetzungsaufgaben eine Rolle. Zwar dürfen in der Europäischen Gemeinschaft Übersetzungen grundsätzlich nur aus der fremden Sprache in die eigene Sprache des Übersetzers angefertigt werden. 387 Dadurch soll das Risiko des Entstehens von Bedeutungsdivergenzen, die auf mangelhafter Kenntnis des fremden Rechts beruhen, verringert werden. Diese Maßnahme läuft aber angesichts der fehlenden juristischen Qualifikation der Übersetzer weitgehend ins Leere, da diese meist schon keine hinreichende Kenntnis ihres eigenen Rechtssystems haben. Auch die Hilfsmittel, derer sich die Übersetzer des Sprachendienstes bedienen, können die Entstehung von Bedeutungsdivergenzen nicht verhindern, sondern begünstigen sie manchmal geradezu. Glossare und Terminologielisten zu verschiedenen Bereichen des Gemeinschaftsrechts mögen bei der Verhinderung von Begriffsdivergenzen hilfreich sein. Ihre schematische Benutzung kann aber - ähnlich wie der Gebrauch zweisprachiger Wörterbücher - zu Bedeutungsdivergenzen führen, wenn nicht beachtet wird, dass ein Begriff in einer Sprache mehrere verschiedene Bedeutungen haben
384
2. Kap. C. I. 3. a). Vgl. dazu Kjcer, in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (74); Mills, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 471 (473). 386 Mills, in: Nekeman (Hrsg.), Translation, S. 471 (472). 387 van Ginsbergen, ZfRV 1970, S. 1 (10). 385
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
kann, die jeweils unterschiedlich in die anderen Amtssprachen übertragen werden müssen.388 Gleiches gilt, wenn nicht in noch stärkerem Maße, für den zunehmenden Einsatz automatischer Übersetzungshilfen auf Gemeinschaftsebene. Diese verschiedenen Computerprogramme, die bei der mechanischen Übersetzung einzelner Begriffe durchaus eine gewisse Arbeitserleichterung bringen können, erweisen sich bei der Übertragung ganzer Sinneinheiten in ihrem jeweiligen Kontext als völlig unbrauchbar. 389 Schließlich kann auch die Tatsache, dass die Übersetzungen des Sprachendienstes bei der Schlussredaktion der Rechtsakte von den Rechts- und Sprachsachverständigen überprüft werden, das Risiko der Entstehung von Bedeutungsdivergenzen nicht vollständig ausschließen. Insbesondere ist zu bedenken, dass die Sprachjuristen nur eine relativ kleine Gruppe darstellen und daher einem ähnlichen Zeitdruck wie die Redaktoren des Rechtstextes und die Übersetzer des Sprachendienstes ausgesetzt sind. 390 Teilweise wird auch darauf hingewiesen, dass sich die Rechts- und Sprachsachverständigen nicht in allen Amtssprachen der Gemeinschaft gleich gut auskennen würden, so dass sie die Bedeutung von Formulierungsvarianten nicht in allen Sprachen gleichermaßen beurteilen könnten. 391
d) Bewusste Bedeutungsdivergenzen: Rechtssetzungsverfahren als politischer Kompromiss Neben diesen unbewussten Bedeutungsdivergenzen, die meist von den Übersetzern der Sprachendienstes zu verantworten sind bzw. generell auf sachlich bedingten Schwierigkeiten im Rechtssetzungsverfahren beruhen, gibt es eine weitere Gruppe der Divergenzen im Denken: Sinndivergenzen, die von den politisch Verantwortlichen des Rechtssetzungsverfahrens billigend in Kauf genommen oder sogar bewusst provoziert wurden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Tatsache zu nennen, dass das Rechtssetzungsverfahren in der Gemeinschaft angesichts der fortbestehenden oder gar noch gestiegenen Bedeutung nationaler Interessen aus politischen Kompromissen besteht, 392 die sich oft auf sprachlicher Ebene niederschlagen. 393 Nicht selten werden Rechtsakte im Rat verabschiedet, obwohl bestimmte sachliche Probleme oder politi388 van Ginsbergen, ZfRV 1970, S. 1 (10); zum Risiko der schematischen Benutzung von Wörterbüchern, auch und gerade von Wörterbüchern der Rechtssprache, s.a. Mezger, JZ 1963, S. 520 (520). 389 Vgl. dazu die Anekdote bei de Groot, T & T 1991/3, S. 279 (280) über die computerisierte Übersetzung eines Textes von der Ausgangs- und die Zielsprache und dann zurück in die Ausgangssprache, die zu einem Ergebnis führte, das mit dem Urtext überhaupt nichts mehr zu tun hatte. 390 Bruha, in: Bruha/Seeler, Die Europäische Union und ihre Sprachen, S. 83 (100); Morgan, Multilingua 1982/2, S. 109 (115); Wägenbaur, EuZW 1993, S. 713 (713). 391 Kjœr , in: Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten, S. 63 (67). 392 Vgl. dazu Pescatore, RevInstEur 1996, S. 7 (22). 393 Due, FS Schockweiler, S. 73 (76); Pescatore, ZEuP 1998, S. 1 (5); Schütte, LeGes 1992/2, S. 11 (35).
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sehe Differenzen nicht rechtzeitig beigelegt werden konnten. 394 Die fehlende Einigung über den Vertragsinhalt muss dann auf sprachlicher Ebene kaschiert werden, wofür die Mehrsprachigkeit der Rechtssetzung einen weiten Spielraum eröffnet. Hier bietet sich als probates Mittel die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe oder sonstiger Termini an, denen ersichtlich ein unterschiedliches Verständnis in den verschiedenen Mitgliedstaaten zugrunde liegt. Um mühsam errungene politische Kompromisse nicht zu gefährden, werden bewusst verschwommene oder unverständliche Formulierungen verwendet, die den einzelnen Mitgliedstaaten einen Auslegungsspielraum eröffnen, der ihnen eigentlich überhaupt nicht zukommen sollte. 396 Gerade bei der Erstellung der weiteren Sprachfassungen eines mehrsprachigen Textes bietet sich eine hervorragende Möglichkeit, die in der Sachdiskussion offengebliebenen Fragen zu vertuschen. 397 Dabei lässt es sich beobachten, dass die Häufigkeit der Verwendung unklarer und mehrdeutiger Begriffe proportional zu der Zahl der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union ansteigt. 398
4. Fazit: Die Vermeidbarkeit und Unvermeidbarkeit von Sprachdivergenzen Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei der Entstehung von Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht die verschiedensten Gründe eine Rolle spielen. Neben Begriffsdivergenzen, die auf persönliche Unzulänglichkeiten der Beteiligten zurückzuführen sind und bei mehr Zeit und Sorgfalt hätten vermieden werden können, stehen Bedeutungsdivergenzen, die aus der Unmöglichkeit resultieren, Vorstellungs- und Rechtsinhalte vollständig in eine andere Sprache zu übertragen. Vereinfacht kann man sagen, dass Begriffsdivergenzen
394 Schütte, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 88 (99) weist darauf hin, dass sogar schon während der Beratungen in den Organen manchmal ein formeller Konsens aufrechterhalten wird, indem drohende inhaltliche Divergenzen zu Verständnisproblemen umdefiniert werden, die aufgrund angeblich mangelhaften Dolmetschens oder fehlerhafter Übersetzungen entstanden seien. Teilweise werde sogar ausgehandelt, ob Divergenzen als sprachliche Probleme definiert werden sollen (und dann als nur „technisches Problem" an den Übersetzungsdienst delegiert werden) oder einen inhaltlichen Dissens markieren. 395 Born, SprRep 1992/2-3, S. 1 (2); von Donat, in: Born/Stickel (Hrsg.), Verkehrssprache, S. 77 (82); C. Luttermann, in: de Groot/Schulze (Hrsg.), Recht und Übersetzen, S. 115 (115); Luttermannι, ZVglRWiss 2002, S. 158 (167). 396 Vgl. Hilf, Auslegung, S. 25; zu einem konkreten Beispiel in der Vergaberichtlinie Hailbronner, EWS 1995, S. 285 (287); vgl. des Weiteren den Rechtsstreit über die Auslegung der Fernsehrichtlinie im Sinne des Brutto- oder Nettoprinzips: Generalanwalt Jacobs, SchlA zu EuGH, Rs. C6/98, ARD, Slg. 1999,1-7599, 7610 (Rdn. 36) wies anhand der Entstehungsgeschichte der Richtlinie nach, dass aufgrund der Meinungsverschiedenheiten in den Rechtssetzungsorganen absichtlich eine mehrdeutige Formulierung beibehalten wurde. 397 Vgl. Hilf Auslegung, S. 91 Fn. 394; Luttermann, EuZW 1998, S. 151 (154 f.); Luttermann, JZ 1998, S. 880 (881). 398 Heynold, T & T 1999/3, S. 5 (6).
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Redaktionsversehen 399 bzw. „bloße Übersetzungsfehler" sind, die auf Eile, Normflut und Verwendung technischer Begriffe beruhen, während Bedeutungsdivergenzen „echte Verständnisfehler" darstellen, für die die Unübersetzbarkeit von Begriffen und die unterschiedlichen nationalen Verständnishorizonte verantwortlich sind. Die von manchen Autoren aufgestellte These von der Unvermeidbarkeit der Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht 400 ist daher nur in Bezug auf Bedeutungsdivergenzen zutreffend. Sprachdivergenzen sind nur dann unvermeidbar, wenn wegen der Verschiedenheit der Sprachen oder der Bedeutung bestimmter Rechtsinstitute genaue Übersetzungen von vornherein nicht zu erreichen sind. Die Auslegung der Gemeinschaftsrechtstexte, die mit Begriffs- oder Bedeutungsdivergenzen behaftet sind, wird im Folgenden Kapitel untersucht. In diesem Zusammenhang wird anhand einer Analyse der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung auch darauf eingegangen, welche Gesichtspunkte für die Entstehung von Sprachdivergenzen in der Praxis die größte Bedeutung haben und in welchen Rechtsgebieten es am häufigsten zu derartigen Divergenzen kommt. Erst eine Gewichtung und Bewertung der verschiedenen Faktoren wird es ermöglichen, tragfähige Lösungen zur Vermeidung von Sprachdivergenzen zu erarbeiten.
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Rolle der Mehrsprachigkeit bei der Entstehung von Rechtsnormen beleuchtet. Dabei wurde deutlich, dass der Vorteil der Mehrsprachigkeit in ihrer „erzieherischen Funktion" bei der Erstellung von Rechtsakten liegt, dass ihr Nachteil aber im Auftreten von Sprachdivergenzen zu sehen ist. Diese müssen bei der Rechtsanwendung im Wege der Auslegung überwunden werden.
I. Rechtstheoretische Fundierung der Auslegung 1. Funktion und Ziel der Auslegung In der Jurisprudenz als „verstehender Wissenschaft" 401 geht es um das Verstehen von sprachlichen Äußerungen, das im Wege der Auslegung erfolgt. 402 399 Mit Redaktionsversehen wird der Fall bezeichnet, dass die Gesetzesredaktoren lediglich versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen haben, als sie beabsichtigten, vgl. Larenz/Canaris, Methoden lehre, S. 219. 400 van Calster, Y.E.L. 1997, S. 363 (369); Labrie, La construction linguistique, S. 93, 139; Weber, in: G/T/E, Art. 248 Rdn. 6. 401 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 25. 402 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 312.
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Auslegung kann daher als vermittelndes Tun bezeichnet werden, durch das der Auslegende den Sinn des Textes „zum Sprechen" bringt. 403 Alle Rechtstexte sind in dieser Weise der Auslegung fähig und bedürftig, weil sie in der an die Umgangssprache angelehnten Rechtssprache abgefasst sind, 404 deren Ausdrücke regelmäßig einen Spielraum lassen, der zahlreiche Bedeutungsvarianten möglich macht. 405 Aus der Variationsbreite der Wortbedeutungen in der allgemeinen Sprache ergibt sich eine Eigentümlichkeit des Verstehensprozesses, die unter der Bezeichnung des „hermeneutischen Zirkels" bekannt ist. 4 0 6 Weil die jeweilige Bedeutung der einzelnen Worte sich erst aus dem Sinnzusammenhang des Textes ergibt, umgekehrt aber der Text endgültig erst aus der jeweils zutreffenden Bedeutung der ihn bildenden Worte zu entnehmen ist, kann der Interpret das ,»richtige" Textverständnis nur im Wege eines Prozesses des Voraus- und Zurückblickens ermitteln. Der Interpret muss also bei den einzelnen Worten schon auf den erwarteten Sinnzusammenhang des Textes vorausblicken, von diesem aus aber zumindest bei Zweifeln auf die von ihm zunächst angenommene Wortbedeutung zurückblicken und diese gegebenenfalls korrigieren. 407 Der Interpret tritt bereits zu Beginn des Verstehensprozesses mit einer bestimmten Sinnerwartung an den Text heran, die er aufgrund seines „Vorverständnisses" gebildet hat. 408 Dieses Vorverständnis resultiert nicht nur aus den sozialen Zusammenhängen sowie dem Wissen des Interpreten um rechtliche Probleme und Lösungsmöglichkeiten, sondern auch aus der Sprache, der sich der Rechtssetzer bedient. 409 Mit dieser Feststellung ist bereits eine besondere Schwierigkeit des Verstehensprozesses im mehrsprachigen Kontext des Gemeinschaftsrechts aufgetan, weil hier das Vorverständnis des nationalen Richters durch die Eigenarten seiner nationalen Rechtsordnung geprägt ist und sich damit von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheidet. Die Frage, wie der Rechtsanwender vorgeht, wenn er das Recht auslegt, wird unter dem Stichwort der Methoden der Auslegung diskutiert. Teilweise wird statt von „Auslegungsmethoden" auch von „Auslegungskriterien" oder „Auslegungsgrundsätzen" gesprochen, 410 so dass diese Begriffe im Folgenden gleichbedeutend nebeneinander verwendet werden sollen. 411 Die Gewichtung der Auslegungskriterien hängt von den unterschiedlichen Theorien über das Ziel der Auslegung ab. Während nach der subjektiven Theorie Ziel der Auslegung die Ermittlung des historischen Willens des Gesetzgebers ist, geht die objektive Theorie davon aus, dass stets der dem Gesetz immanente, normative Sinn er403 404 405 406 407 408 409 4.0 4.1
LarenzJ Canaris y Methodenlehre, S. 26, 133 f. Zur Problematik der Einstufung der Rechtssprache als Fachsprache vgl. oben 1. Kap. Α. I. 3. Larenz/ Canaris, Methoden lehre, S. 26, 133, 141 f. Heidegger, Sein und Zeit, § 32; vgl. auch Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 270 ff., 296 ff. Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 28. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, passim. Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 30 f. Vgl. z.B. Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-5 ff. Zur Verwendung des Begriffs „Auslegungsregeln" s. sogleich 2. Kap. D. III. 2.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
schlossen werden muss. 412 Nach einer vermittelnden Ansicht ist Ziel der Gesetzesauslegung zwar grundsätzlich die Ermittlung des heute rechtlich maßgeblichen Sinnes des Gesetzes. Dieser Sinn kann aber nur unter Berücksichtigung der Regelungsabsichten und der konkreten Normvorstellungen des historischen Gesetzgebers festgestellt werden. 413
2. Auslegungskriterien im europäischen Methodenkanon a) Die deutsche Methodenlehre Die deutsche Methodenlehre knüpft an Savignys System der juristischen Hermeneutik an. Savigny unterschied das „grammatische", „logische", „historische" und „systematische" Element der Auslegung, 414 wobei nach seiner Diktion das logische Element „die Gliederung des Gedankens" zum Gegenstand hatte. 415 Während Savigny die neben diesen vier Elementen stehende ratio legis nicht als eigenständiges Auslegungskriterium anerkannte und ihre Berücksichtigung mit Skepsis betrachtete, 416 trat im Laufe der Zeit und im Zuge der stärkeren Hinwendung zum objektiven Sinn des Gesetzes die teleologische Interpretation immer mehr in den Vordergrund. 417 Die verschiedenen Auslegungskriterien sind grundsätzlich nebeneinander zu berücksichtigen; der Auslegende kann nicht etwa zwischen den verschiedenen Methoden wählen. 418 Obwohl der Übergang von der Auslegung zur Lückenfüllung mittels Analogie oft fließend ist, 4 1 9 wird in der deutschen Methodenlehre Savignys Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung weitgehend aufrechterhalten. 420 Lässt sich die gefundene Lösung noch mit dem Wortsinn des geschriebenen Rechts vereinbaren, so handelt es sich um Auslegung; geht sie darüber hinaus, so ist die Grenze zur Rechtsfortbildung überschritten. 421 Vereinfacht gesagt wird die Befugnis des Richters zur Lückenfüllung mittels Analogien grundsätzlich anerkannt, wenn sie sich im Rahmen der Teleologie des Gesetzes selbst oder aber 412
Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 98. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139. 414 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, S. 213 ff. 4,5 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, S. 214. 416 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, S. 217 ff., insbes. S. 220: „Ungleich bedenklicher, und nur mit großer Vorsicht zulässig, ist der Gebrauch des Gesetzesgrundes zur Auslegung der Gesetze (...)". 4,7 Vgl. zur teleologischen Auslegung näher Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 153 ff. 418 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 140. 419 Dies betrifft insbesondere Rechtsgebiete, die durch die häufige Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen gekennzeichnet sind, vgl. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 70. 420 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 188; vgl. auch Pawlowski, Methodenlehre, Rdn. 458. 421 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 23, 197; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 100 f.; für Österreich Bydlinski, Methodenlehre, S. 467 ff. 413
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zumindest innerhalb des Rahmens und der leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung hält. 422
b) Hermeneutische Systeme in anderen Mitgliedstaaten In anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich ebenfalls im Laufe der Zeit hermeneutische Systeme entwickelt, die sich teilweise von der deutschen Methodenlehre unterscheiden, in weiten Bereichen aber auch Parallelen zum deutschen System aufweisen. 423 Beispielsweise spielt im angloamerikanischen Raum traditionell der Wortlaut eine größere Rolle bei der Auslegung als in kontinentalen Rechtssystemen;424 andererseits lässt sich dem britischen Interpretation Act von 1978 die Leitlinie entnehmen, dass neben dem Wortlaut auch der Sinn und Zweck des Gesetzes zu berücksichtigen ist. 4 2 5 Während sich die Lehre in Frankreich früher auf eine grammatische und logische Exegese des Gesetzestextes konzentrierte, werden heute neben dem logischen und systematischen Zusammenhang der Norm auch ihr Sinn und Zweck sowie die Ergebnisse soziologischer und rechtsvergleichender Forschung berücksichtigt. 4 6 Nach französischem Verständnis umfasst die „interprétation" nicht nur die durch den Wortlaut begrenzte Auslegung im Sinne der deutschen Rechtsvorstellung, sondern auch die Lückenfüllung und Rechtsfortbildung. 427 In Spanien sieht Art. 3 Abs. 1 des Código Civil einen Methodenkanon vor, der dem deutschen hermeneutischen System sehr ähnlich ist. Er bestimmt, dass Normen nach ihrem gewöhnlichen Wortlaut, ihrem systematischen Zusammenhang, ihren historischen Vorläufern, den sozialen Gegebenheiten sowie ihrem Geist und Ziel auszulegen sind. Ausgehend von diesen Beispielen kann als allgemeine Leitlinie festgehalten werden, dass bei der Auslegung neben dem Wortlaut auch Zusammenhang, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm zu berücksichtigen sind, wobei sich die Gewichtung der einzelnen Faktoren nicht nach einer strikten Rangfolge, sondern nach den Gegebenheiten des Einzelfalls richtet. Während zeitweise die teleologische Auslegung eine sehr große Rolle spielte, soll nach Ansicht der Rechts vergleicher in jüngerer Zeit wieder eine stärkere Hinwendung zum Wortlaut der Norm zu beobachten
422 Vgl. dazu im Einzelnen Larenz! Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff.; ähnlich Bydlinski, Methodenlehre, S. 472 ff. 423 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-5. 424 Zur Gesetzesauslegung im Common Law eingehend ZweigertlKötz, Rechtsvergleichung, S. 259 ff. 425 Vgl. Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 227 f. m.w.N.; vgl. auch die Urteile bei Zweigertl Kötz, Rechtsvergleichung, S. 260 f. 426 Zweigertl Kötz, Einführung in die Rechts vergleichung, S. 95. 427 Buck, Auslegungsmethoden, S. 102; Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rdn. 451. 428 Jay me, Rechtsvergleichung, S. 130 f.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
3. Die Rolle des EuGH Art. 220 EGV weist dem Europäischen Gerichtshof die Aufgabe zu, „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung" der Gründungsverträge zu sichern. Doch bereits der Begriff der Auslegung im Sinne des Art. 220 EGV ist auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. 4 9 Streit ergibt sich hierbei aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher nationaler Rechtsvorstellungen über die Funktion und Reichweite der Auslegung. In bezug auf das Gemeinschaftsrecht gehen der EuGH und im Anschluss daran die herrschende Lehre davon aus, dass der Gerichtshof in Anlehnung an die französische Tradition auch die Befugnis zur rechtsfortbildenden Auslegung besitzt. 430 Umstritten ist, ob sich die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs nach denen des Völkerrechts oder denen des nationalen Rechts richten, oder ob aufgrund der Besonderheiten der europäischen Rechtsordnung dem Interpretationsvorgang eigenständige Regeln zugrunde liegen. 431 Einige Autoren befürworten mit Hinweis auf den völkerrechtlichen Ursprung des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich eine Inanspruchnahme des völkerrechtlichen Methodenkanons, wobei sie aber gleichzeitig für eine Reihe von Modifikationen und Ergänzungen eintreten. 432 Unter Bezugnahme auf den im Gemeinschaftsrecht bereits erreichten Integrationsstand und die „verfassungsrechtliche" Rolle des Gerichtshofs sieht eine andere Ansicht demgegenüber die im Recht der Nationalstaaten gebräuchlichen Methoden der Verfassungsinterpretation als Ausgangspunkt der Auslegung an. 433 Allerdings werden auch aus dieser Perspektive spezifische Gewichtungen und Akzentuierungen vorgeschlagen, um den Besonderheiten der europäischen Rechtsordnung Rechnung zu tragen. 434 Von wieder anderen Autoren wird schließlich einen Rückgriff auf spezielle europarechtliche Grundsätze favorisiert. Dies wird mit den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts sowohl im Verhältnis zu den nationalen Rechtsordnungen als auch gegenüber dem Völkerrecht begründet. 435
429
Schulze, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung, S. 9 (11 f.). Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-12; des Weiteren Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/12; Schulze, ZfRV 1997, S. 183 (188); Schulze, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung, S. 9 (12) mit zahlreichen Nachweisen. 431 Ausführliche Darstellung des Streitstands etwa bei Buck , Auslegungsmethoden, S. 130 ff. 432 Vgl. etwa Bernhardt, FS Kutscher, S. 17 (20 f.); Bernhardt, FS Bindschedler, S. 229 (236 f.); Bleckmann, NJW 1982, S. 1177 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rdn. 537 f.; Ress, in: Bieber/Ress (Hrsg.), Dynamik des EG-Rechts, S. 49 (51 f.). 433 So etwa Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 228 ff; Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-6 f.; Mertens de Wibnars, CDE 1986, S. 5 (8 f.); vgl. auch Oppermann, Europarecht, Rdn. 680. 434 Vgl. nur Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-6 f. 435 Vgl. z.B. Bredimas, Methods of Interpretation, S. 13 ff.; Degan, RTDE 1966, S. 189 (197 ff.), der insbesondere die Unterschiede zwischen den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs herausarbeitet; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 5 Rdn. 70 ff.; Megret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 9; Nicolaysen, EuR 1972, S. 375 (381). 430
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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Vergleicht man die verschiedenen Standpunkte miteinander, so stellt man fest, dass sie sich zwar in ihrer dogmatischen Begründung unterscheiden, im wesentlichen aber nicht zu grundlegenden Unterschieden bei der Bewertung der Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs führen. 436 Auch die Befürworter eines autonomen „europäischen" Methodenkanons kommen nicht ohne Rückgriff auf die aus dem Völkerrecht und den Rechtsordnungen der Nationalstaaten bekannten Auslegungsmethoden aus. 437 Sachgerecht erscheint daher die vermittelnde Feststellung, dass der Gerichtshof bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts sowohl völkerrechtliche als auch einzelstaatliche Auslegungstechniken als Orientierung heranzieht und aus deren Zusammenspiel eine gemeinschaftsrechtliche Interpretation entwickelt, bei der er eigenständige Schwerpunkte setzt und die bekannten Auslegungskriterien in spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Weise gewichtet. 438
II. Auslegungsmethoden in der Rechtsprechung des EuGH Die Bewältigung der aus der Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts resultierenden Interpretationsprobleme stellt eine zentrale Fragestellung bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts dar. Daher soll zunächst der allgemeine Diskussionsstand über die Auslegungsmethoden in der Rechtsprechung des EuGH wiedergegeben werden, um anschließend aufzeigen zu können, ob und inwieweit sich bei der Behandlung von Sprachdivergenzen Unterschiede zur „herkömmlichen" Auslegung des Gemeinschaftsrechts ergeben. Der Gerichtshof selbst äußert sich nicht in abstrakter Form zu den von ihm verwendeten Auslegungsgrundsätzen. 439 Deren Systematisierung bleibt vielmehr der europarechtlichen Wissenschaft überlassen, so dass Bedeutung und Gewichtung der einzelnen Auslegungsmethoden notwendigerweise nicht einheitlich beurteilt werden. Die Meinungsverschiedenheiten über den Inhalt der Auslegungsgrundsätze und ihr Verhältnis zueinander sollen in der folgenden summarischen Darstellung nicht vertieft werden. Vorliegend soll es vielmehr darum gehen, eine Grundlage für die weiteren Erörterungen zu schaffen, wie die aus der Mehrsprachigkeit des Gemeinschaftsrechts resultierenden spezifischen Auslegungsprobleme zu lösen sind.
436 Dies gilt selbst für die Heranziehung völkerrechtlicher Auslegungsgrundsätze, da auch bei der Auslegung im Völkerrecht inzwischen eine Abwendung von den stark souveränitätsbezogenen Maximen stattgefunden hat, vgl. dazu Bernhardt, FS Kutscher, S. 17 (19 f.); Bleckmann, Europarecht, Rdn. 538. 437 So ausdrücklich Mégret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 9; vgl. auch Buck, Auslegungsmethoden, S. 141 f. 438 Oppermann, Europarecht, Rdn. 681; vgl. auch Lecheler, Einführung in das Europarecht, S. 141 f. 439 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-6; Schulze, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung, S. 9
(12).
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
1. Die einzelnen Auslegungsmethoden Die Mehrzahl der Autoren ordnet die vom EuGH verwendeten Kriterien der Auslegung im wesentlichen in struktureller Parallele zum oben genannten Auslegungskanon ein und unterscheidet demzufolge die grammatische, systematische, teleologische und historische Methode.4 0 Kutscher erweitert diese Systematisierung noch um die Rechtsvergleichung. 441 Die im Folgenden zu diskutierenden Auslegungsmethoden gelten grundsätzlich für die Gründungsverträge und das organgeschaffene Sekundärrecht gleichermaßen, 442 was aber eine gesonderte Beurteilung bei einzelnen Fragen nicht ausschließt.
a) Wortlautauslegung Im Gemeinschaftsrecht gilt als erster Grundsatz, dass der Wortlaut des Textes zunächst aus sich selbst heraus auszulegen ist; 4 4 3 dies wird als Wortlautauslegung bzw. grammatische, exegetische, semantische oder grammatikalische Auslegungsmethode bezeichnet.444 Hierbei ist der normale und natürliche Sinn der Worte 445 im unmittelbaren Zusammenhang des Satzes, Absatzes oder Artikels zu ermitteln. 446 An dieser Stelle wird in der Literatur meist relativ knapp auf die beiden Problemkreise eingegangen, die den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden: Zum einen findet sich gewöhnlich die Feststellung, dass die wörtliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts dadurch erschwert werde, dass die Rechtsakte in allen Amtssprachen gleichermaßen verbindlich sind und daher in den verschiedenen Sprachfassungen voneinander abweichen können. 447 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei im Falle von Sprachdivergenzen der Wortlaut einer Vorschrift unter Berücksichtigung ihrer Fassungen in allen Amtssprachen sowie nach ihrem Sinn und Zweck und dem Gesamtsystem der Bestimmungen auszulegen.448 Zum anderen wird - ebenfalls meist im Rahmen
440 Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 229; Bleckmann, RIW 1987, S. 929 (930); Pernice, in: Grabitz!Hilf, Art. 164 Rdn. 23 ff.; Oppermann, Europarecht, Rdn. 682 ff.; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Communities, §§ 18 ff.; Schulze, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung, S. 9 (13). 441
Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-15; zusammenfassend Kutscher, EuR 1981, S. 392 (400 f.); zustimmend Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (9 ff.). 442 Vgl. Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (97 f.). 443 Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 145; Bleckmann, Europarecht, Rdn. 539; Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (10); Oppertnann, Europarecht, Rdn. 682. 444 Vgl. z.B. Bleckmann, Europarecht, Rdn. 539; Meyer, Jura 1994, S. 455 (456). 445 Hierzu z.B. Buck, Auslegungsmethoden, S. 165 ff.; Potacs, Auslegung, S. 47 f.; jeweils mit Rechtsprechungsnachweisen. 446 Bleckmann, Europarecht, Rdn. 539; Oppermann, Europarecht, Rdn. 682. 447 Vgl. nur Oppermann, Europarecht, Rdn. 683. 448 Vgl. exemplarisch die Darstellungen bei Bleckmann, NJW 1982, S. 1177 (1180); Mégret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 11; Meyer, Jura 1994, S. 455 (456).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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der grammatischen Auslegung 449 - die Notwendigkeit der autonomen Interpretation des Gemeinschaftsrechts bei Unterschieden in der sprachlichen Bedeutung einzelner Begriffe betont. 450 Das Gebot der einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts schließe einen Verweis auf den Wortsinn in den Sprachen der Mitgliedstaaten aus. 451 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen unterbleibt aber in der Mehrzahl der Darstellungen.
b) Systematische Auslegung Im Rahmen der systematischen Auslegung erforscht der EuGH den Sinn der Norm aus dem Zusammenhang und der Systematik des Rechtsakts.452 Im Unterschied zum Völkerrecht, in dem die systematische Auslegung mangels der Existenz eines geschlossenen Systems von Rechtsregeln nur eine geringe Rolle spielt, kommt ihr im Gemeinschaftsrecht als einer im Aufbau befindlichen Rechtsordnung ein große Bedeutung zu. Dies ergibt sich aus dem spezifischen Charakter der Europäischen Union und den besonderen Funktionen des Gerichtshofs. 453 Die systematische Auslegung umfasst insbesondere den Rückgriff auf allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts 454 sowie die harmonisierende Auslegung der in Rede stehenden Vorschrift mit den übrigen Normen der Gemeinschaftsrechtsordnung, 455 wobei sowohl der engere Zusammenhang als auch entfernter liegende Bestimmungen zu berücksichtigen sind. 456 Im Rahmen der letztgenannten Methode lässt sich die „vertikale" Auslegung - anhand höherrangigen Rechts - und die „horizontale" Auslegung - anhand anderer Rechtsakte der gleichen Stufe - unterscheiden, 457 so dass als wichtiger Unterfall der harmonisierenden Auslegung die vertragskonforme Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts angesehen werden kann. 458 Teilweise wird auch der Rückgriff auf den „Geist" des Vertrages, seine „économie générale", als Be449
Einordnung als selbständige Auslegungsregel demgegenüber bei Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (177 f.). 450 Vgl. z.B. Bleckmann, Europarecht, Rdn. 539; Oppertnann, Europarecht, Rdn. 682. 451 Vgl. nur Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (12). 452 Zahlreiche Rechtsprechungsbeispiele bei Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/133 ff. 453 Vgl. dazu eingehend Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-32 ff; Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (12 ff., 16). 454 Dazu Kutscher, Begegnung, S. 1-39 f.; Einordnung als eigenständige Auslegungsregel demgegenüber bei Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (178 f.). 455 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-40 f. 456 Systematische Auslegung „stricto sensu" und „lato sensu", vgl. Bredimas, Methods of Interpretation, S. 43; Potacs, Auslegung, S. 73; Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (102 f.). 457 Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (186 ff.). 458 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-40; Potacs, Auslegung, S. 74; Einordnung der vertragskonformen Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts als eigenständige „Auslegungshilfe" demgegenüber bei Oppermann, Europarecht, Rdn. 688. 9
Schübel-Pfister
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
standteil der systematischen Auslegung angesehen.459 Insoweit - wie auch hinsichtlich der Einbeziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze - sind allerdings die Grenzen zur teleologischen Auslegung fließend. 460
c) Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung stellt - zusammen mit systematischen Erwägungen - die zentrale Interpretationsmethode im Instrumentarium des EuGH dar. Anhand der teleologischen Auslegung soll der Sinn und Zweck der fraglichen Vorschrift ermittelt werden, wie er sich insbesondere aus der Präambel bzw. den Begründungserwägungen der Norm ergibt. 461 Da die systematische mit der teleologischen Methode eng und fast untrennbar verschränkt ist, 4 6 2 wird teilweise zusammenfassend von der systematisch-teleologischen Auslegung gesprochen. 463 Die herausgehobene Stellung der teleologischen Interpretation im Gemeinschaftsrecht wird in der Literatur mit dem spezifischen Charakter der Gemeinschaft begründet, die auf fortschreitende Integration der Mitgliedstaaten angelegt ist. 4 6 4 Des Weiteren wird für die Notwendigkeit einer dynamischen, evolutiven Auslegung auf die häufige Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe in den Gründungsverträgen hingewiesen.465 Schließlich wird argumentiert, dass der grammatischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht aufgrund der Mehrsprachenauthentizität und des daraus resultierenden Sprachdivergenzrisikos naturgemäß eine untergeordnete Rolle gegenüber der teleologischen Auslegung zukomme. 466 Im Rahmen der teleologischen Methode lassen sich verschiedene Interpretationstechniken unterscheiden. 467 Ein wichtiger Bestandteil der teleologischen Interpretation im Gemeinschaftsrecht ist die Auslegung nach dem „effet utile", also dem Effektivitätsgrundsatz. 468 Nach diesem Auslegungskriterium gibt der Gerichtshof derjenigen Auslegung den Vorzug, bei welcher der praktische
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So Bleckmann, Europarecht, Rdn. 543. Oppermann, Europarecht, Rdn. 685. 461 Vgl. z.B. Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (171); eingehend zu den Zielen der Europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung Bleckmann, EuR 1979, S. 239 (242 ff.). 462 Dazu eingehend Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-42 f. 463 Meyer, Jura 1994, S. 455 (456). 464 Vgl. dazu nur Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-41 f.; Pescatore, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 123 (125 f.). 465 Vgl. nur Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (13). 466 Mégret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 18; Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (12); Neville Brown, Valp.U. L.Rev. 1981, S. 319 (322). 467 Vgl. z.B. Oppermann, Europarecht, Rdn. 686; von manchen Autoren werden allerdings die folgenden Auslegungsregeln als eigenständige Auslegungsgrundsätze klassifiziert, vgl. nur Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (180 f.). 468 Vgl. dazu eingehend Streinz, FS Everling, S. 1491 ff. mit Bildung einzelner Fallgruppen. 460
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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Nutzen der fraglichen Bestimmung am größten ist und welche die Verwirklichung der allgemeinen Vertragsziele am besten fördert. 469 In ähnliche Richtung weist das von lpsen m entwickelte Prinzip der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaften. 471 Des Weiteren sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Normen, die Ausnahmen von grundlegenden Prinzipien der Gemeinschaft darstellen oder zulassen, eng auszulegen.472 Diese Maxime wird teils als eigenständiges Auslegungskriterium, teils als Bestandteil der systematischteleologischen Interpretation angesehen.473 Gegen eine eigenständige Einordnung und für die Einbeziehung bei der systematisch-teleologischen Interpretation spricht, dass in der Rechtsprechung des EuGH diese Interpretationsmaxime keinen Selbstzweck darstellt, sondern im Dienste einer möglichst effektiven Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Grundsätze steht.4 4 Während der Grundsatz der engen Auslegung von Ausnahmen weitgehend anerkannt wird, ist umstritten, ob daneben eine restriktive Auslegung ganzer Rechtsbereiche geboten ist. Teilweise wird in Anlehnung an die französische Dogmatik auch mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht geltend gemacht, dass im Strafrecht generell eine restriktive Auslegung notwendig sei. 475 Aus deutscher Perspektive wird demgegenüber ein allgemeiner Grundsatz der restriktiven Auslegung im Strafrecht nicht anerkannt, dafür aber auf das Analogieverbot im Strafrecht verwiesen. Als weitere Auslegungsmittel, derer sich der EuGH gelegentlich bedient, sind die Auslegung a fortiori, per Analogie und die Auslegung mittels eines Gegenschlusses zu nennen. 476
d) Historische Auslegung Im Vergleich zu den soeben behandelten Auslegungsmethoden kommt der historischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht 477 angesichts seines dynami-
469 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-43 f. mit Rechtsprechungsnachweisen; a.A. Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/90 ff., welcher der Methode des „effet utile" keine eigenständige Bedeutung zumißt, sondern damit lediglich den allgemeinen Grundsatz erfassen will, dass Rechtsnormen bei der Auslegung ihr Ziel und Zweck nicht verfehlen dürfen. 470
Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 8 Rdn. 28 ff., insbes. Rdn. 30. Oppermann, Europarecht, Rdn. 686; zu diesem Prinzip eingehend Mégret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 20. 472 Vgl. dazu nur Meyer, Jura 1994, S. 455 (458) m.w.N.; zahlreiche Rechtsprechungsbeispiele bei Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/128 ff. 473 Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Einordnung Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (179). 474 Vgl. dazu Potacs, Auslegung, S. 94 ff. 475 Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/131. 476 Zur Auslegung a fortiori und per Analogie s. Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (180); zur Analogie und zum Gegenschluss Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/121, 158 sowie Mégret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 18 mit Rechtsprechungsbeispielen. 477 Zu ihr eingehend Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/95 ff. 471
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
sehen, auf fortschreitende Integration angelegten Charakters nur eine untergeordnete Rolle zu. 4 7 8 Die historische Auslegung zielt auf die Erforschung des Willens des historischen Vertrags- oder Gesetzgebers ab, der sich im Wesentlichen anhand der Vorarbeiten, der sogenannten „travaux préparatoires", ermitteln lässt. Hierbei wird im Gemeinschaftsrecht zwischen der Auslegung von Primär- und Sekundärrecht differenziert. Bezüglich der Gründungsverträge wird die historische Auslegung aus rechtsstaatlichen Gründen weitgehend abgelehnt, da Materialien über die Entstehungsgeschichte der Verträge entweder überhaupt nicht existieren oder zumindest nicht allgemein zugänglich sind. 479 Anders wird demgegenüber die Situation im Sekundärrecht beurteilt. Soweit die travaux préparatoires veröffentlicht sind, können sie vom Gerichtshof für die Auslegung der streitigen Vorschriften herangezogen werden. 480 Daran anknüpfend fordern manche Stimmen eine stärkere Einbeziehung der historischen Methode in den Auslegungskanon des Gerichtshofs. 481 Nach überwiegender Ansicht soll hingegen der historischen Auslegung im Wesentlichen nur eine Hilfsfunktion zukommen. 482
e) Rechtsvergleichende Auslegung Umstritten ist, ob die Rechtsvergleichung als eigenständige fünfte Auslegungsmethode anzuerkennen ist, oder ob sie eine bloße Auslegungshilfe darstellt. 483 Unabhängig von dieser Streitfrage wird darauf hingewiesen, dass der EuGH bei der Auslegung in stärkerem Maße als die internationalen, aber auch als die nationalen Gerichte auf die Rechtsvergleichung zurückgreift. 484 Die Tatsache, dass sich in den Entscheidungsgründen des Gerichtshofs nur sporadisch Ausführungen zur Rechtsvergleichung finden, sollte nicht darüber hin-
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Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-23; Mégret/Waelbroeck , Art. 164 Rdn. 9, 12; Oppermann, Europarecht, Rdn. 687. 479 Kutscher, Begegnung, S. 1-22; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Communities, § 25. 480 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-23; Rechtsprechungsnachweise auch bei Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/105 ff. 481 So insbesondere Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/98 ff. 482 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 5 Rdn. 80; Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-23; Oppermann, Europarecht, Rdn. 687; generell gegen die Heranziehung der travaux préparatoires Pescatore, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 123 (134 f.). 483 Vgl. dazu Häberle, JZ 1989, S. 913 ff.; Oppermann, Europarecht, Rdn. 684 ordnet die Rechtsvergleichung als Bestandteil der systematischen Interpretation ein; Schulze, ZfRV 1997, S. 183 (194) befürwortet eine Zuordnung zur teleologischen Auslegung. 484 Bleckmann, Europarecht, Rdn. 551; zur Bedeutung der rechtsvergleichenden Auslegung im Gemeinschaftsrecht eingehend Pescatore, RIDC 1980, S. 337 ff.
