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German Pages 322 Year 1996
BERND MARTENCZUK
Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats
Schriften zum Völkerrecht
Band 125
Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats Die Überprüfung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen durch den Internationalen Gerichtshof
Von
Bernd Martenczuk
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Martenczuk, Bemd:
Rechtsbindung und Rechtskontrolle des Weltsicherheitsrats: die Überprüfung nichtrnilitärischer Zwangsmassnahmen durch den Internationalen Gerichtshof I von Bernd Martenczuk. Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 125) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08821-2 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-08821-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Meinen Eltern und
Burfak
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde die Arbeit leicht überarbeitet und aktualisiert; Literatur und neuere Entwicklungen sind bis Ende März 1996 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Michael Bothe ftlr die stets verständnisvolle und ermutigende Betreuung der Arbeit. Dank schulde ich auch Herrn Prof. Dr. Manfred Zuleeg ftlr die schnelle und wohlwollende Erstellung des Zweitgutachtens sowie Herrn Dr. Stefan Kadelbach rur die kritische Durchsicht des Manuskripts und manch anregende Diskussion. Bedanken möchte ich mich weiter bei der Studienstiftung des deutschen Volkes und dem McCloy Academic Scholarship Program ftlr materielle und immaterielle Unterstützung während meines Aufenthalts an der John F. Kennedy School of Government, Harvard University. Dank gebührt auch Ms. Adeen J. Postar, Georgetown University, die mir im Rahmen der Aktualisierung der Arbeit großzügigerweise die Benutzung der Georgetown University Law Library gestattete. Die Veröffentlichung der Arbeit wurde durch einen Druckkostenzuschuß des Auswärtigen Amts unterstützt.
Darmstadt, im Mai 1996
Bernd Martenczuk
Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Der Sicherheitsrat in der neuen Weltordnung ...................................................... H. Sicherheitsrat und IGH ........................................................................................ I. Der Fall Lockerbie .................................. ......................... ................................ 2. Der Fall Bosnien-Herzegowina........................................................................ III. Fragestellung und Gang der Untersuchung.......................................................... I. Teil
Systematik, Quellen und Methoden
19 19 21 21 24 26
30
1. Abschnitt: Handlungsformen und Befugnisse des Sicherheitsrats...................
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I. Das Eingriffsmonopol des Sicherheitsrats ......................................... ... ............ ... 11. Beschluß, Ermächtigung, Empfehlung..... .... ............... ......................................... I. Der Begriff des Beschlusses.. ......... .......................................... ........................ 2. Verpflichtung und Ermächtigung ................................................................ ,.... 3. Rechtfertigende Wirkung von Empfehlungen? ................................................ III. Die Befugnisse des Sicherheitsrats ...................................................................... 1. Allgemeine Entscheidungsbefugnisse aus Art. 24 I Ch VN? ............................ 2. Die besonderen Befugnisse des Sicherheitsrats ........... .................................... a) Befugnisse außerhalb des Kapitels VII........................................................ b) Die Befugnisse nach Kapitel VII der Charta ............................................ ... aa) Vorläufige Maßnahmen nach Art. 40 ChVN ......................................... bb) Atypische Handlungsformen................................................................. (I) Die Einleitung militärischer Maßnahmen ........................................ (2) Zwangsmaßnahmen mit humanitärer Zielsetzung............................ (3) Die Beendigung militärischer Zwangsmaßnahmen.......................... (4) Der Strukturwandel des bewaffueten internationalen Konflikts......
30 31 32
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Inhaltsverzeichnis
2. Abschnitt: Quellen und Methoden......................................................................
51
I. Die Auslegung der Charta..... .... .............. .... ................. ................ ........................ I. Die Bedeutung der travaux preparatoires......................................................... 2. Die Praxis des Sicherheitsrats und die Auslegung der Charta........ ......... ......... 11. AIIgemeine Grundsätze des Rechts der internationalen Organisationen? ............ 1. Rechtsschutz gegen die Beschlüsse internationaler Organisationen: eine Bestandsaufnahme............................................................................................... 2. Das Fehlen aIlgemeiner Standards gerichtlicher KontroIle .............................. III. AIIgemeine Grundsätze des Landesrechts? .......................................................... 1. Nationales öffentliches Recht und die Charta der Vereinten Nationen ............ 2. Nationales öffentliches Recht und die RechtskontroIle des Sicherheitsrats .....
51 52 55 57 58 62 63 63 64
2. Teil
Prozessuale Fragen einer Rechtskontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
67
1. Abschnitt: Der IGH im System der Vereinten Nationen...................................
67
I. Der IGH und die Auslegung der Charta. ................. .............. ...... .............. ........... 11. Der IGH und die KontroIle der politischen Organe ........ ...... .................. .............
67 70
2. Abschnitt: Ansätze für eine Rechtskontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen ............. ........ .... ........... .... ...... .......... ................. ........ .......... .... .... ...........
73
I. Die inzidente KontroIle im streitigen Verfahren ....... ............ ...................... ...... ... 11. Das gutachtliche Verfahren.................................................................................. III. Exkurs: Das Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat als Gegenstand gerichtlicher KontroIle? ..... ........ ..... .... .................. ...... ....... .............. ........................ .......
73 74 77
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle ....... ................... ............ ............. ....
81
I. Reichweite der InzidentkontroIle ......................................................................... 1. Grundlagen der Zuständigkeit.......................................................................... 2. Das berechtigte Interesse des Klägers ......................................... ..................... 11. Zulässigkeit der Inzidentkontrolle.......... ......................... ................................ ..... 1. InzidentkontroIle und lustiziabilität...... ................. ........ ......... .............. ........... a) lustiziabilität: Geschichte und Hintergrund................................................. b) Die Rechtsprechung des IGH ......................................................................
82 82 85 87 87 88 90
Inhaltsverzeichnis c) Justiziabilität und quasi-obligatorische Gerichtsbarkeit .............................. d) Jurisdiktion: Pflicht oder Option? ............. ...... ...... ...... .............. ... ............... 2. Der IGH und die Kompetenzen des Sicherheitsrats ................ .......... ......... ...... a) Die Rolle des IGH in friedensbedrohenden Streitigkeiten........................... b) Die gleichzeitige Befassung von Sicherheitsrat und IGH............................ aal Der Einwand der Litispendenz .............................................................. bb) Das Problem im Lichte der Charta........................................................ c) Die Bindungswirkung der Beschlüsse des Sicherheitsrats........................... aal Der Einwand der res iudicata.. ........ .......... ........ .... .... ....... ........ ..... ......... bb) Materiellrechtliche Einwände gegen die Zulässigkeit........................... III. Verfahrensrechtliche Fragen ................................................................................ 1. Die Beteiligungsmöglichkeiten des Sicherheitsrats....... ........ ............... ..... ....... 2. Die Rechtswirkungen der Entscheidung des IGH ... ........ ......... .............. .......... 3. Vorläufiger Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen? ....................................
11 92 95 97 98 100 101 103 106 107 108 111 111 113 115
3. Teil
Die Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
119
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta............................... 120 I. Form und Wirkung der Ungültigkeit................................... ..... ............................ 1. Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit? ..... ..... .... ........ ......... ............... .... ..... ... ........... 2. Schutz des guten Glaubens bei Ausführung verbindlicher Beschlüsse des Sicherheitsrats? ............. ............ .... ..... .... .......... ...... ............ ......... ..... ....... ......... 11. Voraussetzungen der Gültigkeit........................................................................... 1. Die Regelung des Art. 25 ChVN...................................................................... a) Wortlaut und Systematik ................... ...... ........ ............................................ b) Entstehungsgeschichte..... ........... ... ........ .... ... .................... ..... ..... ............ ..... 2. Kollektive Sicherheit, Rechtssicherheit, Legalität ........ .................. ...... ........ .... a) Das Konzept der kollektiven Sicherheit. .............................. ....................... b) Die Erfahrung des Völkerbundes ................................................................ c) Art. 25 ChVN und die Vertragstreue der Mitgliedstaaten ........................... 3. Ansätze einer Lockerung der Bindung an die Charta....................................... a) Der SR als autoritativer Interpret der Charta? ............................................. aal Zur Kompetenz-Kompetenz politischer Organe ............. .... ....... ... ......... bb) Inzidente und autoritative Interpretation............................................... cc) Macht, Recht und kollektive Sicherheit................................................. b) Unbeachtlichkeit von Normen? ...................................................................
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Inhaltsverzeichnis aa) Unbeachtlichkeit des materiellen Rechts? ............................................. bb) Unbeachtlichkeit des formellen Rechts? ............................................... c) Die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen als Maßstab der Gültigkeit? ............................................................................................................. aal Die Bedeutung der Ziele und Grundsätze nach der Rechtsprechung des IGH ................................................................................................. bb) Ein Umkehrschluß zu Art. 24 11 I Ch VN? ............... ......... ............... .... d) Ungültigkeit nur bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit? ............................. e) Die Vermutung der Gültigkeit .....................................................................
151 152 154 155 157 158 160
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnis zur Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen........................................................................... 164 I. Die Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN .................................................... 1. Art. 39 ChVN in Praxis, Rechtsprechung und Literatur .................................. a) Die Praxis des SR .................. ...... ................................................................ aal Feststellungen nach Art. 39 ChVN ........................................................ (1) Palästina........................................................................................... (2) Korea ...................... ......... .............................. ......... ............ ............. (3) Südrhodesien ................................................................................... (4) Südafrika.......................................................................................... (5) Der Krieg zwischen Irak und Iran.................................................... (6) Die irakische Invasion Kuwaits ............ .............................. ............. (7) Das ehemalige Jugoslawien ............................................................. (8) Somalia............................................................................................ (9) Libyen.............................................................................................. (l0) Liberia ....... ................. ................... ....... ......... ................. ............... (11) Haiti............................................................................................... (12) Angola ........................................................................................... (13) Ruanda.................................................................................... ....... bb) Unterbliebene Feststellungen: einige Beispiele .................................... (1) Die spanische Frage......................................................................... (2) Der Fall der US-Geiseln in Teheran ............ .................................... cc) Wertung................................................................................................. b) Stellungnahmen internationaler Gerichte.. ...................... ............................ aal Die Anordnungen des IGH im Fall Lockerbie....................................... bb) Die Bosnien-Entscheidungen des IGH.................................................. cc) Die Kompetenzentscheidung des Jugoslawien-Tribunals...................... c) Der Streitstand in der Literatur ........................ .................. .................. ........ 2. Ermessensprobleme im Völkerrecht: systematische Klärungen ............... ........
164 165 165 165 166 167 167 169 170 170 171 173 174 175 176 178 178 179 180 181 181 182 182 184 185 186 189
Inhaltsverzeichnis a) Ermessen, Beurteilungsspielraum, unbestimmter Rechtsbegriff.... ..... ......... b) Ermessensmißbrauch oder Ermessensüberschreitung? ... ........................ ..... c) Das Problem der Kontrolldichte ..... ....... .... ...... ........... .... ............................. 3. Art. 39 ChVN als Ermessenstatbestand?......................................................... a) Das Definitionsproblem in Art. 39 ChVN ................................................... aa) Die Diskussion auf der Konferenz von San Francisco .. .............. .......... bb) Die Resolution zur Definition der Aggression...................................... cc) Unmöglichkeit der Definition? .............................................................. b) Grenzenlosigkeit der Feststellungsbefugnis?.............................................. aa) Die These vom "procedural approach" .................................................. bb) Unvertretbarkeit der Entscheidung?..................................................... cc) Primat der Politik?................................................................................ c) Die Ziele und Grundsätze als Grenze der Feststellungsbefugnis? ............... aa) Die Ziele der Vereinten Nationen.......................................................... bb) Die Grundsätze der Vereinten Nationen ............................................... 4. Rechtsbegriffe und Beurteilungsspielräume in Art. 39 Ch VN ...... ......... ..... ..... a) Die Frage des Sanktionscharakters ............. ...... ........... .... ..... .... ... ...... .......... aa) Art. 39 ChVN und das Gewaltverbot .................................................... bb) Art. 39 ChVN und die "internationalen Verbrechen" ........................... cc) Art. 39 ChVN und das allgemeine Völkerrecht ..................................... b) Die Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN.............................................. aa) Der Begriff des Friedens... ........ ...... ............ ......... ............... ......... .......... bb) Der internationale Frieden.................................................................... cc) Repression und Prävention.................................................................... (I) Das Verhältnis der Kapitel VI und VII............................................ (2) Der Begriff der Friedensbedrohung................................................. c) Beurteilungsspielräume des Sicherheitsrats? ............................................... aa) Sachverhaltsermittlung .................................... ...................... ......... ....... bb) Prognose............................................................................................... (I) Beurteilungsspielraum oder unbestimmter Rechtsbegrift'? .............. (2) Die Dynamik des Begriffs der Friedensbedrohung.......................... (3) Einige Beispiele............................................................................... H. Probleme des Rechtsfolgenermessens................................................. ................. I. Die Regelungsbefugnis des Sicherheitsrats...................................................... a) Die Diskussion auf der Konferenz von San Francisco................. ..... ....... .... b) Zwangsgewalt und Regelungsbefugnis ....................................................... c) Art. 39 ChVN als Grund und Grenze der Regelungsbefugnis ..................... aa) Das Auslieferungsverlangen im Fall Lockerbie..................................... bb) Weitere Beispiele.................................................................................. 2. Das Problem der Adressatenauswahl ...... ............ .......................... ......... ..........
13 190 192 194 196 197 197 199 200 203 203 204 206 207 208 209 213 214 215 217 219 223 224 228 232 233 235 240 240 244 244 246 248 254 254 256 257 260 260 263 266
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Inhaltsverzeichnis
a) Sinn und Problematik des Auswahlermessens............................................. b) Eine Opfergrenze aus der Charta? .......... .................. ................................... c) Zwingendes Völkerrecht als Grenze des Auswahlermessens? ..................... d) Selbstbindung des Sicherheitsrats?.............................................................. 3. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit........................................................... a) Erforderlichkeit......... ......... ......... ........ ..... ................ ....... .................... ......... b) Angemessenheit.................................................................................. ......... 4. Menschenrechte und humanitäre Erwägungen................................................. III. Der Wegfall der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN............................ .............. 1. Die Beendigung der Zwangsmaßnahmen gegen Südrhodesien........................ 2. Ein Rechtswidrigwerden der Beschlüsse des Sicherheitsrats? .........................
267 269 272 274 275 277 279 281 283 284 285
Schluß betrachtung
288
Abgekürzt zitierte Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs
291
Literaturverzeichnis
293
Sachregister
316
Abkürzungsverzeichnis a.A.
a.a.O. Abs. AdG a.E. AFDI AIDI AJICL AJIL Alt. Annuario APuZ Art. Aufl. AuJPIL AVR Bd. BDGV BGBI. BVerfGE BYIL bzw. ChVN CLR CPJI ser. A CPJI sero NB
cpn sero B CR CYIL decl.
andere Ansicht am angegebenen Ort Absatz Archiv der Gegenwart am Ende Annuaire fran~ais de droit international Annuaire de l'lnstitut de droit international African Journal of International and Comparative Law American Journal ofInternational Law Alternative Annuario di diritto comparato e di studi legislativi Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitschrift "Das Parlament") Artikel Auflage Austrian Journal ofPublic International Law Archiv des Völkerrechts Band Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts British Yearbook of International Law beziehungsweise Charta der Vereinten Nationen (UNCIO XV, 335; BGBI. 1973 11, 431) Columbia Law Review Publications de la Cour permanente de justice internationale, Recueil des arrets Publications de la Cour permanente de justice internationale, Arrets, ordonnances et avis consultatifs Publications de la Cour permanente de justice internationale, Recueil des avis consultatifs International Court of Justice, Compte rendu Canadian Yearbook oflnternational Law declaration
16 diss.op. DÖV DuR EA EAGV ebd. EGKSV EJIL EPIL EuGH EuGRZ EuR EWGV f. ff. Fn. FS gern. GJICL GS GV GV-Res. GYIL HILJ Hrsg. Hs. ICAO ICJ P1eadings
ICJ Rep. ICLQ IGH IGH-Statut ILC ILM ILO
Abkürzungsverzeichnis dissenting opinion Die öffentliche Verwaltung Demokratie und Recht Europa-Archiv Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (BGB\. 195711, 1014) ebenda Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft rur Kohle und Stahl (BGB\. 195211,447) European Journal ofInternational Law 12 Bde, Encyclopaedia of Public International Law, AmsterdamlNew York/Oxford 1981 ff. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (BGB\. 1957 11, 766) folgende Seite folgende Seiten Fußnote Festschrift gemäß Georgia Journal ofInternational and Comparative Law Generalsekretär; Gedächtnisschrift Generalversammlung Resolution der Generalversammlung German Yearbook ofInternational Law (vor 1976: JIR) Harvard International Law Journal Herausgeber Halbsatz International Civil Aviation Organization International Court of Justice, Pleadings, Oral Arguments, Documents International Court of Justice, Reports of Judgrnents, Advisory Opinions and Orders International Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof Statut des Internationalen Gerichtshofs (UNCIO XV, 335; BGB\. 1973 11, 505) International Law Commission International Legal Materials International Labour Organisation
Abkürzungsverzeichnis IMCO InLJ insb. Int'l Lawyer 10 iSd i.V.m. IWF
JDI JIR
10
KJ LNTS MichJIL MJLT MontrealKonvention NJW Nr. NRG NYIL NYUJILP NZWehrr OAS PASIL PYIL RBDI RdC
RDI
REDI RGB\. RGDIP RHDI RlAA Rio-Vertrag Rn. RoP S. SCOR sep.op. s.o. sog. 2 Martenczuk
17
International Maritime Consultative Organization Indiana Law Journal insbesondere The International Lawyer International Organization im Sinne des in Verbindung mit Internationaler Währungsfonds Journal de droit international Jahrbuch rur internationales Recht (ab 1976: GYIL) Societe des Nations, Journal Officiel Kritische Justiz League ofNations Treaty Series Michigan Journal of International Law Maryland Journal ofLaw and Trade Convention rur the Suppression ofUnlawful Acts Against the Safety ofCivil Aviation (UNTS 974, 177; BGB\. 1977 11, 1230) Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nouveau Recueil General de Traites Netherlands Yearbook oflnternational Law New York University Journal of International Law and Politics Neue Zeitschrift rur Wehrrecht Organisation Amerikanischer Staaten Proceedings ofthe American Society oflnternational Law Polish Yearbook oflnternational Law Revue beige de droit international Recueil des Cours de I'Academie de droit international de la Haye Rivista di diritto internazionale Revista espaftola de derecho internacional Reichsgesetzblatt Revue generale de droit international public Revue hellenique de droit international Reports of International Arbitral A wards Inter-American Treaty ofReciprocal Assistance (UNTS 21, 93) Randnummer Repertory ofPractice ofUnited Nations Organs Seite, Satz, siehe Security Council Official Records separate opinion siehe oben sogenannt
18 SIPV. SR SR-Res. StIGH StuR s.u. Suppl. SZIER Teilb. u.a. UNAT UNCIO UNITAR UNTS US USDSB UTFLR VaJIL VandJTL VBS Verf. Verfahrensordnung vgl.
VN
VRÜ WÜV YICJ YILC
YU
YUN ZaöRV z.B. ZRP ZVglRW
Abkürzungsverzeichnis Security Council, Proces verbaux Sicherheitsrat Resolution des Sicherheitsrats Ständiger Internationaler Gerichtshof Staat und Recht siehe unten Supplement Schweizerische Zeitschrift ftlr internationales und europäisches Recht Teilband und andere, unter anderem United Nations Administrative Tribunal United Nations Conference on International Organization United Nations Institute for Training and Research United Nations Treaty Series United States Supreme Court, Reports of Cases United States Department of State Bulletin University ofToronto Faculty ofLaw Review Virginia Journal ofInternational Law Vanderbilt Journal ofTransnational Law Satzung des Völkerbunds (Martens, NRG sero 3, XI, 331; RGBl. 1919,717) Verfasser Rules ofCourt ofthe International Court of Justice (lCJ Acts and Documents, no. 5, S. 93 [1989]) vergleiche Vereinte Nationen Verfassung und Recht in Übersee Wiener Übereinkommen über das Rechte der Verträge (UNTS 1155, 331; BGBl. 1985 11, 926) Yearbook ofthe International Court of Justice Yearbook ofthe International Law Commission Yale Law Journal Yearbook ofthe United Nations Zeitschrift ftlr ausländisches internationales Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift ftlr Rechtspolitik Zeitschrift rur vergleichende Rechtswissenschaft
Einleitung I. Der Sicherheitsrat in der neuen Weltordnung Das Ende des kalten Krieges und die damit verbundene Überwindung der Spaltung der internationalen Gemeinschaft in zwei feindliche, jeder Zusammenarbeit abgeneigte Lager war die größte Umwälzung in den internationalen Beziehungen seit Ende des zweiten Weltkrieges. Nirgends sind diese Veränderungen deutlicher geworden als in der neuen Rolle der VN und hier insbesondere des SR. Zu Zeiten des kalten Krieges hatte das Erfordernis der Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder des SR - und damit der ftlhrenden Mächte der verfeindeten Blöcke - zu einer fast völligen Lähmung dieses Organs geftlhrt, dem doch nach Art. 24 I ChVN die "Hauptverantwortung fUr die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" übertragen ist; dies wurde noch durch die Tendenz verstärkt, ideologische Gegensätze auf nahezu jeden internationalen Konflikt zu übertragen, gleichgültig wie gering seine tatsächliche Bedeutung fUr die Interessen der beteiligten Blöcke auch sein mochte.! In den 45 Jahren von 1945 bis 1990 machte der SR lediglich zweimal - gegen Südrhodesien und gegen die Republik Südafrika - von seiner Befugnis Gebrauch, verbindliche Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der Charta über "Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen" anzuordnen. Es verwundert somit nicht, daß der Eindruck entstand, bei Kapitel VII der Charta handele es sich um "une piece du musee des institutions internationales"2; und dementsprechend standen auch die weitreichenden Kompetenzen des SR nach diesen Bestimmungen nicht in dem Maße im Blickpunkt des juristischen Interesses, wie es angesichts ihres Potentials eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Die Wiederauferstehung des SR vollzog sich gleichsam mit SR-Res. 660 vom 2. August 1990, die noch am Tage der irakischen Invasion in Kuwait das Vorliegen eines Friedensbruchs feststellte und unmißverständlich den Rückzug der irakischen Truppen verlangte. 3 Nur wenige Jahre sind seitdem vergangen, und doch hat der SR schon in einer ganzen Reihe von Fällen von seiner Befug! Vgl. Bothe, DuR 1991,3.
2 Colliard, S. 412.
3 Reisman, AJIL 1993,85; Bothe, DuR 1991,4.
2'
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Einleitung
nis zur Verhängung von Zwangsmaßnahmen Gebrauch gemacht: gegen den Irak mit anschließender militärischer Befreiung Kuwaits; im ehemaligen Jugoslawien; im Zusammenhang mit den Bürgerkriegen in Somalia, Liberia, Angola und Ruanda; gegen Libyen wegen dessen Verweigerung der Auslieferung zweier mutmaßlicher Terroristen; sowie gegen Haiti im Konflikt um die Wiedereinsetzung des gestürzten Präsidenten Aristide. Daß all dies kein Zufall, sondern durchaus Ausdruck eines gewandelten Selbstverständnisses ist, belegt auch die Erklärung der Staats- und Regierungschefs der im SR vertretenen Staaten vom 31. Januar 1992, in der in einer sehr weitgehenden Formulierung die "nichtmilitärischen Ursachen von Instabilität im wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und ökologischen Bereich" als Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit bezeichnet werden. 4 Zeitweilig war das Ausmaß der Aktivität des SR so überwältigend, daß man schon eine "surchauffe du systeme de la securite collective"S konstatierte; gar vor einer Verfassungskrise der Vereinten Nationen wurde gewamt. 6 Mittlerweile ist es um den SR wieder etwas ruhiger geworden. Mißerfolge und Probleme in Somalia und dem früheren Jugoslawien haben die faktischen Grenzen rur ein Eingreifen des SR deutlich werden lassen; und auch die Übereinstimmung unter den ständigen Mitgliedern des SR ist nicht mehr so einfach herzustellen wie in der Phase unmittelbar nach 1990. 7 Von einer Rückkehr zur Lage vor 1990 kann gleichwohl keine Rede sein. Ein Eingreifen des SR bleibt in jedem internationalen Konflikt eine reale Möglichkeit. In Anbetracht dessen kann es nicht ausbleiben, daß auch die Grenzen der Befugnisse des SR wieder stärker in den Blick geraten.8 Durch die lange Lähmung des SR entstand der Völkerrechtswissenschaft ein erheblicher Aufholbedarf; die Frage der Grenzen der Befugnisse des SR und ihrer etwaigen gerichtlichen Kontrolle sind so zu dem zentralen Problem der VN und damit der internationalen Gemeinschaft im Ganzen geworden. Der SR muß heute seines Amtes walten in einer Welt, in der seine Autorität weit weniger als selbstverständlich hingenommen wird als dies vielleicht noch 1945 der Fall war. Bedingt durch die
4 SIPV. 3046, SCOR, 3046th meeting, 141ff. (1992); auch abgedruckt in VN 1992, 67f. S P.-M Dupuy, RGDIP 1993,617. 6 So aber Reisman, AJIL 1993,83. 7 Am 2. Dezember 1994 machte Rußland zum ersten Mal seit mehreren Jahren wieder von seinem Vetorecht Gebrauch; vgl. VN 1995, 35f. 8 Bothe in R.-J. Dupuy, S. 67; Bedjaoui, S. 12 und FS Rigaux, S. 70.
Einleitung
21
Umwälzungen der letzten Jahre stellt sich daher nun auch praktisch das Problem, das von Oliver J. Lissitzyn schon im Jahr 1951 formuliert wurde: 9 "[ ... ] serious attention should, therefore, be given to the problem ofjudicial review of the actions ofthe Security Council when the latter attains greater strength."
11. Sicherheitsrat und IGH 1. Der Fall Lockerbie
Die Aktualität des Problems der Rechtsbindung und Rechtskontrolle des SR wird belegt durch zwei gleichlautende Anordnungen des IGH vom 14. April 1992 10 im Rechtsstreit zwischen Libyen und Groß-Britannien bzw. den Vereinigten Staaten um die Auslieferung zweier libyscher Staatsangehöriger, die des Bombenattentats auf die am 21. Dezember 1988 über dem schottischen Lockerbie abgestürzte Boeing 747 der amerikanischen Fluggesellschaft PanAm 11 verdächtigt wurden. 12 Libyen hatte die Auslieferung der Verdächtigen, bei denen es sich um Bedienstete des libyschen Geheimdienstes handelte, unter Verweis auf sein Recht gern. Art. 7 der Montreal-Konvention verweigert, die Verdächtigen seiner eigenen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Hieraus erwuchsen beträchtliche Spannungen zwischen Libyen einerseits, GroßBritannien und den Vereinigten Staaten andererseits, die schließlich zur Befassung des SR mit der Angelegenheit filhrte. Dieser beschloß am 21. Januar 1992 SR-Res. 731 (1992), in der er Libyen unter Bezugnahme auf die Forderungen Groß-Britanniens und der Vereinigten Staaten 13 zur Auslieferung der mutmaß9 Lissitzyn, S. 104.
10lCJ Rep. 1992, 3ff.; 114ff.; zitiert wird in der Folge allerdings nur aus der Anordnung im Fall Libyen gegen Groß-Britannien. Dieser Fall hat im übrigen auch ein lebhaftes Echo in der Literatur hervorgerufen; vgl. Andres Saenz, REDI 1992, 327; Arcari, RDI 1992,932; Beveridge, ICLQ 1992,907; Franck, AJIL 1992, 519; Gaja, RDI 1992,374; Ipsen, VN 1992,41; McGin/ey, GnCL 1992,597; McWhinney, CYIL 1992, 261; Mohr, DuR 1992, 305; Sciso, RDI 1992, 369; Weller, AJICL 1992, 302; Czap/inski, PYIL 1993,37; Graefrath, EJIL 1993, 184; Gunn, UTFLR 1993,206; Kennedy, VaJIL 1993, 899; Marschang, KJ 1993, 62; Reisman, AJIL 1993, 83; Sore/, RGDIP 193,689; Stein, AVR 1993,206; G. Watson, HILJ 1993, 1; Evans, MJLT 1994, 21.
11 Vgl. AdG 1988, 32874. 12 Eine ausfiIhrliehe Dokumentation der Hintergründe der Streitigkeit findet sich in ILM 31 (1992), 717ff.; AdG 1992, 36402f.; 36675ff. Vgl. zudem auch UN Chronicle 1992/6, 19; Beveridge, ICLQ 1992, 907ff.; Marschang, KJ 1993, 62-64. 13 Vgl. S/23307, SCOR, 47th year, 8; S/23308, SCOR, 47th year, 2. Zum Wortlaut der Erklärungen s.u. 3. Teil, Fn. 289.
Einleitung
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lichen Attentäter aufforderte, ohne allerdings schon nach Kapitel VII der Charta tätig zu werden. Am 3. März erhob Libyen, gestützt auf Art. 14 I der Montreal-Konvention, Klage gegen Groß-Britannien und die Vereinigten Staaten vor dem IGH, in der es die Feststellung verlangte, daß Libyen im Einklang mit der MontrealKonvention handele, die Beklagten diese hingegen verletzten und daher verpflichtet seien, "immediatly to cease and desist from such breaches and from the use ofany and all force or threats against Libya";14 am gleichen Tag beantragte Libyen auch pen Erlaß vorsorglicher Maßnahmen nach Art. 41 I IGH-Statut, nach denen den Beklagten aufgegeben werden sollte, jegliche Ausübung von Druck auf Libyen zum Zweck der Auslieferung der Verdächtigen zu unterlassen.I 5 Nach Schluß der mündlichen Verhandlung, aber noch vor Verkündung der Entscheidung beschloß der SR jedoch am 31. März 1992, gestützt auf Kapitel VII der Charta, SR-Res. 748 (1992), in der festgestellt wurde, die Weigerung Libyens, seinen Verzicht auf den Terrorismus durch konkrete Handlungen unter Beweis zu stellen und insbesondere seine Weigerung, dem Ersuchen in SR-Res. 731 (1992) nachzukommen, stelle eine Bedrohung des Friedens dar.I 6 Libyen wurde dementsprechend verbindlich aufgefordert, dem Auslieferungsbegehren nunmehr Folge zu leisten; fllr den Fall der Nichtbefolgung wurden eine Reihe von Maßnahmen, insbesondere ein Luftverkehrsembargo, ein Embargo auf Waffenlieferungen sowie Einschränkungen der diplomatischen Vertretungen Libyens angeordnet. 17
Der Gerichtshof entschloß sich, diese Resolution gern. Art. 62 seiner Verfahrensordnung noch zu berücksichtigen. 18 Damit stellte sich ihm nunmehr das Problem, daß die von Libyen beantragten vorsorglichen Maßnahmen SR-Res. 748 (1992) zuwidergelaufen wären; zum ersten Mal in der Geschichte der VN kam es somit vor dem IGH auf die Gültigkeit einer Resolution des SR nach Kapitel VII der Charta an. Der IGH löste die Frage mit wenigen Sätzen: gern. Art. 25 ChVN seien Beschlüsse des SR verbindlich und hätten gern. Art. 103 14 IC] Rep. 1992,3, 6f. 15 IC] Rep. 1992, 3, 8. 16 Vgl. Abs. 7 der Präambel der Resolution: "Determining, in this context, that the failure by the Libyan Government to demonstrate by concrete actions its renunciation of terrorism and in particular its continued failure to respond fully and effectively to the requests in resolution 731 (1992) constitute a threat to international peace and security". Dieses Vorgehen trotz gleichzeitiger Anhängigkeit des Falles vor dem IGH wurde auch im SR kontrovers diskutiert; vgl. S/PV. 3063, SCOR, 3063rd meeting, 46 (Kap Verde), 52f. (Zimbabwe), 58 (Indien) (1992). Die Kritik beschränkte sich jedoch durchgehend auf Fragen der Zweckmäßigkeit und konnte sich im Ergebnis nicht durchsetzen. 17 Vgl. Absätze 4, 5 und 6 der Resolution. 18 IC] Rep. 1992,3, 14; kritisch dazu diss. op. Bedjaoui, ebd., 33, 41.
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ChVN Vorrang vor vertraglichen Rechten; dies gelte prima facie auch filr SRRes. 748 (1992). Unter einem ausdrücklichen Vorbehalt der Entscheidung in der Hauptsache wurde daher der Erlaß vorsorglicher Maßnahmen abgelehnt. 19 Diese Vermutung der Gültigkeit der Resolution 748 (1992) wurde jedenfalls filr das Verfahren nach Art. 41 I IGH-Statut von der ganz überwiegenden Mehrzahl der Richter geteilt; Differenzen ergaben sich nur im Hinblick auf die Frage, ob der IGH nach eigenem Ermessen andere als die beantragten, zu SR-Res. 748 (1992) nicht im Widerspruch stehende Maßnahmen hätte anordnen sollen. 20 Insoweit in den Sondervoten gleichwohl zur Frage der Möglichkeit einer Überprüfung von SR-Res. 748 Stellung genommen wurde, blieben die Ausfilhrungen sehr tastend. Richter Lachs vertrat, der IGH müsse die bindenden Beschlüsse des SR als Teil des Systems der VN respektieren, ließ aber nicht erkennen, ob dies auch in der Hauptsache zu gelten hätte. 21 Richter Bedjaoui bezeichnet das Problem als "delikat"22 und läßt erkennen, daß er die Berufung des SR auf Art. 39 ChVN filr nicht angreifbar hält,23 um dann aber den Vorbehalt zu machen, die Funktionsfllhigkeit des IGH dürfe nicht beeinträchtigt werden. 24 Richter Weeramantry betont zwar einerseits die Grenzen der Kompetenzen des SR,2S stellt dann aber fest, die Feststellung einer Friedensbedrohung nach Art. 39 ChVN liege im ausschließlichen Ermessen des SR.26 Richter Shahabuddeen schließlich beschreibt die Probleme wie folgt:27 "Tbe question now raised [ ... ) is whether adecision of the Security Council may override the legal rights of States, and, if so, whether there are any limitations on the power of the Council to characterize a situation as one justifying the making of a decision entailing such consequences. Are there any limits to the Council's powers of appreciation? In the equilibrium of forces underpinning the United Nations within the evolving international order, is there any conceivable point beyond which a legal issue may properly arise as to the competence of the Security Council to produce such overriding results? Ifthere are any limits, what are those limits, and what body, if other than the Security Council, is competent to say what those limits are? If the answers to these delicate and complex questions are a11 in the negative, the position
19 IC] Rep. 1992,3, 15. 20 Vgl. diss. op. Bedjaoui, IC] Rep. 1992,33,48; diss. op. Weeramantry, ebd., 50, 70; diss. op. Ranjeva, ebd., 72, 74ff.; diss. op. Ajibola, 78, 88; eine Ausnahme gilt nur rur den Richter ad hoc EI-Kosheri, ebd., 94, 104, der die Resolution 748 wegen eines Verstosses gegen Art. 92 Ch VN rur nichtig hielt. 21 V gl. sep. op. Lachs, IC] Rep. 1992, 26f. 22 Vgl. diss. op. Bedjaoui, IC] Rep. 1992,33,41. 23 Aa.O., 42f. 24 Aa.O., 44f. 2S Diss. op. Weeramantry, IC] Rep. 1992,50,61-65. 26 Aa.O., 66. 27 Sep. op. Shahabuddeen, IC] Rep. 1992,28,32.
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Einleitung is potentially curious. It would not, on that account, be necessarily unsustainable in law; and how far the Court can enter the field is another matter."
Diese ungewöhnlich zweifelnden Fragen umreißen bereits den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung; sie illustrieren zugleich auch das Maß an Unsicherheit, das im IGH bezüglich der Frage der Überprüfbarkeit von SR-Res. 748 (1992) herrschte. 28 Die Anordnungen des IGH vom 14. April 1992 konnten dementsprechend nur wenig Licht in das Dunkel bringen. 29 Wohl hat der IGH die Tür zu einer Überprüfung in der Hauptsache grundsätzlich offengelassen;30 aber ob und wie der IGH eine solche Überprüfung dann letztlich durchfllhren würde, ist angesichts der Komplexität der damit verbundenen Rechtsfragen kaum vorherzusagen. 31 Durch SR-Res. 883 vom 11. November 1993 hat der SR die Feststellung einer Friedensbedrohung noch einmal wiederholt32 und die Sanktionen gegen Libyen ausgeweitet; insbesondere verhängte er die Einfrierung der libyschen Auslandsguthaben, allerdings mit der wichtigen Ausnahme aller Erträge aus Erdölexporten. 33
2. Der Fall Bosnien-Herzegowina
Bemerkenswert ist auch der Rechtsstreit zwischen Bosnien-Herzegowina und Restjugoslawien, in dem die bosnische Regierung gestützt auf Art. IX der Völkermordkonvention34 beantragt hatte festzustellen, daß die Regierung Restjugoslawiens rur Verletzungen der Völkermordkonvention und des humanitären
28 Vgl. Marschang, KJ 1993, 66. 29 Vgl. Reisman, AJIL 1993, 94. 30 Dies betonen etwa Franck in R.-J. Dupuy, S. 108 und AJIL 1992,521; Bothe in
R.-J. Dupuy, S. 11; Graefrath, EJIL 1993,185; zweifelnd Kennedy, VaJIL 1993, 914f. 31 Zudem ist keineswegs sicher, daß der IGH insofern jemals zu einer Entscheidung in der Hauptsache gelangen wird. Die Zu lässigkeit der libyschen Anträge wirft schon im Hinblick auf Art. 8 Montreal-Konvention einige Probleme auf (vgl. hierzu etwa die Erklärungen der Richter Oda, ICJ Rep. 1992, 17, 18f. und Ni Zhengyu, ebd., 20, 23; dazu auch Beveridge, ICLQ 1992, 919). Da der IGH relativ großzügige Einlassungsfristen gesetzt hatte (vgl. die Anordnungen vom 19. Juli 1992, ICJ Rep. 1992, 231, 234), befindet sich das Verfahren immer noch im Stadium der preliminary objections (Anordnungen vom 22. September 1995, ICJ Rep. 1995,282,285). Dies hat zu Spekulationen Anlaß gegeben, der Rechtsstreit könnte gegenstandslos werden, bevor der IGH zur Entscheidung in der Hauptsache kommt (vgl. Andres Saenz, RED! 1992, 349). 32 Abs. 6 der Präambel der Resolution. 33 V gl. Abs. 3 und 4 der Resolution; hierzu auch AdG 1993, 38378. 34 Convention on the Prevention and Punishment ofthe Crime ofGenocide, UNTS 78, 277; BGBl. 1954 11, 730.
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Völkerrechts im Konflikt in Bosnien-Herzegowina verantwortlich sei. 35 Eine wesentliche Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten der militärisch unterlegenen bosnischen Muslime ergab sich jedoch auch aus SR-Res 713 vom 25. September 1991, mit der der SR noch im FrUhstadium des Konflikts ein Waffenembargo gegen das ehemalige Jugoslawien verhängt hatte, das nun gegen die Nachfolgestaaten fortgalt. 36 Daher beantragte die bosnische Regierung weiter festzustellen, daß SR-Res. 713 (1991) nicht so ausgelegt werden dürfe, daß sie das Recht Bosniens auf Selbstverteidigung gern. Art. 51 eh VN beeinträchtige; alle Staaten müßten vielmehr auch zu Waffenlieferungen an Bosnien-Herzegowina berechtigt sein. 37 Diese Feststellung beantragte Bosnien zugleich auch schon im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes nach Art. 41 IGH-Statut zu treffen. 38 Der IGH vermied in seiner Anordnung vom 8. April 1993 jedes Eingehen auf die Gültigkeit oder Auslegung der SR-Res. 713 (1991), indem er sich allein auf Art. IX der Völkermordkonvention als prima facie gültige Jurisdiktionsgrundlage stützte und demgemäß nur die direkt gegen Restjugoslawien gerichteten Anträge beschied;39 auch in den Sondervoten fmdet sich kein Eingehen auf die Problematik. Nachdem diese erste Anordnung des IGH keine Auswirkung auf das Geschehen in Bosnien-Herzegowina gezeigt hatte, erneuerte die bosnische Regierung ihre Anträge, wiederum auch im Hinblick auf SR-Res. 713 (1991).40 Der IGH lehnte es jedoch mit weitgehend identischer Argumentation erneut ab, sich mit SR-Res. 713 (1991) zu beschäftigen. 41 Der Richter Ajibola betonte dabei in seinem Sondervotum ausdrücklich, daß die Aufhebung der Resolution nur durch den SR selbst erfolgen könne. 42 Lediglich Richter ad hoc E. Lauterpacht problematisierte einen möglichen Konflikt der Resolution mit dem Verbot des Völkermords als völkerrechtlichem ius cogens, äußerte sich im Ergebnis aber ebenfalls zurückhaltend zu den Möglichkeiten einer Entscheidung der Frage durch den IGH.43 35 Vgl. leJ Rep. 1993, 3, 4ff. Zu diesem Fall auch Maison, EJIL 1994, 390ff.; Oellers-Frahm, ZaöRV 1993, 639f.; speziell zu den Implikationen rur eine Rechtskontrolle des SR Franck in AI-NauimilMeese, S. 629ff.; Cajlisch in AI-NauimilMeese, S. 647ff. 36 Näher zum Jugoslawien-Konflikt und den Maßnahmen des SR u. S. 171ff. 37 leJ Rep. 1993,3,6. 38 leJ Rep. 1993, 3, 8. 39 leJ Rep. 1993, 3, 18. 40 leJ Rep. 1993, 325, 332. 41 leJ Rep. 1993,325, 344f. 42 Sep. op. Ajibola, leJ Rep. 1993, 390, 405f. 43 Diss. op. E. Lauterpacht, leJ Rep. 1993,407, 440f.
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Diese Abstandnahme des IGH von einer Überprüfung der SR-Res. 713 (1991) kann angesichts der prozessualen Konstellation kaum überraschen; denn
Restjugoslawien als Beklagter war weder Initiator noch Ausftlhrender des Embargos, sondern Mitbetroffener. Der Fall war daher in der Tat nicht "ideally suited" zur Durchftlhrung einer Rechtskontrolle des SR;44 dementsprechend verzichtete später die bosnische Regierung darauf, SR-Res. 713 (1991) zum weiteren Gegenstand des Verfahrens zu machen. 4S Aus politischen Gründen gab Bosnien zudem auch seine Absicht auf, die Gültigkeit der Resolution auf Grundlage des Art. IX Völkermordkonvention zum Gegenstand eines neuen Verfahrens gegen Groß-Britannien zu machen. 46 Gleichwohl belegt der Bosnien-Fall jedoch die gestiegene Bereitschaft der Staaten, den IGH als Forum ihres Widerstands gegen Resolutionen des SR nach Kapitel VII der Charta zu nutzen. Damit wird die Frage der Rechtsbindung des SR und seiner Kontrolle durch den IGH zu einem Problem, dem auch in Zukunft hohe praktische Bedeutung zukommen kann.
III. Fragestellung und Gang der Untersuchung Die Lösung des Problems der gerichtlichen Kontrolle der Beschlüsse des SR wird kaum - so wünschenswert dies auch wäre47- im Wege einer Änderung der Charta zu erreichen sein; auch Vorschläge zu einer Veränderung der Zusammensetzung des SR, insbesondere einer Ausweitung des Kreises seiner ständigen Mitglieder,48 werden das Legitimationsproblem des SR höchstens mildem, nicht aber beseitigen können. 49 Die vorliegende Arbeit nimmt daher ihren Aus44 So auch einige Mitglieder des "legal teams" filr Bosnien, vgl. Seott u.a., MichJIL 1994,9. 4S Seott u.a., MichJIL 1994, 10. 46 Seottu.a., MichJIL 1994,12. 47 Vorschläge in dieser Richtung sind immer wieder gemacht worden; vgl. etwa das Projekt von C/ark und Sohn, S. 78, nach denen Art. 25 ChVN folgende Form erhalten sollte: "The Member Nations agree to accept and carry out the decisions of the Executive Council, subject only to the right to contest the validity of any such decision by appeal to the International Court of Iustice. Pending the judgment of the Court upon any such appeal, the contesting Member Nation shall nevertheless carry out the decision of the Council, unless the Council or the Court shall make an order permitting non-compliance during the Court's consideration ofthe appeal." Vgl. aus jüngerer Zeit auch E. Lauterpaeht, S. 112 f; S. Hoffmann, EJIL 1995,324. 48 Vgl. dazu etwa Sueharipa-Behrmann, AuIPIL 1994, 1ff.; Heber/ein, ZRP 1994, 358ff.; Sehaefer, FS Hanich, 19Iff.; Czempie/, S. 58f. 49 Reisman, AJIL 1993, 96.
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gang am positiven Recht der Charta. Fragen der grundsätzlichen Tauglichkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen50 oder von Systemen kollektiver Sicherheit im allgemeinen 51 bleiben ebenso ausgegrenzt wie das Problem der Steuerungsfllhigkeit des Rechts in den Vereinten Nationen und in der Praxis des SR. 52 Dieser Ansatz beruht auf der Überzeugung, daß rechtliche Argumente auch in den VN und hier insbesondere in der Praxis des SR einen autonomen Stellenwert haben, und daß die Möglichkeiten rechtlicher Argumentation insofern bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Maßstab ist dabei immer die optimale Ausnutzung der Handlungsmöglichkeiten der VN auf der Basis des geltenden Rechts;53 in den Worten von W. M. Reisman läßt sich das Problem wie folgt umschreiben: 54 "The intellectual task will be to see to what extent [... ] constitutional control can be made compatible with effective security."
Der positivrechtliche Ansatz bedingt auf der anderen Seite noch nicht die prozessuale Perspektive, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Eine solche Perspektive hat jedoch entscheidende Vorteile fUr eine umfassende Durchdringung der Problematik. Der Konflikt von Freiheit und Bindung des SR durchzieht die gesamte institutionelle Struktur der VN und kehrt in ungezählten Variationen wieder: auf der Ebene von Auslegungsgrundsätzen, bei der Frage von implied powers und allgemeinen Entscheidungsbefugnissen aus Art. 24 I ChVN, bei der Abgrenzung der Kompetenzen von IGH und SR, mit der Frage der Bindung des SR an die Charta, und schließlich im Rahmen der Auslegung des Art. 39 ChVN und des Kapitels VII im allgemeinen. Jede Untersuchung der Befugnisse des SR, die sich hier auf einen besonderen Aspekt beschränkt, läuft daher Gefahr, daß die auf einer Ebene erreichte, fUr sachgerecht gehaltene Eingrenzung der Befugnisse des SR durch eine extensive Auslegung an anderer Stelle wieder unterlaufen wird. Beispiele hierfUr sind in der Literatur nicht selten anzutreffen. So wird einerseits eine allgemeine Entscheidungsbefugnis des SR aus Art. 24 I ChVN abgelehnt, weil das Enumerationsprinzip gelten müsse, dann aber zu Art. 39 ChVN vertreten, der SR habe es insofern ja "selbst in der 50 Hierzu gibt es umfangreiches Schrifttum aus politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht; vgl. etwa HufbauerlElliotlSchott (mit einer Vielzahl von Fallstudien); Doxey, insb. S. 125ff.; speziell im Zusammenhang mit dem Problem des südlichen Afrikas diess., 10 1972, 547; Hasse, insb. S. 19ff., 115ff. 51 Skeptisch insofern etwa Czempiel, S. 25; Frei, Kriegsverhütung, S. 76 und Sicherheit, S. 29ff.; R. L. Bindschedler, FS Wehberg, S. 85; Menk, S. 221ff. 52 Vgl. hierzu neben der Arbeit von Kahng etwa Schachter, RdC 1963 11, 17Iff.; Higgins, AJIL 1970, Iff. 53 Ein ähnlicher Ansatz findet sich etwa bei DiclrelRengeling, S. 31; Scheuner, BDGV 1957,23. 54 AJIL 1993, 98.
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Hand, die wesentlichen Bestimmungen des Kapitels VII als einwandfreie Rechtsgrundlage bindender Beschlüsse für anwendbar zu erklären"55. Dasselbe Problem taucht auf, wenn einerseits betont wird, Beschlüsse nach Art. 25 ChVN müßten im Einklang mit der Charta stehen, um verbindlich zu sein, andererseits aber dem SR im Rahmen des Art. 39 ChVN die "pleine discretion" zur Feststellung von dessen Voraussetzungen zugesprochen wird. 56 Umgekehrt hängt aber auch eine Untersuchung des Art. 39 ChVN in der Luft, wenn auf die Problematik der Rechtsbindung des SR überhaupt nicht eingegangen wird. 57 Natürlich sind auch solche eher punktuellen Untersuchungen unverzichtbar. Aber es besteht ein Bedarf nach einer stärker systematischen Betrachtung der Befugnisse des SR und ihrer Grenzen, nach einer Zusammenschau aller insoweit relevanten Bestimmungen der Charta. 58 Für eine solche Gesamtbetrachtung bietet die gerichtliche Kontrolle durch den IGH eine ideale juristische Versuchsanordnung. Die Notwendigkeit endgültiger Entscheidung über die Gültigkeit einer konkreten Resolution des SR läßt, soll die Begründung überzeugen, keine Beschränkung auf einzelne prozeß- oder materiellrechtliche Aspekte zu; sie erfordert vielmehr eine Klärung aller relevanten Aspekte und ihres systematischen Zusammenhangs. Eine solche größere Klärung der Grenzen der Befugnisse des SR in ihrem systematischen Zusammenhang zu erreichen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Im ersten Teil der Arbeit werden dazu einige Vorklärungen und Eingrenzungen vorgenommen. Im ersten Abschnitt wird ein Überblick über die Handlungsformen und -befugnisse des SR gegeben, wobei auch die Beschränkung der Arbeit auf nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen zu erläutern sein wird; der zweite Abschnitt geht auf die Rechtsquellen und Methoden der Untersuchung ein. Der zweite Teil der Arbeit befaßt sich sodann mit den prozessualen Fragen einer gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen 55 So Kewenig, FS Scheuner, S. 270 einerseits, S. 282 andererseits; ähnlich Krökel, insb. S. 73; Sonnen/eid, S. 90,143. 56 V gl. etwa R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 331 einerseits, 366 andererseits; Con/orti, RdC 197411,210 (Fn. 2), 219. 57 Vgl. etwa die Arbeit von Arntz, der Art. 25 ChVN nur in einer Fußnote erwähnt (S. 75, Fn. I). 58 Ein bedeutender Versuch in dieser Richtung ist die Arbeit von J. Combacau. Diese zielt jedoch weniger auf eine Begrenzung der Befugnisse des SR, sondern postuliert vielmehr deren Grenzenlosigkeit (vgl. etwa die Stellungnahme zu Art. 25 ChVN, S. 260f.; zu Art. 39 ChVN, S. 54, 100) und fordert daher zu einer neuen Betrachtung im Licht der jüngeren Entwicklung geradezu heraus. Erst in jüngster Zeit finden sich stärker systematische Auseinandersetzungen mit den Grenzen der Befugnisse des SR; vgl. etwa den von R. -J. Dupuy herausgegebenen Band "Le developpement du röle du Conseil de securiteffhe Development ofthe Role ofthe Security Council" (1993); vgl. auch die zitierten Werke von Bedjaoui, Herdegen, Schilling oder Gowlland-Debbas.
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durch den IGH. Dabei wird zunächst auf die allgemeine Stellung des IGH im System der Vereinten Nationen eingegangen, bevor verschiedene Ansätze fUr eine gerichtliche Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen erwogen werden. Anschließend werden insbesondere die Probleme der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren diskutiert. Im dritten Teil schließlich werden die materiellen Grenzen der Befugnis des SR zur Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen diskutiert. Der erste Abschnitt setzt sich mit der Bindung der Beschlüsse des SR an die Charta im allgemeinen auseinander. Der zweite Abschnitt konzentriert sich sodann auf die Grenzen der Befugnisse des SR nach Kapitel VII der Charta, insbesondere seiner Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN. Abschließend wird noch auf Probleme des Rechtsfolgenermessens und der Beendigung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen eingegangen.
1. Teil
Systematik, Quellen und Methoden In diesem Teil wird zunächst ein Überblick über die Systematik der Handlungsformen und Befugnisse des SR gegeben; hieraus wird sich die zentrale und exemplarische Bedeutung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen ergeben. Anschließend ist auf die Rechtsquellen und Methoden der folgenden Untersuchung einzugehen.
1. Abschnitt
Handlungsformen und Befugnisse des Sicherheitsrats Die vorliegende Untersuchung betrifft die gerichtliche Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen, die durch verbindlichen Beschluß des SR angeordnet wurden. Damit findet eine dreifache Eingrenzung statt: es geht nur um Maßnahmen des SR, es geht nur um Beschlüsse im Sinne des Art. 25 ChVN, und es geht schließlich auch nur um Maßnahmen der in Art. 41 ChVN bezeichneten Art. Das Ziel einer umfassenden Darstellung der Grenzen und Kontrolle der Zwangsgewalt des SR der Vereinten Nationen leidet hierunter jedoch nicht. Die zentrale und gleichsam exemplarische Bedeutung der Maßnahmen nach Art. 41 ChVN soll in der Folge erläutert werden.
I. Das Eingriffsmonopol des Sicherheitsrats Die Beschränkung auf Maßnahmen des SR rechtfertigt sich zunächst aus der Tatsache, daß allein dieser gern. Art. 25 zur Fassung von im Außenverhältnis verbindlichen Beschlüssen befugt ist. 1 Dabei wird nicht übersehen, daß auch 1 Natürlich haben die Organe der VN Befugnisse zur Fassung verbindlicher Beschlüsse in Fragen der internen Organisation; vgl. rur die GV etwa Art. 4 11 (Mitgliedschaft), 17 I (Haushaltsplan), 21 ChVN (Geschäftsordnung) etc. (dazu auch Rösgen, S. 144f.). Aber diese Befugnisse sind relativ eng umgrenzt und berühren die Mitgliedstaaten nicht in ihren sonstigen Rechten; die Frage des Rechtsschutzes ist daher
I. Abschnitt: Handlungsfonnen und Befugnisse
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der GV gewisse Kompetenzen im sicherheitspolitischen Bereich zukommen. Gern. Art. lOCh VN hat sie eine allgemeine Erörterungs- und Empfehlungsbefugnis, dies sich gern. Art. 11 11 1 Ch VN auch auf Fragen der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erstreckt. Darüber hinaus hat sich die GV in der Resolution "Uniting for Peace"2 fUr den Fall der Untätigkeit des SR selbst gewisse Beschlußkompetenzen zugesprochen. 3 Aber unabhängig von der Vereinbarkeit dieser Resolution und der Praxis der GV mit der Charta, etwa Art. 11 11 2 und 12 I ChVN, bleibt die GV auch hier jedenfalls auf die Abgabe von Empfehlungen beschränkt (Art. 10 Hs. 2 ChVN).4 Sie kann nur konsultative und koordinierende Funktionen wahrnehmen; die Befugnis, verbindliche Beschlüsse zu fassen, bleibt dem SR vorbehalten. In den VN besteht rechtlich wie faktisch ein Eingriffsmonopol des SR; nur bei diesem stellt sich das Problem der gerichtlichen Kontrolle und des Rechtsschutzes somit in voller Schärfe. 5
11. Beschluß, Ermächtigung, Empfehlung Rechtsschutz gegen die Beschlüsse einer internationalen Organisation wird vor allem da zum Problem, wo diese Beschlüsse in Rechte der Mitgliedstaaten eingreifen. Eine solche Möglichkeit zur Fassung im Außenverhältnis verbindlicher Beschlüsse sieht insbesondere Art. 25 ChVN vor, der bestimmt: "Die Mitglieder der Vereinten Nationen kommen überein, die Beschlüsse des Sicherheitsrats im Einklang mit dieser Charta anzunehmen und auszufUhren. "
Die Frage ist nun, was unter dem Begriff des Beschlusses eigentlich zu verstehen ist, welche Rechtswirkungen ein solcher Beschluß genau hat und ob die Beschlüsse im Sinne des Art. 25 ChVN wirklich die einzigen Rechtsakte im
nicht von gleicher Dringlichkeit wie bei den Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta. 2 GV -Res. 377 (V) v. 3.11.1950, AJIL 45 (1951), Suppl., I. 3 Vgl. zu den Problemen dieser Resolution HailbronnerlKlein in Simma, Art. 12, Rn. 12-16. 4 Zu den Rechtswirkungen dieser Empfehlungen vgl. allerdings u. S. 35ff. 5 Auch die Praxis der GV bleibt aus diesem Grunde weitgehend unberücksichtigt. Zwar hat auch sie teilweise Feststellungen getroffen, die denen des Art. 39 ChVN ähnelten (eine kritische Würdigung dieser Praxis findet sich bei Arntz, S. 112ff.); aber darin liegt rechtlich eben gerade keine Feststellung im Sinne dieser Bestimmung, so daß der Praxis der GV letztlich kein Aussagewert rur die Weite der Kompetenzen des SR zukommt.
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I. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
System der VN sind, denen verbindliche Wirkung im Außenverhältnis zukommt.
1. Der Begriff des Beschlusses
Es ist häufig darauf hingewiesen worden, daß die Verwendung des Begriffes "Beschluß" (decisionldecision) in der Charta uneinheitlich ist. 6 Während einige Bestimmungen ausdrücklich nur von "Empfehlungen" des SR sprechen,7 verwendet Art. 27 Ch VN im Zusammenhang mit den Mehrheitserfordernissen im SR ebenfalls den Begriff "Beschluß".s Daraus ist allerdings keineswegs zu folgern, jeder Beschluß im Sinne des Art. 27 ChVN wäre auch schon ein solcher im Sinne des Art. 25; andernfalls würden alle Entscheidungen des SR unter Art. 25 ChVN fallen, selbst jene, die von ihm selbst wie von der Charta lediglich als Empfehlung gekennzeichnet worden sind. Dies ist implizit auch vom IGH im Urteil über die Zuständigkeit im Korfu-Kanal-Fall bestätigt worden. 9 Hier hatte der SR Groß-Britannien und Albanien mit SR-Res. 22 (1947) gern. Art. 36 I, III ChVN "empfohlen", ihre Streitigkeit dem IGH zu unterbreiten. 10 Im Verfahren über die Zuständigkeit des IGH machte Groß-Britannien geltend, diese Resolution sei gern. Art. 25 Ch VN auch fUr Albanien verbindlich und wirke daher schon an sich zuständigkeitsbegrUndend. 11 Der IGH griff dieses Argument in seiner Entscheidung gar nicht auf; in einem gemeinsamen Sondervotum von sieben Richtern wurde jedoch ausdrücklich klargestellt, daß eine schlichte Empfehlung keinen "Beschluß" im Sinne des Art. 25 ChVN darstellt. 12
6 Ausfilhrlich dazu Krökel, S. 22-27. 7 Vgl. insb. Art. 36 1,3711 ChVN. 8 Keine Erwähnung in der Charta findet der filr Entscheidungen des SR übliche Begriff "Resolution". Er wird filr sämtliche Entscheidungen des SR verwandt und deckt sich damit mit dem Begriff des "Beschlusses" in Art. 2711, III ChVN, ohne daß damit aber eine Aussage über die mögliche Verbindlichkeit der Entscheidung getroffen wäre. In diesem weiten Sinne wird der Begriff "Resolution" auch in der vorliegenden Arbeit verwandt; wird dagegen von "Beschlüssen" gesprochen, so sind damit nur verbindliche Beschlüsse im Sinne des Art. 25 ChVN gemeint. 9 ICJ Rep. 1947/48, 15; vgl. hierzu Sonnen/eid, S. 130; Manin, S. 14f.; Dahm, S. 21lf. 10 "Recommends that the United Kingdom and Albanian Governments should immediately refer the dispute to the International Court of Justice in accordance with the provisions ofthe Statute ofthe Court"; vgl. dazu auch Klein, FS Mosler, S. 469. 11 ICJRep. 1947/48, 15, 17. 12 Joint diss. op., ICJ Rep. 1947/48, 31, 32; ebenso die diss. op. des Richters ad hoc Daxner, ebd., 33-35.