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wegtäuschen, dass der interne rechtsvergleichende Aufwand beträchtlich ist. 4 8 5 Die Rechtsvergleichung führt weder dazu, dass der Gerichtshof seiner Entscheidung das gemeinsame Minimum oder Maximum der nationalen Lösungen zugrunde legt, noch dazu, dass er sich für ihr arithmetisches Mittel oder die von der Mehrheit der Rechtsordnungen getragene Lösung entscheidet.486 Vielmehr nimmt der EuGH eine wertende Rechtsvergleichung in dem Sinne vor, dass er die Lösung wählt, die den spezifischen Zielen und den Strukturprinzipien der Gemeinschaft am besten gerecht wird. 4 8 7 Eine große Rolle spielt die Rechtsvergleichung ausgehend von Art. 288 EGV bei der Lückenfüllung sowie bei der Entwicklung ungeschriebener Rechtsgrundsätze. 488 Darüber hinaus gewinnt sie insbesondere bei der - im Regelfall, nicht aber stets gebotenen489 - autonomen Auslegung des Gemeinschaftsrechts an Bedeutung. Verwendet das Gemeinschaftsrecht Begriffe, die den nationalen Rechtsordnungen geläufig sind, so greift der Gerichtshof bei der Auslegung rechtsvergleichend auf die Bedeutung dieser Begriffe in den einzelstaatlichen Rechtsordnungen zurück, um daraus einen eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Gehalt zu entwickeln. 490 Insofern kann man von einer Wechselwirkung zwischen autonomer und rechtsvergleichender Auslegung sprechen. 491
2. Gewichtung und Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander Das Verhältnis zwischen den einzelnen Interpretationsmethoden, insbesondere zwischen der grammatikalischen und der teleologischen Auslegung, ist umstritten, auch wenn weitgehend Einigkeit besteht, dass der Wortlaut der fraglichen Vorschrift Ausgangspunkt in der Argumentation des EuGH ist. 4 9 2 Teilweise wird darauf hingewiesen, dass sich der EuGH zu der Regel „in claris non fit interpretatio" 493 bekannt habe, wonach bei einem klaren und eindeutigen
485 Vgl. dazu die Stellungnahmen folgender ehemaliger EuGH-Richter: Everling, ZGR 1992, S. 376 (386); Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-30; Kutscher, EuR 1981, S. 392 (401); Pescatore, RIDC 1980, S. 337 (358). 486 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-30. 487 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-30 f. mit Rechtsprechungs- und Literaturhinweisen; Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (17 f.); zur wertenden Rechtsvergleichung auch Bleckmann, FS Börner, S. 29 ff. 488 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-24 ff.; Meyer, Jura 1994, S. 455 (457). 489 Vgl. dazu näher unten 3. Kap. C. I. 3. 490 Vgl. dazu Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-27; Mégret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 14. 491 Vgl. auch Bleckmann, Europarecht, Rdn. 551 f. 492 s. nur Grundmann, Auslegung, S. 202; Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-18; Mertens de Wilmars, CDE 1986, S. 5 (14). 493 Diese Doktrin wird offensichtlich das erste Mal erwähnt bei de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle, 1758, Band I, 2. Buch, § 263.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Wortlaut nicht mehr auf andere Auslegungsmethoden zurückzugreifen ist. 4 9 4 Nach anderer Ansicht handelt es sich demgegenüber bei dieser Maxime um eine petitio principii, da die Feststellung der Klarheit der Norm immer erst am Ende des Auslegungsprozesses stehen könne. 495 Daher rekurriere der EuGH teilweise auch bei einem sogenannten „klaren" Wortlaut auf weitere Auslegungsgrundsätze. 496 Nach den Vertretern der letztgenannten Ansicht soll es die Zweckrationalität des Vertrages rechtfertigen, der teleologischen Auslegung gegenüber dem Wortlaut und der Systematik der Verträge den Vorrang einzuräumen. Die teleologische Methode kann nach diesem Verständnis nicht nur zur Bestätigung der Wortlautinterpretation oder zur Ermittlung eines nach der grammatischen Auslegung mehrdeutig gebliebenen Ergebnisses dienen, sondern auch ein eindeutiges wörtliches Auslegungsergebnis beiseite schieben. 497 Daran anknüpfend gehen einige Autoren so weit zu sagen, dass die teleologische Methode den alleinigen Maßstab bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts bilden sollte. 498 Von anderen Literaten wird demgegenüber auf die Grenzen der Teleologie hingewiesen, die nicht dazu führen dürfe, „Wortlaut und Systematik von Normen ,voluntaristisch' umzubiegen oder gar in ihr Gegenteil zu verkehren". 499 Insbesondere stelle die äußerste Grenze des Wortlauts eine wichtige Garantie für die Grundrechte der Individuen und die Souveränität der Mitgliedstaaten dar. 500 Der Wortlaut der Norm werde mit zunehmender Eingriffsintensität der gemeinschaftsrechtlichen Maßnahmen immer bedeutsamer; seine Garantiefunktion zeige sich besonders deutlich im strafrechtlichen Analogieverbot. 501 Daher müsse zumindest bei Rechtsakten der EG, die sich unmittelbar an die Bürger richten - also auch bei Richtlinien, denen (ausnahmsweise) unmittelbare Wirkung zukommen kann - , der Wortlaut als Grenze des Auslegungsspielraums 494 Oppermann, Europarecht, Rdn. 682 unter Hinweis auf EuGH, Rs. 79/77, Kühlhaus Zentrum/HZA Hamburg-Harburg, Slg. 1978, 611, 619 (Rdn. 6); so auch Bleckmann, Europarecht, Rdn. 540; Meyer, Jura 1994, S. 455 (456), jeweils m.w.N.; vgl. auch die Rechtsprechungsnachweise bei Potacs, Auslegung, S. 58 f. 495 Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/l 14; Grundmann, Auslegung, S. 192 ff.; Pescatore , in: Association internationale de méthodologique juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 123 (139). 496 Dumon, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. III/114; Millet , StatLawRev 1989, S. 163 (168); Potacs , Auslegung, S. 59. 497 So ausdrücklich Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (172) mit dem Hinweis darauf, dass dies nach dem englischen Verständnis der Auslegungsmethoden undenkbar wäre. 498 So insbesondere Pescatore , in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 123 (126, 133 ff.): „Or, en réalité, le texte, le contexte, le système ne sont que des paliers heuristiques, des sentiers intellectuels qui donnent accès à la seule chose qui compte, à savoir la finalité, l'objectif." 499 Oppermann, Europarecht, Rdn. 685; so auch Bleckmann, Europarecht, Rdn. 539; Mégret/Waelbroeck, Art. 164 Rdn. 10; Schermers/Waelbroeck, Judicial Protection in the European Communities, § 19. 500 Bleckmann, RIW 1987, S. 929 (931). 501 Vgl. zum Ganzen Bleckmann, Europarecht, Rdn. 548; Bleckmann, RIW 1987, S. 929 (930 f.).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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des Richters anerkannt werden. 502 Insgesamt erscheint allerdings das Problem der Wortlautgrenze im Gemeinschaftsrecht noch weitgehend ungeklärt, zumal kaum thematisiert wird, ob als Bezugspunkt der „EG-Wortsinn" oder aber der isoliert betrachtete Wortlaut einer einzelnen sprachlichen Fassung maßgeblich sein soll. 5 0 3 Generell wird des öfteren die Dominanz der teleologischen Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des EuGH kritisiert, da sie häufig ohne hinreichende Grundlage in den Verträgen eingesetzt werde und damit zur Durchsetzung bestimmter selektiver Vorstellungen über die Fortentwicklung des Europäischen Gemeinschaftsrechts führe. 504 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der EuGH die allgemein bekannten Auslegungskriterien verwendet, dabei aber besondere Gewichtungen, Verkürzungen und Ergänzungen vornimmt. In bezug auf das Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander lässt sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine doppelte Verzahnung feststellen: Zum einen werden die verschiedenen Auslegungsmethoden nebeneinander zur gegenseitigen Unterstützung und Ergänzung verwendet; die Heranziehung eines Kriteriums schließt die Berücksichtigung der übrigen Auslegungsregeln keineswegs aus. 505 Zum anderen gilt in der Rechtsprechung des Gerichtshofs - ebenso wie im europäischen Methodenkanon generell - , dass die Auslegungsmethoden schon vom Ansatz her nahtlos ineinander übergehen, da sie bei der Argumentation nicht strikt getrennt werden können. 506 So muss schon bei der Wortlautauslegung der unmittelbare Zusammenhang des Satzes oder Abschnitts berücksichtigt werden; die Frage nach dem Bedeutungszusammenhang leitet ihrerseits bereits zu teleologischen Kriterien über.
3. Das spezifische Problem der Mehrsprachenauthentizität Trotz einer überbordenden und fast unüberschaubaren Literatur zu den Auslegungsmethoden in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gibt es kaum Autoren, die sich näher mit den spezifischen Auslegungsproblemen befassen, die aus der Mehrsprachigkeit des Gemeinschaftsrechts resultieren. Wie oben angesprochen, beschränken sich die meisten Literaten darauf, im Rahmen der Wortlautauslegung kurz auf die Notwendigkeit des Sprachvergleichs und der autonomen Auslegung des Gemeinschaftsrechts hinzuweisen. Im dritten Kapitel soll untersucht werden, wie sprachlich bedingte Auslegungsprobleme in der Rechtsprechung des Gerichtshofs tatsächlich gelöst werden. Dabei wird 502
So ausdrücklich Bleckmann, RIW 1987, S. 929 (931). Vgl. dazu näher unten 3. Kap. C. I. 2. c) cc). 504 Vgl. stellvertretend für die Kritiker Rasmussen, Law and Policy, S. 25 ff.; Ras müssen, E.L.Rev. 1988, S. 28 ff. 505 Vgl. Mittet, StatLawRev 1989, S. 163 (173); Zuleeg, EuR 1969, S. 97 (99). 506 Millet, StatLawRev 1989, S. 163 (173). 503
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
zum einen analysiert, ob und wie der Gerichtshof die oben dargestellten allgemeinen Auslegungsmethoden für die Lösung von Sprachdivergenzen fruchtbar gemacht hat. Da diese allgemeinen Interpretationsmethoden nicht nur bei der Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte, sondern auch bei einsprachigen Rechtstexten Verwendung finden, ist zu fragen, wie sie an die Problematik der Behandlung von Sprachdivergenzen Angepasst werden können. Zum anderen ist zu untersuchen, ob der Gerichtshof für die Behandlung von Mehrsprachigkeitsproblemen neben den allgemeinen Auslegungsmethoden besondere Interpretationsregeln angewandt oder auch selbst entwickelt hat. Oben wurde dargelegt, dass der Gerichtshof sich zur Entwicklung eigenständiger Auslegungsgrundsätze an der Methodik nationaler Gerichte und an völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen orientiert. Da sich auch im Völkerrecht das Problem der Auslegung bei Mehrsprachenauthentizität stellt, werden im Folgenden zunächst die im Völkerrecht anerkannten bzw. diskutierten Methoden zur Auflösung von Sprachdivergenzen dargestellt. Aber auch auf nationaler Ebene kann die Auslegung mehrsprachigen Rechts virulent werden, und zwar in Staaten, die über mehrere Amtssprachen verfügen. Im Anschluss an das Völkerrecht soll daher die Lösung sprachlich bedingter Auslegungsfragen in nationalen Rechtsordnungen exemplarisch anhand des belgischen Rechts und des schweizerischen Rechts dargestellt werden. Damit werden ein EU-Staat und ein Nicht-EU-Staat gleichermaßen berücksichtigt. Daran anknüpfend wird im dritten Kapitel untersucht, inwieweit die im nationalen Recht und im Völkerrecht thematisierten Auslegungsmethoden sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wiederfinden.
I I I . Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge Schon im Völkerrecht wurde versucht, bestimmte Grundsätze für die rechtliche Behandlung von Sprachdivergenzen zu entwickeln. Ihre Übertragung auf das Gemeinschaftsrecht erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, wenn man bedenkt, dass es im Völkerrecht neben rechtsgeschäftlichen auch rechtssetzende Verträge gibt und die völkerrechtlichen Auslegungsregeln für beide Arten von Verträgen grundsätzlich gleichermaßen gelten.
507
Hierzu Köck, ZöR 1998, S. 217 (222 f., 234 ff.).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
137
1. Mehrsprachige Verträge im Völkerrecht a) Vertragssprachen
und mehrsprachige Verträge in der Geschichte
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass im amtlichen internationalen Verkehr traditionellerweise jeweils eine einzige Sprache für bestimmte Regionen bevorzugt wurde. 508 Im abendländischen Bereich löste mit dem Wachsen des Römischen Reichs Latein die griechische Sprache ab und konnte sich auch in der Neuzeit noch für zwei Jahrhunderte als europäische Diplomaten- und Vertragssprache behaupten. Seit dem 17. Jahrhundert setzte sich im diplomatischen Verkehr allmählich der Gebrauch der französischen Sprache durch, die insbesondere im 18. Jahrhundert als Diplomaten- und Vertragssprache im europäischen Raum dominierend war. 509 Trotz der Suprematie der lateinischen und später der französischen Vertragssprache war das Phänomen mehrsprachiger Verträge in der europäischen Geschichte schon seit dem römischen Recht bekannt und spielte in zahlreichen Staaten, wie etwa in der österreichischungarischen Monarchie eine erhebliche Rolle. 5 1 0 Die Auslegungsproblematik mehrsprachiger Verträge stellte sich allerdings mit besonderer Schärfe erstmals bei den Friedensverträgen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. 511 Da in den Friedens Verhandlungen zum ersten Mal das Englische als gleichberechtigte Diplomatensprache anerkannt worden war, waren auch die Friedensverträge zweisprachig abgefasst worden, 512 was zu zahlreichen Sprachdivergenzen geführt hatte.5 3 In der Folgezeit ging man immer mehr dazu über, Verträge in mehreren Sprachfassungen für verbindlich zu erklären. Aus machtpolitischen Gründen sollten die Sprachen aller beteiligten Staaten als Vertragssprachen gebraucht werden, auch wenn dadurch die besonderen Auslegungsschwierigkeiten mehrsprachiger Rechtstexte in Kauf genommen werden mussten. 514 Symptomatisch hierfür ist nicht zuletzt das Gruber-de-Gasperi-Abkommen über Südtirol vom 5.9.1946, in dem zahlreiche Sprachdivergenzen aufgedeckt wurden. 515
508 Vgl. dazu und zum folgenden Rudolf, Die Sprache in der Diplomatie, S. 21 ff.; s.a. Frank, Aus Politik und Zeitgeschichte 1983, Nr. Β 12, S. 26 (28 f.). 509 Dazu näher Haarmann, Grundfragen der Sprachenregelung, S. 125 ff.; Belege für in französischer Sprache abgefasste Verträge finden sich bei Grewe, Fontes Historiae Iuris Gentium, Bd. 2, S. 182 ff. 5,0 Vgl. dazu die Bestandsaufnahme bei Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (5 ff.); des Weiteren Bonn, RGDIP 1964, S. 708 (708 f.); Fattal, Multilinguisme et traités internationaux, S. 14 ff. 511 Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (281). 512 Abgedruckt bei Grewe, Fontes Historiae Iuris Gentium, Bd. 3/2, S. 683 ff. 5,3 Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (280); Rudolf, Die Sprache in der Diplomatie, S. 35. 514 Vgl. Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdn. 368. 5,5 Vgl. hierzu die eingehende sprachwissenschaftliche Analyse von Weisgerber, Vertragstexte als sprachliche Aufgabe, passim.
138
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
b) Erscheinungsformen
mehrsprachiger
Verträge
Im Völkerrecht kann zwischen echten mehrsprachigen Verträgen und unechten mehrsprachigen Verträgen unterschieden werden. Echte mehrsprachige Verträge sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur in mindestens zwei Sprachen abgefasst sind, sondern dass hierbei mindestens zwei sprachliche Fassungen gleichermaßen verbindlich sind. 516 Davon sind diejenigen Verträge abzugrenzen, in denen neben einer einzigen authentischen Sprachfassung weitere offizielle Texte oder amtliche bzw. nichtamtliche Übersetzungen existieren. 517 Während die offiziellen Texte von den Vertragsparteien selbst unterzeichnet werden, werden Übersetzungen meist erst im Nachhinein - sei es von offizieller oder von privater Seite - erstellt. 518 Die folgenden Ausführungen sollen sich zunächst auf die Auslegung echter mehrsprachiger Verträge konzentrieren, da hier eine mit dem Gemeinschaftsrecht vergleichbare Situation vorliegt. Wie oben dargelegt, ist nicht nur das sekundäre Gemeinschaftsrecht, sondern auch das Primärrecht mit Ausnahme des EGKSV in allen Amtssprachen gleichermaßen verbindlich. Anschließend soll die rechtliche Bedeutung der nicht verbindlichen Texte kurz gewürdigt werden. Dies erscheint geboten, da es auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts immer wieder Bestrebungen gibt, vom Grundsatz der gleichen Authentizität aller Sprachfassungen abzurücken. 519
2. Die Auslegung von Texten gleicher Verbindlichkeit Die Auslegung von Texten gleicher Verbindlichkeit geht von der Grundregel aus, dass es trotz der Existenz mehrerer verbindlicher Sprachfassungen nicht mehrere Verträge, sondern nur einen einzigen Vertragstext gibt. 5 2 0 Folgerichtig müsste es damit Aufgabe der Auslegung sein, aus der Mehrsprachigkeit des Vertrags einen einheitlichen Sinn zu ermitteln, und zwar auch dann, wenn die
5,6 517
Definition nach Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (281). Fattal, Multilinguisme et traités internationaux, S. 48 ff.; Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (74,
123). 518
Vgl. dazu näher unten 2. Kap. D. III. 3. Vgl. dazu die Ausführungen im fünften Kapitel. 520 Daher wurde anlässlich der Vorarbeiten für die Wiener Vertragsrechtskonvention (vgl. dazu sogleich unten 2. Kap. D. III. 2. b)) dafür plädiert, statt von verschiedenen Texten von verschiedenen Sprachfassungen eines Textes zu sprechen (hierzu näher Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (409 f.)). Da sich dieser Vorschlag aber nicht durchsetzen konnte, werden in der vorliegenden Arbeit - sowohl hinsichtlich des Völkerrechts als auch später in bezug auf das Gemeinschaftsrecht - die Begriffe „Text", „Fassung", „Sprachfassung" und „Version" gleichbedeutend nebeneinander verwendet. Der Terminus „Text" kann damit sowohl für jede einzelne sprachliche Fassung als auch für die Gesamtheit der Sprachfassungen stehen. 5,9
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
139
sprachlichen Fassungen voneinander abweichen (sog. Einheitsregel). 521 In der Tat wurde in der Rechtsprechung internationaler Gerichte nie - obwohl dies in der Literatur vereinzelt vertreten wurde - ein Dissens mit der Folge des Nichtzustandekommens des Vertrags im Falle von Sprachdivergenzen angenommen. 522 Vielmehr stehen bei der Auslegung der divergierenden Sprachfassungen Gleichwertigkeit der Fassungen und Einheit des Sinnes der benutzten Ausdrücke in einem Spannungsfeld, das je nach Anwendung der verschiedenen Interpretationsregeln zugunsten eines der beiden Grundprinzipien aufgelöst wird. 5 2 3 Zunächst sollen einige besondere Auslegungsregeln für mehrsprachige Verträge diskutiert werden, die entweder die Bedeutung einer einzelnen Sprache bevorzugen oder das Gewicht auf die Vereinbarkeit aller Fassungen legen. 524 Anschließend wird erörtert, inwieweit die oben dargestellten allgemeinen Auslegungsgrundsätze auch für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge gelten und deren besonderer Problemlage angepasst werden können. 525
a) Besondere Auslegungsregeln aa) Vorrang der landessprachlichen Fassung und verwandte Auslegungsregeln Im Widerspruch zu der Prämisse von der Einheitsregel wurden insbesondere in der älteren Literatur und Judikatur Auslegungsregeln vertreten, denen gemeinsam ist, dass sie einer bestimmten Sprachfassung aufgrund ihres besonderen Bezugs zum konkreten Fall den Vorrang einräumen. 526 So besagt die Landessprachenregel, dass bei einer Kollision mehrerer authentischer Texte dem inländischen, landessprachlichen Text der Vorzug zu geben ist. Nach der damit verwandten Gerichtssprachenregel soll diejenige Sprache maßgebend sein, welche an dem Ort des Gerichts gesprochen wird, an dem der betreffende
521
Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (27); Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (425); Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (282 f.). 522 Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (283); Hinweise zur einschlägigen Literatur bei Metall, ZöR 1930, S. 357 (362). 523 Vgl. Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (283). 524 Allerdings sind nur einige dieser Regeln nach Inkrafttreten der W V R K übernommen worden, vgl. dazu unten 2. Kap. D. III. 2. b). 525 Im Folgenden wird daher begrifflich zwischen den allgemeinen „Auslegungsmethoden" oder „Auslegungsgrundsätzen" des klassischen Methodenkanons einerseits und den besonderen „Auslegungsregeln" andererseits, die sich speziell für mehrsprachige Rechtstexte entwickelt haben, unterschieden. 526 s. dazu z.B. die zusammenfassende Darstellung bei Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (287 ff.).
140
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Rechtsstreit anhängig ist bzw. das für eine eventuelle Klage zuständig wäre. 527 Gemäß der Belastetenregel ist derjenige Text verbindlich, der in der Sprache der belasteten Partei abgefasst ist. In ähnlicher Weise besagt die Bezugsregel, dass derjenige Text den Vorrang genießt, der in der Sprache der Partei abgefasst ist, auf die sich eine bestimmte Vertragsnorm bezieht. 528 All diesen Regeln ist entgegenzuhalten, dass sie den Grundsatz der gleichen Authentizität aller Sprachfassungen geradezu konterkarieren. 529 Des Weiteren wird gegen die Landessprachenregel vorgebracht, dass zumindest bei der Rechtsanwendung durch eine internationale Instanz der „inländische" Text bisweilen schwer feststellbar ist. 5 3 0 Allerdings ist nicht zu verkennen, dass diese Auslegungsregeln bei der Interpretationstätigkeit der innerstaatlichen Gerichte vielfach angewandt werden. 531
bb) Mehrheitsregel Nach der Mehrheitsregel ist dasjenige Auslegungsergebnis maßgeblich, das sich auf die Mehrheit der authentischen Sprachfassungen eines Vertrags stützen kann. Ausschlaggebend soll allein das zahlenmäßige Übergewicht der verschiedenen, gleichermaßen authentischen Sprachfassungen sein. Gegen die Mehrheitsregel spricht, dass die „Mehrheitsverhältnisse" bei den Sprachfassungen rein zufällig sein können, so dass das von der Mehrheit getragene Auslegungsergebnis nicht unbedingt mit dem Zweck übereinstimmt, den die Parteien mit der in Frage stehenden Vertragsbestimmung verfolgt haben. Die Mehrheitsregel wird daher ganz überwiegend als zu schematisch abgelehnt. 532
cc) Klarheitsregel Die Klarheitsregel besagt, dass die in klarer Sprache redigierte Fassung gegenüber einem unklaren Text den Vorzug verdient. 533 Gegen diese auf den 527 Vgl. dazu Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (289); aufgrund einer Analyse der einschlägigen Rechtsprechung ablehnend Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (112 f.). 528 Vgl. dazu Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (115 f.), der diese in der Literatur vertretene Regel nicht eindeutig durch die Rechtsprechung internationaler Instanzen bestätigt sieht. 529 Vgl. Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (U9); zusammenfassend zur Kritik Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (413 f., 423 f.). 530 Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (413); zur ähnlichen Kritik an der Gerichtssprachenregel vgl. Beckmann, Sprachenstatut, S. 118. 531 Vgl. dazu sogleich unten 2. Kap. D. III. 2. c). 532 Vgl. nur Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (11); Sandrock, ZVglRWiss 1979, S. 177 (210 f.). 533 Vgl. dazu die zahlreichen Rechtsprechungs- und Literaturhinweise bei Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (285 f. Fn. 61); des Weiteren die Rechtsprechungsanalyse von Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (83 ff., 87 ff.).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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ersten Blick einleuchtende Regel werden allerdings Einwände vorgebracht. So wird darauf hingewiesen, dass es bisweilen unsicher sei, welches der klarere Ausdruck ist, 5 3 4 da diese Feststellung immer erst am Ende des Auslegungsprozesses stehen könne. 535 Zudem gibt es Fälle, in denen die Unklarheit von den Parteien gewollt war, weil sie sich auf eine präzise Regelung der betreffenden Frage nicht einigen konnten und statt dessen bewusst die Mehrdeutigkeit in Kauf genommen haben. 536 Nichtsdestoweniger kann die eindeutige Sprachfassung zumindest einen Hinweis darauf geben, was die Parteien mit der in Rede stehenden Vertragsklausel bezweckt haben.
dd) Günstigkeitsregel Nach der Günstigkeitsregel genießt derjenige Text den Vorzug, der für die verpflichtete Partei günstiger ist, sie mithin weniger stark belastet. 537 Im Unterschied zu der oben erörterten Belastetenregel kann bei der Günstigkeitsregel auch der Text der begünstigten Partei Vorrang genießen, wenn er für den Belasteten weniger Verpflichtungen enthält. Anstatt die verschiedenen Textfassungen miteinander in Einklang zu bringen, wird nach dieser Regel einer Textfassung aus nicht vertragsimmanenten Gründen die Autorität verweigert. 538 Bereits im Völkerrecht kann dieser Lösung nur beschränkte Bedeutung zukommen, da es viele Vertragstexte gibt, die alle Völkerrechtssubjekte gleichermaßen verpflichten. 539 Im Gemeinschaftsrecht könnte diese Regel allenfalls in modifizierter Form Geltung beanspruchen, da durch das Gemeinschaftsrecht auch der einzelne Bürger verpflichtet werden kann und daher auf diesen abzustellen wäre.
ee) Auslegung contra proferentem Im Zusammenhang mit der Günstigkeitsregel wird des Weiteren die Auslegung contra proferentem genannt. Nach dieser Regel soll ein mehrdeutiger Text stets zu Ungunsten derjenigen Partei ausgelegt werden, die den betreffenden Text erstellt hat. Während diese Regel bei der Beseitigung von Unklarheiten innerhalb eines einzigen Texts sinnvoll sein mag, kann ihr bei Divergenzen 534
Vgl. das Beispiel bei Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (286). Hilf, Auslegung, S. 95 m.w.N. 536 Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (88); Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (415). 537 Vgl. hierzu die Darstellungen bei Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (414, 424); Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (287) m.w.N.; zur entsprechenden Judikatur Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (113 f.). 538 Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (287). 539 Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (414, 424); auf die Grenzen der Günstigkeitsregel weist auch Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (114 f.) hin. 535
142
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
zwischen mehreren Sprachfassungen eines völkerrechtlichen Vertrags nur dann Bedeutung zukommen, wenn ein und dieselbe Vertragspartei beide Sprachfassungen erstellt hat. 540 Würde man diese Regel auf die Ebene des Gemeinschaftsrechts übertragen, käme man zum gleichen Ergebnis wie bei der Übertragung der Günstigkeitsregel: Unklarheiten würden sich stets zugunsten der Rechtsunterworfenen und zu Lasten der Gemeinschaft auswirken, da ihre Organe für die Entstehung von Sprachdivergenzen verantwortlich sind.
ff) Gemeinsamer-Nenner-Regel Die Regel vom kleinsten gemeinsamen Nenner bzw. vom gemeinsamen Minimum besagt, dass bei mehreren voneinander abweichenden Sprachfassungen nur dasjenige gelten soll, was von allen Fassungen gedeckt wird, nicht aber eine darüber hinausgehende Interpretation. 541 Dies wird damit begründet, dass bezüglich der engeren Bedeutung eine Willensübereinstimmung aller Vertragsparteien vorliege. Die Gemeinsamer-Nenner-Regel, die zu einer restriktiven Auslegung der in Rede stehenden Vertragsklausel führt, 542 wurde insbesondere vom Ständigen Internationalen Gerichtshof im „MavrommatiskonzessionenFall" von 1924 angewandt. Zu der Divergenz zwischen der englischen und französischen Fassung des Mandatsvertrags bezüglich Palästinas543 stellte der Gerichtshof fest: „The Court is of the opinion that, where two versions possessing equal authority exist one of which appears to have a wider bearing than the other, it is bound to adopt the more limited interpretation which can be made to harmonise with both versions and which, as far as it goes, is doubtless in accordance with the common intention of the Parties".544 Gegen die Formel des Gemeinsamen Minimums wird jedoch vorgebracht, dass die jeweils engere Sprachfassung mit dem tatsächlichen Willen der Vertragsparteien nicht unbedingt übereinstimmen muss, sondern dass je nach konkretem Einzelfall auch die weitere Auslegung dem Vertragszweck entsprechen kann. 545 Auch wird argumentiert, dass unter Umständen bereits die Feststellung, ob eine Bedeutung weiter oder enger als eine andere ist, Schwierigkeiten
540
Beckmann, Sprachenstatut, S. 124 f.; kritisch auch Hilf, Auslegung, S. 99 f. So z.B. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts I, S. 127; Verdross, Völkerrecht, S. 115; ähnlich Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (21 f.); vgl. zu dieser Auslegungsregel auch Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (414 f.). 341
542
Vgl. Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts I, S. 127; Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (77 f.). Abgedruckt bei Rudolf Die Sprache in der Diplomatie, S. 103 f. 544 Permanent Court of Justice, Publications, Series A, Judgments, vol. 1, 1923-1927, n° 2, S. 1 (19); vgl. zu diesem Urteil eingehend Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (76 ff.). 545 Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (36); Rudolf, Die Sprache in der Diplomatie, S. 69; gegen die Gemeinsamer-Nenner-Regel auch Germer, Harv. Int. L.J. 1970, S. 400 (424); Hilf, Auslegung, S. 97. 543
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
143
aufwirft. 546 Zudem besitzt die Formel dann Schwächen, wenn der engere Begriff in sich selbst mehrdeutig ist, oder wenn die Wörter sich nicht nur in einer, sondern in mehreren Bedeutungen überschneiden. 547 Schließlich wird gegen die Gemeinsamer-Nenner-Regel eingewandt, dass sie in Wahrheit nicht zur Vereinbarkeit der verschiedenen Sprachfassungen, sondern vielmehr dazu führe, dass stets der engeren Sprachfassung Vorrang vor der weiteren gewährt wird. 5 4 8
gg) Arbeitssprachenregel Die Arbeitssprachenregel bedeutet, dass der Arbeitssprache, in welcher der Vertrag zunächst ausgehandelt bzw. das Gesetz ursprünglich entworfen wurde, gegenüber denjenigen Sprachfassungen der Vorrang gebührt, in welche der Rechtsakt später übersetzt wurde. Diese Regel, die auch als Grundsatz der führenden Sprache bezeichnet wird, 5 4 9 trägt dem Umstand Rechnung, dass verschiedene gleichermaßen authentische Texte de facto oft nichts anderes darstellen als nachträgliche Übersetzungen eines einsprachigen Entwurfs. Zumindest in Zweifelsfällen soll die Fassung in der sogenannten Ur-, Arbeits- oder Originalsprache den Ausschlag geben, 550 und zwar nicht nur dann, wenn in dem fraglichen Rechtsakt selbst die Urfassung benannt wird, sondern auch dann, wenn diese anderweitig ermittelt werden kann. 551 Lässt sich der Originaltext nicht - etwa anhand der Vorarbeiten 552 - feststellen, wird teilweise mit Präsumtionen gearbeitet, indem die fehlerhafte Übersetzung eines der Texte aufgrund stilistischer Merkmale vermutet 553 und daraufhin eine Auslegung anhand der anderen Sprachfassungen getroffen wird. 5 5 4 Nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Rechtsprechung ist der Grundsatz der führenden Sprache anerkannt. Als Beispiel hierfür 555 lässt sich neben dem bereits erwähnten „Mavrommatiskonzessionen-Faü", in dem die Arbeitssprachenregel zur Bestätigung des Aus-
546
Vgl. Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (424); Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (284 f.). Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (285). 548 Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (81 Fn.l). 549 Vgl. Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (22). 550 Aus der Lehre z.B. Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (37); Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (98 ff.); MaVölkerrecht, Rdn. 371; karov, FS Guggenheim, S. 403 (417 f., 424 f.); Seidl-Hohenveldern/Stein, Verdross, Völkerrecht, S. 115. 551 Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (418). 552 Vgl. dazu Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (101 ff.). 553 Vgl. zur diesbezüglichen Vorgehensweise Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (99 ff.) sowie die von ihm auf S. 79 f. (Fn. 4), 90 genannten Beispiele: Für die englische Fassung als Originalversion sprach jeweils, dass in der englischen Sprache ein Fachausdruck verwendet wurde, in der französischen Fassung hingegen ein wesentlich ungenauerer und allgemeiner Begriff, mit dem kein bestimmtes dogmatisches Konzept verbunden war. 554 Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (421 ff.) mit Rechtsprechungsnachweis. 555 Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung der internationalen Gerichte bei Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (23). 547
144
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
legungsergebnisses herangezogen wurde, insbesondere das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs vom 15.11.1932 betreffend die Nachtarbeit von Frauen nennen: „Au sujet de cette dernière phrase, il convient d'observer que les textes français et anglais ne sont pas en harmonie, que le terme anglais, dans cette phrase, est „women workers"; or, Miss Smith, qui a présenté le rapport, était Anglaise et s'exprimait dans sa langue".556 Zugunsten des Grundsatzes der führenden Sprache wird ins Feld geführt, dass die Heranziehung der Originalfassung zur Ermittlung des Willens der Vertragsparteien hilfreich sein kann. 557 Gegen eine schematische Anwendung der Arbeitssprachenregel wird allerdings eingewandt, dass dies gerade im Widerspruch zu der Vereinbarung der Vertragsparteien stehe, wonach mehrere Sprachfassungen gleichberechtigt nebeneinander gelten sollen. 558
b) Allgemeine Auslegungsgrundsätze aa) Die Normierung völkerrechtlicher Auslegungsgrundsätze in Art. 31 und 32 WVRK Wie soeben gezeigt, lassen sich gegen die Lösungsansätze, die - sei es generell oder im konkreten Einzelfall - nach dem Vorrang der einen Sprachfassung vor der anderen suchen, verschiedene Einwände vorbringen. Dennoch wird die Heranziehung einiger dieser Regeln auch nach der vertraglichen Normierung der völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze in der Wiener Konvention über das Recht der Verträge ( W V R K ) 5 5 9 für zulässig erachtet, wenn sich ein dahingehender Wille der Vertragspartner feststellen lässt. 560 Gemäß Art. 31 WVRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag „nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zwecks auszulegen". Hiermit wird der klassische Interpretationskanon der grammatikalischen, systematischen und teleologischen Auslegung auch in bezug auf völkerrechtliche
556 Permanent Court of Justice, Publications, Series Α/Β, 1931/1932, n° 50, S. 363 (379); dazu eingehend Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, S. 32 ff. 557 Makarov, FS Guggenheim, S. 403 (417). 558 Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (290); Rechtsprechungsnachweise zu einer nur behutsamen Anwendung der Arbeitssprachenregel bei Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (100 ff.). 559 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969, abgedruckt in BGBl. 1985 II, S. 927 ff. 560 Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (302); Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdn. 340.
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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Verträge anerkannt. 561 Art. 32 WVRK normiert die ergänzende Heranziehung weiterer Auslegungskriterien wie etwa der historischen Interpretation, um ein gemäß Art. 31 WVRK gefundenes Ergebnis zu bestätigen oder um die nach der Anwendung des Art. 31 WVRK fortbestehenden Zweifelsfälle einer Lösung zuzuführen. Über das „Einfallstor" des Art. 32 WVRK gelten die meisten der oben dargestellten besonderen Auslegungsregeln auch nach dem Inkrafttreten der WVRK fort. Dies betrifft insbesondere die Arbeitssprachenregel, da die Berücksichtigung der Originalsprache bei mehrsprachigen Verträgen einen Sonderfall der Verwertung von Vorarbeiten und damit der historischen Auslegung darstellt. 562 Aber auch die Fortgeltung der Klarheitsregel, der Gemeinsamer-Nenner-Regel und der Günstigkeitsregel wird in der Literatur auf Art. 32 WVRK gestützt. 563
bb) Die Spezialvorschrift für mehrsprachige Verträge in Art. 33 WVRK Während die Grundsätze des Art. 31 und 32 WVRK für alle Arten von völkerrechtlichen Verträgen gelten, unabhängig davon, ob sie in einer oder mehreren Sprachfassungen verbindlich sind, werden in Art. 33 WVRK spezielle Regeln über die Auslegung von Verträgen mit zwei oder mehr authentischen Sprachen genannt. In Art. 33 Abs. 1 WVRK sind zunächst die Rechtsfolgen der Authentifikation eines Staatsvertrags in mehreren Sprachfassungen nach Art. 10 WVRK niedergelegt. Mehrere authentische Sprachfassungen führen zur Gleichberechtigung und Verbindlichkeit jeder Fassung für die Auslegung, sofern nicht für den Divergenzfall der Vorrang eines der Texte angeordnet ist. Damit wird klargestellt, dass ein genereller Vorrang der landessprachlichen Fassung abzulehnen ist, und dass vielmehr eine Gesamtschau aller Sprachfassungen durchgeführt werden muss. Art. 33 Abs. 2 WVRK spricht die Selbstverständlichkeit aus, dass weitere Sprachfassungen eines Vertrags, die nicht nach Art. 10 WVRK authentifiziert wurden, nur durch eine ausdrückliche Vereinbarung der Parteien zu verbindlichen Sprachfassungen erhoben werden können. Die eigentlichen Interpretationsregeln sind in Art. 33 Abs. 3 und 4 WVRK niedergelegt. Art. 33 Abs. 3 WVRK stellt die Vermutung auf, dass die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben, und kodifiziert damit die schon zuvor anerkannte Einheitsregel. 564 Die Bedeutung dieser Vermutung liegt nach der überwiegenden Meinung im Völkerrecht darin, dass die Rechtsanwender zunächst die Möglichkeit haben sollen, 561 Vgl. nur Ipsen, Völkerrecht, §11 Rdn. 11 ff.; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdn. 334 f.; zu Art. 31 WVRK eingehend Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, S. 83 ff. 562 Germer, Harv. Int. L.J. 1970, S. 400 (418); Rosenne, IsrLawR 1971, S. 360 (362). 563 Vgl. dazu die Nachweise bei Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (300); des Weiteren SeidlHohenveldern/Stein, Völkerrecht, Rdn. 341 ff. 564 Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (300).
10
Schübel-Pfister
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
sich auf die Richtigkeit eines jeden einzelnen Textes zu verlassen. 565 Dies soll so lange gelten, bis Unklarheiten und Zweifelsfälle aufzulösen sind oder Divergenzen zwischen den Vertragstexten sichtbar werden. 566 Ist die Vermutung jedoch widerlegt, d.h. hat sich eine Divergenz zwischen den verschiedenen Sprachfassungen herausgestellt, so greift Art. 33 Abs. 4 WVRK ein.
cc) Die Auffangregel des Art. 33 Abs. 4 WVRK im Besonderen Art. 33 Abs. 4 WVRK sieht vor, dass bei Widersprüchen zwischen den Sprachfassungen, die nicht durch Anwendung der Art. 31 und 32 WVRK ausgeräumt werden können, diejenige Bedeutung zugrunde zu legen ist, „die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt". Die Formulierung des Art. 33 Abs. 4 WVRK gab aufgrund ihrer doppelten Bezugnahme auf den Vertragszweck Anlass zu Kritik. Einerseits sieht Art. 33 Abs. 4 WVRK den Rückgriff auf Art. 31, 32 WVRK und damit auf das Instrumentarium der grammatikalischen, systematischen, historischen und teleologischen Auslegung auch für den Fall des Auftretens von Sprachdivergenzen vor. Andererseits weist Art. 33 Abs. 4 WVRK nochmals gesondert auf die Bedeutung der teleologischen Interpretation zur Beseitigung nicht anders auflösbarer Sprachdivergenzen hin. Da diese Vorschrift bei ihrem wörtlichen Verständnis zur Folge hätte, dass eine durch teleologische Auslegung nicht auflösbare Sprachdivergenz durch den Rückgriff auf Ziel und Zweck des Vertrags zu beheben wäre, wurde die Vorschrift des Art. 33 Abs. 4 WVRK in der Literatur als Redaktionsversehen interpretiert. 568 Sinnvollerweise kann Art. 33 Abs. 4 WVRK nur dahingehend verstanden werden, dass Sprachdivergenzen durch eine umfassende Anwendung der allgemeinen Auslegungsmethoden, nämlich der grammatikalischen, systematischen, teleologischen und ergänzend auch der historischen Methode, zu beheben sind. Ergänzend kann nach Art. 32 WVRK auf die in der völkerrechtlichen Literatur und Rechtsprechung entwickelten und bis heute fortgeltenden besonderen Auslegungsregeln zurückgegriffen werden.
565
Germer, Harv. Int. L.J. 1970, S. 400 (412); Hilf,\ Auslegung, S. 73 ff. mit Nachweisen auch zur Gegenansicht. 566 Hilf Auslegung, S. 77 ff. mit Nachweisen zu den verschiedenen Ansichten, ab wann ein Sprachvergleich geboten ist. Nach Hilf Auslegung, S. 82 soll dies dann der Fall sein, wenn der Text „aus sich heraus Unklarheiten und Zweifelsfragen erkennen lässt oder bis das den Vertrag anwendende Organ auf eine Textdivergenz stößt oder mit einer solchen konfrontiert wird". 567 Hilf Auslegung, S. 101 f. m.w.N. 568 Vgl. Germer, Harv. Int. L.J. 1970, S. 400 (425); Mössner, ArchVR 1971/1972, S. 273 (300 f.).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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c) Die Perspektive der nationalen Gerichte Von der Frage der völkerrechtlichen Interpretation durch internationale Instanzen ist die Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die einzelstaatlichen Gerichte zu unterscheiden. Hier stellt sich die Frage, inwieweit sich die nationalen Gerichte bei mehrsprachigen Verträgen auf die Heranziehung ihrer landessprachlichen Fassung, die zugleich authentische Fassung des Vertrags ist, beschränken dürfen. Im völkerrechtlichen Schrifttum ist diese Frage umstritten. 569 Auch die Rechtsprechung der deutschen Gerichte bietet ein uneinheitliches und verwirrendes Bild. 5 7 0 Überwiegend wird nur der verbindliche deutsche Vertragstext angeführt, sei es, dass er wörtlich zitiert wird, oder sei es, dass die Auslegung anhand des deutschen Textes vorgenommen wird. In einigen Entscheidungen greifen die deutschen Gerichte auf andere verbindliche Sprachfassungen zurück, wobei es sich ausnahmslos um weithin bekannte Sprachen handelt. Deren Einbeziehung kann in dreierlei Form erfolgen: Teilweise werden die fremdsprachigen Entsprechungen den deutschen Vertragsbegriffen um der Klarheit willen beigefügt. In weiteren Fällen dient die Heranziehung der fremdsprachigen Texte zur Bestätigung eines aufgrund des deutschen Textes gefundenen Auslegungsergebnisses. Schließlich setzen sich die deutschen Gerichte bisweilen mit den fremdsprachigen Wortlauten auseinander, wenn ihnen der deutsche Wortlaut mehrdeutig erscheint oder wenn von den Parteien des Verfahrens Divergenzen zwischen den sprachlichen Fassungen geltend gemacht werden. Allerdings lassen die Gerichte nur in Einzelfällen den deutschen Wortlaut außer Betracht, wenn die teleologische Auslegung ergibt, dass die fremdsprachigen Texte dem Vertragszweck eher gerecht werden. Insgesamt kann der deutschen Rechtsprechung keine eindeutige Aussage über die Pflicht zum Sprachvergleich entnommen werden, zumal eine Begründung für oder gegen die Heranziehung der fremdsprachigen Texte ganz überwiegend fehlt.
3. Die Auslegung von Texten ungleicher Verbindlichkeit Für die Auslegung von Texten ungleicher Verbindlichkeit lassen sich noch weniger einheitliche Kriterien aufstellen als bei Texten gleicher Verbindlichkeit. So gibt es verschiedene Kategorien ungleich verbindlicher Texte, deren Grenzen angesichts ihrer Vielfalt im Einzelnen fließend sind. Auch hier stellt sich nicht nur die Frage nach der Bedeutung dieser Texte im völkerrechtlichen Auslegungsprozess, also bei ihrer Interpretation durch internationale Gerichte, sondern es fragt sich auch, welche Bedeutung die innerstaatlichen Gerichte ihnen im Verhältnis zu den fremdsprachigen verbindlichen Vertragstexten
569 Dazu Rudolf, Die Sprache in der Diplomatie, S. 80 ff.; Tabory, Multilingualism, S. 196 ff.; jeweils m.w.N. 570 Vgl. zum folgenden Hilf Auslegung, S. 118 ff. mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen.
148
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
zumessen dürfen. 571 Sinnvoll erscheint es, innerstaatliche Übersetzungen, amtliche Übersetzungen und offizielle Texte zu unterscheiden. 572
a) Innerstaatliche
Übersetzungen
Die innerstaatlichen Übersetzungen werden - meist mit erheblichem zeitlichem Abstand gegenüber der Vertragsunterzeichnung - von einem Vertragspartner nachträglich und einseitig erstellt. Diese Übersetzungen haben ihrer Natur nach allenfalls sehr geringe Aussagekraft für die Auslegung des Vertragsinhalts und werden von der herrschenden Lehrmeinung im Völkerrecht als generell unbedeutend für die völkerrechtliche Vertragsinterpretation angesehen. 573 Die Analyse der deutschen Rechtsprechung zeigt allerdings, dass in vielen Fällen diese Übersetzungen im Rahmen der innerstaatlichen Vertragsauslegung ausschließlich oder vorrangig herangezogen wurden. 574
b) Amtliche Übersetzungen Einen höheren Rang als die innerstaatlichen Übersetzungen nehmen die „amtlichen" oder „offiziellen" Übersetzungen ein, die - in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zum Vertragsschluss - mit der amtlichen Autorität entweder der Vertragspartner oder einer Regierung oder eines Organs einer internationalen Organisation erstellt werden. 575 Zwar kommt auch den amtlichen Übersetzungen keine eigenständige normative Kraft im völkerrechtlichen Interpretationsprozess zu. 5 7 6 Internationale Gerichte können diese Übersetzungen aber gegebenenfalls als Indiz zur Ermittlung der richtigen Auslegung heranziehen, wenn der authentische Text zu Zweifeln Anlass gibt. 5 7 7 Teilweise wird in den Sprachklauseln der völkerrechtlichen Verträge explizit angeordnet, dass „bei Nichtübereinstimmung" der alleinige verbindliche Text maßgebend sein soll. Aus der völkerrechtlichen Bedeutung der amtlichen Übersetzungen werden auch Schlüsse in bezug auf die innerstaatliche Auslegung gezogen. So geht die Literatur überwiegend davon aus, dass bei der innerstaatlichen Auslegung die Anwendung des Vertrags anhand der amtlichen Übersetzungen erfolgen
571
Zur innerstaatlichen Seite grundlegend Métall, ZöR 1930, S. 357 (362 ff.). Vgl. dazu und zum folgenden Hardy , B.Y.I.L. 1961, S. 72 (74, 123); Hilf, Auslegung, S. 16 ff., 103 ff. 573 So insbesondere Métall, ZöR 1930, S. 357 (372 ff.); vgl. zur Diskussion des Weiteren Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (118, 136); Hilf, Auslegung, S. 107, 209 ff. m.w.N. 57 4 Hilf, Auslegung, S. 199 ff. 57 5 Hilf, Auslegung, S. 17 f., 103. 57 6 Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (24); Ipsen, Völkerrecht, § 11 Rdn. 23. 57 7 Dölle, RabelsZ 1961, S. 4 (24); vgl. im Einzelnen auch Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (136 ff.). 572
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
149
kann, solange kein Zweifel an ihrer Richtigkeit auftritt. 578 Der Bundesgerichtshof hat allerdings in einem älteren Urteil in äußerst missverständlicher Weise auf den „authentischen" Charakter der deutschen Übersetzung der EMRK hingewiesen und ihr eine den authentischen Sprachfassungen vergleichbare Bedeutung bei der Auslegung zuerkannt. 579
c) Offizielle
Texte
Den höchsten Stellenwert innerhalb der Texte ungleicher Verbindlichkeit nehmen die „autorisierten" oder „offiziellen" Texte ein. Offizielle Texte wurden zwar von den Vertragsparteien unterzeichnet, nicht aber für verbindlich erklärt. 580 Daher sind die offiziellen Texte in den Sprachklauseln der völkerrechtlichen Verträge unmittelbar neben den verbindlichen Texten verankert. 581 Sie können im Rahmen der völkerrechtlichen Auslegung ergänzend neben den verbindlichen Texten herangezogen werden, um deren Bedeutung zu erhellen. 5 8 2 Im Bezug auf die innerstaatliche Rechtsanwendung gilt für sie in noch stärkerem Maße als für die amtlichen Übersetzungen, dass sie der Auslegung zugrunde gelegt werden können, bis sich ein Zweifel an ihrer Richtigkeit stellt. Im Einzelnen ist dabei umstritten, ob der Richter nur bei von den Parteien vorgetragenen Zweifeln auf die verbindlichen Vertragstexte zurückgreifen muss oder auch dann, wenn ihm die Übersetzung als solche unklar oder mehrdeutig erscheint. 583 Jedenfalls stellen die verbindlichen Texte im Falle von Textdivergenzen die allein ausschlaggebende sichere Grundlage für die Entscheidung dar. 584
d) Zusammenfassung Angesichts der Vielfalt von Texten ungleicher Verbindlichkeit im Völkerrecht lässt sich kein allgemeiner Auslegungsgrundsatz für sie formulieren. Generell gilt, dass die Übersetzungen umso verlässlicher sind, in je engerem Zusammenhang sie mit der Erstellung der verbindlichen Fassungen eines völ578 579 580
Vgl. Hilf.i Auslegung, S. 104 m.N. BGH, NJW 1966, S. 1021 (1024).
Hardy, B.Y.I.L. 1961, S. 72 (123). Vgl. z.B. Art. X V I des Welturheberrechtsabkommens vom 6.9.1952 (zit. nach Hilf Auslegung, S. 17): 1. Das vorliegende Abkommen wird in englischer, französischer und spanischer Sprache abgefasst. Die drei Texte werden unterzeichnet und sind in gleicher Weise maßgebend. 2. Offizielle Texte des vorliegenden Abkommens werden in deutscher, italienischer und portugiesischer Sprache abgefasst. 582 Hilf Auslegung, S. 105 f. 583 Dazu Hilf Auslegung, S. 214 f. 584 Hilf Auslegung, S. 105, 222. 581
150
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
kerrechtlichen Vertrags stehen.585 Zugleich gibt es keinen abschließenden Numerus clausus für die Texte ungleicher Verbindlichkeit, sondern es können neue Texttypen mit einem ihnen eigenen Rang im Auslegungsprozess entwickelt werden. Dies mag auch für die Zukunft der Sprachenregelung in der Europäischen Union von Bedeutung werden, da hier gegenwärtig über eine Modifizierung des Sprachenregimes nachgedacht wird. 5 8 6
IV. Die Auslegung mehrsprachigen Rechts in einzelstaatlichen Rechtsordnungen Bei der Betrachtung der in den mehrsprachigen nationalen Rechtsordnungen angewandten Grundsätze zur Beseitigung von Sprachdivergenzen scheiden angesichts der Gleichberechtigung aller Amtssprachen im Gemeinschaftsrecht von vornherein all diejenigen „unvollkommen mehrsprachigen" Rechtsordnungen als Vergleichsmaßstab aus, in denen die verschiedenen Idiome nicht gleichberechtigt sind, sondern in denen einer (Haupt-)Amtssprache weitere Sprachen mit Minderheitenstatus oder nur regionalem Amtssprachenstatus gegenüberstehen. 587 Innerhalb der Europäischen Union soll daher das Beispiel des belgischen Staates herausgegriffen werden, 588 in dem nach langen Streitigkeiten 589 ein Gleichgewicht zwischen der französischen und die niederländischen Sprache verwirklicht wurde. Neben Belgien wird die Schweiz in die Betrachtungen einbezogen, da es sich dabei um einen Staat handelt, in dem die Mehrsprachigkeit eine lange Tradition hat 5 9 0 und in dem Rechtsprechung und Lehre zur Behandlung der Mehrsprachigkeitsprobleme entsprechend weit entwickelt sind.
585
Hilf.; Auslegung, S. 223. Vgl. dazu die Ausführungen im fünften Kapitel. 587 So etwa in Italien und Spanien, vgl. dazu die Beiträge von Pizzorusso, Cobarrubias und Milian-Massana, in: Pupier/Woehrling (Hrsg.), Langue et Droit; zur italienischen Rechtslage des Weiteren Petzold, JbltalR 1989, S. 77 (84 ff.). 588 Die Betrachtung der zweisprachigen Rechtsordnungen Finnlands und Irlands bleibt demgegenüber außer Betracht, da sie in der Praxis offenbar kaum Schwierigkeiten bereiten. Für das zweisprachige irische Recht ordnet Art. 25 Abs. 4 S. 6 der Verfassung vom 1.7.1937 (abgedruckt bei Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 213 ff.) bei Divergenzen zwischen der gälischen und der englischen Fassung eines Gesetzes explizit den Vorrang der gälischen Sprache an. Zum finnischen Recht vgl. Mincke, ARSP 1991, S. 446 (450); Mincke, in: de Groot/Balkema (Hrsg.), Recht en vertalen, S. 103 ff. sowie unten 4. Kap. B. III. 4. b). 586
589 Dazu Maroy, RDP 1966, S. 449 ff.; Mütter, JöR 1985, S. 145 (146 ff.); vgl. insbesondere den anhand der EMRK entschiedenen belgischen Sprachenstreit vor dem EGMR, Slg. 1968, Série A, „Affaire relative à certains aspects du régime linguistique de renseignement en Belgique", S. 1 ff.; dazu unten 4. Kap. B. III 4. a). 390 Vgl. die Übersicht bei Dürmüller, Sociolinguistica 1991, S. 111 (112 ff.).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
151
1. Die Rechtslage in Belgien Das Königreich Belgien stellt einen dreisprachigen Staat dar, in dem allerdings „nur" die französische und der niederländische Sprache gleichberechtigt sind.
a) Grundlagen des belgischen Sprachenrechts Gemäß Art. 2 der belgischen Verfassung 591 umfasst Belgien die Deutschsprachige, die Flämische und die Französische Gemeinschaft. Diese drei Gemeinschaften verteilen sich gemäß Art. 4 der Verfassung auf vier Sprachgebiete, nämlich neben dem deutschen, französischen und niederländischen Sprachgebiet noch auf das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt. Die Sprachenfreiheit und ihre Einschränkungen sind als Bestandteil der Grundrechte in Art. 30 der Verfassung normiert: „Der Gebrauch der in Belgien gesprochenen Sprachen ist frei; er darf nur durch Gesetz und allein für Handlungen der öffentlichen Gewalt und für Gerichtsangelegenheiten geregelt werden". 592 Das im Anschluss an die Grundrechte geregelte Staatsorganisationsrecht spiegelt bezüglich aller drei Gewalten die Gleichrangigkeit der französischen und niederländischen Sprache sowie die kulturelle Autonomie dieser Sprachgebiete wider, 593 während der deutschen Sprache und der dazugehörigen Sprachgemeinschaft lediglich ein - wenn auch weitreichender - Minderheitenstatus eingeräumt wird. 5 9 4
b) Das exekutive, judikative
und legislative Sprachenrecht
Die Einzelfragen, die sich aus der Mehrsprachigkeit des belgischen Staates für das legislative, exekutive und judikative Sprachenrecht ergeben, sind spezi-
591 Verfassung Belgiens, Koordinierter Text vom 17.2.1994, Moniteur Belge vom 17.2.1994 (abgedruckt bei Kimmel, Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, S. 1 ff). 592 Vgl. zum belgischen Konzept der Grundrechte und speziell zur Sprachenfreiheit Pieters, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte, S. 1 (3 ff., insbes. S. 27). 593 Vgl. nur Art. 43, 67 f. zu der nach Sprachgruppen festgelegten Zusammensetzung der Senats; Art. 99 zur paritätischen Zusammensetzung des Ministerrats, Art. 151 zur Zusammensetzung des Hohen Justizrats sowie Art. 115 ff. zu den Organen der Sprachgemeinschaften und ihren Normsetzungskompetenzen. Vgl. zum Ganzen auch Baudoin/Masse , Droits linguistiques, S. 147 ff. 594 Vgl. insbes. Art. 130 zu den Befugnissen des Rates der Deutschsprachigen Gemeinschaft, die unter anderem die Regelung der kulturellen Angelegenheiten sowie des Sprachgebrauchs in den öffentlichen Schulen umfassen. Zur unterschiedlichen Ausgestaltung der französisch- und niederländischsprachigen Räte einerseits und des Rates der deutschen Gemeinschaft andererseits Mütter, JöR 1985, S. 145 (149 f.); Hoftnann, ZaöRV 1992, S. 1 (29 f.); vgl. eingehend zur rechtlichen Stellung der deutschen Sprache in Belgien die gleichnamige Monographie von Bergmans, passim.
152
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
algesetzlich normiert. Neben den Mehrsprachigkeitsfragen in der Verwaltung 595 und in der Rechtsprechung 596 haben auch die aus der Mehrsprachigkeit der Gesetzgebung resultierenden Probleme eine ausdrückliche gesetzliche Regelung gefunden. 597 Das einschlägige Gesetz regelt den Sprachgebrauch bei der Erarbeitung, Veröffentlichung und beim Inkrafttreten von Gesetzes- und Verordnungstexten. 598 Art. 1 sieht vor, dass die Abstimmung, die Verabschiedung, die Verkündung und die Veröffentlichung der Gesetze in französischer und niederländischer Sprache zu erfolgen hat. 599 Gemäß Art. 2 müssen Gesetzesvorhaben der Regierung in beiden Sprachen vorgelegt werden; Gesetzesvorhaben aus der Mitte des Parlaments, die einsprachig abgefasst sind, werden „gegebenenfalls" in die andere Sprache übersetzt. Art. 4 trifft nähere Regeln über die zweisprachige Veröffentlichung der Gesetze; Art. 8 enthält Sondervorschriften für die mehrsprachigen Staatsverträge und ihre Veröffentlichung. Für die vorliegende Untersuchung kommt es auf die Regelung in Art. 7 des Gesetzes an. Sie sieht vor, dass zur Auflösung von Divergenzen zwischen dem französischen und dem niederländischen Text der Wille des Gesetzgebers maßgeblich ist, der mittels der üblichen Auslegungsregeln zu ermitteln ist, wobei keinem der beiden Texte Vorrang vor dem anderen zukommen soll. 6 0 0
595 Der Sprachgebrauch in Verwaltungsangelegenheiten wird geregelt durch die „Loi du 18 juillet 1966 sur l'emploi des langues en matière administrative", Moniteur Belge vom 2.8.1966 (zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.10.1998, Moniteur Belge vom 3.12.1998). Dieses Gesetz schreibt den Sprachgebrauch der Behörden gegenüber den Bürgern minuziös vor und geht dabei vom Prinzip der gebietsweisen Einsprachigkeit (Territorialitätsprinzip) aus, wonach grundsätzlich die Amtssprache der jeweiligen Sprachregion verwendet werden muss. Unter anderem sind auch Sanktionen für die Nichteinhaltung der Sprachenregelung vorgesehen. 596 Der Sprachgebrauch in der Justiz wird geregelt durch die „Loi du 15 juin 1935 concernant l'emploi des langues en matière judiciaire", Moniteur Belge vom 22.6.1935 (zuletzt geändert durch Gesetz vom 17.7.2000, Moniteur Belge vom 1.8.2000). Auch hier gilt grundsätzlich das Territorialitätsprinzip, so dass die Entscheidung zwischen den möglichen Verfahrenssprachen zunächst davon abhängt, welcher Sprachregion das Gericht angehört. In Strafverfahren kann demgegenüber der Beschuldigte stets verlangen, dass der Prozess in seiner Muttersprache geführt wird. Gerichtsverfahren können auch in deutscher Sprache geführt werden. 597 Vgl. zu den verschiedenen Sprachregelungen auch Baudoin/Masse , Droits linguistiques, S. 107 ff. mit zusammenfassender Darstellung auf S. 166 ff.; Maroy, RDP 1966, S. 449 (470 ff.). 598 „Loi du 31 mai 1961 relative à l'emploi des langues en matière législative, à la présentation, à la publication et à l'entrée en vigueur des textes légaux et réglementaires", Moniteur Belge vom 21.6.1961 (zuletzt geändert durch Gesetz vom 8.11.1995, Moniteur Belge vom 1.12.1995). 599
Im Unterschied zu den einfachen Gesetzen ist die Verfassung nicht nur in Französisch und Niederländisch, sondern auch in Deutsch niedergelegt, vgl. Art. 189 der belgischen Verfassung; zur Frage, inwieweit andere Gesetze in deutscher Sprache verfasst werden bzw. dies geboten wäre, vgl. Bergmans , Die rechtliche Stellung der deutschen Sprache in Belgien, S. 83 ff. 600 Im Original lautet die Vorschrift folgendermaßen: „Les divergences qui peuvent exister entre les textes français et les textes néerlandais sont résolues d'après la volonté du législateur, déterminée suivant les règles ordinaires d'interprétation sans prééminence de l'un des textes sur l'autre".
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
153
c) Die Auflösung von Sprachdivergenzen in der Rechtsprechung der belgischen Gerichte Diese Bestimmung ist nicht „toter Buchstabe" geblieben, sondern wird sowohl von der Cour de Cassation als auch von den Untergerichten häufig zur Lösung sprachlich bedingter Auslegungsschwierigkeiten heranzogen - teilweise sogar unter wörtlicher Wiedergabe der Vorschrift. Exemplarisch hierfür 601 soll auf ein Urteil des Kassationshofs aus dem Jahre 1982 verwiesen werden, das sich mit einer Sprachdivergenz im ,»règlement général pour la protection du travail" zu befassen hatte. 602 Die Richter gaben zunächst wörtlich die Formulierung des Art. 7 wieder und steckten damit ihre weitere Vorgehensweise zur Auslegung des streitigen Textes ab. Anschließend wurde der Wille des Gesetzgebers mittels einer Gegenüberstellung des französischen und niederländischen Textes sowie einer Analyse der Zielsetzung der streitigen Vorschrift ermittelt. Daneben lassen sich einige Urteile finden, in denen die Richter zwar nicht ausdrücklich auf Art. 7 des Sprachgesetzes Bezug nahmen, aber die auftretenden Sprachdivergenzen in der Sache anhand der dort normierten Kriterien lösten. 603 Dabei ist festzustellen, dass die historische Auslegung eine relativ große Rolle spielt, um den von Art. 7 Abs. 1 geforderten „Willen des Gesetzgebers" zu ermitteln. 604 Die historische Methode führt meist dazu, dass dem französischen Text der Vorzug gegeben wird, 6 0 5 in manchen Fällen wird aber auch die niederländische Fassung als treffender erachtet. 606 Neben der historischen Auslegung kommt auch der teleologischen Methode eine große Bedeutung bei der Auflösung von Sprachdivergenzen zu. 6 0 7 In einzelnen gerichtlichen Entscheidungen sowie von einem Teil der belgischen Lehre wird darüber hinaus ein Vorrang des Originaltextes bei Divergenzen zwischen den beiden Sprachfassungen anerkannt. 608 Trotz der traditionellen und teilweise fortbestehenden Rivalität 601 Vgl. des Weiteren z.B. Cour du Travail de Liège, ChDS 1994, S. 328 (328); Cour d'Arbitrage, JdTrib 1995, S. 470 (470). 602 Cour de Cassation, PasBel 1982 I, S. 1115 ff. 603 Vgl. z.B. Cour de Cassation, PasBel 1990 I, S. 885 (888): „(...) lorsqu'il se produit une contestation fondée sur une discordance entre les textes français et néerlandais d'une loi publiée au Moniteur, cette contestation doit être tranchée d'après la volonté du législateur". 604 Herbots, C. de D. 1984, S. 959 (963 f.); vgl. z.B. Cour de Cassation, PasBel 1972, S. 860 (860): Analyse der Bemerkungen der Berichterstatter in den verschiedenen Stadien des Gesetzgebungsverfahrens; Cour du Travail de Bruxelles, JdTribTrav 1992, S. 299 (299 f.): Auflösung der Sprachdivergenz anhand des Vorläufers der streitigen Vorschrift. 605 Cour de Cassation, PasBel 1990 I, S. 885 (888); Cour du Travail de Bruxelles, JdTribTrav 1992, S. 299 (299 f.); vgl. auch das oben erwähnte Urteil der Cour du Travail de Liège, ChDS 1994, S. 328 (328), wo abschließend auf eine zwischenzeitliche Änderung der niederländischen Fassung der streitigen Vorschrift hingewiesen wird, um sie dem französischen Text anzupassen. 606 Vgl. Cour de Cassation, PasBel 1972, S. 860 (860 Fn. 1): „C'est donc bien le texte néerlandais de l'article 655 du Code judiciaire qui exprime la pensée du législateur." 607 Vgl. z.B. Cour de Cassation, Arrêts de la Cour de Cassation 1939, S. 232 (232); Cour de Cassation, Arrêts de la Cour de Cassation 1950, S. 497 (497); dazu Herbots , C. de D. 1984, S. 959 (964). 608 Herbots , C. de D. 1984, S. 959 (965) m.w.N.
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
zwischen dem französischen und dem niederländischen Idiom scheint die belgische Rechtsprechung insgesamt ohne größere Schwierigkeiten das Problem der voneinander abweichenden Sprachfassungen zu bewältigen. Allerdings mag dazu nicht nur die Existenz einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung über die Behandlung von Sprachdivergenzen, sondern auch die Tatsache beitragen, dass bereits im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens und nicht erst bei der Fertigstellung der Gesetze eine weitgehende Zweisprachigkeit verwirklicht wird und werden muss. 609
2. Die Rechtslage in der Schweiz Auch wenn sich die historischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Mehrsprachigkeit in Belgien und der Schweiz grundlegend voneinander unterscheiden, führt der Plurilinguismus dennoch zu vergleichbaren Einzelproblemen. 610
a) Die maßgeblichen Vorschriften aa) Verfassungsrechtliche Grundlagen Sedes materiae des Sprachenrechts in der Schweiz war bis zum Jahre 1999 Art. 116 der Bundesverfassung (BV) von 1874 in der Fassung von 1938, der von der vollen Gleichberechtigung dreier Idiome, nämlich der deutschen, französischen und italienischen Sprache, ausging. Nach Art. 116 Abs. 1 BV a.F. waren zwar das Deutsche, Französische, Italienische und Rätoromanische die Afai/örtü/sprachen der Schweiz; zu Amtssprachen des Bundes wurden aber gemäß Art. 116 Abs. 2 BV a.F. nur das Deutsche, Französische und Italienische bestimmt. 611 Art. 116 Abs. 1 BV a.F. wurde von der h.M. dahingehend ausgelegt, dass er nicht nur deklaratorischen Charakter hatte, sondern auch als verfassungsrechtliche Bestandsgarantie die Mehrsprachigkeit der Schweiz und die grundsätzliche Gleichheit der vier Sprachgemeinschaften garantierte. 612 Die Sprachenfreiheit wurde vereinzelt auf Art. 116 Abs. 1 BV gestützt, 613 ganz 609
Dazu Herbots, C. de D. 1984, S. 959 (968 ff.). Marti-Rolli , La Liberté de la Langue, S. 77. 611 Die Unterscheidung zwischen National- und Amtssprache (dazu allgemein oben 2. Kap. Β. I. vor 1.) erfolgte erst durch die Revision des Art. 116 BV im Jahre 1938. Sie wurde durch den Umstand bedingt, dass man das Rätoromanische als vierte Nationalsprache anerkennen, dieses Idiom jedoch nicht zur Amtssprache des Bundes ernennen wollte, vgl. Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 61 ff.; Fleiner/Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 397. 612 Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 64 f.; Malinverni , in: Aubert (Hrsg.), BVKommentar, Art. 116 Rdn. 1 f.; Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 33 ff. 613 So Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 29 Fn. 13a. 6,0
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
155
überwiegend aber als ungeschriebenes, in den ausdrücklich gewährleisteten Freiheitsrechten der Bundesverfassung stillschweigend enthaltenes Grundrecht angesehen, das von Art. 116 BV lediglich vorausgesetzt und begrenzt wurde. 614 Konsequenterweise wurde die Sprachenfreiheit nicht nur als Freiheit zum Gebrauch der Nationalsprachen, sondern weitergehend als Befugnis zum Gebrauch der Muttersprache interpretiert. 615 Art. 116 Abs. 2 BV a.F. wurde aber nicht nur als Begrenzung der Sprachenfreiheit verstanden, sondern beinhaltete auch eine Einschränkung der Gleichheit der Sprachgemeinschaften, indem er zu Amtssprachen, die im Umgang des Bürgers mit den Bundesbehörden gelten sollten, nur das Deutsche, Französische und Italienische erklärte. 616 Dieser Rechtszustand wurde vielfach kritisiert und war auch Bestandteil der jahrzehntelangen Bestrebungen zur Verwirklichung einer Verfassungsreform, 617 die schließlich zur Annahme einer neuen Bundesverfassung im Jahre 1999 führten. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999", 618 die am 1.1.2000 in Kraft trat, enthält demzufolge auch einige wichtige Neuerungen in bezug auf das Sprachenrecht, indem sie in mehreren Vorschriften die Anerkennung der sprachlichen Vielfalt sicherstellt. Im Rahmen der Allgemeinen Bestimmungen, die die Grundwerte der Schweizerischen Eidgenossenschaft normieren, 619 erkennt Art. 4 BV als Nachfolgevorschrift zu Art. 116 Abs. 1 BV a.F. das Deutsche, Französische, Italienische und Rätoromanische als Nationalsprachen des Schweiz an. 6 2 0 Im zweiten Kapitel der Bundesverfassung folgen die Grundrechte, von denen zwei auf die Sprache Bezug nehmen. Mit Art. 8 Abs. 2 enthält die Bundesverfassung erstmals ein Diskriminierungsverbot, das sich explizit auch auf die Diskriminierung aus sprachlichen Gründen bezieht. 621 Noch bedeutsamer ist Art. 18 BV, der nunmehr erstmals ausdrücklich die Sprachenfreiheit in der Schweiz gewährleistet und damit den oben erwähnten Streit über die Rechtsgrundlage der Sprachenfreiheit obsolet macht. Schließlich wurde durch die Verfassungsänderung auch die Schlechterstellung des Rätoromanischen weitgehend beseitigt, indem die 1938 eingeführte Unterscheidung zwischen Amts- und Nationalsprachen wieder aufgehoben wurde. Der neue Art. 70 Abs. 1 BV bestimmt, dass die Amts614 So die Grundsatzentscheidung des Schweizer Bundesgerichts aus dem Jahre 1965, BGE 91 I 480, 486 (Association de l'Ecole française); vgl. zu den unterschiedlichen Einordnungen Fleiner/Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 393 f.; Marti-Rolli , La Liberté de la Langue, S. 14 ff. 6,5 Vgl. nur BGE 106 Ia 299, 302 (Brunner/Tiefnig). 616 Zur Rechtfertigung des Ausschlusses des Rätoromanischen Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 120 ff.; ablehnend Viletta, Sprachenrecht, S. 213 ff. 6,7 Vgl. zur Geschichte der Verfassungsreform hinsichtlich der sprachlich relevanten Regelungen Kägi-Diener, AJP 1995, S. 443 (444 f., 451). 618 Angenommen in der Volksabstimmung vom 18.4.1999, BB1. 1999 973 162; SR 101; vgl. zur neuen Bundesverfassung den Überblick bei Fleig, VB1BW 2000, S. 268 ff. 619 Dazu Fleig, VB1BW 2000, S. 268 (269). 620 Müller, Grundrechte in der Schweiz, S. 140. 621 Näher Müller, Grundrechte in der Schweiz, S. 418 ff.