I. Abschnitt: Handlungsformen und Befugnisse
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Es ist somit festzuhalten, daß nicht jede Entscheidung des SR schon automatisch als Beschluß im Sinne des Art. 25 ChVN anzusehen ist. Welche Art von Entscheidung der SR im konkreten Fall hat treffen wollen, ist eine Auslegungsfrage, die sich am Wortlaut der jeweiligen Resolution orientieren muß. 13 Nach der Praxis des SR erfolgt, wenn eine Verbindlichkeit gewollt ist, zumeist eine ausdrückliche Bezugnahme auf eine Norm oder Normen, die eine Fassung verbindlicher Beschlüsse zulassen. 14 Welche Bestimmungen der Charta die Befugnis zur Fassung verbindlicher Beschlüsse gewähren, ist eine andere Frage; auf sie wird noch einzugehen sein. 15
2. Verpflichtung und Ermächtigung
Die genaue rechtliche Wirkung verbindlicher Beschlüsse im Sinne des Art. 25 Ch VN bedarf ebenfalls noch der Klärung. Ausdrücklich in Art. 25 Ch VN erwähnt ist die Pflicht der Mitgliedstaaten, Beschlüsse des SR "anzunehmen und auszuftlhren"; dabei war insbesondere an die Begründung einer Pflicht zur Teilnahme an Zwangsmaßnahmen gedacht. Aber damit ist der Regelungsgehalt des Art. 25 Ch VN noch nicht erschöpft. Werden Staaten zur Vornahme gewisser schädigender Handlungen gegen einen anderen Mitgliedstaat der VNI6 verpflichtet, dann bedeutet dies im System der VN notwendigerweise zugleich eine Ermächtigung zur Vornahme solcher Handlungen. Diese Ermächtigung kann auch dem Adressaten der Zwangsmaßnahmen entgegengehalten werden, der ja ebenfalls an die Charta und damit auch an Art. 25 ChVN gebunden ist.J7 Diese Duldungspflicht ergibt sich unmittelbar aus Art. 25 ChVN selbst und besteht unabhängig davon, ob Rechte aus Vertrag oder aus Völkergewohnheits-
13 Vgl. Namibia, IC] Rep. 1971, 16, 4 \. 14 Dabei ist es eher selten, daß der SR auf konkrete Normen wie Art. 39, 40 ChVN (so aber SR-Res. 598 [1987] im iranisch-irakischen Krieg sowie SR-Res. 660 [1990] bezüglich der irakischen Invasion in Kuwait) oder Art. 39, 41 ChVN (so SR-Res. 232 [1966] im Falle Südrhodesiens) Bezug nimmt; meist beschränkt er sich auf den pauschalen Hinweis, er handele unter Kapitel VII der Charta (vgl. Krökel, S. 42, 115). 15 S.u. S. 37ff. 16 Ein anderes Problem, dem hier nicht nachgegangen werden soll, ist die Vornahme von Zwangsmaßnahmen gegen Nichtmitglieder der VN. Vgl. zu diesem Problemkreis allgemein Graf Vitzthum in Simma, Art. 2 Ziff. 6, Rn. 1ff. 17 So auch Roberto Ago, Eigth Report on State Responsibility, YILC 1979 11/1, 44; Combacau, S. 352; zur Figur der Erlaubnis internationaler Organisationen vgl. allgemein DahmiDelbrückiWolfrum, S. 74. 3 Martenczuk
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I. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
recht betroffen sind; ein Abstellen auf Art. 103 ChVN ist daneben nicht erforderlich. 18 Mit der Begründung von Handlungspflichten geht daher im Regelfall eine Ermächtigung einher; dieser Ermächtigung entspricht auf der Seite des Adressaten der Zwangsmaßnahmen eine Duldungspflicht. Beide Aspekte bedeuten einen Eingriff in die völkerrechtlichen Rechte der Staaten, wenn auch die Duldungspflicht angesichts ihrer Konzentration auf einen bestimmten Staat naturgemäß sehr viel härter treffen wird. Allerdings müssen beide Formen der Beeinträchtigung nicht notwendigerweise immer zusammentreffen. So kann es sein, daß die angeordneten Maßnahmen gar nicht im Widerspruch zu völkerrechtlichen Rechten des Adressaten stehen. Ein Beispiel wäre etwa der in Art. 41 S. 2 Ch VN genannte Abbruch der diplomatischen Beziehungen, der den Charakter einer bloßen Retorsion trägt und schon nach allgemeinem Völkerrecht zulässig ist; von einer besonderen Duldungspflicht des Adressaten läßt sich hier ebensowenig sprechen wie von einer "Ermächtigung" zum Abbruch der Beziehungen. Umgekehrt wäre aber auch denkbar, daß die Mitgliedstaaten lediglich ermächtigt, nicht aber verpflichtet werden, Zwangsmaßnahmen vorzunehmen. Besonders problematisch ist diese Figur der reinen Ermächtigung im Hinblick auf die Anwendung militärischer Gewalt geworden; 19 sie muß allerdings nicht unbedingt auf diesen Sonderfall beschränkt bleiben. Nach Art. 48 I ChVN kann der SR bestimmen, ob alle oder nur einige Mitglieder der VN zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen verpflichtet sind; in ähnlicher Weise müßte er dort, wo er zur verbindlichen Anordnung von Zwangsmaßnahmen befugt ist, erst recht auch eine bloße Ermächtigung aussprechen können. 20 Von dieser Möglichkeit hat der SR allerdings in Bezug auf nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen keinen Gebrauch gemacht; besondere praktische Bedeutung wird der Figur insofern wohl auch kaum zukommen. Gleichwohl ist es wichtig, das ermächtigende Element und die ihm entsprechende Duldungspflicht in den Beschlüssen im Sinne des Art. 25 ChVN klar zu erkennen: denn hierin liegt ein schwerer Eingriff in die Rechte des betroffenen Staates, fi1r den sich die Frage der gerichtlichen Kontrolle in besonderer Weise stellt. 18 Anders aber der IGH, Lockerbie, ICI Rep. 1992, 3, 15; ebenso Andres Saenz, REDI 1992,348; Suy in CotlPellet, Art. 25, S. 477; wie hier Sore I, RGDIP 1993,714; Gowlland-Debbas, ICLQ 1994, 78, die allerdings für die die Zwangsmaßnahmen ausführenden Staaten wieder auf Art. 103 ChVN abstellen will (a.a.O., 87f.). 19 S. dazu u. S. 45f. 20 So fUr die Frage militärischer Maßnahmen etwa HeinzlPhilliplWoljrum, VN 1991, 126; Eitel, GYIL 1992, 185; Dastis Quecedo, REDI 1991, 113; hier stellt sich allerdings das besondere Problem, welche Befugnisse der SR in Bezug auf militärische Maßnahmen überhaupt hat. Die Möglichkeit ermächtigender Beschlüsse bezweifelt allgemein Fawcett, BYIL 1965/66, 121.
1. Abschnitt: Handlungsformen und Befugnisse
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3. Rechtfertigende Wirkung von Empfehlungen?
Häufig in der Praxis der VN wurde den Staaten die Anwendung von Zwangsmaßnahmen lediglich empfohlen; solche Empfehlungen sind ebenso von der Gy21 wie auch vom SR selbst22 ausgesprochen worden. Dabei ist jedoch das Problem aufgetaucht, daß die empfohlenen Maßnahmen unter Umständen zu vertraglichen oder sonstigen Rechten des Adressaten im Widerspruch stehen können;23 man könnte sich daher fragen, ob nicht auch die Empfehlung von Zwangsmaßnahmen durch die Organe der VN rechtfertigende Wirkung haben muß. Dieses Problem hat auch die ILC bei ihrer Arbeit an der Kodifikation der Rechtfertigungsgründe im Rahmen der Staatenverantwortlichkeit beschäftigt; dabei wurde die Frage einer rechtfertigenden Wirkung vorsichtig bejaht. 24 Die Staatenverantwortlichkeit eines Staates, der empfohlene Zwangsmaßnahmen anwendet, soll ausgeschlossen sein, "puisqu'il ne fait que respecter la Charte constitutive de l'organisation";25 wenn die Maßnahmen schon empfohlen würden, dann müßten die Staaten doch wenigstens berechtigt sein, die entsprechenden Maßnahmen auch durchzufilhren. 26 Wären diese Auffassungen zutreffend, so stünden Empfehlungen von Zwangsmaßnahmen verbindlichen Beschlüssen in ihrer beeinträchtigenden Wirkung aus der Sicht des Adressaten in nichts nach; auch insofern würde sich daher die Frage eines möglichen Rechtsschutzes stellen. Aber es fragt sich, ob hier nicht vor allem der Wunsch Yater des Gedankens ist. Die Duldungspflicht ist, wie bereits ausgefilhrt,27 ein wesentliches Element der Yerbindlichkeit von Beschlüssen im Sinne des Art. 25 ChVN. Diese Wirkung auch Empfehlungen zuzuerkennen, würde rur die GY eine ganz erhebliche Ausweitung ihrer Kom21 V gl. etwa GV -Res. 1761 (XVII) v. 6.11. 1962 (YUN 1962, 100), die umfangreiche Zwangsmaßnahmen gegen Südafrika empfahl; GV-Res. 2107 (XX) v. 21.12.1965 (YUN 1965, 615), die wegen dessen Kolonialpolitik zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen Portugal aufrief. Kritisch zu dieser Praxis allgemein Arntz, S. 150. 22 V gl. SR-Res. 83 (1950), durch die den Mitgliedstaaten empfohlen wurde, Südkorea militärischen Beistand zu leisten; SR-Res. 181 (1963), mit der ein Waffenembargo gegen Südafrika empfohlen wurde. 23 Vgl. Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 33. 24 Vgl. Kommentar zu Art. 30 des ersten Teils des ILC-Entwurfs zur Staaten verantwortlickeit, YILC 1979 Il/2, 119, sowie die Diskussionsbeiträge von Njenga, YILC 1979 I, 58 und Francis, ebd., 60; zweifelnd Schwebei, ebd., 57. 25 Nguyen QuoclDaillierlPellet, S. 369. 26 Dicke, S. 119; Conforti, S. 276. Ähnlich Gowlland-Debbas, S. 422 rur die mit SR-Res. 221 (1966) ausgesprochene Ermächtigung Groß-Britanniens, gewisse Tanker auf hoher See zu stoppen; hier hätte allerdings eine Zuordnung zu Kapitel VII näher gelegen. 27 S.o. S. 33f. 3"
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
petenzen bedeuten, die mit ihrer subsidiären Rolle im Bereich der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gern. Art. 11 11 2, 12 I ChVN nicht in Einklang zu bringen ist; sie erhielte weitreichende Eingriffsmöglichkeiten, die die Monopolisierung der Zwangsgewalt der VN beim SR unterlaufen müßten. 28 Aber auch im Hinblick auf den SR selbst würde eine Anerkennung einer rechtfertigenden Wirkung von Empfehlungen zu einer Verwischung der Grenzen der einzelnen Handlungsformen filhren, die keinesfalls unbedenklich ist. 29 Empfehlungen des SR sind etwa auch nach Kapitel VI der Charta möglich und unterliegen daher in ihren Voraussetzungen relativ geringen Beschränkungen. Gerade die schärfste Form des Eingriffs in die Rechte der einzelnen Staaten von den Voraussetzungen der speziellen Befugnisnormen der Charta freizustellen, entspricht aber kaum einer systematischen Auslegung. Auch allgemein ist der Schluß von der Empfehlung auf die Ermächtigung zweifelhaft; schon der allgemeine Sprachgebrauch spricht gegen ihn. 30 Es mag zudem im allgemeinen wünschenswert sein, daß die Empfehlungen internationaler Organisationen befolgt werden; wenn aber deren Organe Maßnahmen empfehlen, die zum Völkerrecht im Widerspruch stehen, ohne insofern die Befugnis zu einer Ermächtigung zu haben, dann sind solche "Empfehlungen" eben nicht mehr von der Satzung gedeckt. Ein Staat, der sie durchfilhrt, handelt nicht in Verfolgung der Ziele der Organisation; er kann sich daher auch nicht auf die Satzung der Organisation zur Rechtfertigung seines Tuns berufen. Sicherlich wird man nicht leichthin annehmen dürfen, ein Organ einer internationalen Organisation habe den Mitgliedern ein völkerrechtswidriges Handeln empfohlen;31 es ist stets zu prüfen, ob die Staaten nicht schon aus eigenem Recht zur Anwendung der Maßnahmen befugt sind. Die Empfehlung als solche hat jedoch keine rechtfertigende Wirkung. 32
28 Vgl. zum Verhältnis von GV und SR schon o. S. 30f. 29 Anders Malanczuk in Simma/Spinedi, S. 238, der die rechtfertigende Wirkung je-
denfalls bei Empfehlungen des SR für unproblematisch zu halten scheint. Vgl. auch Reisman, AJIL 1993, 88f., der SR-Res 731 (1992) im Fall Lockerbie für "normatively strong enough to override other treaty or customary rights" hält; seine Begründung, andernfalls werde der SR zur vorschnellen Verhängung verbindlicher Zwangsmaßnahmen genötigt, kann jedoch kaum überzeugen, da er ja gerade den Unterschied von Beschluß und Empfehlung einebnet. 30 Darauf verwies auch die joint diss. op. im Fall Corfu Channel, ICI Rep. 1947/48, 31,32. 31 Frowein, ZaöRV 1987, 70, spricht der Empfehlung sogar die Wirkung einer "important procedural presumption" zu, ohne daß allerdings klar wäre, welche Bedeutung einer solchen "Vermutung" in Rechtsfragen eigentlich zukommen soll. 32 Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 33 sowie RdC 1994 IV, 383; Kewenig, BDGV 1982,22,31; Petersmann, ZVglRW 1981, 18f.; Malanczuk in Simma/Spinedi, S. 239f.
I. Abschnitt: Handlungsfonnen und Befugnisse
37
Rechtsschutzfragen stellen sich folglich nicht; auch allgemein ist der IGH nicht verpflichtet, die von anderen Organen der VN in Empfehlungen geäußerten Auffassungen in seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. 33 Empfehlungen sind politische Instrumente und auch in ihren Wirkungen auf den politischen Bereich beschränkt. Eine rechtsgestaltende Wirkung kommt ihnen nicht zu. Für die Frage einer gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen können sie außer acht bleiben; die folgende Untersuchung befaßt sich daher allein mit verbindlichen Beschlüssen im Sinne des Art. 25 Ch VN.
IH. Die Befugnisse des Sicherheitsrats Als wesentliche Frage bleibt, auf welcher Grundlage der SR zur Fassung verbindlicher Beschlüsse im Sinne des Art. 25 Ch VN befugt ist. Die Erörterung der gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen nach Art. 41 Ch VN fUhrt letztlich nur dann zu einer sinnvollen Umschreibung der Befugnisse des SR und ihrer Grenzen, wenn der SR nicht auch auf Grundlage anderer, in ihren Voraussetzungen möglicherweise erheblich weiterer Befugnisnormen tätig werden kann. Art. 25 Ch VN selbst regelt diese Frage nicht; er verweist vielmehr weiter auf die allgemeinen und besonderen Befugnisse des SR nach der Charta. Diese sind in der Folge darzustellen.
1. Allgemeine Entscheidungsbefugnisse aus Art. 24 I ChVN?
Von erheblicher Bedeutung ist dabei zunächst die Frage, ob dem SR womöglich schon aufgrund des Art. 24 I ChVN, wonach die Mitglieder der VN ihm die Hauptverantwortung rur die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen, eine allgemeine Befugnis zur Fassung verbindlicher Beschlüsse zukommt. Diese Diskussion hat sich entzündet an einigen Aussagen des Gutachtens des IGH im Fall Namibia. 34 Nachdem die GV mit GV-Res. 2145 (XXI) das Mandat der Republik Südafrika filr Südwestafrika (Namibia) widerrufen hatte, forderte der SR in SR-Res. 276 (1970) Südafrika zum Rückzug aus diesem Gebiet und alle Mitgliedstaaten zur Nichtanerkennung 33 Eine solche Pflicht ergibt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Loyalität und Organtreue, vgl. Klein, FS Mosler, S. 484; Mosler in Simma, Art. 92, Rn. 88. Allgemein zu den Kooperationspflichten, die sich für den IGH aus seiner Stellung als Hauptrechtsprechungsorgan der VN ergeben, vgl. Rosenne, S. 68ff. 34 leJ Rep. 1971, 16; zur Vorgeschichte dieses Falles, der den IGH über mehr als zwanzig Jahre beschäftigt hat, vgl. Klein, EPIL 2, 260ff.
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
der südafrikanischen Verwaltung auf. Mit SR-Res. 284 (1970) legte der SR dem IGH schließlich die Frage vor, welche rechtlichen Konsequenzen die fortgesetzte Anwesenheit Südafrikas in Namibia ft1r die Mitgliedstaaten habe. 35 Der IGH entschied, nachdem er den Widerruf des Mandats durch die GV ft1r rechtmäßig befunden hatte,36 daß ft1r die Staaten eine Verpflichtung zur Nichtanerkennung der südafrikanischen Verwaltung in Namibia bestehe. Dabei stützte er sich vor allem auf SR-Res. 276 (1970), die er als verbindlichen Beschluß auffaßte. 37 Zur damit auftauchenden Frage der Rechtsgrundlage der Resolution fUhrte er aus: 38 "As to the legal basis of the resolution, Art. 24 of the Charter vests in the Security Council the necessary authority to take action such as that taken in the present case. The reference in paragraph 2 of this ArticIe to specific powers of the Security Council under certain chapters of the Charter does not excIude the existence of general powers to discharge the responsibilities conferred in paragraph 1."
Dabei stützte er sich weiter auf eine Aussage des Generalsekretärs der VN vom 10.1.194739 , nach dem die einzigen Grenzen der Kompetenzen des SR die Grundsätze und Prinzipien nach Kapitel I der Charta seien. 40 Art. 25 ChVN sei auch nicht allein auf Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta beschränkt, sondern gelte ft1r alle Beschlüsse, die im Einklang mit der Charta zustandegekommen seien; dies folge aus der systematischen Stellung der Bestimmung in Kapitel V, da sonst Art. 25 ChVN neben Art. 48, 49 Ch VN überflüssig wäre. 41 Diese Thesen haben zu einer lebhaften Auseinandersetzung gefUhrt. Schon im Gerichtshofselbst waren sie keineswegs unumstritten. 42 Auch im SR war die Aufnahme der Entscheidung insofern eher kritisch. 43 In der Literatur hat die Entscheidung Zustimrnung,44 aber auch viel Ablehnung gefunden. 45 In der Tat 35 Vgl. IC] Rep. 1971, 16, 17: "What are the legal consequences for States of the continued presence of South Africa in Namibia notwithstanding Security Council resolution 276 (1970)?". 36 IC] Rep. 1971, 16,47. 37 Aa.O., 53. 38 Aa.O., 52. 39 SCOR, 2nd year, 91st meeting, 44f. (1947). 40 IC] Rep. 1971, 16,52. 41 Aa.O., 53. 42 Vgl. sep. op. Petren, IC] Rep. 1971, 127, 136; diss. op. Fitzmaurice, ebd., 220, 293; diss. op. Gros, ebd., 323, 340; einschränkend auch sep. op. Dil/ard, ebd., 156. 43 Dazu Krökel, S. 17-19. 44 Higgins, ICLQ 1972, 286; Jimenez de Arechaga, EPIL 5, 347f.; Nguyen QuoclDaillierlPellet, S. 362; Manin, S. 57f.; Rösgen, S. 160; Kirgis, AJIL 1995, 526f.; ähnlich auch Sonnen/eId, S. 143.
I. Abschnitt: Handlungsformen und Befugnisse
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stehen der Annahme einer allgemeinen Entscheidungsgewalt aus Art. 24 I ChVN erhebliche Bedenken entgegen. Art. 24 I ChVN regelt allgemein die Hauptverantwortung des SR rur den Weltfrieden und die internationale Sicherheit; er hat den Charakter einer allgemeinen Aufgabenzuweisung, nicht aber den einer Befugnisnorm. Zudem ist der - insoweit mit Art. 1 Nr. 1 ChVN wortgleiche - Verweis auf die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit als Aufgabe des SR kaum geeignet, eine nachvollziehbare Begrenzung der Befugnisse des SR zu erreichen. Wäre der SR wirklich befugt, alle "mesures jugees opportunes pour le maintien de la paix" verbindlich anzuordnen,46 dann wäre der Hinweis in Art. 24 11 2 ChVN auf die "besonderen Befugnisse" des SR ebenso hinfiUlig wie letztlich die gesamte Kompetenzstruktur der Charta, die in einer Vielzahl von Bestimmungen, insbesondere in Kapitel VI und VII, die Befugnisse des SR einer differenzierten Regelung unterwirft. Auch der Hinweis auf die ansonsten drohende Überflüssigkeit des Art. 25 Ch VN im Fall seiner Beschränkung auf Kapitel VII überzeugt nicht. Selbst in diesem Fall käme ihm noch eine bedeutende KlarsteIlungsfunktion zu; im umgekehrten Fall jedoch würden weite Teile der Charta ihrer praktischen Relevanz beraubt. Vor allem aber wird ja gar nicht bestritten, daß auch außerhalb des Kapitels VII unter Umständen begrenzte Befugnisse des SR zur Fassung verbindlicher Beschlüsse bestehen können;47 aber das heißt noch nicht, daß dem SR deshalb eine ebenso grenzen- wie konturenlose Entscheidungsbefugnis aus Art. 24 I Ch VN zustehen müßte, die die Charta jeder steuernden Funktion berauben würde. Letztlich widerspricht sich der IGH selbst, wenn er einerseits betont, die Beschlüsse des SR müßten im Einklang mit der Charta stehen, im gleichen Atemzug aber jegliche Grenze ftlr die Befugnisse des SR beseitigt.48 Man kann sich allerdings fragen, ob der IGH wirklich eine Aussage von der Tragweite machen wollte, wie man sie aus seinen Ausfilhrungen herauslesen könnte. 49 Es war schon fraglich, ob SR-Res. 276 (1970) überhaupt als verbindlich gewollt war 50 und ob die Pflicht zur Nichtanerkennung nicht vielleicht 45 Krökel, S. 126f.; Conforti, S. 205, 280; Bothe in R.-J. Dupuy, S. 71; Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 14; Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 28, ZaöRV 1987,69 und RdC 1994 IV, 380f.; Gaja, RGIDP 1993,311; Tomuschat, RdC 1993 IV, 333; Kewenig, FS Scheuner, S. 281f., nennt die Auffassung des IGH gar ein "Unding". 46 So Nguyen QuoclDaillierlPellet, S. 362. 47 S. dazu u. S. 41f. 48 Kewenig, FS Scheuner, S. 270. 49 Frowein, RdC 1994 IV, 380f. 50 Zweifel daran auch in sep. op. Petren, ICJ Rep. 1971, 127, 136; sep. op. Onyeama, ebd., 139, 147; Kewenig, FS Scheuner, S. 262f.; vgl. ebenso GowllandDebbas, S. 267f, zu der in SR-Res. 216 (1965) enthaltenen Aufforderung zur Nichtanerkennung der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Rhodesiens.
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
schon nach allgemeinem Völkerrecht bestand. 51 Vor allem aber gilt es den sehr speziellen Hintergrund der Entscheidung zu berücksichtigen: bezüglich der Verwaltung eines ehemaligen Mandatsgebiets war es durchaus naheliegend, entsprechend der gesteigerten Verantwortung der internationalen Gemeinschaft rur dieses Gebiet auch stärkere Befugnisse der VN anzuerkennen. 52 Ob die Entscheidung des IGH unter diesem Gesichtspunkt Zustimmung verdient, bedarf hier keiner Erörterung. Es genügt festzuhalten, daß auch die Befugnisse des SR dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung unterliegen. 53 Die Kompetenzen des SR sind "competences d'attribution", und keine Bestimmung der Charta - auch nicht Art. 24 I Ch VN - überträgt dem SR die Befugnis, verbindliche Beschlüsse zu fassen, wann immer er dies rur erforderlich zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit hält. Jeder Beschluß im Sinne des Art. 25 Ch VN muß sich vielmehr auf eine spezielle Ermächtigungsgrundlage stützen können; eine allgemeine Befugnis des SR zur Fassung verbindlicher Beschlüsse besteht nicht.
2. Die besonderen Befugnisse des Sicherheitsrats
Aus der Ablehnung einer allgemeinen Entscheidungsbefugnis aus Art. 24 I ChVN folgt allerdings noch nichts Abschließendes filr die Reichweite der Befugnisse des SR. Diese hängt vielmehr von den einzelnen Ermächtigungsgrundlagen und ihrer Auslegung im konkreten Fall ab. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, filr eng umgrenzte Probleme auch einmal ungeschriebene Kompetenzen des SR anzuerkennen, wenn dies zur Verwirklichung der spezifischen, ihm durch die Charta zugewiesenen Aufgaben notwendig ist. 54 Die Ablehnung von "general powers" schließt die Anerkennung von "implied powers" nicht aus; soweit allerdings eine Maßnahme in der Charta ausdrücklich geregelt ist, wie dies etwa rur nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen in Art. 39, 41 ChVN der Fall ist, scheiden ungeschriebene Kompetenzen aus. 55 Im folgenden soll lediglich ein kurzer Überblick über die dem SR in der Charta eingeräumten Befugnisse zur Fassung verbindlicher Beschlüsse gegeben werden; dabei ist zu unterschei51 Zur Frage einer Nichtanerkennungspflicht nach allgemeinem Völkerrecht vgl. Gloria in Ipsen, § 23, Rn. 44ft'.; Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, S. 532ft'. 52 Dies betonen Sonnen/eid, S. 142; Kewenig, FS Scheuner, S. 261; ebenso auch die sep. op. des Richters Dillard, ICJ Rep. 1971, 150. der klarstellt, man habe keine allgemeine legislative Gewalt des SR behaupten wollen. 53 Dicke/Rengeling, S. 67f. 54 Vgl. Bothe, in R.-J. Dupuy, S. 74. 55 Vgl. Arntz, S. 75 (Fn. 1).
1. Abschnitt: Handlungsformen und Befugnisse
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den zwischen Befugnissen in der Charta im allgemeinen und in Kapitel VII im besonderen.
a) Befugnisse außerhalb des Kapitels VII Außerhalb des Kapitels VII sind Befugnisse des SR zur Fassung verbindlicher Beschlüsse nur vereinzelt nachzuweisen. 56 Eine solche wird oftmals in Art. 34 Ch VN gesehen, wonach der SR Streitigkeiten und andere Situationen, die zu internationalen Reibungen filhren oder eine Streitigkeit hervorrufen könnten, untersuchen kann, um festzustellen, ob eine Streitigkeit im Sinne des Art. 33 I ChVN vorliegt. 57 In der Tat wäre eine solche Untersuchungskompetenz des SR von geringem Wert, wenn er nicht auch befugt wäre, die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen Maßnahmen - etwa die Entsendung von Untersuchungskomrnissionen oder Beobachtern - verbindlich anzuordnen. Die Weite der Voraussetzungen des Art. 34 Ch VN wird dabei ausgeglichen durch die enge funktionale Umgrenzung der insoweit möglichen Maßnahmen, die sich nur auf die Erhellung des Sachverhalts richten dürfen, die Rechte der beteiligten Parteien ansonsten jedoch unberührt lassen. Die Intensität der fraglichen Eingriffe ist im Vergleich zu Zwangsmaßnahmen relativ gering; Rechtsschutzfragen treten damit eher in den Hintergrund. Eine weitere Grundlage verbindlicher Beschlüsse fmdet sich in Art. 94 11 Ch VN, wonach der SR auf Antrag einer Partei Maßnahmen beschließen kann, um einem Urteil des IGH Wirksamkeit zu verschaffen. 58 Hierbei ist nicht erforderlich, daß zugleich auch die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN vorliegen, 59 denn sonst wäre Art. 94 11 ChVN ohne eigenständige Bedeutung. Maßnahmen können auch solche nach Kapitel VII der Charta umfassen, insbesondere also nichtmilitärische Maßnahmen im Sinne des Art. 41 ChVN.60 Diese große Tragweite der Maßnahmen nach Art. 94 11 ChVN erscheint hinnehmbar, da sie 56 Ausführlich hierzu Krökel, S. 51 ff.; Rösgen, S. 150ff. 57 Krökel, S. 65f.; Rösgen, S. 150; Kerley, AJIL 1961,897; Manin, S. 55; Kewenig, FS Scheuner, S. 280; Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 14.; Schweisfurth in Simma, Art. 34, Fn. 33; a.A. dagegen Ben Salah in CotlPellet, S. 586. Die Frage wurde im SR insbesondere im Zusammenhang mit den griechischen GrenzzwischenflUlen 1946/47 diskutiert; vgl. RoP, Bd. 2, 237ff. 58 Krökel, S. 95f.; Rösgen, S. 152; Kewenig, FS Scheuner, S. 279; Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 14. 59 Escher, S. 110f.; Mosler in Simma, Art. 94, Rn. 11; Pillepich in CotlPellet, S. 1282. 60 Zweifelnd Tanzi, EJlL 1995, 561 f.
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I. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
in ihren Voraussetzungen klar an die Vollstreckung des Urteils 61 des IGH gebunden sind; problematisch könnten sie höchstens im Hinblick auf die Art und Weise der Vollstreckung werden. Einschlägige Praxis zu Art. 94 11 ChVN existiert jedoch kaum;62 Rechtsschutzfragen können daher vernachlässigt werden. Überhaupt keine Grundlage filr Beschlüsse im Sinne des Art. 25 ChVN ist schließlich Art. 53 12 Hs.2 ChVN, wonach der SR regionale Abmachungen und Einrichtungen zur Vornahme von Zwangsmaßnahmen ermächtigen kann;63 eine etwaige Handlung- oder Duldungspflicht ergibt sich hier nicht aus Art. 25 ChVN, sondern aus der regionalen Abmachung selbst. 64 Insgesamt ergeben sich also auch außerhalb des Kapitel VII der Charta einige Befugnisse des SR zur Fassung von Beschlüssen im Sinne des Art. 25 ChVN; diese sind jedoch rechtlich wie praktisch nicht von sehr hoher Bedeutung, so daß in der Folge allein die Befugnisse nach Kapitel VII in Betracht genommen zu werden brauchen.
b) Die Befugnisse nach Kapitel VII der Charta
Nach Art. 39 Hs. I ChVN stellt der SR fest, "ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt"; in diesem Fall kann er Empfehlungen abgeben oder aber beschließen, welche Maßnahmen auf Grund der Art. 41 und 42 ChVN zu treffen sind (Art. 39 Hs. 2 ChVN). Maßnahmen nach Art. 41 Ch VN können dabei jede denkbare, den Adressaten schä61 Hierunter wird man sinnvollerweise auch vorläufige Maßnahmen im Sinne von Art. 41 I IGH-Statut zu verstehen haben, da diese Urteilen im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit ja in nichts nachstehen (Mosler in Simma, Art. 94, Rn. 15). Die Frage wurde im SR diskutiert anläßlich der Weigerung Irans, den vom IGH im Fall der AngloIranian Oi! Co. (Interim Measures, ICJ Rep. 1951,89) angeordneten vorläufigen Maßnahmen nachzukommen; vgl. hierzu RoP, Bd. 5, S. 24ff.; Kahng, S. 43ff; Tanzi, EJIL 1995,563ff. 62 Vgl. Tanzi, EJIL 1995,540. 63 Ähnlich Rösgen, S. 153.
64 In deren Rahmen sich natürlich ebenfalls Rechtsschutzprobleme stellen können. Praktische Bedeutung im Hinblick auf Zwangsmaßnahmen regionaler Organisationen hat allerdings nur die Tätigkeit der OAS auf Grundlage des Rio-Vertrags erlangt; zu deren Praxis vgl. Kutzner, S. 95ff.; Inter-American Institute, S. 122ff. Viele der in dieser Arbeit angesprochenen Probleme stellen sich hier in ganz ähnlicher Weise; selbst eine inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren vor dem IGH wäre grundsätzlich nicht undenkbar. Angesichts der ungleich größeren Bedeutung konzentriert sich diese Untersuchung aber allein auf das System der VN, was gelegentliche Hinweise auf parallele Probleme der OAS allerdings ebensowenig ausschließt wie die Möglichkeit einer Übertragung der gefundenen Ergebnisse.
I. Abschnitt: Handlungsfonnen und Befugnisse
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digende Handlung bis hin zur vollständigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Isolation umfassen; die Aufzählung in Art. 41 S. 2 Ch VN ist nicht abschließend. Daneben gibt es jedoch noch einige weitere Befugnisse und Handlungsformen, auf deren Bedeutung an dieser Stelle einzugehen ist. Dabei geht es zum einen um die Befugnis des SR zur Anordnung vorläufiger Maßnahmen nach Art. 40 S. I ChVN, zum anderen um den Problemkreis militärischer Zwangsmaßnahmen und einiger verwandter Handlungsformen.
aa) Vorläufige Maßnahmen nach Art. 40 ChVN Gern. Art. 40 S. I ChVN kann der SR, "bevor er nach Art. 39 ChVN Empfehlungen abgibt oder Maßnahmen beschließt, die beteiligten Parteien auffordern, den von ihm filr notwendig erachteten vorläufigen Maßnahmen Folge zu leisten". Die Bedeutung dieser Befugnis ist nicht ganz klar. Zum einen ist fraglich, ob Art. 40 Ch VN ebenfalls das Vorliegen einer Situation im Sinne des Art. 39 ChVN voraussetzt,65 zum anderen, ob auf seiner Grundlage auch die Fassung verbindlicher Beschlüsse im Sinne des Art. 25 ChVN möglich ist. Je nachdem, wie und in welcher Kombination man diese Fragen beantwortet, kann die Tragweite der Befugnis in Art. 40 ChVN sehr unterschiedlich aussehen. Von sehr großer Bedeutung wäre sie, wenn Art. 40 Ch VN unabhängig von dem Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN die Fassung verbindlicher Beschlüsse zulassen würde. 66 Das Problem bei dieser Auffassung ist jedoch, daß der SR nach ihr eine an keinerlei erkennbare rechtliche Grenzen gebundene Befugnis zur verbindlichen Streitentscheidung erhielte, die letztlich wieder auf eine allgemeine Entscheidungsbefugnis hinauslaufen würde, die dem SR nach der Charta gerade nicht zustehen sol1.67 Die systematische Stellung des Art. 40 ChVN im Rahmen des Kapitels VII spricht vielmehr dafilr, daß auch insofern das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN erforderlich ist;68 dafilr spricht auch die Wendung in Art. 41 S. I ChVN, wonach Zielsetzung der vorläufigen Maßnahmen die Verhinderung einer "Verschärfung der Lage" ist, eine Formulierung, die völlig inhaltsleer wäre, wenn sie sich nicht auf Art. 39 ChVN bezöge. Diese Auffassung wird schließlich auch durch die Praxis des SR 65 V gl. Frowein in Simma, Art. 40, Rn. 4, der das Verhältnis der Art. 39 und 40 ChVN als "wenig klar" bezeichnet. 66 Dies vertritt Jimenez de Arechaga, EPIL 5, 347. 67 S. dazu o. S. 37ff. 68 S. auch Fischer in Ipsen, § 58, Rn. 11, der lediglich auf das Erfordernis einer ausdrücklichen Feststellung nach Art. 39 ChVN verzichtet, die im Rahmen des Kapitel VII aber ohnehin nicht zwingend erforderlich ist.
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
selbst belegt, der Anordnungen nach Art. 40 Ch VN immer nur aufgrund einer ausdrücklichen Feststellung nach Art. 39 ChVN getroffen hat. 69 Umgekehrt kann es jedoch nicht überzeugen, wenn angenommen wird, Art. 40 ChVN lasse lediglich die Abgabe von Empfehlungen zu,70 denn hiernach würde er sich weder in seinen Voraussetzungen noch in seinen Rechtswirkungen von der allgemeinen Befugnis zur Abgabe von Empfehlungen nach Art. 39 Hs. 2 ChVN unterscheiden; er wäre somit überflüssig. Die Unverbindlichkeit der Beschlüsse nach Art. 40 Ch VN ergibt sich auch nicht aus der Verwendung des Verbs "auffordern" in Art. 40 S. 2 ChVN, denn dieses kann ebensogut auf verbindliche wie auf unverbindliche Beschlüsse angewandt werden. Auch aus der Regelung in Art. 40 S. 3 ChVN, nach der der Nichtbefolgung vorläufiger Maßnahmen gebührend Rechnung zu tragen ist, folgt nichts anderes, denn diese Regelung hat Bedeutung nur im Rahmen der Entscheidung über eventuelle Zwangsmaßnahmen, sagt aber noch nichts über die Verbindlichkeit der vorläufigen Maßnahmen an sich aus. Es ist somit festzuhalten, daß Art. 40 Ch VN unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN die Fassung verbindlicher Beschlüsse filr die an einem internationalen Konflikt beteiligten Parteien zuläßt. 71 Auch nach diesem Verständnis ist die Bedeutung des Art. 40 ChVN allerdings nicht sehr hoch. Die Verhängung von Zwangsmaßnahmen impliziert notwendigerweise die Auferlegung gewisser Verhaltenspflichten rur die an dem Konflikt beteiligten Parteien, die an der Verbindlichkeit des Beschlusses nach Art. 25 ChVN teilhat. 72 Art. 40 Ch VN kommt daher letztlich nur klarstellende Funktion zu. Sowohl im Hinblick auf seine Voraussetzungen als auch auf seine Rechtswirkungen stellen sich beim ihm keine Probleme, die nicht auch im Zusammenhang mit der Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen auftreten würden. Die Aussagen zum Rechtsschutz gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen können daher weitgehend auf die Problematik der vorläufigen Maßnahmen nach Art. 40 ChVN übertragen werden; eine eigenständige Erörterung erübrigt sich.
69 Vgl. etwa SR-Res. 54 (1948) im Palästina-Konflikt; SR-Res. 598 (1987) zum iranisch-irakischen Krieg; SR-Res. 660 (1990) zur Kuwait-Krise. 70 So Nguyen QuoclDaillierlPellet, S. 907. 71 Simon in CotlPellet, S. 688; Krökel, S. 92; Tavernier, EJIL 1990,282; Dominice, EJIL 1991,93. 72 Sehr klar Klein, AVR 1991, 434; näher zum Verhältnis von Zwangsgewalt und Regelungsgewalt u. S. 257ff.
1. Abschnitt: Handlungsfonnen und Befugnisse
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bb) Atypische Handlungsfonnen Ausgenommen ist von Art. 41 S. 1 ChVN lediglich die Anwendung von Waffengewalt; auch die vorliegende Untersuchung befaßt sich dementsprechend nur mit dem Rechtsschutz gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen. Diese Beschränkung rechtfertigt sich aus der Tatsache, daß wenigstens hier mit Art. 41 ChVN eine relativ klare Rechtsgrundlage filr Maßnahmen des SR besteht, die einen guten Ausgangspunkt filr eine Analyse der Grenzen der Befugnisse des SR und ihrer Kontrolle im System der VN bietet. Daneben gibt es allerdings eine Grauzone militärischer und weiterer atypischer Maßnahmen des SR, die gerade in jüngster Zeit eine erhebliche praktische Bedeutung gewonnen hat, deren konkrete Grundlagen in der Charta aber äußerst problematisch sind. Die Probleme, die hiennit verbunden sind, sind zum Teil sehr spezieller Natur; gleichwohl kann die umfassende Darstellung des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen auch gewisse Grundlagen der Handlungsmöglichkeiten des SR in diesem Bereich militärischer und sonstiger Maßnahmen klären helfen. Reichweite und Grenzen dieser exemplarischen Stellung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen im Rahmen des Kapitels VII sind noch etwas näher zu präzisieren; dies setzt einen kurzen Überblick über die Probleme der sonstigen Handlungsfonnen des SR voraus.
(1) Die Einleitung militärischer Maßnahmen
Ein bedeutendes Problem ist, ob und in welcher Weise der SR unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN zur Einleitung militärischer Maßnahmen befugt ist. Grundsätzlich bestimmt Art. 42 S.l ChVN, der SR könne "mit Luft-, See- oder Landstreitkräften die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen durchfUhren". Jedoch konnte auf der Konferenz von San Francisco keine Einigkeit über die dem SR zur VerfUgung zu stellenden Streitkräfte erzielt werden. 73 Das Problem wurde daher vertagt mit der Regelung in Art. 43 I ChVN, wonach die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dem SR Streitkräfte zur VerfUgung zu stellen, nur nach Maßgabe noch zu schließender Sonderabkommen besteht. Diese Abkommen sind niemals zustandegekommen; es ist daher unstreitig, daß eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beteiligung an militärischen Zwangsmaßnahmen nicht besteht. 74 Die einzige Frage ist, ob hiervon auch die Dul73 Vgl. Russell/Muther, S. 467ff., 678ff.; Frowein in Simma, Art. 43, Rn. 4f. 74 R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 367; Halderman, S. 162; Jimenez de Arechaga, EPIL 5, 346.
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
dungspflicht etwaiger Adressaten berührt ist,75 mit anderen Worten, ob dem SR wenigstens eine Befugnis zur Ermächtigung zu militärischen Maßnahmen zusteht. Diese Frage ist von beträchtlicher praktischer Bedeutung, da der SR häufiger und auch gerade in jüngster Zeit von dem Mittel der Ermächtigung der Mitgliedstaaten zur Anwendung bewaffneter Gewalt Gebrauch gemacht hat. SRRes. 83 (1950) zum Korea-Konflikt beschränkte sich noch auf eine bloße Empfehlung zur Hilfe bei der Abwehr des Angriffs auf Südkorea und stellte daher keine Ermächtigung dar. 76 Eine solche war jedoch Res. 221 (1966), in der Groß-Britannien ausdrücklich ermächtigt wurde, gewisse Tanker abzufangen, die entgegen einiger Resolutionen des SR Öl fUr Südrhodesien geladen hatten; dem ähnelt SR-Res. 665 (1990), nach der zur Durchsetzung des Embargos gegen den Irak wegen dessen Invasion in Kuwait notfalls auch Gewalt gegen Schiffe auf See angewendet werden durfte. Seine deutlichste Ausprägung fand das Problem schließlich mit SR-Res. 678 (1990), in der die Mitgliedstaaten autorisiert wurden, "all necessary means" zur Beendigung der irakischen Besetzung Kuwaits einzusetzen, wovon unstreitig auch militärische Maßnahmen umfaßt waren. 77 Weitere Ermächtigungen zur Gewaltanwendung finden sich insbesondere im Zusammenhang mit dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. So enthielt SRRes. 787 (1992) eine Ermächtigung zur Anhaltung von Schiffen zum Zweck der Durchsetz-I.lng der in Res. 713 (1991) und 757 (1992) verhängten Embargomaßnahmen; SR-Res. 816 (1993) ermächtigte zur militärischen Durchsetzung des durch SR-Res. 781 (1992) verhängten Flugverbots über Bosnien. Sehr komplex war die in SR-Res. 836 (1993) enthaltene Regelung, durch die die Schutztruppe der Vereinten Nationen in Bosnien, UNPROFOR, zum Schutz der Sicherheitszonen ermächtigt wurde, "zur Selbstverteidigung, als Antwort auf die Bombardierung der Sicherheitszonen durch irgendeine der Parteien oder auf bewaffnete Einfälle in die Zonen ( ... ) die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich der Anwendung von Gewalt";78 zur Unterstützung der UNPROFOR in diesem Rahmen wurden zugleich auch die Mitgliedstaaten zur Anwendung aller erforderlicher Maßnahmen ermächtigt.79 Ende 1995 wurden diese Er75 Hierauf stellt ab Klein, AVR 1991,428. Zur Unterscheidung von Hand1ungs- und Duldungspflicht vgl. auch schon o. S. 33f. 76 Eine Maßnahme nach Kapitel VII verneinen auch Bindschedler-Robert, EPIL 12, 204; Bothe in Simma, nach Art. 38, Rn. 3. Dazu, daß Empfehlungen als solchen keine rechtfertigende Wirkung zukommt, vgl. o. S. 35ff. 77 Lavalle, NYIL 1992,5; Bothe, DuR 1991,9; Dominice, EJIL 1991,98. 78 Abs. 9 der Resolution. 79 Abs. \0 der Resolution.
1. Abschnitt: Handlungsformen und Befugnisse
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mächtigungen schließlich durch SR-Res. 1031 (1995) auf die zur Durchsetzung des Friedensabkommens von Dayton80 gebildete Schutztruppe IFOR übergeleitet.8 1 Im Falle Haitis finden sich schließlich ebenfalls Ermächtigungen zur Gewaltanwendung; zu nennen sind hier SR-Res. 917 (1994) zur Durchsetzung des gegen Haiti verhängten Handelsembargos sowie SR-Res. 940 (1994), in der die Mitgliedstaaten ermächtigt wurden, "alle notwendigen Mittel" einzusetzen, um den Abtritt der haitianischen Militärjunta zu erzwingen. Unabhängig von den Einzelheiten des jeweiligen Falls sind die Stellungnahmen zur Zulässigkeit einer Ermächtigung zur Gewaltanwendung äußerst kontrovers. Streitig ist schon die rechtliche Natur solcher Ermächtigungen. Teilweise werden sie als bloße Empfehlungen zur Ausübung des Rechts auf Selbstverteidigung ohne eigenständige rechtliche Bedeutung verstanden;82 andere sehen ihre Grundlage in dem in Art. 51 S. 1 ChVN enthaltenen Vorbehalt des Vorrangs der Maßnahmen des SR, den dieser durch die Ermächtigung beseitigen könne,83 oder schlagen eine Analogie zu Kapitel VIII der Charta vor.8 4 Soweit eine Einordnung der Ermächtigung zur Gewaltanwendung als Zwangsmaßnahme erfolgt, wird sie teilweise auf Art. 42 und 48 ChVN gestützt,85 teilweise aber auch - insbesondere wegen des Fehlens jeglicher Kontrolle des SR über die Aktionen - filr rechtswidrig gehalten. 86
80 General Framework Agreement Jor Peace in Bosnia and Herzegovina, ILM 35 (1996),89. 81 Abs. 14f. der Resolution. 82 Rostow, AJIL 1991,509; Klein, AVR 1991,431; Bothe in R.-J. Dupuy, S. 74; ConJorti, EJIL 1991, 111. 83 Lavalle, NYIL 1992,43: "lifting ofthe limiting c1ause". 84 Weckei, AFDI 1991, 192. 85 Fink, AVR 1991, 473f.; Greenwood, NZWehrr 1991, 55; Heinz/Philipp/Wolfrum, VN 1991, 126; Dominice, EJIL 1991, 105; Eitel, GYIL 1992, 185; Dastis Quecedo, REDI 1991, 113; Schachter, AJIL 1991,462. All diese Auffassungen können sich dabei auf eine Aussage des IGH im Fall Certain Expenses stützen, in der es heißt (ICJ Rep. 1962, 151, 167): "It cannot be said that the Charter has left the Security Council impotent in the face of an emergency situation when agreements under Artic1e 43 have not been conc1uded." 86 Andres Saenz, REDI 1991, 119f.; Le Bouthillier/Morin, CYIL 1991, 144f., 164ff.; kritisch auch Bothe, DuR 1991,9; Boustany, CYIL 1990, 379ff.; Weston, AJIL 1991, 533 (rechtspolitisch).
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
(2) Zwangsmaßnahmen mit humanitärer Zielsetzung
Verstärkte Tendenzen des SR zur EinfUhrung neuer Handlungsfonnen und Gestaltungsinstrumente sind insbesondere im Zusammenhang mit dem Problem der Wahrung der Humanität im bewaffneten internationalen Konflikt festzustellen. Ein deutliches Beispiel hierfUr ist etwa SR-Res. 794 (1992), mit der der SR die humanitäre Situationen im vom Bürgerkrieg heimgesuchten Somalia als Friedensbedrohung wertete 87 und "tätig werdend nach Kapitel VII der Charta" den Generalsekretär und die mit ihm kooperierenden Mitgliedstaaten ennächtigte, "alle erforderlichen Mittel einzusetzen, um so bald wie möglich ein sicheres Umfeld rur die humanitären Hilfsmaßnahmen in Somalia zu schaffen"88. Ähnlich gelagert ist auch SR-Res. 929 (1994), mit der Frankreich zu einer begrenzten Militärintervention mit humanitärer Zielsetzung in Ruanda ennächtigt wurde. Die ungewöhnliche Fonnulierung dieser Resolutionen mit ihren anscheinend ausschließlich humanitären Zielsetzungen wirft die Frage auf, ob es sich hierbei noch um eine klassische Zwangsmaßnahme im Sinne des Kapitel VII der Charta oder um eine im Entstehen begriffene Handlungsfonn "humanitärer Zwangsmaßnahmen" handelt; dementsprechend unklar sind auch die Rechtsgrundlagen und Voraussetzungen eines solchen Handelns des SR. Humanitäre Gesichtspunkte haben darüber hinaus auch in verschiedenen anderen Resolutionen des SR Ausdruck gefunden. Hinzuweisen ist etwa auf SRRes. 819 und 824 (1993), durch die mehrere Städte und Gebiete BosnienHerzegowinas zu "Sicherheitszonen" der Vereinten Nationen erklärt wurden. Eine weitere atypische Maßnahme stellen auch SR-Res. 808 und 827 (1993) dar, durch die der SR einen internationalen Gerichtshof zur Verfolgung von im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien begangenen Kriegsverbrechen errichtete.89 In gleicher Weise hat der SR später die Errichtung eines Kriegsverbrechertribunals rur im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Ruanda begangene Verbrechen beschlossen. 90 In beiden Fällen sind die rechtlichen Grundlagen des Handeins des SR jedoch durchaus problematisch. 91 Im Bericht des GS zum Jugoslawien-Tribunal wird hierzu lakonisch vertreten, "the Security Council would be establishing, as an enforcement measure under 87 Dazu u. S. 173. 88 Abs. 10 der Resolution. Vgl. dazu auch Gaja, RGDIP 1993, 305; Kühne, APuZ
1993,B 15/16, 14. 89 Zum Statut des Gerichts vgl. Report 0/ the Secretary-General Pursuant to Paragraph 2 0/ Security Council Resolution 808 (1993), ILM 32 (1993), 1163, 1192ff. 90 SR-Res. 955 (1994). 91 Hierzu auch Oellers-Frahm, FS Bemhardt, S. 736ff. (die Zuständigkeit des SR bejahend).
I. Abschnitt: Handlungsfonnen und Befugnisse
49
Chapter VII, a subsidiary organ within the terms of Art. 29 of the Charter, but one ofajudicial nature".92 In seiner Entscheidung vom 2. Oktober 1995 hat das Jugoslawien-Tribunal selbst nunmehr seine Errichtung in einer sehr weiten Auslegung als nichtmilitärische Zwangsmaßnahme nach Art. 41 ChVN gerechtfertigt.93
(3) Die Beendigung militärischer Zwangsmaßnahmen
Auch im Zusammenhang mit der Beendigung militärischer Zwangsmaßnahmen haben sich in der Praxis des SR neue Handlungsformen entwickelt. Zu nennen ist hier SR-Res. 687 (1991), in der der SR die Bedingungen rur die Einstellung der Kampfhandlungen gegen den Irak niedergelegt hat. Der Inhalt dieser Resolution ist von außergewöhnlicher Tragweite: sie verlangt die Respektierung der Grenze zwischen Irak und Kuwait und sieht zu diesem Zweck insbesondere den "Beistand" des Generalsekretärs bei der Demarkation der Grenze vor;94 errichtet eine demilitarisierte Zone, in der eine Beobachtertruppe zu stationieren ist;95 regelt die Zerstörung der atomaren, biologischen, chemischen sowie gewisser konventioneller Waffen des Irak und seinen Verzicht auf solche Waffen auch fiir die Zukunft;96 verpflichtet den Irak, keine Akte des internationalen Terrorismus zu begehen oder zu unterstützen;97 sowie verpflichtet den Irak zur Leistung von Reparationen, und errichtet zu diesem Zweck einen Fonds, der aus Erträgen der irakisehen Ölexporte zu speisen ist. 98 Die Resolution kommt in ihrem Inhalt einem Friedensvertrag gleich; der SR wird zum "orchestrateur supr~me de la paix"99, woran auch Art. 33 der Resolution nichts ändert, wonach der Irak seine "Annahme" der Bedingungen des Waffenstillstands zu erklären hatte. 100 Die Beurteilung dieser Resolution, die schon im SR
92 ILM 32 (1993), 1163, 1169.
93 International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, Prosecutor v. Tadic, ILM 35 (1996), 32, 45. Zu dieser Entscheidung Aldrich, AJIL 1996, 64ff. 94 Abs. 2, 3 der Resolution. 95 Abs. 4 der Resolution. 96 Abs. 8 bis 10 der Resolution. 97 Abs. 32 der Resolution. 98 Abs. 16, 18 der Resolution. 99 P.-M. Dupuy, RGDIP 1991,625. 100 P.-M. Dupuy a.a.O. spricht insofern von einem - wohlgemerkt bilateralen! "contrat d'adhesion", einer immerhin etwas ungewöhnlichen Figur. 4 Martenczuk
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
selbst umstritten war,101 war dementsprechend kontrovers,102 kann allerdings nur differenziert nach den einzelnen Regelungsgehalten erfolgen.
(4) Der Strukturwandel des bewaffneten internationalen Konflikts Insgesamt muß gesehen werden, daß all jene Fragen, die sich aus der zunehmend stärker werdenden Verwicklung des SR in bewafthete internationale Konflikte ergeben - gleich, ob sie nun die Einleitung oder Beendigung militärischer Zwangsmaßnahmen oder die Kontrolle der Beachtung der Gebote der Humanität im Rahmen der Kampfhandlungen betreffen - im Zusammenhang mit einem sehr viel grundsätzlicheren Strukturwandel des bewaftheten internationalen Konflikts steht, der wegfilhrt vom zwischenstaatlichen Krieg klassischer Prägung hin zu Formen internationaler Polizeiaktionen, von horizontalen zu vertikalen Formen internationaler Gewaltanwendung. Das Problem ist, daß in den VN weder die rechtlichen noch die tatsächlichen Voraussetzungen rur einen vollständigen Vollzug dieses Strukturwandels bestehen. Für die Auslegung der Kompetenzen des SR auf diesem Gebiet bringt dies erhebliche Schwierigkeiten mit sich; es sind Lösungen zu finden, die es einerseits dem SR ermöglichen, diesen Wandlungen im Rahmen seiner Möglichkeiten gerecht zu werden, andererseits aber auch mit der institutionellen Struktur der VN vereinbar bleiben. Diese Fragen würden den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Trotzdem kann die Untersuchung des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen auch rur die rechtliche Durchdringung jener Grauzonen der Kompetenzen des SR wichtige Grundlagen legen. Alle Maßnahmen nach Kapitel VII setzen im Grundsatz das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 Ch VN voraus; ungeschriebene Kompetenzen können daneben nur in sehr begrenztem Umfang bestehen. Damit entsteht die Frage, ob die fraglichen Maßnahmen nicht schon auf Grundlage der Art. 39 bis 42 ChVN zulässig sein könnten. Versteht man etwa die Ermächtigung zur Gewaltanwendung als Zwangsmaßnahme im Sinne des Art. 42, dann wäre das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 erforderlich. Aber auch rur SR-Res. 687 (1991) ließe sich erwägen,
\01 Vgl. S/PV. 2981, SCOR, 2981st meeting, passim (1991). 102 Für rechtmäßig halten die Resolution etwa Sur in R.-J. Dupuy, 22ff. und AFDI 1991,40; Klein, AVR 1991, 434f.; Lavalle, NYIL 1992,54-59; Eitel, GYIL 1992, 188; Weckei, AFDI 1991, 181f.; Marauhn, ZaöRV 1992, 783 (speziell zu den Fragen der Rüstungskontrolle); kritisch Bothe in R.-J. Dupuy, S. 76; P.-M. Dupuy a.a.O., 625f.
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
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ob sie nicht wenigstens in einigen ihrer Aspekte direkt auf Art. 39ff. ChVN gestützt werden könnte,I03 bevor man besondere "implied powers" des SR anerkennt. Die Untersuchung der Grenzen der Befugnis des SR zur Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen erhellt die allgemeinen Grundlagen der Zwangsgewalt des SR, auf denen jede speziellere Fragestellung gründen muß; die gerichtliche Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen wird so ein Stück weit zum Testfall rur die Reichweite der Kompetenzen des SR im allgemeinen.
2. Abschnitt
Quellen und Methoden Möglichkeit und Reichweite einer gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen bestimmen sich nach dem Völkerrecht, wie es sich aus den allgemein anerkannten und gern. Art. 38 I IGH-Statut auch vom IGH anzuwendenden Rechtsquellen ergibt. Dabei stehen naturgemäß die Regelungen der Charta - unter Einschluß des Status des IGH als integralem Bestandteil derselben (Art. 92 S.2 ChVN) - im Vordergrund. Gleichwohl ist noch etwas näher auf die Quellen der Untersuchung einzugehen, sowohl in Bezug auf die Methoden der Auslegung der Charta als auch auf die Bedeutung allgemeiner Grundsätze des Völker- wie des Landesrechts.
I. Die Auslegung der Charta
Die Charta der VN unterliegt als völkerrechtlicher Vertrag grundsätzlich den allgemeinen Regeln des Völkerrechts über die Auslegung von Verträgen, wie sie in Art. 31 bis 33 WÜV niedergelegt sind und gern. Art. 5 WÜV auch ftlr die Auslegung der Gründungsverträge internationaler Organisationen Anwendung finden. 104 Gern. Art. 31 I WÜV hat die Auslegung eines Vertrages "nach Treu 103 S. dazu näher u. S. 264ff. Nicht angängig ist es dagegen, zwar einerseits Art. 39 Ch VN rur maßgeblich zu halten, sich andererseits aber damit zufrieden zu geben, die Resolution genüge dem "broad aim of maintaining or restoring international peace and security"; so aber Schachter, AJIL 1991,457. 104 Zwar ist das WÜV mangels Rückwirkung (vgl. Art. 4 WÜV) nicht unmittelbar auch die Charta anwendbar, die einschlägigen Bestimmungen stellen jedoch weitgehend Völkergewohnheitsrecht dar (Bernhardt, EPIL 7,318) und sind insofern auch rur die Auslegung der Charta maßgeblich (Ress in Simma, Ausl. [So XLVff.], Rn. 18; Skubiszewski, FS Mosler, S. 892f.; Conforti, S. 12). 4*
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes" zu erfolgen; grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung sind kumulativ und gleichrangig im Auslegungsprozeß zu berücksichtigen. Der Wille der Vertragsparteien ist maßgeblich, wenn feststeht, daß diese einem Ausdruck eine bestimmte Bedeutung beizulegen beabsichtigten (Art. 31 IV WÜV); die Materialien der Vertragsverhandlungen - die sog. travaux preparatoires - sollen jedoch nur subsidiär zu den in Art. 31 WÜV genannten Methoden herangezogen werden (Art. 32 WÜV). Schon aus diesen allgemeinen Regeln ergibt sich eine gewisse Tendenz zu einer objektiven, mehr am Vertragszweck denn am Willen der Vertragspartner orientierten Auslegung. IOS Diese Tendenz verstärkt sich noch im Recht der internationalen Organisationen. I 06 Die Satzungen internationaler Organisationen haben allgemein eine Tendenz zur Emanzipation. Durch Errichtung einer institutionellen Struktur schaffen sie einen Rahmen, in dem das Recht der Satzung über lange Zeit hinweg und unter den verschiedensten Sachzwängen angewandt werden muß; dabei kann es leicht geschehen, daß die ursprünglichen Absichten der Vertragspartner etwas in den Hintergrund geraten. Dieses Problem findet sich auch in den VN, wo der Widerstreit objektiver und subjektiver Auslegungsprinzipien in der Debatte über die Frage wieder auftaucht, ob die Charta Vertrag sei oder Verfassung. 107 Aber dabei handelt es sich kaum um mehr als holzschnittartige Kurzformein; sie entheben nicht der Notwendigkeit, das relative Gewicht offenzulegen, das man den einzelnen Faktoren im Rahmen der Auslegung beizumessen bereit ist. Dabei wird der Konflikt subjektiver und objektiver Auslegungsgrundsätze nirgends deutlicher als bei der Frage der Heranziehung der travaux preparatoires einerseits, der Bedeutung der Praxis der Organe filr die Auslegung andererseits. Diese beiden Probleme stellen sich auch rur die vorliegenden Untersuchung; ihnen soll daher noch etwas nachgegangen werden.
1. Die Bedeutung der travaux preparatoires
Art. 32 WÜV läßt die Heranziehung der travaux preparatoires nur zu, wenn die Auslegung nach Art. 31 WÜV "die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel läßt" oder "zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis lOS Vgl. Heintschel von Heinegg in Ipsen, § 11, Rn. 5; Bernhardt, EPIL 7, 321. 106 E. Lauterpacht, RdC 1976 IV, 416ff. 107 Vgl. etwa Jimenez de Arechaga, S. 621, 637; Skubiszewski, FS Mosler, S. 892f.; MacDonald in MacDonald/Johnston, S. 889ff. (insb. zur Sicht sozialistischer Autoren).
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
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filhrt". Ist ihre Bedeutung somit schon allgemein eine subsidiäre, werden gegen ihre Heranziehung ftlr die Auslegung der Gründungsverträge internationaler Organisationen und insbesondere der Charta der VN noch weitere Einwände ins Feld gefilhrt. Sie seien zumeist unergiebig, da auf den Gründungskonferenzen viele Fragen gar nicht bedacht wurden, und bezüglich anderer kein Konsens bestand. 108 Besonders problematisch werde ihre Heranziehung durch den Beitritt neuer Mitglieder, deren Willen rur die Auslegung ja nicht minder relevant sei, durch die travaux preparatoires aber nicht ermittelt werden könne; dieses Problem stellt sich rur die VN, deren GrUndungsmitglieder mittlerweile nicht einmal ein Drittel der Gesamtmitgliedschaft ausmachen, in verstärktem Maße. \09 Die Rechtsprechung des IGH zur Frage der Heranziehung der travaux preparatoires läßt allerdings weder rur die Charta noch im allgemeinen eine klare Linie erkennen. 110 Zwar hat er in Fällen, in denen er den Wortlaut einer Bestimmung ftlr hinreichend klar erachtete, auf ihre Heranziehung verzichtet; 111 in anderen Fällen hat er jedoch durchaus auf die Materialien zurUckgegriffen,112 einmal sogar in einem Fall, in dem keine der Parteien der Streitigkeit ursprUngliches Mitglied des fraglichen Vertrags war. I 13 In keinem Fall hat allerdings die Heranziehung der travaux preparatoires zur Änderung eines mit anderen Mitteln gefundenen Ergebnisses gefilhrt; sie hatte stets nur bestätigende Funktion. 114 Alles in allem läßt sich aber auch nicht sagen, daß der IGH bei der Auslegung der GrUndungsverträge internationaler Organisationen eine besondere ZurUckhaltung an den Tag gelegt hätte. 115
108 Jimenez de Areehaga, S. 638. 109 Skeptisch gegenüber der Heranziehung der Materialien der Konferenz von San Francisco daher Skubiszewski, FS Mosler, S. 895; Jimenez de Areehaga, S. 638; Ress in Simma, Ausl. (S. XLVfT.), Rn. 24f.; Conforti, S. 13; MaeDonald in MacDonald/Johnston, S. 893; R. L. Bindsehedler, RdC 1963 I, 320f. 110 Hierzu ausführlich Simon, S. 368-373, 442f.; E. Lauterpaeht, RdC 1976 IV, 440-444. 111 Conditions 01 Admission, ICJ Rep. 1947/48, 57,63; Competenee lor Admission, ICJ Rep. 1950, 4, 8. In den Sondervoten bestand keine Einigkeit über die Bedeutung der travaux preparatoires; gegen eine Berücksichtigung sep. op. Azevedo, ICJ Rep. 1950, 22, 23; sep. op. Alvarez, ICJ Rep. 1947/48, 67, 68; dafür joint diss. op. Basdevant. Winiarski. MeNair. Read, ebd., 82, 87-90; diss. op. Zorieie, ebd., 94, 98; diss. op. Krylov, ebd., 107, 110fT. 112 Vgl.etwaIMCO,ICJRep.1960, 150, 161fT. 113 Aerial [neident, ICJ Rep. 1959,127, 140f. (zur Auslegung des Art. 36 V IGHStatut); vgl. dazu Ress in Simma, Ausl. (S. XLVfT.), Rn. 25. 114 Vgl. etwa IMCO, ICJ Rep. 1960, 150, 161. 115 E. Lauterpaeht, RdC 1967 IV, 440.