156
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
sprachen des Bundes Deutsch, Französisch und Italienisch sind, dass im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache aber auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes ist. Die Abs. 2 bis 5 regeln die Autonomie des Sprachenrechts der Kantone und das Zusammenwirken zwischen Bund und Kantonen insbesondere bei den durch die Mehrsprachigkeit einzelner Kantone resultierenden Problemen. Wenn sich somit auch in den mehrsprachigen Kantonen Probleme der Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte stellen, 622 soll sich die folgende Darstellung nichtsdestoweniger auf die mehrsprachigen Gesetze auf Bundesebene konzentrieren.
bb) Einfachgesetzliche Vorschriften In der Literatur wird das konstitutionelle, legislative, exekutive, judikative und kulturelle Sprachenrecht unterschieden. 623 Bezüglich der Gesetzgebung bedeutet die Gleichberechtigung der Amtssprachen, dass die Rechtstexte des Bundes, die sogenannten Erlasse, in eben diesen Amtssprachen verabschiedet und veröffentlicht werden müssen. Allerdings gelten weiterhin Sondervorschriften für das Rätoromanische, da es nur in administrativer, nicht, aber in legislativer Hinsicht den übrigen Amtssprachen gleichgestellt wurde. Vor der Verabschiedung der Erlasse wird gemäß Art. 31 Abs. 1 G V G 6 2 4 ihr Wortlaut von der Redaktionskommission überprüft, die sich nach Abs. 2 aus Unterkommissionen für jede Amtssprache zusammensetzt. Die Redaktionskommission legt die endgültigen Fassungen der Erlasse fest, beseitigt formale - nicht aber inhaltliche - Widersprüche und sorgt insbesondere für die Übereinstimmung der Texte in den drei Amtssprachen (Art. 32 Abs. 1 GVG). Nach der Verabschiedung eines Erlasses erfolgt gemäß Art. 66 GVG seine dreisprachige Ausfertigung und Bekanntmachung. Nach Art. 8 Abs. 1 des Publikationsgesetzes625 werden die Erlasse ebenfalls dreisprachig, nämlich in deutscher, französischer und italienischer Sprache, in der Amtlichen Sammlung veröffentlicht. 626 Art. 9 Abs. 1 des Publikationsgesetzes legt ausdrücklich fest, dass bei den Bundeserlassen die drei in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Fassungen in gleicher Weise maßgebend sind; Ausnahmen gelten gemäß Abs. 2 lediglich für völkerrechtliche Verträge und internationale Beschlüsse.
622 Vgl. dazu Baudoin/Masse, Droits linguistiques, S. 220; Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 253 ff., insbes. S. 259 f.; Marti-Rolli , La Liberté de la Langue, S. 81 ff. 623 Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 58; vgl. dazu bereits oben 2. Kap. Α. I. 1. 624 Bundesgesetz über den Geschäftsverkehr der Bundesversammlung sowie über die Form, die Bekanntmachung und das Inkrafttreten ihrer Erlasse vom 23.3.1962, zuletzt geändert am 29.8.2000, SR 171.11. 625 Bundesgesetz über die Gesetzessammlungen und das Bundesblatt vom 21.3.1986, SR 170.512. 626 Bundeserlasse werden nur bei „besonderer Tragweite" in rätoromanischer Sprache veröffentlicht, vgl. Art. 14 Abs. 3 des Publikationsgesetzes.
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
b) Die Lösung der sprachlichen Differenzen
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durch die Rechtsprechung
Angesichts der gleichen Verbindlichkeit aller Sprachfassungen der schweizerischen Erlasse stellt sich ebenso wie im belgischen Recht die Frage, wie bei der Abweichung der verschiedenen offiziellen Fassungen voneinander verfahren werden soll. Seit der Gründung des Bundesstaates wurden verschiedene Methoden diskutiert und angewandt, um die maßgebende Bedeutung eines in seinem dreisprachigen Wortlaut nicht übereinstimmenden Gesetzes zu ermitteln. Nach einigen Schwankungen können die Rechtsprechung und die herrschende Literatur zur Behandlung von Sprachdivergenzen aber nunmehr seit mehr als einem halben Jahrhundert als gefestigt angesehen werden. 627 Darauf hingewiesen sei, dass sich die im Folgenden zusammenfassend dargestellten Rechtsauffassungen durchgehend auf Art. 116 BV a.F. beziehen, also von der Gleichberechtigung lediglich des Deutschen, Französischen und Italienischen ausgehen. Dies ist jedoch für den vorliegenden Zweck unschädlich, da die Gleichberechtigung des Rätoromanischen nur in administrativer, nicht aber in legislativer Hinsicht verwirklicht wurde. Ohnehin ist Ziel der folgenden Ausführungen die Erarbeitung eines Vergleichsmaßstabs zum Gemeinschaftsrecht, nicht aber die Lösung der aus der neuen Stellung des Rätoromanischen resultierenden spezifischen Probleme.
aa) Rechtliche und faktische Priorität des deutschen Textes Auch in der Schweiz wurde zunächst versucht, das Problem des Auftretens von Differenzen zwischen den einzelnen Sprachfassungen im Wege einer ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung zu lösen. In einem Protokoll zu Art. 109 BV, dem Vorläufer von Art. 116 BV, wurde für den Divergenzfall explizit die Priorität des deutschen Textes vorgeschrieben. 628 Diese Regelung wurde jedoch in der Praxis so nicht angewandt, da sowohl Rechtsprechung als auch herrschende Lehre bereits vor Inkrafttreten des Art. 116 BV von einer prinzipiellen Gleichrangigkeit der drei Sprachfassungen ausgingen. Vielmehr versuchte die Praxis zunächst, inhaltliche Widersprüche durch die Ermittlung des Willens des historischen Gesetzgebers zu lösen. 629 Es wurde derjenige Text als maßgebend erachtet, in dessen Sprache der Entwurf des Gesetzes abgefasst worden war. Neben dem sprachlichen Urtext wurden alle verfügbaren Gesetzesmaterialien, wie z.B. Erläuterungen und Protokolle, herangezogen, um daraus den Willen des Gesetzgebers abzuleiten. Da jedoch die Mehrzahl der Entwürfe in deutscher 627 Vgl. zum folgenden die Darstellung bei Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 199 ff.; Malinverni, in: Aubert (Hrsg.), BV-Kommentar, Art. 116 Rdn. 14. 628 Ähnliche Bestimmungen finden sich auch heute noch in einigen Schweizer Kantonsverfassungen, vgl. dazu Häberle, FS Pedrazzini, S. 105 (109); von Overbeck, C. de D. 1984, S. 973 (976). 629 Dazu Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 201; von Overbeck, C. de D. 1984, S. 973 (982).
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
Sprache ausgearbeitet wurde, 630 hatte diese Methode - obwohl sie an sich vom Postulat der Gleichwertigkeit der Fassungen ausging - meist zur Folge, dass der deutsche Text als maßgebend angesehen wurde. Er genoss somit faktisch weitgehend Priorität gegenüber den beiden anderen Sprachfassungen.
bb) Systematisch-teleologische Auslegung Im Laufe der Zeit nahm die Rechtsprechung von der historischen Methode Abschied und konzentrierte sich zunehmend auf die systematisch-teleologische Auslegung, die heute von Praxis und Lehre übereinstimmend als entscheidende Methode zur Auflösung der zwischen den Gesetzestexten bestehenden Differenzen angesehen wird. 631 Auch die Anwendung der systematisch-teleologischen Methode führt häufig dazu, dass die im deutschen Text enthaltene Lösung als richtig anerkannt wird 6 3 2 - einfach aus dem Grund, weil unrichtige Übersetzungen des deutschen Vorentwurfs zu einem sinnlosen oder sinnwidrigen Wortlaut in den anderen Sprachen geführt haben. 633 Andererseits wird aber auch nicht selten dem italienischen und/oder französischen Text der Vorzug gegeben,634 wenn nämlich die Wiedergabe des deutschen Vorentwurfs in den romanischen Sprachen zu einer sprachlich bedingten Nuancierung geführt hat,
630 Dies ist auch heute noch gängige Praxis, da Art. 116 Abs. 2 BV nicht dahingehend interpretiert wurde, dass es bereits während der Ausarbeitung der Entwürfe die Verwendung aller Amtssprachen gebiete, vgl. Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 62, 85 f.; Malinverni , in: Aubert (Hrsg.), BV-Kommentar, Art. 116 Rdn. 9; eingehend zur Verwendung der einzelnen Sprachen in der Gesetzesvorbereitung, der parlamentarischen Beratung und der endgültigen Gesetzesredaktion Brühlmeier, ZG 1989, S. 116 (118 ff.). Mit der Präponderanz einer einzelnen Sprache im schweizerischen Gesetzgebungsverfahren ist ein entscheidender Unterschied zur Bewältigung des Sprachproblems in Belgien aufgetan, wo die Zweisprachigkeit bereits im Gesetzgebungsverfahren weitgehend vorgeschrieben ist. 631 Vgl. dazu Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 88 f.; vgl. aus der Rechtsprechung exemplarisch die ausführliche teleologische Auslegung in BGE 107 Ib 229, 231 f. (Messner). 632 Vgl. z.B. BGE 100 I b 75, 77 (Korporation Burghof); BGE 100 I b 86, 90 (Secchi); BGE 100 I b 482, 487 ff. (Bucher). 633 Vgl. zur „Reihenfolge" der Erstellung der Sprachfassungen plastisch Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 86: „En pratique, quasiment tous les projets sont préparés d'abord en allemand, la traduction en français intervenant plus tard, et la traduction en italien tout à la fin"; zu Bestrebungen, eine Parallelredaktion bei einigen kantonalen und bundesweiten Gesetzestexten in deutscher und französischer Sprache durchzuführen, s. Caussignac, in: Snow/Vanderlinden (Hrsg.), Français Juridique et Science du Droit, S. 71 (74 ff.). 634 Beispielsweise gab das Bundesgericht der französischen und italienischen Fassung von Art. 742 Abs. 3 ZGB den Vorzug, BGE 97 II 371, 383 (Kanton Schaffhausen); Vorrang des italienischen und französischen Textes des Weiteren in BGE 96 IV 1,6 (Wey); Entscheidung für den französischen im Gegensatz zum deutschen und italienischen Text z.B. in BGE 83 IV 75, 78 f. (Morger); Vorrang der italienischen Fassung vor den beiden anderen Sprachen z.B. in BGE 69 IV 178, 179 f. (Strautmann); BGE 71 IV 38 f. (Mäusli); BGE 87 IV 113, 114 (Csonka); BGE 103 IV 98, 99 (X/Staatsanwaltschaft Basel-Stadt).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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die den materiellen Gehalt der geplanten gesetzgeberischen Lösung treffender umschreibt als der deutschsprachige Vorentwurf. 3 5
cc) Die „liberale Methode" und die Rechtsstellung des Bürgers Neben der systematisch-teleologischen Auslegung hatte sich insbesondere im Verwaltungs- und im Strafrecht eine weitere Methode zur Bestimmung des maßgebenden Textes entwickelt, die als „liberale Methode" bezeichnet wird. Nach diesem Grundsatz soll bei einem aufgrund divergierender Sprachfassungen unklaren Wortlaut diejenige Deutung angewandt werden, welche die Freiheit des Bürgers weniger einschränkt bzw. die für die Bürger - oder, wenn keine Bürger betroffen sind, für die Kantone - günstiger ist. 6 3 6 Die Parallele zu der im Völkerrecht diskutierten Günstigkeitsregel ist augenfällig. Die liberale Methode wurde zunächst in mehreren Entscheidungen vom Bundesgericht anerkannt, 637 später aber zugunsten der Ermittlung des „wahren Sinns4' des fraglichen Gesetzes zurückgedrängt. 638 Nach der Ablehnung einer grundsätzlichen Anwendung der liberalen Methode 639 erhebt sich die Frage, wie die berechtigten Interessen der Bürger, die sich auf ihre heimische Sprachfassung verlassen haben, geschützt werden sollen. Im Strafrecht kann der aus einer mangelnden Übereinstimmung der Sprachfassungen resultierenden Unklarheit des Wortlauts durch die Annahme eines Rechtsirrtums Rechnung getragen
635 Positive Bewertung dieses Phänomens bei Briifilmeier, ZG 1989, S. 116 (132); Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 210 f.; von Overbeck, C. de D. 1984, S. 973 (981). 636 Diese Auffassung wurde insbesondere von Giacometti entwickelt, vgl. Giacometti, Die Auslegung der schweizerischen Bundesverfassung, S. 22; Fleinerl Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 564. 637 Vgl. nur BGE 51 I 159, 161 (Christ): „Der Auslegung der letzten Vorschrift kann (...) nicht einfach der deutsche Gesetzestext zu Grunde gelegt werden mit der Argumentation, dass es der Urtext sei. Vielmehr verbietet der Charakter der Vorschrift als gewerbepolizeilicher Freiheitsbeschränkung jede ausdehnende, über den Wortlaut hinausgehende Auslegung (...). Und zwar ist bei Verschiedenheit der Texte auf den in der Beschränkung am wenigsten weitgehenden Text abzustellen, da es einerseits nicht angeht, den Bürger wegen einer Handlung zu bestrafen, deren Unzulässigkeit er aus dem Gesetzestext seiner Muttersprache schlechterdings nicht ersehen kann, andererseits die Rechtsanwendung einheitlich sein muss"; des Weiteren z.B. BGE 60 II 313, 318 f. (Gema/Gerber). 638 Grundlegend BGE 69 IV 178, 180 (Strautmann): „Si ces textes sont divergents, le sens véritable de la loi doit être recherché selon les méthodes usuelles de l'interprétation, en droit pénal aussi bien qu'en d'autres domaines du droit"; bestätigt z.B. in BGE 70 IV 81, 81 f. (Mariot); BGE 76 IV 237, 241 (Wingeier); zustimmend zu der neueren Rechtsprechung Malinverni, in: Aubert (Hrsg.), BV-Kommentar, Art. 116 Rdn. 14; für den Bereich des Strafrechts ablehnend unter dem Gesichtspunkt des Grundsatzes „nulla poena sine lege" Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 90. 639 Fortbestehende Bedeutung der liberalen Methode aber beispielsweise in BGE 75 I 322, 326 (Daverio & Cie.); BGE 107 Ib 229, 231 (Messner); dazu von Overbeck, C. de D. 1984, S. 973 (984).
2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
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werden. 640 Im Verwaltungsrecht wird die Rechtsstellung des Bürgers kaum thematisiert, was möglicherweise auch damit zusammenhängt, dass viele Schweizer ohnehin mehrere Amtssprachen beherrschen und diese unproblematisch vergleichen können. 641 Nach Ansicht von Fleiner/Giacometti können sich die Bürger zunächst auf den Gesetzestext in ihrer eigenen Sprache verlassen, haben aber bei der Feststellung einer Diskrepanz „die Aufgabe, unter Zuhilfenahme aller Mittel der juristischen Interpretation festzustellen, welcher der drei Texte den richtigen Sinn wiedergibt und dem Willen des Gesetzgebers entspricht". 642 In einem jüngeren Urteil erkannte ein schweizerisches Gericht explizit an, dass die in Rede stehende Divergenz zwischen der französischen und der deutschen Fassung einer Vorschrift dem von ihr betroffenen Bürger nicht zum Nachteil gereichen dürfe, sondern dass der französische Bürger schutzwürdiges Vertrauen auf den französischen Text der Vorschrift genieße: „Eu égard au principe de la bonne foi, X. pouvait toutefois se fier à l'assurance expresse du texte français de cette disposition (...) et n'a pas à souffrir de la contradiction entre les deux versions officielles de ladite règle". 643 Eine nähere Präzisierung der Gründe und Voraussetzungen für die Gewährung von Vertrauensschutz unterblieb jedoch.
c) Herbeiführung
inhaltlicher Übereinstimmung durch Textberichtigung
Schon früh erkannte man in der Schweiz, dass die Beseitigung von Sprachdivergenzen durch die Rechtsprechung nicht immer ausreichte, sondern dass in manchen Fällen auch eine Änderung des Wortlauts der fehlerhaften Sprachfassungen geboten war. Zwar war es grundsätzlich anerkannt, dass die Änderung des Gesetzeswortlauts nur durch das Organ vorgenommen werden konnte, das den ursprünglichen Wortlaut formuliert hatte - mithin in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch die Bundesversammlung selbst. Da die formelle Gesetzesrevision sich aber als schwerfällig und zeitraubend erwies, bildete sich die Praxis heraus, dass der Bundesrat als Exekutivorgan von sich aus die zur Erzielung der inhaltlichen Übereinstimmung erforderlichen Änderungen am Wortlaut des Gesetzes vornahm. 644 Einerseits sollte durch diese Korrekturen vermieden werden, dass die fehlerhaften Gesetze zu Auslegungsschwierigkeiten bei der Rechtsanwendung führten; andererseits hielt man ein erneutes Durchlaufen des Gesetzgebungsverfahrens für nicht zweckmäßig, da es die Gefahr neuer Diskussionen über den materiellen Gehalt des Gesetzes in sich barg. Diese Praxis wurde von der herrschenden Meinung nicht als Verstoß 640 Vgl. Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 90; Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 215. 641 Vgl. Dürmüller, Sociolinguistica 1991, S. 111 (117 ff.) mit zahlreichen Statistiken. 642 Fleiner/Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 563. 643 644
Arrêt de la Cour de Droit Public, RVJ/ZWR 1998, S. 53 f. (X/Conseil d'Etat). Vgl. dazu Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 195 f.
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
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gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz angesehen,645 da sich der Bundesrat auf die Beseitigung eindeutiger redaktioneller Irrtümer beschränkte und insoweit als Hilfsorgan der Gesetzgebung erschien. In späterer Zeit wurden aber Bedenken gegen diese Praxis unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkungsbeschränkung laut, 646 zumindest wenn die Berichtigungen erst längere Zeit nach dem Inkrafttreten des betreffenden Gesetzes erfolgten. 647 Daher wurde eine gesetzliche Lösung der Problematik in Art. 33 GVG herbeigeführt. 648 Diese Vorschrift bestimmt in Abs. 1, dass die Redaktionskommission auch noch nach der Verabschiedung des Erlasses, nämlich bis zu seiner Veröffentlichung in der Gesetzessammlung, zur Verbesserung sogenannter „sinnstörender Versehen" befugt ist. Werden Abweichungen zwischen den drei offiziellen Fassungen allerdings erst nach Inkrafttreten des Gesetzes festgestellt, ist deren Behebung gemäß Abs. 2 dem Gesetzgeber vorbehalten. Eine nach dem Inkrafttreten vorgenommene Textberichtigung seitens der Exekutive ist daher nicht mehr zulässig.
3. Zusammenfassender Vergleich Der Vergleich der belgischen und schweizerischen Ansätze zur Bewältigung des Sprachdivergenzproblems ergibt, dass ungeachtet einer unterschiedlichen theoretischen Fundierung - gesetzliche Auslegungsregel einerseits und richterrechtliche Lösung andererseits - die Methoden zur Auflösung von Sprachdivergenzen weitgehende Parallelen aufweisen. In beiden Ländern soll nicht eine der Amtssprachen automatisch Vorrang von der anderen beanspruchen können, sondern der ,»richtige Sinn" des Textes durch Anwendung verschiedener Auslegungsmethoden ermittelt werden. Allerdings scheint die belgische Rechtsprechung dabei der Erforschung des gesetzgeberischen Willens mit Hilfe der historischen Auslegung eine größere Bedeutung zuzumessen als die schweizerischen Richter, die das Schwergewicht auf die systematisch-teleologische Interpretation legen. Beiden Rechtssystemen ist dabei gemeinsam, dass zwar häufig, nicht aber zwangsläufig die Sprache der Urfassung des Rechtsakts Vorzug genießt. Neben diesen Ähnlichkeiten in der Auslegungsmethodik fällt eine weitere Parallele ins Auge: Die Urteile sowohl der belgischen als auch der schweizerischen Gerichte hatten sich überwiegend mit Begriffsdivergenzen in Form von Übersetzungsfehlern, kaum aber mit Bedeutungsdivergenzen zu befassen. Dies 645
Vgl. in diesem Sinne BGE 68 IV 54, 59 (Solothurn-Lebern): „Der Bundesrat hat am 20. November 1941 die Fehlredaktion berichtigt (...). Da er damit lediglich den Wortlaut wieder herstellte, wie er dem durch logische und historische Auslegung gewonnenen Sinn entspricht, stellt sich die Frage nicht, ob er hierzu zuständig gewesen sei". 646 Vgl. Hegnauer, Das Sprachenrecht der Schweiz, S. 197 f. 647 Beispiele zu dieser Praxis bei Malinverni, in: Aubert (Hrsg.), BV-Kommentar, Art. 116 Rdn. 16 Fn. 29. 648 Dessemontet, Le droit des langues en Suisse, S. 89; Malinverni, in: Aubert (Hrsg.), BVKommentar, Art. 116 Rdn. 16.
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Schübel-Pfister
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
rührt daher, dass sich die verschiedenen Rechtssprachen auf ein und dasselbe Rechtssystem beziehen, so dass es nicht zu Bedeutungsdivergenzen kommen kann, die auf der Systemgebundenheit der Rechtssprache beruhen. Lediglich Bedeutungsdivergenzen, die auf die Eigengesetzlichkeit jeder Sprache - also auf die fehlende Deckungsgleichheit von Begriffen in der Alltagssprache zurückzuführen sind, treten auch in mehrsprachigen Nationalstaaten auf. Damit ist zugleich ein entscheidender Unterschied zu dem Auftreten von Sprachdivergenzen in der Europäischen Union dargetan, wo die Bedeutungsdivergenzen im Hinblick auf den gegenwärtig bestehenden Rechtspluralismus einen wichtigen Platz einnehmen. De lege ferenda wird daher die Vermeidung von Bedeutungsdivergenzen im Gemeinschaftsrecht auch davon abhängen, ob es gelingen wird, im Laufe der Zeit eine stärkere Einheitlichkeit des gemeinschaftlichen Rechtssystems und der dazugehörigen Terminologie herauszubilden. 649
V. Die Auslegung des EGKS-Vertrags Die Auslegung des EGKS-Vertrags ist aufgrund der Tatsache, dass er allein in französischer Sprache authentisch ist, getrennt vom übrigen Gemeinschaftsrecht zu behandeln. Gleiches gilt für das zum EGKS-Vertrag erlassene, nur in französischer Sprache verbindliche Sekundärrecht, wie z.B. das Immunitätenprotokoll der EGKS oder die Satzung des damals nur für die EGKS zuständigen Gerichtshofs. 650 Zwar scheint die Behandlung des EGKS-Vertrags nur noch von historischem Interesse zu sein, da gemäß Art. 97 EGKSV die Gültigkeit des Vertrags am 23.7.2002 geendet hat. 5 1 Nichtsdestoweniger sollen einige der sprachlich bedingten Auslegungsprobleme des EGKSV kurz dargestellt werden, um einen Vergleichsmaßstab zur Auslegung des übrigen Gemeinschaftsrechts zu gewinnen. Zudem verdienen die Urteile zum EGKSV deswegen Beachtung, weil in jüngerer Zeit verschiedentlich gefordert wurde, auch im Übrigen Gemeinschaftsrecht die Zahl der Vertrags- und Amtssprachen zu verringern. Um einen Überblick über die bei der Auslegung des EGKS-Vertrags angewandten Methoden zu erhalten, muss mangels expliziter Ausführungen in den Entscheidungsgründen häufig auf die Schlussanträge der Generalanwälte zurückgegriffen werden.
649
s. dazu 5. Kap. Α. II. l.b). Im Übrigen geht die EGKS aber von der Gleichberechtigung der Gemeinschaftssprachen aus, vgl. dazu oben 2. Kap. Β. I. l.b). 651 Vgl. auch das zum Vertrag von Nizza abgefasste Protokoll C.l über die finanziellen Folgen des Ablaufs des EGKS-Vertrags und über den Forschungsfonds für Kohle und Stahl, abgedruckt bei Hümme r/Obw exe r, Der Vertrag von Nizza, S. 115 f. 650
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
163
1. Die Behandlung von Begriffsdivergenzen Bei der Behandlung von Begriffsdivergenzen zwischen der verbindlichen französischen Fassung und den amtlichen Übersetzungen hat sich der EuGH teilweise nur auf den französischen Wortlaut gestützt, teilweise aber auch die Übersetzungen bei der Auslegung herangezogen.
a) Ausschließlicher Rückgriff
auf den französischen Text
In einigen Urteilen orientierten sich Gerichtshof und Generalanwälte ausschließlich am französischen Text zur Entscheidung der streitigen Rechtsfrage, ohne diese Vorgehensweise näher zu begründen. Als Beispiel hierfür mag das zweite Urteil „ASSIDER" dienen, das in einem Verfahren zur Auslegung des ersten Urteils „ASSIDER" erging. 652 Nach dem französischen Text von Art. 37 der Satzung des Gerichtshofs sind Auslegungsurteile möglich ,,[e]n cas de difficulté sur le sens et la portée d'un arrêt". Die amtliche deutsche Übersetzung setzt demgegenüber einen Streit über Sinn und Tragweite eines Urteils" voraus. 653 Der Gerichtshof stützte sich - ebenso wie Generalanwalt Lagrange ausschließlich auf die französische Fassung der Vorschrift, um klarzustellen, dass die Auslegungsklage auch bei bloßen „Schwierigkeiten" hinsichtlich der Auslegung eines Urteils zulässig ist, ohne dass zwischen den Beteiligten ein echter (Rechts-)Streit bestehen müsste. 654 Wie der damalige deutsche EuGHRichter Riese ausführt, war dem Gerichtshof die abweichende Ausdrucksweise des deutschen Textes durchaus bekannt; er hielt eine Auseinandersetzung mit ihr aber nicht für erforderlich, da bereits die grammatikalische Auslegung des französischen Textes eine klare Entscheidung der streitigen Rechtsfrage ermöglichte. 655 Daraus lässt sich der allgemeine Grundsatz ableiten, dass im Falle einer klaren und eindeutigen Formulierung des französischen Textes sprachliche Abweichungen in den amtlichen Übersetzungen der übrigen Mitgliedstaaten unbeachtlich sind und nicht bei der Auslegung berücksichtigt werden müs656
sen. Die gleiche Vorgehensweise des Gerichtshofs lässt sich einem Urteil zum Klagerecht der Unternehmen nach Art. 33 EGKSV entnehmen.657 Auch hier wichen der authentische französische Text und die amtliche deutsche Überset-
652
EuGH, Rs. 5/55, ASSIDER/Hohe Behörde, Slg. 1954/55, 275. Hervorhebung jeweils durch Verf. 654 EuGH, Rs. 5/55, ASSIDER/Hohe Behörde, Slg. 1954/55, 275, 290 f.; SchlA S. 302 f. 655 Riese, FS Dölle, S. 507 (518). 656 Riese, FS Dölle, S. 507 (518); kritisch zu dieser Vorgehensweise Dickschat, RevBelDrlnt 1968, S. 40 (50). 657 EuGH, verb. Rs. 7, 9/54, Groupement des Industries Sidérurgiques Luxembourgeoises/Hohe Behörde, Slg. 1955/56, 53. 653
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
zung voneinander ab. Der französische Text „un recours contre les décisions individuelles" gewährte den Unternehmen das Klagerecht unter der einzigen Voraussetzung, dass es sich um eine sie betreffende individuelle Entscheidung handelte, unabhängig davon, an wen sie konkret gerichtet war. Die deutsche Fassung „Klage wegen der sie individuell betreffenden Entscheidungen" deutete demgegenüber darauf hin, dass nur der unmittelbare Entscheidungsadressat ein Klagerecht besitzen sollte. Der Gerichtshof entschied sich für die von der französischen Fassung vorgegebene Auslegung, ohne die abweichende deutsche Formulierung ausdrücklich zu erwähnen. 658 Ebenso wie in dem zuvor erörterten Urteil führte der maßgebliche französische Text schon nach der grammatikalischen Auslegung zu einer klaren Entscheidung und machte daher den Rückgriff auf die amtlichen Übersetzungen entbehrlich. 659
b) Berücksichtigung
der amtlichen Übersetzungen
In späteren Fällen hat sich der Gerichtshof demgegenüber nicht ausschließlich auf den französischen Wortlaut zur Entscheidung einer Auslegungsfrage gestützt. Dies wird in der Literatur z.T. damit begründet, dass die amtlichen Übersetzungen des EGKS-Vertrags durch den Abschluss der viersprachigen römischen Verträge eine Aufwertung erfahren hätten. Soweit ihre Begriffe mit denen der Römischen Verträge übereinstimmten, würden sie bei der Auslegung des EGKS-Vertrags eine weit bedeutendere Rolle spielen, als dies bei Übersetzungen herkömmlicher völkerrechtlicher Verträge der Fall sei. 660 Der Rückgriff des Gerichtshofs auf die amtlichen Übersetzungen im Bereich der EGKS soll anhand zweier Urteile erläutert werden. Art. 65 EGKSV verbietet in seiner deutschen Fassung Unternehmensvereinbarungen und verabredete Praktiken, „die darauf abzielen würden, den Wettbewerb zu verhindern, einzuschränken oder zu verfälschen". Indem die deutsche Fassung mit dem Begriff „abzielen auf 4 ein subjektives Element verwendet, steht sie im Einklang mit dem französischen Text, wonach ebenfalls alle Praktiken verboten sind, „qui tendraient à empêcher le jeu normal de la concurrence". Die niederländische Fassung verwendet demgegenüber den Ausdruck „kunnen leiden" („dazu führen können") und ist damit rein objektiv zu verstehen. Der Generalanwalt verlieh der streitigen Passage eine objektive Sinndeutung, die der niederländischen Übersetzung näher als dem authentischen französischen Text stand. 661 In seinem Urteil beschränkte sich der Gerichtshof auf die Feststellung, dass die beanstandeten Praktiken jedenfalls nicht die objektive Wirkung einer Wettbewerbsbeeinträch658
EuGH, verb. Rs. 7, 9/54, Groupement des Industries Sidérurgiques Luxembourgeoises/Hohe Behörde, Slg. 1955/56, 53, 87 f.; dazu Dickschat, RevBelDrlnt 1968, S. 40 (51); Lipstein, Tul. L.Rev. 1973/1974, S. 907 (909). 659 Riese, FS Dölle, S. 507 (520). 660 Hilf, Auslegung, S. 110; vgl. auch Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 152. 661 SchlA zu EuGH, Rs. 18/60, Worms/Hohe Behörde, Slg. 1962, 395, 430.
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
165
tigung hatten. Er vermied damit zwar eine endgültige Entscheidung für oder gegen die Formulierung im französischen Text, stützte sich bei seiner Auslegung aber ersichtlich auch auf die amtlichen Übersetzungen. 662 Aus dieser Vorgehensweise kann man schließen, dass der Gerichtshof bei Zweifeln an der richtigen Auslegung des französischen Wortlauts auf die amtlichen Übersetzungen zurückgreift. Dies bestätigt sich auch in einem Urteil zur Auslegung des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten der EGKS. Hier berief sich der Gerichtshof darauf, dass das im französischen Text gebrauchte Wort „privilèges" in der deutschen Übersetzung mit „Vorrechte" und in der niederländischen Sprache mit „voorrechten" wiedergegeben war; daraus folgerte er, dass die im Protokoll vorgesehenen Privilegien den Begünstigten subjektive Rechte verliehen. 663 Diese Auslegung wurde im Folgenden durch weitere Gesichtspunkte, insbesondere den gemeinsamen Willen der Vertragschließenden und die ratio legis der Vorschrift, bestätigt. 664
2. Die Behandlung von Bedeutungsdivergenzen Neben Begriffsdivergenzen haben auch Bedeutungsdivergenzen bei der Auslegung des EGKS-Vertrags mehrfach eine Rolle gespielt. Insbesondere stellte sich die Frage, ob bei der Auslegung eines im Vertragstext gebrauchten Terminus technicus, der ersichtlich dem französischen Rechtssystem entlehnt war, ausschließlich die französische Rechtsprechung und Lehre zugrunde gelegt werden konnte oder gar musste. Bereits zu Beginn seiner Rechtsprechung hatte sich der Gerichtshof mit der Auslegung des Begriffs „détournement de pouvoir" (,,Ermessensmissbrauch") zu befassen, der Voraussetzung für das Anfechtungsrecht der Unternehmen gegenüber allgemeinen Entscheidungen der Hohen Behörde nach Art. 33 EGKSV war. In seinem ersten diesbezüglichen Urteil hatte der Gerichtshof noch ohne weiteres die vom französischen Conseil d'Etat entwickelten Grundsätze angewandt, wonach ein Ermessensmissbrauch dann vorliegt, wenn eine Verwaltungsbehörde ihre Befugnisse zu einem anderen Zweck ausgeübt hat als demjenigen, zu dessen Verwirklichung ihr diese Befugnisse verliehen wurden. 665 Dies geschah, obwohl Generalanwalt La662
EuGH, Rs. 18/60, Worms/Hohe Behörde, Slg. 1962, 395, 419; dazu Riese, FS Dölle, S. 507
(519). 663
EuGH, Rs. 6/60, Humblet/Belgischen Staat, Slg. 1960, 1163, 1189. EuGH, Rs. 6/60, Humblet/Belgischen Staat, Slg. 1960, 1163, 1194 ff.; diese Auslegung erscheint insoweit bemerkenswert, als die Verleihung subjektiver Rechte im diplomatischen Immunitätsrecht unüblich ist, vgl. z.B. die Präambel des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen vom 18.04.1961 (BGBl. 1964 II, S. 958): „In der Erkenntnis, dass diese Vorrechte und Immunitäten nicht dem Zweck dienen, einzelne zu bevorzugen, sondern zum Ziel haben, den diplomatischen Missionen als Vertretungen von Staaten die wirksame Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewährleisten (...)". 665 EuGH, Rs. 3/54, ASSIDER/Hohe Behörde, Slg. 1954/55, 131, 146; EuGH, Rs. 4/54, ISA/Hohe Behörde, Slg. 1954/55, 189, 205 i.V.m. 199; vgl. dazu Dickschat, RevBelDrlnt 1968, 664
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2. Kapitel: Sprachenrecht der EU
grange zuvor in einer wegweisenden rechtsvergleichenden Studie die Grundsätze des Ermessensmissbrauchs im Recht aller sechs Mitgliedstaaten dargestellt hatte. 666 In einem späteren Urteil begann der Gerichtshof allerdings, sich von der französischen Rechtsauffassung zu lösen und - auch in Anlehnung an das deutsche Recht -eine in Ansätzen eigenständige gemeinschaftsrechtliche Begriffsbedeutung zu entwickeln. 667 Er legte nämlich den Begriff des Ermessensmissbrauchs etwas weiter als zuvor aus und stellte den „schwerwiegenden Mangel an Voraussicht oder Umsicht" der „Verkennung des gesetzlichen Zwecks" gleich. 668 Das zweite „klassische" Bedeutungsproblem aus der Rechtsprechung zum EGKS-Vertrag betrifft den Begriff der „faute de service", des Amtsfehlers, der Voraussetzung für eine Amtshaftung nach Art. 40 EGKSV ist. Nach französischem Recht ist unter „faute de service" nicht nur die schuldhafte Amtspflichtverletzung durch einen bestimmten Beamten - wie dies dem deutschen Recht entspricht - zu verstehen, sondern auch die schuldhafte mangelhafte Organisation oder Funktionsweise des öffentlichen Dienstes selbst.6 Der Gerichtshof wandte in Anknüpfung an die Ausführungen des Generalanwalts das französische System an, das auch den deutschen Amtsfehlerbegriff umfasste, aber wesentlich über ihn hinausging. 670 Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass sich der EuGH für verpflichtet hielt, den Begriff entsprechend dem französischen Recht auszulegen; vielmehr hielt es diese Auslegung offenbar für die im Lichte des Vertragszwecks sachgerechteste Lösung. 671
3. Zusammenfassung Den analysierten Urteilen kann man zusammenfassend folgende Leitlinien zur Auslegung des EGKS-Vertrags und des dazugehörigen Sekundärrechts
S. 40 (46 f.); zur französischen Rechtsauffassung s. Becker, Der Einfluss des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, S. 35 ff. 666 SchlA zu EuGH, Rs. 3/54, ASSIDER/Hohe Behörde und zu EuGH, Rs. 4/54, ISA/Hohe Behörde, Slg. 1954/55, 131, 157 ff. 667 Dickschat, RevBelDrlnt 1968, S. 40 (47); Lipstein, Tul. L.Rev. 1973/1974, S. 907 (912); Ophüls, FS Müller-Armack, S. 279 (282); Riese, FS Dölle, S. 507 (521 f.); Stevens, Nw.U. L.Rev. 1967, S. 701 (723). 668 EuGH, Rs. 8/55, Fédération Charbonnière de Belgique/Hohe Behörde, Slg. 1955/56, 297, 314 f.; st. Rspr. 669 Dickschat, RevBelDrlnt 1968, S. 40 (48); Riese, FS Dölle, S. 507 (522); zur französischen Amtshaftungsklage eingehend Becker, Der Einfluss des französischen Verwaltungsrechts auf den Rechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften, S. 16 ff. 670 EuGH, Rs. 23/59, FERAM/Hohe Behörde, Slg. 1958/59, 521, 535 ff.; des Weiteren EuGH, Rs. 33/59, Compagnie des Hauts Fourneaux de Chasse/Hohe Behörde, Slg. 1962, 761, 784 ff.; EuGH, verb. Rs. 46, 47/59, Meroni e C./Hohe Behörde, Slg. 1962, 835, 858 f. 67 1 Riese, FS Dölle, S. 507 (522); so auch Dickschat, RevBelDrlnt 1968, S. 40 (48 f.).
D. Mehrsprachigkeit und die Auslegung von Rechtstexten
167
entnehmen.672 Führt schon die grammatikalische Auslegung des allein verbindlichen französischen Texts zu einer klaren und eindeutigen Entscheidung, dann erübrigt sich der Rückgriff auf die amtlichen Übersetzungen. Gibt demgegenüber der französische Wortlaut zu Zweifeln Anlass, so zieht der Gerichtshof die amtlichen Übersetzungen als Hilfsmittel für die Ermittlung des wahren Sinns der streitigen Vorschrift heran. Für die Rechtsschutz suchenden Privatpersonen und Unternehmen bedeutet dies, dass sie sich nicht ohne weiteres auf den Text ihrer amtlichen Übersetzung verlassen können, sondern die Übersetzung mit dem allein authentischen französischen Text vergleichen müssen. 673 Bei Bedeutungsdivergenzen orientiert sich der Gerichtshof zwar zunächst an der zum französischen Terminus technicus entwickelten Lehre und Praxis. Er berücksichtigt jedoch auch den Norm- und Vertragszweck der betreffenden Vorschrift und entwickelt somit zumindest in Ansätzen eine gemeinschaftsweit einheitliche Wortbedeutung. Insoweit trägt er der Tatsache Rechnung, dass der Vertrag „zwar französisch geschrieben, aber europäisch gedacht" ist. 7 4
672
Vgl. dazu auch Riese, FS Dölle, S. 507 (518 ff.). Vgl. auch Generalanwalt Roemer, SchlA zu EuGH, Rs. 13/60, Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaften „Geitling" u.a./Hohe Behörde, Slg. 1962, 177, 249 f. u. 258, mit dem Hinweis, dass die Kläger der unrichtigen deutschen Übersetzung der fraglichen Passage zum Opfer gefallen seien. 674 So der Leiter der deutschen Delegation bei der Ausarbeitung des EGKS-Vertrags Ophüls, FS Müller-Armack, S. 279 (280). 673
3. Kapitel
Die Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs A. Einleitung und Festlegung des Untersuchungsgegenstands I. Gemeinschaftsrechtliche Rechtsakte allgemeiner Geltung Im vorausgegangenen Kapitel wurde ein Überblick über die rechtlichen Bedingungen der Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union gegeben und insbesondere die Problematik der Mehrsprachigkeit bei der Erstellung von Rechtstexten behandelt. Als Schwerpunkt der Arbeit soll nunmehr die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung der von Mehrsprachenauthentizität gekennzeichneten Gemeinschaftsrechtstexte analysiert werden. Dies umfasst neben dem Primärrecht mit Ausnahme des EGKS-Vertrags auch das gesamte Sekundärrecht. Gegenstand der Untersuchung sind dabei die Rechtsakte allgemeiner Geltung, also diejenigen Schriftstücke, für die Art. 4 der VO Nr. 1 die Abfassung in allen Amtssprachen der Gemeinschaft vorsieht. Hiervon sind nach Art. 3 der VO Nr. 1 Schriftstücke zu unterscheiden, die lediglich an einen Mitgliedstaat oder einzelne natürliche bzw. juristische Personen gerichtet sind. Sie sind in der Sprache des Adressaten abzufassen und allein in dieser Sprache verbindlich. Zwar werden diese individuellen Entscheidungen mitunter auch in weiteren Sprachfassungen erstellt. Da sie aber nur in der Adressatensprache verbindlich sind, werfen sie kein den Schriftstücken allgemeiner Geltung entsprechendes Auslegungsproblem auf. Sie werden daher grundsätzlich nicht in die folgende Analyse der EuGH-Rechtsprechung einbezogen. Allerdings stellen sich auch bei den Rechtsakten ohne allgemeine Geltung sprachliche Probleme, wenn es um die Frage geht, wie der EuGH die Anforderungen des Art. 3 VO Nr. 1 konkret interpretiert. Im Rahmen des vierten Kapitels wird daher darauf eingegangen, inwieweit die EuGH-Rechtsprechung zu Art. 3 VO Nr. 1 als Vergleichsmaßstab zur Auslegung von Rechtstexten allgemeiner Geltung herangezogen werden kann.
Α. Einleitung
169
II. Einbeziehung des EuGVÜ Ebenfalls Gegenstand der Analyse sind die Urteile des Gerichtshofs, die zur Auslegung des Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ oder Brüsseler Übereinkommen) ergingen. Das EuGVÜ, das auf der Grundlage des damaligen Art. 220 EWGV (jetzt Art. 293 EGV) ausgearbeitet worden war, wurde am 27.9.1968 unterzeichnet und trat in seiner ursprünglichen Fassung am 1.2.1973 für die damaligen sechs Mitgliedstaaten der EG in Kraft. 1 Für den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zum EuGVÜ mussten jeweils gesonderte Abkommen geschlossen werden, 2 wobei insbesondere das Übereinkommen über den Beitritt Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreichs nicht nur technische Anpassungen, sondern auch weitreichende inhaltliche Änderungen brachte. 3 Die Rechtsnatur des Übereinkommens ist umstritten. Während das EuGVÜ vereinzelt als Teil des Primärrechts der EG angesehen wird, 4 handelt es sich nach überwiegender und zutreffender Ansicht weder um primäres noch um sekundäres Gemeinschaftsrecht. Vielmehr stellt das EuGVÜ einen völkerrechtlichen Vertrag dar, der - namentlich durch seine Entstehung und die dem EuGH eingeräumte Auslegungskompetenz5 - in besonderer Weise mit den Europäischen Gemeinschaften verbunden ist 6 und der angesichts dessen grundsätzlich mittels der gleichen Rechtsfindungsmethoden wie „echtes" Gemeinschaftsrecht auszulegen ist. 7 Zudem ordnet Art. 68 EuGVÜ die gleiche Verbindlichkeit aller Vertragssprachen an, so dass sich auch insoweit kein Unterschied zum herkömmlichen Gemeinschaftsrecht ergibt. All diese Umstände rechtfertigen es, die Auslegung des EuGVÜ in die Betrachtung einzube-
1
ABl. 1972 Nr. L 299, S. 32 ff. Übereinkommen über den Beitritt Dänemarks, Irlands und des Vereinigten Königreichs vom 9.10.1978, ABl. 1978 Nr. L 304, S. 1 ff.; Übereinkommen über den Beitritt Griechenlands vom 25.10.1982, ABl. 1982 Nr. L 388, S. 1 ff.; Übereinkommen über den Beitritt Portugals und Spaniens vom 26.5.1989, ABl. 1989 Nr. L 285, S. 1 ff.; Übereinkommen über den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens vom 29.11.1996, ABl. 1997 Nr. C 15, S. 1 ff.; konsolidierte Fassung des Übereinkommens in ABl. 1998 Nr. C 27, S. 1 ff. 2
3
Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Einl. Rdn. 6; Schlosser, EuGVÜ, Einl. Rdn. 9. Vgl. die Nachweise bei Cieslik, Auslegung des EuGVÜ, S. 3 Fn. 8; Schlosser, EuGVÜ, Einl. Rdn. 20. 5 Zur Sicherstellung der einheitlichen Auslegung des EuGVÜ vereinbarten die Vertragsstaaten im sogenannten Auslegungsprotokoll vom 3.6.1971 eine Auslegungsbefugnis des EuGH, BGBl. 1975 II, S. 1138; zu den damit verbundenen Fragen näher Wuermeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht, S. 141 ff. 6 Vgl. statt aller Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Einl. Rdn. 12. 7 Vgl. nur Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Einl. Rdn. 32; Wuermeling, Kooperatives Gemeinschaftsrecht, S. 147 mit zahlreichen Nachweisen. 4
170
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
ziehen, zumal das EuGVÜ in die VO 44/2001 überführt wurde und damit seit dem 1.3.2002 echtes Gemeinschaftsrecht darstellt. 8 In der folgenden Untersuchung sollen zunächst alle Urteile des Gerichtshofs, die in irgendeiner Form auf die sprachliche Problematik der Gemeinschaftsrechtstexte Bezug nehmen, erfasst und klassifiziert werden. Daran anknüpfend wird die EuGH-Rechtsprechung zum Sprachvergleich einer inhaltlichen Analyse unterzogen. Die Bewertung der Judikatur sowie die Entwicklung von alternativen Lösungsansätzen sollen im Anschluss erfolgen.
B. Erfassung und Klassifizierung der Urteile zum Sprachvergleich Die Urteile des Gerichtshofs zur sprachlichen Problematik der Gemeinschaftsrechtstexte können nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden. Zunächst wird ein Überblick über die quantitative Bedeutung der EuGH-Urteile zum Sprachvergleich im Verhältnis zur Rechtsprechungstätigkeit insgesamt gegeben und eine Einteilung nach den „Auslösern" des Sprachvergleichs vorgenommen. Des Weiteren werden anhand der EuGH-Urteile die Sachgebiete mit der höchsten Quote an Sprachdivergenzen und die Gründe hierfür ermittelt, um speziell für diese Bereiche Lösungen des Sprachproblems entwickeln zu können. Schließlich erscheint eine formale Klassifizierung der Urteile nach der „Intensität" des vorgenommenen Sprachvergleichs als Ausgangspunkt für die spätere inhaltliche Analyse der einschlägigen Urteile sinnvoll.
I. Zahlenmäßige Bedeutung der Urteile mit Sprachvergleich 1. Notwendigkeit einer statistischen Ermittlung der einschlägigen Urteile Die statistische Erfassung der einschlägigen Urteile erscheint deswegen unabdingbar, weil über ihre quantitative Bedeutung in der Literatur große Unklarheit besteht. Die meisten Autoren, die überhaupt zur sprachvergleichenden Judikatur des EuGH Stellung nehmen, analysieren nur die bekanntesten Urteile und äußern sich nicht dazu, wie viele Urteile insgesamt diese Problematik behandeln.9
8
VO 44/2001 vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 Nr. L 12, S. 1 ff.; zur Vergemeinschaftung des EuGVÜ näher Micklitz/Rott, EuZW 2001, S. 325 ff. 9 Vgl. dazu exemplarisch die Ausführungen von Neville Brown, Valp.U. L.Rev. 1981, S. 319 ff., der einige ausgewählte und allseits bekannte sprachvergleichende Urteile behandelt, ohne auf
Β. Urteile zum Sprachvergleich
171
In den jüngeren Monographien zu den Auslegungsmethoden des Gerichtshofs wird den sprachvergleichenden Urteilen zwar jeweils ein eigener Abschnitt gewidmet, jedoch ohne diese erschöpfend zu erfassen. So behandelt Buck ohnehin schwerpunktmäßig nur die EuGH-Judikatur zwischen 1988 und 1992, während Grundmann zwar einen größeren Zeitraum einbezieht, sich einer ausführlicheren Erörterung aber mit dem Hinweis entzieht, dass eine detaillierte Untersuchung der vom Gerichtshof in diesem Zusammenhang verfolgten Vorgehensweise bisher nicht vorliegt. 11 Auch Anweiler analysiert nur einige ausgewählte Urteile, die zudem überwiegend schon älteren Datums sind. 12 Doch auch die Angaben derjenigen Autoren, die sich mit der quantitativen Bedeutung der EuGH-Rechtsprechung zu den Sprachdivergenzen beschäftigt haben, schwanken bezüglich der Größenordnung der einschlägigen Judikatur beträchtlich. So behauptete Huntington in einem Beitrag aus dem Jahre 1991: „Two hundred fifty-six reported European Community cases have involved issues of language interpretation". 13 Diese Urteile führte er jedoch im Folgenden nicht näher auf, sondern begnügte sich mit dem Zitat zweier EuGH-Urteile. Eines der beiden hatte aber überhaupt nichts mit der sprachmethodischen Vorgehensweise des EuGH zu tun, so dass auch der nicht näher präzisierte Verweis auf 256 Urteile unsubstantiiert erscheint. Die Antwort auf die Frage, wie es zu einer solch geradezu willkürlichen Festlegung von Größenordnungen kommen kann, erschließt sich, wenn man die Untersuchungen zweier anderer Autoren betrachtet. Rosenne ermittelte bis zum Jahre 1983 24 einschlägige Urteile und gab diese mit ihrer genauen Fundstelle an. 14 Eine nähere Betrachtung dieser Urteile ergab, dass sie zwar durchgehend einen Bezug zu den Problemen der Mehrsprachigkeit in der EG aufwiesen, aber keineswegs alle - wie von Rosenne behauptet - „apparent linguistic divergences between the multilingual texts of internal Community legislation" 15 zum Gegenstand hatten. Vielmehr befassten sich acht der zitierten 24 Urteile, also ein Drittel, mit anderen Aspekten des Sprachproblems wie etwa dem exekutiven und judikativen Sprachenrecht. 16 16 der genannten Urteile nahmen aber in der Tat zu Sprachdivergenzen in den Gemeinschaftsrechtstexten Stellung. Dies deckt sich weitgehend mit dem Ergebnis einer Studie aus dem Jahre 1985, in der Marietta 17 sprachvergleichenweniger bekannte Entscheidungen einzugehen; ebenso Braselmann, EuR 1992, S. 55 (60 ff.); Martiny, ZEuP 1998, S. 227 (239 ff.). 10 Anweiler, Auslegungsmethoden, 1997, S. 145 ff.; Buck , Auslegungsmethoden, 1998, S. 152 ff.; Grundmann, Auslegung, 1997, S. 217 ff. 11 Grundmann, Auslegung, S. 219. 12 Das jüngste von ihm behandelte Urteil zum Sprachvergleich stammt aus dem Jahre 1988, nämlich EuGH, Rs. 291/87, Huber/HZA Frankfurt a.M.-Flughafen, Slg. 1988, 6449; vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 149 Fn. 716. 13 14 15 16
Huntington, B.U. Int. L.J. 1991, S. 321 (334 Fn. 85). Rosenne, FS Mosler, S. 759 (769 Fn. 32). Rosenne, FS Mosler, S. 759 (769). Vgl. zu dieser Einteilung oben 2. Kap. Α. I. 1.
172
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
de Urteile des Gerichtshofs aufzählte und diese näher analysierte. 17 Angesichts dieses Befundes kann davon ausgegangen werden, dass die von Huntington ermittelte Größenordnung, welche zudem die von Rosenne wenige Jahre vorher angegebene Zahl um mehr als das Zehnfache übersteigt, mit Vorsicht betrachtet werden muss. In der Literatur konnten lediglich zwei Stellungnahmen gefunden werden, die eine größere Zahl sprachvergleichender Urteile des Gerichtshofs nennen. Der ehemalige EuGH-Richter Pescatore dokumentierte bis zum Jahre 1984 eine Zahl von 35 einschlägigen Urteilen. 18 In einem Aufsatz aus dem Jahre 1997 erfasste van Calster 48 sprachvergleichende Judikate des Gerichtshofs. 19 Eine Urteilszusammenstellung jüngeren Datums konnte in der Literatur nicht gefunden werden; die auf Anfrage übermittelte Urteilsliste der Pressestelle des Gerichtshofs, welche die Judikatur bis einschließlich 1996 auswertete, umfasste lediglich 38 Urteile. Keine dieser Statistiken gibt somit die tatsächliche quantitative Bedeutung des Sprachvergleichs in der EuGH-Judikatur wider. Statistiken über die Schlussanträge der Generalanwälte, die zur sprachlichen Problematik der Gemeinschaftsrechtstexte Stellung genommen haben, sowie zu den einschlägigen Urteilen des Gerichts erster Instanz sind erst recht nicht vorhanden. Aus diesem Grund erscheint es geboten, die Rechtsprechungsanalyse mit einer systematischen Erfassung aller einschlägigen Urteile zu beginnen, wobei die Vollständigkeit der nachfolgenden Ausführungen zwar nicht garantiert werden kann, aber doch angestrebt wurde.
2. Sprachvergleichende Urteile in absoluten Zahlen a) Die Gesamtzahl der sprachvergleichenden
Urteile und Schlussanträge
Wie im zweiten Kapitel dargestellt, haben sich Gerichtshof und Generalanwälte im EGKS-Bereich gelegentlich mit divergierenden Sprachfassungen auseinandergesetzt. Gegenstand der vorliegenden Untersuchung soll jedoch angesichts der ungleich größeren praktischen Bedeutung nur die EuGHRechtsprechung zu dem durch Mehrsprachenauthentizität gekennzeichneten Gemeinschaftsrecht sein. Seit Beginn der Judikatur zum EWGV bis zum Jahre 2000, also für einen Zeitraum von etwa vierzig Jahren, konnten 152 Urteile ermittelt werden, deren Entscheidungsgründe sich in irgendeiner Form mit der
17 18 19
Marietta, RivDirEur 1985, S. 224 ff. Pescatore, C. de D. 1984, S. 989 ff. van Calster, Y.E.L. 1997, S. 363 ff.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
173
sprachlichen Problematik der Rechtstexte befassten. 20 Dies betrifft sowohl die Auseinandersetzung mit Begriffsdivergenzen als auch die Analyse von Bedeutungsdivergenzen, sofern der Gerichtshof dabei explizit auf die sprachlichen Fassungen der Regelung Bezug genommen hat. Daneben gibt es Urteile, in denen der EuGH nur insoweit zu Bedeutungsdivergenzen Stellung genommen hat, als er sich mit der Notwendigkeit einer autonomen Auslegung der Begriffe, nicht aber mit den verschiedenen sprachlichen Fassungen der Regelung auseinander setzte. Sie sind in der angegebenen Zahl von 152 Urteilen nicht enthalten und im Anhang in einem gesonderten Verzeichnis aufgeführt. 21 Für die folgenden Ausführungen ist Referenzgröße stets die Zahl der 152 sprach vergleichenden Urteile, da sie angibt, in wie vielen Urteilen sich der Gerichtshof selbst mit dem Sprachproblem auseinandergesetzt hat. Daneben sind bis einschließlich 2000 weitere 190 Rechtssachen zu nennen, in denen der Generalanwalt sprachvergleichende Ausführungen gemacht hatte, die dann aber vom Gerichtshof nicht aufgegriffen wurden. 22 Des Weiteren hat das Gericht Erster Instanz seit der Aufnahme seiner Rechtsprechungstätigkeit im Jahre 1990 bis einschließlich 2000 17 Urteile erlassen, die sich mit Sprachdivergenzen befassen. 23 Angesichts der geringen Zahl dieser Entscheidungen und zum Zwecke besserer Übersichtlichkeit soll sich die folgende Analyse ausschließlich auf die sprachvergleichenden Urteile des Gerichtshofs selbst konzentrieren.
b) Verteilung auf die einzelnen Jahre der Rechtsprechungstätigkeit Neben den absoluten Zahlen der Rechtsprechungsentwicklung erscheint auch die Verteilung der Urteile auf die einzelnen Jahre der Rechtsprechungstätigkeit aussagekräftig. Wie sich aus der Graphik im Anhang ergibt, ist die Zahl der sprachvergleichenden Urteile insgesamt in stetigem, wenn auch nicht gerade erheblichem Maße angestiegen.24 Zwar sind zwischen einzelnen Jahren, z.B. zwischen 1977 und 1978 oder zwischen 1985 und 1986, teilweise starke Abweichungen zu verzeichnen. Diese erscheinen jedoch insofern nicht signifikant, als es letztlich vom Zufall abhängt, ob ein beim Gerichtshof anhängiger Rechtsstreit noch im Dezember des vorausgegangenen Jahres oder erst im Januar des folgenden Jahres entschieden wird. In ähnlicher Weise ist ein erheblicher Anstieg der einschlägigen Urteile in den Jahren 1996 und 1997 dokumentiert, der allerdings durch die etwas geringeren Zahlen in den Jahren 1998 und 20 Vgl. Entscheidungsregister. Die statistischen Ausführungen in der vorliegenden Arbeit beziehen sich stets auf den Zeitraum bis einschließlich 2000. Darüber hinaus enthalten die Register im Anhang auch später ergangene Urteile und Schlussanträge zu Rechtssachen mit Sprachvergleich. 21 Vgl. Entscheidungsregister. 22 Vgl. Entscheidungsregister. 23 Vgl. Entscheidungsregister. 24 Vgl. Entscheidungsregister.
174
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
1999 wieder ausgeglichen wird. Im Jahre 2000 ergingen fast genauso viele sprach ver gleichende Urteile wie im Jahre 1996, so dass die Zahl der Urteile in den letzten Jahren auf relativ hohem Niveau stagniert. Angesichts dieser Schwankungen lässt sich die zahlenmäßige Entwicklung der sprachvergleichenden Urteile nur sinnvoll mittels der in die Graphik integrierten Tendenzlinie wiedergeben, die den realen Anstieg der zu untersuchenden Rechtsprechung in den vergangenen Jahrzehnten veranschaulicht. Aus ihr ergibt sich, dass die Zahl der zu untersuchenden Entscheidungen in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt zugenommen hat, allerdings nicht so stark, wie man es vielleicht hätte vermuten können. So sind teilweise schon in den früheren Jahren der Rechtsprechung einzelne „starke Jahrgänge" (vgl. etwa die Statistik im Jahre 1977) zu verzeichnen, in denen die Zahl der sprach vergleichenden Urteile fast so hoch wie in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre lag. Umgekehrt liegen über die Hälfte der Jahrgänge der vergangenen Dekade (nämlich die Jahre 1989 bis 1995) mit der Zahl der sprach vergleichenden Urteile deutlich unter früheren Jahrgängen wie etwa 1977, 1985 und 1988. Um eine Interpretation dieses Ergebnisses zu ermöglichen, soll die Zahl der sprachvergleichenden Urteile in Relation zur gesamten Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs gesetzt werden.
3. Sprachvergleichende Urteile im Verhältnis zur gesamten Rechtsprechungstätigkeit des EuGH a) Das Verhältnis zwischen sprachvergleichenden und sonstigen EuGH-Urteilen Als Referenzgröße zur Bestimmung der „gesamten Rechtsprechungstätigkeit" im Sinne der folgenden Ausführungen dienen ausschließlich die vom Gerichtshof durch Urteil erledigten Rechtssachen. Beschlüsse und sonstige verfahrensbeendigende Maßnahmen werden nicht in die Statistik einbezogen, da sie zumeist keinen „materiellen" Gehalt aufweisen und aus diesem Grund keinen Anlass für einen Sprachvergleich geben können. Auf der Basis dieser Eingrenzung beträgt die Gesamtzahl der EuGH-Urteile seit dem Jahre 1965 bis zum Jahre 2000 5133 Urteile. 25 Gezählt wurde ab dem Jahre 1965, um die Vergleichbarkeit der Diagramme zu gewährleisten, da das erste sprachvergleichende Urteil im Jahre 1965 dokumentiert wurde. Die Verteilung der 5133 Urteile auf die einzelnen Jahre der Rechtsprechungstätigkeit wird durch die beiliegende Graphik veranschaulicht. 26
25 26
Die Zahlen sind den Tätigkeitsberichten des EuGH entnommen. Vgl. Entscheidungsregister.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
175
Wie aus der Graphik ersichtlich, ist die Gesamtzahl der Urteile im Laufe der Rechtsprechungstätigkeit zwar nicht gleichmäßig stark, insgesamt aber deutlich angestiegen. Mehrmals sind auch Jahre der Stagnation bzw. mit einem leichten Rückgang an Entscheidungen zu verzeichnen. Insbesondere Anfang der neunziger Jahre kann man eine Abnahme feststellen, so dass im Jahre 1995 die Zahl der Urteile einen relativen Tiefstand erreicht hatte. Ab 1996 stieg die Urteilszahl jedoch tendenziell wieder an. Vergleicht man die beiden Graphiken miteinander, so erkennt man, dass die Tendenzlinien hinsichtlich der Verteilung der Urteile auf die einzelnen Jahre der Rechtsprechungstätigkeit ähnlich verlaufen. Insbesondere die Jahre der Stagnation betreffen gleichermaßen die sprachvergleichenden Urteile wie die gesamte Judikatur. Ein Unterschied zwischen den beiden Graphiken lässt sich allerdings bezüglich der Steigung der Tendenzlinien feststellen. Die Gesamtzahl der Urteile ist prozentual gesehen pro Jahr erheblich stärker angestiegen als die Zahl der Entscheidungen mit Sprachvergleich. Während die Gesamtzahl der Urteile durchschnittlich um 6,3 Urteile pro Jahr stieg, fällt die Zunahme der sprachvergleichenden Urteile mit 0,3 Urteilen pro Jahr - selbst unter Berücksichtigung der erheblich höheren Gesamtzahl der Urteile - wesentlich moderater aus.
b) Interpretation
der Zahlen
Damit stellt sich die Frage nach der Interpretation dieses Befundes. Zunächst erscheint es naheliegend zu vermuten, dass es trotz ständig steigender Rechtsnormproduktion nur noch in geringerem Umfang zu Sprachdivergenzen kommt. Dies könnte man damit erklären, dass die für die Erstellung der Rechtstexte in den verschiedenen Sprachfassungen zuständigen Instanzen in zunehmendem Maße bezüglich des Sprachdivergenzproblems sensibilisiert sind und daher besser als früher über die Kongruenz der einzelnen Versionen wachen. Dieser Erklärungsansatz erscheint jedoch aus mehreren Gründen nicht tragfähig. Bei einer Betrachtung der Art der vom Gerichtshof in jüngeren Jahren behandelten Sprachdivergenzen kann man feststellen, dass sie teilweise auf derartig banalen Übersetzungsfehlern beruhen, dass von einem verbesserten Abgleich der Sprachfassungen nicht die Rede sein kann. Man denke nur an das Vorlageverfahren in der Rechtssache „Lubella", 27 das darauf beruhte, dass in der deutschen Fassung der streitigen Verordnung der Begriff „Sauerkirschen" fälschlicherweise mit „Süßkirschen" wiedergegeben worden war. Auch schien man bis zu den vor einigen Jahren ergangenen Urteilen des EuG 2 8 und des EuGH 2 9 eine eindeutige Abweichung in der italienischen Fassung des damali27 28 29
EuGH, Rs. C-64/95, Lubella, Slg. 1995,1-5105. EuG, Rs. T-143/89, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1995,11-917. EuGH, Rs. C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997,1-4411.
176
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
gen Art. 85 (jetzt Art. 81) EGV von allen übrigen Sprachfassungen nicht bemerkt zu haben: Nach dieser primärrechtlichen Vorschrift des Gründungsmitglieds Italien mussten die inkriminierten Absprachen eine Wettbewerbsverfälschung „bezwecken und bewirken", während in allen anderen Sprachfassungen die Konjunktion „oder" verwendet wurde. Selbst eindeutige Übersetzungsfehler werden somit von den Verantwortlichen oft nicht entdeckt, so dass man auch in jüngerer Zeit nicht von einer „lückenlosen" Kontrolle der Übersetzertätigkeit ausgehen kann. Hinzu kommt ein weiteres: In die Entwicklung der Urteile ist bislang noch nicht der Faktor einbezogen worden, dass sich seit Beginn der Rechtsprechung die Zahl der Amtssprachen und damit der zu berücksichtigenden sprachlichen Fassungen von vier auf inzwischen elf bzw. zwölf erhöht, im Primärrecht also verdreifacht hat. Mit dem Anstieg der Sprachenzahl auf elf erhöht sich auch das Risiko der Sprachdivergenzen, zumal anlässlich des Beitritts der neuen Mitgliedstaaten das bereits in Kraft befindliche Gemeinschaftsrecht sehr zügig in die weiteren Sprachen übersetzt werden musste.30 Es erscheint daher zutreffend, die vergleichsweise geringe Zunahme der sprachvergleichenden Judikatur damit zu erklären, dass ein Teil der vermutlich existierenden Sprachdivergenzen niemals Gegenstand eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof war und sein wird. Gemeinschaftsrecht wird in erster Linie durch den nationalen Richter angewandt, der bei der Beurteilung eines Falles regelmäßig seine eigene Sprachfassung zugrunde legen wird. 31 Damit besteht die Gefahr, dass Ungereimtheiten im Verhältnis zu anderen sprachlichen Fassungen überhaupt nicht erkannt werden. Der Gerichtshof kann aber der ihm nach Art. 220 EGV übertragenen Aufgabe der Wahrung des Rechts nur nachkommen, wenn er infolge der Vorlage von Rechtsfragen durch die nationalen Gerichte Gelegenheit zur Stellungnahme erhält. Dies erscheint speziell bei Abweichungen zwischen den einzelnen sprachlichen Fassungen nicht durchgängig gewährleistet. Notwendig wäre daher eine stärkere Sensibilisierung der nationalen Akteure hinsichtlich des Problems etwaiger Sprachdivergenzen, damit Vorlagefragen häufiger auch aus „Sprachdivergenzgründen" gestellt würden. Inwieweit diese Sensibilisierung bereits erfolgt ist, wird an späterer Stelle zu evaluieren sein, wenn nämlich die vorhandenen EuGHUrteile nach den „Auslösern des Sprachvergleichs" klassifiziert werden. 32
4. Einteilung nach der Art der auszulegenden Rechtsakte Es soll noch kurz darauf eingegangen werden, in welchen Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts die vom EuGH behandelten Sprachdivergenzen im Ein30 31 32
Vgl. dazu oben 2. Kap. C. I. 2. b). Vgl. zu Belegen für diese These unten 3. Kap. Β. II. 2. e) und 4. Kap. Α. II. 2. Dazu sogleich 3. Kap. Β. II.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
177
zelnen auftraten. Ein Überblick über die einschlägigen Urteile des Gerichtshofs ergibt, dass sie in den meisten Fällen Sprachdivergenzen aus dem Bereich des Sekundärrechts zum Gegenstand hatten. Hierbei spielt die Auslegung von Verordnungen und Richtlinien gleichermaßen eine Rolle; nur ausnahmsweise waren die an alle Mitgliedstaaten gerichteten und in allen Sprachfassungen verbindlichen Entscheidungen Gegenstand der EuGH-Rechtsprechung. 33 Daneben gaben gelegentlich auch Vorschriften aus dem Primärrecht Anlass zu sprachvergleichenden Erörterungen. Hierbei sind in erster Linie vier Judikate zu der Auslegung des E(W)G-Vertrags selbst zu nennen.34 Des Weiteren konnten zwei Urteile zur Auslegung von Beitrittsakten ermittelt werden, die als Bestandteil der jeweiligen Beitrittsverträge ebenfalls zum Primärrecht gehören. 35 Darüber hinaus ergingen Urteile zur Auslegung des EuGVÜ 3 6 sowie zu Beschlüssen des durch das Assoziationsabkommen mit der Türkei geschaffenen Assoziationsrats, 37 die sich nicht in die herkömmlichen Kategorien des Primär- und Sekundärrechts einordnen lassen.38 Die Einteilung der sprachvergleichenden EuGHUrteile bestätigt die gelegentlich geäußerte Feststellung, dass Sprachdivergenzen besonders häufig im Sekundärrecht auftreten. 39 Zu den Gründen für diesen Befund kann auf die Untersuchung zur Entstehung von Sprachdivergenzen im zweiten Kapitel 40 verwiesen werden, wobei zwei Faktoren besondere Erwähnung verdienen: Zum einen ergibt sich schlicht aufgrund der Normflut im Sekundärrecht ein wesentlich größeres „Potential" für die Entstehung von Sprachdivergenzen als im Primärrecht. Zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass die Redaktion der Rechtstexte im Primärrecht sorgfältiger als in den oft nur kurzlebigen Vorschriften des Sekundärrechts erfolgt.
33
EuGH, Rs. 29/69, Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419. EuGH, Rs. 13/83, Parlament/Rat, Slg. 1985, 1513 zum damaligen Art. 175 EWGV (jetzt Art. 232 EGV); EuGH, Rs. C-327/91, Frankreich/Kommission, Slg. 1994, 1-3641 zum früheren Art. 228 (jetzt Art. 300) EGV; EuGH, Rs. C-310/95, Road Air, Slg. 1997,1-2229 zu Art. 133 (jetzt Art. 184) EGV; EuGH, Rs. C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997,1-4411 zum damaligen Art. 85 (jetzt Art. 81) EGV. 35 EuGH, Rs. C-267, 268/95, Merck und Beecham, Slg. 1996,1-6285; EuGH, Rs. C-259/95, Parlament/Rat, Slg. 1997,1-5303. 36 Vgl. zu ihnen im Einzelnen unten 3. Kap. B. III. 6. 37 EuGH, Rs. C-171/95, Tetik, Slg. 1997, 1-329; EuGH, Rs. C-210/97, Akman, Slg. 1998, I7519; EuGH, Rs. C-l/97, Birden, Slg. 1998,1-7747. 38 Zur Rechtsnatur des EuGVÜ oben 3. Kap. Α. II.; zur Rechtsnatur der Assoziationsratsbeschlüsse S. Weiß, Die Personenverkehrsfreiheit von Staatsangehörigen assoziierter Staaten in der EU, S. 25 f. 39 Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Art. 314 Rdn. 7; Weber, in: G/T/E, Art. 248 Rdn. 6; vgl. auch Generalanwalt Mancini, SchlA zu EuGH, Rs. 316/86, HZA Hamburg-Jonas/Krücken, Slg. 1988, 2213, 2229. 40 2. Kap. C. II. 34
12 Schübel-Pfister
178
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
II. Einteilung nach den „Auslösern" des Sprachvergleichs 1. Legitimation und Vorstellung der Untersuchung Bei der Einteilung nach den „Auslösern" des Sprachvergleichs geht es um die Frage, welcher Verfahrensbeteiligte das Problem divergierender Sprachfassungen aufgeworfen und somit den EuGH veranlasst hat, sich zur Sprachenfrage zu äußern. Ziel dieser Untersuchung ist die Feststellung, welche Gruppen von Verfahrensbeteiligten hinsichtlich des Sprachdivergenzproblems am meisten sensibilisiert sind und bei welchen anderen Verfahrensbeteiligten diesbezüglich ein größeres Problembewusstsein anzustreben ist. Als Verfahrensbeteiligte kommen zunächst die Parteien in Betracht, wobei mit diesem Begriff im vorliegenden Kontext sowohl die Parteien des Ausgangsrechtsstreits - bei Vorabentscheidungsverfahren - als auch die Parteien eines unmittelbar vor dem Gerichtshof geführten Rechtsstreits - im Rahmen der anderen Klagearten erfasst sein sollen. Die Kommission und die nationalen Regierungen können aber nicht nur als Parteien der Direktklagen, sondern auch als sonstige Beteiligte in Vorabentscheidungsverfahren zum Rechtsstreit Stellung nehmen41 und Sprachvergleiche auslösen. Des Weiteren ist denkbar, dass bei Vorabentscheidungsverfahren die Befassung des Gerichtshofs mit dem Sprachdivergenzproblem vom Vorlagegericht selbst angestoßen wird. Schließlich kann es aber auch sein, dass erstmals der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen zu dem Problemkreis Stellung nimmt oder sogar - wenn kein anderer Verfahrensbeteiligter das Sprachproblem erkannt hat - sich ausschließlich der Gerichtshof selbst dazu äußert. Die Auslöser des Sprachvergleichs lassen sich nicht immer mit absoluter Sicherheit aus den in der Rechtsprechungssammlung abgedruckten Dokumenten ermitteln. Die Generalanwälte und der EuGH weisen zwar in vielen, nicht aber in allen Fällen darauf hin, von wem der Sprachvergleich ursprünglich angestoßen wurde. Meist ließ sich diese Information den Sitzungsberichten entnehmen, die bis vor einigen Jahren den Urteilen in der amtlichen Sammlung vorangestellt wurden. Da aber seit 1994 eine Veröffentlichung der Sitzungsberichte infolge des nicht mehr bewältigten Übersetzungsaufwands unterbleibt, 42 ist seither diese wichtige Informations- und Erkenntnisquelle nicht mehr zugänglich. Insgesamt erscheint es daher nicht möglich, eine systematische Aufbereitung der Auslöser des Sprachvergleichs unter Angabe von exakten Zahlen vorzunehmen. Vielmehr sollen sich die folgenden Ausführungen darauf beschränken, die wichtigsten Entwicklungstendenzen wiederzugeben.