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I. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
Diese etwas ambivalente Praxis des IGH spiegelt letztlich nur die innere Problematik der Frage wider, die sich allzu kategorischen Festlegungen entzieht. Schon die Regelung in Art. 31 f. WÜV ist nicht frei von Widersprüchen, wenn in Art. 31 IV WÜV auf die besonderen Absichten der Parteien abgestellt wird, der Rückgriff auf die travaux preparatoires - sicherlich der naheliegendste und oftmals einzige Weg zur Feststellung der Absichten der Parteien - aber gerade voraussetzt, daß die Auslegung nach Art. 31 WÜV nicht zum Ziel gefiihrt hat. Aber auch die Feststellung von Ziel und Zweck des Vertrages (Art. 31 I WÜV) kann, soll sie nicht in bloßen Dezisionismus münden, die Ziele und Zwecke der Vertragsparteien nicht völlig außer acht lassen. 116 Der Beitritt neuer Staaten schließlich macht den Rückgriff auf die travaux ebenfalls nicht von vorneherein unmöglich; jedenfalls dort, wo ihnen - wie im Fall der VN diese zugänglich sind, ist es nicht unbillig, diesen Beitritt in Abwesenheit anderweitiger Erklärungen als Beitritt zu dem gesamten Normengeruge unter Einschluß seiner historischen Prägungen zu sehen. I 17 Letztlich ist allerdings zu vermuten, daß hinter der Abneigung gegen die Heranziehung der travaux preparatoires weniger rechtstechnische Bedenken stehen als vielmehr die Berurchtung, diese könnten als Instrument einer konservativen, der sachlichen Notwendigkeit einer Entwicklung und Anpassung des Rechts der internationalen Organisation nicht gerecht werdenden Auslegung mißbraucht werden. I 18 Aber eine zeitgemäße Auslegung des Rechts etwa der VN wird durch eine Heranziehung der travaux preparatoires ebensowenig ausgeschlossen wie durch ihre Ignorierung gewährleistet. Dort, wo der Text der Charta aus sich selbst heraus kein eindeutiges Ergebnis liefert, sind die Materialien der Konferenz von San Francisco eine Erkenntnisquelle, die zwar niemals teleologische Überlegungen ersetzen kann, aber doch immerhin zur Klärung der möglichen "policy choices" beiträgt. Der Verzicht auf diese Quelle macht die Auslegung nicht unbedingt fortschrittlicher; ganz sicher aber raubt er ihr Tiefe. In diesem Sinne werden auch in der vorliegenden Untersuchung die Materialien der Konferenz von San Francisco verwandt werden: nicht als Schlüssel zu einem allentscheidenden Parteiwillen, aber doch als wesentliches Instrument zur Erhellung von Ziel, Zweck und Struktur der VN.
116 117 ebenso 118
Dies gesteht auch Skubiszewski, FS Mosler, S. 894, zu. V gl. Hein/sehel von Heinegg in Ipsen, § 11, Rn. 8; Pollux, BYIL 1946, 71 f.; im Ergebnis Kopelmanas, S. 307f. Zu diesen Aspekten vgl. Simon, S. 377.
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
55
2. Die Praxis des Sicherheitsrats und die Auslegung der Charta
Der objektiv-teleologische Ansatz zur Auslegung der Charta läßt jedoch nicht nur die Bedeutung der travaux preparatoires zurücktreten, er hat auch Einfluß auf die Einstellung zur Praxis der Organe. Einem "dynamisch-objektiven Vertragsverständnis,,119 muß die zeitgenössische Praxis zwangsläufig als eine überzeugendere Manifestierung der Ziele und Zwecke der Charta erscheinen als der Wille ihrer Verfasser. Hieraus folgt ein gewisses Wohlwollen gegenüber der Praxis; die Spielräume der Organe werden größer, oder - umgekehrt gewandt - die Möglichkeit eines rechtswidrigen Handelns der Organe wird reduziert. 120 Rechtstechnisch wird dies erreicht, indem die Praxis des SR einer authentischen Auslegung der Charta gleichgestellt oder jedenfalls angenähert wird. So wird vertreten, Art. 25 ChVN, wonach die Beschlüsse des SR fUr die Mitgliedstaaten grundsätzlich verbindlich sind, gebe diesem ein Recht, zugleich auch über die relevanten Rechtsfragen mitzuentscheiden; die so gefundene Auslegung der Charta nehme an der Bindungswirkung der Beschlüsse des SR teil. 121 Im Ergebnis ähnlich ist die Auffassung, die einvernehmliche Praxis der ständigen Mitglieder des SR komme - insbesondere im Bereich des Kapitels VII - einer authentischen Interpretation nahe. 122 Es ist klar, daß diese Auffassungen auch rur den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung von größter Bedeutung sind. Wenn der SR zur authentischen Interpretation der Charta befugt wäre, dann würde die Praxis des SR letztlich zu ihrer eigenen Rechtsquelle; ein Rechtsschutz gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen käme von vornherein nicht in Betracht. Aber es fragt sich, ob ein Ergebnis von solcher Tragweite wirklich schon auf der Ebene von Auslegungsgrundsätzen begründet werden kann. Sicher ist anerkannt, daß der nachfolgenden Praxis eine erhebliche Bedeutung fUr die Auslegung von Verträgen zukommt; so bestimmt etwa Art. 31 III b WÜV, zu berücksichtigen sei "jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht". Aber aus dieser Regelung wird schon deutlich, daß die Berücksichtigung der nachfolgenden Praxis nur Mittel zur Ermittlung des übereinstimmenden Willens der Vertragsparteien ist, wie er sich im Laufe der Anwendung des Ver119 Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 27. 120 So ausdrücklich Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 5, 27. 121 Heintsehel von Heinegg, § 11, Rn. 3; Dieke/Rengeling, S. 68; ebenso allgemein rur die Organe der VN Kopelmanas, S. 271. Unklar die Wendung von Fink, AVR 1991, 471, wonach der SR "als authentischer Interpret des Kapitels VII eine Entscheidungsprärogative" habe. 122 Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 2.
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
trages gebildet hat. Es handelt sich hierbei um eine Ausprägung des Prinzips "eius est interpretari legern cuius condere"; 123 die sog. "authentische Interpretation" ist nichts anderes als das Recht der Vertragsparteien zur Vornahme formloser Vertragsänderungen. 124 Daraus folgt, daß von einer authentischen Interpretation durch nachfolgende Praxis nur dort gesprochen werden kann, wo tatsächlich eine Willensübereinstimmung sämtlicher Vertragsparteien besteht. 125 Insofern ist es schon ungenau, rur die Frage der authentischen Interpretation überhaupt auf die Praxis der Organe abzusteHen; maßgeblich ist vielmehr die Praxis der Mitgliedstaaten, wie sie sich unter Umständen anläßlich der Praxis dieser Organe manifestiert. Für die politischen Organe der VN gilt folglich noch immer das dictum des Richters Spender im FaH Certain Expenses: "their right to interprete the Charter gives them no power to alter it"126. Daran ändert auch das Erfordernis der Einstimmigkeit der fiinf ständigen Mitglieder des SR nach Art. 27 III Ch VN nichts; diese repräsentieren nicht die Gesamtheit der Staatengemeinschaft. Aufgrund politischer Affinitäten kann ihre Übereinstimmung zwar ein Indiz rur einen relativ breiten Konsens in der Staatengemeinschaft sein, hinreichend rur den Nachweis eines allumfassenden Konsenses ist dies jedoch noch nicht. Eine ganz andere Frage - der noch nachzugehen sein wird l27 - ist es dagegen, ob dem SR womöglich eine Kompetenz zur verbindlichen Auslegung der Charta zukommt. Eine solche Auslegung wäre zwar autoritativ; sie "authentisch" zu nennen verdeckt aber die Tatsache, daß sie gerade nicht Ausdruck der Willensübereinstimmung der Vertragsparteien im konkreten Fall ist. 128 Vorläufig genügt es festzuhalten, daß die Praxis des SR nicht selbst Rechtsquel\e ist, sondern sehr wohl am Maßstab der Charta gemessen werden 123 Vgl. dazu Delimitation de la /rontiere polono-tchecoslovaque (affaire de Jaworzina), cpn ser. B, no. 8, 37 (1923); ausruhrlich zu diesem Prinzip auch Voi'cu, S. 74ff.; Simon, S. 25. 124 E. Lauterpacht, RdC 1976 IV, 461; ausruhrlich zum Problem der Abgrenzung der Funktion der späteren Praxis rur Auslegung oder Vertragsgestaltung Karl, S. 204206; Voi'cu, S. 67ff. 125 Skubiszweski, FS Mosler, S. 898; R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 325; Schachter, RdC 196311, 186; Simon, S. 45; im Grundsatz ebenso Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 30; Heintschel von Heinegg in Ipsen, § 11, Rn. 2. 126 Sep. op. Spender, Certain Expenses, ICl Rep. 1962, 182, 197; ähnlich auch sep. op. Gros, Interpretation 0/ the Agreement 0/25 March 1951 between the WHO and Egypt. Advisory Opinion, ICl Rep. 1980,99, 104; vgl. auch Ciobanu in Gross, S. 246; Seidl-Hohenveldern/Loibl, Rn. 1543. Zweifelhaft dagegen Kahng, S. 94, der das Prinzip "eius interpretari cuius condere" anscheinend rur auf den SR übertragbar hält. 127 S.u. S. 143ff. 128 Eine klare Unterscheidung von "interpretation authentique" und "interpretation faisant foi" treffen auch Nguyen QuoclDaillierlPellet, S. 246; Simon, S. 25f.; Voi'cu, S. 133 ("interpretation organisationnelle"); anders dagegen Bernhardt, EPIL 7, 325.
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
57
muß. Die Auslegung der Charta hat sich dabei am effet utile, d.h. an einer optimalen Verwirklichung der Ziele der VN zu orientieren;129 aber das heißt nicht, daß oberstes Ziel der Auslegung die Legitimierung der Beschlüsse des SR um jeden Preis wäre. Die teleologische Auslegung ist nur eine von mehreren Methoden des Art. 31 I WÜV; die Wünschbarkeit eines Ergebnisses darf nicht dazu führen, daß konkrete Bestimmungen der Charta hinfällig werden. 130 Auch die Ziele der VN, wie sie etwa in Art. 1 ChVN niedergelegt sind, haben nicht die Kraft, den Rest der Charta zu überspielen. Sie stehen vielmehr in einem komplexen Wechselverhältnis zu den Regelungen im einzelnen, daß sich einer allgemeinen Fassung in abstrakte Grundsätze entzieht. 131 Es besteht weder eine Vermutung fiir132 noch gegen 133 Souveränitätsbeschränkungen; 134 Maßstab ist allein die sachgerechte Auslegung im Einzelfall. Dabei enthält die Praxis des SR durchaus eine "Botschaft", die den Interpreten auf sachliche Notwendigkeiten und Zwänge hinweisen kann,135 und in diesem Sinne wird sie in der vorliegenden Untersuchung auch berücksichtigt werden. Aber sie bleibt gleichwohl an die Charta gebunden, und damit behält die Frage nach einer gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen ihre Bedeutung.
11. Allgemeine Grundsätze des Rechts der internationalen Organisationen? Die Frage einer gerichtlichen Kontrolle der Beschlüsse und sonstigen Rechtsakte internationaler Organisationen ist kein ausschließliches Problem der VN; sie stellt sich vielmehr überall dort, wo eine internationale Organisation die Möglichkeit hat, verbindliche Beschlüsse mit Mehrheit und damit auch gegen 129 Vgl. Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 35; allgemein E. Lauterpacht, RdC 1976 IV, 420. 130 In diesem Sinne auch sep. op. Spender, Certain Expenses, ICJ Rep. 1962, 182, 197; diss. op. Winiarski, ebd., 227, 230; diss. op. Fitzmaurice, Namibia, ICJ Rep. 1971, 220, 280; diss. op. Gros, ebd., 323, 341; Simon, S. 450; Ress in Simma, Ausl. (S. XL Vff.), Rn. 34. l31 Dazu R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 320. 132 So auch Tunkin in R.-J. Dupuy, S. 267. 133 So aber R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 321; Cavare, RdC 1952 I, 255; vgl. auch die decl. Lachs, /CAO-Council, ICJ Rep. 1972, 72, 74, der vom Grundsatz einer restriktiven Auslegung von Souveränitätsbeschränkungen ausgehend eine extensive Auslegung von Appellationsmöglichkeiten fordert. 134 Conforti, S. 13. 135 Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 32.
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l. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
den Willen einzelner Staaten zu fassen. 136 Damit entsteht allerdings zugleich die Gefahr, daß die überstimmten Staaten die Rechtsverbindlichkeit der Beschlüsse durch die Geltendmachung ihrer Satzungswidrigkeit zu bezweifeln versuchen. Angesichts dieses Problems ist schon lange die Forderung nach einer gerichtlichen Kontrolle der Beschlüsse internationaler Organisationen erhoben worden. 137 Die Frage hat unter dem Titel "Recours judiciaire a instituer contre les decisions d'organes internationaux" auch das Institut de Droit International beschäftigt und filhrte im Jahr 1957 zur Annahme einer entsprechenden Resolution, in der allerdings vor allem die Unmöglichkeit der Verallgemeinerung betont wurde. 138 Die Frage ist nun, ob sich im Hinblick auf dieses allgemeine Problem des Rechts der internationalen Organisationen auch allgemeine Grundsätze herausgebildet haben, die auf das Problem des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen übertragen werden könnten.
1. Rechtsschutz gegen die Beschlüsse internationaler Organisationen: eine Bestandsaufnahme
Dies setzt zunächst einen Überblick über die Möglichkeit eines Rechtsschutzes gegen die Beschlüsse internationaler Organisationen im allgemeinen voraus. 139 Von besonderem Interesse sind dabei Verfahrensarten, die eine direkte Anfechtung der fraglichen Beschlüsse ermöglichen; diese Lösung fmdet sich im gegenwärtigen Recht der internationalen Organisationen jedoch nur höchst selten verwirklicht. 140 Eine - angesichts der großen Weite ihrer Kompetenzen auch konsequente - Ausnahme stellt hier die Europäische Gemeinschaft 136 D. Bindschedler, RdC 196811, 539f. 137 Vgl. etwa D. Bindschedler, RdC 1968 11, 539; Furukawa, FS Reuter, S. 295; Gros, FS Scelle, S. 272; Schlochauer, S. 25f.; eine klare Formulierung des Problems findet sich schon im Jahre 1933 bei Kaasik, S. 321f. In eine ähnliche Richtung könnten auch Vorschläge gehen, internationalen Organisationen die Parteiflihigkeit vor dem IGH gern. Art. 34 I IGH-Statut zuzugestehen (vgl. etwa Jenks, International Adjudication, S. 4, 223f., der insofern allerdings gerade keine obligatorische Gerichtsbarkeit vorsehen wollte, S. 209). 138 AIDI 47 11 (1957), 476; vgl. auch die Berichte des Berichterstatters Wilhelm Wengier, AIDI 44 I (1952), 224ff., und 45 I (1954), 265ff. Zu diesen und anderen Arbeiten wissenschaftlicher Gesellschaften zum Thema vgl. Bedjaoui, S. 69ff.; E. Lauterpacht, FS McNair, S. 92-94. 139 Einen solchen geben auch Leben, S. 274-280; E. Lauterpacht, FS McNair, S. 94-99; weitgehend überholt dagegen Schlochauer, S. 12-21; Gros, FS Scelle, S. 268f. Allgemeiner zur Streitbeilegung in internationalen Organisationen D. Bindschedler, RdC 196811, 453ff.; Audeoud, RGDIP 1977, 945ff. 140 D. Bindschedler, RdC 196811,506.
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
59
dar, in der eine umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der wichtigsten Organe durch den EuGH gewährleistet ist. 141 Allerdings ist die Europäische Gemeinschaft hier wie auch sonst im Völkerrecht weitgehend ohne Gegenstück; 142 und selbst soweit in anderen internationalen Organisationen gerichtliche Kontrollfunktionen vorgesehen sind, dienen diese in der Regel nicht der Kontrolle der politischen Organe. Für begrenzte Sachgebiete gibt es in einigen Sonderorganisationen der VN, namentlich der ICA0143 und der ILOI44, die Möglichkeit einer Art Berufung zum IGH.145 Auch in der neuen Welthandelsorganisation besteht die Möglichkeit einer Berufung gegen PanelEntscheidungen an einen ständigen "Appellate Body" mit justiziellem Charakter. 146 In all diesen Fällen betrifft die zu überprüfende Entscheidung der inter-
141 Gern. Art. 173 EWGV (entsprechend Art. 146 I EAGV, 33 I, 38 I EGKSV) überwacht der EuGH die Rechtmäßigkeit des Handeins des Rates, der Kommission sowie des Europäischen Parlaments und ist zu diesem Zweck zuständig für Klagen, die ein Mitgliedstaat oder ein Organ "wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung dieses Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmißbrauchs erhebt"; gern. Art. 174 I EWGV (entsprechend Art. 147 I EAGV; vg!. auch Art. 34 I EGKSV) erklärt der EuGH den angegriffenen Beschluß für nichtig. Die Frage einer inzidenten Kontrolle ist geregelt in Art. 184 EWGV (Art. 156 EAGV; vg!. auch Art. 41 EGKSV). Gern. Art. L des Vertrags über die Europäische Union erstreckt sich die Zuständigkeit des EuGH allerdings nicht auf jene Vorschriften über die Europäische Union, die nicht zugleich Teil der Gemeinschaftsverträge geworden sind; insbesondere die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres unterliegen damit keiner gerichtlichen Kontrolle. 142 D. Bindschedler, RdC 196811, 502. 143 Nach Art. 84 S. 1 Chicago-Konvention (Convention on International Civil Aviation, UNTS 15, 295; BGB!. 1956 11, 412) entscheidet der Rat der ICAO über Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern über die Auslegung der Konvention; gegen seine Entscheidung ist gern. Art. 84 S. 3 ein "appeal" zum IGH möglich, dessen Entscheidung bindend ist (Art. 86 S. 2 der Konvention). In diesem Verfahren ist bereits eine Entscheidung ergangen (lCAO-Council, ICJ Rep. 1972,46), übrigens das erste und bislang auch einzige Mal, daß der IGH als Appellationsinstanz tätig geworden ist. 144 Art. 29 11 ILO-Satzung (Constitution olthe International Labour Organisation, UNTS 15, 35; BGB!. 1957 11, 317) sieht die Anrufung des IGH gegen Berichte von Untersuchungskommissionen vor, die gern. Art. 26-28 ILO-Satzung bei Vorwürfen des Verstosses gegen ILO-Konventionen tätig werden. Soweit dies auf Veranlassung des Governing Body der ILO geschieht (Art. 26 IV ILO-Satzung), handelt es sich auch um eine Streitigkeit allein zwischen Organisation und Mitgliedstaat; damit wird allerdings angesichts des Art. 34 I IGH-Statut zweifelhaft, ob Art. 29 11 ILO-Satzung dem IGH eine solche Zuständigkeit überhaupt wirksam übertragen kann (vg!. D. Bindschedler, RdC 196811,498; Audeoud, RGDIP 1977, 955f.; Seyersted, ZaöRV 1964,98). 145 Zum Verfahren in diesen Fällen vg!. Petren, Comunicazioni e studi 1975, 687ff. 146 Vg!. Agreement Establishing the World Trade Organization, Annex 2, Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement 01 Disputes, Art. 17 (lLM 33 [1994], 1125).
I. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
60
nationalen Organisation jedoch eine im Ausgang regelmäßig 147 zwischenstaatliche Streitigkeit; damit trägt die Tätigkeit des gerichtlichen Organs mehr den Charakter eines zweiten Rechtszuges als einer Rechtskontrolle der politischen Organe. Zu erwähnen sind schließlich noch die Verwaltungsgerichte der VN148 und der ILOI49, deren Zuständigkeit sich aber auf dienstrechtliche Streitigkeiten beschränkt. 1m übrigen kann eine Kontrolle der BeschlUsse der internationalen Organisationen nur über die allgemeinen Mittel der Streitbeilegung erfolgen. So sind z.B. die meisten Sonderorganisationen der VN gern. Art. 96 11 ChVN zur Einholung von Gutachten des IGH ermächtigt worden;150 das gutachtliche Verfahren ist allerdings nur eingeschränkt zur Kontrolle der BeschlUsse internationaler Organisationen geeignet, da es weder von den Mitgliedstaaten selbst eingeleitet werden kann 151 noch zu verbindlichen Entscheidungen fllhrt. 152 Der Versuch einer teilweisen Behebung dieser Unzulänglichkeiten ist gemacht worden filr Gutachten, die eine Überprüfung der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte von VN und ILO zum Gegenstand hatten; 153 filr die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse internationaler Organisationen im allgemeinen ist dieser Weg jedoch nicht beschritten worden. 154
147 Ausnahmen sind möglich im Rahmen der ILO, s.o. Fn. 144. 148 Vgl. hierzu Bastid, EPIL 5, 287f. 149 Dieses ist auch für die meisten anderen Sonderorganisationen der VN zuständig; vgl. Knapp, EPIL 5, 94ff. 150 Einen Überblick gibt Audeoud, RGDIP 1977,980-982. 151 Furukawa, FS Reuter, S. 302. 152 Furukawa a.a.O.; Audeoud, RGDIP 1977,985-987. 153 Dies geschah insbesondere durch Vereinbarung einer verbindlichen Wirkung des Gutachtens im Innenverhältnis; der IGH hat diese Gestaltung gebilligt (Administrative Tribunal oJthe International Labour Organisation, IC] Rep. 1956,77, 84). Die Einführung dieser "recours consultatifs speciaux" (Furukawa, FS Reuter, S. 302) war eine Reaktion auf die Entscheidung des IGH im UNAT-Fall, ICI Rep. 1954,4, nach der die GV ansonsten an Entscheidungen des von ihr eingerichteten Verwaltungsgerichts gebunden war. 154 Daß über das gutachtliche Verfahren unter Umständen durchaus eine sehr weitreichende und effektive Kontrolle durch den IGH ermöglicht werden könnte, belegt Art. 96 der - nie in Kraft getretenen - Havana Charter Jor the International Trade Organization (abgedruckt bei Clair Wilcox, A Charter for World Trade, New York 1949, 227ff.), der lauten sollte: "(1)[ ... ]
(2)Any decision of the Conference under this Charter shall, at the instance of any Member whose interests are prejudiced by the decision, be subject to review by the International Court of lustice by means of arequest, in appropriate form, for an advisory opinion pursuant to the Statute ofthe Court.
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
61
Ansonsten bleibt noch die Alternative einer inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren. Eine Reihe von Sonderorganisationen sehen die Befassung des IGH oder von Schiedsgerichten mit Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung ihrer Gründungsverträge vor; ISS diese Bestimmungen sind jedoch ohne jede praktische Bedeutung geblieben. IS6 Abschließend und gleichsam als Kontrapunkt ist noch auf die Finanzinstitutionen der Weltbankgruppe hinzuweisen, die die Beilegung von Streitigkeiten zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern dem Direktorium übertragen, gegen dessen Entscheidung der Gouverneursrat angerufen werden kann, dessen Entscheidung dann aber endgültig ist. IS7 Den politischen Organen dieser Organisationen wird damit ein Letztentscheidungsrecht zugebilligt; jede gerichtliche Kontrolle ist ausgeschlossen. IS8
(3)[ ... ] (4 )Pending the delivery of the opinion of the Court, the decision of the Conference shall have full force and effect; provided that the Conference shall suspend the operation of any such decision pending the delivery of the opinion, where in the view of the Conference damage difficult to repair would otherwise be caused to a Member concemed. (5)The Organization shall consider itself bound by the opinion of the Court on any question referred by it to the Court. In so far as it does not accord with the opinion of the Court, the decision in question shall be modified." Diese Bestimmung (zu ihr auch E. Lauterpacht, FS McNair, S. 97; Gros, FS Scelle, S. 269-271) hätte über den Umweg des gutachtlichen Verfahrens eine umfassende Kontrolle durch den IGH gewährleistet. ISS Vg\. etwa Constitution of the World Health Organization (UNTS 14, 186; BGB\. 1974 11, 43), Art. 75; Convention of the World Metereological Organization (UNTS 77, 143; BGB\. 1967 11, 1214), Art. 29; Convention ofthe International Maritime Organization (UNTS 289, 48; BGB\. 198211,873), Art. 65; sowie Art. 37 IILOSatzung (s.o. Fn. 144); vg\. dazu auch Audeoud, RGDIP 1977,951. 156 Morgenstern, BYIL 1976/77,254. 157 Vg\. Abkommen über den Internationalen Währungsfonds (UNTS 2, 40; BGB\. 195211,638), Art. 29 a, b; Abkommen über die Internationale BankjUr Wiederaufbau und Entwicklung (UNTS 2, 134; BGB\. 1952 11, 664), Art. IX a, b; sowie einige weitere globale und regionale Einrichtungen (Nachweise bei Schermers/Blokker, § 1356). 158 So ausdrücklich Fawcett, BYIL 1960, 328 zum IWF: "the concept of judicial control is incompatible with the design of the Fund"; ebenso Audeoud, RGDIP 1977, 969. A.A. dagegen Mann, BYIL 1968/69, 15f., der es rur ein allgemeines Rechtsprinzip hält, daß ein Gericht niemals an der Überprüfung einer Entscheidung einer nichtgerichtlichen Instanz gehindert sei; ähnlich auch Leben, S. 273 ("nemo iudex in sua causa" als allgemeines Rechtsprinzip ).
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I. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
2. Das Fehlen allgemeiner Standards gerichtlicher Kontrolle
Als Ergebnis dieser Bestandsaufhahme ist festzuhalten, daß Fonnen gerichtlichen Rechtsschutzes gegen die Akte internationaler Organisationen im gegenwärtigen Völkerrecht nur in Ansätzen entwickelt sind. Damit ist die Ausgangslage nicht günstig fiir eine Übertragung allgemeiner Grundsätze des Rechts der internationalen Organisationen auf das Problem des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen. Ohnehin ist der Gründungsvertrag einer jeden internationalen Organisation zunächst aus sich selbst heraus auszulegen; das würde jedoch noch nicht ausschließen, daß sich rur gewisse sachliche Probleme einheitliche Lösungen herausbilden, die dann auch zu einer einheitlichen Vertragsauslegung ftlhren könnten. 159 Eine solche "cross-fertilization" 160 im Recht der internationalen Organisationen setzt aber voraus, daß rur allgemeine Probleme auch allgemeine Antworten anerkannt werden. Dies ist jedoch fiir die Kontrolle der Rechtsakte internationaler Organisationen kaum der Fall. Gewisse Standards gerichtlicher Kontrolle haben sich unter dem Einfluß der Verwaltungsgerichte von ILO und VN sowie des IGH im Bereich des Dienstrechts der internationalen Organisationen herausgebildet; 161 aber diese lassen sich kaum auf die Probleme der Kontrolle im organisationsexternen Bereich übertragen. Gerade hier fehlen mithin einheitliche Lösungen, und dies ist eine der Schwierigkeiten, die jede Auseinandersetzung mit der Frage eines Gerichtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen überwinden muß. 162 Allgemeine Grundsätze des Rechts der internationalen Organisationen lassen sich insofern nicht heranziehen; Möglichkeit und Umfang einer gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen müssen sich grundsätzlich aus der Charta selbst ergeben.
159 Vgl. E. Lauterpacht, RdC 1976 IV, 396; Ress, ZaöRV 1976,248; Schwarzenberger, S. 25f., der auf die "typical intentions" der Parteien abstellt. Ob man daneben auch ein allgemeines Recht der internationalen Organisationen auf völkergewohnheitsrechtlicher Basis anerkennen soll (dagegen etwa diss. op. Badawi, Reparation lor Injuries Suffered in the Service 01 the United Nations, Advisory Opinion, ICJ Rep. 1949, 205; Seidl-HohenveldernlLoibl, Rn. 1512), braucht hier nicht entschieden zu werden. 160 E. Lauterpacht a.a.O. 161 Vgl. hierzu etwa Jenks, International Organizations, S. 85-101. So finden sich z.B. in der Entscheidung im Fall Administrative Tribunal 01 the International Labour Organization, ICJ Rep. 1956, 77, 95 Erörterungen zu der Frage, ob ein Verwaltungsgericht auch Ermessensentscheidungen überprüfen kann (s. dazu aus rechtsvergleichender Sicht diss. op. Badawi, ebd., 123, 132ff.). 162 So auch Gowlland-Debbas, AJIL 1994,670.
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
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III. Allgemeine Grundsätze des Landesrechts? Im nationalen Recht hat die im Vergleich zu den internationalen Organisationen ungleich größere Intensität staatlicher Machtausübung regelmäßig auch zu einem weitaus entwickelteren Rechtsschutzsystem gefilhrt. Angesichts der Kargheit der völkerrechtlichen Regelung ist die Versuchung daher groß, hier mit Analogien zum Landesrecht zu arbeiten. 163 Aber Völkerrecht und Landesrecht stellen grundsätzlich getrennte Rechtskreise dar; die rechtliche Zulässigkeit etwaiger Anleihen im Landesrecht bedarf daher der Untersuchung. Dazu ist auf die Bedeutung der Rechtsvergleichung rur die Charta der VN im allgemeinen und filr das Problem des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen im besonderen einzugehen.
1. Nationales öffentliches Recht und die Charta der Vereinten Nationen
Gern. Art. 38 I c IGH-Statut wendet der IGH "die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze" an; es ist anerkannt, daß es sich hierbei insbesondere um dem Landesrecht entstammende Grundsätze handeln kann. 164 Im klassischen Völkerrecht handelte es sich dabei zumeist - der Gleichordnung der Staaten entsprechend - um dem privaten Recht entstammende Grundsätze. Mit dem Aufkommen internationaler Organisationen haben jedoch subordinationsrechtliche Strukturen im Völkerrecht Einzug gehalten; 165 damit wird auch das nationale öffentliche Recht in stärkerem Maße zu einer möglichen Quelle völkerrechtlicher Rechtsgewinnung. 166 Dabei ist die Situation allerdings in den internationalen Organisationen insofern etwas anders als im klassischen Völkerrecht, als hier die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Rahmen, nicht in Abwesenheit vertraglicher Regelungen stattfmdet. 163
So ziehen etwa amerikanische Autoren häufig Parallelen zum beruhmten Fall
Marbury v. Madison (5 US [I Cranch] 137 [1803]), in dem der Supreme Court der
Vereinigten Staaten erstmals seine Befugnis festgestellt hatte, die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen zu überprüfen (vgl. nur Franck, AJIL 1992, 519 und in AINauimi/Meese, S. 627f.; Reisman, AJIL 1993, 92f.). 164 Vgl. Mosler, EPIL 7, 95; Verdross/Simma, § 606. In der Praxis völkerrechtlicher Gerichte sind rechtsvergleichende Untersuchungen allerdings eher selten; vgl. Bothe, ZaöRV 1976, 283-285; BotheiRess in Butler, S. 59; Mosler, FS Verdross, S. 403. Eine Ausnahme ist insofern die diss. op. Badawi im Fall Administrative Tribunal 0/ the International Labour Organisation (s.o. Fn. 161). 165 Vgl. Mosler, EPIL 7, 100. 166 Dazu ausflihrlich Ress, ZaöRV 1976, 229ff. sowie BothelRess in Butler, S. 5357; Zemanek, ZaöRV 1964, 453ff.; Guggenheim, FS Wehberg, S. 133ff.; vgl. auch Hailbronner, ZaöRV 1976, 224.
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
Von großer praktischer Bedeutung ist dieser Unterschied aber nicht; auch im Rahmen der Vertragsauslegung ist es denkbar, völkerrechtliche Begriffe im Licht entsprechender landesrechtlicher Grundsätze auszulegen. 167 Direkt dem Landesrecht entlehnte Begriffe enthält die Charta zwar nicht; 168 landesrechtliche Prinzipien kommen aber in ergänzender Form in Betracht. 169 Auch in den VN stehen jedenfalls grundsätzlich die allgemeinen Rechtsgrundsätze als "Nabelschnur" zur Fruchtbarmachung des höheren Entwicklungsstands des Landesrechts 170 zur Verftlgung.
2. Nationales öffentliches Recht und die Rechtskontrolle des Sicherheitsrats
Sehr viel problematischer ist jedoch die Frage, unter welchen Voraussetzungen denn von allgemeinen Rechtsgrundsätzen gesprochen werden kann, die der Übertragung auf das Problem des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen flthig wären. Die Voraussetzungen sind hier keine geringeren als auch sonst bei Art. 38 I c IGH-Statut: "allgemein" ist ein Rechtsgrundsatz nur dann, wenn er der ganz überwiegenden Anzahl der Rechtsordnungen unter Einschluß aller wesentlichen Rechtssysteme der Welt (vgl. Art. 9 IGHStatut) gemein ist. 171 Die so gefundenen Grundsätze müssen zudem auch übertragbar sein; dies setzt die wesentliche Gleichheit der sozialen Tatbestände voraus. In Die Hürden fUr eine Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze in den VN sind damit beträchtlich,173 doch verschärft sich diese Problematik noch fUr die Frage des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen. Denn der Rechtsschutz gegen Hoheitsakte ist auch im nationalen Recht ein ebenso komplexes wie kontroverses Phänomen. Es wirft Grundfragen des Verhältnisses 167 Hailbronner ZaöRV 1976,222,224; Bothe, ZaöRV 1976, 18Of.; Ress, ZaöRV 1976, 258; Zemanek, ZaöRV 1964,466; Mosler, FS Verdross, S. 385. Lammers, GS van Panhuys, S. 65, spricht von einer "interpretation function" der Rechtsvergleichung. 168 Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 14. 169 Zu dieser ergänzenden Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze vgl. Ress, ZaöRV 1976, 262; Seidl-HohenveldernlLoibl, Rn. 1613; Schermers/Blokker, § 1336. Ob es sich dabei um Rechtsgrundsätze im Sinne des Art. 38 I c IGH-Statut handelt oder um der internationalen Organization eigene, kann hier dahinstehen (vgl. dazu Ress, ZaöRV 1976,272; BotheiRess in Butler, S. 57). 170 Formulierung von Verdross/Simma, § 606. 171 Mosler, EPIL 7, 95; Verdross/Simma, § 602. In Zemanek, ZaöRV 1964,459. 173 Skeptisch daher Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 14; zur technischen Problematik universeller Rechtsvergleichung Ress, ZaöRV 1976, 230.
2. Abschnitt: Quellen und Methoden
65
von Staat und Einzelnem auf, die ihrer Natur nach hochpolitisch und damit einer Übertragung in Form allgemeiner Grundsätze nur schwer flihig sind. 174 Aber selbst wenn man insofern nur auf die Regelungen in den westlichen Demokratien Bezug nähme, in denen ein Konsens über jene Fragen noch eher vorausgesetzt werden kann, stößt die Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze auf erhebliche Probleme. Denn Möglichkeit und Reichweite gerichtlicher Kontrolle staatlicher Hoheitsakte im nationalen Recht lassen sich nicht in einem einheitlichen Standard gerichtlicher Kontrolldichte zusammenfassen; 175 es handelt sich vielmehr um ein Problem, das auf einer Vielzahl dogmatischer Ebenen und in großer Nuanciertheit geregelt ist. 176 Es ist schon fraglich, ob man ftlr etwaige Analogien 177 mehr auf die Ebene des Verfassungs- oder aber des Verwaltungsrechts abstellen sollte; aufgrund der mangelnden Hierarchisierung der VN entzieht sich der SR hier letztlich einer klaren Einordnung. 178 Allgemeine Prinzipien des Landesrechts sind zudem oftmals von geringer Aussagekraft. Die faktische Reichweite gerichtlicher Kontrolle im nationalen Recht ergibt sich erst aus einer Synthese von verfassungsrechtlichen Grundsätzen, Fragen der Justiziabilität, verfahrensrechtlichen Möglichkeiten und materiellrechtlichen Ermessensspielräumen; 179 sie erschließt sich damit oftmals nur über den Vergleich der Ergebnisse im konkreten Fall. Die Aufgabe der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit läßt sich jedoch nur schwer mit den Aufgaben irgendeines innerstaatlichen Organs gleichsetzen; damit aber entfällt weitgehend die Möglichkeit, konkrete Lösungsansätze des nationalen Rechts zu übertragen. 180 Der Versuch, landesrechtliche Regelungen als allgemeine Rechtsgrundsätze unter Beachtung aller Voraussetzungen des Art. 38 I c IGH-Statut zur Anwendung auf die vorliegende Fragestellung zu bringen, ist damit mit erheblichen Problemen behaftet; zugleich würde er auch ein Maß rechtsvergleichender Untersuchungen voraussetzen, das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Das 174 Zur Problematik der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze auf hochpolitische Fragen vgl. Ress in Simma, Ausl. (S. XLVff.), Rn. 14 und ZaöRV 1976, 250; Hailbronner, ZaöRV 1976, 198. 175 Vgl. hierzu No/te in Frowein, S. 278ff., der selbst bei einem engen Verständnis solcher Kontrolldichtestandards skeptisch bezüglich ihrer normierenden Funktion bleibt. 176 So tUr die Problematik gerichtlicher Ermessenskontrolle Brewer-Carias, S. 36; Klinghoffer, Annuario 1968, 18. 177 Zu der Frage, ob man hier überhaupt von "Analogien" im technischen Sinne sprechen sollte, vgl. Bothe, FS Mosler, S. 117. 178 Vgl. E. Lauterpacht, S. 39; Herdegen, VandJTL 1994, 15t. 179 Vgl. auch Nolte in Frowein, S. 278ff., der einen so weit gefaßten Begriff des Kontrolldichtemaßstabs rur die rechtsvergleichende Untersuchung ablehnt. 180 Skeptisch auch Caflisch in AI-NauimilMeese, S. 637. 5 Martenczuk
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1. Teil: Systematik, Quellen und Methoden
heißt jedoch nicht, daß Analogien zum Landesrecht auf den einzelnen Ebenen dieser Untersuchung gänzlich unterbleiben müßten. Bedingt durch die nur sehr rudimentären Ansätze einer Regelung im allgemeinen Völkerrecht ist es nahezu unvermeidlich, daß der Völkerrechtler sich dem Problem der gerichtlichen Kontrolle mit einem begrifflichen Instrumentarium nähern wird, das auch seiner heimatlichen Rechtsordnung entlehnt ist. Dies muß durchaus kein Fehler sein; das Landesrecht ist auch da, wo es nicht zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen erstarkt, eine Quelle der Inspiration. 181 Nur muß man sich der Relativität dieses Begriffsverständnisses bewußt bleiben. Soweit in dieser Arbeit Hinweise zu parallelen Problemen des nationalen Rechts erfolgen, geschieht dies in der Absicht, Regelungsalternativen und vielleicht auch Ansätze ft1r eingehendere Untersuchungen aufzuzeigen; aber Maßstab der Entscheidung bleibt allein die Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck der völkerrechtlichen Regelung, im vorliegenden Fall also vor allem der Charta der Vereinten Nationen. Auf dieser Grundlage ist somit nunmehr auf das Problem der Rechtskontrolle des Sicherheitsrats durch den IGH einzugehen.
181 Vgl. Bothe, ZaöRV 1976, 291 und FS Mosler, S. 117; Lammers, GS van Panhuys, S. 75, spricht insofern von einer "persuasive function" der Rechtsvergleichung.
2. Teil
Prozessuale Fragen einer Rechtskontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen Reichweite und Grenzen einer Rechtskontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen hängen zunächst davon ab, welche prozessualen Möglichkeiten der IGH überhaupt hat, die Gültigkeit der Beschlüsse des SR zu überprüfen. Hierzu ist zunächst auf die Stellung des IGH im System der VN im allgemeinen einzugehen; anschließend sind einzelne Ansätze fUr einen Rechtsschutz gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen zu erörtern, bevor schließlich die Probleme der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren untersucht werden.
I. Abschnitt
Der 1GB im System der Vereinten Nationen In jeder Rechtsordnung stellt sich die Frage, wer im Falle von Streitigkeiten zur verbindlichen Auslegung des Rechts befugt sein soll. Die Antwort, die diese Frage im System der Vereinten Nationen gefunden hat, stellt den allgemeinen Rahmen dar, den jede Kontrolle der Beschlüsse des SR zu wahren hat; sie soll daher in der Folge näher dargestellt werden.
I. Der IGH und die Auslegung der Charta Nach Art. 7 I ChVN ist der IGH ein Hauptorgan der Vereinten Nationen; gern. Art. 92 S. I ChVN und Art. I IGH-Statut ist er das "Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen". Trotz dieser Bezeichnungen wird dem IGH jedoch mit keiner Bestimmung der Charta eine allgemeine Zuständigkeit zur Auslegung der Charta übertragen. Aus der Stellung als Hauptrechtsprechungsorgan folgt noch nicht, daß der Gerichtshof auch die materiellen Kompetenzen eines Verfassungsgerichts hätte; fUr die Zuständigkeit des IGH gilt vielmehr das Enumerationsprinizip. Die Kompetenzen des IGH 5'
68
2. Teil: Prozessuale Fragen
sind jedoch nicht zahlreich: gern. Art. 96 ChVN und Art. 65 IGH-Statut ist er zuständig fUr die Erstattung von Gutachten auf Antrag der GV, des SR oder anderer hierzu gemäß Art. 96 11 ChVN ermächtigter Organe oder Organisationen; daneben ist der IGH zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten befugt, die ihm unter den Voraussetzungen des Art. 36 IGH-Statut von den Mitgliedstaaten unterbreitet werden, wofUr grundsätzlich das Einverständnis beider Parteien erforderlich ist. Die Parteifllhigkeit im streitigen Verfahren ist dabei auf Staaten beschränkt (Art. 34 I IGH-Statut); eine direkte Beteiligung der VN oder ihrer Organe ist insofern nicht möglich. Die Zuständigkeit des IGH ist somit weder umfassend noch obligatorisch; sie ist bedingt durch die Bereitschaft der Organe oder der Mitgliedstaaten, ihm eine Rechtsfrage zur Entscheidung im gutachtlichen oder streitigen Verfahren zu unterbreiten. Dies gilt insbesondere auch fUr die Frage der Auslegung der Charta: eine umfassende und obligatorische Kompetenz des IGH besteht nicht. I Ein solches Fehlen einer Möglichkeit verbindlicher Streitentscheidung gerade in der fUr die Vereinten Nationen zentralen Frage der Auslegung der Charta ist natürlich keineswegs unproblematisch; es droht die Gefahr unlösbarer Interpretationskonflikte sowohl zwischen den Mitgliedstaaten und der Organisation als auch zwischen deren Organen selbst. Die Frage war dementsprechend schon auf der Konferenz von San Francisco Gegenstand eingehender Erörterungen. 2 In der Folge eines belgischen Antrags, die Kompetenz zur verbindlichen Auslegung der Charta solle doch der GV übertragen werden,3 kam es zu einer intensiven Diskussion in Komitee IV/2, in deren Verlauf unter anderem der Vorschlag gemacht wurde, diese Kompetenz dem IGH zu übertragen. 4 Da keine Einigung möglich war, wurde die Frage an ein Subkomitee überwiesen; dieses legte einen Bericht vor, der vom Komitee schließlich angenommen wurde 5 und in seinen Grundzügen eine bis heute zutreffende Beschreibung der Lage in den VN darstellt: 6 "Difficulties may conceivably arise in the event that there should be a difference of opinion among the organs of the Organization concerning the correct interpretation of a provision of the Charter. Thus, two organs may conceivably hold and may ex1 Rosenne, S. 75. 2 Hierzu RusselllMuther, S. 925-927; Rosenne, S. 45ff.; Kopelmanas, S. 267-278; G. Watson, HILJ 1993, 11-14; Sanjose Gi!, REDI 1990, 453f. 3 UNCIO III, 335. 4 UNCIO XIII, 633. 5 Vgl. UNCIO XIII, 646; ein neuerlicher Vorschlag Belgiens, der Befassung des IGH den Vorrang zu geben, wurde abgelehnt (a.a.O., 645). 6 Report 01 Special Subcommittee 01 Committee IVI2 on the Interpretation 01 the Charter, UNCIO XIII, 83lf.; abgedruckt auch bei Rosenne, S. 45f.; Goodrich/HambrolSimons, S. 14.
l. Abschnitt: Der IGH im System der Vereinten Nationen
69
press or even act upon different views. Under unitary forms of national government, the final determination of such a question may be vested in the highest court or in some other national authority. However, the nature of the Organization and of its operation would not seem to be such as to invite the inc1usion in the Charter of any provision of this nature. If two member states are at variance concerning the correct interpretation of the Charter, they are of course free to submit the dispute to the international Court of Justice as in the case of any other treaty. Similarly, it would always be open to the General Assembly or the Security Council, in appropriate circumstances, to ask the international Court of Justice for an advisory opinion concerning the meaning of a provision of the Charter. Should the General Assembly or the Security Council prefer another course, an ad hoc Committee of jurists might be set up to examine the question and report its views, or recourse might be had to a joint conference. In brief, the members or the organs of the organization might have recourse to various expedients in order to obtain an appropriate interpretation. It would appear neither necessary nor desirable to list or to describe in the Charter the various possible expedients."
Diese Lösung stellte im wesentlichen einen Komprorniß dar. Einerseits wurde die Vereinbarung einer umfassenden Zuständigkeit des IGH oder eines sonstigen Organs mit dem wenig überzeugenden Hinweis auf das "Wesen" der Organisation und ihrer Tätigkeit abgelehnt; andererseits aber wurde festgehalten, daß, soweit der IGH nach anderen Vorschriften in zulässiger Weise befaßt ist, dieser auch zur Auslegung der Charta befugt ist, und es wurde ausdrücklich festgestellt, daß dies auch im streitigen Verfahren zwischen zwei Mitgliedstaaten gelten würde. Gleichwohl ist der Grundtenor des Berichts mit seinem Hinweis auf die "various expedients" zur Auslegung der Charta wohl etwas zu optimistisch, denn er verdeckt, daß alle diese Interpretationsmittel letztlich ganz wesentlich vom guten Willen der Beteiligten abhängen, den man aber nicht ohne weiteres wird voraussetzen können; diese Lage ist daher nicht ganz zu unrecht als "a rather untidy and uncertain situation for anyone interested in leaming what the Charter means at any particular time" bezeichnet worden. 7 Selbst dieser Komprorniß wurde allerdings in den ersten Jahren der VN noch einmal in Frage gestellt; insbesondere die Staaten des Ostblocks sperrten sich gegen jede Befassung des IGH mit Fragen der Auslegung der Charta.8 Schon die Resolution der GV "Need for Greater Use by the United Nations of the International Court of Justice" bestätigte jedoch die Befugnis des IGH zur Auslegung der Charta insbesondere im gutachtlichen Verfahren.9 Auch der IGH selbst ließ schon in seinem ersten Gutachten insofern keine Zweifel an seiner 7 GoodrichiHambro/Simons, S. 15. S Zu den verschiedenen Debatten in der GV vgl. Kahng, S. 18-20; Fakher, S. 140f.; Kerno, RdC 1951 1,532; Garcia Arias, REDI 1949, 165; zu den Auffassungen sowjetischer Autoren vgl. MacDonald in MacDonaldlJohnston, S. 896f. 9 GV-Res. 171 (11) v. 14.11.1947 (abgedruckt bei Shabtai Rosenne, Documents on the International Court of Justice, 2. Aufl., Alphen aan den RijnIDobbs Ferry, N.Y. 1979,335).
70
2. Teil: Prozessuale Fragen
Kompetenz lO und hat dies in seiner weiteren Rechtsprechung bestätigt. 11 Einwände werden seither nur noch gegen die politische Wünschbarkeit einer Auslegung durch den IGH erhoben; 12 die grundsätzliche Zuständigkeit des IGH zur Auslegung der Charta im gutachtlichen wie im streitigen Verfahren steht dagegen außer Frage. 13
11. Der IGD und die Kontrolle der politischen Organe Das Problem der Auslegung der Charta stellt sich natürlich insbesondere dort, wo über die Rechtmäßigkeit des Handelns der politischen Organe der VN zu entscheiden ist. Trotz einiger Vorschläge auf der Konferenz von San Francisco l4 überträgt die Charta dem IGH an keiner Stelle eine Zuständigkeit zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe. IS Es ist daher oft gesagt worden, daß der IGH keine Kompetenz zur "judicial review", keine "appellate jurisdiction" habe. 16 Aber diese Aussage ist zu pauschal. Richtig ist sie sicherlich, wenn gemeint ist, daß es in den VN keine speziellen Verfahren zur direkten Anfechtung der Handlungen der Organe gibt. Zweifelhaft wäre es aber, hieraus folgern zu wollen, daß der IGH niemals zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe befugt sein könnte. 17 Auch insofern ist vielmehr der pragmatische Ansatz der Charta maßgebend, der 10 Conditions oJAdmission, ICJ Rep. 1947/48,57,61. Dagegen aber wegen der politischen Bedeutung der Angelegenheit diss. op. Zoricic, ebd., 94, 95; diss. op. Krylov, ebd., 107, 108f. Schlochauer, FS Kaufmann, S. 335 weist dagegen zutreffend darauf hin, daß eine solche Auffassung den IGH letztlich jeglicher Kompetenz zur Auslegung der Charta berauben müßte, da diese ja immer auch eine gewisse politische Bedeutung haben wird. II Vgl. Competence Jor Admission, ICJ Rep. 1950, 105, 113; Certain Expenses, ICJ Rep. 1962, 151, 156. 12 Vgl. etwa Skubiszweski, FS Mosler, S. 901; MacDonald in MacDonald/Johnston, S. 896f. mit weiteren Nachweisen. 13 Mosler in Simma, Art. 92, Rn. 30; Bedjaoui, S. 26; Keith, S. 87f.; Simon, S. 52; Garc{a Arias, REDI 1949, 166; Pollux, BYIL 1946,64; Seyersted, ZaöRV 1964, 105. 14 So machte etwa Belgien den Vorschlag, dem lOH eine Zuständigkeit zur Entscheidung darüber zu übertragen, ob ein Beschluß des SR die Unabhängigkeit und vitalen Rechte eines Staates respektiere (vgl. UNCIO XIV, 445; dazu G. Watson, HILJ 1993,8-11). IS Ausfilhrlich dazu G. Watson, HILJ 1993,4-8. 16 Vgl. Gros, AJIL 1964,431 und RdC 1967 I, 429; Lissitzyn, S. 96f.; de Visscher, Aspects recents, S. 16. 17 So anscheinend aber Reisman, AJIL 1993, 94, der eine gerichtliche Kontrolle in Abwesenheit einer ausdrücklichen Ermächtigung durch die Charta filr "somewhat difficult" hält. Ähnlich skeptisch auch Sciso, RDI 1992, 372f.
1. Abschnitt: Der lOH im System der Vereinten Nationen
71
zwar keine umfassenden Zuständigkeiten des IGH vorsieht, dessen Zuständigkeit aber auch keine inhaltlichen Grenzen auferlegt, wenn sie erst einmal nach den besonderen Bestimmungen begründet ist. Hiennit steht auch die Rechtsprechung des IGH im Einklang. 18 Im Fall Certain Expenses etwa stellte der IGH zwar zunächst klar, daß es im Recht der Vereinten Nationen keine "review procedure" gebe,19 ließ sich davon jedoch nicht abhalten, auch auf die Gültigkeit der fraglichen Resolutionen einzugehen. 20 Die grundsätzliche Möglichkeit des IGH zur Überprüfung von Beschlüssen der politischen Organe war im Gerichtshof auch nicht umstritten; fraglich war nur, ob diese Überprüfung ftlr die Beantwortung der dem IGH vorgelegten haushaltsrechtlichen Frage wirklich nötig war. 21 Ganz ähnlich ging der IGH auch im Namibia-Gutachten vor: 22 "Undoubtedly, the Court does not possess powers of judicial review or appeal in respect of the decisions taken by the UN organs concemed. However, in the exercise of its judicial function and since objections have been advanced the Court, in the course of its reasoning, will consider these objections before determining any legal consequences arising from those resolutions."
Interessant ist auch das Sondervotum des Richters Onyeama, aus dem deutlich wird, daß der Gerichtshof nicht nur zu einer Prüfung der Gültigkeit der Beschlüsse der politischen Organe berechtigt ist, wenn diese als Vortrage relevant wird, sondern daß diese Prüfung letztlich unverzichtbar ist, soll die Entscheidung nicht auf Grund ungeprüfter rechtlicher Prämissen zu einer theoretischen Trockenübung geraten: 23 "The Court's powers are clearly defined by the Statute, and do not include powers to review decisions of other organs of the United Nations; but when, as in the present proceedings, such decisions bear upon a case properly before the Court, and a correct judgment or opinion could not be rendered without determining the validity of such decisions, the Court could not possibly avoid such determination without abdicating its role of a judicial organ. [... ] I do not conceive it as compatible with the judicial
18 19 20 21
Vgl. G. Watson, HILJ 1993, 14-28. ICJ Rep. 1962,151,168. A.a.O., 170ff. Vgl. sep. op. Spender, ebd., 182; sep. op. Morelli, ebd., 216 (beide gegen ein Überprüfung); diss. op. Bustamante y Rivero, ebd., 288, 289 (dafUr). 22 ICJ Rep. 1971, 16, 45. Auch hier betrafen die Meinungsverschiedenheiten im Gerichtshof vor allem die Frage, ob denn der lGH überhaupt um eine Stellungnahme zur Gültigkeit der Resolutionen ersucht worden war; vgl. sep. op. Ammoun, ebd., 55, 71; sep. op. Padilla Nervo, ebd., 89; sep. op. de Castro, ebd., 170, 181 (alle verneinend); sep. op. Petren, ebd., 127, 131; sep. op. Onyeama, ebd., 138, 143f.; sep. op. Dillard, ebd., 150, 151 (alle bejahend). Zu diesen Aspekten des Falles ausftlhrlich auch Münch, ZaöRV 1971, 727f. 23 A.a.O.; ganz ähnlich auch sep. op. Dillard, a.a.O.
72
2. Teil: Prozessuale Fragen function that the Court will proceed to state the consequences of acts whose validity is assumed, without itself testing the lawfulness of the origin of those acts."
Dieser Ansatz läßt sich unschwer auch auf das streitige Verfahren übertragen, wenn die Gültigkeit einer Resolution insoweit als Vorfrage auftaucht; der IGH hat insofern allerdings noch keine Gelegenheit zur abschließenden Stellungnahme gehabt. Im Fall Northern Cameroons konnte er die Frage offen lassen, da der klagende Staat ausdrücklich darauf verzichtet hatte, die Gültigkeit einer Resolution der GV in Zweifel zu ziehen. 24 Auch im Fall Lockerbie findet sich im Rahmen der Entscheidung über vorläufigen Rechtsschutz keine Aussage. 25 Da die Frage allerdings selbst in den Sondervoten keine besondere Erwähnung fand, wird man davon ausgehen können, daß die Richter insofern keine besonderen Bedenken hatten. 26 Es kann somit festgehalten werden, daß die Züge, die die Zuständigkeit des IGH fi1r die Auslegung der Charta kennzeichnen, auch fi1r die Frage der Kontrolle der Beschlüsse der politischen Organe maßgeblich sind. Die Zuständigkeit des IGH ist fragmentarisch, und sie ist indirekt; der IGH ist daher bestenfalls nur in sehr eingeschränkter Form der "legal guardian" der Vereinten Nationen.27 Insoweit aber der IGH in zulässiger Weise mit einer Streitigkeit befaßt wird, in deren Rahmen als Vorfrage die Gültigkeit eines Beschlusses eines politischen Organs relevant wird, ist er auch zur Entscheidung befugt.28 In diesem beschränkten Rahmen ist damit eine gerichtliche Kontrolle der Beschlüsse der politischen Organe denkbar; und in diesem Rahmen kann auch eine Rechtskontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen stattfinden. Das hat nichts mit
24 Vgl. ICJ Rep. 1963, 3, 32. In diesem prozessual kurios gelagerten Fall (Furukawa, FS Reuter, S. 299, spricht von einem "faux differend interetatique"; vgl. auch Higgins, ICLQ 1968,75; D. H N. Johnson, ICLQ 1964, 1143ff.; Rideau, S. 89f.) ging es um eine Klage Kameruns auf Feststellung, daß gewisse Praktiken Groß-Britanniens als Verwalter des Treuhandgebiets Nordkamerun das Treuhandabkommen verletzt hatten. Das Treuhandverhältnis war jedoch durch GV-Res. 1608 (XV) (vgl. ICJ Rep. 1963, 3, 23f.) bereits beendet und der Nordkamerun Nigeria angegliedert worden, so daß die Klage gegenstandslos war, es sei denn, man wäre von der Ungültigkeit der Resolution und somit dem Fortbestand des Treuhandverhältnisses ausgegangen. 25 Vgl. o. S. 21ff. 26 Vgl. G. Watson, HILJ 1993,27. 27 So aber die Erklärung des Richters Lachs im Lockerbie-Fall, ICJ Rep. 1992, 26, 27; kritisch dazu Reisman, AJIL 1993, 94. 28 Graefrath, EJIL 1993, 200, 204; Andres Saenz, RED! 1992, 344; Münch, ZaöRV 1971, 728f.; Schermers/Blokker, § 910; Schilling, AVR 1995,99; Chappez, AFD! 1992, 477; Scott u.a., MichJIL 1994, 94f. A.A. Caflisch in AI-NauimilMeese, S. 656, der jedoch verkennt, daß dies nichts mit einer "Überordnung" des IGH über den SR zu tun hat.
2. Abschnitt: Ansätze für eine Rechtskontrolle
73
einem "judicial idealism"29 zu tun; es gilt vielmehr, die zaghaften Ansätze, die dem lGH in San Francisco zugestanden wurden, im Rahmen des Möglichen fiIr eine Stärkung des Rechts in den VN nutzbar zu machen. Damit verlagert sich der Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der einzelnen Verfahrensarten vor dem lGH im Hinblick auf eine effektive Kontrolle des SR; ihnen gilt es sich nunmehr zuzuwenden.
2. Abschnitt
Ansätze für eine Rechtskontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen Die Frage ist, welche der Verfahrensarten vor dem IGH am ehesten geeignet wäre, eine Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen durch den IGH zu erreichen. 30 Dabei ist in Form eines ersten Überblicks auf die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren einzugehen; sodann wird die Eignung und Bedeutung der gutachtlichen Tätigkeit des IGH filr die Kontrolle des SR erörtert. Als Exkurs wird abschließend noch die Frage der Kontrolle des Abstimmungsverhaltens im SR untersucht. Diese Problematik wurzelt zwar vor allem im materiellen Recht; da es sich bei der Kontrolle des Abstimmungsverhaltens um ein mögliches Substitut fiIr eine direkte Rechtskontrolle des SR handelt, soll auf sie an dieser Stelle jedoch ebenfalls eingegangen werden.
I. Die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren Das Problem einer inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren stellt sich, wenn ein Staat gegen einen anderen vor dem IGH Klage auf die Feststellung oder den Schutz von Rechten erhebt, in die einzugreifen der Beklagte jedoch durch Beschluß des SR ermächtigt wurde;3! die Duldungspflicht kann dabei sowohl Rechte betreffen, die der Anwendung der Zwangsmaßnahmen entgegenstehen würden, als auch jene, deren Ausübung durch die Verhängung der
29 Reisman, AJIL 1993, 94. 30 Für einen Überblick über die Kontrollmöglichkeiten des lOH im allgemeinen vgl. auch Rideau, S. 86ff. Entsprechend dem positivrechtlichen Ansatz der vorliegenden Arbeit bleiben nicht institutionalisierte Varianten und Facetten gerichtlicher und politischer Kontrolle ausgeblendet; zu diesen vgl. eingehend Alvarez, AJIL 1996, I ff. 3! Zur Ermächtigung als Element der Beschlüsse nach Art. 25 ChVN vgl. o. S. 33f.