41 42
Vgl. dazu Klinke, Gerichtshof, Rdn. 149 f. Vgl. hierzu Everling, EuR 1994, S. 127 (139).
Β. Urteile zum Sprachvergleich
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2. Auswertung der Untersuchung a) Überblick über die Verteilung auf die einzelnen Verfahrensbeteiligten Die Auswertung der Urteile, die in irgendeiner Form auf die verschiedenen Sprachfassungen Bezug nehmen, ergibt, dass in über einem Drittel aller Fälle die Sprachvergleiche von den Parteien angestoßen wurden. An zweiter Stelle folgen die Schlussanträge der Generalanwälte, die sich in ungefähr einem Fünftel der Rechtssachen zuerst mit dem Sprachproblem befassten. An dritter Stelle folgen etwa gleichauf der Gerichtshof selbst sowie die Kommission als sonstige Verfahrensbeteiligte, die beide in etwa einem Sechstel der Fälle den Sprachvergleich initiierten. Vergleichsweise selten - in jeweils weniger als 10 % der Fälle - waren es die Vorlagegerichte sowie die nationalen Regierungen als sonstige Verfahrensbeteiligte, die als erste auf die Notwendigkeit des Sprachvergleichs hingewiesen haben.
b) Spitzenstellung der Parteien als „Sprachvergleichs-Auslöset Als primäres Ergebnis der Untersuchung fällt die „Spitzenstellung" der Parteien als Auslöser des Sprachvergleichs ins Auge. Dies erscheint auch naheliegend, da die Parteien regelmäßig das größte Interesse an der Entscheidung des Rechtsstreits in ihrem Sinne haben. In den meisten Fällen lösen dabei die Kläger den Sprachvergleich aus; bisweilen rekurrieren aber auch die Beklagten auf eine ihnen günstige Fassung.43 Dabei lässt sich die Berufung auf divergierende Sprachfassungen in zwei unterschiedlichen Konstellationen beobachten. Einerseits berufen sich die Parteien zur Unterstützung ihres Vorbringens häufig auf ihre nationale Sprachfassung, aus deren Wortlaut sich das von ihnen vertretene Auslegungsergebnis ergeben soll. 44 Abweichende anderssprachige Versionen seien irrelevant, da für sie als Rechtsunterworfene nur ihre eigene Sprachfassung maßgeblich sei, auf die sie vertrauen dürften. 45 Andererseits nehmen die 43 Z.B. in EuGH, Rs. 300/86, van Landschoot/Mera, Slg. 1988, 3443, 3448; EuGH, Rs. 199/87, Jensen/Landbrugsministeriet, Slg. 1988, 5045, 5050; EuGH, Rs. C-321/96, Mecklenburg, Slg. 1998,1-3809, 3815. 44 Vgl. nur die Wiedergabe der Argumentation der Beklagten des Ausgangsverfahrens in SchlA zu EuGH, Rs. C-236/97, Codan, Slg. 1998,1-8679, 8686 f. (Rdn. 34). 45 Vgl. z.B. das Vorbringen der Rechtsmittelführerin in EuGH, Rs. C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, 1-4411, 4417 (Rdn. 13): „Außerdem folge aus den vom Gericht angeführten Urteilen, dass der Rückgriff auf die anderen sprachlichen Fassungen nur gerechtfertigt sei, wenn der Sinn einer Vorschrift in einer der Fassungen nicht klar sei, was bei der italienischen Fassung des Artikels 85 nicht der Fall sei"; vgl. auch die Wiedergabe des Vorbringens der Kläger des Ausgangsverfahrens in EuGH, Rs. C-296/95, EMU Tabac u.a., Slg. 1998, 1-1605, 1644 (Rdn. 34).
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3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
Anwälte der Parteien teilweise auch auf fremdsprachige Versionen Bezug, gerade wenn in einem innerstaatlichen Ausgangsverfahren das Ergebnis unter Zugrundelegung der heimischen Sprachfassung zu ihren Ungunsten entschieden werden müsste.46
c) Entwicklung der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten Die Parteien haben nicht von Anfang an diese Spitzenstellung als Auslöser der Sprachvergleiche eingenommen. Bei den Vorabentscheidungsverfahren dauerte es bis zum Jahre 1974, bis eine Partei des Ausgangsrechtsstreits erstmals einen Sprachvergleich initiierte, 47 obwohl sich der Gerichtshof schon seit 1965 mehrfach mit Sprachproblemen in gemeinschaftlichen Rechtstexten zu befassen hatte. Es verging somit relativ viel Zeit, bis die Parteien des Ausgangsverfahrens hinsichtlich des Sprachdivergenzproblems sensibilisiert waren und ihre Anwälte auf die Idee kamen, fremdsprachige Fassungen zur Unterstützung ihrer Position heranzuziehen oder generell auf die Existenz von Sprachdivergenzen hinzuweisen. Die Sprachvergleiche in der Frühzeit seiner Rechtsprechungstätigkeit wurden vielmehr vom EuGH selbst48 sowie insbesondere von der Kommission als sonstiger Verfahrensbeteiligter 49 ausgelöst. Selbst bei den Generalanwälten dauerte es bis zum Jahre 1975, bis sie erstmals aus eigenem Antrieb einen Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen vornahmen. 50 Dies hängt wohl damit zusammen, dass sowohl beim EuGH als auch bei der Kommission Muttersprachler aller - damals vier - Amtssprachen vertreten waren und es daher für diese beiden Organe naheliegender als für den Generalanwalt oder gar die Parteien des Ausgangsrechtsstreits war, sich mit den verschiedenen Sprachfassungen auseinander zusetzen. Wie dargestellt, hat sich diese Entwicklung aber im Laufe der Jahre umgekehrt, so dass seit langem sowohl die Partei-
46 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 183/73, Osram/OFD, Slg. 1974, 477, 480: „Die Firma Osram macht geltend, die französischen und englischen Texte der in Frage kommenden Tarifnummern bestätigten ihre Auffassung (...)"; EuGH, Rs. 291/87, Huber/HZA Frankfurt a.M./Flughafen, Slg. 1988, 6449, 6452: „Die Firma Volker Huber ist der Auffassung, dass, wenn man auf den französischen Originaltext der Tarifnummer 99.02 zurückgreife, (...)"; EuGH, Rs. C-437/97, EKW und Wein & Co, Slg. 2000, 1-1157, 1173 (Rdn. 34): „Beide Kläger (...) gehen dabei von der Annahme aus, dass die Bestimmung diese beiden Voraussetzungen kumulativ aufstelle, wie sich ausdrücklich aus einigen sprachlichen Fassungen (z.B. der englischen Fassung) ergebe". 47 EuGH, Rs. 183/73, Osram/OFD, Slg. 1974, 477, 480. 48 EuGH, Rs. 33/65, Dekker, Slg. 1965, 1185, 1180. 49 EuGH, Rs. 16/65, Schwarze, Slg. 1965, 1151, 1163; EuGH, Rs. 61/65, Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, 583, 599; EuGH, Rs. 6/67, Guerra/Institut National d'Assurance Maladie-Invalidité, Slg. 1967, 293, 298; EuGH, Rs. 19/67, van der Vecht, Slg. 1967, 461, 467; EuGH, Rs. 29/69, Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419, 422. 50 SchlA zu EuGH, Rs. 90/74, Deboeck/Kommission, Slg. 1975, 1123, 1145.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
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en als auch die Generalanwälte den EuGH und die Kommission als Auslöser des Sprachvergleichs überholt haben.
d) Erstmalige Auseinandersetzung mit verschiedenen Sprachfassungen durch den EuGH Daneben gibt es aber auch zahlreiche Fälle, in denen sich weder die Parteien noch die Generalanwälte mit den verschiedenen Sprachfassungen auseinandergesetzt haben, so dass der Gerichtshof als erster und einziger zu diesem Problemkreis Stellung nimmt. Diesbezüglich lassen sich zwei Besonderheiten feststellen. Zum einen sind die Fälle, in denen erst der EuGH den Sprachvergleich auslöst, häufig zugleich Plenarentscheidungen.51 Der Grund hierfür ist darin zu sehen, dass bei Plenarentscheidungen eher als bei Kammerentscheidungen die Gewähr dafür besteht, dass im Vorfeld wirklich alle verbindlichen Sprachfassungen untereinander abgeglichen und dadurch auch nicht ohne weiteres erkennbare Sprachdivergenzen entdeckt werden. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH bisweilen die verschiedenen Texte nicht wirklich in Relation zueinander setzt,52 sondern einzelne Sprachfassungen lediglich insoweit in den Blick nimmt, als sie zur Untermauerung seines Auslegungsergebnisses dienen.53
e) Untergeordnete Rolle der Vorlagegerichte und der nationalen Regierungen „Schlusslichter" unter den Auslösern des Sprachvergleichs sind die nationalen Regierungen als sonstige Verfahrensbeteiligte 54 sowie die Vorlagegerichte
51 Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung etwa EuGH, Rs. C-228/94, Atkins, Slg. 1996, 1-3633, 3667 (Rdn. 30); EuGH, Rs. C-44/95, Royal Society for the Protection of Birds, Slg. 1996, 1-3805, 3852 (Rdn. 26); EuGH, Rs. C-130/95, Giloy, Slg. 1997, 1-4291, 4297 (Rdn. 5) u. 4304 (Rdn. 30). 52 Gegenbeispiel: EuGH, Rs. 93/76, Liégeois/ONPTS, Slg. 1977, 543, 549 (Rdn. 12/13). 53 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 90/82, Kommission/Frankreich, Slg. 1983, 2011, 2030 (Rdn. 22); EuGH, Rs. 316/85, CPAS de Courcelles/Lebon, Slg. 1987, 2811, 2838 f. (Rdn. 23); EuGH, Rs. C-99/96, Mietz, Slg. 1999,1-2277, 2311 (Rdn. 31). 54 Angesichts der geringen Zahl der einschlägigen Rechtssachen können sie im Einzelnen aufgezählt werden: EuGH, Rs. 150/80, Elefanten Schuh/Jacqmain, Slg. 1981, 1671, 1678; EuGH, Rs. 135/83, Abels/Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469, 482 (Rdn. 9); EuGH, Rs. C-121/90, Posthumus, Slg. 1991, 1-5833, 5848; EuGH, Rs. C231/97, van Rooij, Slg. 1999, 1-6355, 6378 (Rdn. 24); EuGH, Rs. C-12/98, Amengual Far, Slg. 2000, 1-527, 544 (Rdn. 9); vgl. auch EuGH, Rs. 6/98, ARD, Slg. 1999,1-7599, 7631 (Rdn. 22), wo sowohl die nationalen Regierungen als auch die Beteiligten des Ausgangsverfahrens auf terminologische Unterschiede hingewiesen haben.
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3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
beim Vorabentscheidungsverfahren. 55 Diese beiden Instanzen setzen sich weniger häufig mit fremdsprachigen Fassungen auseinander als etwa der Generalanwalt, der neben seiner muttersprachlichen Fassung häufig noch andere Texte berücksichtigt. Als besonders gering ist die Sensibilisierung der nationalen Regierungen einzustufen, die sich nur dann mit der Sprachenproblematik befassen, wenn der in Rede stehende Rechtsstreit zu aufsehenerregenden rechtspolitischen Auseinandersetzungen geführt hat. 56 Auch die einzelstaatlichen Gerichte sind nur selten als Auslöser des Sprachvergleichs hervorgetreten. Eine Ausnahme gilt nur für die Gerichte kleinerer Mitgliedstaaten, deren Staatsangehörige traditionellerweise über besonders gute Fremdsprachenkenntnisse verfügen 57 und die das Arbeiten in einem mehrsprachigen Raum gewohnt sind. 58 Im Regelfall betrachten die Vorlagegerichte bei der Auslegung nur ihre eigene Sprachfassung. Sprachvergleiche führen sie allenfalls dann durch, wenn sie Zweifel an der Richtigkeit der landessprachlichen Fassung haben. Nur wenn sie das korrekte Auslegungsergebnis nicht mit hinreichender Sicherheit aus ihrer Fassung entnehmen können, legen sie dann auch die Rechtssache dem EuGH zur Entscheidung vor. Mit dieser Praxis, den scheinbar klaren Wortlaut der eigenen Sprachfassung zum Maßstab zu machen, ist die Gefahr des Übersehens von Auslegungsproblemen verbunden, die sich erst aufgrund einer Gesamtschau der isoliert betrachtet klaren Sprachfassungen stellen. 59 Dabei ist eine
55 In chronologischer Reihenfolge: EuGH, Rs. 61/72, Mij PPW Internationaal N.V./Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1973, 301, 305; EuGH, Rs. 9/79, Koschniske/Raad van Arbeid, Slg. 1979, 2717, 2719; EuGH, Rs. 27/81, Rohr/Ossberger, Slg. 1981, 2431, 2442; EuGH, Rs. 295/81, I.F.F./HZA Bad Reichenhall, Slg. 1982, 3239, 3245; EuGH, Rs. 215/88, Casa Fleischhandel/BALM, Slg. 1989, 2789, 2808 (Rdn. 30); EuGH, Rs. C-158/90, Nijs und Transport Vanschoonbeek-Matterne NV, Slg. 1991, 1-6035, 6045 (Rdn. 8); EuGH, Rs. C-341/93, Danvaera Production, Slg. 1995,1-2053, 2059; EuGH, Rs. C-72/95, Kraaijeveld u.a., Slg. 1996,1-5403, 5441 (Rdn. 22); EuGH, Rs. C-167/95, Linthorst, Pouwels und Scheres, Slg. 1997, 1-1195, 1202; EuGH, Rs. C-210/97, Akman, Slg. 1998,1-7519, 7547 (Rdn. 30); EuGH, Rs. C-48/98, Söhl & Söhlke, Slg. 1999,1-7877,7906 (Rdn. 72). 56 Vgl. insbesondere EuGH, Rs. C-6/98, ARD, Slg. 1999, 1-7599, zur Auslegung der Ferasehrichtlinie in bezug auf die Frage, ob die Bestimmung der zulässigen Zahl von Werbeunterbrechungen nach dem Brutto- oder dem Nettoprinzip zu erfolgen hat. Außer den Parteien des Ausgangsverfahrens hatten die Regierungen von sieben Mitgliedstaaten schriftliche oder mündliche Erklärungen abgegeben und sich dabei auf die unterschiedlichen Sprachfassungen der Regelung berufen. 57 Vgl. z.B. die Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage vom April 2000, Bericht Nr. 52, S. 92 über die Sprachkenntnisse der EU-Bürger. 58 Allein die niederländischen Vorlagegerichte waren in folgenden Rechtssachen der Auslöser für sprachvergleichende Erwägungen: EuGH, Rs. 61/72, Mij PPW Internationaal N.V./Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1973, 301, 305; EuGH, Rs. 9/79, Koschniske/Raad van Arbeid, Slg. 1979, 2717, 2719; EuGH, Rs. C-72/95, Kraaijeveld u.a., Slg. 1996,1-5403, 5441 (Rdn. 22); EuGH, Rs. C-167/95, Linthorst, Pouwels und Scheres, Slg. 1997, 1-1195, 1202. In EuGH, Rs. C-158/90, Nijs und Transport Vanschoonbeek-Matterne NV, Slg. 1991, 1-6035, 6045 (Rdn. 8) stellte das belgische Vorlagegericht die französische und niederländische Fassung der streitigen Vorschrift einander gegenüber. 59 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung, S. 1-18; vgl. auch Generalanwalt Roemer, SchlA zu EuGH, Rs. 29/69, Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419, 428, der feststellt, dass die Auslegung „vollkom-
Β. Urteile zum Sprachvergleich
183
gewisse Zufälligkeit festzustellen, da manche Sprachprobleme überhaupt nur in einzelnen Sprachfassungen auftreten 60 bzw. auf Besonderheiten der betreffenden Rechtssprache zurückzuführen sind. 61 Die innerstaatlichen Gerichte anderer Mitgliedstaaten kämen daher in einem vergleichbaren Fall überhaupt nicht auf die Idee, den Gerichtshof um Entscheidung anzurufen, obwohl das Sprachproblem durchaus erörterungswürdig sein mag. Die vergleichsweise seltene Auseinandersetzung mit anderen Sprachfassungen seitens der Vorlagegerichte scheint allerdings im Widerspruch zu dem vom EuGH in der Rechtssache „C.I.L.F.I.T." aufgestellten Postulat zu stehen. Dort hatte das Gericht judiziert, dass die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV nur entfalle, wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig sei, dass kein vernünftiger Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bestehe.62 Das innerstaatliche Gericht müsse allerdings davon überzeugt sein, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestehe, wofür ein Vergleich aller verbindlichen Sprachfassungen erforderlich sei. 63 Die Vorlage könne nur dann unterbleiben, wenn das Auslegungsergebnis unter Berücksichtigung aller Sprachfassungen noch klar und eindeutig sei. Indem die innerstaatlichen Gerichte der Auslegung aber primär ihre nationale Sprachfassung zugrunde legen, tragen sie den Vorgaben des EuGH in der tatsächlichen Vorlagepraxis nicht Rechnung. Im vierten Kapitel wird zu untersuchen sein, inwieweit dieser Befund, der sich aus einer Betrachtung der Vorlagefragen ergibt, auch durch eine nähere Analyse der deutschen Rechtsprechung - über die Vorlagefragen an den EuGH hinaus - gestützt wird und welche Folgerungen hieraus zu ziehen sind.
I I I . Die Politikfelder mit der höchsten Quote an Sprachdivergenzen und sprachvergleichenden Urteilen Im zweiten Kapitel wurden bereits allgemein die Gründe für die Entstehung von Sprachdivergenzen im Gemeinschaftsrecht benannt.64 Aufgabe des folgen-
men unproblematisch" erscheint, „wenn man allein von der deutschen und der mit ihr übereinstimmenden niederländischen Fassung ausgeht". 60 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 215/88, Casa Fleischhandel/B ALM, Slg. 1989, 2789, 2808 (Rdn. 30 f.): Das deutsche Gericht begründete seinen Vorlagebeschluss mit einer Begründungserwägung der streitigen Verordnung, die in keiner der anderen sprachlichen Fassungen der Verordnung enthalten war. 61
So z.B. in EuGH, Rs. C-341/93, Danvaern Production, Slg. 1995,1-2053, 2076 (Rdn. 17): Die dänische Rechtssprache kennt nur einen einzigen Ausdruck für Aufrechnung und Widerklage, während die Rechtsterminologie aller anderen Staaten eine diesbezügliche Unterscheidung trifft. 62 EuGH, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415, 3430 (Rdn. 16). 63 EuGH, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415, 3430 (Rdn. 18). 64 2. Kap. C. II.
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3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
den Abschnitts ist es, anhand der einschlägigen EuGH-Judikatur zu untersuchen, in welchen Sachgebieten es besonders häufig zu Sprachdivergenzen und zu diesbezüglichen Urteilen kommt und welche spezifischen Ursachen hierbei eine Rolle spielen.
1. Verteilung der Urteile auf die einzelnen Politikfelder Ein Überblick über die Urteile, in denen sich der Gerichtshof selbst mit der Behandlung von Sprachdivergenzen auseinandergesetzt hat, ermöglicht die Feststellung gewisser Häufungen. Allein 30 Entscheidungen des Gerichtshofs ergingen zum gemeinschaftsrechtlichen Zollrecht, wobei die Urteile zu den Abgabenregelungen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) noch nicht einmal mitgezählt wurden. 65 Diese 30 Urteile, die knapp 20 % der Gesamtzahl der sprachvergleichenden Urteile des Gerichtshofs ausmachen, verteilen sich auf die verschiedenen Bereiche des gemeinschaftsrechtlichen Zollrechts, wobei das Zolltarifrecht den Schwerpunkt bildet. 66 Das Zolltarifrecht legt fest, ob und in welcher Höhe ein Zollanspruch besteht,67 was sich nach dem Zolltarifschema, einer systematischen Auflistung aller Waren, bestimmt. Das Kernstück des gemeinschaftsrechtlichen Zolltarifrechts bildet die VO 2658/87 „über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif 4 . 6 8 Zu ihr bzw. zu ihrem Vorläufer ergingen die mit Abstand meisten - bislang 23 - sprachvergleichenden Urteile des Gerichtshofs. 69 Des Weiteren wurden einige sprachvergleichende Urteile zu
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Diese Urteile werden im Folgenden einheitlich dem Bereich der Landwirtschaft zugeordnet. Außerhalb des Zolltarifrechts ergingen folgende sprachvergleichenden Urteile im Zollrecht: EuGH, Rs. 100/84, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1985, 1169: Auslegung der VO 802/68 Uber die gemeinsame Begriffsbestimmung für den Warenursprung; EuGH, Rs. C-273/90, Meico-Fell, Slg. 1991, 1-5569: Auslegung der VO 1697/79 über die Nacherhebung von Zöllen; EuGH, Rs. C-292/96, Göritz Intransco International, Slg. 1998, 1-165: Auslegung des Begriffs „zugelassener Versender" i.S.d. Art. 398 der Durchführungsverordnung 2454/93 zum Zollkodex. 67 Bleihauer, in: Witte/Wolffgang (Hrsg.), Zollrecht, Rdn. 1373. 68 ABl. 1987 Nr. L 256, S. 1 ff.; zu den Rechtsquellen des Zollrechts und ihrem Verhältnis zueinander S. im Einzelnen unten 3. Kap. C. III. 3. d) aa). 69 In chronologischer Folge: EuGH, Rs. 183/73, Osram/OFD, Slg. 1974, 477; EuGH, Rs. 35/75, Matisa/HZA Berlin, Slg. 1975, 1205; EuGH, verb. Rs. 98, 99/75, Carstens Keramik/OFD Frankfurt a.M., Slg. 1976, 241; EuGH, Rs. 82/76, Hoechst/HZA Frankfurt a.M., Slg. 1977, 335; EuGH, Rs. 108/76, Klöckner/OFD München, Slg. 1977, 1047; EuGH, Rs. 62/77, Carlsen Verlag/OFD Köln, Slg. 1977, 2343; EuGH, Rs. 165/78, IMCO-Michaelis/OFD Berlin, Slg. 1979, 1837; EuGH, Rs. 160/78, Intercontinentale Fleischhandelsgesellschaft/ HZA München-West, Slg. 1979, 2259; EuGH, Rs. 816/79, Mecke/HZA Bremen-Ost, Slg. 1980, 3029; EuGH, verb. Rs. 824, 825/79, Folci/Amministrazione delle Finanze dello Stato, Slg. 1980, 3053; EuGH, Rs. 160/80, Smuling-De Leeuw/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Slg. 1981, 1767; EuGH, verb. Rs. 49, 50/81, Kaders/HZA Hamburg-Waltershof, Slg. 1982, 1917; EuGH, Rs. 295/81, I.F.F./HZA Bad Reichenhall, Slg. 1982, 3239; EuGH, Rs. 45/83, L M U München/HZA München-West, Slg. 1984, 267; 66
Β. Urteile zum Sprachvergleich
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anderen Aspekten des gemeinschaftsrechtlichen Zolltarifrechts, insbesondere zu den Verordnungen der EG-Kommission zur Einreihung bestimmter Waren in die Nomenklatur des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT), erlassen. 70 Angesichts der zahlenmäßigen Bedeutung der Urteile, die sich mit Fragen der Auslegung einzelner Tarifpositionen befassten, sollen sie im Folgenden Abschnitt gesondert behandelt werden. Einen weiteren großen Anteil an der Gesamtzahl der sprachvergleichenden Urteile nehmen die Entscheidungen im Bereich der Landwirtschaft ein: Hierzu ergingen 28 Urteile, was einer Quote von etwa 18 % entspricht. Abgesehen von einigen wenigen Urteilen 71 hatten sich die Richter fast durchweg mit den finanzträchtigen Lenkungsmitteln der Gemeinsamen Marktorganisationen zu befassen. 72 Dies betrifft Einfuhrabschöpfungen 73 und Ausfuhrerstattungen 74 zum Außenschutz gegenüber dem Weltmarkt, Erzeugungsbeihilfen, 75 Quotenund Preisregelungen, 6 Nichtvermarktungsprämien 77 sowie weitere Lenkungsmittel der Marktorganisationen. 78
EuGH, Rs. 155/84, Onnasch/HZA Berlin-Packhof, Slg. 1985, 1449; EuGH, Rs. 200/84, Daiber/HZA Reutlingen, Slg. 1985, 3363; EuGH, Rs. 252/84, Collector Guns/HZA Koblenz, Slg. 1985, 3387; EuGH, Rs. 357/87, Schmid/HZA Stuttgart-West, Slg. 1988, 6239; EuGH, Rs. 291/87, Huber/HZA Frankfurt a.M.-Flughafen, Slg. 1988, 6449; EuGH, Rs. C-338/90, Hamlin Electronics, Slg. 1992, 1-2333; EuGH, Rs. C-248/92, Jepsen Stahl, Slg. 1993, 1-4721; EuGH, Rs. C-64/95, Lubella, Slg. 1996, 1-5105; EuGH, Rs. C-143/96, Knubben Speditions/HZA Mannheim, Slg. 1997, 1-7039. 70 EuGH, verb. Rs. 87, 112, 113/79, Bagusat/HZA Berlin-Packhof, Slg. 1980, 1159; EuGH, Rs. C-143/93, Van es Douane Agenten, Slg. 1996, 1-431; EuGH, Rs. C-130/95, Giloy, Slg. 1997, I4291; EuGH, Rs. C-48/98, Söhl & Söhlke, Slg. 1999,1-7877. 71 EuGH, Rs. 33/69, Kommission/Italien, Slg. 1970, 93 zur Errichtung eines Weinkatasters; EuGH, Rs. 238/84, Röser, Slg. 1986, 795 zu Regeln für önologische Verfahren; EuGH, Rs. 303/97, Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, 1-513 zum Verbraucherschutz bei der Etikettierung von Schaumwein. 72 Vgl. zu diesen Lenkungsmitteln z.B. Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, Rdn. 1037 ff.; Nicolaysen, Europarecht II, S. 404 ff. 73 EuGH, Rs. 16/65, Schwarze, Slg. 1965, 1151; EuGH, Rs. 136/80, Hudig en Pieters/Minister für Landwirtschaft und Fischerei, Slg. 1981, 2233. 74 EuGH, Rs. 61/72, Mij PPW Internationaal NV/Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1973, 301; EuGH, Rs. 11/76, Niederlande/Kommission, Slg. 1979, 245; EuGH, Rs. 18/76, Deutschland/Kommission, Slg. 1979, 343; EuGH, Rs. C-803/79, Roudolff, Slg. 1980, 2015; EuGH, Rs. 316/86, HZA Hamburg-Jonas/Krücken, Slg. 1988, 2213; EuGH, Rs. 55/87, Moksel/BALM, Slg. 1988, 3845; EuGH, Rs. C-34/92, GruSa Fleisch, Slg. 1993, 1-4147; EuGH, Rs. C-436/98, H M IL, Slg. 2000,1-10555. 75 EuGH, Rs. 80/76, Kerry Milk/Minister für Landwirtschaft und Fischereiwesen, Slg. 1977,425; EuGH, verb. Rs. 233, 234, 235/78, Lentes/Deutschland, Slg. 1979, 2305; EuGH, verb. Rs. 424, 425/85, Frico/Voedselvoorzienings In- en Verkoopbureau, Slg. 1987, 2755; EuGH, Rs. 215/88, Casa Fleischhandel/BALM, Slg. 1989, 2789; EuGH, Rs. C-27/90, Sitpa, Slg. 1991, 1-133; EuGH, Rs. C-354/95, National Farmers' Union u.a., Slg. 1997,1-4559. 76 EuGH, Rs. 300/86, van Landschoot/Mera, Slg. 1988, 3443; EuGH, verb. Rs. C-90, 91/90, Neu u.a., Slg. 1991, 1-3617; EuGH, Rs. C-121/90, Posthumus, Slg. 1991, 1-5833; vgl. in diesem Zusammenhang auch EuGH, Rs. 19/69, Stauder/Ulm, Slg. 1969, 419: Abgabe verbilligter Butter an bestimmte Verbrauchergruppen.
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3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
Zahlenmäßig den dritten Rang mit 24 Fundstellen (knapp 16 %) nehmen die sprachvergleichenden Urteile zu Abgaben und Steuern ein, wobei die Auslegung der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie 79 den EuGH am häufigsten beschäftigte. 80 Daneben ergingen aber auch - insbesondere in jüngerer Zeit Urteile zur Quellensteuer bei Gesellschaften, 81 zur Besteuerung der Ansammft/^
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lung von Kapital, zur Börsenumsatzsteuer, zu Verbrauchsteuern sowie zu anderen Aspekten des Steuerrechts. 85 Auch das EuGVÜ war des öfteren Gegenstand der sprach- und rechtsvergleichenden Auslegung des Gerichtshofs. Hier konnten 13 Urteile ermittelt werden, in denen der Gerichtshof auf konkrete Sprachdivergenzen Bezug genommen hat. 86 Daneben gibt es zahlreiche Urteile, in denen sich der Gerichtshof nicht mit einzelnen Sprachdivergenzen im EuGVÜ, sondern allgemein mit der Frage
77
EuGH, Rs. 199/87, Jensen/Landbrugsministeriet, Slg. 1988, 5045.
78
EuGH, Rs. 250/80, Anklagemyndigheden/Töpfer, Slg. 1981, 2465; EuGH, Rs. 218/82, Kommission/Rat, Slg. 1983, 4063; EuGH, Rs. C-372/88, Cricket St Thomas, Slg. 1990, 1-1345; EuGH, Rs. C-389/93, Dürbeck, Slg. 1995,1-1509. 79 RL 77/388 vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten liber die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. 1977 Nr. L 145, S. 1 ff.; zu sprach vergleichenden Urteilen im Steuerrecht eingehend Lohse, UR 2002, S. 393 (395 ff.). 80 In chronologischer Reihenfolge: EuGH, Rs. 107/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1985, 2655; EuGH, Rs. 122/87, Kommission/Italien, Slg. 1988, 2685; EuGH, verb. Rs. 138, 139/86, Direct Cosmetics Ltd./Commissioners of Customs and Excise, Slg. 1988, 3937; EuGH, Rs. 173/88, Skatteministeriet/Henriksen, Slg. 1989, 2763; EuGH, Rs. C-468/93, Gemeente Emmen, Slg. 1996, 1-1721; EuGH, Rs. C-85/95, Reisdorf, Slg. 1996, 1-6257; EuGH, Rs. C-167/95, Linthorst, Pouwels und Scheres, Slg. 1997,1-1195; EuGH, Rs. C-2/95, SDC, Slg. 1997,1-3017; EuGH, Rs. C-149/97, Institute of the Motor Industry, Slg. 1998,1-7053; EuGH, Rs. C-216/97, Gregg, Slg. 1999,1-4947; EuGH, Rs. C-21/98, Amengual Far, Slg. 2000, 1-527; EuGH, Rs. C-384/98, D./W., Slg. 2000, I6795. 81 EuGH, verb. Rs. C-291, 292/94, Denkavit u.a., Slg. 1996,1-5063. 82 EuGH, Rs. C-287/94, Frederiksen, Slg. 1996,1-4581. 83 EuGH, Rs. C-236/97, Codan, Slg. 1998,1-8679. 84 EuGH, Rs. 90/82, Kommission/Frankreich, Slg. 1983, 2011; EuGH, Rs. C-389/95, Klattner, Slg. 1997, 1-2719; EuGH, Rs. C-296/95, E M U Tabac u.a., Slg. 1998,1-1605; EuGH, Rs. C-434/97, Kommission/Frankreich, Slg. 2000, 1-1129; EuGH, Rs. C-437/97, EKW und Wein & Co, Slg. 2000,1-1157; EuGH, Rs. C-482/98, Italien/Kommission, Slg. 2000,1-10861. 85 EuGH, Rs. C-100/90, Kommission/Dänemark, Slg. 1991, 1-5089; EuGH, Rs. C-193/98, Pfennigmann, Slg. 1999,1-7747; EuGH, Rs. C-420/98, W.N., Slg. 2000,1-2847. 86 EuGH, Rs. 14/76, de Bloos/Bouyer, Slg. 1976, 1497; EuGH, Rs. 21/76, Bier/Mines de Potasse d'Alsace, Slg. 1976, 1735; EuGH, Rs. 125/79, Denilauler/Couchet Frères, Slg. 1980, 1553; EuGH, Rs. 157/80, Rinkau, Slg. 1981, 1391; EuGH, Rs. 150/80, Elefanten Schuh/Jacqmain, Slg. 1981, 1671; EuGH, Rs. 27/81, Rohr/Ossberger, Slg. 1981, 2431; EuGH, Rs. 38/81, Effer/Kantner, Slg. 1982, 825; EuGH, Rs. 144/86, Gubisch Maschinenfabrik/Palumbo, Slg. 1987, 4861; EuGH, Rs. C305/88, Lancray, Slg. 1990, 1-2725; EuGH, Rs. C-406/92, Tatry, Slg. 1994, 1-5439; EuGH, Rs. C341/93, Danvaern Production, Slg. 1995, 1-2053; EuGH, Rs. C-163/95, von Horn, Slg. 1997, I5451; EuGH, Rs. C-99/96, Mietz, Slg. 1999,1-2277.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
187
der autonomen gemeinschaftsrechtlichen Begriffsbestimmung in diesem Bereich auseinandergesetzt hat. 87 Des Weiteren scheinen die sprachvergleichenden Urteile zur Sozialpolitik eine große Rolle zu spielen. Da sie jedoch so heterogene Bereiche wie beispielsweise die soziale Sicherheit für Wanderarbeitnehmer, 88 die Wahrung der Arbeitnehmerinteressen bei Betriebsübergängen, 89 die Sozialvorschriften im Straßenverkehr 90 und den Schutz der Arbeitnehmer vor Massenentlassungen91 betrafen, kann man nicht von einer dem Zollrecht oder der Landwirtschaft vergleichbaren Häufung an sprachvergleichenden Urteilen ausgehen. Die übrigen sprachvergleichenden Urteile des Gerichtshofs nehmen zu den verschiedensten Problemkreisen des Gemeinschaftsrechts Stellung. Zunächst können einige Urteile zu den Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes genannt werden, die sich nicht einem der oben genannten Spezialbereiche zuordnen lassen.92 Des Weiteren ergingen mehrere Urteile zur Angleichung der Rechtsvorschriften in der Umweltpolitik, 93 im Lebensmittelrecht, 4 im Markenrecht 95 sowie in weiteren Politikfeldern des Gemeinschaftsrechts. 96 Auch das
87
Vgl. Entscheidungsregister. EuGH, Rs. 33/65, Dekker, Slg. 1965, 1185; EuGH, Rs. 61/65, Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, 583; EuGH, Rs. 6/67, Guerra/Institut National d'Assurance Maladie-Invalidité, Slg. 1967, 293; EuGH, Rs. 19/67, van der Vecht, Slg. 1967, 461; EuGH, Rs. 93/76, Liégeois/ONPTS, Slg. 1977, 543; EuGH, Rs. 9/79, Koschniske/Raad van Arbeid, Slg. 1979, 2717; EuGH, Rs. C-228/94, Atkins, Slg. 1996,1-3633; EuGH, Rs. C-248/96, Grahame und Hollanders, Slg. 1997,1-6407. 89 EuGH, Rs. 19/83, Wendelboe/L.J. Music, Slg. 1985, 457; EuGH, Rs. 135/83, Abels/Bedrijsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469; EuGH, Rs. C-29/91, Redmond Stichting, Slg. 1992, 3189; EuGH, verb. Rs. C-171, 172/94, Merckx und Neuhuys, Slg. 1996,1-1253; EuGH, Rs. C-298/94, Henke, Slg. 1996,1-4989. 90 EuGH, Rs. 76/77, Auditeur du Travail/Dufour, Slg. 1977, 2485; EuGH, Rs. 90/83, Paterson/Weddel, Slg. 1984, 1567; EuGH, Rs. 133/83, Regina/Scott, Slg. 1984, 2863; EuGH, Rs. C158/90, Nijs und Transport Vanschoonbeek-Matterne NV, Slg. 1991,1-6035; EuGH, Rs. C-193/99, Hume, Slg. 2000,1-7809. 91 EuGH, Rs. C-449/93, Rockfon, Slg. 1995,1-4291. 88
92 EuGH, Rs. 30/77, Bouchereau, Slg. 1977, 1999 zur Arbeitnehmerfreizügigkeit; EuGH, Rs. 316/85, CPAS de Courcelles/Lebon, Slg. 1987, 2811 zur Arbeitnehmerfreizügigkeit; EuGH, Rs. C267, 268/95, Merck und Beecham, Slg. 1996,1-6285 zur Warenverkehrsfreiheit; EuGH, Rs. C-64, 65/96, Uecker und Jacquet, Slg. 1997, 1-3171 zur Arbeitnehmerfreizügigkeit; EuGH, Rs. C-6/98, ARD, Slg. 1999,1-7599 zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. 93 EuGH, Rs. 228/87, Strafverfahren gegen X, Slg. 1988, 5099; EuGH, Rs. C-44/95, Royal Society for the Protection of Birds, Slg. 1996,1-3805; EuGH, Rs. C-72/95, Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, 1-5403; EuGH, Rs. C-321/96, Mecklenburg, Slg. 1998, 1-3809; EuGH, Rs. C-231/97, van Rooij, Slg. 1999,1-6355; EuGH, Rs. C-6/99, Greenpeace France, Slg. 2000,1-1651. 94 EuGH, Rs. C-83/96, Dega, Slg. 1997, 1-5001; EuGH, Rs. C-107/97, Rombi und Arkopharma, Slg. 2000,1-3367. 95 EuGH, Rs. C-375/97, General Motors, Slg. 1999, 1-5421; EuGH, Rs. C-425/98, Marca Mode, Slg. 2000,1-4861. 96 EuGH, Rs. C-212/91, Angelopharm, Slg. 1994, 1-171 (Kosmetikrichtlinie); EuGH, Rs. C259/95, Parlament/Rat, Slg. 1997, 1-5303 (Verbraucherschutz); EuGH, Rs. C-360/96, Β FI Holding,
188
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
Beamtenstatut, das gemäß Art. 283 EGV die Rechtsbeziehungen der EGBeamten und die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Gemeinschaftsbediensteten regelt, gab mehrfach aufgrund sprachlich bedingter Auslegungsprobleme zu Urteilen des Gerichtshofs Anlass. 97 Sprachvergleichende Stellungnahmen des Gerichtshofs lassen sich darüber hinaus zu den Außenbeziehungen der Gemeinschaft, 98 zum Wettbewerbsrecht 99 sowie zu Vorschriften des institutionellen Gemeinschaftsrechts 100 nennen. Insoweit sind die Urteile als Querschnitt der gesamten Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs anzusehen und bedürfen keiner näheren Erörterung. Nach einem Überblick über die Relevanz von Sprachdivergenzen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Regelungen soll aber versucht werden, die Häufung sprachvergleichender Urteile zur zollrechtlichen Tarifierung, in der Gemeinsamen Agrarpolitik, im Steuerrecht und im Zusammenhang mit dem EuGVÜ zu erklären.
2. Sprachdivergenzen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Regelungen Die meisten der vom Gerichtshof entschiedenen Rechtssachen zur sprachlichen Problematik von Rechtstexten betrafen rein verwaltungsrechtliche - bzw. bei der Auslegung des EuGVÜ zivil(prozess-)rechtliche - Streitigkeiten. Es lassen sich aber auch einige Urteile zu Sachverhalten mit strafrechtlicher Relevanz finden, die sich quer durch die oben aufgeführten Politikfelder ziehen.
Slg. 1998, 1-6821 (Vergabe öffentlicher Aufträge); EuGH, Rs. C-303/97, Sektkellerei Kessler, Slg. 1999,1-513 (Verbraucherschutz). 97 EuGH, Rs. 52/70, Nagels/Kommission, Slg. 1971, 365; EuGH, Rs. 6/74, Moulijn/Kommission, Slg. 1974, 1287; EuGH, Rs. 90/74, Deboeck/Kommission, Slg. 1975, 1123; EuGH, Rs. 101/77, Ganzini/Kommission, Slg. 1978, 915; EuGH, Rs. 188/83, Witte/Parlament, Slg. 1984, 3465; EuGH, Rs. C-54/90, Weddel/Kommission, Slg. 1992, 1-871; EuGH, Rs. C-82/98 P, Kögler/Gerichtshof, Slg. 2000, 1-3855; zu weiteren Urteilen des EuG in diesem Bereich vgl. Entscheidungsregister. 98
EuGH, Rs. 114/86, Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1988, 5289; EuGH, Rs. C171/95, Tetik, Slg. 1997, 1-329; EuGH, Rs. C-177/95, Ebony Maritime und Loten Navigation, Slg. 1997, 1-1111; EuGH, Rs. C-310/95, Road Air, Slg. 1997, 1-2229; EuGH, Rs. C-210/97, Akman, Slg. 1998, 1-7519; EuGH, Rs. C-l/97, Birden, Slg. 1998, 1-7747; zu sprachlich bedingten Auslegungsproblemen im Assoziationsabkommen mit der Türkei eingehend Gutmann, Die Assoziationsfreizügigkeit türkischer Staatsangehöriger, S. 84 ff. 99 EuGH, Rs. 226/85, Dillinger Hüttenwerke/Kommission, Slg. 1987, 1621; EuGH, Rs. C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997,1-4411. 100 EuGH, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.TVMinistero della Sanità, Slg. 1982, 3415 zur Vorlagepflicht nach Art. 177 (jetzt Art. 234) Abs. 3 EGV; EuGH, Rs. 13/83, Parlament/Rat, Slg. 1985, 1513 zum damaligen Art. 175 (jetzt Art. 232) EGV; EuGH, Rs. C-314/91, Weber/Parlament, Slg. 1993, I1093 zu einer parlamentsinternen Regelung; EuGH, Rs. C-327/91, Frankreich/Kommission, Slg. 1994,1-3641 zum damaligen Art. 228 (jetzt Art. 300) EGV.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
a) Gemeinschaftsrecht
189
und nationales Straf recht
Die Beziehungen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht werden erst in jüngerer Zeit eingehender diskutiert. 101 Bei Abschluss der Römischen Verträge hatten die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft keine eigene Kriminalstrafgewalt übertragen. Vielmehr sollte die Befugnis zum Erlass kriminalstrafrechtlicher Normen grundsätzlich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben. 102 Demgegenüber war die Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlass von Geldbußen als strafähnlichen Sanktionen 103 stets unbestritten. Die Verhängung von Geldbußen in Kartellsachen nach Art. 15 der VO 17/62 stellt den klassischen Beispielsfall für die Verhängung von Sanktionen durch die Gemeinschaftsorgane selbst dar. In der Frage der Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlass echter strafrechtlicher Sanktionen ist gegenwärtig eine dynamische Entwicklung zu beobachten. Da die fortschreitende Vergemeinschaftung verschiedener Materien bisweilen auch die Übertragung von Strafkompetenzen an die Gemeinschaft mit sich bringt, kann man von einem - sich allmählich entwickelnden - genuin europäischen Strafrecht sprechen. Von der bestrittenen Kompetenz der EG, eigene Straftatbestände auf Gemeinschaftsebene einzuführen, ist die von der h.M. bejahte Anweisungskompetenz der EG zu unterscheiden. 104 Es besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Gemeinschaft befugt ist, die Mitgliedstaaten in einer Verordnung oder Richtlinie zur Schaffung nationaler Strafvorschriften anzuweisen. Von dieser Anweisungskompetenz, die entweder auf eine Annex-Kompetenz in Verbindung mit den jeweiligen HarmonisierungsVorschriften des EGV oder auf Art. 95 (ex-Art. 100 a) EGV gestützt wird, hat die Gemeinschaft bereits mehrfach Gebrauch gemacht. 105 Neben der Anweisungskompetenz der EG bestehen weitere Bezüge zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht, die dazu führen, dass Sanktionen zwar von den nationalen Organen, aber unter Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben verhängt werden. Zum einen führt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts dazu, dass strafbewehrte Wirtschaftsrechtsnormen des nationalen Rechts auf ihre Vereinbarkeit mit EG-Recht zu überprüfen und gegebenenfalls gemeinschaftsrechtskonform auszulegen sind. 106 Zum ande-
101 Vgl. dazu und zum folgenden Dannecker, Jura 1998, S. 79 ff.; Tiedemann, NJW 1993, S. 23 ff. sowie Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, passim. 102 Vgl. Böse, Strafen und Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 55 ff. m.w.N. 103 Zur Einordnung der Geldbußen als „Strafen im weiteren Sinne" S. Dannecker, Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 2048 f. 104 Dazu eingehend Dannecker, Jura 1998, S. 79 (81 ff.). 105 Vgl. z.B. die Insider-Richtlinie vom 13.11.1989, ABl. 1989 Nr. L 334, S. 30, die durch das Wertpapierhandelsgesetz aus dem Jahre 1994 in deutsches Recht umgesetzt wurde, oder die Geldwäscherichtlinie vom 10.6.1991, ABl. 1991 Nr. L 166, S. 77, die zusammen mit anderen supranationalen Vorgaben zur Einführung des Straftatbestandes der Geldwäsche in Deutschland führte. 106 Vgl. z.B. die richtlinienkonforme Auslegung des Abfallbegriffs i.S.d. § 326 StGB; zu diesem und anderen Beispielen Dannecker, Jura 1998, S. 79 (84 f.).
190
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
ren verweisen nationale Straf- und Bußgeldtatbestände in Form von Blankettgesetzen immer häufiger nicht nur auf nationale verwaltungsrechtliche Vorschriften, sondern auch auf ausfüllende Bestimmungen in unmittelbar geltenden Rechtsakten der EG. 1 0 7 In dieser Konstellation sanktioniert das nationale Blankettstrafgesetz die Verletzung von Verhaltenspflichten, die unmittelbar durch eine EG-Verordnung festgelegt werden.
b) Sprachvergleichende
Urteile mit strafrechtlichen
Bezügen
Eine nicht geringe Zahl sprachvergleichender Urteile des Gerichtshofs weist strafrechtliche Bezüge auf. Vereinzelt hatte sich der Gerichtshof mit Sprachproblemen zu befassen, die sich bei der Verhängung von Sanktionen durch die Gemeinschaftsorgane selbst 108 oder bei der unmittelbaren Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Verwaltungssanktionen durch die nationalen Instanzen 109 stellten. Die weitaus größere Rolle spielen aber Vorlagefragen im Rahmen nationaler Strafverfahren zur Auslegung von (Blankett-)Straftatbeständen des Nebenstrafrechts, die auf Normen des Gemeinschaftsrechts Bezug nehmen. Die einschlägigen Urteile betreffen so heterogene Bereiche wie das Verkehrsstrafrecht, 110 das Lebensmittel- und Weinstrafrecht, 111 das Embargostrafrecht 112 sowie weitere Aspekte des Wirtschaftsstrafrechts. 113 Auch gab ein verwaltungsakzessorischer Tatbestand des Kernstrafrechts, der zur Ausfüllung auf gemeinschaftsrechtliche Normen verwies, Anlass zu sprachvergleichenden Erwägungen des Gerichtshofs. 114 Im vierten Kapitel wird zu untersuchen sein, inwieweit
107 Vgl. z.B. die Strafvorschrift des § 30 a Abs. 1 des Bundesnaturschutzgesetzes, die zur Ausfüllung des Begriffs „vom Aussterben bedrohte Art" auf die VO zur Anwendung des Übereinkommens über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere oder Pflanzen in der Gemeinschaft vom 3.12.1982 (ABl. 1982 Nr. L 384, S. 1) verweist. 108 EuGH, Rs. C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, 1-4411 zu den Geldbußen im Kartellrecht. 109 EuGH, Rs. C-354/95, National Farmers' Union u.a., Slg. 1997,1-4559 zu gemeinschaftsrechtlichen Sanktionen im Beihilferecht. 1,0 EuGH, Rs. 76/77, Auditeur du Travail/Dufour, Slg. 1977, 2485; EuGH, Rs. 90/83, PatersonAVeddel, Slg. 1984, 1567; EuGH, Rs. 133/83, Regina/Scott, Slg. 1984, 2863; EuGH, Rs. C158/90, Nijs und Transport Vanschoonbeek-Matterne NV, Slg. 1991,1-6035; EuGH, Rs. C-193/98, Pfennigmann, Slg. 1999,1-7747; EuGH, Rs. C-193/99, Hume, Slg. 2000,7809. 111 EuGH, Rs. 238/84, Röser, Slg. 1986, 795; EuGH, Rs. C-107/97, Rombi und Arkopharma, Slg. 2000,1-3367. 1.2 EuGH, Rs. C-84/95, Bosphorus, Slg. 1996, 1-3953; EuGH, Rs. C-177/95, Ebony Maritime und Loten Navigation, Slg. 1997,1-1111. 1.3 EuGH, Rs. 803/79, Roudolff, Slg. 1980, 2015; EuGH, Rs. 250/80, Anklagemyndigheden/Töpfer, Slg. 1981, 2465. 114 EuGH, Rs. 228/87, Strafverfahren gegen X, Slg. 1988, 5099 zum Delikt der Unterlassung von Amtshandlungen gemäß Art. 328 des italienischen Strafgesetzbuches.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
191
der Gerichtshof bei der Auslegung den Besonderheiten des Strafrechts Rechnung trägt bzw. inwieweit dies geboten wäre.
3. Die Häufung der Textdivergenzen und der diesbezüglichen Urteile im Zolltarifrecht Die Häufung der sprachvergleichenden Urteile zur zollrechtlichen Tarifierung erklärt sich sowohl mit „materiellrechtlichen" Überlegungen, welche auf die gesetzestechnischen Besonderheiten des GZT zurückzuführen sind, als auch mit „prozessualen" Erwägungen, die das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof betreffen.
a) Detailflut
und Übersetzungsschwierigkeiten
bei technischen Begriffen
Die gesetzestechnische Ausgestaltung des GZT weist Besonderheiten auf, die bei der Erstellung der Rechtstexte in den verschiedenen Sprachfassungen das Entstehen von Begriffsdivergenzen begünstigen. Hierfür sind zwei verschiedene Erwägungen maßgeblich. Zunächst sind Übersetzungsfehler zu nennen, die schlicht auf Nachlässigkeiten oder Zeitdruck bei der Arbeit des Übersetzungsdienstes zurückzuführen sind. Der GZT besteht aus Tausenden von Positionen und Unterpositionen, in deren Nomenklatur die einzelnen Waren zum Zwecke ihrer Tarifierung eingeordnet werden. Um eine möglichst genaue Abgrenzung der einzelnen Tarifpositionen voneinander zu ermöglichen, sind die Regelungen äußerst detailliert und präzise formuliert. Die Übersetzer haben daher eine große Detailflut zu bewältigen, die durch häufige Berichtigungen und Änderungen der Völker- und gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben noch erhöht wird. 1 1 5 Nicht selten kommt es dabei zu Fehlübersetzungen in einzelnen Sprachfassungen, die erst durch die Auslegung des Gerichtshofs korrigiert werden. Ein Beispiel für eine besonders krasse Fehl Übersetzung lag etwa dem Urteil „Lubella" 1 6 zugrunde, wo in der deutschen Fassung des Titels, der Begründungserwägungen und des Textes der streitigen Tarifierungs-Verordnung von Süßkirschen die Rede war, während alle anderen Fassungen übereinstimmend von Sawerkirschen sprachen. 117 Neben diesen „Flüchtigkeitsfehlern" spielen aber auch andere Übersetzungsfehler im gemeinschaftlichen Zollrecht eine große Rolle, die auf die hohe 115
Müller-Eiselt, in: EFA (Hrsg.), Vertrauensschutz in der Europäischen Union, S. 95 (97). EuGH, Rs. C-64/95, Lubella, Slg. 1996,1-5105; vgl. bereits oben 3. Kap. Β. I. 3. b). 1,7 Vgl. des Weiteren z.B. den Sachverhalt in EuGH, Rs. 45/83, L M U München/HZA MünchenWest: Verwendung eines zusätzlichen Begriffs nur in der deutschen Fassung der Tarifstelle. 116
192
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
Technizität und Kompliziertheit der verwendeten Begriffe zurückzuführen sind. Ein typisches Beispiel für derartige technische Begriffe, die für Laien nur schwer voneinander abzugrenzen sind, findet sich im Urteil „Matisa". 1 1 8 In der deutschen Fassung der Tarifnummer 86.04 war von „Triebwagen" die Rede, während der französische Begriff der „automotrices" korrekterweise mit dem umfassenderen Begriff des „Triebfahrzeugs" hätte wiedergegeben müssen. Da die Übersetzer, wie oben dargelegt, mehrere Rechtsgebiete betreuen und daher nicht zugleich Experten der jeweiligen Materie sein können, 119 geben sie mitunter derartige technische Begriffe nicht adäquat in den verschiedenen Sprachfassungen wieder. Die Sprachdivergenzen im gemeinschaftsrechtlichen Zollrecht liegen damit zum einen in den technischen Besonderheiten der Materie und zum anderen in Flüchtigkeitsfehlern bei der Übersetzung begründet. Letztlich lassen sich diese beiden Quellen von Sprachdivergenzen auf die besondere gesetzestechnische Ausgestaltung des GZT zurückführen, der sich von den übrigen Rechtsgebieten des Gemeinschaftsrechts durch seine enorme Komplexität, Technizität und Detailgenauigkeit unterscheidet. Die Feststellung, dass es in Zolltarifsachen überdurchschnittlich häufig zu Abweichungen zwischen den einzelnen Sprachfassungen kommt, wird schon dadurch bestätigt, dass der Kommission die Befugnis eingeräumt wurde, die zolltarifliche Nomenklatur „mit dem Ziel einer Angleichung oder Klärung der sprachlichen Fassungen" zu ändern. 120 Hierfür scheint offensichtlich ein großes praktisches Bedürfnis zu bestehen.
b) Hoher Stellenwert der Wortlautauslegung
beim GZT
Die Besonderheiten der gesetzestechnischen Ausgestaltung des GZT werden nicht nur auf der Ebene der Erstellung von Rechtsnormen, sondern auch bei ihrer Anwendung relevant. Da der zolltariflichen Einreihung oft keine spezifische Zielsetzung immanent ist, nimmt die sprachvergleichende Auslegung als Bestandteil der Wortlautinterpretation bei Zolltarifsachen naturgemäß einen höheren Stellenwert ein als in den übrigen gemeinschaftsrechtlichen Politikfeldern. 121 Die besondere Rolle der grammatikalischen Auslegung des GZT wird insbesondere damit begründet, dass ein Abweichen vom Wortlaut nicht nur zur
1.8
EuGH, Rs. 35/75, Matisa/HZA Berlin, Slg. 1975, 1205. 2. Kap. C. II. 2. a) aa). 120 Art. 9 Abs. 1 lit. e der VO 2658/87 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABl. 1987 Nr. L 256, S. 1 ff. 121 Vgl. auch Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 153; zur Bedeutung der Wortlautauslegung und der übrigen Auslegungsmethoden im Zollrecht S. Eyl, ZfZ 2000, S. 182 ff. 1.9
Β. Urteile zum Sprachvergleich
193
Ungleichbehandlung der Zollbeteiligten in der EG führen würde, 122 sondern zugleich eine weltweit uneinheitliche Einreihung der Waren zur Folge hätte, weil die Grundsystematik der zolltariflichen Nomenklatur weltweit angewendet wird. 1 2 3 Des Weiteren wird auf die Gefahr unzutreffender statistischer Ergebnisse sowie auf die Widersprüche in den einzelnen Anwendungsbereichen der Nomenklatur (GZT, Ausfuhrerstattungen etc.) verwiesen. 124 Dementsprechend betonen auch die „Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der Nomenklatur des Harmonisierten Systems (AV)", 1 2 5 insbesondere AV 1 und 6, den Vorrang des Wortlauts gegenüber allen anderen Auslegungskriterien. 126 Der Wortlautauslegung und dem Sprachvergleich als einem ihrer Bestandteile kommen somit im Rahmen des GZT eine hervorgehobene Bedeutung zu.
c) Auslösung des Sprachvergleichs durch die Parteien des Ausgangsverfahrens Voraussetzung dafür, dass der EuGH überhaupt zur Auslegung des GZT schreiten und zu der Behandlung von Textdivergenzen Stellung nehmen kann, ist allerdings, dass seine Zuständigkeit eröffnet ist, also zumeist, dass ihm ein Auslegungsproblem von den nationalen Gerichten vorgelegt wird. An dieser Stelle kommt ein weiterer Grund für die Häufung sprachvergleichender Urteile beim GZT ins Spiel, nämlich die Auslösung des Sprachvergleichs durch die Parteien des Ausgangsverfahrens. Oben wurde bereits dargelegt, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens zahlenmäßig die Spitzenstellung unter den Veranlassern des Sprachvergleichs einnehmen. 127 In Politikfeldern mit großen finanziellen Implikationen wie dem Zoll- und dem Steuerrecht wirken die Parteien regelmäßig mit besonderem Nachdruck auf die Behandlung von Sprachdivergenzen hin. Gerade im Zollrecht, wo zuweilen sogar das wirtschaftliche Überleben eines Unternehmens von der jeweiligen zollrechtlichen Tarifierung abhängt, haben die Parteien ein extrem großes Interesse an der Auffindung passender Sprachfassungen zur Unterstützung ihres Vorbringens. Bereits der erste Fall, in dem Parteien eines Ausgangsverfahrens überhaupt einen Sprach-
122
Vgl. zur Bedeutung einer gleichmäßigen Vollzugspraxis in den Mitgliedstaaten Lux, in: Vorbem. Art. 18 bis 29 Rdn. 90; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 466 f. 123 Lux, in: Kruse (Hrsg.), Zölle, S. 153 (202); Alexander, in: Witte, Art. 20 Rdn. 13, 36. 124 Lux, in: G/T/E, Vorbem. Art. 18 bis 29 Rdn. 90. 125 Die AV sind in Teil I des Anhangs der VO Nr. 2658/87 vom 23.7.1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. 1987 Nr. L 256, S. 1 ff.) enthalten und z.B. auch abgedruckt bei Alexander, in: Witte, Art. 20 Rdn. 13 ff. 126 Alexander, in: Witte, Art. 20 Rdn. 36; Bleihauer, in: Witte/Woljfgang (Hrsg.), Zollrecht, Rdn. 1401 ff. 127 3. Kap. Β. II. 2. b). G/T/E,
13
Schübel-Pfister
194
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
vergleich auslösten, betraf die zollrechtliche Tarifierung von Waren. 128 In zahlreichen weiteren zollrechtlichen Urteilen wurde in der Folgezeit der Sprachvergleich durch die Unternehmen als Kläger bzw. Beklagte des Ausgangsverfahrens angestoßen.129 Allerdings ist zwischenzeitlich auch eine größere Sensibilisierung der beklagten bzw. klagenden Hauptzollämter auf dem Gebiet der Sprachdivergenzen festzustellen, die bereits einige Sprachvergleiche des EuGH ausgelöst haben. 130 Die Häufung des Sprachvergleichs im Bereich des GZT hängt also auch damit zusammen, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens respektive ihre - europarechtlich geschulten - Anwälte inzwischen hinreichend bezüglich des Problems der Textdivergenzen sensibilisiert sind. 131
4. Die Häufung der sprachvergleichenden Urteile in der Gemeinsamen Agrarpolitik Während sich die Kumulierung von Textdivergenzen im Zollrecht im Wesentlichen auf Übersetzungsprobleme bei den einzelnen Tarifpositionen des GZT zurückführen lässt, scheinen die Gründe für die Häufung der sprachvergleichenden Urteile im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik vielfältiger zu sein. Dies ergibt sich schon daraus, dass sich die Sprachdivergenzen nicht auf einen einzelnen „Ausschnitt" der GAP konzentrieren, wie dies beim Zollrecht bezüglich der zollrechtlichen Tarifierung der Fall ist, sondern sich in den verschiedensten Bereichen des Agrarrechts finden lassen.
128
EuGH, Rs. 183/73, Osram/OFD, Slg. 1974, 477, 480. Beim GZT etwa in EuGH, Rs. 35/75, Matisa/HZA Berlin, Slg. 1975, 1205, 1215; EuGH, Rs. 165/78, EMCO-Michaelis/OFD Berlin, Slg. 1979, 1837, 1844 (Rdn. 5); EuGH, Rs. 816/79, Mecke/HZA Bremen-Ost, Slg. 1980, 3029, 3045; EuGH, Rs. 160/80, Smuling-De Leeuw/Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Slg. 1981, 1767, 1769; EuGH, Rs. 357/87, Schmid/HZA Stuttgart-West, Slg. 1988, 6239, 6254 (Rdn. 39); EuGH, Rs. 291/87, Huber/HZA Frankfurt a.M.-Flughafen, Slg. 1988, 6449, 6452; bei weiteren Aspekten des Zollrechts etwa in EuGH, Rs. 316/86, HZA Hamburg-Jonas/Krücken, Slg. 1988, 2213, 2228; EuGH, Rs. C-34/92, GruSa Fleisch, Slg. 1993,1-4147, 4150 u. 4153; EuGH, Rs. C-310/95, Road Air, Slg. 1997,1-2229, 2262 f. (Rdn. 30); EuGH, Rs. C-389/95, Klattner, Slg. 1997,1-2719, 2748 (Rdn. 16). 129
130 So etwa in EuGH, Rs. 49/81, Kaders/HZA Hamburg-Waltershof, Slg. 1982, 1917, 1920; EuGH, Rs. 45/83, L M U München/HZA München-West, Slg. 1984, 267, 271; EuGH, Rs. C-248/92, Jepsen Stahl, Slg. 1993,1-4721, 4725; EuGH, Rs. C-143/96, Knubben Speditions/HZA Mannheim, Slg. 1997,1-7039, 7042 f. (Rdn. 6). 131 Insoweit exemplarisch die detaillierten Ausführungen von Rechtsanwalt Ehle in EuGH, Rs. 34/92, GruSa Heisch, Slg. 1993,1-4147, 4150 u. 4153.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
195
a) Parallele zur Bedeutung der GAP im Gemeinschaftsrecht Zunächst spiegelt die große Zahl sprachvergleichender Urteile im Rahmen der GAP die Bedeutung wider, welche der Agrarpolitik in der Gemeinschaft bis zum heutigen Tag zukommt. Bedenkt man, dass die GAP eines der zentralen Politikfelder in der EG darstellt, so ist es nur verständlich, dass sich diesbezüglich zahlreiche Rechtsstreitigkeiten ergeben, die eben auch Sprachprobleme mit sich bringen. Die GAP spielte bereits bei der Entstehung der Gemeinschaft eine tragende Rolle. Im Laufe der Jahre hat sich ihre Bedeutung nicht etwa verringert, sondern - zumindest was ihre Kosten betrifft - sogar gesteigert. Trotz kosmetischer Korrekturen ist und bleibt sie die teuerste Politik der Gemeinschaft überhaupt, in die immer noch die Hälfte der Haushaltsmittel der EG fließen. 132 Spitzenreiter ist die GAP nicht nur bei den Kosten, sondern auch bei der Rechtsnormproduktion, da hier jährlich über 3000 Rechtsakte des Rates und der Kommission erlassen werden. 133 Je größer die Regelungsdichte einer Materie ist und je komplexer sich ihr Rechtsregime darstellt, desto größer ist auch das Risiko von Rechtsstreitigkeiten. Den Jahresberichten über die Tätigkeit des Gerichtshofs, welche die ergangenen Urteile unter anderem nach Verfahrensgegenständen klassifizieren, ist zu entnehmen, dass regelmäßig die meisten Urteile im Bereich der Landwirtschaft ergehen. 134 Somit lässt sich die quantitative Bedeutung der sprachvergleichenden Urteile im Bereich der GAP zunächst mit der Normflut und Rechtsnormkomplexität in der GAP und generell mit der zentralen Stellung der GAP im Gefüge des Gemeinschaftsrechts erklären. Diese Einschätzung wird bestätigt, wenn man die sprachvergleichenden Urteile des EuGH zum Agrarrecht näher betrachtet. Zwar betrifft ein Teil der Judikate die Auslegung von Begriffen, die als termini technici des Agrarrechts zu Übersetzungsschwierigkeiten geführt haben. 135 In der überwiegenden Zahl der Fälle musste sich der EuGH jedoch mit der Auslegung allgemeiner Begriffe befassen, die nicht speziell dem Agrarrecht angehörten. Vielmehr hätten diese Begriffe auch in anderen Rechtsgebieten Verwendung finden und dort zu sprachlich bedingten Auslegungsproblemen führen können. So war das Agrarrecht Anlass für die Auslegung so unterschiedlicher Begriffe wie der Einrichtung" eines Katasters, 136 der Erteilung" einer Ausfuhrlizenz, 137 des „Siehe-
132
Nicolay sen, Europarecht II, S. 429; Streinz, Europarecht, Rdn. 772. Streinz, Europarecht, Rdn. 793. 134 Vgl. z.B. die Übersicht Nr. 7 im Jahresbericht 2000 des Gerichtshofs, S. 260. 135 Vgl. z.B. EuGH, Rs. 300/86, van Landschoot/Mera, Slg. 1988, 3443: „Getreidebauer"; EuGH, Rs. C-34/92, GruSa Fleisch, Slg. 1993,1-4147: „Knochendünnung". 136 EuGH, Rs. 33/69, Kommission/Italien, Slg. 1970, 93. 137 EuGH, Rs. 61/72, MIJ PPW Internationaal N.V./Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Slg. 1973,301. 133
196
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
rungsgebers", 138 des ,ßetriebsnachfolgers" 139 oder des „Werktags". 140 Damit ist auch der entscheidende Unterschied zu den Urteilen bezüglich der Auslegung des GZT aufgetan, die letztlich immer die Definition von Fachausdrücken zur Abgrenzung einzelner Tarifpositionen zum Gegenstand haben.
b) Dringlichkeit
der zu erlassenden Rechtsakte
Die Häufung der sprachvergleichenden Urteile lässt sich des Weiteren auf eine Besonderheit der Rechtsnormproduktion im Bereich der Landwirtschaft zurückführen, die in ähnlicher Form auch im Zollrecht zum Tragen kommt: Bei den im Rahmen der GAP erlassenen Rechtsakten handelt es sich häufig um kurzlebige Normen, die auf die ständige Anpassung von Preisen, Abgaben, Subventionen, Abschöpfungen, Erstattungen etc. gerichtet sind. 141 Wegen der erforderlichen Schnelligkeit des Erlasses dieser Normen ist auch die Übersetzertätigkeit entsprechend dringlich, was wiederum die Gefahr von Übersetzungsfehlern und damit von terminologischen Unterschieden erhöht. Dies gilt erst recht, wenn die zahllosen Normen im Bereich der GAP anlässlich der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten schnellstmöglich in eine zusätzliche Sprache übersetzt werden müssen. 142 Die Schwierigkeiten der Rechtsnormproduktion im Bereich der GAP und ihre sprachlichen Auswirkungen sollen anhand eines EuGH-Urteils aus dem Jahre 1988 veranschaulicht werden. 143 Zwar befasste sich dieses Urteil nicht mit der Auslegung von Sprachdivergenzen, sondern mit der institutionellen Frage der Verletzung wesentlicher Formvorschriften bei Erlass einer Richtlinie. Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt verdeutlicht aber, dass die Dringlichkeit der Rechtsnormproduktion sprachliche Fehler in den Gemeinschaftsrechtstexten begünstigt. Der Rat hatte bei der Abstimmung über die in Rede stehende Richtlinie das vereinfachte schriftliche Verfahren angewandt, obwohl die vorangegangenen Beratungen in Ermangelung der Verfügbarkeit anderer Sprachfassungen nur auf der Grundlage eines französischsprachigen Kommissionsvorschlags erfolgt waren. Das Vereinigte Königreich griff die Anwendung des schriftlichen Verfahrens später an und begründete dies unter 138
EuGH, Rs. 136/80, Hudig en Pieters/Minister für Landwirtschaft und Fischerei, Slg. 1981,
2233. 139
EuGH, Rs. 199/87, Jensen/Landbrugsministeriet, Slg. 1988, 5045. EuGH, Rs. 55/87, Moksel/BALM, Slg. 1988, 3845. 141 Streinz, Europarecht, Rdn. 793. 142 Vgl. EuGH, Rs. C-372/88, Cricket St Thomas, Slg. 1990,1-1345, 1360, wo die Kommission die „planlose" Gestaltung der englischen im Unterschied zur deutschen und französischen Fassung rügte. Dieser Umstand war offenbar auf die hastige Übersetzung der streitigen Verordnung anlässlich des Beitritts des Vereinigten Königreichs zurückzuführen. 140
143
EuGH, Rs. 68/86, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1988, 855.
Β. Urteile zum Sprachvergleich
197
anderem damit, dass der im Amtsblatt veröffentlichte Wortlaut sich in mehreren Punkten von dem später an die Mitgliedstaaten übermittelten Wortlaut unterschied. 144 Der Rat wandte gegen diesen Vorwurf ein, dass der Richtlinienentwurf deswegen ausschließlich in französischer Fassung vorgelegen habe, weil der Kommissionsvorschlag wegen der Dringlichkeit der Angelegenheit erst am Vortag eingegangen sei und der Übersetzungsdienst des Rates wegen der Vorbereitung des unmittelbar bevorstehenden Beitritts Spaniens und Portugals überlastet gewesen sei. 145 So sei es auch zu erklären, dass der im Amtsblatt veröffentlichte Text der angegriffenen Richtlinie in einigen Punkten von dem zugestellten Text abwich. Bekanntermaßen führen derartige durch Zeitdruck bedingte sprachliche Fehler bei der Rechtssetzung zu entsprechenden Auslegungsproblemen im Rahmen der Rechtsanwendung.
c) Finanzielle Bedeutung der GAP für die Rechtsunterworfenen Wie oben dargelegt, haben die sprachvergleichenden Urteile im Rahmen der GAP nicht ausschließlich die Begriffsbestimmung von Fachausdrücken aus dem Bereich der Landwirtschaft zum Gegenstand. Bestimmte Gesetzmäßigkeiten lassen sich somit zwar nicht bezüglich der Kategorie der auszulegenden Begriffe, wohl aber bezüglich der Art der Streitigkeiten im Rahmen der GAP erkennen. Die Bedeutung der GAP ergibt sich nicht zuletzt aus ihren finanziellen Implikationen für die Betroffenen. Obwohl die Zahlungen für die GAP auch heute noch die Hälfte der gesamten Ausgaben der Gemeinschaft ausmachen, kommen diese Mittel den Bauern nur teilweise und unausgewogen zugute, 146 was wiederum Quelle von Rechtsstreitigkeiten ist. Folglich betreffen auch die meisten sprachvergleichenden Urteile die finanzträchtigen Lenkungsmittel der gemeinsamen Marktorganisationen, wie bei der Verteilung der Urteile auf die einzelnen Politikfelder festgestellt werden konnte. 147 Die große Zahl der Streitfälle zur Auslegung der finanzträchtigen Vorschriften im Agrarbereich könnte allerdings erheblich reduziert werden, wenn die Gemeinschaftsrechtstexte sorgfältiger redigiert würden. 148
144
Sitzungsbericht zu EuGH, Rs. 68/86, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1988, 855, 869. Sitzungsbericht zu EuGH, Rs. 68/86, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1988, 855, 868 f. 146 Streinz, Europarecht, Rdn. 772. 147 3. Kap. B. III. 1. 148 Van GervenAVils, in: ECC (Hrsg.), Legal Protection, S. 335 (336); so auch Generalanwalt Capotorti, SchlA zu EuGH, Rs. 250/80, Anklagemyndigheden/Töpfer, Slg. 1981, 2465, 2488. 145
198
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
d) Sprachlich verbrämte politische Kompromisse in der GAP Als spezifische Ursache für die hohe Quote an Sprachdivergenzen im Bereich der GAP sind schließlich auch die politischen Kompromisse anzusehen.
aa) GAP und politische Kompromisse Im zweiten Kapitel wurde allgemein auf die Mechanismen zur sprachlichen Verbrämung politischer Kompromisse hingewiesen. 149 Dies gilt in besonderem Maße für die GAP, die schon bei Gründung der EWG Ergebnis eines politischen Kompromisses, nämlich des „großen Kompromisses zwischen den Agrar- und Industrieinteressen" war. 150 Frankreich als traditionelles Agrarland machte den freien Warenverkehr von einer Überlebensgarantie für seine Landwirtschaft in Form der GAP abhängig. Erneut zum Schwur kam es Ende der sechziger Jahre, als Frankreich den drohenden Übergang zur Mehrstimmigkeit im Agrarbereich durch die Politik des leeren Stuhls verhinderte, die dann Anlass für die sog. „Luxemburger Vereinbarung" war. De facto waren danach Mehrheitsentscheidungen nur noch bei Einverständnis aller Mitgliedstaaten möglich, 151 eine Praxis, die in modifizierter Form durch den Kompromiss von Ionnina aufrechterhalten wurde. Wenn somit schon die GAP selbst einen politischen Kompromiss darstellt und zudem noch Mehrheitsentscheidungen in diesem Bereich weitgehend verhindert wurden, nimmt es nicht wunder, dass inhaltliche Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten häufig durch politische Formelkompromisse überdeckt wurden. Als dafür hervorragend geeignetes Instrument bietet sich die Abfassung eines Rechtstextes in den verschiedenen Amtssprachen an, die so viel Spielraum lässt, dass sich jeder Mitgliedstaat - bei isolierter Betrachtung seiner eigenen Sprachfassung - in seiner Rechtsauffassung bestätigt fühlen kann. So können allerdings Meinungsdivergenzen zu Sprachdivergenzen werden, deren Klärung letztlich dem Europäischen Gerichtshof überlassen wird. Diese These lässt sich sogar durch entsprechende Äußerungen seitens der Gemeinschaftsorgane belegen. So führte die Kommission im „C.I.L.F.I.T."-Urteil, dem ein Ausgangsverfahren aus dem Bereich der gemeinsamen Marktorganisationen zugrunde lag, bezüglich der Vorlagepflicht nach Art. 177 (jetzt Art. 234) Abs. 3 EGV unter anderem aus, dass „die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in sieben Sprachen abgefasst und häufig Ausdruck politischer Kompromisse" seien. 152 149 150 151 152
3426.