74
2. Teil: Prozessuale Fragen
Zwangsmaßnahmen unterbunden werden soll.32 Dies ist im wesentlichen auch die Konstellation des Lockerbie-Falles gewesen: 33 hier hatte Libyen sowohl die Unterlassung etwaigen, auf die Auslieferung der Verdächtigen gerichteten Drucks als auch die Feststellung seines Rechts zur Verweigerung der Auslieferung beantragt; beidem stand jedoch SR-Res. 748 (1992) inhaltlich entgegen, so daß die Frage der Gültigkeit dieser Resolution aufkam. Die inzidente Kontrolle wäre somit eine Form indirekten Rechtsschutzes gegen Zwangsmaßnahmen; in Abwesenheit von Verfahren zur direkten Anfechtung der Beschlüsse des SR wird die Kontrolle durch Klage gegen die zur AusfUhrung der Beschlüsse ermächtigten Staaten erreicht. Die Klage kann dabei unter den besonderen Voraussetzungen des Art. 36 I, 11 IGH-Statut einseitig durch den Betroffenen Staat erhoben werden. Zudem ist gern. Art. 41 IGHStatut im streitigen Verfahren auch die Bezeichnung vorsorglicher Maßnahmen durch den IGH denkbar; eine solche Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes wäre natürlich gerade im Zusammenhang mit der Verhängung von Zwangsmaßnahmen von höchstem Interesse. 34 Man kann somit sagen, daß die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren einem Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen so nahe kommt, wie dies in Abwesenheit direkter und obligatorischer Mechanismen überhaupt denkbar ist;35 ihr wird daher die Aufmerksamkeit im dritten Abschnitt dieses Teils gelten.
11. Das gutachtliche Verfahren Einen anderen Ansatz zur Kontrolle der Beschlüsse des SR könnte die Einholung von Gutachten des IGH durch die Generalversammlung oder den SR gern. Art. 96 I ChVN und Art. 65 IGH-Statut darstellen; hierbei könnten die Gültigkeit der Beschlüsse des SR selbst oder einzelne in diesem Rahmen auftauchende Rechtsfragen zum Gegenstand gemacht werden. 36 Zwar ist das gutachtliche Verfahren in seiner rechtlichen Bedeutung gleich in mehrerer Hinsicht 32 Zur Regelungsgewalt des SR s. auch u. S. 254ft'. 33 S. dazu o. S. 21ft'. Zu den Versuchen der bosnischen Regierung, die Inzi-
dentkontrolle zum Zweck der Überprüfung von SR-Res. 713 (1991) zu nutzen, vgl. o. S. 24ft'. 34 S. hierzu aber auch u. S. 115ft'. 35 Sohn, AJIL 1975, 852 sah im streitigen Verfahren vor dem IGH sogar eine allgemeine Möglichkeit zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit des HandeIns der politischen Organe der VN; kritisch dazu Ciobanu, AJIL 1976, 328ft'. Skeptisch auch Bedjaoui, FS Rigaux, S. 106f.; Bowett, EJIL 1994, 98; Rideau, S. 88. 36 Zur gutachtlichen Kontrolle der Beschlüsse des SR auch Bedjaoui, S. 92 ft'. und FS Rigaux, S. 94ft'. (mit einer Erörterung möglicher Reformen); Bowett, EJIL 1994, 98f.
2. Abschnitt: Ansätze ftlr eine Rechtskontrolle
75
abgeschwächt: zum einen steht es nach dem Wortlaut des Art. 65 I IGH-Statut grundsätzlich schon im Ennessen des IGH, ob er überhaupt ein Gutachten erstattet; zum anderen sind diese Gutachten filr die politischen Organe der VN ohne rechtliche Verbindlichkeit. 37 Beide Aspekte stünden einer grundsätzlichen Eignung des gutachtlichen Verfahrens jedoch noch nicht entscheidend entgegen. Der IGH hat sein Ennessen nach Art. 65 I IGH-Statut stets im Licht des Grundsatzes ausgeübt, daß einem Ersuchen auf Erstattung eines Gutachtens nach Möglichkeit Folge geleistet werden sollte38 und hat in seiner Praxis letztlich niemals die Erstattung eines Gutachtens abgelehnt. 39 Im Zusammenhang mit der Verhängung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen gegen das damalige Südrhodesien ist zwar verschiedentlich vertreten worden, eine Feststellung nach Art. 39 ChVN liege im ausschließlichen Ennessen des SR und sei "nonreviewable"; ein Ersuchen um ein Gutachten über das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN sei daher vom IGH abzulehnen. 40 Aber die Frage, ob tatsächlich eine ausschließliche Feststellungskompetenz des SR vorliegt, ist eine solche der BegrUndetheit, nicht der Zulässigkeit;41 es ist daher kaum anzunehmen, daß der IGH die Erstattung des Gutachtens schon als unzulässig ablehnen würde. Auch die rechtliche Unverbindlichkeit von Gutachten beraubt diese noch nicht ihrer grundsätzlichen Eignung zur Kontrolle des SR. Die politische Bedeutung eines solchen Gutachtens sollte nicht unterschätzt werden. 42 Der Ausspruch der Ungültigkeit eines Beschlusses durch den IGH nimmt diesem seine Autorität und Legitimität; es ist anzunehmen, daß dies im Fall von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta die meisten Mitgliedstaaten der VN zur Einstellung der Maßnahmen bewegen würde. Das eigentliche Problem des gutachtlichen Verfahrens im Hinblick auf einen Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen liegt daher weniger in der Frage der fonnellen Bindungswirkung als vielmehr in der der Antragsberechtigung.43 37 So auch der IGH selbst, vgl. Interpretation 0/ Peace Treaties with Bulgaria, Hungary and Romania, Advisory Opinion (First Phase), IC] Rep. 1950,65, 71; Administrative Tribunal 0/ the International Labour Organisation, IC] Rep. 1956, 77, 84; Rosenne, S. 745; Thirlway, EPIL 1,4; Keith, S. 195. 38 Interpretation 0/ Peace Treaties, a.a.O.; Certain Expenses, IC] Rep. 1962, 151, 155. 39 Zur Bedeutung des Ermessens des IGH ausftlhrlicher Rosenne, S. 708-718. 40 Higgins, ICLQ 1968, 80, The World Today 1967, 102, und PASIL 1970, 46; Fawcett, BYIL 1965/66, 116-118; Ruzie, JDI 1970, 37; Keith, S. 76-78; ebenso wohl auch Klein, FS Mosler, S. 484. 41 Hierzu u. S. 108ff. 42 Vgl. Rosenne, S. 747; Keith, S. 221f.; Schermers/Blokker, § 910; Thierry, RdC 1980 11, 405; Alvarez, AJIL 1996, 8, die alle die Bindungswirkung von Urteilen und Gutachten ftlr faktisch gleich halten. 43 Hierzu Rideau, S. 89f.; Bedjaoui, FS Rigaux, S. 96.
76
2. Teil: Prozessuale Fragen
Diese steht nach Art. 95 I ChVN nur der GV und dem SR zu;44 von letzterem ist allerdings kaum zu erwarten, daß er die Gültigkeit seiner eigenen Beschlüsse einer Kontrolle durch den IGH unterwerfen wird. 45 Immerhin wäre auch die Generalversammlung zur Einholung eines entsprechenden Gutachtens befugt;46 dies würde jedoch voraussetzen, daß insofern in der GV die erforderliche Mehrheit zustandekommt. 47 Es ist jedoch vergleichsweise unwahrscheinlich wenn auch nicht unmöglich -, daß sich in der GV eine Mehrheit fUr die Kontrolle der Rechtmäßigkeit eines Beschlusses fmden wird, den der SR mit Mehrheit unter Einschluß aller ständigen Mitglieder gefaßt hat. Die Möglichkeiten eines einzelnen, mit Zwangsmaßnahmen belegten Staates sind somit relativ gering, auf diesem Wege eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verhängung nichtwirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen zu erreichen. 48 Die Untersuchung kann sich daher in der Folge auf das streitige Verfahren konzentrieren; viele der Fragen, die sich insofern - insbesondere in materieller Hinsicht - stellen werden, 44 Gern. Art. 96 11 Ch VN sind noch einige weitere Organe der VN sowie die meisten Sonderorganisationen zur Einholung von Gutachten ermächtigt worden. Diese Ermächtigungen sind jedoch sämtlich auf solche Fragen beschränkt, die im Rahmen der Kompetenzen dieser Organisationen auftauchen (vgl. Thirlway, EPIL I, 6; eine Dokumentation der einschlägigen Resolutionen der GV findet sich bei Rosenne, Documents [0. Fn. 9], 419ff.). Dazu gehört nicht die Kontrolle der Beschlüsse des SR auf dem Gebiet der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit; Art. 96 11 ChVN kommt daher in der Folge nicht in Betracht. 45 Der SR hat überhaupt nur ein einziges Mal - nämlich mit SR-Res. 284 (1970) im Fall Namibias (vgl. o. S. 37f.) - den IGH um die Erstattung eines Gutachtens ersucht; zur Tendenz des SR, Fragen seiner eigenen Kompetenz selbst zu entscheiden, vgl. Kahng, S. 228. 46 Auch dies ist allerdings mit dem Hinweis auf die Unterordnung der GV unter den SR in Angelegenheiten der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bezweifelt worden (Orihuela Calatayud, REDI 1992,413). Dabei ist grundsätzlich zwar richtig, daß die GV zur Einholung von Gutachten nur im Rahmen ihrer Kompetenzen befugt ist (Keith, S. 126; Mosler in Simma, Art. 96, Rn. 11). Jedoch hat auch die GV Kompetenzen im Bereich der Friedenssicherung; ein Ersuchen um ein Gutachten ist darüber hinaus keine Empfehlung im Sinne des Art. 12 I ChVN (so auch Orihuela Calatayud a.a.O.). Sicherlich könnte ein Ersuchen um ein Gutachten im Ergebnis zu einer Beeinträchtigung der Effektivität der vom SR verhängten Maßnahmen fUhren. Aber Art. 12 I ChVN gewährleistet hier keinen umfassenden Schutz (zum begrenzten Anwendungsbereich dieser Vorschrift vgl. allgemein HailbronnerlKlein in Simma, Art. 12, Rn. 18-22); Art. 96 I ChVN ist insofern lex specialis. Die GV ist zwar nicht Kontrolleur des SR (zu weitgehend Cavare, RdC 1952 I, 257, der meint, die GV könne die Mitgliedstaaten notfalls auch zur Nichtbefolgung rechtswidriger Beschlüsse des SR autorisieren); Initiator einer Kontrolle könnte sie jedoch sein. 47 Das Ersuchen um ein Gutachten wird man dabei als wichtige Frage anzusehen haben, rur die gern. Art. 1811 I ChVN eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Die Frage ist allerdings streitig und auch durch die Praxis der GV nicht geklärt worden; vgl. dazu Rosenne, S. 661-666; Keith, S. 45-48; Mosler in Simma, Art. 96, Rn. 12. 48 Etwas zu optimistisch Alvarez, AJIL 1996, 8f.
2. Abschnitt: Ansätze für eine Rechtskontrolle
77
könnten allerdings genausogut auch im gutachtlichen Verfahren relevant werden.
111. Exkurs: Das Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat als Gegenstand gerichtlicher Kontrolle? Einen weiteren denkbaren Ansatz ft1r eine Kontrolle des SR könnte es darstellen, die Mitglieder des SR zu verklagen mit dem Ziel, diesen ein bestimmtes Abstimmungsverhalten aufzugeben oder zu untersagen. Die allgemeinen Zuständigkeitsvoraussetzungen nach Art. 36 IGH-Statut unterstellt, könnte ein solches Vorgehen zu einem Maß an Kontrolle ftlhren, welches weit über das hinausgehen wUrde, was selbst im besten Fall über die inzidente Kontrolle der Beschlüsse des SR erreichbar wäre. Denn während letztere nur bezüglich bereits gefaßter, in Rechte eingreifender Beschlüsse denkbar ist, ließe sich die Klage gegen Mitglieder des SR sehr viel flexibler einsetzen. Es könnte beantragt werden, Mitglieder des SR zu verurteilen, gegen oder jedenfalls nicht ft1r bestimmte Beschlüsse zu stimmen; damit wäre, insbesondere wenn sich die Klage gegen ein ständiges Mitglied des SR richtet, ein gewisses Maß an präventiver Kontrolle gegenüber den Beschlüssen des SR erreichbar. Es wäre aber auch - gleichsam als Ersatz ft1r eine Untätigkeitsklage - eine Verurteilung zur Abstimmung ft1r bestimmte Beschlüsse denkbar; damit ließe sich der Erlaß von Zwangsmaßnahmen, aber auch ihre Wiederaufhebung erzwingen. Die Vorstellung einer gerichtlichen Kontrolle des Abstimmungsverhaltens im SR im streitigen Verfahren ist ohne Zweifel ungewohnt; gleichwohl ist sie teilweise ft1r zulässig gehalten worden. 49 Es handelt sich auch nicht um ein rein theoretisches Problem. Im Lockerbie-Fall etwa hatte Libyen diesen Weg zu gehen versucht, indem es verlangte, Groß-Britannien bzw. den Vereinigten Staaten solle aufgegeben werden, "to refrain from taking any initiative within the Security Council for the purpose of impairing that right which Libya asks the Court to recognize".50 Nachdem SR-Res. 748 (1992) ergangen war, ließ Libyen sich dahingehend ein, nunmehr solle den Beklagten aufgegeben werden, auf eine Suspension der Resolution hinzuwirken. 51 Der IGH ging auf dieses Vorbringen nicht ein, was im Rahmen der Prüfung vorläufiger Maßnahmen nach Art. 41 IGH-Statut auch kaum zu erwarten war. Gleichwohl ist es im vor49 V gl. Spiropoulos, RHDI 1948, 9f., der die Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle sowohl im gutachtlichen als auch im streitigen Verfahren bejaht. 50 lCI Rep. 1992, 3, 12f. 51 A.a.O., 14. Dieser Punkt war einer der Hauptgegenstände in der mündlichen Verhandlung, vgl. CR 92/4, 12 (WilliamsonlUSA); CR 92/2 COTT., 76 (SuylLibyen).
2. Teil: Prozessuale Fragen
78
liegenden Zusammenhang von nicht unerheblichem Interesse, ob eine Klage auf Kontrolle des Abstimmungsverhaltens im SR Aussicht auf Erfolg haben könnte. Das Kernproblem ist dabei letztlich, ob ein klagender Staat überhaupt jemals ein Recht darauf haben kann, daß ein Mitglied des SR von seinem Stimmrecht in einer bestimmten Weise Gebrauch macht. Pflichten der Mitglieder des SR könnten sich dabei insbesondere aus der Charta selbst ergeben. Die Frage, welchen Rechtsbindungen die Mitglieder des SR bei der Abstimmung unterliegen, tauchte auf im ersten Gutachten des IGH über die Voraussetzungen der Aufnahme als Mitglied in den Vereinten Nationen. 52 Diesem Gutachten lag ein Streit darüber zugrunde, daß die Sowjetunion in den Anfangsjahren der VN die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten durch ihr Veto in einer Weise blockierte, die von vielen Staaten als mißbräuchlich empfunden wurde;53 die GV legte daher schließlich dem IGH die Frage vor, ob ein Mitgliedstaat des SR berechtigt ("juridically entitled"/"juridiquement fonde") sei, die Aufnahme neuer Mitglieder auch von anderen als den in Art. 4 I ChVN genannten Voraussetzungen abhängig zu machen. 54 Allerdings war schon nach dieser Fassung des Ersuchens fraglich, ob es überhaupt wirklich um Rechtspflichten der Mitglieder des SR als solcher ging; insbesondere die französische Fassung könnte man auch in dem Sinne verstehen, daß die Voraussetzungen des Art. 4 I ChVN lediglich im Sinne einer abstrakten Rechtsfrage geklärt werden sollten. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch im Gutachten und in den Sondervoten wider. Der IGH stellte zunächst fest, es sei nicht um die Abstimmung als solche gegangen; die Motive der Mitglieder seien eine Frage der inneren Willensbildung und unterlägen als solche keiner gerichtlichen Kontrolle. 55 Dementsprechend begründete der IGH seine Auffassung, die Aufzählung des Art. 4 I ChVN sei abschließend, mit Erwägungen, die sich allein auf den SR als solchen bezogen. Hierin liegt wohl auch der Hauptunterschied zu den Richtern der Minderheit. Diese stellten ausdrücklich klar, daß es um das Abstimmungsverhalten als solches ging, 56 und kamen dementsprechend zu anderen Ergebnissen. Zwar wurde die Bindung der Mitglieder des SR an die Bestimmungen der Charta im Grundsatz bejaht,57 aus einer weiten Auslegung des Art. 4 I ChVN heraus 58 oder aus grundsätzlichen Erwägungen über die Freiheit der Mitglieder des SR bei der
52 Conditions
0/Admission, ICJ Rep.
1947/48,57.
53 Zu den Hintergründen des Streits vgl. Schlochauer, FS Kaufmann, S. 332f. 54 Conditions 0/ Admission, ICJ Rep. 1947/48, 57, 58. 55 A.a.O., 60. 56 V gl. joint diss. op. Basdevant, Winiarski, McNair, Read, a.a.O., 82. 57 Joint diss. op., a.a.O., 83. 58 A.a.O., 90.
2. Abschnitt: Ansätze rur eine Rechtskontrolle
79
Stimmabgabe 59 wurde ihnen jedoch ein weites Ennessen zugestanden, das seine Grenzen nur in der Pflicht zum Handeln nach Treu und Glauben60 und in der Bindung an die Ziele der Charta fmdet. 61 Soweit in der Literatur zu dem Problem Stellung genommen wird, wird ebenfalls zumeist ein Ennessen in den Grenzen von Treu und Glauben und den Zielen der Charta angenommen. 62 Teilweise wird allerdings auch die Existenz rechtlicher Bindung bei der Abstimmung im SR mit dem Argument geleugnet, es wUrde solchen Pflichten an jeglicher Sanktion fehlen. 63 Richtig ist dabei zwar, daß sich das Abstimmungsergebnis im SR nach dem tatsächlichen, nicht dem gesollten Abstimmungsverhalten richtet; auch die rechtswidrige Stimmabgabe wäre damit wirksam. 64 Aber davon abgesehen, daß der Schluß von der Sanktion auf die Rechtspflicht ohnehin schon zweifelhaft ist, wird hierbei vor allem die Frage der gerichtlichen Kontrolle im gutachtlichen oder streitigen Verfahren übersehen;65 dieses Problem setzt aber gerade voraus, daß Klarheit über den Umfang der rechtlichen Bindungen der Mitglieder des SR bei der Abstimmung besteht. Eine ausdrückliche Bestimmung hierüber fmdet sich in der Charta nicht. Vor allem muß klar unterschieden werden zwischen jenen Rechtsnonnen, die sich an den SR als solchen richten, und möglichen Verpflichtungen seiner Mitglieder im Rahmen der Abstimmung. Daß etwa der SR nur unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN nach Kapitel VII der Charta tätig werden darf, sagt noch nichts darüber aus, wann ein Mitglied ftlr eine Feststellung im Sinne dieser Bestimmung stimmen darf; auch die Feststellung des IGH im Fall Conditions for Admission über die Bedeutung der Voraussetzungen nach Art. 4 I ChVN ist eher auf den SR selbst als auf die Motive der Mitglieder bezogen gewesen. Jede gerichtliche Kontrolle des Abstimmungsverhaltens im SR wäre damit von geringerer Reichweite als eine Kontrolle des SR selbst; sie könnte sich nur auf gewisse äußere Grenzen des Abstimmungsverhaltens beziehen, die notwendig 59 Vgl. diss. op. Zoricic, ebd., 94, 97; diss. op. Krylov, ebd., 107, 111. 60 Joint diss. op., a.a.O., 97f.; diss. op. Zoricic, a.a.O., 103.
61 Diss. op. Krylov, a.a.O., 115. 62 Spiropoulos, RHDI 1948,4, 7; Taylor, BYIL 1972173,325; Hemdl, RdC 1987 VI, 316f.; Cheng, S. 135f.; Müller, S. 235f.; Zoller, S. 164; allgemein zum detournement de pouvoir bei Abstimmungen in internationalen Organisationen vgl. Kiss, EPIL 7, 1.
63 Engelhardt, AVR 1962/63, 404f.; Simma/Brunner in Simma, Art. 27, Rn. 107; ähnlich Petersmann, ZVglRW 1981, 18; skeptisch zu den Möglichkeiten einer Kontrolle des Abstimmungsverhaltens auch Morgenstern, BYIL 1976177,242. 64 Spiropoulos, RHDI 1948, 12. 65 Spiropoulos, RHDI 1948, 9f.
80
2. Teil: Prozessuale Fragen
weiter wären als die Grenzen der Befugnisse des SR selbst. Aber selbst solche äußeren Grenzen sind nicht leicht aus der Charta herzuleiten. Nicht überzeugend ist es, wenn eine Bindung der Mitglieder des SR an die Ziele der Charta aus Art. 24 11 1 ChVN abgeleitet wird;66 diese Bestimmung regelt die Bindungen des SR, nicht aber die seiner Mitglieder. Letztlich bleibt daher keine andere Grundlage als Art. 2 Nr. 2 ChVN, nach dem die Mitglieder der VN die Verpflichtungen, die sie mit der Charta übernehmen, nach Treu und Glauben zu erfilllen haben; hieraus wird man auch eine allgemeine Pflicht der Mitglieder des SR ableiten können, nicht so zu handeln, daß die Zwecke und Ziele der Vereinten Nationen vereitelt werden. 67 Die Frage ist nur, welche Bedeutung und Reichweite eine solche Pflicht haben könnte. Denkbar wäre zunächst, sie subjektiv im Sinne eines detournement de pouvoir zu verstehen; rechtswidrig wäre damit jede Stimmabgabe, die von anderen Motiven als dem der Verwirklichung der Ziele der Charta gespeist wäre. 68 Abgesehen von dem Problem, was eigentlich unter den Zielen der Charta genau zu verstehen ist, stößt jedoch schon der subjektive Ansatz auf nahezu unüberwindliche Probleme. Die Mitglieder des SR sind nicht verpflichtet, ihre Motive darzulegen, und werden sie dargelegt, ist nicht überprüfbar, ob die angegebenen Gründe wirklich die wahren sind. 69 Zudem wäre auch fraglich, auf wessen Person eigentlich fiIr die Ermittlung der Motive abzustellen wäre. Der Vertreter im SR ist weisungsgebunden und kommt daher nicht in Betracht; es wäre jedoch eine kaum durchfiIhrbare Aufgabe fiIr ein internationales Gericht zu versuchen, die Motive irgendwelcher Mitglieder einer nationalen Regierung zu erforschen. Jede Kontrolle könnte daher nur objektiv ansetzen; in diesem Sinne wird vertreten, rechtswidrig sei eine Stimmabgabe, die in ihrem objektiven Resultat offensichtlich zu einem den Zielen der Charta widersprechenden Ergebnis ftIhren würde. 70 Aber die Ziele der Charta, wie sie in Art. 1 ChVN niedergelegt sind, sind von einer außergewöhnlichen Weite; es ist kaum eine Situation vorstellbar, in der die Stimmabgabe fiIr oder gegen einen Beschluß des SR nicht 66 So aber Spiropoulos, RHDI 1948,4,7. 67 Dazu, daß Art. 2 Nr. 2 auch eine eigenständige Quelle von Pflichten darstellen
kann, vgl. Müller in Simma, Art. 2 Ziff. 2, Rn. 6. Keine rechtlichen Bindungen ergeben sich dagegen aus dem sog. San-Francisco-Statement der Vetomächte über die Ausübung ihres Vetorechts (UNCIO XI, 711), in dem diese versicherten, jenes nicht mißbrauchen zu wollen (Engelhardt, A VR 1962/63,404). 68 Für einen solchen subjektiven Ansatz vgl. etwa Cheng, S. 135f.; Zoller, S. 166. 69 Dieses Problem sehen auch Krylov in seiner diss. op. im Fall Conditions for Admission, IC] Rep. 1947/48, 107, 111; Spiropoulos, RHDI 1948, 13; Cheng, S. 135f.; Zoller, S. 166. 70 Spiropoulos, RHDI 1948, 13 (alternativ zu seinem subjektiven Ansatz); vgl. zum objektiven Charakter des Art. 2 Nr. 2 ChVN auch Müller in Simma, Art. 2 Ziff. 2, Rn. 16.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
81
unter Bezugnahme auf Art. 1 ChVN gerechtfertigt werden könnte.1 1 Das heißt nicht, daß die Mitglieder des SR von allen Verpflichtungen gegenüber den VN frei wären; eine dauerhafte Obstruktionspolitik als Ausdruck einer allgemeinen Ablehnung gegenüber der Verantwortung des SR fiir die Wahrung des Weltfriedens könnte daher durchaus einen Mißbrauch des Stimmrechts darstellen. In einer einzelnen Stimmabgabe wird man einen solchen Mißbrauch dagegen kaum je sehen können. Die Mitglieder des SR haben ein freies und unbeschränkbares72 Mandat; ihre rechtlichen und faktischen Einschätzungen im konkreten Fall unterliegen daher keiner gerichtlichen Kontrolle. Das muß keineswegs heißen, daß auch die Beschlüsse des SR selbst keiner Kontrolle zugänglich wären; die Vorphase der Beschlußfassung bleibt jedoch von gerichtlicher Kontrolle weitgehend frei. Die Kontrolle des Abstimmungsverhaltens im SR durch den IGH stellt daher keine Möglichkeit dar, im konkreten Fall effektiven Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen zu erreichen.
3. Abschnitt
Probleme der Inzidentkontrolle Es ist somit die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren, die fiir einen einzelnen Staat die beste Möglichkeit darstellt, eine gerichtliche Kontrolle von durch den SR verhängten Zwangsmaßnahmen zu erreichen. Auf ihre Problematik ist daher nunmehr näher einzugehen. Dazu ist zunächst die potentielle Reichweite der Inzidentkontrolle zu präzisieren, bevor auf die Probleme der Zulässigkeit im allgemeinen eingegangen wird; anschließend sind noch einige verfahrensrechtliche Probleme zu klären.
71 Eingehender zur Bedeutung der Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen rur die Kontrolle des SR u. S. I 54ff., 207ff. 72 Zur Frage einer Stimmbindung vgl. Engelhardt, AVR 1962/63, 402f., der zwar einerseits sieht, daß das Ermessen der Mitglieder des SR diesen nicht in ihrem eigenen Interesse eingeräumt ist; gleichwohl aber die Möglichkeit bindender Vereinbarungen über die Ausübung des Stimmrechts inter partes anerkennt. Auch eine solche Stimmbindung ginge jedoch letztlich zu Lasten der anderen Mitglieder der YN; sie widerspricht zudem den Strukturprinzipien der YN und ist daher gern. Art. 103 ChYN unzulässig. 6 Martenczuk
82
2. Teil: Prozessuale Fragen
I. Reichweite der Inzidentkontrolle 1. Grundlagen der Zuständigkeit
Die potentielle Bedeutung der Inzidentkontrolle im Hinblick auf den Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen hängt zunächst davon ab, ob im konkreten Fall überhaupt eine Zuständigkeit des IGH ft1r die Entscheidung der Streitigkeit besteht. Die Zuständigkeit des IGH erstreckt sich gern. Art. 36 I IGH-Statut "auf alle ihm von den Parteien unterbreiteten Rechtssachen sowie auf alle [... ] in geltenden Verträgen und Übereinkommen besonders vorgesehenen Angelegenheiten"; darüber hinaus können die Vertragsparteien jederzeit erklären, daß sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs von Rechts wegen und ohne besondere Übereinkunft gegenüber jedem anderen Staat, der dieselbe Verpflichtung übernimmt, ft1r alle Rechtsstreitigkeiten als obligatorisch anerkennen (Art. 36 II IGH-Statut). Eine originäre und umfassende Zuständigkeit des IGH besteht daher nicht; die Zuständigkeit des IGH besteht vielmehr nur im Rahmen des einvernehmlichen Willens der Parteien, wobei diese Willensübereinstimmung allgemein oder auch nur ad hoc bestehen kann. Es ist allerdings höchst unwahrscheinlich, daß ein Staat ad hoc seine Zustimmung dazu geben würde, eine Streitigkeit dem IGH zu unterbreiten, in der es um sein Recht zur Vornahme von Zwangsmaßnahmen in AusfUhrung von Beschlüssen des SR geht. In Betracht als mögliche Grundlage ft1r eine Inzidentkontrolle kommen daher praktisch nur solche Jurisdiktionstitel, die die Zuständigkeit des IGH allgemein und nicht nur rur den konkreten Fall begründen. Soweit solche Jurisdiktionstitel die Zuständigkeit des IGH ohne sachliche Begrenzung begründen, etwa durch eine allgemeine Jurisdiktionsklausel in einem Freundschaftsvertrag oder durch beiderseitig vorbehaltslose Unterwerfungserklärungen im Sinne des Art. 36 11 IGH-Statut, sind sie auch als Grundlage rur die Inzidentkontrolle potentiell geeignet. Problematisch wird es dann, wenn die Zuständigkeit des IGH sachlich beschränkt wird. Den Auswirkungen solcher Beschränkungen auf die Möglichkeiten der Inzidentkontrolle ist im folgenden nachzugehen. a) Häufig beruht die Zuständigkeit des IGH auf einer Schiedsklausel in einem Vertrag im Sinne des Art. 36 I, 2. Alt. IGH-Statut, in der ihm die Zuständigkeit zur Entscheidung von Streitigkeiten über Auslegung und Anwendung des Vertrages übertragen wird. 73 Auch solche gegenständlich begrenzten
73 Eine Übersicht über die zahlreichen in Kraft befindlichen Klauseln findet sich in YICJ 48 (1993/94), 122ff. Diese Fonn der Zuständigkeit des IGH hat mittlerweile wohl eine größere Bedeutung als seine Gerichtsbarkeit unter Art. 36 11 IGH-Statut; vgl. Moster, FS Schwarzenberger, S. 218.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
83
lurisdiktionsklauseln sind eine denkbare Grundlage ft1r die Inzidentkontrolle. 74 Nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen können in vertragliche Rechte des betroffenen Staates eingreifen,75 etwa in Verkehrs-, Handels- oder Investitionsschutzabkommen. Ähnlich war auch die Situation im Lockerbie-Fall, in dem sich Libyen auf die Zuständigkeit des IGH gern. Art. 14 I der Montreal-Konvention stützte. 76 Man könnte sich allerdings fragen, ob eine Streitigkeit, in der der Eingriff in die vertraglichen Rechte selbst gar nicht streitig ist, sondern lediglich die rechtfertigende Wirkung eines Beschlusses des SR, überhaupt noch eine Streitigkeit über Anwendung und Auslegung des fraglichen Vertrages darstellt,?7 Die Alternative wäre letztlich ein "non liquet"; dies kann jedoch nicht im Sinne der jeweiligen lurisdiktionsklauseln sein. Es ist ein allgemeines Phänomen, daß die Zuständigkeit zur Auslegung von Verträgen unter Umständen auch die Frage der Rechtfertigung etwaiger Verstösse aufwerfen kann; so wie der IGH hier im allgemeinen Fragen der Staatenverantwortlichkeit klären kann, kann er daher auch die relevanten Fragen aus der Charta der VN mitentscheiden. Gegenständlich beschränkte lurisdiktionsklauseln im Sinne des Art. 36 I 2. Alt. IGH-Statut sind daher grundsätzlich eine mögliche Grundlage ft1r die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren. b) Die Zuständigkeit des IGH aufgrund der Fakultativklausel nach Art. 36 11 IGH-Statut ist grundsätzlich gegenständlich unbegrenzt und umfaßt somit alle Rechtsstreitigkeiten. Gegenwärtig haben immerhin 58 Staaten Unterwerfungserklärungen abgegeben;78 eine Vielzahl dieser Erklärungen sind allerdings
74 Zu Art. IX Völkermordkonvention (vgl. Einleitung, Fn. 34) als Grundlage rur ein Vorgehen der bosnischen Regierung gegen SR-Res. 713 (1991) vgl. Scott u.a., MichJIL 1994, 14ft'. 75 Dazu eingehend o. S. 33f. 76 S.o. S. 21ft'. Es bestehen allerdings nicht unerhebliche Zweifel daran, ob das von Libyen geltend gemachte und durch SR-Res. 748 (1992) beeinträchtigte Recht zur Verweigerung der Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter wirklich ein solches aus der Montreal-Konvention war. Zweifel daran äußern Oda in seiner Erklärung, ICJ Rep. 1992, 3, 17, 18f. und lpsen, VN 1992, 42f.; die Montreal-Konvention halten dagegen rur anwendbar Marschang, KJ 1993,67; Graefrath, EJIL 1993, 189. 77 In eine ähnliche Richtung geht anscheinend Franck, AJIL 1992, 522, wenn er meint, daß aufgrund der beschränkten Jurisdiktionsgrundlage im Lockerbie-Fall wohl nur die Montreal-Konvention als Maßstab rur die Kontrolle von SR-Res. 748 (1992) in Betracht komme. Dabei übersieht er allerdings, daß durchaus zweifelhaft ist, ob der SR überhaupt an das Völkerrecht und damit auch an die Montreal-Konvention gebunden ist (dazu u. S. 219ft'.); eher problematisch war, ob der IGH auf Grundlage des Art. 41 I IGH-Statut auch zur Auslegung der Charta schreiten kann. 78 Die entsprechenden Erklärungen finden sich abgedruckt im jeweiligen Jahrbuch des IGH; vgl. etwa YICJ 48 (1993/94), 82ft'. 6"
84
2. Teil: Prozessuale Fragen
durch zum Teil weitreichende Vorbehalte eingeschränkt. 79 Solche Vorbehalte sind grundsätzlich unbeschränkt zulässig; Art. 36 III IGH-Statut kommt keine abschließende Bedeutung zu. 80 Es ist daher nicht ohne Interesse, die Bedeutung einiger in der Praxis vorkommender Vorbehalte fllr die Möglichkeiten der Inzidentkontrolle zu untersuchen. Hinzuweisen ist zunächst darauf, daß eine Reihe von Staaten ausdrücklich Vorbehalte in ihre Unterwerfungsklauseln aufgenommen haben, die alle Streitigkeiten, die aus der Ausftlhrung der Beschlüsse der Vereinten Nationen oder von internatiQnalen Organisationen im allgemeinen entstehen könnten, von der Zuständigkeit des IGH ausnehmen. Zitiert sei etwa die Erklärung Kenias vom 19. April 1965, nach der sich die Zuständigkeit des IGH nicht erstreckt auf: 81 "[ ... ] disputes conceming any question relating to or arising out ofbelIigerent or military occupation or the discharge 0/ any functions pursuant to any recommendation or decision 0/ an organ 0/ the United Nations, in accordance with which the Govemment ofthe Republic ofKenya have accepted obligations [... ]."
Diese Vorbehalte, die in gewisser Weise die Fortschreibung und Ergänzung der früher allein üblichen "war exclusion clauses"82 darstellen, schließen jede Streitigkeit, die sich aus der Ausftlhrung eines beliebigen Beschlusses der VN ergeben könnte, von der Gerichtsbarkeit des IGH aus; eine inzidente Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen ist auf Grundlage solcher Erklärungen nicht möglich. 83
79 Mos/er, FS Schwarzenberger, S. 218 konstatiert daher eine weitgehende Entwertung des Art. 3611 IGH-Statut. 80 Rosenne, S. 391; Shihata, S. 361; Briggs, RdC 1958 I, 252. 81 YICJ 48 (I 993/94 ), 98f.; wortgleich mit dieser auch die Erklärung Maltas vom 6. Januar 1966 (ebd., 102f.) sowie die von Mauritius vom 23. September 1968 (ebd., 104f.). Ganz ähnlich auch der Vorbehalt in der Erklärung Indiens vom 18. September 1974 (ebd., 96f.), der von der Gerichtsbarkeit des IGH ausnimmt: ''[. .. ] disputes relating to or connected with facts or situations of hostilities, armed conflicts, individual or collective self-defence, resistance to aggression, fu/ji/ment 0/ obligations imposed by international bodies, and other similar or related acts, measures or situations in which India is, has been or may in future be involved [... ]"; Alle Hervorhebungen vom Verf. Vorbehalte dieser Art sind gerade unlängst wieder häufiger anzutreffen; siehe die Erklärung Ungarns vom 22. Oktober 1992 (ebd., 95f.) sowie den Bericht der Working Group on Improving the Effectiveness 0/ the United Nations, Int'l Lawyer 1995, 293, die der USA die Abgabe einer mit einem entsprechenden Vorbehalt versehenen Erklärung nach Art. 36 11 IGH-Statut empfiehlt. Vgl. allgemein zu diesen Vorbehalten auch Ciobanu, AJIL 1976,332. 82 Vgl. dazu Rosenne, S. 400-403; Maus, S. 142-145; Briggs, RdC 1958 I, 305f. 83 Vgl. auch Ciobanu, AJIL 1976,332.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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Weitere Vorbehalte, die sich speziell gegen eine inzidente Kontrolle der Beschlüsse des SR richten würden, gibt es nicht. 84 Insbesondere gibt es auch keine Vorbehalte, die einer parallelen Befassung von SR und IGH entgegenstehen WOrden. 85 In einigen Erklärungen wird allerdings die Zuständigkeit des IGH zur Auslegung multilateraler Verträge davon abhängig gemacht, daß alle Parteien des Vertrags auch Parteien der Streitigkeit vor dem IGH sind;86 durch einen solchen - in seinem Sinn schwer nachvollziehbaren 87 - Vorbehalt wäre auch die Zuständigkeit des IGH zur Auslegung der Charta praktisch ausgeschlossen. Insgesamt jedoch ergeben sich sowohl aus Art. 36 I 2. Alt. als auch aus Art. 36 11 IGH-Statut eine ganze Reihe möglicher Jurisdiktionsgrundlagen, auf deren Basis eine inzidente Kontrolle nichtwirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen denkbar wäre. Die Zuständigkeit des IGH ist zwar alles andere als flächendeckend; die möglichen Jurisdiktionsgrundlagen sind aber immerhin doch so zahlreich, daß in vielen Fällen der Verhängung nichtwirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen vermutlich der eine oder andere Staat als möglicher Beklagter in Betracht käme. Damit ist die Inzidentkontrolle potentiell ein auch praktisch bedeutsames Mittel zur Erzielung von Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen.
2. Das berechtigte Interesse des Klägers
Ein weiterer Aspekt, von dem die potentielle Reichweite der Inzidentkontrolle abhängt, ist das Erfordernis eines berechtigten Interesses auf seiten des Klägers. Ein solches berechtigtes Interesse ist grundsätzlich fiir jede Klage vor
84 Zu anderen relevanten Vorbehalten vgl. aber Ciobanu, S. 54f. und AJIL 1976,
331f.
85 Einen solchen Vorbehalt enthielt allerdings die - nicht mehr in Kraft befindliche Erklärung Australiens vom 6. Februar 1954 (YICJ 1956/57, 208f.), nach der sich Australien das Recht vorbehielt, "to require that proceedings in the Court shall be suspended in any dispute in respect of which the Security Council of the United Nations is exercising the fimctions assigned to it by the Charter of the United Nations". Hierzu Maus, S. 128ff.; Alexandrov, S. 106f.; skeptisch zur Nützlichkeit eines solchen Vorbehalts d'Amafo, AJIL 1985, 399f. Allgemeine Vorbehalte anderer Mittel friedlicher Streitbeilegung, wie sie sich häufig in Unterwerfungserklärungen finden (vgl. Audeoud, RGDIP 1977,963 [Fn. 23]), betreffen nicht die Tätigkeit des SR nach Kapitel VII der Charta (kaum vertretbar Maus, S. 127f., der zwar nicht die Tätigkeit nach Kapitel VI, wohl aber die nach Kapitel VII als friedliche Streitbeilegung im Sinne dieser Vorbehalte wertet). 86 Vgl. etwa die Erklärung Pakistans vom 13. September 1960, YICJ 48 (1993/94), 110. 87 Zur Problematik und zu den Hintergründen dieser Vorbehalte vgl. Briggs, RdC 1958 I, 306ff.; Maus, S. 164ff.
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2. Teil: Prozessuale Fragen
dem IGH erforderlich;88 auch im Völkerrecht gibt es keine actio popularis.89 Die dogmatische Verortung dieses Prinzips ist nicht völlig klar; es ist jedoch in verschiedener Form auch in der Rechtsprechung des IGH anerkannt worden. 90 Das Erfordernis eines berechtigten Interesses ist insbesondere dort von Bedeutung, wo nicht Rechtsansprüche geltend gemacht, sondern abstrakte Feststellungen begehrt werden. Zwar ist die Zulässigkeit von Feststellungsklagen vor dem IGH im Grundsatz unstreitig;91 dabei wird man jedoch stets zu verlangen haben, daß die begehrte Feststellung auch von Bedeutung ftlr die rechtlichen Beziehungen ,der beteiligten Staaten sein kann.92 Dies hat Auswirkungen auf Art und Inhalt der Beschlüsse, die im Verfahren der Inzidentkontrolle der Überprüfung durch den IGH zugeftlhrt werden können. So wäre es zum Beispiel nicht zulässig, wenn zwei Staaten, die eine Meinungsverschiedenheit über die Satzungsmäßigkeit einer schon an sich unverbindlichen Empfehlung93 haben, diese Frage gleichsam abstrakt dem IGH zur Entscheidung vorlegen WÜTden. 94 Weder der IGH noch die Mitgliedstaaten sind berufen, in dieser Form als Hüter des Rechts der VN aufzutreten. Die inzidente Kontrolle von Beschlüssen durch den IGH ist nur ein Reflex seiner Zuständigkeit zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Staaten; nur dort, wo solche Beschlüsse gestaltend in die Rechtsbeziehungen der Parteien eingreifen, ist daher die inzidente Kontrolle denkbar. Daraus folgt, daß selbst die Beschlüsse des SR nur in gewissen Beziehungen überprüft werden können. Der Kontrolle zugänglich ist schon nur das ermächtigende Element in den Beschlüssen des SR, also die 88 Vgl. hierzu ausfUhrlich Rosenne, S. 518ff.; Mbaye, RdC 1988 11, 235; de Visscher, Aspects recents, 62f. 89 De Visscher, Aspects recents, S. 71. Ein besonderes Problem ist das der sog. Rechtspflichten erga omnes; vgl. hierzu Frowein, FS Mosler, S. 259f. 90 Vgl. Northern Cameroons, ICI Rep. 1963, 4, 37, wo das Vorliegen von "actual legal rights" verlangt wurde; South West Africa Cases (Ehiopia v. South Africa/Liberia v. South Africa), Second Phase, ICI Rep. 1966, 3, 18; Barcelona Traction, ICI Rep. 1970, 3, 33, wo grundsätzlich - unter dem Vorbehalt etwaiger Verpflichtungen erga omnes - ein "legal interest" verlangt wird. Gegen das Erfordernis eines rechtlichen Interesses dagegen Morelli in seiner sep. op. im Fall Northern Cameroons, a.a.O., BI, 133, der allerdings lediglich die autonome Bedeutung des Prinzips bestreitet und dafUr stärker auf das Vorliegen eines "differend juridique" abstellt, was im praktischen Ergebnis aber keinen großen Unterschied machen dürfte (dazu Mbaye, RdC 198811,333). 91 Vgl. Gross, AJIL 1964,420. 92 Vgl. etwa die Definitionen des berechtigten Interesses bei Rosenne, S. 519; Mbaye, RdC 1988 11, 26lf. 93 Zur Frage einer rechtfertigenden Wirkung von Empfehlungen s.o. S. 35ff. 94 Dies übersieht Sohn, AJIL 1975, 852f. mit seinem Vorschlag, das streitige Verfahren als ein Instrument einer allgemeinen Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der VN zu nutzen; undeutlich insofern trotz seiner Kritik an Sohn Ciobanu, AJIL 1976, 334.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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Duldungspflicht des Adressaten der Zwangsmaßnahmen, nicht aber trotz ihres unter Umständen erheblich belastenden Charakters die Handlungspflicht der zur AusfUhrung von Zwangsmaßnahmen Verpflichteten. Vor allem sind aber auch nur solche Beschlüsse der Überprüfung im Verfahren der Inzidentkontrolle zugänglich, die in Rechte des betroffenen Staates eingreifen. Die Anordnung des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen (vgl. Art. 41 S. 2 ChVN) ist daher beispielsweise niemals überprüfbar, obwohl der betroffene Staat auch insofern ein erhebliches Rechtsschutzinteresse hätte. Dies ist letzten Endes eine unvermeidliche Folge der nur indirekten Natur der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren. Die Möglichkeiten des Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen im streitigen Verfahren sind daher sowohl im Hinblick auf die Grundlagen der Zuständigkeit des IGH als auch in Bezug auf die seiner Kontrolle unterworfenen Beschlüsse vergleichsweise eingeschränkt. Aber so bruchstückhaft die Inzidentkontrolle auch ist, so könnte sie immerhin in einigen Fällen Ansatzpunkte ftlr eine gerichtliche Kontrolle bieten, die sonst im Recht der VN völlig fehlen.
11. Zu lässigkeit der Inzidentkontrolle Mit einer Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen würde der IGH ins Herz des Systems der VN vorstoßen. Die Verhängung von Zwangsmaßnahmen ist nahezu immer auch eine hochpolitische Angelegenheit. Im Verfahren der Inzidentkontrolle könnte der IGH daher berufen sein, über Probleme von einer solchen Tragweite zu entscheiden, wie wohl noch kein internationales Gericht zuvor. Es kann nicht ausbleiben, daß sich aus diesem ungewöhnlichen Charakter der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren auch Bedenken gegen ihre Zulässigkeit ergeben. Diese Bedenken, die sowohl die allgemeine Frage der Justiziabilität einer solchen Streitigkeit als auch das Verhältnis der Kompetenzen von SR und IGH betreffen, sind im folgenden auf ihre Stichhaltigkeit hin zu prüfen.
1. Inzidentkontrolle und Justiziabilitlt
Die hohe politische Bedeutung einer gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen könnte die Frage aufwerfen, ob es sich hierbei überhaupt noch um eine Streitigkeit handelt, die der Entscheidung durch ein völkerrechtliches Gericht unterworfen werden kann. Es stellt sich die Frage, ob es eine Grenze zwischen rechtlichen und politischen, zwischen justiziablen und nicht-
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2. Teil: Prozessuale Fragen
justiziablen Streitigkeiten gibt; wäre dies der Fall, müßte geklärt werden, ob die inzidente Kontrolle der Beschlüsse des SR noch im justiziablen Bereich liegt. Die Reichweite der Zuständigkeit des IGH bestimmt sich dabei grundsätzlich nach den im konkreten Fall maßgeblichen Jurisdiktionsgrundlagen. 95 Weder die Schiedsklauseln im Sinne des Art. 36 I 2. Alt. IGH-Statut noch die Unterwerfungserklärungen nach Art. 36 11 IGH-Statut enthalten jedoch einen ausdrücklichen Vorbehalt, nach dem die Zuständigkeit des IGH auf einen wie auch immer zu bestimmenden Bereich justiziabler Streitigkeiten beschränkt wäre. Gleichwohl ist es nicht undenkbar, daß sich eine solche Begrenzung der Zuständigkeit des IGH in einer Auslegung der fraglichen Jurisdiktionstitel als stillschweigend gewollt herausstellen könnte. 96 Ein Ansatz fi1r solch eine allgemeine Grenze der Zuständigkeit des IGH könnte auch die Wendung des Art. 36 11 IGH-Statut sein, wonach die Zuständigkeit des Gerichtshofs sich nur auf "Rechtsstreitigkeiten" ("legal disputes"/"differends d'ordre juridique") erstreckt, die in der Folge noch näher aufgezählt werden; diese Wendung fmdet sich in den meisten Unterwerfungserklärungen wiederholt. Die einzelnen Jurisdiktionstitel sind allerdings nur ein mehr formeller Ausgangspunkt, denn ein konkreter Wille der Staaten wird sich kaum je ermitteln lassen. Entscheidend ist daher vielmehr, ob es unabhängig von dem jeweiligen Jurisdiktionstitel gewisse inhärente Grenzen gerichtlicher Streitentscheidung gibt. Dieser Frage soll nunmehr im Hinblick auf den IGH nachgegangen werden.
a) Justiziabilität: Geschichte und Hintergrund
Die Kontroverse um die Unterscheidung von politischen und rechtlichen, von justiziablen und nichtjustiziablen Streitigkeiten ist so alt wie die internationale Rechtsprechung selbst. Ihre Bedeutung wuchs parallel zu dem Aufkommen von Bestrebungen zur Einrichtung einer Gerichtsbarkeit auf internationaler Ebene seit Beginn des 20. Jahrhunderts. 97 Dabei lag die Zielsetzung der Unterscheidung zunächst darin, durch eine genaue Umschreibung der Zuständigkeit solcher internationaler Gerichte den nationalen Regierungen, die jeder Be95 Daher könnte man sich fragen, ob es sich bei der lustiziabilität eigentlich um eine Frage der "jurisdiction" oder der "admissibility" im Sinne der Rechtsprechung des lOH handelt. Praktische Bedeutung hat diese Unterscheidung jedoch nicht (Thir/way, EPIL I, 181; Norton, VaJIL 1987, 460, Fn. 4); in der Folge wird einheitlich der Begriff "Zulässigkeit" verwendet. 96 So auch der Ansatz von Oda in seiner diss. op. im Nicaragua-Fall. Merits, leJ Rep. 1986,212, 235; ebenso Norton, VaJIL 1987, 492, 520. 97 Zu dieser Entwicklung allgemein Fischer in Ipsen, 60, Rn. 24ff.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
89
schränkung ihrer Handlungsfreiheit mißtrauisch gegenüberstanden, die Akzeptanz richterlicher Streitentscheidung zu erleichtern. 98 Dementsprechend enthielten alle Schiedsverträge der damaligen Zeit Klauseln, die in der einen oder anderen Form die Zuständigkeit der jeweiligen Gerichte einzugrenzen versuchten. 99 Die frühen Verträge enthielten dabei zumeist noch einen ausdrücklichen Vorbehalt der vitalen Interessen oder der Unabhängigkeit der Parteien;100 später ging man jedoch dazu über, eine Eingrenzung der Zuständigkeiten internationaler Gerichte über ihre Beschränkung auf die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zu erreichen. 10 1 Vor diesem Hintergrund ist es zu sehen, wenn Art. 36 11 des Statuts des StlGH diesen auf die Entscheidungen von "Rechtsstreitigkeiten" festlegte; 102 diese Wendung ist schließlich in Art. 36 11 IGH-Statut übernommen worden. So allgemein jedoch die Praxis einer Beschränkung der Zuständigkeit internationaler Gerichte auf die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten war, so groß war auch die Uneinigkeit über die Bedeutung dieser Klauseln. In der älteren Lehre wurden die verschiedensten Ansätze zur Abgrenzung rechtlicher und politischer Streitigkeiten vertreten; das Vorliegen einer Rechtsstreitigkeit wurde verneint, wenn das Völkerrecht keine Regelung der konkreten Frage enthielt, 98 V gl. H. Lauterpacht, S. 4f. 99 Überblicke über die Vertragspraxis bei Chapal, S. 53ff.; Beirlaen, RBDI 1975, 408ff.; Mosler, FS Schwarzenberger, S. 219 ff. 100 Mit die früheste Regelung enhält Art. 1 des Schiedsvertrags zwischen GroßBritannien und Frankreich aus dem Jahre 1903 (RGDIP 10 [1903], 800), der die Zuständigkeit tUr alle Rechtsstreitigkeiten begründete unter dem Vorbehalt "[ ... ] qu'ils ne mettent en cause ni les interets vitaux ni I'independence ou I'honneur des deux etats [... ]"; ähnlich auch noch Art. 4 des Deutsch-Schweizerischen Schiedsvertrages von 1921 (RGBI. 1922 I, 217). Vgl. dazu auch Partsch, EPIL 10, 527ff. 101 Die Formulierungen sind dabei im einzelnen unterschiedlich. Art. 38 I des I. Haager Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle von 1907 (RGBI. 1910,5; Martens, NRG sero 3, III, 360) sprach allgemein von "differends d'ordre juridique"; Art. 1 des Schiedsvertrags zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich von 1911 (AJIL 5 [1911], Suppl., 249) verwandte dagegen die komplexere Wendung "[ ... ] differends [... ] provenant d'une recIamation de droit formee par I'une partie contre I'autre en vertu d'un traite ou d'une autre cause, et qui sont de nature a emporter un reglement judiciaire du fait qu'i1s peuvent etre resolus par I'application des principes du droit [... ]". Eine gewisse Bedeutung erlangte auch die Wendung der Art. I der als Anlage zum Locarno-Pakt (LNTS 54, 289; RGBI. 1928 11, 975) abgeschlossenen Schiedsverträge, nach denen justiziabel sein sollten "[ ... ] Streitfragen [... ], bei denen die Parteien untereinander über ein Recht im Streit sind [... ]"; diese Wendung tauchte wieder auf in Art. 17 des General Act for the Pacific Settlement of Disputes von 1928 (LNTS 93, 343). 102 Dabei übernahm Art. 36 11 StIGH-Statut zugleich die Aufzählung möglicher rechtlicher Streitigkeiten, die schon in Art. 13 11 VBS enthalten gewesen war. AustUhrlich zur Entstehungsgeschichte des Art. 36 11 StIGH-Statut H. Lauterpacht, S. 35 (Fn. I).
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2. Teil: Prozessuale Fragen
wenn eine Anwendung des geltenden Völkerrechts zu grob unbilligen Ergebnissen fUhren oder die Lebensinteressen eines Staates gefährden würde, oder wenn es sich um reine Interessenkonflikte handelte. 103 Dem gegenüber setzte sich allmählich die Auffassung durch, daß es überhaupt keine objektive Unterscheidung von politischen und rechtlichen Streitigkeiten gebe. Die Unterscheidung sei vielmehr rein subjektiv und bestimme sich allein danach, ob die Parteien zu einer gerichtlichen Streitentscheidung bereit seien. I04 Die Begrenzung auf "Rechtsstreitigkeiten" in den fraglichen Verträgen wäre demnach ohne eigenständige Bedeutung.
b) Die Rechtsprechung des IGH
Auch in der Rechtsprechung des IGHIOS hat die Frage der Justiziabilität häufiger eine Rolle gespielt; entsprechende Einwände sind jedoch niemals durchgedrungen. Das gilt schon fUr die gutachtliche Rechtsprechung des IGH,106 obwohl doch hier angesichts seines Ermessens nach Art. 65 I IGHStatut eine Berücksichtigung der politischen Bedeutung sicherlich noch näher gelegen hätten. Aber auch im streitigen Verfahren hat der IGH Einwände bezüglich der politischen Bedeutung regelmäßig zurückgewiesen. Im ÄgäisKonflikt etwa erklärte der IGH es fUr irrelevant, daß die Streitigkeit zugleich von hoher politischer Bedeutung gewesen sei; dies sei bei Streitigkeiten zwischen Staaten ohnehin immer der Fall. 107 Ganz entsprechend hielt der Gerichtshof auch im Fall der in Teheran festgehaltenen US-Geiseln den "größeren politischen Rahmen", in dem sich der Konflikt abspielte, fUr unmaßgeblich fUr die Frage der Zuständigkeit. 108 Sehr viel kontroverser waren dagegen schon die 103 Einen Überblick über die ältere Lehre geben mit weiteren Nachweisen Beirlaen, RBDI 1975, 412ff.; Chapal, S. 57ff. 104 H. Lauterpacht, S. 164 und RdC 1930 IV, 649; Bruns, ZaöRV 1933 III, 469; G. Hoffmann, BDGV 1969, 29f.; Higgins, ICLQ 1968, 74; Beirlaen, RBDI 1975, 424; Chapal, S. 68.
lOS Der StIGH war dagegen kaum je mit Fragen der Iustiziabilität befaßt. Vgl. allerdings das dictum in Usine de Chorzow (Allemagne v. Pologne), Fond, CPJI sero A, no. 17,37 (1928): U[ ... ] iI n'y a aucun differend que les etats admis a ester devant la Cour ne puissent lui soumettre [... ]U; ebenso Droits de minorites en Haute-Si/esie (Ecoles minoritaires), CPJI sero A., no. 15,23 (1928). 106 Vgl. ConditionsjorAdmission, ICI Rep. 1947/48,57,61; CompetencejorAdmission, ICI Rep. 1950,4, 6f.; Certain Expenses, ICI Rep. 1962, 151, 156; Namibia, ICI Rep. 1971, 16, 23. Zu dem besonderen Problem der Auslegung der Charta vgl. schon o. S. 67ff. 107 ICI Rep. 1978,3, 13. 108 ICI Rep. 1980,3,20.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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Entscheidungen des IGH im Streitfall zwischen den Vereinigten Staaten und Nicaragua. Auch hier erachtete der IGH die politischen Implikationen des Konflikts als irrelevant filr das gerichtliche Verfahren. l09 Dies wurde jedoch in der abweichenden Meinung des Richters Oda bezweifelt, der meinte, es habe sich nicht um einen "legal dispute" gehandelt;110 das Urteil hat aus der Perspektive der Wünschbarkeit gerichtlicher Entscheidung in aktuellen militärischen Konflikten auch in der Literatur erhebliche Kritik erfahren. lll Eine abschließende Stellungnahme dazu, wie der IGH die Frage der Justiziabilität nun konkret filr das Problem der Inzidentkontrolle entscheiden wUrde, liegt noch nicht vor; im Lockerbie-Fall 1l2 konnte der Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens auf vorläufigen Rechtsschutz jede Stellungnahme zu Fragen der Zulässigkeit vermeiden. Immerhin legt das Fehlen jeglicher Stellungnahme auch in den Sondervoten insofern die Annahme nahe, daß der IGH hier kein besonderes Problem sah. In jedem Fall weist die Rechtsprechung des IGH eine eindeutige Tendenz auf, nach der allein der Hinweis auf die hohe politische Bedeutung einer Streitigkeit nicht ausreichen kann, um einen Einwand gegen die Zulässigkeit einer Klage zu begründen. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellt die Anordnung des IGH im Streitfall zwischen Bosnien und Rest-Jugoslawien dar. ll3 Man kann sich kaum einen Fall denken, der in stärkerem Maße die Lebensinteressen und Unabhängigkeit der Parteien im Sinne der klassischen Definition politischer Streitigkeiten berührt hätte; gleichwohl hat sich der Gerichtshof hierdurch nicht davon abhalten lassen, prima facie von seiner Zuständigkeit auszugehen und zur Anordnung vorsorglicher Maßnahmen zu schreiten. 114
109 Jurisdiction and Admissibility, ICJ Rep. 1984, 392, 435; Merits, ICI Rep. 1986, 14,27. 110 Diss. op. Oda, lCI Rep. 1986, 220ff. 111 Norton, VaJIL 1987, 522ff.; Cut/er, VaJIL 1984/85,442; zustimmend dagegen etwa Pellet, FS Rosenne, S. 541; Briggs, AJIL 1985, 375. Obwohl der IGH auf die Frage der Iustiziabilität einging, waren die tatsächlichen Einwände der Vereinigten Staaten allerdings spezieller gefaßt gewesen (vgl. ICI Rep. 1984, 392, 429ff.); auf einige der dabei aufgeworfenen Probleme wird noch einzugehen sein. 112 S.o. S. 21ff. 113 ICI Rep. 1993, 3, 18; bestätigt durch ICI Rep. 1993, 325. 114 Vgl. ICJ Rep. 1993,3, 18,24.
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2. Teil: Prozessuale Fragen
c) Justiziabilität und quasi-obligatorische Gerichtsbarkeit
Es ist auch zweifelhaft, ob der Begriff der Justiziabilität im System der Gerichtsbarkeit des IGH nach Art. 36 IGH-Statut noch einen Platz haben kann. Die Verwendung des Wortes "Rechtsstreitigkeit" in Art. 36 11 IGH-Statut kann dies noch nicht belegen. 115 Es kann heute als geklärt gelten, daß jeder Streit, der einem Gericht zur Entscheidung nach dem Völkerrecht unterbreitet wird, grundsätzlich auch nach dem Recht entschieden werden kann. Ist der Anspruch nicht begründet, so ist die Klage abzuweisen; das ist jedoch eine Frage der BegrUndetheit und beeinträchtigt nicht den Charakter der Streitigkeit als Rechtsstreitigkeit. 116 Die Wendung des Art. 36 11 IGH-Statut unterstreicht den judiziellen Charakter des IGH; eine eigenständige Bedeutung ft1r die Zuständigkeit des Gerichtshofs kommt ihr jedoch nicht zu. 117 Letztlich ist aber die Konzentration der Diskussion auf den angeblichen Gegensatz rechtlicher und politischer Streitigkeiten eher irrefilhrend. Es geht gar nicht so sehr darum, ob eine Entscheidung nach Maßgabe des Völkerrechts möglich wäre; die wirkliche Frage, die dem Problem der Justiziabilität zugrunde liegt, ist die, ob die gerichtliche Entscheidung eines Streitfalles als erfolgversprechend erscheint. In diesem Verständnis hat die Frage der Justiziabilität auch heute noch ihre Bedeutung. Der Erfolg internationaler Rechtsprechung bemißt sich nicht danach, in wie vielen Fällen sich der Gerichtshof ft1r zuständig erklärt hat; Maßstab ist vielmehr, inwieweit seine Entscheidung in der Sache befolgt wurde und zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts beigetragen hat.. In dieser Perspektive ist die politische Bedeutung einer Streitigkeit durchaus relevant ft1r den möglichen Erfolg der Rechtsprechung des IGH. Rechtliche Konflikte sind in vielen Fällen nur Teil größerer Spannungs lagen; 118 die Interessenkonflikte, die auf dem Spiel stehen, können unter Umständen so fundamental sein, daß keine Partei bereit sein wird, sich der Gefahr eines ihr ungUnstigen Urteils auszusetzen. 119 Ist eine Rechtsstreitigkeit Teil einer solch übergreifenden Spannungslage, so stehen die Aussichten gerichtlicher Streitentscheidung in der Tat
115 Hierauf stützt sich allerdings Oda in seiner diss. op. in Nicaragua-Fall, ICI Rep. 1986,212,239. 116 H Lauterpacht, S. 164 und RdC 1930 IV, 649; Bruns, ZaöRV 1933 III, 472f.; G. Hoffmann, BDGV 1969,29; Beirlaen, RBDI 1965,424; Higgins, ICLQ 1968, 74; Mosler, FS Schwarzenberger, S.224; Fastenrath, S. 238, Chapal, S. 68. 117 Vgl. H Lauterpacht, S. 201 und RdC 1930 IV, 650. 118 Falk, VaJIL 1970, 322 spricht davon, Rechtsstreitigkeiten seien "epiphenomenal" . 119 De Visscher, Theories et realites, S. 398.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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oftmals schlecht. 120 Nicht nur, daß die Befolgung des Urteils gefiihrdet sein kann; die richterliche Entscheidung über Teilaspekte des Konflikts wird auch die wirklichen Ursachen der Spannungslage nicht beseitigen können. Konflikte, in denen es zur Verhängung von Zwangsmaßnahmen durch den SR gekommen ist, werden dabei regelmäßig eine solche Spannungs lage darstellen. Die Gefahr der Nichtbefolgung durch den Unterlegenen - gleich, ob Kläger oder Beklagter - ist daher ebensowenig von der Hand zu weisen wie das Problem, daß die Ursachen des Konflikts, die zur Verhängung der Zwangsmaßnahmen durch den SR gefilhrt haben, durch ein Urteil des IGH ebenfalls nicht beseitigt werden.
An dieser Stelle tritt letztlich die inhärente Schwäche internationaler Rechtsprechung zutage, die in Abwesenheit zentraler Zwangsmechanismen ohne ein gewisses Maß an Konsens seitens der ihr Unterworfenen nicht auskommt; flillt dieser Konsens weg, dann wird es ein internationales Gericht schwer haben, seinem Auftrag nachzukommen. 121 Die Frage ist nur, ob dieses allgemeine Problem zugleich auch die Annahme rechtfertigt, der IGH sei in all jenen Fällen, in denen seine Tätigkeit als wenig erfolgversprechend erscheinen könnte, zugleich nicht zuständig. Das würde die Möglichkeit einer praktikablen Abgrenzung von justiziablen und nichtjustiziablen Streitigkeiten voraussetzen. Dabei kann man allerdings nicht einfach auf die Ansicht des Beklagten abstellen. 122 Justiziabilität als subjektivierte Einrede würde die vorherige Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des IGH ad absurdum ftihren;123 sie würde die obligatorische Gerichtsbarkeit jenes "element of legal obligation" berauben, das sie erst zu dem macht, was sie ist. 124 Wenn überhaupt, dann könnte die Justiziabilität nur eine objektive, vom IGH selbst kraft seiner Kompetenz-Kompetenz (Art. 36 VI IGH-Statut) festzustellende Grenze der Zuständigkeit sein. Aber auch eine solche objektive Fassung des Einwands würde nicht alle Pro120 De Visscher a.a.O.; vgl. auch Morgenthau, S. 72ff. zum Begriff der "Spannung" in den internationalen Beziehungen. 121 Vgl. Norton, VaJIL 1987,522. 122 So aber Oda in seiner diss. op. im Nicaragua-Fall, ICI Rep. 1986, 212, 235, wenn er meint, die Vereinigten Staaten müßten selbst entscheiden können, was rur sie ein "legal dispute" sei. 123 H. Lauterpacht, S. 189. 124 H. Lauterpacht, S. 189,201. Das Problem solcher "self-judging reservations" ist insbesondere im Zusammenhang mit den in den Unterwerfungserklärungen der Staaten zuweilen anzutreffenden Vorbehalten der inneren Zuständigkeit diskutiert worden, die teilweise den jeweiligen Regierungen das Recht zur abschließenden Feststellung des Bereichs der inneren Zuständigkeit zusprechen; vgl. dazu insbesondere die Sondervoten von H. Lauterpacht in den Fällen Certain Norwegian Loans (France v. Norway) , ICI Rep. 1957, 34, 58, und Interhandel (Switzerland v. United States). Preliminary Objections. ICI Rep. 1959,95, 107; vgl. auch Briggs, RdC 1958 I, 363; Rosenne, S. 399; Shihata, S. 271 ff.
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2. Teil: Prozessuale Fragen
bleme beseitigen. 125 So wie jede politische Streitigkeit potentiell auch eine rechtliche ist, so hat - zumal auf internationaler Ebene - jeder Rechtsstreit auch einen politischen Hintergrund. 126 Die politische Bedeutung ist letztlich immer nur eine Frage des Grades; objektivierbare Maßstäbe gibt es nicht. 127 Der IGH müßte daher in Ermangelung praktikabler Standards intuitiv nach wenig greifbaren Erwägungen der Opportunität im Einzelfall entscheiden. Damit wUrde aber nicht nur die obligatorische Gerichtsbarkeit zu einem Lotteriespiel ftlr den Kläger; hierin läge zugleich eine Einladung an jeden Beklagten, der sich dem Verfahren entziehen will, sich so widerspenstig und kompromißlos wie möglich zu zeigen. Die Figur der lustiziabilität löst daher die Probleme internationaler Gerichtsbarkeit nicht, sondern verschärft sie nur noch. Seine schwache Stellung kann der IGH nicht dadurch verbessern, daß er sich vorsorglich von allen Positionen zurückzieht, die zu halten womöglich einmal heikel werden könnte. Die Entscheidung, sich überhaupt der Rechtsprechung des IGH zu unterwerfen, liegt nach wie vor bei den Staaten; die gerichtliche Streitbeilegung genießt hier keinen Vorrang vor anderen Mitteln friedlicher Streitbeilegung. 128 Haben sie sich jedoch einmal verbindlich und vorbehaltslos ftlr die gerichtliche Alternative entschieden, dann gibt es kein Zurück mehr; die Erwägung, daß im konkreten Fall andere oder vielleicht auch gar keine Mittel friedlicher Streitbeilegung geeigneter erscheinen, ist nicht mehr zulässig. 129 Der Wille des Beklagten kann in einem System obligatorischer Gerichtsbarkeit ebensowenig eine Rolle spielen wie die Erwägung, ob das Urteil letztlich auch befolgt werden wird; hier "reality of consent" zu verlangen,130 ist ein zerstörerisches Konzept. 131 Man könnte sich natürlich die Frage stellen, ob die Zeit schon reif ist ftlr eine obligatorische oder wenigstens quasi-obligatorische Gerichtsbarkeit auf internationaler Ebene. Aber die Antwort hierauf hat Art. 36 II IGH-Statut schon gegeben; es gilt daher, hieraus das Bestmögliche zu machen. Dies tut man nicht, indem man
125 H. Lauterpacht, S. 183 und RdC 1930 IV, 650; Higgins, ICLQ 1968,64; Beirlaen, RBDI 1975,418. 126 Aegean Sea, ICJ Rep. 1978, 3, 13; H. Lauterpacht, S. 164; Beirlaen, RBDI 1975,416; Gordon, AJIL 1987, 129; Chapal, S. 60. 127 Higgins, ICLQ 1968, 64; Lachs in UNITAR, S. 147, 152; dies gesteht auch Norton, VaJIL 1987, 522 zu. 128 Rosenne, S. 92; Pellet, FS Rosenne, S. 542. 129 Vgl. Mosler, FS Schwarzenberger, S. 222f., der betont, daß es unter Art. 36 1I IGH-Statut keine "general escape c1ause" gibt; Chapal, S. 72, Morgenthau, S. 134. 130 So Norton, VaJIL 1987, 522. 131 Die Gefahr der Entwertung der Unterwerfungklauseln sieht auch Fastenrath, S.
237f.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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den IGH getreu der Maxime "de maximis non curat praetor,,132 zu einer Art "small-claims court" degradiert. 133 Eine besondere Voraussetzung der Justiziabilität besteht daher nicht. Justiziabel ist vielmehr alles, was dem IGH im Rahmen seiner allgemeinen Zuständigkeiten zur Entscheidung nach dem Völkerrecht unterbreitet wird; justiziabel ist folglich auch die Frage der Gültigkeit der Beschlüsse des SR.
d) Jurisdiktion: Pflicht oder Option? Die hohe politische Bedeutung einer Streitigkeit beraubt den IGH somit noch nicht seiner Zuständigkeit. Gleichwohl bleibt die Frage, ob ftlr den IGH wirklich in jedem Fall, in dem seine Zuständigkeit begründet ist, eine Verpflichtung zur Ausübung derselben besteht, oder ob ihm nicht vielleicht ein Ermessen bezüglich der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit zusteht. Ein solches Ermessen würde den IGH letztlich auch in die Lage versetzen, die Entscheidung über Streitigkeiten, in denen inzident über die Gültigkeit von Beschlüssen des SR zu befmden wäre, abzulehnen, wenn er dies aus Gründen der "judicial propriety" ftlr angemessen hält; die Frage ist damit von nicht unerheblicher Bedeutung ftlr die Aussichten eines Rechtsschutzes gegen Zwangsmaßnahmen. In der Tat hat der IGH ebenso wie sein Vorgänger die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit schon einige Male unter Verweis auf inhärente Schranken der "judicial function" verweigert; 134 eine besonders deutliche Bezugnahme auf das Wesen der Rechtsprechung als Grenze seiner Zuständigkeit fand sich dabei im Fall Northem Cameroons: 135 "Even if the Court, when seized, finds that it has jurisdiction, the Court is not compelled in every case to exercise that jurisdiction. There are inherent limitations on the exercise of the judicial function which the Court, as a court of justice, can never ignore." Diese Rechtsprechung ist verschiedentlich als Bestätigung ftlr die Existenz eines Ermessens des IGH bezüglich der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit ge132 Kritisch hierzu schon H. Lauterpacht, S. 183 und RdC 1930 IV, 573, der nicht ganz zu Unrecht hierin eine Perversion der römisch-rechtlichen Regel "de minimis non curat praetor" erblickt. 133 Vgl. Schachter, AJIL 1989,276. 134 Vgl. Haya de la Torre (Colombia v. Peru), ICJ Rep. 1951,71,79; Monetary Gold, 1CJ Rep. 1954, 19, 32; zur Bedeutung des Begriffes in der Rechtsprechung vgl. auch Münch, ZaöRV 1971, 712ff. 135 ICJ Rep. 1963,3,29; s. zu diesem Fall auch schon o. Fn. 24.
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2. Teil: Prozessuale Fragen
wertet worden. 136 Aber ein Ermessen kann der IGH nur dann haben, wenn ihm dieses durch sein Statut bzw. die jeweiligen Jurisdiktionstitel eingeräumt ist. Ein solches Ermessen ist dem IGH ausdrücklich zugestanden worden in Art. 65 I IGH-Statut, nach dem er Gutachten abgeben "kann", nicht muß. Eine vergleichbare Vorschrift fehlt jedoch fUr den Bereich der streitigen Gerichtsbarkeit; vielmehr spricht Art. 38 I IGH-Statut, nach dem der IGH die Aufgabe hat, "die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden", insofern eher gegen ein Ermessen. Ob aus der Regelung des Art. 65 I IGHStatut ein Umkehrschluß zu ziehen ist oder nicht, hängt aber letztlich davon ab, ob ein solches Ermessen in Angelegenheiten der streitigen Gerichtsbarkeit mit Sinn und System der Zuständigkeiten des IGH im Einklang stehen würde. Der Zweck eines Ermessens bezüglich der Ausübung der Gerichtsbarkeit wäre derselbe wie der der Grenze der Nichtjustiziabilität: der IGH soll davor bewahrt werden, über Streitigkeiten entscheiden zu müssen, in denen gerichtliche Streitschlichtung eigentlich kaum Erfolgsaussichten hat. Nur der Weg ist ein etwas anderer: nicht dem Beklagten wird eine Einrede an die Hand gegeben, sondern dem Gerichtshof selbst die freie Entscheidung übertragen. Es fragt sich aber, ob dieser Unterschied wirklich wesentlich ist. Auch über die Justiziabilität hätte letztlich der Gerichtshof selbst zu entscheiden; 137 in beiden Fällen also bliebe der Grundsatz aus dem Fall Northern Cameroons gewahrt, nach dem "the Court itself, and not the parties, must be the guardian of the Court's judicial integrity" 138. Sinn eines Ermessens könnte es daher nur sein, dem Gerichtshof größeren Spielraum bei der Begründung seiner Entscheidung zu lassen. An welchen Kriterien der IGH diese Ermessensentscheidung auszurichten hätte, bleibt jedoch weitgehend unklar. Teilweise wird lediglich empfohlen, der IGH solle zurückhaltend bei der Ablehnung der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit sein. 139 Andere befUrworten einen pragmatischen Ansatz, nach dem sich der IGH am möglichen Erfolg der richterlichen Intervention orientieren solle; 140 es werden einige Faktoren als relevante "operational indices" der Entscheidung genannt, ohne daß aber das relative Gewicht dieser Faktoren fUr die Entscheidung des IGH wirklich klar würde. 141 Es kann jedoch nicht darum gehen, dem IGH die rechtliche Begründung zu ersparen; eine solche Regel würde die Entscheidung des IGH in bedenkliche Nähe zur Willkür bringen und kaum zur Akzeptanz seiner Rechtsprechung bei136 Rosenne, S. 99, 307f.; McWhinney, S. 44; Gordon, AJIL 1987, 134. 137 S. dazu o. S. 93. 138 139 140 141
lCI Rep. 1963,3,29,37. Gordon, AJlL 1987, 135. McWhinney, S. 45. Vgl. McWhinney, S. 136.
3. Abschnitt: Probleme der InzidentkontrolIe
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tragen. Es ist vielmehr gerade das Wesen der Rechtspflege, daß Entscheidungen unter Zugrundelegung allgemeiner Rechtsprinzipien gefunden werden, und dies gilt auch filr die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Klage. Bestehen Bedenken gegen die Zulässigkeit einer konkreten Klage, so muß nach einer speziellen Regel gesucht werden, aus der sich die Unzulässigkeit ergeben könnte; mit einer Ermessensentscheidung hat dies nichts zu tun. Dies bestätigt letztlich auch die Rechtsprechung des IGH, der niemals darauf verzichtet hat, genau darzulegen, warum im konkreten Fall ein Widerspruch zur "judicial function" zu befilrchten wäre. So hat sich der IGH im Fall Northern Cameroons vor allem darauf gestützt, daß der Klageantrag gegenstandlos geworden war; 142 von einer wirklichen Ermessensentscheidung kann man hier kaum sprechen. 143 Die Aussage des Gerichtshofs, daß er nicht immer gezwungen sei, von seiner an sich bestehenden Zuständigkeit auch Gebrauch zu machen, kann man als Hinweis auf die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Klage vor dem IGH verstehen. Daß der Gerichtshof dabei häufig auf Aspekte seiner "judicial function" abstellt, ist eine Folge der noch geringen Ausdifferenzierung dieser Voraussetzungen; dies nimmt ihnen jedoch nicht den Charakter von RechtsregeIn. Ein Ermessen des IGH würde hier lediglich die Unklarheiten festschreiben, ohne dem Gerichtshof dadurch schon größere Akzeptanz zu sichern; es ist daher abzulehnen. 144 Zurückweisen darf der IGH eine Klage damit nur, wenn eine konkrete Rechtsregel nachzuweisen ist, aus der sich ihre Unzulässigkeit ergibt; dies gilt auch filr die inzidente Kontrolle der Beschlüsse des SR. Eine solche Unzulässigkeit ergibt sich nicht schon aus der großen politischen Bedeutung einer Streitigkeit. Einwände, aus denen sich die Unzulässigkeit der Inzidentkontrolle ergeben soll, müssen schon eine speziellere Form annehmen.
2. Der IGH und die Kompetenzen des Sicherheitsrats
Das zentrale Problem, das sich nunmehr in Bezug auf die Frage der Zulässigkeit der inzidenten Kontrolle der Beschlüsse des SR stellt, ist das Verhältnis der Kompetenzen von SR und IGH. Es ist zu untersuchen, ob den Kompetenzen des SR auf dem Gebiet der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht ein Vorrang zukommt, der die Inzidentkontrolle ausschließen würde. Diese kompetenzielle Frage ist klar von der der lustiziabilität zu unter142 Vgl. ICJ Rep. 1963,3,33: "issue remote from reality". 143 Higgins, ICLQ 1968, 77; D. H. N. Johnson, ICLQ 1964, 1175; Pellet, FS Rosenne, S. 552. A.A. dagegen Gordon, AJIL 1987, 129, der ausgehend von diesem FalI eine alIgemeine Akzeptanz des Ermessens des IGH annimmt; rur eine solche opinio iuris in der Staatengemeinschaft fehlt aber jeglicher Anhaltspunkt. 144 Vgl. die o. Fn. 143 genannten sowie Mosler, FS Schwarzenberger, S. 228. 7 Martenczuk
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2. Teil: Prozessuale Fragen
scheiden; 145 gleichwohl ist durchaus denkbar, daß die Zuständigkeiten internationaler Organe auch schon im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit zu berücksichtigen sind, wie schon der StlGH im Fall der Fabrik von Chorzow ausgesprochen hat: 146 ''[. .. ] il n'y a aucun differend que les etats admis a ester devant la Cour ne puissent lui soumettre, sauf dans les cas exceptionnels Oll le differend serait de la competence exclusive d'un autre organe."
Ob die grundsätzliche Zuständigkeit des IGH zur Durchfilhrung der Inzidentkontrolle durch eine derartige ausschließliche Kompetenz des SR verdrängt werden kann, ist Gegenstand der folgenden Untersuchungen; hierbei ist danach zu unterscheiden, ob die ausschließliche Zuständigkeit des SR allgemein filr alle friedensbedrohenden Streitigkeiten gelten soll, nur rur solche, mit denen der SR gerade selbst befaßt ist, oder schließlich sogar nur rur die Entscheidung über die Gültigkeit von ihm gefaßter Beschlüsse.
a) Die Rolle des IGH infriedensbedrohenden Streitigkeiten
Gern. Art. 24 I ChVN trägt der SR die "Hauptverantwortung rur die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit". Der Begriff der "Hauptverantwortung" ("primary responsibiIity"/"responsabiIite principale") ist dabei nicht frei von einer gewissen Zweideutigkeit; man könnte ihn ebensogut im Sinne paralleler als auch exklusiver Befugnisse verstehen. 147 Nimmt man an, die Hauptverantwortung des SR rur den Weltfrieden sei eine ausschließliche, dann wäre Art. 24 I Ch VN eine Bestimmung von allergrößter praktischer Bedeutung; hinter dieser Hauptverantwortung müßten die Kompetenzen aller anderen Organe der VN, insbesondere also auch des IGH zurückstehen. In der Tat ist dem IGH teilweise jede Rolle in friedensbedrohenden Streitigkeiten bestritten worden. 148 Nun kann der SR Zwangsmaßnahmen stets nur unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN verhängen; bei den der Inzidentkontrolle zugrunde liegenden Streitigkeiten würde es sich mithin per definitionem um friedens bedrohende handeln. Wäre daher die Hauptverantwortung des SR rur 145 Vgl. mit ähnlichem Ansatz Higgins, ICLQ 1968,80; Norton, VaJIL 1987, 522. 146 Usine de Chorzow (Allemagne v. Pologne), Fond, cpn sero A, no 17,37 (1928); vgl. ebenso Droits de Minorites en Haute-Sitesie (Ecoles Minoritaires), cpn sero A, no. 15, 23 (1928). 147 Delbrück in Simma, Art. 24, Rn. 5. 148 Vgl. die diss. op. Oda, Nicaragua, Merits, ICJ Rep. 1986, 234, 240; Norton, VaJIL 1987, 469; Cu tIer, VaJIL 1984/85, 444. Dinstein, S. 274 meint, jedenfalls "pendente bello" solle der lOH hinter den SR zurücktreten.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
99
die Wahrung des Weltfriedens tatsächlich eine ausschließliche, käme auch eine inzidente Kontrolle seiner Beschlüsse nicht in Betracht. Die Frage ist nur, ob man Art. 24 I ChVN wirklich in diesem Sinne verstehen kann. Diese Frage hat sich dem IGH insbesondere im Rechtsstreit zwischen Nicaragua und den Vereinigten Staaten gestellt. Gegen die Zulässigkeit der Klage Nicaraguas, in der es im wesentlichen um die Behauptung ging, die Vereinigten Staaten verübten durch bestimmte militärische und paramilitärische Aktivitäten eine rechtswidrige Aggression gegen dieses Land, erhoben die Vereinigten Staaten eine Anzahl von Einwänden, die alle mehr oder minder den friedens bedrohenden Charakter der Streitigkeit zum Gegenstand hatten; sie beriefen sich darauf, daß das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 ChVN nicht justiziabel sei, behaupteten, daß die Zuständigkeit des IGH nicht die Entscheidung über "ongoing armed conflicts" umfasse und filhrten schließlich an, die Klage Nicaraguas verlange vom IGH die Feststellung eines Akts bewaffneter Aggression, die gern. Art. 39 jedoch allein der SR zu treffen befugt sei. 149 Der IGH wies in seinem Urteil zur Zulässigkeit alle diese Einwände einstimmig zuruck;150 gleichzeitig gab ihm dies jedoch Gelegenheit zu einigen grundsätzlichen Ausfiihrungen zur Rolle des Gerichtshofs in friedensbedrohenden Streitigkeiten. So betonte er die Eigenständigkeit der ihm übertragenen Aufgabe gerichtlicher Streitbeilegung nach dem Völkerrecht gegenüber den Kompetenzen des SR; die Kompetenzen von SR und IGH seien folglich "separate but complementary"151. Darüber hinaus hielt er ausdrücklich fest, daß die Hauptverantwortung des SR nach Art. 24 I Ch VN keine ausschließliche sei. 152 All dies hat er zudem unlängst im Bosnien-Fall bestätigt, in dem der SR sogar nach Kapitel VII der Charta tätig geworden war. 153 Diese Fälle belegen, daß der IGH in dem friedensbedrohenden oder friedensstörenden Charakter einer Streitigkeit kein Hindernis rur seine Zuständigkeit sieht. Dem kann man nicht entgegenhalten, daß die Charta den IGH in Kapitel VII nicht erwähne und ihm folglich keine Kompetenzen im Bereich der Wahrung des Weltfriedens zukämen. 154 Auch der IGH ist als Hauptorgan der VN (Art. 7 I ChVN) dem Ziel der Friedenssicherung verpflichtet (Art. 1 Nr. 1 149 ICI Rep. 1984,392,431; vgl. zu den Einwänden in einzelnen Norton, VaJIL 1987,462ff. 150 ICI Rep. 1984,392, 433ff., 437; insoweit zustimmend auch diss. op. Schwebel, Merits, ICI Rep. 1986,259,289; Schwebel, FS Virally, S. 439; Briggs, AJIL 1985, 375. 151 ICI Rep. 1984, 392, 435. 152 A.a.O., 434; ebenso schon für das Verhältnis von SR und GV Certain Expenses, ICI Rep. 1962, 151, 163. 153 ICI Rep. 1993,3, 19. 154 So aber Norton, VaJIL 1987,469. 7*
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2. Teil: Prozessuale Fragen
Ch VN); 155 der Umfang seiner Zuständigkeiten bestimmt sich dabei ausschließlich nach den einschlägigen Bestimmungen der Charta und des Statuts. In der Tat bedeuten alle Versuche, die Zuständigkeit des IGH in friedensbedrohenden Streitigkeiten zu bezweifeln, letztlich nur, das Kriterium der Nichtjustiziabilität über die Hintertür wieder einzufUhren; insofern stehen ihnen aber keine geringeren Bedenken entgegen als die weiter oben schon geäußerten. 156 Der Begriff der "friedensbedrohenden Streitigkeit" ist nicht minder unklar als der der "hochpolitischen Streitigkeit"; beide Begriffe sind im wesentlichen austauschbar. Doch die Abgrenzung ist nicht nur unpraktikabel, sie ist auch dysfunktional. Den IGH in allen Streitigkeiten, die womöglich als friedensbedrohende zur Zuständigkeit des SR gehören könnten, fUr unzuständig erklären zu wollen, unabhängig davon, ob der SR nun nach Kapitel VII oder VI der Charta oder vielleicht auch gar nicht tätig wird, würde der allgemeinen Tendenz der VN, den Parteien eine möglichst breite Auswahl von Mitteln friedlicher Streitbeilegung offenzuhalten, in starkem Maße zuwiderlaufen. Zudem sind auch hochpolitische Streitigkeiten stets friedlich beizulegen; 157 selbst dort, wo es bereits zum offenen militärischen Konflikt gekommen ist, sind die Parteien nicht von der Beachtung des Rechts freigestellt, und es ist daher auch nicht ersichtlich, welches rechtliche Hindernis der Zuständigkeit des IGH in diesen Fällen entgegenstehen sollte. 158 Die "Hauptverantwortung" des SR fUr die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist folglich keine ausschließliche. 159 Sie schließt eine Tätigkeit des IGH in diesem Rahmen nicht allgemein aus; der friedensbedrohende Charakter einer Streitigkeit fUhrt somit nicht zur Unzuständigkeit des IGH.160
b) Die gleichzeitige Befassung von Sicherheitsrat und IGH Hat der SR einmal Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta verhängt, so bleibt er regelmäßig mit der Angelegenheit befaßt, bis die Maßnahmen ihr Ziel erreicht haben, die Friedensbedrohung oder der Friedensbruch also 155 Pellet, FS Rosenne, S. 541. 156 S.o. S. 92ff. 157 Lachs in UNITAR, S. 147. 158 Daß auch die Staaten hiervon ausgehen, belegen die verschiedenen Vorbehalte militärischer und ähnlicher Konflikte in den Unterwerfungserklärungen nach Art. 36 11 IGH-Statut (s.o. S. 84); so auch Pellet, FS Rosenne, S. 556. 159 Rosenne, S. 73; Fastenrath, S. 239. 160 Fastenrath a.a.O; Orrego VicuFia in R.-J. Dupuy, S. 45f.; Elsen, S. 52f.
3. Abschnitt: Probleme der lnzidentkontrolle
101
beseitigt sind; die inzidente KontrolIe im streitigen Verfahren würde damit notwendigerweise zu einer gleichzeitigen Befassung von IGH und SR führen. Unabhängig von dem Problem der Möglichkeit einer KontrolIe der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des SR durch den IGH könnte man sich somit fragen, ob die gleichzeitige Anhängigkeit einer Streitigkeit vor dem SR nicht zur Unzulässigkeit der Klage vor dem IGH fUhren müßte. Dabei ist zu unterscheiden, ob sich eine solche Unzulässigkeit schon aus alIgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts oder aber aus der Charta der VN im besonderen ergeben soll.
aa) Der Einwand der Litispendenz Ein alIgemeiner Grundsatz des Völkerrechts, der die Frage eines gleichzeitigen Tätigwerdens internationaler Organe regelt, ist insbesondere der Einwand der gleichzeitigen Rechtshängigkeit (Litispendenz).161 Dieser Einwand ist zum ersten Mal anerkannt worden vom StIGH in seiner Entscheidung über gewisse deutsche Interessen in Oberschlesien l62 , in dem er zugleich als Voraussetzungen fUr das Durchgreifen des Einwands forderte, es müsse sich um denselben Streitgegenstand, dieselben Parteien und ein Gericht gleichen Charakters handeln. Nahezu keine dieser Voraussetzungen wäre jedoch im Verhältnis von IGH und SR gegeben. 163 Selbst dort, wo der SR nach Kapitel VI der Charta zur Beilegung einer Streitigkeit zwischen Staaten tätig wird, ist es schon sehr zweifelhaft, ob man hier von einem identischen Streitgegenstand sprechen könnte; denn anders als das Verfahren vor dem IGH hat das Verfahren nach Kapitel VI alIein die Wahrung des Friedens im Blick, nicht aber die Sicherung der Rechte der Parteien. 164 Diese Bedenken verstärken sich noch, wenn der SR - wie ja stets im FalI der Inzidentkontrolle - nach Kapitel VII der Charta tätig wird. Hier sind Streitigkeiten zwischen den Parteien bestenfalIs noch Auslöser, nicht aber Gegenstand der Tätigkeit des SR, die ohne Rücksicht auf die materie lIen Rechtspositionen der Parteien alIein der Bewahrung oder WiederherstelIung des Friedens dient. Dementsprechend kann man auch gar nicht mehr von "Parteien" eines Verfahrens nach Kapitel VII sprechen, es sei denn, man sähe den SR selbst als eine solche an. Zudem müßte sich die InzidentkontrolIe nicht einmal notwendig zwischen den ursprünglichen Parteien der die Maßnahmen des SR 161 Zu diesem Einwand ausflihrlich Elsen, S. 1fT.; vgl. auch Bil/ib, S. 211. 162 Interets allemands en Haute-Sitesie polonaise (Allemagne v. Pologne), Competence, epn ser. A, no. 6, 20 (1925); im konkreten Fall ging es um die Frage, ob
die gleichzeitige Befassung des polnisch-deutschen gemischten Schiedsgerichts die Zuständigkeit des StIGH beeinträchtigen konnte. Siehe zu diesem Fall Elsen, S. 20ff. 163 Dazu ausführlich auch Klein, FS Mosler, S. 474ff. 164 Vgl. Klein a.a.O., S. 476.
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2. Teil: Prozessuale Fragen
auslösenden Streitigkeit abspielen; denkbar wäre ebensogut eine Klage gegen einen dritten Staat, der die Zwangsmaßnahmen lediglich ausfilhrt. Entscheidend ist jedoch die mangelnde Vergleichbarkeit des Charakters von SR und IGH. Das allgemeine Verbot einer gleichzeitigen Befassung ist sinnvoll im Verhältnis internationaler Gerichte, wo die Gleichartigkeit ihrer Funktionen die Gefahr unlösbarer WidersprUche der Ergebnisse mit sich bringen würde. Der Einwand der Rechtshängigkeit ist daher "intimement lie a une question de d'homogeneite juridictionnelle"165; eine solche Jurisdiktionshomogenität besteht jedoch im Verhältnis von IGH und SR nicht. Der SR ist ein politisches Organ, zusammengesetzt aus abhängigen Staatenvertretern; er entscheidet nicht nach dem Recht, sondern nach Maßgabe politischer Erwägungen. Er ist daher kein Gericht, kein Organ desselben Charakters wie der IGH; man kann nicht von vornherein sagen, daß ihre gleichzeitige Befassung die Gefahr unvereinbarer Ergebnisse mit sich bringen würde. Der Einwand der Rechtshängigkeit ist daher im Verhältnis von SR und IGH unanwendbar. 166 Auch sonst gibt es im allgemeinen Völkerrecht keinen Grundsatz, aus dem sich die Unzulässigkeit einer gleichzeitigen Befassung gerichtlicher und politischer Organe ergeben würde; 167 angesichts der Vielzahl möglicher Konstellationen unter Beteiligung verschiedenster Organe erscheint eine Typisierung hier sowieso kaum möglich. Allgemeine Regeln des Völkerrechts, nach denen die gleichzeitige Befassung von SR und IGH unzulässig wäre, bestehen daher nicht. 168 165 Tenekides, RGDIP 1929, 523; kritisch hierzu jedoch Ciobanu in Gross, S. 218; weiter auch A udeoud, RGDIP 1977, 971. 166 Klein, FS Mosler, S. 478; Pellet, FS Rosenne, S. 454; McWhinney, S. 154, Fn. 85; Escher, S. 106; Ciobanu, S. 132; Gowlland-Debbas, AJIL 1994, 643; Scott u.a., MichJIL 1994, 78; insofern ebenso auch diss. op. Oda, Nicaragua, Merits, IC] Rep. 1986,212,240. 167 Zweifelhaft daher die These von Audeoud, RGDIP 1977, 966, der eine allgemeine Regel des Vorrangs der Verfahren vor politischen Organen befilrwortet. Unklar Tenekides, RGDIP 1929, 526, der davon spricht, es bestehe eine Regel "[ ... ] dictee par des considerations de correction et de courtoisie internationales [... ] de ne pas connaitre d'une affaire portee devant une autre institution internationale [... ]", ohne daß jedoch klar würde, ob dies im Sinne einer Rechtsregel zu verstehen ist. 168 Dies gilt im übrigen auch von der sogenannten Regel "electa una via non datur recursus ad alterarn", nach der jeweils nur ein Mittel friedlicher Streitbeilegung gleichzeitig betrieben werden dürfte. Davon abgesehen, daß die Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta überhaupt kein Mittel friedlicher Streitbeilegung sind, filr die sich der betroffene Staat irgendwie entschieden hätte, ist zudem auch kein vernünftiger Grund erkennbar, der filr eine solche Ausschließlichkeit des einmal gewählten Verfahrens sprechen würde; es besteht daher weitgehend Einigkeit, daß der Einwand "electa una via" im geltenden Völkerrecht keinen Platz hat (vgl. Pellet, FS Rosenne, S. 550; McWhinney, S. 143; s. auch sep. op. Tarazi, Aegean Sea, Interim Measures, IC] Rep. 1976, 32, der jedenfalls ihre Anwendbarkeit auf den SR verneint; Ciobanu, S. 97 und in Gross, S. 230f.).
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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bb) Das Problem im Lichte der Charta Näherliegend ist es daher, einen entsprechenden Vorbehalt der gleichzeitigen Befassung von IGH und SR aus der Charta selbst abzuleiten; dabei würde es sich nicht um eine "Quasi-Litispendenz" handeln, wie teilweise vertreten wird,169 sondern um eine ausschließliche Kompetenz des SR zur Behandlung all jener Fragen, mit denen er bereits befaßt ist. Problematisch ist jedoch, ob sich eine solche, die Befugnisse des IGH verdrängende Kompetenz des SR aus der Charta ableiten läßt. Der IGH selbst hat die gleichzeitige Anhängigkeit eines Falles vor ihm und dem SR jedenfalls noch nie zum Anlaß genommen, seine Zuständigkeit zu verneinen. 170 Am ehesten in diese Richtung ging noch die Entscheidung über vorläufigen Rechtsschutz im Rechtsstreit zwischen Griechenland und der Türkei, in der der Gerichtshof von einer Anordnung vorläufiger Maßnahmen absah, da der von Griechenland mit der Angelegenheit befaßte SR die Parteien mit SR-Res. 395 (1976) bereits zur Mäßigung aufgefordert hatte. l7l Hierin lag jedoch keine Verneinung der Zuständigkeit des IGH; vielmehr berücksichtigte er die Resolution des SR lediglich als einen Umstand, der die Anordnung vorsorglicher Maßnahmen im Sinne des Art. 41 I IGH-Statut entbehrlich machte. 172 Einige Richter stellten denn auch ausdrücklich klar, daß die gleichzeitige Befassung des SR mit der Angelegenheit an sich die Zuständigkeit des IGH nicht beeinträchtigt.173 Ausdrücklich vom Gerichtshof verworfen wurde der Einwand schließlich im Teheran-Fall, in dem er eine analoge Anwendung des Art. 12 I ChVN ablehnte und die Eigenständigkeit der Kompetenzen von SR und IGH betonte. 174 Dies stellt seither ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs dar; sie wurde bestätigt sowohl im Fall Nicaragua 175 als auch im Bosnien-FallI 76 , hier mit der Besonderheit, daß die parallele Tätigkeit des SR zum ersten Mal eine solche nach Kapitel VII war. Es ist nicht anzunehmen, daß der IGH dies im Falle der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren
169 De Visscher, Aspects recents, S. 176. 170 Hierzu Elsen, S. 60ff. 171 Aegean Sea. Interim Measures, ICI Rep. 1976, 3, 12f. 172 Klein, FS Mosler, S. 471. 173 Sep. op. Tarazi, Aegean Sea. Interim Measures, ICI Rep. 1976, 32; diss. op. Stassinopoulos, ebd., 35, 38. 174 ICI Rep. 1980, 3, 22. 175 ICI Rep. 1984,392,435. Allerdings hatten die Vereinigten Staaten hier weniger
auf den Aspekt der gleichzeitigen Anhängigkeit als auf den der grundsätzlichen Unzuständigkeit des IGH zur Entscheidung über friedensbedrohende Streitigkeiten abgezielt (dazu o. S. 99f.); vgl. dazu Pellet, FS Rosenne, S. 454. 176 ICI Rep. 1993,3,19.
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2. Teil: Prozessuale Fragen
anders entscheiden würde. 177 Im Lockerbie-Fall vermied der Gerichtshof selbst zwar jede Stellungnahme zu Fragen der Zulässigkeit; 178 einzelne Richter bestätigten jedoch die Maßgeblichkeit der bisherigen Rechtsprechung auch insofern. 179 Im SR selbst wurde anläßlich der Diskussion über SR-Res. 748 (1992) sogar von ihren Gegnern eingeräumt, eine rechtliche Regel gegen das parallele Tätigwerden von SR und IGH gebe es nicht; 180 die Einwände beschränkten sich daher auf die politische Zweckmäßigkeit eines solchen Vorgehens. In der Tat ist die einzige Norm, in der ein Vorrang der Befugnisse des SR vor denen anderer Organe geregelt ist, Art. 12 I ChVN, der der Generalversammlung die Abgabe von Empfehlungen untersagt, solange der SR die ihm von der Charta zugewiesenen Aufgaben wahrnimmt. Sinn dieser Bestimmung war es, zu verhindern, daß durch gegenläufige Beschlüsse der beiden politischen Hauptorgane der VN die Autorität der Maßnahmen des SR untergraben würde. 181 Diese Regelung ist in Bezug auf das Verhältnis zweier politischer Organe, die beide nach Maßstäben der Zweckmäßigkeit entscheiden und so strukturell ähnliche Funktionen wahrnehmen, durchaus nachvollziehbar. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß die Regelung des Art. 12 I ChVN im Geruge der VN einen absoluten Ausnahmecharakter trägt.182 Schon im Verhältnis von GV und SR begründet sie keineswegs ein umfassendes Hindernis rur die Tätigkeit der GV;183 umso weniger wäre es möglich, analog zu Art. 12 I ChVN ein solches rur den IGH anzunehmen. 184 Aber auch sachlich wäre ein solches Verbot gleichzeitiger Befassung von IGH und SR nicht überzeugend zu begründen. Die Funktionen von SR und IGH sind - wie der Gerichtshof selbst immer wieder betont hat l85 - grundverschieden. Der SR trifft nach Maßgabe politischer Erwägungen die zur Wahrung oder Wiederherstellung des Friedens notwendi177 Alexandrov, S. 112, der in den Anordnungen des IGH eine Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung erblickt. 178 ICJ Rep. I992, 3, 15. 179 Vgl. die Erklärung des Richters Ni, ICJ Rep. 1992, 20, 21; diss. op. Weeramantry, ebd., 50, 59. 180 Vgl. etwa den Vertreter Zimbabwes, S/PV. 3063, SCOR, 3063rd meeting, 52f. ( 1992). 181 Klein, FS Mosler, S. 468; HailbronneriKlein in Simma, Art. 12, Rn. 1f. 182 HailbronneriKlein a.a.O., Rn. 3. 183 Zu den der GV auch nach Art. 12 I ChVN verbleibenden Handlungsmöglichkeiten vgl. HailbronnerlKlein a.a.O., Rn. 12ff. S. auch o. S. 30f. 184 Gegen eine solche Analogie auch Tehran, ICJ Rep. 1980, 3, 22; diss. op. Stassinopoulos. Aegean Sea, Interim Measures, ICJ Rep. 1976, 35, 38; HailbronneriKlein a.a.O., Rn. 3; Fastenrath, S. 239; Fischer in Ipsen, § 60, Rn. 49; Chappez, AFDI 1992, 471. 185 S. dazu schon o. S. 99.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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gen Maßnahmen; der IGH entscheidet über Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten. Die gleichzeitige Ausübung dieser Funktionen von SR und IGH ist nicht unvereinbar. Auch in Streitigkeiten, mit denen der SR bereits befaßt ist, kann die Klärung rechtlicher Positionen der Parteien einen nützlichen Beitrag zur Bereinigung der Situation darstellen. Dies gilt unabhängig davon, ob der SR die Rechtsauffassung des IGH dann wirklich auch seinen politischen Entscheidungen nach Kapitel VI oder VII zugrunde legt; 186 die Klärung von Rechtspositionen wird nicht schon dadurch überflüssig, daß möglicherweise eine andere Lösung des Interessenkonflikts gefunden werden könnte. Umgekehrt beeinträchtigt die parallele Befassung des IGH auch in keiner Weise die Möglichkeiten des SR, die von ihm politisch rur nötig erachteten Maßnahmen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens zu ergreifen. 187 Dies gilt auch rur das Tätigwerden des SR nach Kapitel VII der Charta; 188 die Effektivität etwaiger Zwangsmaßnahmen wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß sich zugleich auch der IGH mit den rechtlichen Aspekten des Falles befaßt. 189 Die einzige Situa186 Zum Problem der Bindung des SR an das Völkerrecht vgl. u. S. 219ff. 187 Auch rechtlich ist der SR im übrigen durch keine Vorschrift der Charta daran gehindert, in einer Angelegenheit tätig zu werden, mit der schon der IGH befaßt ist; so wie es vor dem IGH keinen Einwand "sub consilio" gibt, gibt es vor dem SR auch keinen Einwand "sub iudice" (vgl. dazu ausführlich Ciobanu in Gross, S. 221 ff.; Elsen, S. 52f.). Problematisch ist dies insbesondere im Lockerbie-Fall geworden; SR-Res. 748 (1992), die erst nach Schluß der Hauptverhandlung erging, wurde wegen des Eingriffs in das Verfahren vor dem IGH teilweise für nichtig gehalten (vgl. die diss. op. des Richters ad hoc El-Kosheri, IC] Rep. 1992, 94, 105; ebenso Orihuela Calatayud, REDI 1992,412). Der IGH selbst hat diese Position nicht eingenommen (vgl. dazu Ipsen, VN 1992,44). In der Tat wird man zwar die politische Klugheit des Vorgehens des SR bezweifeln können (vgl. in diesem Sinne sep. op. Lachs, IC] Rep. 1992, 26f.; diss. op. Bedjaoui, ebd., 33, 41, 44 sowie ders., S. 88f.); die Befugnisse des SR zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens werden jedoch nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß ein Staat Klage vor dem IGH erhebt. Auch die Anordnung von Maßnahmen, die auf die im Prozeß streitigen Rechtspositionen von Einfluß sind, ist unter den Voraussetzungen des Kapitels VII daher nicht von vornherein ausgeschlossen. 188 AA, aber ohne nähere Begründung Maus, S. 128. 189 Daher wäre der SR auch nicht berechtigt, eine Befassung des IGH nach Art. 39 Ch VN als Friedensbedrohung zu bewerten und zu untersagen. AA jedoch Richter Alvarez in seinem Sondervotum im Fall der Anglo-Iranian Oi! Co., IC] Rep. 1952, 124, 134, in der er im Rahmen einer "theorie generale de la competence" vertrat (grundsätzlich zustimmend Klein, FS Mosler, S. 180f.; Elsen, S. 72; ablehnend dagegen Bedjaoui, S. 82; McGinley, GnCL 1992, 587): "Si une affaire soumise a la Cour vient menacer la paix du monde, le Conseil de Securite peut s'en saisir et mettre fin a la competence de la Cour. La competence du Conseil resulte de la nature de I'organisation internationale creee par la Charte et les attributions du Conseil." Hier wird jedoch eine Unterordnung des IGH unter den SR vorausgesetzt, wie sie in der Charta keinen Anhaltspunkt findet. Maßnahmen des SR nach Kapitel VII sind an die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN gebunden; es ist jedoch nicht ersichtlich, wieso
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2. Teil: Prozessuale Fragen
tion, in der es wirklich zu einem Konflikt zwischen der Tätigkeit von SR und IGH kommen könnte, ist die der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren. Die Frage, inwieweit der SR insoweit zur Kontrolle der Gültigkeit der Beschlüsse des SR schreiten kann, ist jedoch ein Problem ft1r sich; 190 es hieße über das Ziel hinauszuschießen, allein deswegen schon die gleichzeitige Befassung von IGH und SR rur unzulässig zu halten. Die gleichzeitige Befassung des SR mit einem Fall beeinträchtigt die Zuständigkeit des IGH daher nicht. 191 Die Möglichkeit einer inzidenten Kontrolle der Beschlüsse des SR im streitigen Verfahren kann auf dieser Ebene nicht bestritten werden.
c) Die Bindungswirkung der Beschlüsse des Sicherheitsrats
Damit stellt sich als das eigentliche Problem der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren die Frage dar, ob und inwieweit der IGH befugt ist, über die Gültigkeit der Beschlüsse des SR zu befmden. Deren Gültigkeit bestimmt sich nach der Charta der VN; es handelt sich somit um eine Frage des Völkerrechts, über die der IGH nach Art. 38 I IGH-Statut grundsätzlich zu entscheiden befugt ist. Problematisch ist hierbei jedoch, daß dem SR vielfach das Recht zugesprochen wird, abschließend über die Voraussetzungen der Gültigkeit sei-
ausgerechnet die Tätigkeit des IGH in einer konkreten Streitigkeit den Frieden gefllhrden oder stören sollte (Eseher, S. 27). Das gilt selbst im Fall der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren: die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen des SR zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens könnte nicht selbst wieder zur Friedensbedrohung erklärt werden; ein Beschluß, mit dem der SR eine solche Wirkung herbeizufUhren versuchte, würde auch kaum das Vertrauen in die Objektivität und Unparteilichkeit seines HandeIns stärken. Näher zu den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN u. S.213ff. 190 Dies sieht auch Richter Weeramantry in seiner diss. op. im Lockerbie-Fall, ICJ Rep. 1992, 50, 59; ebenso Andres Saenz, RED! 1992, 342; Orihue/a Ca/atayud, RED! 1992, 410. Es ist allerdings etwas vordergründig, wenn diese meinen, das liege daran, daß im Lockerbie-Fall der Initiator im SR und der Kläger vor dem IGH unterschiedliche Staaten gewesen seien. Das wirkliche Problem liegt darin, daß es hier um die Gültigkeit der Beschlüsse des SR nach Kapitel VII geht; auf wessen Intervention das Tätigwerden des SR dabei zurückgeht, ist eher zweitrangig. 191 Hai/bronner/K/ein in Simma, Art. 12, Rn. 3; De/brück in Simma, Art. 24, Rn. 10; Mos/er in Simma, Art. 92, Rn. 87 sowie FS Schwarzenberger, S. 227; Fischer in Ipsen, § 60, Rn. 49; Escher, S. 106; Fastenrath, S. 239; A/exandrov, S. 107; Steinberger, EPIL I, 128; Pellet, FS Rosenne, S. 546; Graefrath, EJIL 1993, 199; Sciso, RDI 1992,372; Klein, FS Mosler, S. 477; Elsen, S. 66; MacDona/d, CYIL 1993, 12f.; vgl. allgemein in Bezug auf die politischen Organe der VN auch Rosenne, S. 87; Shihata. S. 261f.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
107
ner Beschlüsse zu entscheiden. 192 Teilweise wird hieraus auch die Schlußfolgerung gezogen, der IGH sei daher zur Überprüfung der Beschlüsse des SR gar nicht zuständig; Art. 39 ChVN gebe dem SR eine ausschließliche Feststellungskompetenz, die keiner gerichtlichen Kontrolle unterliege. 193 Ob eine solche ausschließliche Feststellungskompetenz des SR wirklich besteht, soll hier zunächst dahinstehen. Die Frage ist vor allem, ob eine etwaige Befugnis des SR zur endgültigen Entscheidung wirklich schon die Zuständigkeit des Gerichtshofs ausschließen würde, oder ob es sich hierbei nicht vielmehr um eine Frage der Begründetheit handelt.
aa) Der Einwand der res iudicata Man könnte erwägen, ob es sich bei einem Beschluß des SR nach Kapitel VII der Charta möglicherweise um eine rechtskräftige Entscheidung (res iudicata) handelt. Der Einwand der res iudicata ist im Völkerrecht grundsätzlich anerkannt; 194 er begründet eine Einwendung schon gegen die Zulässigkeit einer Klage. Es fragt sich jedoch, ob ein Beschluß des SR nach Kapitel VII überhaupt die Voraussetzungen des Einwandes erfililen kann. Ganz ähnlich wie bei dem Einwand der gleichzeitigen Rechtshängigkeit ist auch hier Identität des Streitgegenstands und der Parteien erforderlich; 195 es ist bereits festgestellt worden, daß hiervon in Bezug auf die verschiedenen Verfahren vor SR und IGH nicht die Rede sein kann. 196 Wichtiger ist jedoch noch, daß auch der Einwand der res iudicata an den gerichtlichen Charakter des betreffenden Organs gebunden ist. So hat etwa der StIGH im Minderheitsschulenfall einer Entscheidung des Rats des Völkerbundes die Qualität einer res iudicata abgesprochen, weil es sich um ein "juridiction d'ordre different" gehandelt habe. 197 Diese Begrenzung des Anwendungsbereichs des Einwands der res iudicata hat auch ihren guten Sinn, 192 Die dogmatischen Begründungen sind dabei im einzelnen unterschiedlich; zu den zu Art. 25 ChVN vertretenen Ausfassungen vgl. u. S. 129f., zu den zu Art. 39 Ch VN vertretenen u. S. 186ff. . 193 Dies ist insbesondere im Hinblick auf die gutachtliche Rechtsprechung behauptet worden (vgl. o. S. 75); die These ließe sich jedoch ohne Probleme auf das streitige Verfahren übertragen (in diesem Sinne ausdrücklich Cu tier, VaJIL 1984/85, 444; Norton, VaJIL 1987, 472f.). 194 Vgl. etwa United Nations Administrative Tribunal, ICJ Rep. 1954,4, 53; Trail Smelter (United States v. Canada), RlAA III, 1938, 1950f. (1940); Cheng, S. 336; Mosler, EPIL 7, 100; Bil/ib, S. 211. 195 Vgl. Ciobanu in Grass, S. 232.
196 S.o. S. 101.
197 Droits de Minorites en Haute-Silesie (Ecoles Minoritaires), CPJI sero A, no. 15,
29 (1928).
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2. Teil: Prozessuale Fragen
denn nur bei gerichtlichen Entscheidungen pflegt der endgültige Charakter so eindeutig zu sein, daß man ihn schon auf der Ebene der Zulässigkeit berücksichtigen kann. Das schließt nicht aus, daß auch politische Organe im Einzelfall Entscheidungen treffen können, die keiner weiteren inhaltlichen Überprüfung unterliegen; aber diese Endgültigkeit der Entscheidung ist klar zu unterscheiden von dem Phänomen der Rechtskraft. 198 Dementsprechend ist ein Beschluß des SR als politischem Organ nicht der Rechtskraft fähig; 199 der Einwand der res iudicata steht der Inzidentkontrolle daher nicht im Wege.
bb) Materiellrechtliche Einwände gegen die Zulässigkeit? Wenn auch ein Beschluß des SR somit noch keine res iudicata darstellt, könnte man sich gleichwohl fragen, ob der IGH nicht verpflichtet wäre, eine etwaige materiellrechtliche Endgültigkeit des Beschlusses schon im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit zu berücksichtigen; eine solche als vorgängig zu behandelnde Einrede wäre zu bejahen, wenn der Einwand seiner Natur nach dazu zwingen würde, das Verfahren ohne jede weitere Erörterung materiell-rechtlicher Fragen zu beenden. 200 Praxis des IGH ist insofern bislang nur in Ansätzen vorhanden. Im Fall Nicaragua wurde ihm seine Zuständigkeit unter anderem damit bestritten, die Klage Nicaraguas komme einem Antrag auf Feststellung eines bewaffneten Angriffs im Sinne des Art. 39 ChVN gleich; diese Feststellung liege jedoch in der ausschließlichen Zuständigkeit des SR.201 Der IGH konnte jede Stellungnahme zur Frage einer ausschließlichen Feststellungskompetenz des SR vermeiden, da er zutreffend davon ausging, daß ein Gerichtsurteil, in dem die Rechtswidrigkeit gewisser bewaffneter Aktionen ausgesprochen wird, nicht mit einer Feststellung im Sinne des Art. 39 ChVN gleichgesetzt werden kann, die ja ganz andere Funktionen hat. 202 Damit blieb jedoch offen, was zu gelten hätte, wenn der IGH zur Überprüfung einer tatsächlich getrof198 Eine klare Unterscheidung von "res iudicata" und "administrative finality" trifft auch Keith, S. 76-78. Zu weitgehend dagegen Audeoud, RGDIP 1977, 973, der den Einwand auf die endgültigen Entscheidungen internationaler Organisationen anwenden will. 199 Klein, FS Mosler, S. 479; Escher, S. 109; Delbrück in Simma, Art. 24, Rn. 10; Virally, S. 453; differenzierend Ciobanu, S. 136 und in Gross, S. 232. 200 Zum Begriff der vorgängigen prozessualen Einrede (preliminary objection) vgl. Rosenne, S. 457ff.; Thirlway, EPIL I, 179. 201 Vgl. das Vorbringen der Vereinigten Staaten, ICJ Rep. 1984,392,431; ebenso auch Cu tier, VaJIL 1984/85,444; Norton, VaJIL 1987, 472f., die gleichfalls vom Vorliegen eines "Chapter-VII-Dispute" ausgehen. 202 ICJ Rep. 1984, 392, 434.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
109
fenen Feststellung des SR nach Art. 39 ChVN aufgefordert wäre. 203 Auch die Anordnungen über vorläufigen Rechtsschutz im Lockerbie-Fa1l 204 haben die Frage nicht klären können, da sich der IGH im Rahmen der Prüfung nach Art. 41 I IGH-Statut allein auf die prima facie gegebene materielle Gültigkeit der Resolutionen stützte, ohne auf Fragen der Zulässigkeit einzugehen. 205 Angesichts dieses materiellen Ansatzes ist es allerdings unwahrscheinlich, daß der IGH das Problem auf der Ebene der Zulässigkeit wieder aufgreifen wird; Richter Shahabuddeen stellte in seiner abweichenden Meinung zudem ausdrücklich klar, daß es sich um ein materielles, nicht um ein prozessuales Problem handelt. 206 In der Tat wäre eine Einordnung als vorgängige prozessuale Einrede kaum sachgerecht. Zum einen stellt sich in der Konstellation der Inzidentkontrolle das Problem der Gültigkeit der Beschlüsse des SR erst im Rahmen der Prüfung des Rechtfertigungsgrundes. Ihm gehen daher zwingend andere materiellrechtliche Erwägungen voraus, und es wäre kaum sinnvoll, wenn sich der IGH mit der schwierigen Frage der Gültigkeit eines Beschlusses des SR beschäftigen würde, ohne daß geklärt ist, ob überhaupt eine Rechtsverletzung vorliegt. Zudem ist zu berücksichtigen, daß Ermessensfragen ganz regelmäßig solche der Begründetheit sind. 207 Bei Ermessensfragen stellt sich meist nicht einfach die Alternative zwischen völligem Ausschluß gerichtlicher Kontrolle und voller Überprüfbarkeit; die Abgrenzung von Entscheidungsspielräumen und gerichtlicher Kontrolle erfordert vielmehr differenzierte und nuancierte Lösungen,208 die im Rahmen des Entweder-Oder der Entscheidung über die Zulässigkeit nicht zu leisten sind. Es ist zwar darauf hingewiesen worden, daß in einigen nationalen Rechtsordnungen gewisse "political acts,,209 oder "actes de gouvernement"210 insbe203 Pellet, FS Rosenne, S. 550 nimmt an, daß die Entscheidung auch bei Vorliegen eines der Tatbestände des Art. 39 ChVN nicht anders ausgesehen hätte, hat dabei aber wohl nicht die Frage einer Überprüfung tatsächlich getroffener Feststellungen im Blick. 204 S.o. S. 21 fT. 205 ICJ Rep. 1992, 3, 14. 206 Sep. op. Shahabuddeen, ebd., 28, 29. 207 Steinberger, EPIL I, 128. 208 Vgl. Klinghoffer, Annuario 1968, 18. 209 Zur political-question-doctrine in den Vereinigten Staaten vgl. van Alstyne in Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 2, S. 1129f. Ihren leading case hat diese Lehre in der Entscheidung des Supreme Court im Fall Baker v. Carr, 369 US 186, 217 (1962) (Justice Brennan); sie ist jedoch auch in den Vereinigten Staaten selbst nicht unumstritten (vgl. insbesondere Henkin, YLJ 1975/76, 597ff.). 2\ 0 Zur Rechtslage in Frankreich vgl. Fromont in Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 2, S. 234f.; Auby/Drago, S. 86ff.; de Laubadere, S. 296ff.; diese heben jedoch
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2. Teil: Prozessuale Fragen
sondere auf den Gebieten der Außenpolitik und der äußeren Sicherheit allgemein rur injustiziabel und damit jeder gerichtlichen Kontrolle entzogen gelten; es wurde argumentiert, daß, wenn selbst der Supreme Court der Vereinigten Staaten in solchen Angelegenheiten von der Kontrolle der Exekutive absehe, dies erst recht filr den IGH gelten müsse, dessen Gerichtsbarkeit ja auf ungleich schwächeren Fundamenten stehe. 211 Aber diese Analogie ist mehr als zweifelhaft.2 12 Der prozessuale Ansatz ist keineswegs ein allgemeiner; in vielen Rechtsordnungen werden die entsprechenden Probleme lediglich durch die Einräumung mehr oder minder begrenzter Ermessensspielräume gelöst. 213 Vor allem darf man jedoch nicht übersehen, daß das internationale System völlig anders strukturiert ist als die nationalen Rechtsordnungen. Alles, worüber der IGH entscheidet, ist letztlich "Außenpolitik"; die Unterscheidung verliert damit ihre Bedeutung. Zudem geht es auch nicht um die Entscheidung eines nationalen Oberbefehlshabers über den Einsatz der ihm unterstehenden Streitkräfte, sondern um die Anwendung von Zwangsmaßnahmen mit gern. Art. 25 Ch VN rechtlich verbindlicher Wirkung im Außenverhältnis. Das Handeln des SR ist RechtshandeIn, nicht Realhandeln; und wie weit seine Befugnis zur Herbeifilhrung solcher Rechtspflichten nach der Charta der VN reicht, ist eine Frage, die nach einer differenzierteren Antwort verlangt als der pauschalen Annahme der Injustiziabilität solcher Entscheidungen. Die Frage der möglichen EndgUltigkeit der Beschlüsse des SR und etwaiger Entscheidungsspielräume ist daher ausschließlich214 eine solche der BegrUnzugleich hervor, daß die Theorie des "acte de gouvernement" sehr kasuistisch angewandt wird und keinesfalls eine völlige Freistellung der auswärtigen Angelegenheiten von gerichtlicher Kontrolle bedeutet. 211 So Norton, VaJIL 1987, 519; Cutter, VaJIL 1984/85,443 (beide in Kritik an der Entscheidung des IGH über die Zulässigkeit im Fall Nicaragua, ICJ Rep. 1984, 392). Ebenso zum Lockerbie-Fall Evans, MJLT 1994, 68f. 212 Gegen die Übertragung der political-question-doctrine auf die internationale Ebene auch Moster, FS Schwarzenberger, S. 228. Allgemein zur Zweifelhaftigkeit solcher Schlüsse a maiore ad minus im Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht Bothe, FS Mosler, S. 134ff. 213 Vgl. Ress in Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 3, S. 61 (Fn. IOD); Bullinger, ebd., S. 215; Bleckmann, EuGRZ 1979,489. Ein Extrem in der anderen Richtung ist die Rechtslage in der Bundesrepublik, in der Erwägungen der Justiziabilität so gut wie überhaupt keine Rolle spielen; vgl. insofern auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Rechtsstreit um die Einsätze der Bundeswehr in Somalia und im ehemaligen Jugoslawien, BVerfGE 90, 286, in dem das Gericht trotz Differenzierungen im Einzelnen an seiner grundsätzlichen Zuständigkeit zur Entscheidung keinen Zweifel aufkommen ließ. 214 Angemerkt sei, daß es sich hier auch nicht um einen - im Ermessen des IGH liegenden - "joinder to the merits" nach Art. 79 seiner Verfahrensordnung handelt; dieser würde voraussetzen, daß eine Einwendung zugleich prozessualen und materiellen Charakter trägt.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
111
detheit. Der inzidenten Kontrolle der Beschlüsse des SR im streitigen Verfahren steht auf der Ebene der Zulässigkeit nichts im Wege. Auf eine entsprechende Klage hin müßte der IGH zur Frage der Gültigkeit der Beschlüsse des SR Stellung nehmen; die hierbei auftauchenden Fragen sind im dritten Teil dieser Arbeit zu untersuchen.
In. Verfahrensrechtliche Fragen Die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren bringt jedoch auch ft1r das Verfahren vor dem IGH einige Probleme mit sich. Zum einen fragt sich, ob und wie dem berechtigten Interesse des SR an Gehör und Beteiligung im Verfahren vor dem IGH Rechnung getragen werden kann; zum anderen ist problematisch, welche Rechtswirkungen dem Urteil des IGH zukommen würden. Abschließend ist noch auf die Frage einzugehen, ob es einen vorläufigen Rechtsschutz gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen geben kann.
1. Die Beteiligungsmöglichkeiten des Sicherheitsrats
Nach dem Statut des IGH können weder internationale Organisationen noch ihre Organe als Parteien vor dem IGH auftreten (Art. 34 I IGH-Statut); auch ein Streitbeitritt ist ihnen verwehrt (vgl. Art. 62 und 63 IGH-Statut). Diese Regelung, deren Berechtigung schon allgemein umstritten ist,215 wird zusätzlich problematisch, wenn inzident im streitigen Verfahren über die Gültigkeit eines Beschlusses einer internationalen Organisation entschieden wird. So hat etwa der SR - unabhängig von der noch zu klärenden rechtlichen Wirkung der Entscheidung des IGH - ein berechtigtes Interesse am Ausgang eines Verfahrens, in dem es um die Rechtmäßigkeit von ihm verhängter Zwangsmaßnahmen geht. Dem wird nicht schon dadurch Rechnung getragen, daß auch der beklagte Staat regelmäßig216 die Gültigkeit des Beschlusses vertreten wird; die Argumente des Beklagten müssen sich mit denen des SR nicht unbedingt decken. Die Frage ist 215 Vgl. Jenks, International Adjudication, S. 208ff. 216 Wenn sich dagegen der Beklagte - aus welchen Gründen auch immer - auf die Seite des Klägers schlägt und die Ungültigkeit des Beschlusses zugesteht, dann findet auch keine Inzidentkontrolle mehr statt; der IGH kann die Ungültigkeit eines Beschlusses des SR nicht von Amts wegen prüfen. Zweifelhaft wäre allerdings, ob an einem solchen Urteil unter ungeklärten rechtlichen Prämissen überhaupt ein berechtigtes Interesse stehen kann; einige Aussagen in Sondervoten von Richtern des IGH sprechen eher dagegen (vgl. etwa das Zitat des Richters Onyeama, o. S. 71f.).