2. Kap. C. II. 3. d). Oppermann, Europarecht, Rdn. 1351; Streinz, Europarecht, Rdn. 772. Streinz, Europarecht, Rdn. 772, 264 ff. Sitzungsbericht zu EuGH, Rs. 283/81, C.I.L.F.I.T./Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415,
Β. Urteile zum Sprachvergleich
199
bb) Sprachliche Auswirkungen politischer Kompromisse Die sprachlichen Auswirkungen politischer Kompromisse sollen exemplarisch anhand eines EuGH-Urteils behandelt werden, bei dem es zwar im Ergebnis nicht auf die Entscheidung der Sprachdivergenz ankam. Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt ist jedoch ein Musterbeispiel für die Formulierungskunst des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Umsetzung politischer Kompromisse. Gegenstand des Urteils „Dürbeck" aus dem Jahre 1995 153 war ein besonders neuralgischer Punkt der GAP, nämlich die Gemeinsame Marktorganisation für Bananen. Nach Art. 19 der in Rede stehenden Verordnung war ein bestimmter Anteil des Zollkontingents eröffnet für - so die deutsche Fassung der Verordnung - „in der Gemeinschaft niedergelassene Marktbeteiligte, die ab 1992 mit der Vermarktung von anderen als Gemeinschafts- und/oder traditionellen AKP-Bananen beginnenDementsprechend vertrat die deutsche Regierung den Standpunkt, dass auch noch „neue" Marktbeteiligte Lizenzen erhalten konnten, die erst nach Erlass der Verordnung auf den Markt getreten waren. Gegen diese Vergabepraxis hatte sich jedoch ein deutscher Importeur von Drittlandsbananen gewandt, der verhindern wollte, dass zusätzliche Lizenzen an neu auftretende Strohmänner vergeben und infolge der Verringerung der einzelnen Kontingente eine wirtschaftlich sinnvolle Einfuhr von Bananen unmöglich würde. Er begründete seinen Standpunkt mit den anderen Sprachfassungen der Verordnung, die allesamt vorsahen, dass die Antragsteller bereits 1992 „mit der Vermarktung von (...) Bananen begonnen habenalso bereits früher Bananen eingeführt haben mussten. Generalanwalt und Gerichtshof stellten die deutsche Fassung der Verordnung allen anderen Sprachfassungen sowie der Durchführungsverordnung gegenüber, bevor sie eine vermittelnde Entscheidung auf der Grundlage systematischer und teleologischer Erwägungen trafen. Der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt zeigt, wie leicht unter dem Deckmantel divergierender sprachlicher Fassungen Wirtschaftspolitik betrieben werden kann. Man kann vermuten, dass die deutsche Fassung der Verordnung nicht von ungefähr die Lizenzen einem weiteren Personenkreis zur Verfügung stellen und dadurch - global betrachtet - die Stellung der deutschen Bananenimporteure stärken wollte: Diese hätten sich durch die Einschaltung von neuen Strohmännern Lizenzen in größerem Umfang besorgen können und dadurch ihren Anteil an der Einfuhr von Drittlandsbananen steigern können. Dass dies für den einzelnen Importeur, wie den Kläger des Ausgangsfalls, letztlich negative Auswirkungen auf den Umfang seines Kontingents haben könnte, steht insoweit auf einem anderen Blatt. Jedenfalls bewirkte seine Klage, dass der Gerichtshof einer unterschiedlichen Auslegung der Verordnung in den einzelnen Mitgliedstaaten einen Riegel vorschieben konnte.
133
EuGH, Rs. C-389/93, Dürbeck, Slg. 1995,1-1509.
200
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
5. Die Häufung der sprachvergleichenden Urteile im Steuerrecht Auch im Bereich des Steuerrechts ist eine signifikante Häufung der sprachvergleichenden Judikatur zu beobachten, wobei der größte Anteil der einschlägigen Urteile auf die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie entfällt.
a) Die Auslegung des Steuerrechts im Allgemeinen Die Gründe für die hohe Zahl der sprachvergleichenden Urteile im Steuerrecht allgemein decken sich im Wesentlichen mit den Aspekten, die bereits im Zollrecht und im Agrarrecht angesprochen wurden. Auf der Ebene der Rechtssetzung gilt, dass die Steuerharmonisierung einen besonders sensiblen Bereich darstellt, in dem nationale Egoismen eine starke Rolle spielen. 154 Das im Steuerrecht noch weitgehend geltende Einstimmigkeitsprinzip und der daraus resultierende Zwang zur Einigung begünstigen sprachlich kaschierte Formelkompromisse. Auf der Ebene der Rechtsanwendung ist zu bedenken, dass die Wortlautauslegung und damit auch der Vergleich der verschiedenen sprachlichen Fassungen im Steuerrecht wegen seiner belastenden Auswirkungen auf den Bürger eine große Rolle spielt. 5 5 Angesichts der finanziellen Bedeutung dieses Politikfelds ist eine zunehmende Sensibilisierung der Rechtsunterworfenen und ihrer Anwälte hinsichtlich des Problems der semantischen Divergenzen festzustellen. Gerade in jüngerer Zeit lassen sich zunehmend Vorabentscheidungen finden, in denen die Parteien des Ausgangsverfahrens ihre Position unter Berufung auf die Fassung der streitigen Vorschrift in anderen Amtssprachen untermauert haben. 156
b) Die Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie
im Besonderen
Neben diesen allgemeinen Gründen für die hohe Zahl an sprachvergleichenden Urteilen im Steuerrecht sind des Weiteren die spezifischen Ursachen für die Häufung terminologischer Unterschiede bei der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie zu untersuchen. Zwei Schlussanträge zu sprachvergleichenden Urteilen jüngeren Datums liefern hierfür Anhaltspunkte. 134
Heinichen, in: Schwarze (Hrsg.), Legislation for Europe 1992, S. 107 (108 f.). Vgl. dazu näher unten 3. Kap. C. I. 2. c) cc) (2). 156 Vgl. exemplarisch die Wiedergabe des Partei Vorbringens in folgenden Urteilen: EuGH, Rs. C287/94, Frederiksen, Slg. 1996, 1-4581, 4585 (Rdn. 8); EuGH, Rs. C-389/95, Klattner, Slg. 1997,12719, 2748 (Rdn. 16); EuGH, Rs. C-296/95, EMU Tabac u.a., Slg. 1998, 1-1605, 1643 (Rdn. 28); EuGH, Rs. C-149/97, Institute of the Motor Industry, Slg. 1998,1-7053, 7061 (Rdn. 25); EuGH, Rs. C-437/97, EKW und Wein & Co, Slg. 2000,1-1157, 1173 (Rdn. 34). 155
Β. Urteile zum Sprachvergleich
201
Generalanwalt Fennelly wies in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache „Linthorst, Pouwels und Scheres" auf die „turbulente" und „wirre" Entstehungsgeschichte einiger Vorschriften der Sechsten Richtlinie hin. 1 5 7 Anhand des Art. 9 der Richtlinie, der den Ort der Dienstleistung im Sinne des Mehrwertsteuerrechts regelt, zeigte Fennelly exemplarisch die verschiedenen Modifizierungen und Ergänzungen auf, die zwischen dem ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Kommission und dem endgültigen vom Rat verabschiedeten Text lagen. Der Umstand, dass diese Änderungen meist nur einzelne Sprachfassungen betrafen, 158 deutet auf das Vorhandensein sprachlicher Differenzen hin. Die Ausführungen des Generalanwalts zu Art. 9 der Sechsten Richtlinie dürften auch für andere Bestimmungen dieses Rechtsakts Gültigkeit beanspruchen, so dass die Entstehungsgeschichte der Richtlinie einen besonderen Grund für die Häufung linguistischer Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachfassungen darstellt. Auch Generalanwalt Cosmas befasste sich mit den Gründen für das verstärkte Auftreten von Sprachdivergenzen gerade bei der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie. 159 Der Gemeinschaftsgesetzgeber habe die einschlägigen Bestimmungen nicht frei von Unklarheiten und Widersprüchen formuliert, so dass die Richtlinie immer wieder zu Auslegungsschwierigkeiten Anlass gebe. Der Grund hierfür sei in der spezifischen Unzulänglichkeit der Terminologie im Bereich des Mehrwertsteuerrechts zu sehen, die eine adäquate Begrifflichkeit in allen Sprachfassungen unmöglich mache. In der Tat erscheint es gerade im Mehrwertsteuerrecht sehr schwierig, klare, supranationale und dauerhafte juristische Konzepte in allen Sprachfassungen übereinstimmend wiederzugeben, da hier die Rechtsinstitute in den einzelnen Mitgliedstaaten besonders stark voneinander abweichen.
6. Sprach- und Rechtsvergleich bei Auslegung des EuGVÜ Die Frage, warum es bei der Auslegung des EuGVÜ überdurchschnittlich häufig zu rechtssprachvergleichenden Urteilen kommt, muss bei Inhalt und Struktur des EuGVÜ ansetzen.
157 SchlA zu EuGH, Rs. C-167/95, Linthorst, Pouwels und Scheres, Slg. 1997, 1-1195, 1207 (Rdn. 23). 158 Vgl. dazu im Einzelnen die SchlA zu EuGH, Rs. C-167/95, Linthorst, Pouwels und Scheres, Slg. 1997, 1-1195, 1207 (Rdn. 23 Fn. 25). 159 SchlA zu EuGH, Rs. C-216/97, Gregg, Slg. 1999,1-4947, 4953 f. (Rdn. 9).
202
3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
a) Überblick über Struktur und Inhalt des EuGVÜ Wie bereits erörtert, weist das EuGVÜ trotz seiner Rechtsnatur als völkerrechtlicher Vertrag einen besonders starken Gemeinschaftsbezug auf, der seine integrationsfreundliche Auslegung und die Übertragung der allgemeinen Auslegungsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts rechtfertigt. 160 Inhaltlich wurde mit dem Brüsseler Übereinkommen ein vereinheitlichtes System zur Bestimmung der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit (Titel II) geschaffen, dem ein vereinfachter Mechanismus der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen der Gerichte der Vertragsstaaten (Titel III), die in den vom Übereinkommen erfassten Materien (Titel I) ergangen sind, zur Seite gestellt ist. Da das EuGVÜ vereinheitlichende Regeln über die direkte internationale Zuständigkeit sowie über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen trifft, wird vielfach von einem „europäischen Zivilprozessrecht" gesprochen. 161 Diese Bezeichnung darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass auch für innerstaatliche Prozesse ein gemeinschaftsweit einheitliches Zivilprozessrecht geschaffen worden sei, da außerhalb des Anwendungsbereichs des EuGVÜ die Verfahrensrechte und die materiellen Rechte der Mitgliedstaaten grundsätzlich unberührt bleiben. 162 Umgekehrt wurde das EuGVÜ zwar in Anlehnung an die Regelungen der Zivilprozessrechtsordnungen der Vertragsstaaten entwickelt; aufgrund der dort bestehenden Unterschiede konnte sich das Übereinkommen aber nicht jeweils an die Konzeptionen in allen Mitgliedstaaten anlehnen.
b) Die fehlende Äquivalenz juristischer
Konzepte
Aus dieser Konstellation ergibt sich bereits der Hauptgrund für die Häufung von rechtssprachvergleichenden Urteilen bei der Auslegung des EuGVÜ, der in der fehlenden Äquivalenz juristischer Konzepte zu sehen ist. Das Übereinkommen verwendet zahlreiche Begriffe des Zivil-, Handels- und Verfahrensrechts, die in den einzelnen Mitgliedstaaten entweder eine vollkommen unterschiedliche Bedeutung oder einen zumindest in Teilbereichen nicht deckungsgleichen Inhalt haben. 163 Noch stärker als beim herkömmlichen Gemeinschaftsrecht, das immerhin teilweise über eine eigene europäische Terminologie verfügt, steht man bei der Auslegung des EuGVÜ vor der Schwierigkeit, dass die verwendeten Ausdrücke den nationalen Rechtsordnungen mit ihren divergierenden juristischen Konzepten entlehnt sind. Wenn sich somit bei der Ausle160
Vgl. dazu oben 3. Kap. Α. II. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, Einl. Rdn. 17; Schlosser, EuGVÜ, Einl. Rdn. 1; Spellenberg, EuR 1980, S. 329 ff. (insbes. S. 347 ff.). 162 Martiny, RabelsZ 1981, S. 427 (428). 163 Vgl. nur Martiny, RabelsZ 1981, S. 427 (428); Spellenberg, EuR 1980, S. 329 (338). 161
Β. Urteile zum Sprachvergleich
203
gung des Brüsseler Übereinkommens in erster Linie Bedeutungsprobleme stellen, so sind diese doch aufs engste mit den Begriffsdivergenzen verknüpft bzw. gehen fließend in diese über. Da die Rechtsinstitute des EuGVÜ regelmäßig in Anlehnung an die Regelungen in einzelnen Mitgliedstaaten konzipiert wurden, in anderen Vertragsstaaten aber nur mit anderem Inhalt oder gar nicht existierten, konnte auch die verwendete Terminologie nicht auf eine gesicherte Begriffsbildung in allen Mitgliedstaaten zurückgreifen. Die Urheber des Übereinkommens orientierten sich bewusst oder unbewusst an Formulierungen, die ihnen aus dem nationalen Recht geläufig waren, und transportierten diese auf die supranationale Ebene, ohne das Problem der inhaltlichen Konkordanz der Sprachfassungen zu berücksichtigen. 164 Die Übernahme der Formulierungen aus dem nationalen Recht führte daher zu Übersetzungsschwierigkeiten. Bei der Auslegung des Brüsseler Übereinkommens sind somit Sprach- und Rechtsvergleich unauflöslich miteinander verzahnt.
c) Beispiele für Sprachdivergenzen aufgrund unterschiedlicher nationaler Rechtsinstitute Der gerade geschilderte Zusammenhang zwischen Sprach- und Rechtsvergleich bestätigt sich, wenn man die einzelnen sprachvergleichenden Urteile des EuGH zur Auslegung des EuGVÜ näher betrachtet. Im Gegensatz etwa zur einschlägigen Judikatur im Bereich der Landwirtschaft sind bei den sprachvergleichenden Urteilen zum EuGVÜ allgemeine Begriffsprobleme, die beispielsweise auf Flüchtigkeitsfehler bei der Übersetzung zurückzuführen sind, nur selten zu finden. Vielmehr weisen die sprachvergleichenden Urteile zum Brüsseler Übereinkommen fast durchgängig einen engen Bezug zur rechtsvergleichenden Analyse bestimmter zivilprozessrechtlicher Institute auf. Der Zusammenhang zwischen Begriffs- und Bedeutungsdivergenzen und damit zwischen Sprach- und Rechtsvergleich lässt sich zunächst an einigen Urteilen ablesen, die sich mit den besonderen Gerichtsständen nach Art. 5 EuGVÜ auseinander setzten.165 Noch instruktiver sind die Judikate des EuGH, die zur Auslegung des Art. 21 EuGVÜ ergingen. Art. 21 EuGVÜ löst die Konflikte, die aus der doppelten Rechtshängigkeit von Klagen bei Gerichten verschiedener Vertragsstaaten erstehen können, nach dem Grundsatz der Priori164
Vgl. dazu das Beispiel von Sandrock, ZVglRWiss 1979, S. 177 (205 ff.), zur deutschen Fassung des Art. 18 EuGVÜ, die sich an die Formulierung des § 39 ZPO anlehnt und von den übrigen Sprachfassungen teilweise abweicht. 165 EuGH, Rs. 14/76, de Bloos/Bouyer, Slg. 1976, 1497, 1508 (Rdn. 9/12): vertragliche „Verpflichtung"; EuGH, Rs. 21/76, Bier/Mines de Potasse d'Alsace, Slg. 1976, 1735, 1746 (Rdn. 13/14): „Ort des schädigenden Ereignisses"; EuGH, Rs. 38/81, Effer/Kantner, Slg. 1982, 825, 834 (Rdn. 5): „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag"; EuGH, Rs. 266/85, Shenavai/Kreischer, Slg. 1987, 237, 255 f. (Rdn. 16 ff.): „Erfüllungsort" bei Architekten Verträgen.
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3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
tät. 1 6 6 Voraussetzung für das Eingreifen der Vorschrift ist die Identität der Parteien und des Streitgegenstandes. Hinsichtlich letzterem ist in der deutschen Fassung der Vorschrift pauschal von Klagen „wegen desselben Anspruchs" die Rede, während die anderen Sprachfassungen ausdrücklich zwischen dem „Gegenstand" und der „Grundlage" des Anspruchs unterscheiden. Der Gerichtshof stellte klar, dass angesichts der Notwendigkeit einer autonomen und einheitlichen Auslegung der in Art. 21 EuGVÜ verwendeten Begriffe 167 die deutsche Fassung „im gleichen Sinn zu verstehen [sei] wie die Fassungen in den anderen Sprachen, die alle diese Unterscheidung treffen". 168 In einem Urteil aus dem Jahre 1997 hielt der EuGH demgegenüber die deutsche Terminologie des „anhängig gemachten" Rechtsstreits und den entsprechenden niederländischen Ausdruck für deutlicher als die übrigen Sprachfassungen 169 und gab ihnen - im Widerspruch zu der auf der Mehrheit der Sprachfassungen beruhenden Entscheidung des Generalanwalts 170 - den Vorzug. Die Betrachtung der Begriffs- und Bedeutungsfragen bei der Auslegung des EuGVÜ soll durch zwei Rechtsprechungsbeispiele aus jüngerer Zeit abgerundet werden. Im Jahre 1997 hatte sich der Gerichtshof ausgehend von einem dänischen Rechtsstreit mit dem Gerichtsstand der Widerklage nach Art. 6 Nr. 3 EuGVÜ zu befassen. 171 Die mehrdeutige dänische Terminologie des Übereinkommens („modfordringer") unterschied nicht zwischen der bloßen verteidigungsweisen Geltendmachung einer Forderung in Form einer Einrede und der Widerklage als Antrag auf gesonderte Verurteilung, so dass nach dem dänischen Wortlaut des Art. 6 fraglich war, ob beide Konstellationen oder lediglich die gesonderte Widerklage von der besonderen Zuständigkeitsvorschrift erfasst sein sollten. Der Gerichtshof löste diese Mehrdeutigkeit jedoch mit Blick auf die Sprach- und Rechtslage in Frankreich, England, Deutschland und Italien, die allesamt die beiden Konzeptionen deutlich unterschieden und auch verschiedene Begriffe dafür verwendeten. 172 Im Jahre 1999 nahm der EuGH zur Auslegung der besonderen Zuständigkeitsregelung des Art. 13 EuGVÜ Stellung. 173 Das Eingreifen dieser Vorschrift setzt neben der Verbrauchereigenschaft des einen Vertragspartners voraus, dass der geschlossene Vertrag zu den
166
Vgl. Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht, vor Art. 21 Rdn. 1. Bezüglich des Zeitpunkts des Eintritts der Rechtshängigkeit nach Art. 21 EuGVÜ sollen allerdings die nationalen Vorschriften maßgeblich sein, vgl. EuGH, Rs. 129/83, Zelger/Salinitri, Slg. 1984, 2397, 2408 (Rdn. 15); kritisch Cieslik, Auslegung des EuGVÜ, S. 98 ff. 168 EuGH, Rs. 144/86, Gubisch Maschinenfabrik/Palumbo, Slg. 1987, 4861, 4875 (Rdn. 14); bestätigt durch EuGH, Rs. 406/92, Tatry, Slg. 1994, 5439, 5473 (Rdn. 30); vgl. dazu Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 21 Rdn. 6, der auf die besonders deutliche französische Textfassung hinweist. 169 EuGH, Rs. C-163/95, von Horn, Slg. 1997,1-5451, 5473 (Rdn. 12). 170 SchlA zu EuGH, Rs. C-163/95, von Horn, Slg. 1997,1-5451, 5461 (Rdn. 24). 171 EuGH, Rs. C-341/93, Danvaern Production, Slg. 1995,1-2053. 172 Vgl. dazu auch Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 6 Rdn. 40. 173 EuGH, Rs. C-99/96, Mietz, Slg. 1999,1-2277. 167
Β. Urteile zum Sprachvergleich
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in Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 aufgezählten Vertragstypen gehört. Die Vorlagefrage war vom Bundesgerichtshof unter anderem damit begründet worden, dass der in Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 enthaltene Begriff des „Kaufs beweglicher Sachen auf Teilzahlung" in den Mitgliedstaaten unterschiedlich definiert und verstanden würde. 174 Der Europäische Gerichtshof wies zunächst auf die Notwendigkeit einer autonomen Auslegung der streitigen Begriffe hin und löste die aus den unterschiedlichen nationalen Rechtsgestaltungen resultierenden Bedeutungsprobleme unter Rückgriff auf die besonders deutliche Formulierung in der englischen Sprachfassung: Aus dem Begriff „installment credit terms" ergebe sich eindeutig, dass die besondere Zuständigkeitsvorschrift nur in den Fällen greife, in denen der Verkäufer schon vor Zahlung des vollen Kaufpreises dem Erwerber den Besitz an der Sache und damit ein „Darlehen" eingeräumt hatte. 1 7 5 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Sprachdivergenzen, die bei der Auslegung des EuGVÜ zu Tage traten, ganz überwiegend auf Unterschieden in den Rechtskonzepten der einzelnen Vertragsstaaten beruhten. Die große Zahl der diesbezüglichen Urteile erklärt sich daraus, dass momentan noch bedeutsame und weitreichende Rechtsunterschiede zwischen den Staaten bestehen. Dies könnte sich aber im Zuge der gegenwärtigen Harmonisierungstendenzen im Bereich des europäischen Zivil(prozess)rechts ändern. 176
IV. Klassifizierung der Urteile nach der Intensität des Sprachvergleichs Die abschließende formale Betrachtung, mit welcher Intensität sich der Gerichtshof mit der sprachlichen Problematik der Rechtstexte auseinandersetzt, ist Vorfrage zu der späteren inhaltlichen Analyse der Urteile. Sie erscheint geboten, da der Gerichtshof Sprachdivergenzen nicht immer in der gleichen Ausführlichkeit und Genauigkeit behandelt. Diese Tatsache wird von einigen Autoren verkannt, die davon ausgehen, dass der Gerichtshof stets alle Sprachfassungen in seine Auslegungstätigkeit einbezieht und die daher auch nur die diesbezüglichen Urteile nennen. 177 In einem Teil der Fälle führt der Gerichtshof in der Tat einen umfassenden Sprachvergleich durch. In den übrigen einschlägigen 174
Wiedergegeben in EuGH, Rs. C-99/96, Mietz, Slg. 1999,1-2277, 2306 (Rdn. 17). EuGH, Rs. C-99/96, Mietz, Slg. 1999,1-2277, 2311 (Rdn. 31). 176 Dazu 5. Kap. Α. II. l.b). 177 Vgl. nur Armbrüster, EuZW 1990, S. 246 (248); Milian-Massana, RivDirEur 1995, S. 485 (501); Rogmann, in: Bongartz (Hrsg.), Europa im Wandel, S. 249 (262 f.). Dies ist auch der Grund dafür, dass bestimmte EuGH-Urteile in fast allen einschlägigen Untersuchungen in der Literatur wiederkehren, vgl. z.B. die sich weitgehend deckenden Analysen ausgewählter Urteile bei Barents, EC Tax Review 1997, S. 49 (52 ff.); Duhannoy, in: Association internationale de méthodologie juridique (Hrsg.), Objectifs de la loi, S. 255 (260 ff.); Labrie, La construction linguistique, S. 139 ff.; Usher, ICLFR 1981, S. 277 (284 f.). 175
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3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
Urteilen setzt er sich demgegenüber nur in verkürzter Form mit sprachlichen Problemen auseinander. Daneben gibt es Fälle, in denen der Gerichtshof selbst nicht zu Sprachdivergenzen Stellung nimmt, obwohl er dazu von den Verfahrensbeteiligten oder dem Generalanwalt aufgefordert worden war.
1. EuGH-Urteile mit umfassendem Sprachvergleich a) Überblick über die Entwicklung der Rechtsprechung In knapp einem Fünftel der Urteile, in denen sich der Gerichtshof im Laufe seiner Rechtsprechungstätigkeit zu der Sprachproblematik geäußert hat, führte er einen umfassenden Sprachvergleich durch. Dies bedeutet, dass er alle zum Zeitpunkt der in Rede stehenden Ereignisse verbindlichen Sprachfassungen einander gegenüberstellt, um daraus ein bestimmtes Auslegungsergebnis zu ermitteln. 178 Meist werden dabei die einzelnen Sprachfassungen zudem in ihrem Originalwortlaut wiedergegeben. In einigen Fällen verzichtet der EuGH zwar auf das Zitat der Wortlaute, setzt sich aber nichtsdestoweniger ersichtlich mit allen Sprachfassungen inhaltlich auseinander. Betrachtet man die Verteilung dieser Urteile auf die gesamte Rechtsprechungstätigkeit des EuGH, so kann man feststellen, dass in der Anfangszeit der Rechtsprechung besonders viele umfassende Sprachvergleiche durchgeführt wurden. Dies erklärt sich daraus, dass die gemeinschaftsrechtlichen Rechtstexte ursprünglich nur in vier Amtssprachen verbindlich waren. Ein Vergleich aller Sprachfassungen war damals mit weit geringerem Aufwand möglich als in der späteren Zeit, als sechs, sieben, neun und schließlich elf Texte - bzw. zwölf bei der Auslegung von Primärrecht - berücksichtigt werden mussten. Daher verwundert es nicht, dass mit der zunehmenden Zahl von Amtssprachen der Anteil derjenigen Urteile, in denen der Gerichtshof umfassende Sprachvergleiche durchführte, zunächst kontinuierlich sank. Mit dem Anwachsen der Zahl der Amtssprachen wurde es für den Gerichtshof immer schwieriger, tatsächlich alle Sprachfassungen in seine Betrachtungen einzubeziehen, zumal ein Großteil der Entscheidungen in Kammern getroffen wird, die teilweise nur mit drei Richtern besetzt sind. 179 Allerdings lässt sich in der jüngsten Rechtsprechung eine interessante
178 Zur Frage der Berücksichtigung später hinzugekommener Sprachfassungen s. unten 3. Kap. C. III. 4. 179 Gegenwärtig werden die meisten der dem EuGH vorgelegten Fälle in Kammern entschieden, die entweder mit drei oder mit fünf Richtern besetzt sind. Für bestimmte Streitigkeiten, insbesondere für Vertragsverletzungsverfahren, gibt es Plenarentscheidungen, bei denen jeder Mitgliedstaat durch einen Richter vertreten ist. Allerdings ist auch hier zwischen dem großen Plenum mit 15 Mitgliedern und dem kleinen Plenum mit elf Richtern zu unterscheiden; vgl. zum Ganzen Klinke, Gerichtshof, Rdn. 81 ff.
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Β. Urteile zum Sprachvergleich
Gegenbewegung feststellen. In den letzten Jahren sind nicht wenige Urteile ergangen, in denen der Gerichtshof alle elf Sprachfassungen zitiert und in Relation zueinander gesetzt hat. Im Folgenden sollen die Urteile mit umfassendem Sprachvergleich näher dargestellt werden, da der EuGH hier den Sprachvergleich meist exemplarisch durchführt.
b) Auslegung bei vier Amtssprachen Das erste Urteil, in dem sich der Gerichtshof selbst und nicht nur der Generalanwalt zum Sprachdivergenzproblem geäußert hat, beinhaltete zugleich einen vollständigen Vergleich zwischen den damals noch vier Sprachfassungen. 180 Bei der Anwendung einer Verordnung über die Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse kam es auf die Auslegung des mehrdeutigen deutschen Begriffs „stammend" an, der als Bezeichnung sowohl des „Ursprungs" als auch der „Herkunft" dienen konnte. Aus dem Vergleich der deutschen mit den drei übrigen Fassungen ergab sich, dass es um die ,»Herkunft" des Produkts ging, da sowohl die in einem Mitgliedstaat geernteten Erzeugnisse als auch die dort im freien Verkehr befindlichen Produkte von der Verordnung erfasst werden sollten. In zwei weiteren Urteilen aus dem Jahre 1966 181 und 1967 182 wurden ebenfalls alle vier Sprachfassungen der streitigen Vorschrift zitiert und einander gegenübergestellt. Des Weiteren setzte sich der Gerichtshof in der Rechtssache „Stauder" aus dem Jahre 1969 ersichtlich mit allen vier Sprachfassungen des streitigen Begriffs auseinander, auch wenn er sie nicht alle in der Originalfas183
sung zitierte.
c) Vorgehensweise bei sechs verbindlichen
Sprachfassungen
Erst 1977, also einige Jahre nach der ersten Erweiterungsrunde der Gemeinschaft, kam es wieder zu umfassenden Sprachvergleichen in der EuGHRechtsprechung. Ein sehr anschaulicher Sprachvergleich findet sich im Urteil „Liégeois". Darin zählte der Gerichtshof die Ausdrücke „freiwillige Versicherung oder freiwillige Weiterversicherung" i.S.d. Art. 9 Abs. 2 VO 1408/71 in allen sechs verbindlichen Sprachfassungen auf und wies nach, dass allen Sprachfassungen ein Element der Freiwilligkeit gemeinsam war. 184 Im Urteil 180
EuGH, Rs. 16/65, Schwarze, Slg. 1965, 1151, 1168. EuGH, Rs. 61/65, Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, 583, 605. 182 EuGH, Rs. 19/67, van der Vecht, Slg. 1967, 461, 473 i.V.m. 467. 183 Zur inhaltlichen Analyse des Urteils „Stauder" S. 3. Kap. C. II. 3. a). 184 EuGH, Rs. 93/76, Liégeois/ONPTS, Slg. 1977, 543, 549 (Rdn. 12 ff.); vgl. auch EuGH, Rs. 108/76, Klöckner/OFD München, Slg. 1977, 1047, 1055 (Rdn. 8). 181
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3. Kapitel: Auslegung mehrsprachigen Gemeinschaftsrechts
,3ouchereau" stellte sich die Frage, ob eine gerichtliche Empfehlung als Maßnahme i.S.d. Art. 3 RL 64/221 185 anzusehen war. Dabei kam es entscheidend auf das Verhältnis von Art. 2 der Richtlinie, der in der deutschen Fassung von „Vorschriften" sprach, zu den „Maßnahmen" nach Art. 3 der Richtlinie an. Ausgehend von der Aufzählung der streitigen Begriffe in allen sechs Amtssprachen wies der Gerichtshof nach, dass nur die englische und italienische Fassung in Art. 2 und 3 jeweils einen identischen Begriff verwendeten, während alle übrigen Sprachfassungen bewusst unterschiedliche Termini enthielten. 186 Angesichts dieser Diskrepanz griff er zur Entscheidung des Rechtsstreits auf systematische und teleologische Erwägungen zurück. 187 Auch in der Rechtssache „Koschniske" aus dem Jahre 1979 nahm der Gerichtshof einen eingehenden Vergleich aller Sprachfassungen vor. In dem zugrunde liegenden Verfahren war die Auslegung des niederländischen Texts einer Durchführungsverordnung zur VO 1408/71 streitig, der die Bewilligung von Familienbeihilfen nur für die „echtgenote", also die Ehefrau, nicht aber für den Ehemann vorsah. Ein Vergleich mit den fünf anderen sprachlichen Fassungen der Vorschrift durch den Gerichtshof ergab, dass diese sämtlich einen Begriff verwendeten, der sowohl männliche als auch weibliche Arbeitnehmer erfasste; daher legte der EuGH auch die niederländische Formulierung in diesem Sinne aus. 188 Im Jahre 1980 ergingen sogar drei Urteile, in denen sich der Gerichtshof jeweils mit allen verbindlichen Sprachfassungen der streitigen Vorschrift auseinander setzte. Im Urteil „Roudolff" zu Ausfuhrerstattungen auf dem Rindfleischsektor zitierte und verglich der EuGH den Wortlaut der streitigen Vorschrift in allen sechs Amtssprachen. 189 Um die Auslegung von Tarifstellen des Gemeinsamen Zolltarifs ging es in zwei weiteren Urteilen aus dem gleichen Jahr. In der Rechtssache „Mecke" stellte der EuGH ausführliche linguistische Überlegungen zu den Begriffen „Spinnfasern" und „Scherstaub" in allen sechs Amtssprachen an. 190 Ebenfalls alle sechs Amtssprachen zitierte der Gerichtshof in dem am gleichen Tag ergangenen Urteil, folci", obwohl er anschließend zu dem Ergebnis kam, dass für die Auslegung allein die englische und französi-
185 RL 64/221 v. 25.2.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. 1964 Nr. 56, S. 850. 186 EuGH, Rs. 30/77, Bouchereau, Slg. 1977, 1999, 2009 f. (Rdn. 9/10); zu diesem Urteil eingehend Barents, EC Tax Review 1997, S. 49 (52). 187 EuGH, Rs. 30/77, Bouchereau, Slg. 1979, 1999, 2010 (Rdn. 13 ff.). 188 EuGH, Rs. 9/79, Koschniske/Raad van Arbeid, Slg. 1979, 2717, 2724 (Rdn. 6 f.); dazu aufgrund einer sprachwissenschaftlichen Analyse der Vorschrift kritisch Braselmann, EuR 1992, S. 55 (61 ff.). 189 EuGH, Rs. 803/79, Roudolff, Slg. 1980, 2015, 2022 f. (Rdn. 7). 190 EuGH, Rs. 816/79, Mecke/HZA Bremen-Ost, Slg. 1980, 3029, 3038 f. (Rdn. 8 ff.); zu diesem Urteil aus linguistischer Sicht kritisch Braselmann, EuR 1992, S. 55 (67 ff.).
Β. Urteile zum Sprachvergleich
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sehe Fassung als Originaltexte des zugrunde liegenden völkerrechtlichen Abkommens maßgeblich waren. 191
d) Sprachvergleich
nach dem Beitritt Griechenlands
Nach dem Beitritt Griechenlands war das Gemeinschaftsrecht in sieben Amtssprachen verbindlich. Das Hinzukommen der griechischen Sprache warf erhebliche Probleme auf, nicht nur wegen der besonderen Schriftart, sondern auch weil es sich beim Griechischen um eine „kleinere" Sprache handelt, deren Beherrschung wenig verbreitet ist. Auch nach dem Beitritt Griechenlands gibt es aber einige Urteile, die alle Sprachfassungen unter Einschluss der griechi109
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