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2. Teil: Prozessuale Fragen
daher, ob es nicht Wege gibt und geben muß, um der Position des SR auch im Verfahren der Inzidentkontrolle direkt Berücksichtigung zu verschaffen. Sieht man einmal von Mitteln inoffizieller Information und Kommunikation wie etwa der Presse ab, so gibt es jedoch auch im Statut des IGH selbst einige Wege, auf denen die Positionen des SR in das Verfahren Eingang finden können. 217 Schon die Klageerhebung ist gern. Art. 40 III IGH-Statut dem GS und sämtlichen zum Gerichtshof zugelassenen Staaten zu übermitteln; darüber hinaus wäre jede Klage, nach der die Auslegung der Charta der YN problematisch ist, den YN nach Art. 34 III IGH-Statut zu notifizieren, so daß insgesamt gewährleistet ist, daß auch der SR über den GS und seine Mitglieder Kenntnis von der Einleitung der Inzidentkontrolle erhalten wird. Zudem gibt Art. 34 11 Hs. 2 IGH-Statut jeder internationalen Organisation das Recht, dem IGH zu vor ihm anhängigen Verfahren Auskünfte zu erteilen; dies umfaßt gern. Art. 63 III der Verfahrensordnung des Gerichts auch das Recht zum mündlichen Vortrag in der Hauptverhandlung. Zwar wird dieses Recht filr die YN grundsätzlich vom GS wahrgenommen; auf diesen kann der SR jedoch gern. Art. 98 S. I ChYN Einfluß nehmen, so daß hier eine angemessene Vertretung sowohl der Interessen der VN im ganzen als auch des SR geWährleistet scheint. 218 Vorenthalten bleiben dem SR dagegen alle weitergehenden Verfahrensrechte, insbesondere das Recht zum Stellen von Anträgen. Immerhin sollte aber nicht übersehen werden, daß jedes Mitglied der VN und insbesondere des SR, das von der Gültigkeit der fraglichen Resolution überzeugt ist, gern. Art. 63 11 Hs. I IGH-Statut das Recht hat, dem Verfahren beizutreten; es hat dann die vollen Rechte und Pflichten einer Streitpartei. Nach dem Statut des IGH gibt es somit durchaus einige Möglichkeiten, eine angemessene Berücksichtigung der Position des SR zu gewährleisten. Daß diese hinter dem zurückbleiben, was in einem Verfahren direkter Kontrolle möglich und erforderlich wäre, ist nicht zu bestreiten, begründet aber keinen Einwand gegen die Zulässigkeit und Wünschbarkeit der Inzidentkontrolle. Zwar hat der IGH im Fall Monetary Gold entschieden, die Rechte und Pflichten eines Staates dürften nicht zum eigentlichen Gegenstand eines Verfahrens gemacht werden, an dem dieser gar nicht beteiligt ist;219 man hat hierin eine Ausprägung des Grundsatzes "audiatur et alteram pars" gesehen. 220 Auf internationale Organi217 Zur amicus-curiae-Funktion internationaler Organisationen vor dem IGH allgemein vgl. Jenks, International Adjudication, S. I 89ff. 218 So auch Furukawa, FS Reuter, S. 296f. 219 ICJ Rep. 1954, 19, 32f. Diese Regel wurde im Grundsatz bestätigt in Nicaragua, Jurisdiction and Admissibility, ICJ Rep. 1984, 392, 431; kritisch zu der konkreten Entscheidung jedoch Norton, VaJIL 1987,477. 220 Higgins, ICLQ 1968,75.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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sationen ist dies jedoch nicht übertragbar. Abgesehen von der Frage, ob der SR überhaupt als in seinen Rechten betroffener "essential respondent"221 angesehen werden könnte, ist zu berücksichtigen, daß die Beteiligung internationaler Organisationen in Art. 34 IGH-Statut eine abschließende Regelung gefunden hat. Daß dabei durchaus auch die Rechte internationaler Organisationen berührende Fragen entschieden werden können, ergibt sich insbesondere aus Art. 34 III IGH-Statut, der ausdrücklich die Auslegung der Gründungsurkunden internationaler Organisationen im streitigen Verfahren zuläßt. Aus der Tatsache, daß der SR nicht selbst als Partei am Verfahren beteiligt wäre, ergeben sich daher weder in praktischer noch in rechtlicher Hinsicht Hindernisse filr die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren.
2. Die Rechtswirkungen der Entscheidung des 1GB
Als Kehrseite der mangelnden Einbeziehung des SR in das Verfahren der Inzidentkontrolle stellt sich jedoch die Frage, welche rechtlichen Wirkungen eine Entscheidung des IGH, durch die inzident die Ungültigkeit einer Entscheidung des SR festgestellt wird, überhaupt haben kann. Von der Frage einmal abgesehen, ob die inzidenten Feststellungen des IGH überhaupt von der materiellen Rechtskraft umfaßt sind, ist zu beachten, daß die Entscheidung gern. Art. 59 IGH-Statut nur filr die Streitparteien (bzw. gern. Art. 63 11 Hs. 2 IGH-Statut rur etwaige Nebenintervenienten) bindend ist; zu diesen zählt der SR nicht. Es ist zwar teilweise erwogen worden, ob nicht wenigstens filr die Organe der VN eine Verbindlichkeit der Entscheidungen des IGH bestehen müßte. 222 Dem steht jedoch der klare Wortlaut des Art. 59 IGH-Statut entgegen; auch aus der Organtreue kann eine solche Verbindlichkeit daher nicht abgeleitet werden. Eine rechtliche Bindung der Entscheidung des IGH im Verfahren der Inzidentkontrolle besteht somit filr den SR nicht,223 was der IGH im Fall Northern Cameroons ausdrücklich festgehalten hat. 224 Für den SR ist die Entscheidung
221 Ausdruck verwandt von McNair in seiner Erklärung im Fall Monetary Gold, ICJ Rep. 1954, 35. 222 D. Bindschedler, 1968 11, 453; zweifelnd auch GoodrichiHambro/Simons, S. 15. Ausführlich dazu G. Watson, HILJ 1993, 39ff. 223 Von einer Bindungswirkung nur inter partes gehen ebenfalls aus G. Watson, HILJ 1993, 40f.; Bedjaoui, S. \07 und FS Rigaux, S. \05; Bowett, EJIL 199498; Skubiszewski, FS Mosler, S. 901; Furukawa, FS Reuter, S. 299; Audeoud, RGDIP 1977, 976; Ciobanu, AJIL 1976, 330; Schlochauer, S. 22. 224 Vgl. ICJ Rep. 1963, 4, 33: "In accordance with Article 59 of the Statute, the judgment would not be binding on Nigeria, or on any other state, or on any organ of the United Nations." Dies wurde in der zweiten Bosnien-Entscheidung des IGH noch ein8 Martenczuk
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2. Teil: Prozessuale Fragen
des IGH "res inter alios iudicata"225; dies ist letztlich der Preis filr die Ausgrenzung der internationalen Organisationen in Art. 34 I IGH-Statut. Über die politischen Wirkungen einer Entscheidung des IGH im Verfahren der Inzidentkontrolle ist damit freilich noch nichts ausgesagt. Gelangt der IGH zur Annahme der Gültigkeit der Resolution, wird deren Autorität nur noch gestärkt; insofern könnte die Inzidentkontrolle durchaus auch einen das Sicherheitssystem der VN stützenden Effekt haben. 226 Komplikationen ergeben sich jedoch, wenn der IGH zur Annahme der Ungültigkeit einer Resolution gelangt. Verweigert sich der SR dieser Auffassung, so droht filr den unterliegenden Staat eine wahre Zwickmühle: denn einerseits ist er rechtskräftig zur Einstellung der Zwangsmaßnahmen verurteilt, andererseits wird er vom SR unter Hinweis auf Art. 25 Ch VN zu deren Ausfilhrung angehalten;227 im Extremfall könnte der SR die Verweigerung der Ausftlhrung der Maßnahmen wiederum als Friedensbedrohung werten, womit die Gefahr einer Eskalation entstünde. 228 Auch der SR selbst befände sich in einer eigentümlich zwiespältigen Situation: auf der einen Seite ist es sein gutes Recht, weiterhin von der Gültigkeit seines Beschlusses auszugehen, andererseits aber ist er gern. Art. 94 11 Ch VN das Organ, dem die Zuständigkeit zur Vollstreckung der Entscheidung des IGH übertragen ist. Auflösen lassen sich diese Probleme im System der VN letztlich nicht,229 aber man sollte sie auch nicht überbewerten. 230 Das Phänomen, daß Rechtsauffassungen des IGH die politischen Organe der VN nicht binden, ist schon von den Gutachten des Gerichtshofs her bekannt; gleichwohl ist deren hohe politische Bedeutung unbestritten. 231 Die Inzidentkontrolle ist hiermit ganz vergleichbar, und die politische Bedeutung der Stellungnahmen des IGH insofern sicherlich keine geringere. 232 Zwar kann niemand garantieren, daß sich die mal ausdrücklich bestätigt, vgl. IC] Rep. 1993, 325, 344. S. auch Ciobanu, AJIL 1976, 330. 225 Rideau, S. 188. 226 Vgl. Franck in Al-Nauimi/Meese, S. 630. 227 Dieses Problem sehen auch Ciobanu in Gross, S. 244; Schlochauer, S. 22; Gowlland-Debbas, ICLQ 1994,97. ÄhnlichSciso, RDI 1992,373. 228 Allerdings bedeutet die Mißachtung eines Beschlusses des SR nicht automatisch das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN (vgl. flir Beschlüsse nach Kap. VI u. 3. Teil, Fn. 687). 229 Vgl. ebenso G. Watson, HILJ 1993, 39ft'. 230 Audeoud, RGDIP 1977, 976f. 231 Vgl. o. S. 75.
232 Rosenne, S. 628f.; G. Watson, HILJ 1993, 41f.; Thierry, RdC 1980 11, 405; Ciobanu in Gross, S. 244; sehr viel skeptischer dagegen Ciobanu, AJIL 1976, 330.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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Rechtsauffassung des IGH in der Praxis durchsetzt und die Zwangsmaßnahmen tatsächlich eingestellt werden. Aber das im Vergleich zum SR deutlich höhere Maß an Unparteilichkeit, Objektivität und Repräsentativität des IGH lassen erwarten, daß seine Entscheidung - im einen wie im anderen Sinne - ihre Wirkung auf einen erheblichen Teil der Staatengemeinschaft nicht verfehlen würde; ein gewisses Maß an effektivem Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen könnte so in der Tat gewährleistet werden. Daß auch Konflikte auftreten können, ist nicht auszuschließen. Aber diese Konflikte werden nicht erst durch das Verfahren der Inzidentkontrolle hervorgerufen; sie sind eine unausweichliche Folge des Fehlens einer obligatorischen und umfassenden Gerichtsbarkeit in den VN. In dieser Situation ist die Klärung der Rechtsfragen durch ein unabhängiges richterliches Organ immer noch der einseitigen Behauptung von Rechtsstandpunkten durch Organe und Mitgliedstaaten vorzuziehen. 233 Die inzidente Kontrolle der Beschlüsse des SR im streitigen Verfahren ist daher weit davon entfernt, eine Ideallösung zu sein. Aber sie verwirklicht das Optimum dessen, was auf der Konferenz von San Francisco möglich war, und sie gewährleistet, daß die Befugnisse des SR und ihrer rechtlichen Grenzen nicht auf immer im unverbindlichen Halbdunkel theoretischer Erörterungen verhüllt bleiben. 234
3. Vorläufiger Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen?
Art. 41 I IGH-Statut gibt dem IGH235, wenn er dies nach den Umständen filr erforderlich hält, die Befugnis, "diejenigen vorsorglichen Maßnahmen zu bezeichnen, die zur Sicherung der Rechte der Parteien getroffen werden müssen"; diese Befugnis kann insbesondere auch im Rahmen der inzidenten Kontrolle der Beschlüsse des SR im streitigen Verfahren relevant werden. Es stellt sich die Frage, ob der IGH die Möglichkeit hätte, vorsorgliche Maßnahmen auch zum Schutz solcher Rechte anzuordnen, die der Kläger nach dem Beschluß des SR eigentlich gar nicht mehr geltend machen kann; das Problem ist mit anderen 233 Claude, Swords into Plowshares, S. 155; G. Watson, HILJ 1993, 43ff. 234 Skeptischer Bowett, EJIL 1994, 98. 235 Nach Art. 74 IV der Verfahrensordnung des Gerichtshofs kann übrigens auch der Präsident des IGH die Parteien bis zum Zusammentritt des Gerichtshofs auffordern, "to act in such a way as will enable any order the Court may make on the request for provisional measures to have its appropriate effects". Die Abgrenzung der Befugnisse von Präsident und Gerichtshof ist hier nicht ganz klar (vgl. dazu allgemein Goldsworthy, AJIL 1974, 261; Rosenne, S. 426); eine Entscheidung von solcher Tragweite wie die über die Gültigkeit eines Beschlusses des SR wird allerdings immer nur vom Gerichtshof selbst getroffen werden können. Auch im Lockerbie-Fall hat der amtierende Vizepräsident Oda dementsprechend auf die Ausübung seiner Befugnisse nach Art. 74 IV der Verfahrensordnung verzichtet (ICJ Rep. 1992,3, 8f.). 8"
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2. Teil: Prozessuale Fragen
Worten, ob es einen vorläufigen Rechtsschutz gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen gibt oder ob einem solchen eine Vermutung der Gültigkeit der Beschlüsse des SR entgegensteht. Ausgangspunkt der Überlegungen müssen dabei die Voraussetzungen des Erlasses vorsorglicher Maßnahmen nach Art. 41 I IGH-Statut sein. Die Regelung des Art. 41 I IGH-Statut ist jedoch alles andere als klar; mehr als das Erfordernis einer gewissen Dringlichkeit läßt sich ihr nicht entnehmen. StIGH und IGH haben allerdings in ständiger Rechtsprechung verlangt, daß die Anordnung einstweiliger. Maßnahmen nur dann angezeigt ist, wenn ansonsten ein irreparabler Schaden rur die Rechte einer Partei zu entstehen droht. 236 Insofern ließe sich anftihren, daß die Anwendung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen gegenüber einem Staat ohne Zweifel einen ganz erheblichen Eingriff in dessen Rechte bedeutet, der sich, sollte die Rechtswidrigkeit der Zwangsmaßnahmen festgestellt werden, auch kaum wieder gut machen lassen würde. Auch das Erfordernis der Dringlichkeit läßt sich unschwer bejahen, denn bis es nach Jahren zur Entscheidung in der Hauptsache kommt, können nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen bereits ganz erhebliche Schäden verursacht haben; effektiv ist Rechtsschutz daher nur dann, wenn er schnell kommt. Jedoch darf bei den Voraussetzungen vorsorglicher Maßnahmen nicht einseitig auf die Interessen nur einer Partei abgestellt werden; erforderlich ist vielmehr letztlich eine Abwägung der Interessen beider Parteien im Hinblick auf ihre Schutzwürdigkeit im konkreten Fall. 237 Dabei wäre im Fall der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren nicht nur das individuelle Interesse des konkreten Beklagten zu berücksichtigen, sondern auch die Tatsache, daß dieser nur Beschlüsse des SR ausfUhrt, an deren Befolgung letztlich die gesamte internationale Gemeinschaft ein erhebliches Interesse hat. Die Effektivität dieser Beschlüsse würde aber durch die Anordnung ihnen zuwiderlaufender vorläufiger Maßnahmen erheblich beeinträchtigt. Zwar bindet die Entscheidung des IGH grundsätzlich nur die Parteien; ihre politische Bedeutung fUr die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zur Anwendung der Zwangsmaßnahmen sollte aber nicht unterschätzt werden. 238 Hierdurch entsteht die Gefahr, daß die Effektivität der Maßnahmen bis zur Entscheidung in der Hauptsache, regelmäßig also über Jahre, entscheidend gemindert wäre. Damit wäre letzten Endes die Fähigkeit 236 V gl. Statut juridique du territoire du sud-est du Groenland, Mesures conservatoires, CPJI sero AlB, no. 48, 277, 284 (1932); Fisheries Jurisdiction (United Kingdom V. Ieeland), Interim Measures, ICI Rep. 1972, 12, 16; (Federal Republic ofGermany V. Iceland), Interim Measures, ICI Rep. 1972, 30, 34; vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Oellers-Frahm, S. 50f. sowie EPIL 1, 70f. 237 Oellers-Frahm, S. 57; vgl. auch Goldsworthy, AJIL 1974, 268. 238 Vgl. hierzu schon O. S. 114.
3. Abschnitt: Probleme der Inzidentkontrolle
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des SR zu angemessener Reaktion und somit auch die Funktionsfähigkeit des Sicherheitssystems selbst beeinträchtigt. "In the area of peace and security the need for speed and compliance is paramount"239; sollen Zwangsmaßnahmen effektiv sein, so müssen sie augenblicklich greifen. 240 Die Folge einer voreiligen Verwerfung eines Beschlusses des SR wäre nahezu unweigerlich das endgültige Scheitern der kollektiven Maßnahmen; damit würde zugleich eine erheblich Präjudizierung der Hauptsache eintreten. 241 Die Abwägung der beteiligten Interessen spricht daher gegen die Gewährung eines vorläufigen Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen. Sicherlich ist diese reine Interessenabwägung insofern nicht unproblematisch, als ein berechtigtes Interesse der Staatengemeinschaft an der Durchfilhrung der Beschlüsse des SR nur dann besteht, wenn diese Beschlüsse auch rechtmäßig sind. Das eigentliche Problem des vorläufigen Rechtsschutzes gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen ist daher der "Zielkonflikt zwischen Dringlichkeit des Rechtsschutzes und Gründlichkeit der Entscheidungsfindung"242. Einerseits ist anerkannt, daß die Interessenabwägung im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nicht völlig ohne Blick auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache erfolgen kann. 243 Andererseits ist jedoch die Gültigkeit der Beschlüsse des SR eine Frage von einer solchen Komplexität, daß ihre Klärung im Rahmen einer bloß summarischen Prüfung kaum jemals möglich sein dürfte. Auf diesen Standpunkt hat sich daher zu Recht auch der IGH im Lockerbie-Fall gestellt. 244 Diese Position wurde von der ganz überwiegenden Zahl der Richter geteilt;245 sie hat auch in der Literatur weitgehend Zustimmung gefunden. 246 Ein gewisses Unbehagen bleibt angesichts dieses weitgehenden Ausschlusses vorläufigen Rechtsschutzes nicht aus; die daraus folgende Beschränkung des 239 Higgins, PASIL 1970,37.
240 Mit ganz ähnlichen Erwägungen rechtfertigen übrigens auch Clark und Sohn ihren Vorschlag zur Neuregelung des Art. 25 ChVN (s. Einleitung, Fn. 47), nach weichem dem "appeal" gegen die Beschlüsse des SR ebenfalls keine aufschiebende Wirkung zukommen sollte (vgl. ClarkiSohn, S. 79). 241 Zum Verbot der Präjudizierung vgl. die Fisheries-Jurisdiction-Fälle, o. Fn. 236, a.a.O.; Oellers-Frahm, S. 86. 242 Magiera, JIR 1974, 268. 243 Vgl. Magiera a.a.O., 267f.; Oellers-Frahm, S. 96 und EPIL 1,71. 244 ICl Rep. 1992,3,15; vgl. dazu o. S. 21ff. 245 Vgl. decl. Oda, ICl Rep. 1992, 17; sep. op. Shahabuddeen, ebd., 28; diss. op. Bedjaoui, ebd., 33, 46; diss. op. Weeramantry, ebd., SO, 67; diss. op. Ajibola, ebd., 78, 92; a.A. nur der Richter ad hoc El-Kosheri, ebd., 94, 104. 246 Stein, AVR 1993,227; Andres Saenz, REDI 1992,347; Beveridge, ICLQ 1992, 918; Merrills, ICLQ 1995, 130. Kritisch dagegen Bedjaoui, S. 88 und FS Rigaux, S. 106; Gunn, UTFLR 1993, 227.
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2. Teil: Prozessuale Fragen
effektiven Rechtsschutzes gegen Zwangsmaßnahmen ist jedoch aufgrund der Defizite der institutionellen Struktur der VN kaum vermeidbar. Allerdings kann sich die Vermutung der Gültigkeit nur auf solche Beschlüsse des SR erstrecken, die auch wirklich eine Willensäußerung dieses Organs darstellen, insbesondere also im Einklang mit den Mehrheitserfordemissen des Art. 27 eh VN zustandegekommen sind;247 dies bestätigt auch das Namibia-Gutachten des IGH,248 in dem dieser die Gültigkeitsvermutung ausdrücklich an das Vorliegen dieser grundlegenden Bedingungen filr die rechtliche Existenz des Rechtsakts geknüpft hat. 249 Ob darüber hinaus aber auch inhaltliche Mängel denkbar wären, die einen Beschluß des SR als so abwegig und willkürlich erscheinen lassen würden, daß er selbst einer nur summarischen Prüfung nicht standhalten könnte, erscheint zumindest zweifelhaft. Im Regelfall werden die Beschlüsse des SR daher im Verfahren nach Art. 41 I IGH-Statut die Vermutung der Gültigkeit ftir sich haben; ein vorläufiger Rechtsschutz gegen nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen besteht nicht.
247 Hierbei handelt es sich nach allen Auffassungen um eine fundamentale Voraussetzung der Gültigkeit der Beschlüsse des SR; eingehender dazu Reisman, AJIL 1980, 904ff.; vgl. auch Combacau, S. 261 sowie Morelli in seiner sep. op. im Fall Certain Expenses, JCJ Rep. 1962,216,223. 248 S.u. S. 161. 249 Vgl. Thierry, RdC 198011,422.
3. Teil
Die Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen Die Untersuchung wendet sich nun dem Hauptproblem der gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen zu: der Frage der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der Beschlüsse des SR. In welcher Form sich die materiellen Fragen im Prozeß stellen würden, hängt von der jeweiligen Verfahrensart ab. Flexibler ist hierbei das gutachtliche Verfahren; anstatt um Auskunft über die Gültigkeit eines konkreten Beschlusses des SR zu ersuchen, wäre es so etwa auch möglich, abstrakt nur nach einzelnen Voraussetzungen der Gültigkeit etwa denen des Art. 39 ChVN - zu fragen. In sehr viel umfassenderer Weise stellen sich die relevanten Fragen jedoch im Rahmen der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren. Es ist unstreitig, daß ein gültiger Beschluß des SR nach Kapitel VII der Charta rechtfertigende Wirkung entfalten kann; 1 auch die ILC hat dies bei der Kodifikation der Rechtfertigungsgründe im Rahmen ihrer Arbeit zur Staatenverantwortlichkeit anerkannt. 2 Die Gültigkeit der Beschlüsse des SR ist allerdings keine Frage aus dem Recht der Staatenverantwortlichkeit selbst, sondern bestimmt sich allein nach der Charta der VN.3 Es stellen sich 1 Jennings/Watts, S. 511; Verdross/Simma, § 1291; Kewenig, BDGV 1982, 21; Petersmann, ZVglRW 1981, 17. Näher zu den Grundlagen dieser rechtfertigenden Wirkung o. S. 33f. 2 Art. 30 des ersten Teils des Entwurfs der ILC zur Staatenverantwortlichkeit (YILC 1980 11/2, 30) bestimmt: "The wrongfulness of an act of aState not in conforrnity with an obligation of that State towards another State is precluded if that act constitutes a measure legitimate under international law against that other State, in consequence of an internationally wrongful act ofthat other State"; diese Bestimmung soll sich auch auf Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen beziehen (Simma, AVR 1986, 383). Vgl. auch den Bericht des Rapporteurs der ILC, RobertoAgo, YILC 1979 II11, 3, 44: "[ ... ] it is beyond doubt that sanctions applied in conforrnity with the provisions of the Organization's constituent instrument would not, in the legal system ofthe United Nations, be wrongful [... ]". 3 Malanczuk in Simma/Spinedi, S. 240. Daher kann man erhebliche Zweifel daran haben, ob es sinnvoll ist, einseitige und kollektive "counterrneasures" in einem gemeinsamen Artikel zusammenzufassen, ja ob eine Kodifikation der Staatenverantwortlichkeit
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
dem IGH somit zwei große Problemkomplexe, denen es im folgenden nachzugehen gilt: zum einen die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit der SR bei seiner Beschlußfassung an die Charta der VN gebunden ist; zum zweiten das Problem der Reichweite und Grenzen seiner Befugnisse nach Kapitel VII der Charta.
I. Abschnitt
Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta Soll der IGH über die Gültigkeit eines Beschlusses des SR befinden, so stellt sich zunächst die Frage nach dem Maßstab dieser Kontrolle. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß jeder Beschluß eines Organs der VN, mithin auch des SR, mit der Charta im Einklang stehen muß. Tut er dies nicht, ist er also rechtswidrig oder "ultra vires", so wäre er nichtig und unbeachtlich; jeder Staat wäre berechtigt, einen solchen Beschluß des SR nicht zu befolgen. In dieser Strenge verstanden birgt die Bindung der Beschlüsse des SR an die Charta jedoch auch beträchtliche Risiken und Probleme in sich. In den VN gibt es keine Instanz, die allgemein rur die verbindliche Entscheidung von Streitigkeiten über die Gültigkeit von Beschlüssen der Organe zuständig wäre; auch die Zuständigkeit des IGH ist hier nur fragmentarisch. 4 Viele Bestimmungen der Charta sind unbestimmt und in starkem Maße auslegungs bedürftig; unlösbare Streitigkeiten zwischen Organen und Mitgliedstaaten sind damit vorprogrammiert. Je strenger also die Bindung des SR an die Charta, desto größer auch die Möglichkeiten rur die Mitgliedstaaten, seine Beschlüsse in Frage zu stellen. Aus dem Fehlen obligatorischer Gerichtsbarkeit resultiert folglich ein Konflikt zwischen Recht und Rechtssicherheit, zwischen dem Anspruch der Mitgliedsstaaten auf Respektierung der Charta und dem des SR auf Respektierung seiner Autorität. Dieser Konflikt und die verschiedenen Ansätze zu seiner Bewältigung stehen im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen. Dabei sind grundsätzlich zwei Ansätze zu unterscheiden: einmal wäre es denkbar, die Konsequenzen der Ungültigkeit abzumildern, etwa diese auf eine bloße Anfechtbarkeit zu beüberhaupt die Frage kollektiver Zwangsmaßnahmen erfassen sollte. Mit zwischenstaatlichen Repressalien haben diese jedenfalls weder nach ihrer Tragweite noch nach ihren Voraussetzungen etwas gemein; insbesondere ist zweifelhaft, ob kollektive Zwangsmaßnahmen wirklich eine Rechtsverletzung voraussetzen. Die Frage wurde auch in der ILC diskutiert; vgl. die Diskussionsbeiträge von Yankov, YILC 1979 I, 57, 62; Francis, ebd., 59; Jagota, ebd., 61; kritisch ebenfalls Malanczuk in SimmaiSpinedi, S. 240; Jagota, NYIL 1985, 258. 4 Vgl. 0., zweiter Teil.
l. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
121
schränken; weitergehend könnten auch die Voraussetzungen der Gültigkeit durch eine teilweise oder vollständige Lockerung der Bindung an die Charta herabgesetzt werden.
I. Form und Wirkung der Ungültigkeit l. Anfechtbarkeit oder Nichtigkeit?
In der Tat kann erst dann entschieden werden, wie weit man die Möglichkeit der Ungültigkeit von Beschlüssen des SR zu akzeptieren bereit ist, wenn geklärt ist, was unter "Ungültigkeit" eigentlich zu verstehen ist. Bedrohlich ft1r die Autorität des SR ist nicht die Ungültigkeit schlechthin, sondern insbesondere ihre einseitige, unkontrollierte Geltendmachung durch die Mitgliedstaaten. 5 Im nationalen Recht wird dieser Gefahr oftmals vorgebeugt durch die Annahme einer bloßen Anfechtbarkeit, die nur vor einem zuständigen Gericht geltend gemacht werden kann. Erst die Entscheidung des unparteiischen Richters bewirkt die Ungültigkeit des Rechtsakts; seine Einschaltung ermöglicht so die Lösung des Konflikts von Recht und Rechtssicherheit. 6 Dies bleibt auch nicht ohne Auswirkungen auf die Voraussetzungen der Gültigkeit. Die Anfechtbarkeit bannt die Gefahr des Mißbrauchs und nimmt der Bindung an das Recht so ihre Problematik; absolute Nichtigkeit wird dagegen eher zur Zurückhaltung bei der Formulierung der Gültigkeitsvoraussetzungen veranlassen. 7 Demnach stellt sich zunächst die Frage, ob die Figur der Anfechtbarkeit auch auf die Beschlüsse des SR übertragen werden könnte. a) Gerichtliche oder sonstige Praxis zur Frage der Auswirkungen von Rechtsverstössen auf die Gültigkeit der Beschlüsse internationaler Organisationen gibt es kaum, was angesichts der mangelnden gerichtlichen Kontrolle in diesem Bereich nicht überraschen kann.B Hingewiesen werden muß in diesem Zusammenhang allerdings auf die Diskussionen im Zusammenhang mit der Entscheidung des IGH zur Zusammensetzung des Maritime Safety Committee der IMC09. In diesem Gutachten - der einzigen Entscheidung des IGH übrigens, in der dieser jemals die Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts einer 5 Auf die Mißbrauchsgefahr verweist auch Cahier, RGDIP 1972, 647f. 6 Vgl. sep. op. Morelli, Certain Expenses, ICJ Rep. 1962,216, 22lf. 7 Vgl. in diesem Sinn insb. Morelli a.a.O., 223; Schwarzenberger, S. 62; kritisch zu diesem Ansatz jedoch Sanjose Gil, REDI 1990, 448. 8 Vgl. o. S. 58ff. 9 ICJ Rep. 1960, 150.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
internationalen Organisation feststellte - war der IGH zu der Auffassung gelangt, daß die Zusammensetzung des Komitees nicht mit Art. 28 c IMCO-Konvention im Einklang stand. 1O Die Anforderung des Gutachtens war allerdings auf diese abstrakte Rechtsfrage beschränkt gewesen, so daß der IGH nicht zu der Frage Stellung nehmen brauchte, welche Konsequenzen dieser Rechtsverstoß denn nun hatte. I I Diese Frage stellte sich vielmehr den Organen der IMCO selbst und filhrte zu ausfilhrlichen Debatten im Rahmen der Versammlung der IMCO.12 Schließlich kam es zu Annahme einer Resolution 13. durch die das Komitee aufgelöst, alle seine Maßnahmen aber "angenommen und bestätigt" wurden. Es ist strittig geblieben, was hieraus fiir den Status des rechtswidrig gebildeten Komitees zu folgern war. Die einen sehen in der Resolution im Einklang mit ihren effektiven Wirkungen eine Bestätigung des Prinzips der Anfechtbarkeit,14 die anderen des der Nichtigkeit. 15 Aber letztlich hatte die Versammlung selbst - wie auch aus den Debatten hervorgeht l6 - offengelassen, ob die Resolution deklaratorische oder konstitutive Wirkung hatte; Schlußfolgerungen sind aus dieser Praxis daher nicht möglich. I? Zudem ist zu beachten, daß es hier um den Sonderfall eines rechtswidrig zusammengesetzten Organs ging, wo an der Vermeidung der Nichtigkeitsfolge und insbesondere der Nichtigkeit ex tunc ein gesteigertes Interesse besteht; 18 diese Problematik wird man daher nicht ohne weiteres auf sämtliche Beschlüsse internationaler Organisationen übertragen können. b) Auch in der Lehre hat sich bislang keine einhellige Meinung zur Frage der Form der Ungültigkeit der Beschlüsse internationaler Organisationen durchgesetzt. 19 Oftmals wird hier allein der Gegensatz von absoluter und relativer 10 A.a.O., 160 ff. 11 E. Lauterpacht, FS McNair, S. 101. 12 Dazu ausftlhrlich E. Lauterpacht a.a.O., S. 102-106. 13 A. 21 (11) v. 6.4.1961, Inter-Govemmental Maritime Consultative Organization Assembly, Resolutions and Other Decisions, May 1961, 1; abgedruckt auch bei E. Lauterpacht a.a.O., S. 102. 14 So Cahier, RGDIP 1972,663. 15 Jacque, S. 167. 16 Vgl. E. Lauterpacht, FS McNair, S. 102-106. 17 E. Lauterpacht a.a.O., 105 f. 18 Zu einem ähnlichen Problem im Zusammenhang mit Vakanzen im SR vgl. Suy, FS Schlochauer, S. 677; hier spricht zusätzlich noch Art. 28 I 1 ChVN gegen die Annahme einer Nichtigkeit von Resolutionen des SR. 19 Bernhardt, EPIL 5, 144, hält die Frage daher ftlr offen. Interessant ist, daß sich auch ftlr das Parallel problem der ungültigen Schiedssprüche noch keine einhellige Meinung bilden konnte; vgl. dazu Oellers-Frahm, EPIL 1, 119. die selbst eher der Anfechtbarkeit zuneigt; im seI ben Sinn auch Art. 36 und 37 der von der ILC ausgearbeiteten "Model Rules of Arbitral Procedure" (YILC 195811,83).
I. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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Nichtigkeit diskutiert. 20 Die absolute Nichtigkeit tritt ex tunc und ohne besondere Feststellung ein; sie beraubt den Akt jeglicher rechtlicher Wirkung. 21 Die relative Nichtigkeit ist dagegen eine Rechtsfolge, die lediglich von jenen geltend gemacht werden kann, deren Schutz die verletzte Norm dient. Sie beraubt den Rechtsakt auch nicht aller Rechtswirkungen; dieser kann daher weiterhin Grundlage eines Gutglaubensschutzes oder einer Verwirkung sein. 22 Teilweise wird diese relative Nichtigkeit auch als "Anfechtbarkeit" bezeichnet;23 damit ist jedoch gerade nicht eine Beschränkung auf gerichtliche Geltendmachung gemeint. 24 Für die Frage der Gültigkeit der Beschlüsse des SR hilft die Unterscheidung von absoluter und relativer Nichtigkeit in dieser Form jedenfalls nicht weiter. Es geht nicht darum, ob in ihren Rechten nicht betroffene Staaten die Ungültigkeit der Beschlüsse des SR geltend machen könnten; vielmehr ist problematisch, ob selbst unmittelbar durch Zwangsmaßnahmen betroffene Staaten deren Rechtswidrigkeit ohne weiteres einwenden können oder hierbei auf bestimmte Formen der Geltendmachung beschränkt sind. Teilweise wird die Anfechtbarkeit in der Tat auch im Sinne einer Beschränkung auf gerichtliche Geltendmachung fiir auf die Beschlüsse internationaler Organisationen anwendbar gehalten; es genüge insofern schon die Existenz nichtobligatorischer Gerichtsbarkeit. 25 Hierin würde in der Tat ein Ansatz liegen, der das Risiko einer Unterhöhlung der Autorität des Sicherheitsrats durch unlösbare Auslegungskonflikte minimieren könnte. Es fragt sich nur, ob eine solche Auffassung in Abwesenheit obligatorischer Appellationsmöglichkeiten nicht zu einer zu einseitigen Betonung der Rechtssicherheit fUhren könnte. Ein Problem ist schon, was denn überhaupt unter einer "Anfechtung" eines Beschlusses des SR zu verstehen sein sollte. Es ist bereits betont worden, daß der 20 Vgl. Cahier, RGDIP 1972,650; Jennings, FS McNair, S. 66f.; Guggenheim, RdC 1949 I, 208f. 21 Cahier a.a.O., 650; neben ihr ist die teilweise befiirwortete Figur der "Nichtexistenz" von Rechtsakten (vgl. Jacque, S. 83; Guggenheim, RdC 1949 I, 203ff.) überflüssig. 22 Jennings, FS McNair, S. 68ff.; Cahier, RGDIP 1972, 664; zur Unterscheidung von relativer und absoluter Nichtigkeit bei völkerrechtlichen Verträgen Nguyen QuoclDaillierlPellet, S. 203ff. 23 Jennings a.a.O., S. 67; Cahier a.a.O., 650. 24 Fehlgehend daher die Kritik von Cahier a.a.O., 664 an dem Sondervotum von More/li, Certain Expenses, ICJ Rep. 1962, 216, 222, der gerade auf diesen Aspekt abzielt. 25 E. Lauterpacht, FS McNair, S. 113; Sanjose Gi!, REDI 1990,448; Osieke, AJIL 1983,255; Baade, InLJ 1963/64, 559f.; vgl. auch Guggenheim, RdC 1949 I, 208, der neben der Anfechtbarkeit allerdings den Fall der Nichtexistenz anerkennen will, zu dem er auch den exces de pouvoir seitens einer internationalen Organisation zählt. Gowlland-Debbas, AJIL 1994, 672f., hält die Anfechtbarkeit auch auf Beschlüsse des SR rur anwendbar, nimmt davon aber Verstösse gegen ius cogens aus.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Entscheidung des IGH im streitigen Verfahren bindende Wirkung nur fUr die Streitparteien zukommt;26 eine "Anfechtung" mit Wirkung der Aufhebung nur inter partes wäre jedoch kein sehr naheliegendes Konzept. Demnach hat die Entscheidung des IGH - gleich, ob im gutachtlichen oder im streitigen Verfahren - in Bezug auf die Gültigkeit des Beschlusses auch keine konstitutive Wirkung; der IGH kann keine Beschlüsse des SR aufheben, er kann sich höchstens zu ihrer Gültigkeit äußern. 27 Angesichts dessen kann mit dem Richter Morelli im Fall Certain Expenses gesagt werden: "la notion d'annulabilite n'a aucune possibilite d'etre appliquee aux actes de l'Organisation des Nations Unies"28. Eine "Anfechtbarkeit" ohne effektive Möglichkeit der Anfechtung wäre nicht mehr als ein juristischer Kunstgriff mit dem Ziel einer Freistellung des Sicherheitsrats von der Beachtung der Charta. Denn selbst wenn man die nichtobligatorischen Entscheidungsmöglichkeiten des IGH als Anfechtungsmöglichkeit anerkennen würde, bliebe diese doch gleichwohl auf ausgesprochene Sonderfälle beschränkt. 29 Das Fragmentarische der Kontrolle durch den IGH hätte zur Folge, daß die theoretische "Anfechtbarkeit" in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle effektiv Unanfechtbarkeit wäre. Von Anfechtbarkeit sollte man nur dann sprechen, wenn jeder, der einen Grund zur Anfechtung hat, auch anfechten kann. Dies ist im Rahmen des Systems der VN, insbesondere unter den Bedingungen nichtobligatorischer Gerichtsbarkeit, nicht zu gewährleisten. Jede Übertragung landesrechtlicher Grundsätze - und wäre sie auch noch so wünschenswert - ist zum Scheitern verurteilt, wo die institutionellen Voraussetzungen ihrer Verwirklichung fehlen. Eine Zentralisierung der Entscheidung beim IGH ist nicht möglich. Die Figur der Anfechtbarkeit ist nicht auf die Beschlüsse des SR übertragbar; die Ungültigkeit eines Beschlusses des SR müßte grundsätzlich seine Nichtigkeit bedeuten.
26 S.o. S. 113f. 27 Thierry, RdC 1980 11, 396; Mosler in Simma, Art. 96, Rn. 31. 28 Certain Expenses, ICJ Rep. 1962, 216, 222; ebenso schon ders., Arbitral Award Made by the King 0/ Spain (Honduras v. Nicaragua), ICJ Pleadings 1960 11, 268, 275 ("pas d'annulabilite sans instance"); Herdegen, VandJTL 1994, 139, 144; Frowein, EPIL 7, 364; Jennings, FS McNair, S. 71, 86f.; Cavare, RdC 1952 I, 247. 29 Darauf weist auch Herdegen, VandJTL 1994, 139 hin.
I. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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2. Schutz des guten Glaubens bei Ausführung verbindlicher Beschlüsse des Sicherheitsrats?
Damit ist allerdings noch nicht gesagt, daß ein ungültiger Beschluß des SR gänzlich ohne rechtliche Relevanz sein müßte. Insbesondere im Verfahren der Inzidentkontrolle könnte sich das Problem stellen, daß die Rechtmäßigkeit von Handlungen von Staaten in Frage gestellt wird, die diese in Ausfilhrung und im Vertrauen auf die Gültigkeit von Beschlüssen des SR vorgenommen haben. Es wäre nicht unproblematisch, wenn der Staat gleichwohl dem Verdikt der Rechtswidrigkeit ausgesetzt wäre und vielleicht sogar Schadensersatzansprüche befilrchten müßte; eine solche Gefahr könnte natürlich auch Rückwirkungen auf die Bereitschaft der Mitgliedstaaten zur Befolgung von Beschlüssen nach Art. 2S ChVN im allgemeinen haben. Es fragt sich daher, ob nicht auch bei nichtigen Beschlüssen des SR ein Schutz des guten Glaubens der Mitgliedstaaten auf die Gültigkeit des Beschlusses angebracht wäre. a) Als erste Frage stellt sich dabei schon, was genau man unter dem "guten Glauben" eines Staates bei der Ausfilhrung eines Beschlusses des SR zu verstehen hätte. Dieser gute Glauben müßte sich auf die Gültigkeit des fraglichen Beschlusses beziehen. Regelmäßig werden allerdings Bedenken gegen die Gültigkeit eines Beschlusses, sofern solche bestehen, schon anläßlich der Fassung des Beschlusses geäußert werden, und man kann davon ausgehen, daß sie dann auch zur Kenntnis sämtlicher Mitgliedstaaten gelangen. Die Kenntnis rechtlicher Einwände bedeutet jedoch noch nicht die Kenntnis der Ungültigkeit. Man wird davon auszugehen haben, daß ein Staat nur dann einen Beschluß des SR ausftlhren wird, wenn er auch von dessen Gültigkeit ausgeht. Die wahren rechtlichen Überzeugungen der staatlichen Entscheidungsträger sind gerichtlicher Untersuchung nicht zugänglich und können daher nicht hinterfragt werden. Dies gilt selbst im Falle von Mitgliedern des SR, die dem fraglichen Beschluß zugestimmt haben. Sicherlich kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein Mitglied des SR entgegen der eigenen Rechtsüberzeugung Zwangsmaßnahmen zustimmt und sich so ein Deckmäntelchen filr die Ausübung politisch erwünschten Drucks verschafft. Aber die Motive des Abstimmungsverhaltens im SR sind einer gerichtlichen Kontrolle ebenfalls nicht zugänglich. 30 Auch filr Mitglieder des SR sind dessen Beschlüsse verbindlich; auch diese könnten sich daher auf ihren guten Glauben berufen. b) Der gute Glaube der Mitgliedstaaten beruht folglich auf einem Rechtsirrtum; es fragt sich, welche Auswirkungen dieser Rechtsirrtum auf die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten hätte. Im allgemeinen Völker30 S.o. S. 80f.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
recht wird der Rechtsirrtum gemäß dem Prinzip "nemo censetur ignorare legern" rur unbeachtlich gehalten;3l dies ist auch die überwiegende Position in der gerichtlichen Praxis,32 obwohl es Abweichungen gibt. 33 Aber es ist durchaus fraglich, ob Aussagen über die Beachtlichkeit oder Unbeachtlichkeit des Rechtsirrtums in allgemeiner Form überhaupt möglich sind. Die Frage wird auch nicht durch die alte Kontroverse über Schuld oder Erfolg als Grundlage der Staatenverantwortlichkeit berührt. 34 Ein Erfordernis subjektiver Schuld wäre zwar gegenüber Staaten als kollektiven Handlungseinheiten in der Tat fehl am Platz. 35 Das enthebt jedoch nicht der Notwendigkeit einer differenzierten Prüfung, welche Elemente im einzelnen Fall und im Hinblick auf die konkrete Rechtsbeziehung jeweils erforderlich sind, um den Vorwurf einer Rechtsverletzung zu begründen. 36 Dabei stellt sich vorliegend das besondere Problem, daß sich der Irrtum nicht auf Existenz oder Reichweite der Primärpflichten bezieht, die ja im Verfahren der Inzidentkontrolle den eigentlichen Gegenstand des Verfahrens darstellen, sondern auf die Gültigkeit eines Rechtsaktes, der im Falle seiner Wirksamkeit die bestehenden Rechte und Pflichten überlagert hätte. Die Bedeutung eines solchen Irrtums über einen Rechtfertigungsgrund kann nicht im Hinblick auf das Primärrechtsverhältnis entschieden werden, sondern nur im Hinblick auf jenes Rechtsverhältnis, dem der Rechtfertigungsgrund entstammen sollte. Insofern wird teilweise allgemein die Regel aufgestellt, daß Handlungen, die im Vertrauen auf die Gültigkeit eines Rechtsakts und vor Feststellung von dessen Nichtigkeit vorgenommen werden, nicht vom Vorwurf der Rechtswidrigkeit erfaßt würden. 37 Eine entsprechende Regel enthält filr die Nichtigkeit von Verträgen in der Tat Art. 69 11 b WÜV, nach dem Handlungen, die vor Geltendmachung der Ungültigkeit des Vertrags in gutem Glauben vorgenommen wurden, nicht schon durch diese Ungültigkeit rechtswidrig werden. Die Frage ist, 3l Vgl. Zoller, S. 260f., 266; Dubouis, AFDI 1963,213. 32 Vgl. etwa Owners of the Jessie, the Thomas F. Bayard and the Pescawha (Great
Britain v. United States), RIAA VI, 57, 59 (1921); Owners, OjJicers and Men of the Wanderer (Great Britain v. United States), RIAA VI, 68, 74 (1921). 33 Vgl. Affaire de Casablanca (Allemagne v. France), RIAA XI, 119, 128f. (1909); Überblicke zur gerichtlichen Praxis bei Zoller, S. 260-266; Dubouis, AFDI 1963, 214219. 34 Dubouis a.a.O., 213f. 35 Dementsprechend nennt etwa auch Art. 3 des ersten Teils des ILC-Entwurfes zur Staatenverantwortlichkeit (YILC 1980 11/2, 30) lediglich Zurechenbarkeit und Rechtswidrigkeit als Elemente eines "internationally wrongful act". 36 Diese differenziertere Betrachtungsweise scheint sich allmählich durchzusetzen; vgl. etwa Jennings/Watts, S. 509; von Münch, S. 169; Zemanek, EPIL 10,365. 37 Frowein, EPIL 7, 364; ebenso Zoller, S. 326, 332f.: "la nullite ne peut injustement frapper la partie non-coupable".
l. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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ob man dies auf die Beschlüsse des SR übertragen kann. Bei Verträgen geht es um die Auswirkungen eines Rechtsscheins, an dessen Zustandekommen grundsätzlich beide Parteien mitgewirkt haben; hier ist die Annahme eines zu Lasten der anderen Partei gehenden Vertrauensschutzes daher grundsätzlich vertretbar. Der Rechtsschein, der durch einen ungültigen Beschluß des SR erzeugt wird, ist dagegen keiner der beiden Parteien zurechenbar; der Schaden trifft daher in jedem Fall einen Unschuldigen, der auch kaum beim SR wird Regress nehmen können. In Abwesenheit einer umfassenden obligatorischen gerichtlichen Kontrolle des SR kann dieses Problem nicht völlig befriedigend gelöst werden. Maßstab muß vielmehr sein, wie hier die Belastungen am gerechtesten verteilt werden können. Dabei ist nicht zu übersehen, daß die Annahme eines Gutglaubensschutzes in Bezug auf die Beschlüsse des SR zu einer ganz erheblichen Beeinträchtigung rur mögliche Adressaten rechtswidriger Zwangsmaßnahmen des SR ruhren würde. Der Schaden würde gleichsam bei jenem konzentriert, während es sich doch eigentlich um eine Last handelt, die den VN und damit der internationalen Gemeinschaft im ganzen zufallen sollte. Die Annahme einer individuellen Verantwortlichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten ist angesichts der Probleme ihrer Durchsetzung zwar auch keine vollständig befriedigende Lösung, kommt dieser Lastenverteilung aber noch erheblich näher. Zudem darf auch nicht übersehen werden, daß durch die Annahme eines Gutglaubensschutzes auch die Möglichkeiten einer Kontrolle durch den IGH im streitigen Verfahren erheblich eingeschränkt, wenn nicht sogar gänzlich vereitelt würden. Da subjektive Schuld nicht Voraussetzung der Staatenverantwortlichkeit ist, müßte der gute Glaube schon die Rechtswidrigkeit ausschließen. Damit bliebe kein Raum mehr rur eine erfolgreiche Feststellungsklage; der IGH könnte - und würde vermutlich auch - auf Aussagen zur Gültigkeit des Beschlusses verzichten. Dies gilt selbst fiir Handlungen, die erst nach Klageerhebung vorgenommen werden. Der Mitgliedstaat wird nicht deswegen von seiner Verpflichtung zur Befolgung von Beschlüssen des SR gern. Art. 25 ChVN frei, weil der Adressat der Zwangsmaßnahmen Klage vor dem IGH eingereicht hat; demnach müßte man auch insofern den guten Glauben noch berücksichtigen. Der Schutz des guten Glaubens auf die Gültigkeit der Beschlüsse des SR liefe somit auf die völlige Schutzlosigkeit des jeweiligen Adressaten der Zwangsmaßnahmen hinaus. Der ungültige Beschluß würde sich im Hinblick auf die rechtliche Effektivität der von ihm eingeleiteten Maßnahmen der Staaten in nichts von einem gültigen unterscheiden. Die Gefahr andererseits, die von der Möglichkeit einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit rur die Bereitschaft zur Befolgung der Beschlüsse des SR ausgehen könnte, sollte man auch nicht überschätzen. Für einen Mitgliedstaat wird dies regelmäßig ohnehin nur eine relativ fernliegende Erwägung sein. Entscheidender ist, ob die Mitgliedstaaten von der
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Legitimität und Legalität der Beschlüsse des SR überzeugt sind; diese Überzeugung könnte der Schutz des guten Glaubens der Mitgliedstaaten ohnehin nicht ersetzen. Ungültigkeit der Beschlüsse der SR kann daher immer nur absolute Nichtigkeit sein; auch ein Schutz des guten Glaubens ist nicht anzuerkennen.
11. Voraussetzungen der Gültigkeit Mit der Erkenntnis, daß Ungültigkeit im Recht der VN absolute Nichtigkeit bedeuten muß, stellt sich nunmehr auch der Konflikt von Recht und Rechtssicherheit in voller Schärfe. Dieses Problem wird nur verdeckt, wenn man die Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR als den "standard of judicial review" des IGH bezeichnet. 38 Denn man muß sich bewußt bleiben, daß der IGH nicht mehr tun kann, als Aussagen zu objektiven Rechtslage zu machen. Sein "standard of judicial review" ist nicht mehr als ein Reflex jenes Maßstabes, den jeder beliebige Mitgliedstaat anlegen kann, um die Gültigkeit der Beschlüsse des SR und damit seine Verpflichtungen nach Art. 25 ChVN in Zweifel zu ziehen. 39 Der äußerst fragmentarische Charakter der Kontrolle durch den IGH bringt es mit sich, daß eine weite Fassung der Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR in einigen wenigen Fällen mehr Gerechtigkeit, daftlr aber in vielen anderen mehr Rechtsunsicherheit zur Folge haben könnte. Die Frage ist nur, ob dieses Problem schon die völlige oder teilweise Freistellung des SR von der Beachtung der Charta rechtfertigen kann. Die Unvollkommenheit der institutionellen Struktur der VN bringt es mit sich, daß keine Lösung hier völlig ohne Rest aufgehen wird; Ziel kann nur jene sein, die noch am ehesten der Verwirklichung der Ziele der VN gerecht wird. Dabei ist zunächst auf die Bedeutung der Regelung des Art. 25 ChVN einzugehen. Anschließend ist der Konflikt von Rechtssicherheit und Rechtsbindung in den Gesamtzusammenhang der VN als System kollektiver Sicherheit zu stellen; erst auf dieser Grundlage wird eine umfassende Lösung möglich sein.
1. Die Regelung des Art. 25 ChVN
Alle Kompetenzen des SR bestehen nur soweit, als sie ihm durch die Charta übertragen werden; nach dieser bestimmt sich daher grundsätzlich auch, unter 38 So G. Watson, HILJ 1993, 14. 39 Ebenso Herdegen, VandJTL 1994, 146f.
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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welchen Voraussetzungen die Beschlüsse des SR Gültigkeit besitzen. Das Recht des SR, filr die Mitgliedstaaten verbindliche Beschlüsse zu fassen, ist verankert in Art. 25 ChVN. Es ist zu untersuchen, ob diesem auch eine Regelung der Voraussetzungen der Gültigkeit dieser Beschlüsse zu entnehmen ist.
a) Wortlaut und Systematik Schon der Wortlaut des Art. 25 Ch VN ist jedoch problematisch. In der englischen Originalfassung bestimmt er: "The Members of the United Nations agree to accept and carry out the decisions of the Security Council in accordance with the present Charter." Man könnte versucht sein, aus der Wendung "in accordance with the present Charter" herauszulesen, daß nach Art. 25 Ch VN nur solche Beschlüsse des SR verbindlich sind, die auch im Einklang mit der Charta stehen. Jedoch ist die Bestimmung gerade an diesem Punkt ungenau formuliert: an das Satzende gestellt, kann sich die zitierte Wendung ebensogut auf die Beschlüsse des SR wie auch auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten beziehen. 40 Diese unklare Wortstellung findet sich in allen verbindlichen Fassungen der Charta wieder. Nur die amtliche deutsche Fassung41 bezieht die Wendung eindeutig auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten; sie entbehrt jedoch gern. Art. 111 Ch VN der Verbindlichkeit. Diese Unklarheit des Wortlautes des Art. 25 ChVN ist Ausgangspunkt filr eine Kontroverse über die Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR geworden. Einige Autoren vertreten, Art. 25 ChVN habe entsprechend der vertraglichen Natur der Kompetenzen des SR lediglich klarstellen sollen, daß nur solche Beschlüsse verbindlich sein könnten, die im Einklang mit der Charta zustandegekommen sind;42 hiervon scheint auch der IGH im Namibia-Gutach-
40 Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 6; Manin, S. 13f. (Fn. 2); Kelsen, S. 95; Kopelmanas, S. 296 (Fn. 4); diss. op. Bedjaoui, Lockerbie, ICJ Rep. 1992,33,47. 41 Vgl. o. S. 31. 42 Cavare, RdC 1952 I, 256 (argumentierend aus der "Idee der Delegation"); R. L. Bindsched/er, RdC 1963 I, 331; Andres Saenz, REDI 1992, 344, 347; Bowett, EJIL 1994, 92; Goodrich/Hambro/Simons, S. 208; Kelsen, S. 95; Krökel, S. 35; Kewenig, FS Scheuner, S. 270; Manin, S. 13 (Fn. 2); Sonnen/eid, S. 127 und PYIL 1976, 135; Rösgen, S. 157; Gowlland-Debbas, S. 494 und AJIL 1994,662; Schilling, AVR 1995, 94; Russell/Muther, S. 665; Report to the President, S. 79. 9 Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
ten ausgegangen zu sein. 43 Diesen Auffassungen können fllr die vorliegende Fragestellung jene gleichgestellt werden, die davon ausgehen, daß sich die Wendung des Art. 25 ChVN sowohl auf die Beschlüsse des SR als auch auf die Befolgungspflicht der Mitgliedstaaten beziehe;44 auch hiernach müßten die Beschlüsse des SR zu ihrer Verbindlichkeit im Einklang mit der Charta stehen. Andere Autoren betonen dagegen, Art. 25 Ch VN habe - insbesondere nach den Erfahrungen mit der Erfolglosigkeit des Sanktionsmechanismuses des Völkerbundes4S - eine äußerst weitgehende Zentralisierung der Entscheidungsgewalt in den VN erreichen wollen; dies dürfe nicht dadurch wieder zunichte gemacht werden, daß den Mitgliedstaaten gestattet werde, mit rechtlichen Erwägungen die Gültigkeit und Verbindlichkeit der Beschlüsse des SR anzuzweifeln. 46 Bezogen auf die Beschlüsse des SR sei die Wendung des Art. 25 ChVN eine "veritable invitation a la mise en cause par les Etats de la regularite constitutionnelle de la decision"47; folglich dürfe sich die Wendung des Art. 25 ChVN nur auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten beziehen. 48 Im Ergebnis auf dasselbe läuft es hinaus, wenn einige Autoren zwar zugestehen, der SR sei nach Art. 25 Ch VN zwar grundsätzlich an die Charta gebunden, über deren Auslegung habe jedoch nur er selbst zu entscheiden;49 eine solche "Bindung" an das Recht ist letztlich keine. Diese Kontroverse betrifft unmittelbar die Frage der Bindung des SR an die Charta und ist damit von großer Bedeutung rur die gerichtliche Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob Wortlaut und Systematik des Art. 25 ChVN wirklich eine Entscheidung der Streitfrage ermöglichen. Sicherlich könnte man sich fragen, welchen Sinn die Wendung "in accordance with the present Charter" haben sollte, wenn sie sich auf die Ver43 ICl Rep. 1971, 16, 53; ebenso diss. op. Fitzmaurice, ebd., 220, 293. Dazu, daß die Entscheidung des IGH im konkreten Fall jedoch kaum mit dieser Auslegung zu vereinbaren war, vgl. o. S. 37ff. 44 limenez de Arechaga, S. 234; dem scheint auch Bedjaoui in seiner diss. op. im Lockerbie-Fall zuzuneigen, ICl Rep. 1992, 33, 47. 4S Hierzu ausfilhrlich u. S. 136ft". 46 Dahm, S. 212; Combacau, S. 259f.; Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 17; ebenso ohne konkrete Nennung des Art. 25 ChVN Bailey, S. 36; Brownlie, S. 335, der meint, "as a matter of policy" sollten sich die Organe der VN jedoch möglichst genau an die Charta halten. 47 Combacau, S. 259, der vom Wortlaut her gleichwohl diese Auslegung für maßgeblich hält. 48 Dahm a.a.O.; Suy in CotlPellet, S. 477. 49 Vgl. DickelRengeling, S. 68; Combacau, S. 259f., der lediglich einen Vorbehalt für substantielle Verfahrensregeln macht; ganz ähnlich wie dieser Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 18; filr ein Letztentscheidungsrecht des SR auch Heintschel von Heinegg in Ipsen, § 11, Rn. 3; Kopelmanas, S. 271.
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pflichtungen der Mitgliedstaaten bezöge; denn daß diese als Vertragsparteien an alle einschlägigen Bestimmungen der Charta gebunden sind, versteht sich nach dem Grundsatz "pacta sunt servanda" eigentlich von selbst und fmdet sich in Art. 2 Nr. 2 und 5 ChVN ausdrücklich noch einmal betont. 50 Das Argument trifft jedoch auch in umgekehrter Richtung, denn daß die Beschlüsse des Organs einer internationalen Organisation grundsätzlich im Einklang mit der Satzung zu stehen haben, könnte man ja fllr mindestens ebenso "selbstverständlich" halten. 51 Dies gilt gerade auch im Hinblick auf Art. 2 Nr. 5 Hs. 1 ChVN, in dem die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, den VN Beistand zu leisten "bei jeder Maßnahme, welche die Organisation im Einklang mit dieser Charta ergreift" und in der somit ausdrücklich die Bindung der Organe der VN an die Charta festgehalten ist. Letztlich käme der fraglichen Wendung des Art. 25 ChVN in ihrem positiven Regelungsgehalt nach jeder Auffassung nur eine klärende Bedeutung zu. Das eigentliche Problem ist daher, ob man aus der Bezugnahme der Wendung auf eines der Elemente des Art. 25 Ch VN schon im Umkehrschluß zu folgern hätte, daß die Bindung an die Charta im übrigen ausgeschlossen ist. Der Wortlaut der Bestimmung ist aber zu wenig eindeutig, um eine Auffassung von solcher Tragweite begründen zu können, und auch die Systematik des Art. 25 Ch VN ermöglicht keine eindeutigen Schlüsse. 52 Dies gilt insbesondere fllr die Unterschiede in der Formulierung der Art. 2 Nr. 5 Hs. 1 und 25 ChVN; letzteren könnte man angesichts der besonderen Bedeutung der Beschlüsse des SR ebensogut als Bestätigung53 wie als Ausnahme zu dem allgemeinen Grundsatz der Bindung an die Charta verstehen. Wortlaut und Systematik des Art. 25 ChVN filhren folglich zu keinem klaren Ergebnis; zur Lösung der Frage der Rechtsbindung des SR muß weiter ausgegriffen werden.
50 Auf Art. 2 Nr. 5 verweist in diesem Zusammenhang insbesondere Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 18. 51 So etwa Dicke/Rengeling, S. 68; Kewenig, FS Scheuner, S. 270. 52 Nicht einschlägig ist insbesondere Art. 48 I ChVN, der überhaupt nichts mit den V oraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR zu tun hat, da er nicht etwa eine eigenständige Grundlage verbindlicher Beschlüsse ist, sondern lediglich eine besondere Gestaltungsmöglichkeit des SR bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen regelt. Ebenso Krökel, S. 50; a.A. anscheinend der IGH im Namibia-Gutachten, ICI Rep. 1971, 16,53. 53 So Krökel, S. 35. 9·
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
b) Entstehungsgeschichte
Angesichts des unklaren Wortlauts des Art. 25 ChVN fragt sich, ob die Entstehungsgeschichte eine Klärung des Problems ermöglichen könnte. Ausgangspunkt sind dabei die sog. Dumbarton Oaks Proposals 54 , die bereits die folgende Bestimmung enthielten: 55 "All members of the United Nations should obligate themselves to accept the decisions ofthe Security Council and to carry them out in accordance with the provisions ofthe Charter."
In dieser Bestimmung war die Wendung "in accordance with the provisions of the Charter" im Unterschied zu Art. 25 ChVN relativ eindeutig allein auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten bezogen. Gleichwohl tauchten auf der Konferenz von San Francisco auch insofern Zweifel auf. Auf einen belgischen Antrag hin, es möge ausdrücklich klargestellt werden, daß bindende Beschlüsse des SR nur unter den Voraussetzungen des heutigen Kapitels VII zulässig seien,56 wandte der Delegierte Groß-Britanniens ein, dies sei überflüssig, weil der SR ohnehin nur nach diesem Kapitel zur Fassung verbindlicher Beschlüsse befugt und bei seiner Tätigkeit an die Charta gebunden sei; er betonte ausdrücklich, daß sich die Wendung "in accordance with the provisions of the Charter" auch auf die Beschlüsse des SR beziehe,57 während der australische Delegierte meinte, die Bestimmung sei insofern jedenfalls mehrdeutig. 58 Im Ergebnis wurde der belgische Antrag abgelehnt;59 die Veränderungen im Wortlaut der Bestimmung, die schließlich doch noch vorgenommen wurden, erfolgten im Zuge der redaktionellen Überarbeitung der Charta im Koordinationskomitee, dessen Arbeit insofern jedoch nicht dokumentiert ist. 60 Über die Hintergründe dieser Änderung läßt sich daher nur spekulieren. Russell und Muther berichten zwar, Ziel der Änderung sei es gewesen klarzustellen, daß nur rechtmäßige Beschlüsse verbindlich seien,61 aber es wird nicht 54 Zur Entstehungsgeschichte der Charta im allgemeinen vgl. Grewe in Simma, S. XXIIIff., Rn. 3ff. sowie das Werk von Russell und Muther. 55 Punkt VI/B/4, UNCIO IlI, I. 56 UNCIO 11,393. 57 UNCIO 11, 394f.; darauf verweist auch Krökel, S. 35. 58 UNCIO 11,395. 59 UNCIO 11,395. 60 In UNCIO 17, 174, wird lediglich vermerkt, Art. 25 sei ohne Diskussion angenommen worden. 61 S. 665; Hierauf stützen sich Goodrich/Hambro/Simons, S. 208; Sonnenfeid, S. 127; Krökel, S. 35.
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recht klar, ob es sich hierbei um mehr als eine bloße Vermutung handelt. Man ist daher zurückgeworfen auf zwei gegenläufige Beobachtungen. Einerseits zeigen die Diskussionen auf der Konferenz von San Francisco, daß die Frage der Bindung des SR an die Charta durchaus als ein der Regelung - oder jedenfalls der KlarsteIlung - bedürftiges Problem empfunden wurde; wenn daher der recht klare Wortlaut der Dumbarton Oaks Proposals als änderungsbedürftig aufgefaßt wurde, dann sicher deshalb, weil eine stärkere Betonung der Bindungen des SR gewünscht war. Andererseits blieben auch die vorgenommenen Änderungen in einer zweideutigen Formulierung stecken, und es läßt sich nicht ausschließen, daß dies nicht doch auf ein Zurückschrecken vor einer zu eindeutigen "invitation a la mise en cause" der Gültigkeit der Beschlüsse des SR zurückzufilhren war. Was in der Fassung des Art. 25 ChVN auf bewußte Entscheidung und was auf Uneinigkeit, Unentschlossenheit oder schlicht Unachtsamkeit zurückzufilhren ist, läßt sich heute nicht mehr aufklären; die Hintergründe der Formulierung des Art. 25 ChVN bleiben dunkel. Aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des Art. 25 ChVN kann daher die Frage der Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR nicht abschließend entschieden werden. Es ist aber ohnehin zweifelhaft, ob eine Lösung des Problems allein von Art. 25 ChVN ausgehen kann. Denn die Diskussion um den Wortlaut des Art. 25 ChVN läuft auf eine Entscheidung zwischen zwei Extremen hinaus; entweder der SR ist in seinen Beschlüssen vollständig und ohne Ausnahme an die Charta gebunden, oder es besteht überhaupt keine Bindung. Zwischen diesen beiden Extrempositionen ist jedoch eine ganze Reihe vermittelnder Ansätze denkbar, die wenigstens in Erwägung gezogen werden müssen, wenn die Entscheidung überzeugen soll; die Nichtigkeitsfolge könnte - ohne Anspruch auf Vollständigkeit62- beschränkt werden auf Verstösse nur gegen formelles oder nur gegen materielles Recht, auf offensichtliche Rechtsverstösse oder auf Abweichungen von den Zielen der VN. All diese Alternativen werden durch Art. 25 Ch VN nicht ausgeschlossen, aber begründet werden können sie allein aus ihm auch nicht. Wer die Diskussion allein im Rahmen des Art. 25 filhrt, verkürzt damit die Problematik sowohl im Hinblick auf die möglichen Alternativen als auch auf die erforderlichen Argumente. Die Wertungen, die zur Beantwortung der Frage der Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR erforderlich sind, müssen aus einer Gesamtbetrachtung der Charta unter besonderer Berücksichtigung ihrer Ziele, Funktionsbedingungen und Strukturprinzipien gewonnen werden; dem gilt es sich nunmehr zuzuwenden.
62 Ausfiihrlich zu den einzelnen Ansätzen u. S. 142ff.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen 2. Kollektive Sicherheit, Rechtssicherheit, Legalität
Die Vereinten Nationen sind keine Rechtsordnung wie jede andere. Errichtet als Antwort auf die Schrecken des zweiten Weltkrieges, war eines der zentralen Motive ihrer Gründer der Wunsch, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren" (Präambel, erster Absatz); die neugeschaffene Organisation machte es sich daher zur Aufgabe, "wirksame Kollektivrnaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu beseitigen" (Art. 1 Nr. 1 ChVN). Zu diesem Zweck wurde der SR errichtet, dem die "Hauptverantwortung filr die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" übertragen ist (Art. 24 I ChVN); insbesondere in Kapitel VII über "Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen" sind ihm weitreichende Befugnisse eingeräumt. Die Aufgaben und Funktionen der VN und ihres SR sind damit in der internationalen Gemeinschaft ebenso einzigartig wie lebenswichtig. An diesem besonderen Charakter der Aufgaben und Befugnisse des SR muß auch die Lösung des Konflikts von Rechtssicherheit und Legalität ausgerichtet bleiben. In der Folge sollen daher die Strukturprinzipien der VN als System zur Wahrung des Weltfriedens näher herausgearbeitet werden.
a) Das Konzept der kollektiven Sicherheit Der Wunsch nach einer Ächtung der bewaffneten Gewalt in den internationalen Beziehungen ist so alt wie diese selbst; die VN stehen in einer langen entwicklungsgeschichtlichen Tradition theoretischer und praktischer Bemühungen, den Frieden auch da zu einem dauerhaften zu machen, wo ihn der Nationalstaat nicht mehr gewährleisten kann. 63 Ungeflihr seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts 64 hat sich dabei ein besonderes Ordnungsmodell herauskristallisiert: das Konzept kollektiver Sicherheit. 65 Eine praktische Umsetzung hat dieses Konzept durch die Errichtung der VN erfahren; es ist daher hilfreich filr das Verständnis des Sicherheitssystems der VN, sich die Strukturmerkmale kollektiver Sicherheit zu vergegenwärtigen. 63 Einen Überblick über die Ideengeschichte geben Frei, Kriegsverhütung, S. 25ff., sowie Hans-Jürgen Schlochauer, Die Idee des ewigen Friedens, Bonn 1953, S. 9ff., letzterer auch mit einer Vielzahl von Quellentexten. 64 So fand etwa im Jahre 1935 in London eine internationale Studienkonferenz über kollektive Sicherheit statt; vgl. dazu den Bericht von Berber, ZaöRV 1935, 803ff. 65 Vgl. hierzu allgemein Delbrück, EPIL 3, 104ff.; Doehring in Wolfrum, S. 405ff.; Frei, Kriegsverhütung, S. 70ff.; Claude, Swords to Plowshares, S. 224ff.
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Im Unterschied zu klassischen Allianzen und VerteidigungsbUndnissen, die den Frieden dadurch zu wahren versuchten, daß sie einem möglichen Angreifer von außen ein abschreckendes Verteidigungspotential entgegensetzten, ist ein System kollektiver Sicherheit stets auch nach innen gerichtet. Ein zentraler Wesenszug kollektiver Sicherheit ist es, daß die Mitglieder des Systems auch zur Abwehr von Friedensbrüchen durch andere Mitglieder verpflichtet werden. 66 Eine ausreichende Zahl von Mitgliedern und eine ausgewogene Verteilung der Machtmittel im Verhältnis der Mitgliedstaaten vorausgesetzt,67 wird so im Prinzip gewährleistet, daß jeder potentielle Angreifer stets einer Übermacht verteidigungs bereiter Staaten gegenüberstehen wird; der Schutz ist damit sehr viel umfassender als dies durch ein bloßes VerteidigungsbUndnis möglich ist, das Konflikte zwischen den BUndnismitgliedern nicht zu lösen vermag. Diese "Introvertiertheit" kollektiver Sicherheit hat zugleich zur Folge, daß sich das System kollektiver Sicherheit eine rechtliche Verfassung geben kann. Die zentrale, ftlr alle Mitglieder des Systems verbindliche Norm ist dabei das Verbot der Anwendung oder Androhung bewaffneter Gewalt;68 in den VN fmdet es sich niedergelegt in Art. 2 Nr. 4 ChVN. Zur entscheidenden Frage in einem System kollektiver Sicherheit wird jedoch, wie die kollektive Reaktion auf etwaige Friedensbrüche organisiert werden kann. Hier sind verschiedene und im einzelnen unbegrenzt variierbare Lösungsansätze denkbar, die sich vor allem durch den Grad der Zentralisierung der Entscheidungs- und Durchsetzungsprozesse unterscheiden. 69 Völlig dezentralisiert bleibt das System, wenn die Mitgliedstaaten im Falle eines Angriffs zwar verpflichtet sind, Beistand zu leisten, über das Vorliegen des BUndnisfalles ("casus foederis") wie über die im einzelnen zu treffenden Maßnahmen jedoch selbst zu entscheiden haben. Eine weitergehende Zentralisierung wird erreicht, wenn jedenfalls die Entscheidung über das Eintreten des BUndnisfalles einem internationalen Organ übertragen wird; noch weitergehend könnte diesem auch die Entscheidung über die im einzelnen von den Mitgliedstaaten zu treffenden Maßnahmen übertragen werden. Einen Abschluß fmdet die Zentralisierung, wenn dem internationalen Organ selbst Machtmittel, insbesondere Streitkräfte, zur Verftlgung gestellt werden, um auf eventuelle Friedensbrüche reagieren zu können. Man kann sich allerdings fragen, ob es sinnvoll ist, all diese verschiedenen Modelle unter den Leitbegriff der kollektiven Sicherheit zu brin66 Delbrück, EPIL 3, 105; Doehring in Wolfrum, S. 406, Claude, Power, S. 145; R. L. Bindschedler, FS Wehberg, S. 67f.; Dinstein, S. 254.
67 Zur "diffusion of power" als objektive Funktionsbedingung kollektiver Sicherheit vgl. Claude. Swords into Plowshares, S. 234. 68 Delbrück, EPIL 3, 107. 69 Vgl. hierzu auch R. L. Bindschedler, FS Wehberg, S. 72f.; Kelsen, AJIL 1948, 783f.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
gen. Ein vollständig zentralisiertes System "kollektiver Sicherheit" trägt Züge, wie sie der Zwangsgewalt in der staatlichen Ordnung entsprechen; es macht daher Sinn, hier eher von einer supranationalen Verteidigungsgemeinschaft zu sprechen. 70 Umgekehrt ist bezweifelt worden, ob in Abwesenheit jeglicher Zentralisierung noch von einem System kollektiver Sicherheit gesprochen werden kann; es handele sich hier vielmehr um einen "Allgemeinpakt"71. Aber Ziel dieser Arbeit ist nicht die begriffliche Kategorisierung; verdeutlicht werden soll lediglich die Problematik, die der Frage der Grenzen der Befugnisse des SR als dem zentralen Organ eines Systems kollektiver Sicherheit zugrunde liegt. Diese Problematik ergibt sich aus der eigentümlichen Zwitterstellung der kollektiven Sicherheit zwischen internationaler Anarchie und Weltstaat. 72 Das Grundproblem kollektiver Sicherheit ist, daß sie den internationalen Frieden sichern will, ohne die Souveränität der Mitgliedstaaten anzutasten. Diese bleiben Herren ihrer nationalen Armeen, sie allein verfügen über die Mittel bürokratischer und wirtschaftlicher Macht, sie bleiben "the repository of military strength and human loyalty"73; sie und ihre Machtmittel sind es daher auch, von denen die Umsetzung von Zwangsmaßnahmen im System letztlich abhängen wird. Kollektive Sicherheit ist ein Komprorniß zwischen Wunsch und Wirklichkeit; ihre Funktionsfähigkeit hängt vor allem davon ab, ob es gelingt, den nationalen Staat zu einem zuverlässigen Diener des kollektiven Interesses zu machen. Definiert man für die Zwecke der vorliegenden Arbeit kollektive Sicherheit von diesem gemeinsamen Problem aus, dann ist kollektive Sicherheit ein Konzept, nach dem der Weltfrieden zum internationalen Gut wird, seine Sicherung jedoch zumindest teilweise Pflicht und Aufgabe der Staaten bleibt. Wie diese Pflicht ausgestaltet und umgesetzt wird, ist eine zweite Frage; die Bandbreite und Problematik der möglichen Lösungen kann in der Folge am Beispiel von Völkerbund und Vereinten Nationen noch etwas näher dargestellt werden.
b) Die Erfahrung des Völkerbundes
Der Völkerbund stellte den ersten Versuch dar, ein System der Friedenssicherung mit universellem Anspruch zu errichten. Er war damit der unmittel70 Eine solche wäre etwa durch den gescheiterten Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaji (BGBI. 195411, 343) errichtet worden. 71 So zum Völkerbund Menk, S. 40; vgl. ebenso Delbrück, EP1L 3, \05; Dinstein, S. 254. 72 Claude, Swords into Plowshares, S. 224; Frei, Kriegsverhütung, S. 70. 73 Falk, S. VII.
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bare Vorläufer der VN; seine Betrachtung kann auch zur Verdeutlichung der Regelungen der Charta beitragen.74 Errichtet im Jahre 1919 als Teil der Friedensordnung der Pariser Vorortverträge, 75 enthielt seine Satzung jedoch eine Vielzahl von Unzulänglichkeiten, die sein Funktionieren behindern mußten, ja seine Qualifikation als System kollektiver Sicherheit zweifelhaft erscheinen lassen könnten. 76 Zum einen kannte er schon kein allgemeines Gewaltverbot. Art. 12 bis 15 VBS enthielten vielmehr ein differenziert geregeltes System friedlicher Streitbeilegung, das zuerst von den Mitgliedstaaten zu durchlaufen war, bevor diese zum Krieg schreiten durften; das Recht zum Krieg wurde zur Verfahrensfrage. Wichtiger im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch der Sanktionsmechanismus, der fiir den Fall der Verletzung dieses relativen Kriegsverbots vorgesehen war. Gern. Art. 16 I 2 VBS waren in diesem Fall alle Bundesrnitglieder von Vertrags wegen zum Abbruch aller Beziehungen wirtschaftlicher und sonstiger Art zu dem Angreifer verpflichtet; ein Tätigwerden des Rates des VB war insofern nicht vorgesehen. Eine Verpflichtung zur Vornahme militärischer Maßnahmen bestand schließlich überhaupt nicht; der Rat konnte hier den Regierungen gern. Art. 16 II VBS lediglich Vorschläge machen. Der Völkerbund war demnach ein weitgehend dezentralisiertes System; die Kompetenzen seiner Organe blieben sehr begrenzt. Selbst was die eigentlich sehr strikte Verpflichtung zur Vornahme nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen anging, war man sich von Anfang an bewußt, daß das Fehlen einer zentralen Instanz, die das Vorliegen eines Bundesbruches hätte feststellen können, eine erhebliche Gefahr rur die Funktionsfähigkeit des Sanktionsmechanismus darstellte. 77 Dementsprechend war Art. 16 VBS insofern Gegenstand einer ungewöhnlichen Vielzahl von Änderungsversuchen. 78 Schon die zweite Bundesversammlung von 1921 machte den - allerdings bescheidenen - Vorschlag, dem Rat die Erstattung von Gutachten bezüglich der Frage des Vorliegens eines Bundesbruchs zu übertragen; 79 als dies scheiterte, kam es zur Annahme einer interpretativen Resolution,80 die zwar einerseits die Möglichkeit zu veröffent-
74 V gl. Kopelmanas, S. 311. 75 Die Satzung des Völkerbundes stellte den jeweils ersten Teil der Friedensverträge dar; vgl. etwa den Vertrag von Versailles, Martens, NRG sero 3, XI, 331; RGBI. 1919, 717. 76 S.o. Fn. 71. 77 Schücking/Wehberg, S. 385; Freytagh-Loringhoven, S. 187; Yepes/Silva, S. 261; Barandon, S. 261. 78 Überblick bei Cheever/Haviland, S. 124ff.; Ruzie, S. 63f. 79 Societe des Nations, Actes de la deuxieme Assemblee, Seances plenieres, JO 1921, 800; dazu Cavare, RGDIP 1950, 651. 80 10 1921,806,814; abgedruckt auch bei Rappard, RdC 194711, 212ff.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
lichender "Berichte" des Rats im Fall eines Bundesbruchs vorsah,81 andererseits aber ausdrücklich die Befugnis der einzelnen Mitgliedstaaten zur Feststellung der Voraussetzungen des Art. 16 I VBS betonte. 82 Da sich eine Änderung der Satzung als unmöglich erwies, versuchte man ein effektiveres Sicherheitssystem neben dem oder außerhalb des Völkerbundes zu errichten. 1923 scheiterte jedoch das Projekt eines "Treaty of Mutual Assistance"83, der in seinem Art. 4 die verbindliche Feststellung des Angreifers vorgesehen hatte, ebenso wie ein Jahr später das "Geneva Protocol for the Pacific Settlement of Disputes"84, das in seinem Art. 10 eine vergleichbare Regelung enthalten hatte. Einen gewissen Erfolg gab es nur noch fUr ein eher begrenztes regionales Problem: die in Art. 2 des Locarno-Pakts85 enthaltene Garantie der deutsch-französischen und deutsch-belgischen Grenze wurde flankiert durch eine Beistandspflicht, über deren Voraussetzungen der Rat des Völkerbundes verbindlich zu entscheiden hatte. 86 Dieser bescheidene Erfolg setzte den Völkerbund allerdings nicht in den Stand, den großen Konflikten zu begegnen, die in den dreißiger Jahren ihren Lauf nahmen. Sowohl anläßlich des japanischen Einfalls in die Mandschurei 1931 87 als auch im Konflikt um den Gran Chaco zwischen Paraguay und Bolivien 88 wurden klare Verstösse gegen die Satzung unbeantwortet gelassen, was bereits zu einer erheblichen Minderung des Vertrauens in das System des Völkerbundes und die ihn tragenden Mächte ftlhrte,s9 Der eigentliche Testfall fUr das Sanktionssystem des Völkerbundes war jedoch der Überfall Italiens auf Äthiopien im Jahr 1935.90 Hier kam es zwar in der Tat zur Feststellung eines Bundesbruchs durch den Rat des Völkerbundes;91 aber von einer automatischen und totalen Blockade Italiens, wie sie allein Art. 16 I VBS entsprochen hätte, konnte keine Rede sein. 92 Die zur Anwendung gebrachten Sanktionen wurden
81 Punkt 6 der Resolution. 82 Punkt 4 der Resolution; die Resolution ist ebenso wie die entsprechende Praxis heftig kritisiert worden, vgl. CheeverlHaviland, S. 118; Scheuner, BDGV 2, 4. 83 JO 1923, 1521; RGDIP 31 (1924), 605ft'. 84 Actes de la cinquieme Assemblee, JO 1924, 498; AJIL 19 (1925), Suppt., 9ft'. 85 LNTS 54, 289 (Anlage A). 86 Dazu Barandon, S. 116; R. L. Bindschedler, FS Wehberg, S. 75. 87 Hierzu Wallers, S. 465ft'.; CheeverlHaviland, S. 411ft'. 88 Hierzu Wallers, S. 523ft'. 89 Wallers, S. 499. 90 Dazu Wallers, S. 623ft'. 91 CheeverlHaviland, S. 415ft'.; Wallers, S. 654f. 92 Zimmern, S. 453.
I. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
139
vielmehr in zähem diplomatischem Ringen "ausgehandelt";93 auf effektive Maßnahmen wie ein Ölembargo oder die Sperrung des Suezkanals konnte man sich nicht einigen. 94 Die Sanktionen wurden auch nicht lange aufrechterhalten; "the spirit of irresolution quickly retumed"9S, und nach der endgültigen Annexion Äthiopiens durch Italien endete der einzige Versuch zur Umsetzung des Art. 16 I VBS mit der förmlichen Aufhebung der Sanktionen durch die Versammlung des Völkerbundes. 96 Was folgte, war die Agonie des Völkerbundes. Auf der Völkerbundsversammlung von 1938 bekundeten drei Viertel der Mitglieder, daß sie sich nicht mehr an Art. 16 VBS gebunden ftlhlten;97 bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges war der Völkerbund damit zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken. 98 Man muß festzuhalten, daß sich der Völkerbund als nahezu völlig dezentralisiertes Sicherheitssystem nicht bewährt hat. Art. 16 I VBS sah eine sehr schneidige Sanktion vor, aber er überforderte die Vertragstreue der Mitgliedstaaten auf einem Gebiet, auf dem Konflikte leicht essentiellen Charakter annehmen können; Art. 16 I VBS wurde daher in der Praxis schnell zu einem "Pseudo-Automatismus"99. Natürlich darf man die institutionellen Defizite des Völkerbundes nicht isoliert sehen; seine Bilanz ist so düster wie die seiner Zeit. Sein Versagen war vor allem das Versagen seiner Mitgliedstaaten, die das Maß an Loyalität nicht aufbrachten, welches eine vertragsgetreue Umsetzung des Sanktionsmechanismus des Völkerbundes vorausgesetzt hätte. IOO Man kann sich auch fragen, ob sich die Staatenwelt in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von einer stärker institutionalisierten Struktur als dem Völkerbund mehr hätte beeindrucken lassen; I 0 I daß sich Staaten ihren vertraglichen Verpflichtungen zu entziehen versuchen, wird man letztlich nie ausschließen kön93 Zimmern, S. 454; Wallers, S. 657ff. 94 Wallers, S. 675. 9S Claude, Swords into Plowshares, S. 241; vgl. auch die zeitgenössische Karikatur bei CheeverlHaviland, S. 118. 96 Vgl. Rappard, RdC 194711,219, der von einem Gnadenstoß rur den Völkerbund spricht; Scheuner, BDGV 2, 5f. 97 Records of the Nineteenth Ordinary Session of the Assembly, Minutes of the Sixth Committee, 10 1938, 24f., 28ff.; Wallers, S. 781. 98 Nur noch ein Zeichen der Hilflosigkeit war am 14. Dezember 1939 der Ausschluß der Sowjetunion gern. Art. 16 IV VBS wegen ihres Angriffs auf Finnland (Actes de la vingtü~me session ordinaire de l'Assemblee, Seances plenieres, 10 1939, 52; dazu Walters, S. 807). 99 Virally, S. 461. 100 Rappard, RdC 194711,219; Scheuner, BDGV 2, 6; Parry, EPIL 5, 200. Zu dieser Geisteshaltung eines "Mourir pour Danzig?" vgl. auch Frei, Kriegsverhütung, S. 78. 101 Vgl. Zimmern, S. 288: "If the nations of the future are in the main selfish, grasping, litigious, and war-Iike, no instrument or machinery will restrain them".
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
nen. Aber der in seinen Voraussetzungen allein von der souveränen Entscheidung der Mitgliedstaaten abhängende Sanktionsmechanismus machte es diesen doch zu leicht. Der Völkerbund hat belegt, daß sich effektive Kollektivrnaßnahmen kaum auf die individuelle und unkoordinierte Entscheidung einzelner Staaten stützen lassen; kollektive Sicherheit ohne institutionelle Strukturen ist daher zum Scheitern verurteilt. Zu den objektiven Funktionsbedingungen gehört ein gewisses Maß an Klarheit über den casus foederis; I 02 diese ist nur gewährleistet, wenn die Entscheidung grundsätzlich bei einem kollektiven Organ zentralisiert ist. 103
c) Art. 25 ChVN und die Vertragstreue der Mitgliedstaaten
Wie auch immer man die Erfahrung des Völkerbundes bewerten mag, sicher ist, daß sich die Gründer der VN bewußt von seinem System absetzen wollten.\04 Dies findet seinen Ausdruck zunächst in Art. 39 ChVN, nach dem der SR feststellt, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt; diese Bestimmung wurde als die "single most important provision of the Charter" gewürdigt. lOS Allerdings bewirkt die Feststellung nach Art. 39 ChVN allein noch nichts, denn in den VN besteht keine automatische Beistandspflicht der Mitgliedstaaten; wichtig ist sie vielmehr als Voraussetzung der Maßnahmen, die der SR gern. Art. 41 und 42 ChVN anordnen kann. Hier kommt Art. 25 Ch VN ins Spiel, der bestimmt, daß die Beschlüsse des SR über die zu treffenden Maßnahmen filr alle Mitgliedstaaten verbindlich sind; diese sind somit zur Ausfilhrung aller vom SR angeordneten Zwangsmaßnahmen verpflichtet. Diese Zentralisierung sollte nach dem ursprünglichen System der Charta sogar noch weiter gehen, was militärische Zwangsmaßnahmen anbelangt: gern. Art. 43 I Ch VN sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, dem SR nach Maßgabe von Sonderabkommen Streitkräfte zur Verfiigung zu stellen, die gern. Art. 47 III ChVN einem Generalstabsausschuß unter der Autorität des SR unterstehen sollten; hierdurch hätte die Struktur der VN ein gewisses supranationales Gepräge bekommen. Diese Bestimmungen sind jedoch nie umgesetzt worden; 106 alle Maßnahmen des SR bedürfen somit in vollem Umfang der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten.
102 103 104 \05 106
Verdross/Simma, § 230. Claude, Swords into Plowshares, S. 238; Delbrück, EPIL 3, 105. Cavare, RGDIP 1950, 65If.; Ruzie, S. 62; Menk, S. 61; Luard, S. 3. Report to the President, S. 90f.; GoodrichiHambro/Simons, S. 293; Menk, S. 62. S. dazu o. S. 45.
l. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
141
Sieht man von dem hier nicht interessierenden Problem militärischer Zwangsmaßnahmen ab, kann man eine sehr weitgehende Zentralisierung der Entscheidungsgewalt beim SR feststellen; hierin liegt ohne Zweifel ein erheblicher Fortschritt gegenüber der Rechtslage im Völkerbund. 107 Die VN weisen damit die typischen Strukturmerkmale, aber auch die Probleme eines Systems kollektiver Sicherheit auf. Der SR kann entscheiden, umsetzen aber muß der nationale Staat. Kollektive Sicherheit lebt daher ganz wesentlich von der Mitwirkung der Mitgliedstaaten und deren Zuverlässigkeit bei der Erfiillung ihrer Pflichten; 108 dies wird daher auch in Art. 2 Nr. 2 und 5 ChVN eigens noch einmal betont. Es genügt nicht, das der SR bloß anordnet; die Mitgliedstaaten müssen seine Beschlüsse auch befolgen. Eigene Zwangsmittel, um dies sicherzustellen, hat der SR jedoch nicht. Damit tritt zu der objektiven Funktionsvoraussetzung der Zentralisierung der Entscheidungsgewalt die subjektive der Loyalität und Vertragstreue der Mitgliedstaaten. I 09 Die Sicherung der Beachtung des Rechts ist zwar ein allgemeines Problem des Völkerrechts; in einem System kollektiver Sicherheit erhält es jedoch besondere Brisanz. Denn kollektive Sicherheit ist ein sehr anspruchsvolles Konzept. Die Unterwerfung unter die Entscheidungsgewalt des SR bedeutet einen Verzicht auf Handlungsfreiheit in einem Bereich, in dem Handlungsfreiheit leicht als lebensnotwendig empfunden werden kann. Kollektive Sicherheit verlangt hohe Opfer ab, ohne daß hierftlr stets eine entsprechende konkrete Motivation bestehen müßte. Denn kollektive Sicherheit ist anonym: sie nimmt ebensowenig Rücksicht auf traditionelle Bindungen an einen Aggressor wie auf das mangelnde Interesse am Schutz eines Opfers; 11 0 sie setzt vielmehr die Überzeugung voraus, daß der Frieden unteilbar und jede Aggression ohne Ansehen der Parteien zu unterdrücken ist. 111 Nicht nur zu den Zeiten des Völkerbundes, auch heute noch gilt jedoch, daß jenes "aufgeklärte Staatsinteresse", das die kollektive Sicherheit voraussetzt, in vielen Fällen Fiktion bleibt: 1l2 "in practice peace is usually seen to be highly divisible"1\3. Man hat gezweifelt, ob an diesem hohen Anforderungsprofil nicht 107 Cavare, RdC 1952 I, 250f.; Kunz, AJIL 1960, 330; Kelsen, AJIL 1948, 787; Cohen-Jonathan in CotIPellet, S. 646; Goodrich/Simons, S. 426f.; CheeverlHaviland, S. 67; Jimenez de Arechaga, S. 376; Neuhold, S. 111. 108 Frei, Kriegsverhütung, S. 75. 109 Claude, Swords into Plowshares, S. 229f. und Power, S. 146, 199; Neuhold. S. 114f.; Frei, Kriegsverhütung, S. 75f. und Sicherheit, S. 36. 110 Claude, Swords into Plowshares, S. 233. 111 C/aude, Swords into Plowshares, S. 233. 112 Frei, Kriegsverhütung, S. 76. 113 James in UNITAR, S. 220.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
letztlich jedes System kollektiver Sicherheit zerbrechen müsse, 114 ob nicht der einzige Ausweg supranationale Sicherheit seLI15 Mangels praktischer Alternative zu den VN sind solche Einwände zwar müßig. Richtig ist jedoch, daß Art. 25 ChVN einen Härtetest fUr die Vertragstreue der Mitgliedstaaten darstellt, und daraus erwächst auch die besondere Schärfe des Konflikts von Rechtsbindung und Rechtssicherheit in den Vereinten Nationen. Jedes Argument, das von einem Mitgliedstaat mißbraucht werden könnte, um sich seinen Verpflichtungen unter Art. 25 Ch VN zu entziehen, ist an sich ein Argument zuviel. ll6 Es fragt sich nur, ob die Sorge um die Funktionsfähigkeit eines Systems kollektiver Sicherheit es rechtfertigt, auch solche Beschlüsse rur verbindlich zu halten, die den Regeln dieses Systems womöglich gar nicht mehr entsprechen. Vor diesem Hintergrund ist nunmehr auf einzelne mögliche Ansätze zu einer Freistellung des SR von der Beachtung der Charta einzugehen; Ziel muß dabei stets sein, der objektiven Entscheidungsgewalt des SR ein Höchstmaß an Loyalität und Verläßlichkeit von seiten der Mitgliedstaaten zu sichern.
3. Ansätze einer Lockerung der Bindung an die Charta
Auf dieser Grundlage kann nun die Frage der Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR erörtert werden. Dabei ist zunächst zu vermerken, daß - sieht man einmal von den eigentlichen Adressaten der Zwangsmaßnahmen ab, mit deren Widerspruch man ohnehin immer rechnen muß - in der Praxis der Vereinten Nationen nur relativ selten der ausdrückliche Einwand erhoben wurde, ein Beschluß des SR über Zwangsmaßnahmen nach Art. 41, 25 ChVN sei rechtswidrig und nichtig. ll7 Zu einem guten Teil mag dies auch auf die äußerst spärliche Anwendung des Kapitel VII der Charta vor Ende des kalten 114 Frei, Kriegsverhütung, S. 76 und Sicherheit, S. 29, 33. 115 R. L. Bindschedler, FS Wehberg, S. 85. 116 Zu der Gefahr, daß die durch zentrale Entscheidung über den casus foederis erreichte Rechtsklarheit ("process determinacy") durch die Kritik an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung wieder entwertet wird, vgl. Franck, AJIL 1988, 725. 117 Eine Ausnahme waren die Einwände Südafrikas und Portugals gegen die Beschlüsse gegen Südrhodesien, die vor allem auf eine Verletzung des Art. 27 III ChVN gestützt waren; vgl. hierzu Combacau, S. 258; Gowlland-Debbas, S. 449. Nicht in den vorliegenden Zusammenhang gehört dagegen die Kritik, die gegen die Aktionen der Vereinten Nationen in Ägypten und im Kongo vorgebracht wurde (vgl. hierzu u. S. 155), da es sich insofern nicht um Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII handelte. Ein Beispiel aus der Praxis der OAS ist die Weigerung Mexikos, sich an den 1964 gegen Kuba verhängten Zwangsmaßnahmen zu beteiligen, die damit begründet wurde, die Voraussetzungen der Art. 6 und 8 des Rio-Vertrages hätten nicht vorgelegen; dazu Kutzner, S. 120; Gerold, S. 119f.
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
143
Krieges zurückzufilhren sein. Auch nach dessen Ende ist es allerdings eher selten geblieben, daß ein Staat die Nichtigkeit eines Beschlusses des SR über nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen geltend gemacht hätte; es scheint, daß viele Staaten die Beschlüsse des SR lieber heimlich mißachten als offen kritisieren. Diese Zurückhaltung der Mitgliedstaaten bei der Ausübung einer eigenen Prüfungskompetenz ist wohl vor allem in den politischen Kosten begründet, die mit einer offenen Opposition gegen einen nach Kapitel VII der Charta tätig werdenden Sicherheitsrat verbunden wären. Aus dieser Zurückhaltung in der Praxis ist jedoch noch nicht zu folgern, daß ein Prüfungsrecht der Mitgliedstaaten rechtlich nicht bestünde. Die Frage nach der Bindung des SR ist vielmehr aus dem Gesamtzusammenhang der Charta zu entscheiden. Hierbei sind verschiedene Ansätze einer Lockerung der Bindung des SR an die Charta denkbar, die sich durch das Ausmaß der Freistellung des SR unterscheiden; ihnen ist in der Folge nachzugehen.
a) Der SR als autoritativer Interpret der Charta?
Ein Höchstmaß an Rechtssicherheit wäre erreicht, wenn überhaupt jede rechtliche Kritik - und damit natürlich auch jede gerichtliche Kontrolle - der Beschlüsse des SR ausgeschlossen wäre. Dabei ist es letztlich nur eine Frage der Terminologie, ob man vertritt, die Übereinstimmung mit der Charta sei keine Voraussetzung der Gültigkeit der Beschlüsse des SR,118 oder ob man meint, die Befugnis des SR zur Fassung verbindlicher Beschlüsse umfasse auch die Kompetenz zur verbindlichen und endgültigen Auslegung der Charta. 119 In jedem Fall wird der Rechtssicherheit ein absoluter Vorrang gegenüber der Legalität eingeräumt. 120 Der SR erhält eine "competence de la competence";121 er wird zum autoritativen Interpreten der Charta. 122 Die erste Frage ist, ob eine solche autoritative Interpretation der Satzung einer internationalen Organisation 118 Dahm, S. 212; Suy in CotlPellet, S. 477; ebenso im Ergebnis wohl auch Bailey, S. 36; Brownlie, S. 335. 119 So Heintschel von Heinegg in Ipsen, § 11, Rn. 3; DickelRengeling, S. 68; Kopelmanas, S. 271. 120 Anschaulich spricht Bedjaoui, S. 40, davon, der SR als autoritativer Interpret der Charta gleiche einem "prisonnier qui a reryu les clefs de sa geöle et dont l'obligation de rester prive de liberte ne dependrait que de lui-meme". 121 Vgl. Osieke, AJIL 1983,255. 56.
122 Zum Unterschied zwischen autoritativer und authentischer Interpretation s.o. S.
144
3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
durch ein politisches Organ überhaupt zulässig ist; die zweite, ob dem SR eine solche Befugnis zur letztgültigen Auslegung der Charta wirklich zukommt.
aa) Zur Kompetenz-Kompetenz politischer Organe Man könnte sich zunächst fragen, ob es den Mitgliedstaaten einer internationalen Organisation überhaupt möglich ist, den politischen Organen eine Kompetenz-Kompetenz oder "competence de la competence" einzuräumen. Sicherlich ist es den Staaten immer möglich, souveräne Rechte unwiderruflich an internationale Organisationen zu übertragen; problematisch wird es jedoch, wenn dabei die Herrschaft über den Vertrag auf ein Organ übergeht, das demokratisch in keiner Weise legitimiert ist und auch sonst keine Garantien rur die Objektivität und Unparteilichkeit seiner Entscheidungsfindung aufweist. Es droht das Schreckgespenst eines internationalen Absolutismus; nationale Errungenschaften wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung werden zu Opfern der internationalen Kooperation. Es kann nicht ausbleiben, daß der in den Begriffen des liberalen Rechtsstaats denkende Jurist ein erhebliches Unbehagen bei der Vorstellung eines solchen Letztentscheidungsrechts politischer Organe haben muß; die Frage ist jedoch, ob dieses Unbehagen auch in Regeln des geltenden Völkerrechts seinen Ausdruck gefunden hat. Vereinzelt wird in der Tat angenommen, es gebe eine allgemeine Regel, nach der die Entscheidungen nichtgerichtlicher Organe niemals endgültigen Charakter haben könnten; 123 es wird erwogen, ob das Prinzip "nemo iudex in sua causa"124 als allgemeiner Rechtsgrundsatz nicht ein Letztentscheidungsrecht politischer Organe ausschließt. 125 Die internationale Praxis bestätigt das Bestehen solcher Regeln allerdings kaum. Es gibt durchaus einige Fälle, in denen politischen Organen rechtlich weitgehend unbegrenzte Kompetenzen übertragen worden sind. 126 Aber auch dort, wo gerichtliche Kontrolle nicht schon von
123 Mann, BYIL 1968/69, 15f. (zum IWF); ganz ähnlich Leben, S. 270; Seyersted, ZaöRV 1964, 13f. 124 Vgl. zu diesem Prinzip die Entscheidung des StIGH im Mossul-Fall, Article 3, Paragraphe 2, du Traite de Lausanne (Frontiere entre la Turquie et [,Irak), cpn sero B, no. 12,32 (1925); Cheng, S. 279; DahmlDelbrückiWolfrum, S. 64. 125 Leben, S. 273; ähnlich auch Fitzmaurice in seiner diss. op. im Fall Namibia, ICl Rep. 1971, 220, 300 sowie Ajibola in seiner diss. op. im Fall Lockerbie, ICl Rep. 1992, 78,88. 126 Auf die Lage in den internationalen Finanzinstitutionen wurde bereits hingewiesen, s.o. S. 61. Ein weiterer prominenter Fall ist etwa Art. 235 EWGV, nach dem der Rat der EWG einstimmig alle rur die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes nöti-
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
145
Rechts wegen ausgeschlossen ist, gibt es in der Praxis kaum Ansätze, das Handeln politischer Organe einer gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen. 127 Von einem Rechtsstaatsprinzip in den internationalen Organisationen im Sinne der Forderung nach einer effektiven und praktisch kontrollierbaren Bindung politischer Organe an das Recht kann daher kaum eine Rede sein. 128 Ebensowenig gibt es ein allgemeines Prinzip der Gewaltenteilung: zumeist existiert ja schon gar keine richterliche Gewalt. 129 Aber auch wo sie existiert, ist ihre Befassung nicht obligatorisch; ihr mögen gewisse Funktionen vorbehalten sein, aber zu diesen gehört im Regelfall nicht die Kontrolle der politischen Organe. 130 Auch das Prinzip "nemo iudex in sua causa", nach dem niemand Richter in eigener Sache sein soll, hilft in der Frage der Kontrolle politischer Organe nicht weiter. Es mag als allgemeiner Rechtsgrundsatz dort Anwendung finden, wo es wirklich um die Ausübung formell richterlicher Funktionen geht. Die Abwesenheit obligatorischer Gerichtsbarkeit im Völkerrecht macht es ansonsten jedoch unausweichlich, daß die Akteure zu "Richtern" in eigener Sache werden;131 dies kann man den politischen Organen nicht zum Vorwurf machen. 132 Sicherlich geht eine ilirmliche Befugnis zur autoritativen Interpretation noch erheblich über den sonst im allgemeinen Völkerrecht anzutreffenden Rechtszustand hinaus, denn sie läßt die Interpretationskonflikte nicht im Zustand der Unentscheidbarkeit, sondern billigt einer Seite von vornherein das letzte Wort zu. Aber es gibt letztlich keine Regel des Völkerrechts, geschweige denn eine solche zwingenden Charakters, nach der eine autoritative Interpretation durch politische Organe ausgeschlossen wäre. Letztlich bliebe damit nur die unmittelbare Fruchtbarmachung allgemeiner Grundsätze des Landesrechts. Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung erfreuen sich jedoch keineswegs universeller Anerkennung, und selbst dort, wo sie anerkannt sind, meinen sie gen Vorschriften erlassen kann, wenn im Vertrag die erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind. 127 Vgl. hierzu den Überblick aufS. 58ff. 128 Insofern richtig Caflisch in AI-NauimilMeese, S. 633, 655. 129 Seidl-HohenveldernlLoibl, Rn. 1401, 1613; Marschang, KJ 1993,62,73. 130 Insofern ist es mißverständlich, wenn etwa de Castro in seiner sep. op. im Fall Namibia, ICJ Rep. 1971, 170, 180, von einer "division of powers" in den VN spricht. Präziser ist insofern schon der von Marschang, KJ 1993, 73, verwandte Begriff der "Funktionentrennung" . 131 Vgl. Schwarzenberger, S. 67f., nach dem in den internationalen Beziehungen eher der Grundsatz "omnis iudex in sua causa" gilt; 1. Watson, AJIL 1977,64. 132 Schwer verständlich daher Osieke, AJIL 1983, 255, der letztlich sowohl den Mitgliedstaaten als auch den internationalen Organsationen vorwirft, sie seien Richter in eigener Sache; einer Lösung der Frage, wer hier das letzte Wort haben soll, kommt man dadurch nicht näher. 10 Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
durchaus nicht immer dasselbe. 133 Will man nicht geradezu in naturrechtliches Denken zurückfallen, so gilt es einzugestehen, daß die Errungenschaften liberalrechtsstaatlicher Demokratie auf internationaler Ebene noch der rechtlichen Verankerung harren. Es gibt keine Verfassungsprinzipien der internationalen Ordnung, die der Einfilhrung eines internationalen Absolutismus entgegenstehen würden. Die Verfassung eines zukünftigen Weltstaats ist noch nicht geschrieben, und es ist nicht garantiert, daß sie den politischen Standards der westlichen Demokratien entsprechen würde. Daß die Mitgliedstaaten der VN somit grundsätzlich durchaus die Möglichkeit hatten, dem SR eine Befugnis zu autoritativer Interpretation einzuräumen, heißt allerdings noch nicht, daß sie dies auch wirklich getan haben. Eine solche Befugnis ist von außerordentlicher Tragweite. Sie bedeutet ein Stück weit den Verzicht der Mitgliedstaaten auf die Herrschaft über den Vertrag und ist damit ein erhebliches Opfer; ein solches Zugeständnis an ein internationales Organ läßt sich nicht ohne weiteres annehmen. "Non-reviewable competence" 134 wird daher stets die große Ausnahme sein,135 die einer eingehenden Rechtfertigung aus der Satzung bedarf. Zur eigentlichen Frage wird daher, ob die Charta die Annahme stützt, die Mitgliedstaaten hätten dem SR eine Kompetenz zur autoritativen Interpretation der Charta übertragen wollen.
bb) Inzidente und autoritative Interpretation Angezeigt erscheint hierbei zunächst ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Charta. Das Problem möglicher Interpretationskonflikte zwischen den Organen der VN und den Mitgliedstaaten wurde schon auf der Konferenz von San Francisco gesehen; 136 es war Gegenstand eines gesonderten Berichts zur Auslegung der Charta, der sich auch mit der Bedeutung der Auslegung durch die Organe befaßte: 137 133 Vgl. Waller in Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 3, S. 14f. 134 Higgins,ICLQ 1968,80. 135 Es ist interessant, daß selbst für das ähnlich gelagerte Problem nichtiger Schiedssprüche - wo das Erfordernis der Rechtssicherheit sicherlich nicht weniger schwer wiegt - Ausnahmen vom Grundsatz der Wirksamkeit zugelassen werden; vgl. hierzu Oellers-Frahm, EPIL I, 118ff. sowie Art. 35 der "Model Rules on Arbitral Procedure" der ILC (YILC 1958 11, 83); aus der gerichtlichen Praxis beachte insb. The Orinoco Steamship Company (USA v. Venezuela), RlAA XI, 227, 238f.; Arbitral Award Made by the King ojSpain (Honduras v. Nicaragua), IC] Rep. 1960, 192,215. 136 V gl. dazu bereits o. S. 68f. 137 UNCIO XIII, 831f. (s.o. 2. Teil, Fn. 6).
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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"In the course of the operation from day to day of the various organs of the Organ ization, it is inevitable that each organ will interprete such parts of the Charter as are applicable to its particular functions. This process is inherent in the functioning of any body which operates under an instrument defining its functions and powers. lt will be manifested in the functioning of such a body as the General Assembly, the Security Council, or the international Court of Justice. Accordingly, it is not necessary to include in the Charter a provision either authorizing or approving the normal operation ofthis principle. Gerade aus der Selbstverständlichkeit, mit der dieser Bericht die Kompetenz der Organe zur Auslegung der Charta akzeptiert, wird jedoch deutlich, daß hiermit gerade nicht eine Kompetenz zu autoritativer Auslegung gemeint war. 138 Dies zeigt auch der letzte Absatz des Berichts, in dem es heißt: 139 "lt is to be understood, of course, that if an interpretation made by any organ of the Organization or by a committec of jurists is not generally acceptable it will be without binding force. In such circumstances, or where it is desired to establish an authoritative interpretation as a precedent for the future, it may be necessary to embody the interpretation in an amendment to the Charter. This may always be accomplished by recourse to the procedure provided for amendment."
Was auch immer unter dieser "general acceptability" zu verstehen sein mag, klar ist, daß an eine autoritative Interpretation durch die Organe nicht gedacht war; eine solche wäre dem Funktionieren eines politischen Organs ja auch keineswegs "inhärent". Was bestätigt wurde, war vielmehr nur die banale Tatsache, daß die Anwendung des Rechts stets dessen Auslegung voraussetzt; diese inzidente Interpretation hat mit einer autoritativen Interpretation aber nichts zu tun. Diese Unterscheidung spiegelt sich im übrigen auch in der Rechtsprechung des IGH wider. In dem Gutachten des IGH im Fall Certain Expenses findet sich die Aussage, "each organ must, in the first place at least, determine its own jurisdiction"140; auch in Sondervoten wurde vertreten, ein Organ der VN sei grundsätzlich "juge de sa propre competence" 141. Der Schlüssel zu diesen Aussagen liegt jedoch in der einschränkenden Wendung "in the first place at least".142 Die Aussage bestätigt nur die Kompetenz zur inzidenten Auslegung; sie geht nicht weiter als der Bericht von San Francisco. Bemerkenswert ist le138 Conforti, RdC 1974 11, 227f.; Sanjose Gi!, REDI 1990, 434. 139 A.a.O. (0. Fn. 137). 140 ICJ Rep. 1962, 151, 168; darauf verweisen f1ir die Frage der Gültigkeit der Beschlüsse des SR Frowein, ZaöRV 1987, 69, und Sciso, RDI 1992, 373, ohne daß jedoch klar würde, was hieraus zu folgen hätte. 141 Sep. op. Morelli, Certain Expenses, leJ Rep. 1962, 216, 224; sep. op. de Castro, Namibia,JCJ Rep. 1971, 170, 180, 184. 142 Graefrath, EJIL 1993,201; dies übersieht Herdegen, FS Bernhardt, S. 110. 10*
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
diglich, daß der IGH mit dieser Wendung die Frage einer Zuständigkeit zur autoritativen Interpretation immerhin offen ließ; im Bericht finden sich dagegen in dieser Richtung überhaupt keine Ansätze. Stützen läßt sich eine Befugnis des SR zur autoritativen Interpretation jedenfalls weder auf die Entstehungsgeschichte der Charta noch auf die Rechtsprechung des IGH. Damit ist die Möglichkeit einer solchen Befugnis auch noch nicht völlig ausgeschlossen; sowohl der Bericht von San Francisco als auch der IGH befaßten sich ganz allgemein mit den Auslegungskompetenzen der Organe der VN, nicht mit der speziellen Frage der Beschlüsse des SR nach Art. 25 ChVN. Daß dieses zentrale Problem der VN im Bericht von San Francisco keine besondere Erwähnung fand, ist allerdings ein Hinweis darauf, daß man auch insofern die allgemeinen Regeln fllr anwendbar hielt; insgesamt spricht die Entstehungsgeschichte somit eher gegen die Annahme einer autoritativen Auslegungskompetenz des SR.
cc) Macht, Recht und kollektive Sicherheit Zur entscheidenden Frage wird damit, ob eine Befugnis des SR zur autoritativen Interpretation der Charta mit den Grundprinzipien der VN als einem System kollektiver Sicherheit zu vereinbaren wäre. Maßstab ist dabei letztlich, wie eine optimale Sicherung der Funktionsbedingungen des Systems gewährleistet werden kann; hierzu gehört einerseits die Klarheit über den Bündnisfall, andererseits aber auch ein ausreichendes Maß an Loyalität seitens der Mitgliedsstaaten. 143 Die erstgenannte Funktionsbedingung würde durch eine Befugnis des SR zu autoritativer Interpretation sicherlich in optimaler Weise verwirklicht; Rechtssicherheit würde gewährleistet in ihrer denkbar radikalsten Form. Den VN ist jedoch nicht mit theoretisch behaupteten, sondern nur mit real durchsetzbaren Kompetenzen gedient; auch hier gilt das Sprichwort, daß die Augen nicht größer sein sollten als der Mund. 144 Die reale Durchsetzbarkeit ist aber abhängig von der Vertragstreue und Loyalität der Mitgliedsstaaten; es sollte daher nicht an der Frage vorbeigegangen werden, warum eigentlich die Mitgliedstaaten der VN die Beschlüsse des SR befolgen. Das Problem, das hier auftaucht, ist letztlich ein allgemeines des Völkerrechts, das durch die Schwere der vertraglichen Verpflichtungen in einem System kollektiver Sicherheit aber noch zugespitzt wird: es fragt sich, warum sich ein Staat auch gegen sein kurzfristiges Interesse an kollektiven Zwangsmaßnahmen beteiligen und dabei womöglich erhebliche Opfer auf sich nehmen soll. Es können hier keine soziologischen 143 S. ausfilhrlicher o. S. 140ft'. 144 Claude, Swords to Plowshares, S. 154.
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Untersuchungen der faktischen Geltungsmechanismen des Völkerrechts im allgemeinen angestellt werden. 145 Gleichwohl muß gesehen werden, daß die faktischen Voraussetzungen der Rechtsgeltung in einem System kollektiver Sicherheit nicht unbedingt günstiger sind als in den internationalen Beziehungen im allgemeinen. Die Kosten-Nutzen-Erwägung wird regelmäßig ungünstig ausfallen: den hohen Kosten einer Beteiligung an kollektiven Zwangsmaßnahmen steht rur die nicht unmittelbar betroffenen Staaten ein geringer Nutzen gegenüber; dies kann auch nicht durch die Erwartung der Gegenseitigkeit kompensiert werden,146 da dies voraussetzen würde, daß der jeweilige Staat konkret damit rechnet, selbst einmal auf Unterstützung durch das Sicherheitssystem angewiesen zu sein, was regelmäßig eine eher fernliegende Perspektive sein wird. 147 Eine ganz wesentliche Motivationsquelle ist dagegen der politischmoralische Druck, der aus der Übernahme von Verpflichtungen im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit entstehen kann. Dieser moralische Druck ist jedoch in erheblichem Maße davon abhängig, daß die zu befolgende Entscheidung als legal und vor allem legitim empfunden wird. 148 Legitimität wird dabei nicht als Vereinbarkeit mit irgendeiner höheren Ordnung verstanden, sondern als eine Qualität der Entscheidung, die diese den Betroffenen als fair und annehmbar erscheinen läßt. 149 Eine Legitimation durch Verfahren kommt dabei rur die Beschlüsse des SR allerdings kaum in Betracht; 150 die Entscheidungen des SR müssen sich daher aus sich selbst heraus rechtfertigen. Eine Befugnis des SR zur autoritativen Interpretation ließe filr eine solche inhaltliche Rechtfertigung der Beschlüsse des SR kaum noch Raum. Sie könnte nur erfolgen unter Hinweis auf die absolute, nicht mehr hinterfragbare Autorität des SR; die Angemessenheit seiner Entscheidungen im konkreten Fall bliebe der kritischen Diskussion jedoch entzogen. Eine solch abstrakte Legitimation ist nicht undenkbar, aber ihre Abstraktheit macht sie schwach. Auch wenn der SR rechtlich das letzte Wort hätte, erzwingen könnte er die Befolgung durch die Mitgliedstaaten letztlich nicht; er ist darauf angewiesen, sie zu einem gewissen Grade auch von der Richtigkeit seiner Maßnahmen zu überzeugen. 151 Ein 145 Zu der Komplexität solcher Untersuchungen auf der internationalen Ebene vgl. Stone in MacDonald/Johnston, S. 286. 146 Hierauf stellt als vornehmliche Motivationsquelle zur Befolgung der Beschlüsse der Organe der VN jedoch Schachter, RdC 1963 11, 199, ab. 147 Zum Erfordernis enger Kontaktsysteme als Voraussetzung filr das Funktionieren von Gegenseitigkeitserwartungen vgl. Luhmann, S. 75ff. 148 Joyner, VaJIL 1992,32; allgemein vgl. Franck, AJIL 1988,706. 149 Franck, AJIL 1988,706. 150 Zu diesem Problem im Hinblick auf die Feststellung nach Art. 39 ChYN ausfilhrlicher u. S. 203f. 151 Ebenso J. Watson, AJIL 1977, 65.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Machtwort ohne Macht ist daher keine Lösung. Die VN sollten mehr sein als bloß eine institutionalisierte Machtstruktur; in ihnen sollte die Aufgabe der Wahrung des Weltfriedens zu einer Aufgabe nach Maßgabe des Rechts werden. 152 Ein SR, der sich wie ein absolutistischer Souverän gebärdet, kann dem nicht gerecht werden. 153 Dann wären die VN wirklich nur noch ein Direktorium der ständigen Mitglieder des SR, ein Machtgefllge, aber keine Rechtsordnung. Die Loyalität zu ihnen wäre nicht Loyalität zum Recht, sondern eine Verbeugung vor politischer Macht und als solche keine verläßliche Grundlage fllr die internationale Friedensordnung. Dem Ansehen und der Autorität des SR wäre damit nicht gedient. 154 "Rechtssicherheit" in ihrer radikalsten Form bedeutet Entrechtlichung, aber damit negiert sich die rechtliche Autorität selbst;155 und es ist sehr die Frage, ob eine Befugnis des SR zu autoritativer Interpretation letztlich wirklich respektiert werden würde. Mangelnde Rechtstreue kann man nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen; die VN sollten sich daher nicht auf ein juristisches Rennen von Hase und Igel einlassen, in dem sie doch stets zweiter Sieger bleiben werden. Es ist vielmehr erforderlich, sich darauf zu besinnen, daß die stärkste Grundlage fllr die Autorität des SR, die stärkste Grundlage fllr Konsens in den Vereinten Nationen immer noch die Charta selbst ist. 156 Es wäre letztlich auch kaum einsehbar, warum die Verfasser der Charta diese mit einer denkbar differenzierten rechtlichen Struktur ausgestattet haben sollten, wenn es doch letztlich im Belieben des SR stünde, sich über diese hinwegzusetzen. 157 Der SR darf daher nicht darauf verzichten, Reichweite und Umfang seiner Kompetenzen am 152 Zu den VN als "Rechtsgemeinschaft" Stein, AVR 1993, 228; Schilling, AVR 1995, 82. Vgl. auch Czempiel, S. 69, nach dem erst die getreuliche Anwendung der Vorschriften des Kapitels VII "jene Legitimität der internationalen Organisation [konstituiert], die den Säbel des Imperialismus in das Schwert der internationalen Gerechtigkeit umwandelt". 153 Daß absolutistische Denkmodelle der heutigen internationalen Ordnung nicht gerecht werden können, betont auch Conforti, EJIL 1991, 112, der sich allerdings auf rechtspolitische Kritik beschränkt. Vgl. auch Lissitzyn, S. 97: "Power without law is despotism. " 154 Zu der Gefahr eines Ansehensverlustes der politischen Organe bei zu geringer Rechtstreue vgl. Dillard in seiner sep. op. im Fall Namibia, IC] Rep. 1971, 150, 151; vor Akzeptanzverlusten warnen auch Bothe in R.-J. Dupuy, S.81; Bedjaoui, S. 19, in BlokkerlMuller, S. 19, sowie in FS Rigaux, S. 76; Bowett, EJIL 1994, 99; Bruha in Wolfrum, S. 766. 155 Richtig betont auch Koskenniemi, EJIL 1995, 327: "Authority is a normative and not a factual category". 156 Vgl. auch Bedjaoui, S. 147: "11 faut commencer a bien prendre conscience que le respect de la Charte et du droit n'est pas I'ennemi de la paix" (ebenso ders. in BlokkerlMuller, S. 25). 157 Vgl. diss. op. Winiarski, Certain Expenses, IC] Rep. 1962,227,230.
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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konkreten Maßstab der Charta nachvollziehbar zu machen. 158 Bequeme Allgemeinheiten reichen nicht aus; erforderlich ist die Begründung jedes einzelnen Beschlusses am Maßstab der konkreten Norm. Über die tatsächliche Reichweite der Kompetenzen des SR ist damit noch nicht das mindeste gesagt. Fest steht nur, daß die Entrechtlichung der VN der falsche Weg ist; eine allgemeine Kompetenz des SR zur autoritativen Interpretation der Charta besteht daher nicht.
b) Unbeachtlichkeit von Normen?
Selbst wenn man dem SR kein allgemeines Recht zur autoritativen Interpretation der Charta zugestehen will, läßt sich ein hohes Maß an Rechtssicherheit auch erreichen, indem man die Verletzung gewisser Normen oder Norrnkomplexe filr unschädlich filr die Gültigkeit der Beschlüsse des SR hält. Eine solche Unbeachtlichkeit wird sowohl filr das materielle als auch filr das formelle Recht vertreten; fraglich ist jedoch, ob diese Annahmen mit der Charta vereinbar sind.
aa) Unbeachtlichkeit des materiellen Rechts? Teilweise wird vertreten, die Nichtigkeit der Beschlüsse des SR könne nur auf Verstösse gegen Verfahrensregeln gestützt werden; Verstösse gegen materielles Recht berührten niemals die Wirksamkeit der Beschlüsse des SR.159 Dies wird damit begründet, daß die größte Gefahr filr die Autorität des SR von unlösbaren Konflikten bezüglich der Auslegung des materiellen Rechts drohe; Verfahrens fragen seien dagegen regelmäßig relativ eindeutig zu klären.1 60 Schon die Berechtigung dieser Unterscheidung ist allerdings zweifelhaft. Verfahrensfragen sind regelmäßig nur hinsichtlich der Tatsachen leichter entscheidbar; die Auslegung einer Verfahrensregel ist dagegen keineswegs eindeutiger als die einer Norm des materiellen Rechts. Daß dem SR von formellen Einwänden gegen sein Verfahren weniger Gefahr zu drohen scheint, ist eher eine Folge der Tatsache, daß das materielle Recht filr dessen Befugnisse eine weitaus größere Bedeutung hat. Dies wird deutlich, wenn teilweise sogar zugestanden wird, die einzige wirklich beachtliche Verfahrensregel sei die Abstimmungsregel des Art. 27 III ChVN.161 Unabhängig von der Frage, ob dies wirk158 Conforti, S. 15 und RdC 1974 11, 211; Bothe in R.-J. Dupuy, S. 81. 159 Delbrück in Simma, Art. 25, Rn. 18; Combacau, S. 260-263. 160 Vgl. Delbrück a.a.O. 161 So Combacau, S. 261.
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lich die einzige den SR bindende Verfahrensnonn ist,162 wird deutlich, daß die Unbeachtlichkeit des gesamten materiellen Rechts auf eine nahezu völlige Freistellung des SR von der Beachtung der Charta hinauslaufen müßte;163 eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Beschlüssen des SR wäre nicht mehr möglich. Damit aber stehen der These von der Unbeachtlichkeit des materiellen Rechts letztlich keine geringeren Bedenken entgegen wie der Annahme einer allgemeinen Befugnis des SR zur autoritativen Interpretation der Charta; 164 sie ist daher abzulehnen. 165
bb) Unbeachtlichkeit des fonnellen Rechts? Gerade entgegengesetzt zu der soeben diskutierten Auffassung könnte man sich fragen, ob denn Verfahrensfehler überhaupt jemals zur Unwirksamkeit eines Beschlusses des SR filhren können. 166 Zweifel hieran könnten sich aus der Entscheidung des IGH im ICAO-Council-FaIl 167 ergeben, in dem der IGH Einwände gegen eine Entscheidung des Rates der ICAO, die sich darauf gründeten, dieser habe Bestimmungen seiner Verfahrensordnung verletzt, mit dem Hinweis fiir irrelevant erklärte, die Anforderungen an eine "just procedure" seien hierdurch nicht berührt worden. 168 Weitergehend filhrte er aus, die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung sei: 169 "[ ... ] an objective question of law, the answer to which cannot depend on what occurred before the Council. Since the Court holds that the Council did and does have jurisdiction, then if there were in fact procedural irregularities, the position would be that the Council would have reached the right conclusion in the wrong way. Nevertheless it would have reached the right conclusion [... ]." Aus dieser Entscheidung ist verschiedentlich gefolgert worden, Verfahrensfehler fiihrten im Völkerrecht nie zur Nichtigkeit des Beschlusses einer intema162 Dazu sogleich. 163 Dies gesteht im Ergebnis auch Combacau, S. 263 zu; zweifelhaft dagegen Mohr, DuR 1992, 312, der selbst auf dieser Basis noch eine effektive Kontrolle des SR rur möglich zu halten scheint. 164 S.o. S. 148ff. 165 Ebenso Schilling, AVR 1995, 95f. 166 Dies verneint etwa Bowett, EJIL 1994, 95; der SR sei "master of its own procedure" . 167 Zu dem rechtlichen Charakter des Verfahrens, in dem diese Entscheidung erging, vgl. l. Teil, Fn. 143. 168 ICl Rep. I 972, 46, 69. 169 A.a.O., 70; ebenso sep. op. de Castra, ebd., 116, 134.
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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tionalen Organisation. 170 Es ist jedoch durchaus fraglich, ob allein die Entscheidung des IGH eine solche Annahme stützen kann. Schon innerhalb des IGH war sie nicht unumstritten; eine ganze Reihe von Richtern vertraten die Auffassung, die formellen Einwände hätten geprüft werden sollen. 171 Zudem ist nicht klar, welche Bedeutung der IGH seinen Ausfilhrungen eigentlich selbst beimaß. Trotz des recht kategorischen Wortlauts des dictums des IGH gilt es zu beachten, daß der Gerichtshof immerhin ausdrücklich feststellte, daß eine "just procedure" gewährleistet gewesen sei; diese Wendung wäre sinnlos, wenn der IGH von einer ganz allgemeinen Unbeachtlichkeit von Verfahrensregeln ausgegangen wäre. 172 Auch darf nicht übersehen werden, daß es in der Entscheidung des IGH allein um Regelungen aus der Verfahrensordnung des Rats der ICAO ging; der Status solcher selbstgesetzter Verfahrensregeln ist jedoch ein Problem rur sich. 173 Was die Beachtlichkeit in der Satzung selbst enthaltener Verfahrensregeln angeht, ist hinzuweisen auf das Namibia-Gutachten l74 des IGH, in dem der IGH durchaus inhaltlich zu Einwänden Südafrikas gegen SR-Res. 284 (1970) Stellung nahm, die auf eine Verletzung der Verfahrensregeln der Art. 27 III und 32 ChVN gestützt waren.'7 5 Aus dem Fehlen jeglichen Vorbehalts bezüglich der Beachtlichkeit dieser Normen in der Entscheidung des IGH kann man schließen, daß ein solcher letztlich nicht besteht. 176 Eine andere Frage ist, wie weitgehend die verfahrensrechtlichen Bindungen des SR im Rahmen des Kapitels VII überhaupt sind. Kapitel VII selbst enthält sieht man von der praktisch bedeutungslosen Norm des Art. 44 ChVN ab keine Verfahrensregeln. Eine fundamentale und in jedem Falle zu beachtende Norm ist dagegen die Regelung der Mehrheitserfordernisse in Art. 27 III Ch VN; deren Beachtung ist allerdings weniger eine Verfahrensfrage als schlicht eine Bedingung rur die rechtliche Existenz des Beschlusses. Die einzigen wirklichen Verfahrensregeln in der Charta sind damit die Art. 31 und 32 ChVN, die die Beiziehung von Nichtmitgliedern des SR bzw. der VN regeln;'77 im übrigen 170 Sanjose Gi!, REDI 1990, 445; Osieke, AJlL 1983, 246; kritisch zur Entscheidung des lGHjedoch ders., ICLQ 1979, 13. 171 Decl. Lachs, ICJ Rep. 1972, 72, 75; sep. op. Jimenez de Arechaga, ebd., 140, 153; diss. op. Morozov, ebd., 157, 159; diss. op. Nagendra Singh, ebd., 164, 177, 179. 172 Morgenstern, BYlL 1976/77,253. 173 Vgl. hierzu rur die VN Conforti AJIL 1969, 479ff. sowie RdC 1974 II, 215ff. 174 Zu diesem bereits o. S. 37ff. 175 ICJ Rep. 1971, 16, 22f. 176 Vgl. Furukawa, FS Reuter, S. 308; auf das Namibia-Gutachten stützt sich insofern auch Thierry, RdC 1980 II, 431, der die Entscheidung des IGH im ICAO-Fall jedoch an keiner Stelle erwähnt. 177 Auch diese Regelung ist allerdings durch das Namibia-Gutachten des lGH weitgehend entwertet worden, in dem dieser die Anwendbarkeit des Art. 32 ChVN davon
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
sind Verfahrensregeln nur noch in der Verfahrensordnung des SR178 enthalten, deren Verbindlichkeit jedoch besondere Probleme aufwirft, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 179 Insgesamt sind die verfahrensmäßigen Bindungen des SR somit rudimentär; eine nennenswerte Gefahr droht der Autorität der Beschlüsse des SR insofern ohnehin nicht. Zusammenfassend kann jedenfalls festgestellt werden, daß weder das materielle noch das formelle Recht der Charta von vornherein unbeachtlich filr die Gültigkeit der Beschlüsse des SR sind.
c) Die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen als Maßstab der Gültigkeit? Nach Art. 24 11 I ChVN handelt der SR bei der Erfilllung seiner Pflichten "im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen"; hiermit wird Bezug genommen auf Art. I und 2 Ch VN. Man kann sich fragen, ob mit diesem Hinweis nicht zugleich auch die rechtlichen Bindungen des SR abschließend umschrieben werden; wäre dies der Fall, dann müßten die Beschlüsse des SR zu ihrer Gültigkeit lediglich mit jenen Zielen und Grundsätzen, nicht aber mit jeder einzelnen Bestimmung der Charta im übrigen übereinstimmen. Angesichts der ausgesprochenen Weite der Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen wäre damit eine ganz erhebliche Lockerung der Bindungen des SR erreicht. Die Frage ist, ob den Art. 1 und 2 Ch VN in der Tat eine solch grundsätzliche Bedeutung als Maßstab filr die Kritik der Beschlüsse des SR zukommt.
abhängig machte, daß der SR ausdrücklich festgestellt hat, daß eine "Streitigkeit" vorliege (lCJ Rep. 1971, 16, 22). Damit werden jedoch die klaren Unterschiede im Wortlaut der Art. 31 und 32 ChVN mißachtet, von denen nur ersterer auf die subjektive Einschätzung des Rates abstellt. Der SR selbst hat immer dann dazu geneigt, von einer Beiladung nach Art. 32 ChVN abzusehen, wenn er schon die Existenz des betreffenden Regimes rechtlich mißbilligte (zu seiner Haltung gegenüber dem ehemaligen Südrhodesien vgl. etwa Stephen, AJIL 1973. 480). Aber auch nichtstaatlichen Parteien sollte das rechtliche Gehör nicht ohne weiteres verweigert werden; zu Recht kritisch zu dieser Praxis daher Conforti, RdC 197411,214; Stephen, AJIL 1973,488. 178 Provisional Rules o[ Procedure o[ the Security Council. As Amended 21 December 1982, S/96/Rev. 7 (abgedruckt auch bei Sydney D. Bailey, The Procedure of the UN Security Council, 2. Aufl., Oxford 1988). 179 Vgl. hierzu Conforti, AJIL 1969484 sowie RdC 1974 11, 217, der eine Verbindlichkeit bejaht, soweit die Regelungen als Ausfluß eines allgemeinen Prinzips der Objektivität und Unparteilichkeit erscheinen (diesem folgend Morgenstern, BYIL 1976177, 232); dieser Standard mag letzten Endes dem ähnlich sein, den auch der IGH selbst im ICAO-Council-Fall mit dem Abstellen auf das Erfordernis einer "just procedure" angedeutet hat (s.o. S. 152).
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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aa) Die Bedeutung der Ziele und Grundsätze nach der Rechtsprechung des IGH Zunächst einmal ist zu untersuchen, welche Rolle die Ziele und Grundsätze der VN in der Rechtsprechung des IGH als Maßstab rur die Kontrolle der politischen Organe gespielt haben. Zu erwähnen ist dabei vor allem das Gutachten des IGH im Fall Certain Expenses l80 . Hintergrund dieses Falles waren gewisse friedensschaffende Operationen der VN in Ägypten (United Nations Emergency Force, UNEF) und im Kongo (Operations des Nations Unies au Congo, ONUC) in den runfziger und sechziger Jahren, deren Rechtmäßigkeit von mehreren Mitgliedstaaten bestritten wurde. Zum offenen Ausbruch kam dieser Konflikt, als die GV nach Art. 17 II ChVN die Kosten von UNEF und ONUC zu Ausgaben der Vereinten Nationen erklärte, die von allen Mitgliedstaaten zu tragen waren. Da sich jedoch die Gegner der Aktionen weigerten, diese Kosten zu tragen, ersuchte die GV den IGH um ein Gutachten zu der Frage, ob es sich bei den fraglichen Ausgaben um solche im Sinne des Art. 17 II ChVN handele. Im Zuge seiner Erörterungen vertrat der IGH dabei zunächst, nur Ausgaben, die rur Zwecke der VN getätigt worden seien, seien auch solche im Sinne des Art. 17 II Ch VN .181 Anschließend ging er auf die Rechtmäßigkeit der fraglichen Operationen ein; auch hier stellte er wieder darauf ab, ob die Aktion im Einklang mit den Zielen der Charta gestanden habe: 182 "When the Organization takes action which warrants the assertion that it was appropriate for the fulfilment of one of the stated purposes of the United Nations, the presumption is that such action is not ultra vires the Organization." Weiter fiihrte er aus, daß Fragen der internen Kompetenzverteilung fiir die Gültigkeit einer Maßnahme ohne Belang seien: 183 If the action was taken by the wrong organ, it was irregular as a matter of that internal structure, but this would not necessarily mean that the expense incurred was not an expense of the Organization. Both national and international law contemplate cases in which the body corporate or politic may be bound, as to third parties, by an ultra vires act of an agent." Es ist leider keineswegs einfach auszumachen, von welchen Grundsätzen sich der IGH in dieser Entscheidung eigentlich hat leiten lassen. Man könnte die Entscheidung einerseits so verstehen, daß es allgemein nur auf die Vereinbar-
180 ICJRep. 1962, 151.
A.a.O., 167. 182 A.a.O., 168. 183 A.a.O. 181
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
keit mit den Zielen der VN ankommt. 184 Dagegen spricht jedoch, daß der IGH die Vereinbarkeit mit den Zielen der VN immer nur als Grundlage einer "Vermutung,,185 der Rechtmäßigkeit nannte; er ließ sich hierdurch auch keineswegs davon abhalten, ausfilhrlich auf die Rechtmäßigkeit der fraglichen Aktionen einzugehen. 186 Größere Bedeutung hat dagegen die These von der Unbeachtlichkeit der "internal structure" der VN, die auch im Gerichtshof selbst nicht unumstritten war. 187 Jedoch scheint der Gerichtshof diese "internal structure" eng verstanden und nur auf die Abgrenzung der Kompetenzen der Organe SR, GV und GS untereinander bezogen zu haben; nicht gemeint und nach der Problematik des Falles auch gar nicht angezeigt war eine Regel, daß sämtliche filr die Befugnisse der Organe maßgeblichen Bestimmungen unbeachtlich wären und es nur noch auf die groben Ziele der VN ankäme. Selbst wenn man das Gutachten anders verstehen wollte, wäre angesichts des haushaltsrechtlichen Hintergrunds immer noch fraglich, ob man ihm wirklich eine allgemeine Aussage über die Voraussetzungen der Gültigkeit der Rechtsakte der politischen Organe entnehmen kann. 188 Ziel war einzig und allein die Qualifikation als "Ausgabe" im Sinne des Art. 17 11 ChVN; filr diese Fragestellung kann aber das Problem der Rechtswidrigkeit nur zweitrangige Bedeutung haben, wenn die Kosten erst einmal angefallen sind. Insgesamt wird man daher festhalten müssen, daß das Gutachten im Fall Certain Expenses keinen Aufschluß über die Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse der politischen Organe der VN geben kann. 189 Eine weitere Bezugnahme auf die Ziele der VN als kompetenzielle Grenze findet sich im Namibia-Gutachten des IGHI90. Hier zitierte der IGH eine Erklärung des GS der VN vom 10.1.1947, in der dieser zu den Kompetenzen des SR vertrat: 191 "The only limitations are the fundamental principles and purposes found in Chapter I ofthe Charter." 184 Eher in diesem Sinne wohl auch sep. op. Spender, ebd., 182, 183. 185 Zur Bedeutung dieser Vermutung s.u. S. 160ft". 186 lCJ Rep. 1962, 170ft". 187 Kritisch dazu etwa sep. op. Fitzmaurice, Certain Expenses, lCJ Rep. 1962, 198, 199; diss. op. Winiarski, ebd., 227, 230; diss. op. Bustamante y Rivero, ebd., 288, 304. 188 Conforti, RdC 1974 II, 233. 189 Jacque, S. 163; Lauterpacht, FS McNair, S. 111; fiir maßgeblich hält das Gutachten insofern dagegen Morgenstern, BYIL 1976/77, 232. 190 lCJ Rep. 1971, 16, 52. S. hierzu schon o. S. 37ft". 191 SCOR, 2nd year, 91st meeting, 44f. (1947). Anlaß der Erklärung war ein Streit darüber gewesen, ob dem SR gewisse Verwaltungskompetenzen im Zusammenhang mit einer geplanten internationalen Verwaltung der Freizone von Triest übertragen werden konnten; vgl. hierzu Kahng, S. 75-77.
l. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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Aber die Entscheidung des IGH in diesem Fall diente der Rechtfertigung einer konkreten Resolution in einem sehr speziellen Zusammenhang; 192 man kann daher bezweifeln, ob der IGH diese sehr extensive Sicht des GS allgemein zu seiner eigenen machen wollte. So, wie sich aus dieser Entscheidung keine allgemeine Entscheidungsgewalt des SR ableiten läßt,193 enthält sie auch keine allgemeine Aussage über die Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR. Die Rechtsprechung des IGH kann daher keinen Aufschluß über die Bedeutung der Ziele und Grundsätze der VN rur die Gültigkeit der Beschlüsse des SR geben.
bb) Ein Umkehrschluß zu Art. 24 11 1 ChVN? Die Frage ist jedoch, ob man nicht schon aus der ausdrücklichen Regelung der Bindungen des SR in Art. 24 11 I ChVN im Umkehrschluß folgern müßte, daß andere Bindungen nicht bestehen. 194 Hierfilr könnte sprechen, daß eine Bindung des SR an die Art. I und 2 ChVN ja ohnehin besteht; soll der Bestimmung also ein eigenständiger Regelungsgehalt zukommen, so könnte dieser nur im Ausschluß der Bindung an die übrigen Bestimmungen der Charta liegen. Man muß allerdings klar sehen, daß eine solche Auslegung zwar Art. 24 11 I Ch VN eine eigenständige Bedeutung geben, die Regelungen der Charta im übrigen aber völlig entwerten würde. Wenn Art. 24 11 1 ChVN wirklich eine abschließende Umschreibung der rechtlichen Bindungen wäre, dann würden nicht nur jene Bestimmungen bedeutungslos, die die Reichweite der materiellen Befugnisse des SR regeln; alle rechtlichen Bindungen des SR bis hin zur Regelung der Abstimmungserfordernisse des Art. 27 Ch VN würden zweifelhaft. Daß Art. 24 11 I Ch VN jedoch nicht so ausgelegt werden darf, daß er die Charta im ganzen hinflillig macht, hat der IGH schon im Fall Conditions of Admission l95 betont. Hier war vorgebracht worden, die Regelung der Aufnahmevoraussetzungen in Art. 4 I Ch VN könne nicht als abschließend angesehen werden, da der SR gern. Art. 24 ChVN ohnehin nur an die Ziele und Grundsätze der Charta gebunden sei; der IGH verwarf jedoch dieses Argument: 196
192 Vgl. o. S. 39f. 193 S.o. S. 40. 194 In diesem Sinn Degni-Segui in CotlPellet, S. 462f.; ähnlich sep. op. Weeramantry. Lockerbie, ICJ Rep. 1992, 50, 61, 65. Einen Umkehrschluß erwägt auch Bedjaoui, FS Rigaux, S. 79, verwirft ihn jedoch im Ergebnis. 195 Zu diesem Fall schon o. S. 78f. 196 ICJ Rep. 1947/48,57,64; dazu auch Kerno, RdC 1951 1,547.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
"Mais la disposition de I'article 24, en raison meme de sa tres grande gem!ralite, ne peut, en I'absence de tout texte, affecter la reglementation speciale de I'admission teile qu'elle resort de I'article 4."
Diese Erwägungen lassen sich unschwer in dem Sinne verstehen, daß die speziellen Regelungen der Charta niemals von der allgemeinen Regelung des Art. 24 11 1 ChVN verdrängt werden. Dafiir spricht letztlich auch die Tatsache, daß Art. 24 11 Ch VN selbst in seinem zweiten Satz, wonach die Befugnisse des SR in den Kapiteln VI, VII, VIII und XII aufgefiihrt sind, auf diese speziellen Regelungen verweist; es wäre ein offenkundiger Widerspruch, wenn Satz 1 aufheben würde, worauf sich Satz 2 bezieht. Art. 24 11 Ch VN hat vielmehr letztlich überhaupt keine eigenständige Bedeutung; 197 sein Sinn ist es, gewisse Bindungen des SR noch einmal ausdrücklich hervorzuheben, nicht, solche Bindungen auszuschließen. 198 Eine andere Frage ist es, welche Bedeutung den Zielen und Grundsätzen der Charta fiir die Begrenzung der Befugnisse des SR nach Kapitel VII der Charta, insbesondere im Rahmen des Art. 39 ChVN zukommen kann. 199 Einen allgemeinen Maßstab fiir die Gültigkeit der Beschlüsse des SR stellen sie jedoch nicht dar. Die Bindung des SR an die Charta unterliegt auch insofern keinen Beschränkungen.
d) Ungültigkeit nur bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit?
Einen weiteren denkbaren Ansatz fiir die Lösung des Konflikts von Rechtssicherheit und Rechtsbindung könnte es darstellen, die Ungültigkeit der Beschlüsse des SR auf Fälle offensichtlicher oder besonders schwerer Rechtsverstösse zu beschränken. Ansätze in dieser Richtung finden sich in einer Reihe von Sondervoten von Richtern des IGH;200 die Formulierungen im einzelnen schwanken allerdings. Teilweise wird mehr auf die "Offensichtlichkeit" des Verstosses abgestellt; es wird vertreten, die Ungültigkeit von Beschlüssen der Organe der VN sei dann anzunehmen, wenn sie "apparent on the face of the 197 Delbrück in Simma, Art. 24, Rn. 11, hält die Bestimmung zu Recht für inhaltsleer und überflüssig. 198 Ein anderes ergibt sich entgegen der nicht näher begründeten Ansicht von Degni-Segui (in CotlPellet, S. 462f.) auch nicht aus der Entstehungsgeschichte der Charta. Es gab zwar eine Anzahl von Versuchen, die Formulierung des Art. 24 11 restriktiver zu fassen. Diese zielten jedoch vor allem darauf ab, den SR zu einer stärkeren Berücksichtigung der materiellen Rechte der Parteien zu verpflichten (s. dazu u. S. 270.); nirgends wird ersichtlich, daß beabsichtigt gewesen wäre, die Bindung des SR an die Charta auszuschließen. 199 Dazu, daß sich auch sachlich über die Art. I und 2 ChVN keine angemessene Begrenzung der Befugnisse des SR erreichen läßt, vgl. u. S. 207ft'. 200 V gl. zu diesen kritisch Conforti, RdC 1974 11, 231 ff.
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matter" sei. 201 Andere stellen wiederum mehr auf die Schwere der Rechtsverletzung ab202 . Nicht immer sind beide Gesichtspunkte jedoch klar zu trennen; zitiert sei etwa der Richter de Castro in seinem Sondervotum im Fall Namibia: 203 "Pour contester la validite d'une resolution, on ne peut se bomer a soutenir qu'il est possible de trouver une meilleure interpretation; on ne pourra la critiquer que si I'on montre I'impossibilite absolue de trouver une raison quelconque, meme discutable, sur laquelle fonder I'interpretation favorable a la validite." Auch in der Literatur wird teilweise erwogen, ob nicht die Offensichtlichkeit oder Schwere des Verstosses den Maßstab für die Gültigkeit der Beschlüsse internationaler Organisationen darstellt. 204 Hierin könnte auch die dogmatische Rechtfertigung für die häufig anzutreffende, meist allerdings kaum begründete Auffassung liegen, der IGH solle sich bei der Kontrolle der Beschlüsse des SR zurückhalten; die Nichtigkeit der Beschlüsse des SR müsse auf "Extremfälle" beschränkt werden. 205 Auf den ersten Blick scheint eine solche Beschränkung der Nichtigkeitsfolge durchaus ihre Vorzüge zu haben. Es ließe sich argumentieren, im Interesse der Funktionsfiihigkeit des Sicherheitssystems der VN könne den Mitgliedstaaten durchaus zugemutet werden, leichtere Rechtsverstösse einmal hinnehmen zu müssen; dort hingegen, wo die Rechtsverletzung ohnehin offensichtlich sei, könne sie auch ohne Gefahr rur die Autorität des SR im übrigen geltend gemacht werden. Es fragt sich nur, ob eine solche Betrachtungsweise nicht etwas zu vereinfachend ist. Schon das Kriterium der Offensichtlichkeit ist äußerst zweifelhaft, denn in normativen Fragen ist letztlich nie etwas offensichtlich. Über rechtliche Wertungen kann man sich einig sein oder nicht; sobald aber die Gültigkeit eines Beschlusses des SR bestritten wird, fehlt diese Einigkeit eben gerade, und sie läßt sich auch nicht dadurch wiederherstellen, daß die eine Seite 201 Diss. op. Fitzmaurice, Certain Expenses, ICl Rep. 1962, 198,204; ähnlich auch sep. op. de Castro, Namibia, ICl Rep. 1971, 170, 180. 202 Vgl. sep. op. Morelli, Certain Expenses, ICl Rep. 1962,216,223. 203 Sep. op. de Castro, ICl Rep. 1971, 170, 185. 204 Vgl. Bernhardt, EPIL 5, 144, der jedenfalls bei solchen Rechtsakten, die "manifestly ultra vires" sind, Nichtigkeit annehmen will, die Frage ansonsten aber offen läßt; vgl. auch Jacque, S. 84, der als Folge einer "usurpation manifeste de pouvoir" die "Nichtexistenz" des Aktes annimmt, daneben aber wohl auch noch einfache Nichtigkeit anerkennt. Ausdrücklich für Beschlüsse des SR stellen auf die Offensichtlichkeit ab Gowlland-Debbbas, AJIL 1994,672; Chappez, AFDI 1992,478; Herdegen, VandJTL 1994, 158; Bowett, EJIL 1994, 97 ("c\ear error of law"); Gunn, UTFLR 1993, 229 ("patent unreasonableness standard"). 205 Vgl. etwa Stein, AVR 1993, 229; Frowein, RdC 1994 IV, 385; Franck, AJIL 1992, 523; ähnlich allgemein für die politischen Organe auch Winiarski in seiner diss. op. im Fall Certain Expenses, lCl Rep. 1962,227,232.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
gegenüber der anderen behauptet, ihre Auffassung sei die offensichtlich zutreffende. 206 Die Formel von der "offensichtlichen Rechtswidrigkeit" ist daher ausgesprochen irrefilhrend, denn sie suggeriert einen Konsens, der faktisch überhaupt nicht bestehen wird. Wer davon spricht, ein Rechtsakt sei offensichtlich rechtswidrig, der tut letztlich nichts anderes, als den behaupteten Verstoß mit einem besonders negativen Werturteil zu belegen. Die Frage kann daher allein sein, ob es sinnvoll ist, diese besondere Schwere der Rechtsverletzung zum Maßstab der Gültigkeit zu machen. Aber was man ftir eine "schwere" Rechtsverletzung hält, ist nahezu völlig vom subjektiven Urteil des Urteilenden abhängig. Gerade was die materiellen Grenzen der Befugnisse des SR angeht, zeigt sich dies mit großer Deutlichkeit. Bis auf den heutigen Tag hat sich nicht einmal in Ansätzen eine Einigkeit über die Bedeutung der Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN eingestellt; wer könnte angesichts dessen sagen, was ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 39 ChVN wäre? Man kann hier grundsätzlich alles ftir nichtig halten oder nichts; die Gefahr der Rechtsunsicherheit ist nicht von der Hand zu weisen. Nur durch eine längere gerichtliche Praxis könnten sich gewisse Fallgruppen herausbilden, aber daftir fehlt ein Gericht mit allgemeiner und obligatorischer Zuständigkeit; es wären daher letztlich doch die interessierten Parteien selbst, die den Maßstab zur Anwendung bringen würden. Bestenfalls ließe sich dabei eine gewisse Verlagerung der Argumentationslast zugunsten des SR erwarten; aber dieser kaum faßbare Effekt rechtfertigt es nicht, eine Figur in das Recht der VN einzuftigen, die letztlich nur mehr Komplikationen, aber kaum mehr Klarheit schaffen wird. Die Nachteile einer Beschränkung der Nichtigkeitsfolge auf schwere oder offensichtliche Rechtsverletzungen überwiegen ihre Vorteile daher bei weitem;207 eine entsprechende Fassung der Voraussetzungen der Gültigkeit der Beschlüsse des SR scheidet daher aus.
e) Die Vermutung der Gültigkeit
In der Rechtsprechung des IGH ist häufiger die Aussage aufgetaucht, die Beschlüsse der politischen Organe der VN hätten die Vermutung ihrer Rechtmäßigkeit oder Gültigkeit208 ftir sich. Entsprechende Äußerungen finden sich 206 Dieses Problem sehen auch Conforti, RdC 1974 11, 232; Osieke, AJIL 1983, 249; Bernhardt, EPIL 5, 144. 207 Ablehnend auch Conforti a.a.O.; Osieke a.a.O.
208 Die Terminologie des IGH ist schwankend; teilweise spricht er von einer "presumption that such action is not ultra vires" (ICI Rep. 1962, 151, 168), teilweise von einer Vermutung der Gültigkeit (ICI Rep. 1971, 16,22). Praktische Unterschiede
I. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
161
schon im Fall Certain Expenses 209 , wo die Vennutung allerdings noch an die V oraussetzung geknüpft wurde, daß die fraglichen Rechtsakte der Verwirklichung der Ziele der VN dienten. 210 In ganz allgemeiner Fonn findet sich die Gültigkeitsvennutungjedoch aufgestellt im Fall Namibia: 211 "A resolution of a properly constituted organ of the United Nations which is passed in accordance with that organ's rules of procedure, and is declared by its President to have been so passed, must be presumed to have been validly adopted." Auch in der Literatur wird eine solche Gültigkeitsvennutung teils ganz allgemein filr die Beschlüsse internationaler Organisationen212 , teils speziell filr die des SR213 aufgestellt; man hat in ihr sogar den "standard ofjudicial review" des IGH gesehen. 214 Es fragt sich mithin, welche Bedeutung dieser Vennutung der Gültigkeit filr die Beschlüsse des SR zukommen könnte. Dabei ist allerdings klar zu unterscheiden zwischen einer Gültigkeitsvennutung im Verfahren über vorläufigen Rechtsschutz und im Verfahren über die Hauptsache. Im Verfahren über vorläufigen Rechtsschutz sind Rechtsvennutungen nichts ungewöhnlich; in diesem Sinne konnte sich auch der IGH im Lockerbie-Fall auf eine Vennutung der Gültigkeit von SR-Res. 748 (1992) stützen. 215 Hervorzuheben ist aber, daß der IGH auf die Gültigkeitsvennutung wiederholt auch in Fällen zurückgegriffen hat, in denen es um die endgültige Entscheidung in der Hauptsache ging;216 daraus ließe sich zugleich folgern, daß diese Vennutung auch unmittelbar im Verhältnis von Mitgliedstaaten und SR gelten müßte. 217 Es ist jedoch durchaus problematisch, welchen Platz einer "Vennutung" im Rahmen der Entscheidung über die Hauptsache zukommen kann. Die Gültigkeit des Beschlusses eines internationalen Organs ist eine Rechtsfrage, über die nach ergeben sich insofern nicht; da es letztlich allerdings um die Gültigkeit geht, wird hier der Begriff der Gültigkeitsvermutung verwandt. 209 ICI Rep. 1962, 151, 168; ebenso auch sep. op. Fitzmaurice, ebd., 198,204; diss. op. Bustamante y Rivero, ebd., 288, 344. 210 S.o. S. 152. 211 ICI Rep. 1971, 16,22. 212 Jennings, FS McNair, S. 86; E. Lauterpacht, FS McNair, S. 117; Seidl-HohenveldernlLoibl, Rn. 1612; Schlochauer, S. 24. 213 Frowein, ZaöRV 1987, 69; Graefrath, EJlL 1993, 205; Weller, AlICL 1992, 324; Sorel, RGDIP 1993, 719; Schilling, AVR 1995, 100; Scott u.a., MichJlL 1994, 106; Franck in AI-NauimilMeese, S. 631; Gunn, UTFLR 1993, 236; Czaplinski, PYIL 1993, 42; Brownlie, S. 335. 214 G. Watson, HILJ 1993, 16f.; kritisch zu diesem Begriff schon o. S. 128. 215 S. dazu o. S. 115ff. 216 Certain Expenses, ICI Rep. 1962, 151, 168; Namibia, ICJ Rep. 1971, 16,22. 217 Zur Identität der gerichtlichen und außergerichtlichen Maßstäbe der Gültigkeit s.o. S. 128. 11 Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
dem Prinzip "iura novit curia"218 allein der IGH zu befinden hätte. Es kann sich damit nicht um eine Regel über die Verteilung der Beweis- oder besser Argumentationslast handeln; der IGH muß hier vielmehr selbst und von Amts wegen zu einem abschließenden Urteil gelangen. Man könnte sich allerdings fragen, ob der IGH mit der Vermutung der Gültigkeit nicht eine gewisse Zurücknahme der rechtlichen Kontrollrnaßstäbe zum Ausdruck bringen wollte; so ist vertreten worden, die Gültigkeitsvermutung sei ein "deferential standard of judicial review".219 Das Problem dabei ist jedoch, daß sich aus der Rechtsprechung des IGH nicht der geringste Anhaltspunkt daftlr ergibt, wie weit diese Zurückhaltung eigentlich reichen sollte; im Gegenteil hat sich der IGH durch die Vermutung nie davon abhalten lassen, alle nur erdenklichen rechtlichen Einwände gegen die Gültigkeit der fraglichen Beschlüsse zu erörtern. 220 Dies bestätigt das bisherige Ergebnis, daß es letztlich keinen objektivierbaren Maßstab ftlr eine Lockerung der Bindung des SR an die Charta gibt. 221 Das einzige, was sich festhalten läßt, ist, daß der IGH die Gültigkeit der Beschlüsse der politischen Organe nicht von Amts wegen prüft, sondern nur, wenn insofern Einwendungen erhoben werden;222 dies bestätigt auch die Entscheidung im Fall Northern Cameroons223 . Dies folgt jedoch schon aus der konsensualen Natur der Zuständigkeit des IGH, die nicht weiter reicht, als von denen Parteien gewollt; mit einer Gültigkeitsvermutung hat das nichts zu tun. 224 Insgesamt erweckt die Verwendung des Begriffs in der Rechtsprechung des IGH den Eindruck, daß es sich hierbei um nicht mehr als eine Versicherung seitens des Gerichtshofs handelt, den jeweiligen Fall mit der notwendigen Umsicht und Vorsicht und im vollen Bewußtsein seiner Bedeutung zu behandeln; es handelt sich mehr um ein "statement of judicial policy" als um einen "standard of judicial review". Eine Bedeutung als Maßstab rur die Kontrolle der Beschlüsse des SR kommt der Vermutung der Gültigkeit dagegen nicht zu; sie fUhrt nicht zu einer Beschränkung der Möglichkeiten gerichtlicher Kontrolle durch den IGH.225
45.
218 Zu diesem Prinzip als allgemeinem Rechtsgrundsatz vgl. Cheng, S. 299. 219 G. Watson, HILJ 1993, l3f., 16f. 220 Vgl. Certain Expenses, ICJ Rep. 1962, 151, 170ff.; Namibia, ICJ Rep. 1971, 16,
221 Auch G. Watson, HILJ 1993, 16f. bleibt eine Erläuterung des Inhalts des von ihm beftlrworteten Kontrollmaßstabs schuldig; dasselbe gilt ftlr Frowein, ZaöRV 1987, 69, dessen Hinweis auf die GUltigkeitsvermutung ebenfalls nicht näher ausgeftlhrt wird. 222 Thierry, RdC 1980 11, 424. 223 ICJ Rep. 1963, 4, 32; vgl. dazu o. 2. Teil, Fn. 24. 224 A.A. Thierry a.a.O. (0. Fn. 222). 225 So im Ergebnis auch diss. op. Bustamante y Rivero, Certain Expenses, ICJ Rep. 1962, 288, 304; Graefrath, EJIL 1993, 205; Jacque, S. 85, die allesamt die uneinge-
1. Abschnitt: Die Bindung des Sicherheitsrats an die Charta
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Abschließend ist somit festzustellen, daß der SR in vollem Umfang an die Charta der Vereinten Nationen gebunden ist; die Vereinbarkeit mit der Charta ist daher ohne jede Einschränkung Voraussetzung fUr die Gültigkeit seiner Beschlüsse nach Art. 25 ChVN. Das Fehlen dieser Voraussetzung kann von jedem Mitgliedstaat geltend gemacht werden; sie unterliegt damit zugleich auch der vollen Kontrolle durch den IGH im Rahmen des streitigen oder des gutachtlichen Verfahrens. Der Konflikt von Rechtssicherheit und Rechtsbindung in den Vereinten Nationen ist damit sicherlich nicht in einer idealen Weise gelöst; aber fUr solch eine Ideallösung fehlen die institutionellen Voraussetzungen. Gelegentliche Interpretationskonflikte sind immer noch das kleinere Übel gegenüber einer weitgehenden Entrechtlichung der Strukturen der Vereinten Nationen. 226 Diese Lösung spiegelt letzten Endes auch den Ansatz der Konferenz von San Francisco zur Auslegungsfrage wider: ein Beschluß, der nicht mit der Charta in Einklang steht und dem von einem Mitgliedstaat widersprochen wird, ist eben nicht "generally acceptable" und damit ohne rechtliche Verbindlichkeit. 227 Hiermit ist noch nichts Abschließendes zu der tatsächlichen Weite der Befugnisse des SR gesagt; dieses Problem kann man jedoch nicht lösen, in dem man den SR pauschal von der Beachtung der Charta freistellt. Ob dem SR etwa Ermessensspielräume zustehen und wie weit die Kontrolle hier reichen kann, ist eine Frage, die nur unter Ansehung der konkreten Norm und Aufgabe beantwortet werden kann. Nur mit einem solchermaßen differenzierenden Ansatz kann eine sachgerechte Abgrenzung der Befugnisse des SR erreicht werden;228 nur auf diesem Wege läßt sich den funktionalen Notwendigkeiten und Zwängen der Verantwortung des SR fUr die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit wirklich gerecht werden.
schränkte Widerlegbarkeit der Vermutung betonen; welchen Sinn diese Vermutung dann überhaupt noch haben soll, wird von diesen nicht gesagt. 226 Vgl. sep. op. Fitzmaurice. Certain Expenses, ICI Rep. 1962, 198,204; sep. op. Gros, Interpretation 0/ the Agreement 0/25 March 1952 Between the WHO and Egypt. Advisory Opinion, ICI Rep. 1980, 99, 104; Sanjose Gi!, RED! 1990, 458; Osieke, AJIL 1983, 255; P. de Visscher in R.-J. Dupuy, S. 319. 227 Vgl. dazu o. S. 147. 228 Vgl. auch Conforti, RdC 197411,219. 11"
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
2. Abschnitt
Reichweite und Grenzen der Befugnis zur Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen Zu klären sind somit Reichweite und Grenzen der Befugnis des SR zur Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta. Hierbei stellt sich zunächst die Frage nach der Bedeutung und den Voraussetzungen der Feststellungsbefugnis aus Art. 39 ChVN. Im Anschluß daran wird der Frage nachgegangen, ob es außer den Voraussetzungen nach Art. 39 ChVN noch weitere Grenzen ftlr die Befugnisse des SR gibt; abschließend ist auf das Problem des Wegfalls der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN einzugehen.
I. Die Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN Bevor der SR Empfehlungen abgeben oder beschließen kann, welche Maßnahmen aufgrund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind (Art. 39 Hs. 2 ChVN), ist die Feststellung erforderlich, daß "eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung" vorliegt (Art. 39 Hs. 1 Ch VN). Die Feststellung nach Art. 39 ChVN eröffnet dem SR somit die Möglichkeit zur Anordnung der weitreichenden Maßnahmen nach Kapitel VII; hiermit verbunden ist zugleich die Befugnis zur Fassung verbindlicher Beschlüsse nach Art. 25 ChVN. In Art. 39 ChVN liegt mit anderen Worten der rechtliche Schlüssel zur Zwangsgewalt der Vereinten Nationen; die Vorschrift konnte daher ohne Übertreibung als die "single most important provision of the Charter" bezeichnet werden. 229 Damit ist sie zugleich aber auch die zentrale Bestimmung, an der alle Maßnahmen des SR im Rahmen des Kapitels VII zu messen sind. Ihre konkrete Bedeutung als Maßstab ftlr die rechtliche Kritik und Kontrolle des SR ist von einer Klärung jedoch noch weit entfernt; hier ein größeres Maß an Klarheit zu erreichen, ist Ziel der folgenden Ausftlhrungen. 230
229 S.o. Fn. 105. 230 Angemerkt sei, daß sich weitgehend diesselben Probleme im Rahmen des interamerikanischen Sicherheitssystems bei Art. 6 Rio-Vertrag stellen, der in noch erheblich vagerer Formulierung als Art. 39 ChVN Zwangsmaßnahmen zuläßt "if the inviolability or the integrity of the territory or the sovereignty or political independence of any American State should be affected by an aggression which is not an armed attack or by an extra-continental or intra-continental conflict, or by any other fact or situation that might endanger the peace of America"; auch hier ist strittig geblieben, ob dem Konsultativorgan der OAS insofern ein Ermessen zusteht und wie weit dieses reicht
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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1. Art. 39 ChVN in Praxis, Rechtsprechung und Literatur
Hierzu wird zunächst einmal ein Überblick über die Praxis des SR zu Art. 39 Ch VN gegeben; anschließend soll die Diskussion in Rechtsprechung und Literatur dargestellt werden.
a) Die Praxis des SR aa) Feststellungen nach Art. 39 ChVN Der Überblick über die Praxis des SR setzt vor allem eine Bestandsaufnahme der tatsächlich erfolgten Feststellungen nach Art. 39 ChVN voraus. 231 Dabei ist allerdings - da ausdrückliche Nennungen des Art. 39 ChVN eher selten sind durchaus nicht immer mit völliger Eindeutigkeit festzustellen, wann eine Resolution des SR eine Feststellung nach Art. 39 ChVN enthält. Sehr häufig hat sich der SR in seinen Resolutionen verschiedener Kompromißformeln bedient; so wurde zum Beispiel festgestellt, eine Situation "störe den Frieden"232 oder sei eine "Bedrohung ft1r den Frieden der umliegenden Staaten"233. Obwohl diese Formulierungen an den Wortlaut des Art. 39 ChVN gemahnen, ft1r den unbefangenen Betrachter an Schärfe teilweise sogar noch über diesen hinauszugehen scheinen, darf jedoch nicht übersehen werden, daß die genaue Wiederholung des Wortlauts des Art. 39 ChVN peinliehst vermieden wird. Solche Resolutionen sind daher keine Feststellungen im Sinne des Art. 39 ChVN, sondern vielmehr Ausdruck der fehlenden Bereitschaft im SR, über eine bloß politische Verurteilung der Situation hinauszugehen. 234 Umgekehrt ist allerdings zu berücksichtigen, daß nach der Charta nicht erforderlich ist, daß einem Einschreiten des SR nach Kapitel VII eine ausdrückliche Feststellung im Sinne des Art. 39 ChVN vorausgegangen ist; es genügt, wenn dessen tatsächliche Voraussetzungen gegeben sind. 235 Feststellungen (großzügig etwa Chayes, S. 86; Fenwick, S. 235; Thomastrhomas, S. 267; enger dagegen Gerold, S. 100ff.). 231 Für eine solchen tUr die Praxis vor 1975 vgl. auch Arntz, S. 77ff. 232 Vgl. etwa SR-Res. 163 (1961), die gegen die Kolonialpolitik Portugals gerichtet war; SR-Res. 181 (1963) gegen die Apartheidspolitik Südafrikas. 233 So die wiederum gegen Südafrika gerichtete SR-Res. 282 (1970). 234 Vgl. zu den gegen Südafrika und Portugal gerichteten Resolutionen Arntz, S. 91 f., 97. Zu der gegen den Irak gerichteten SR-Res. 668 (1991) s.u. S. 171. 235 Arntz, S. 87.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
nach Art. 39 ChVN sind daher auch implizit möglich. Annehmen dürfen wird man solche impliziten Feststellungen des SR allerdings nur dort, wo er eindeutig seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat, nach Kapitel VII tätig werden zu wollen; solche Fälle, in denen der SR zwar zu einem Einschreiten mit Zwangsmaßnahmen entschlossen war, von einer klaren Feststellung nach Art. 39 ChVN jedoch abgesehen hat, sind gerade in seiner jüngsten Praxis häufiger zu be obachten. 236 Insgesamt läßt sich somit somit sagen, daß eine gewisse Wechselbeziehung zwischen den Feststellungen des SR und den von ihm gewählten Handlungsformen besteht, die auch ft1r die Auslegung seiner Resolutionen maßgeblich ist. 237 Dementsprechend werden in der Folge nur solche Resolutionen in Betracht genommen, die entweder eine unzweideutige Feststellung im Sinne des Art. 39 ChVN enthalten oder aber aber unmißverständlich die Einleitung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta zum Gegenstand haben.
(1) Palästina
Die erste Feststellung im Sinne des Art. 39 ChVN in der Geschichte der VN enthielt SR-Res. 54 (1948) vom 15. Juli 1948, durch die festgestellt wurde, daß die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem neu gegründeten Staat Israel und seinen arabischen Nachbarn eine Friedensbedrohung darsteIlten;238 zugleich wurde gern. Art. 40 ChVN ein Waffenstillstand angeordnet. 239 Angesichts der Tatsache, daß es bereits zu bewaffneten Kampfhandlungen gekommen war, war diese Feststellung auch weitgehend unproblematisch. Die einzige Frage, die im Rat diskutiert wurde, war die, ob es sich bei den Vorgängen in dem soeben in die Unabhängigkeit entlassenen ehemaligen britischen Mandats-
236 Vgl. sein Vorgehen in den Fällen Jugoslawien, Somalia und Haiti, u. S. 171 ff. 237 Nach diesen Maßstäben kam es auch im Kongo-Konflikt nicht zu einer Feststellung nach Art. 39 ChVN. SR-Res. 143 (1960) ermächtigte lediglich den GS zur Leistung militärischen Beistands fUr die Regierung des Kongos, worin man aber noch kein Vorgehen nach Kapitel VII sehen kann. SR-Res. 161 (1961) verwandte in der Situation nach der Ermordung des kongolesischen Premiermin'isters Lumumba zwar Wendungen, die auf die Feststellung einer Friedensbedrohung hätten hindeuten können, tat dies jedoch eher beiläufig und ließ vor allem keine Absicht zu einem Tätigwerden nach Kapitel VII erkennen (vgl. dazu Arntz, S. 8Iff., 87; a.A. Franck in R.-J. Dupuy, S. 93). 238 "Determines that the situation in Palestine constitutes a threat to the peace within the meaning of Artic1e 39 ofthe Charter ofthe United Nations." 239 Vgl. RoP, Bd. 2, S. 350f.; Arntz, S. 76ff.; ausfUhrlieh zum Hintergrund des Konflikts Luard, S. 160ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
167
gebiet auch um einen "internationalen" Konflikt handelte; dies wurde von der Mehrheit mit Rücksicht auf das Ausmaß der Kämpfe bejaht. 240
(2) Korea In dieser Hinsicht ähnlich gelagert war die Problematik des zwei Jahre später ausbrechenden Koreakrieges;241 auch hier wurde die Frage diskutiert, ob der Angriff Nordkoreas auf Südkorea wirklich einen internationalen Konflikt oder nicht vielleicht eher einen "bloßen Bürgerkrieg" darstelle. 242 Der SR stellte jedenfalls - in Abwesenheit der Sowjetunion - mit SR-Res. 82 (1950) das Vorliegen eines Friedensbruches fest. 243 Im übrigen beschränkte er sich allerdings darauf, den Mitgliedstaaten mit SR-Res. 83 (1950) die Leistung bewaffneter Hilfe rur Südkorea zu "empfehlen";244 zu einer darüber hinausgehenden Anwendung des Kapitels VII kam es nicht.
(3) Südrhodesien Sehr viel problematischer insbesondere auch im Hinblick auf Art. 39 ChVN war dagegen das Vorgehen des SR gegen Südrhodesien nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung durch das weiße Minderheitsregime des lan Smith. 245 Nachdem mit Groß-Britannien die Kolonialmacht selbst das Problem vor den SR gebracht hatte, stellte dieser mit SR-Res. 217 (1965) zunächst fest, "the continuance of the situation in Rhodesia" stelle eine Friedensbedrohung dar und empfahl unter anderem ein Öl-Embargo, ohne damit aber schon nach Kapitel VII tätig zu werden. Nachdem bekannt wurde, daß verschiedene Tanker unter Mißachtung der Resolution 217 den mozambikanischen Hafen Beira anzulaufen drohten, von wo aus das Öl nach Rhodesien weitergeleitet werden konnte, stellte er in SR-Res. 221 (1966) fest, die hieraus folgende Situation 240 RoP, a.a.O. 241 Zum Hintergrund ausfilhrlich Luard, S. 228ff. 242 RoP, Bd. 2, S. 351; vgl. dazu Kunz, AJIL 1951, 140; Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 10. 243 "Noting with grave concern the anned attack on the Republic ofKorea by forces from North Korea, Determines that this action constitutes a breach of the peace". 244 Zu den Rechtswirkungen solcher Empfehlungen s.o. S. 35ff; dazu, daß es sich um kein Tätigwerden nach Kapitel VII der Charta handelte, s.o. S. 46. 245 Zu den Hintergründen Gowlland-Debbas, S. 39ff.; Arntz, S. 98ff.; RoP, Suppl. 3, Bd. 2, S. 21Of.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
stelle eine Bedrohung des Friedens dar246 und ennächtigte Groß-Britannien, die Lieferungen notfalls auch mit Gewalt zu unterbinden,247 was dann allerdings nicht erforderlich wurde. SR-Res. 232 (1966) bezeichnete wenig später die Situation in Rhodesien selbst als Friedensbedrohung248 und verhängte Zwangsmaßnahmen nach Art. 41 ChVN, die in den folgenden Jahren - insbesondere durch SR-Res. 253 (1968) und 277 (1970) - zu einem umfassenden Embargo ausgeweitet wurden. 249 Diese erste Anwendung von Zwangsmaßnahmen in der Geschichte der VN löste eine lebhafte juristische Kontroverse aus, in der insgesamt die Zustimmung zum Vorgehen des SR überwog, aber auch viele Zweifel laut wurden. 250 Die Aussagekraft der rhodesischen Episode filr die Auslegung des Art. 39 Ch VN kann insgesamt allerdings nur mit größter Vorsicht bestimmt werden. Zwar hatte mit SR-Res 232 (1966) der SR zum ersten Mal das Vorliegen einer Friedensbedrohung in Anknüpfung nur an die innere "Situation" in einem Territorium festgestellt, ohne daß es etwa schon zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen wäre. Die Präzedenzwirkung des Falles wurde allerdings gemindert durch die eigentümliche Konstellation, in der Kolonialmacht und internationale Gemeinschaft Seite an Seite die Wiederherstellung der kolonialen Oberhoheit Groß-Britanniens forderten. Bildete die Apartheidspolitik des weißen Minderheitsregimes zwar unzweifelhaft die politische Motivation ftlr das Tätigwerden des SR, so verhinderte jedoch die gleichzeitige Sezessionsproblematik, daß es zu einer klaren Einordnung der Apartheid an sich als Friedensbedrohung LS.d. Art. 39 ChVN kam.
246 "Gravely concerned at reports that substantial supplies of oil may reach Southern Rhodesia as the result of an oil tanker having arrived at Beira and the approach of a further tanker [... ], Considering that such supplies will afford great assistance and encouragement to the illegal regime in Southern Rhodesia, thereby enabling it to remain longer in being, [... ] Determines that the resulting situation constitutes a threat to the peace [... ]". 247 Vgl. zu diesem Aspekt der Resolution o. S. 46. 248 "Determines that the present situation in Southern Rhodesia constitutes a threat to international peace and security". 249 Vgl. dazu im einzelnen Gowlland-Debbas, S. 423ff. 250 Vgl. Gowlland-Debbas, S. 453; Zack/in, S. 88; Fawcett, BYIL 1965/66, 166f.; McDougal/Reisman, AJIL 1968, 13; Ruzie, JDI 1970,37; Cefkin, 10 1968, 663f.; Halderman, ICLQ 1968, 702; Goldberg, USDSB 1967, 143; kritisch dagegen Fenwick, AJIL 1967,755; R. L. Bindschedler, ZaöRV 1968, 10f.; Arntz, S. 98ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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(4) Südafrika
In ähnlicher Fonn haben sich die dem Vorgehen gegen Südrhodesien zugrunde liegenden Probleme auch am Beispiel der weißen Apartheidspolitik der Republik Südafrika gestellt. Schon im Jahre 1963 hatte der SR mit SR-Res. 181 den Mitgliedstaaten ein Waffenembargo gegen Südafrika empfohlen. 251 Als der internationale Druck auf Südafrika ohne Ergebnisse blieb, wurde der Ruf insbesondere der Staaten der dritten Welt nach schärferen Maßnahmen des SR lauter. Noch im Oktober 1977 scheiterten jedoch am Veto der drei ständigen Sicherheitsratsmitglieder des Westens zwei Resolutionsanträge, in denen ausdrücklich wegen der Apartheidspolitik Südafrikas ein verbindliches Waffenembargo gegen dieses verhängt sowie weitere Sanktionen nach Kapitel VII der Charta angedroht werden sollten. 252 Erst am 04.12.1977 kam es dann zur Verabschiedung von SR-Res. 418, in der der SR feststellte, die Waffenkäufe der Republik Südafrika seien eine Bedrohung fiIr den Frieden253 , und ein verbindliches Waffenembargo nach Kapitel VII der Charta verhängte. 254 Bemerkenswert an dieser Resolution ist, daß das Problem der Apartheid keine Aufuahme in die Feststellung der Friedensbedrohung fand, die vielmehr allein auf die südafrikanischen Waffenkäufe gestützt wird. 255 Lediglich in der Präambel der Resolution wurde die Apartheidspolitik doch erwähnt und verurteilt. 256 Diese sehr enge Umschreibung des friedensbedrohenden Tatbestandes gibt zu Zweifeln Anlaß, denn letztlich kaufen alle Staaten Waffen, ohne daß dies allein schon den Frieden gefilhrden würde. Insgesamt trägt die Fonnulierung der Resolution deutlich Kompromißcharakter; durch sie sollte einerseits das politisch gewünschte härtere Vorgehen gegen das südafrikanische Apart-
251 Dazu Arntz, S. 94ff. 252 Resolutionsantrag S/12310/Rev.l; S/12311/Rev.l, beide vom 26.10.1977 (abgedruckt auch in VN 1978, 32). 253 "Determines, having regard to the policies and acts of the South African Government, that the acquisition by South Africa of arms and related materiel constitutes a threat to the maintenance of international peace and security". 254 Dazu RoP, Suppl. 5, Bd. 2, S. 142; Cadoux, AFDl 1977, 138f., 167ff.; D. L. Johnson, HILJ 1978, 899f. Nach den ersten freien und gleichen Wahlen in Südafrika im Jahr 1994 konnte der SR die Maßnahmen durch SR-Res. 919 (1994) wieder aufheben. 255 Sieht man einmal von dem eher vagen Verweis auf die "policies and acts of the South African Government" (s.o. Fn. 253) ab. 256 Vgl. Abs. 6 der Präambel: "Strongly condemning the South African Government for its acts of repression, its defiant continuance of the system of apartheid and its attacks against neighbouring independent States".
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
heidsregime ermöglicht,257 zugleich aber eine zu weitgehende Auslegung des Art. 39 ChVN mit Präzedenzwirkung ftlr die Zukunft vermieden werden.
(5) Der Krieg zwischen Iran und Irak Im Jahr 1980 kam es zum Ausbruch eines bewaftheten Konfliktes zwischen Irak und Iran. 258 Nachdem dieser bereits sieben Jahre angedauert hatte, rang sich der SR schließlich in SR-Res. 598 (1987) zu der Feststellung durch, es liege ein Friedensbruch vor;259 begleitet wurde dies durch die Anordnung eines Waffenstillstands nach Art. 40 ChVN.260 Besondere Probleme im Hinblick auf Art. 39 ChVN wirft diese Resolution angesichts des klaren militärischen Charakters der Auseinandersetzung jedoch nicht auf.
(6) Die irakische Invasion Kuwaits Am 2. August 1990 marschierten irakische Truppen in Kuwait ein; noch am selben Tag stellte der SR in SR-Res. 660 (1990) fest, "daß hinsichtlich der irakischen Invasion Kuwaits ein Bruch des Friedens" vorliege. 261 An der inhaltlichen Berechtigung dieser Feststellung kann angesichts der militärischen Gewaltanwendung durch den Irak kaum ein Zweifel bestehen. 262 Bemerkenswert an ihr ist jedoch, daß der SR auch hier lediglich das Vorliegen eines Friedensbruchs und nicht etwa einer Angriffshandlung feststellte, wie dies angesichts der irakischen Aggression nahegelegen hätte. Durch die hybride Formulierung der Res. 660 (1990) wurde damit die Feststellung der Verantwortlichkeit des Irak ftlr den Konflikt im Rahmen des politischen gehalten und nicht in die eigentliche Feststellung nach Art. 39 ChVN einbezogen. 263
257 Gaja, RGDIP 1993, 304. 258 Zu Hintergrund und Ausbruch des Konflikts vgl. AdG 1980, 23909ff. 259 "Determining that there exists a breach of the peace as regards the conflict between Iran and Iraq". 260 Vgl. hierzu Tavernier, EJIL 1990, 278ff. 261 "Determining that there exists a breach of international peace as regards the Iraqi invasion ofKuwait". 262 Klein, AVR 1991,424; Fink, AVR 1991,469. 263 Gowlland-Debbas, ICLQ 1994, 63; Dominice, EJIL 1991, 92; Weckei, AFDI 1991,168.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
171
Auf Grundlage der SR-Res. 660 (1990), die filr den SR eine Zäsur mit der Zeit des kalten Krieges darstellte,264 kam es zu weitreichenden Maßnahmen gegen den Irak bis hin zur militärischen Befreiung Kuwaits; genannt seien hier insbesondere SR-Res. 661 (1990), durch die ein umfassendes Wirtschaftsembargo verhängt wurde, sowie SR-Res. 678 (1990), durch die die Mitgliedstaaten zur militärischen Befreiung Kuwaits ermächtigt wurden. 265 Nach der militärischen Niederringung des Irak kam es zur Annahme von SR-Res. 687 (1992), durch die dem Irak umfangreiche Bedingungen ft1r die Einstellung der Kampfhandlungen auferlegt wurden. 266 Der Erwähnung bedarf noch SR-Res. 688 (1991), in der unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen in Reaktion auf das massive Vorgehen des Irak gegen seine kurdischen und schiitischen Minderheiten die Feststellung getroffen wurde, dieses Verhalten begründe eine Situation, "deren Folgen den Weltfrieden und die internationale Sicherheit" gefährdeten. 267 In dieser Resolution, deren Formulierung eher an Kapitel VI der Charta gemahnt und der auch keine weiteren Maßnahmen nach Kapitel VII folgten, kann jedoch eine Feststellung im Sinne des Art. 39 ChVN nicht gesehen werden. 268 Bemerkenswert an der Resolution ist jedoch, daß sich in ihr unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen wieder eine gewisse Scheu des SR vor der Einordnung scheinbar "interner" Vorgänge in einem Staat unter einen der Tatbestände des Art. 39 ChVN manifestiert.
(7) Das ehemalige Jugoslawien Am 25. Juni 1991 erklärten die beiden damaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Daraufhin kam es in Kroatien zu bewaffueten Auseinandersetzungen zwischen kroatischen Einheiten und der jugoslawischen Volksarmee, die bald ein erhebliches Ausmaß annah264 S. dazu schon o. S. 19. 265 Vgl. dazu o. S. 46. 266 Vgl. allgemein o. S. 49f.; s. auch u. S. 265ft'. 267 Vgl. Abs. 1 der Resolution, in dem der SR "the repression of the Iraqi civilian populations in many parts of Iraq, incIuding most recently in Kurdish populated areas, the consequences of which threaten international peace and security" verurteilt. Zum faktischen Hintergrund dieser Resolution ausftlhrlich Malanczuk., EJIL 1991, 115ft'. 268 So auch Malanczuk, EJIL 1991, 129, der in ihr "Iittle more than a formal censure" des Irak erblickt; Freudenschuß, AulPIL 1993, 11; Kimminich, AVR 1995, 450f. A.A. dagegen P.-M. Dupuy, RGDIP 1991,629; Gaja, RGDIP 199, 304f.; Franck in R.1. Dupuy, S. 102f.; Caron, AJIL 1993, 552 (Fn. 3), die alle eine Feststellung nach Art. 39 ChVN annehmen.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
men. Nachdem anflingliche Versuche, den Konflikt unter alleiniger Vermittlung der Europäischen Union zu beenden, zu keinem Erfolg geftlhrt hatten, wurde der SR schließlich am 25. September 1991 mit der Verabschiedung von SRRes. 713 (1991) tätig, in der er unter ausdrücklicher Berufung auf Kapitel VII ein umfassendes Waffenembargo gegen alle Parteien im ehemaligen Jugoslawien verhängte. 269 Interessant an dieser Resolution ist, daß in ihr trotz dieser ausdrücklichen Bezugnahme auf Kapitel VII keine eindeutige Feststellung nach Art. 39 ChVN erfolgte; sie enthält lediglich die eher an Kapitel VI erinnernde Wendung, "daß die Fortsetzung dieser Situation eine Bedrohung des internationalen Friedens" darstelle. 270 Eine eindeutige Feststellung nach Art. 39 ChVN erfolgte erst nach der Anerkennung der neuen Republiken durch die Vereinten Nationen und der Verlagerung des Konflikts von Kroatien auf Bosnien-Herzegowina mit SR-Res. 757 (1992), die feststellte, daß die Situation in Bosnien-Herzegowina eine Bedrohung des internationalen Friedens darstelle. 271 In dieser Resolution wurde zugleich Restjugoslawien (Serbien und Montenegro) die Verantwortung ftlr die Fortdauer der Kampfhandlungen in Bosnien zugewiesen;272 dementsprechend wurde ein umfassendes Handels-, Finanz- und Luftverkehrsembargo sowie weitere Maßnahmen auf diplomatischem und kulturellem Gebiet gegen RestJugoslawien verhängt.273 Nach monatelangen weiteren Kämpfen und der fortgesetzten Ablehnung des Vance-Owen-Friedensplans tUr Bosnien-Herzegowina durch die bosnischen Serben verlangte der SR in SR-Res. 819 (1993), daß Restjugoslawien deren Unterstützung einstellen müsse,274 und verschärfte wenige Tage später mit SRRes. 820 (1993) das bereits gegen Restjugoslawien bestehende Embargo. In derselben Resolution wurde zugleich. auch der Warenverkehr mit den serbisch besetzten Gebieten Bosniens und Kroatiens - es sei denn, mit Zustimmung der 269 Abs. 6 der Resolution. 270 Vgl. Abs. 4 der Präambel der Resolution: "that the continuation of this situation constitutes a threat to international peace and security". Dazu auch PetroviciCondorelli, AFDI 1992, 33f.; Uerpmann, AVR 1995, 115. 271 Vgl. Abs. 17 der Präambel der Resolution: "Determining that the situation in Bosnia and Herzegovina and in other parts of the former Socialist FederaI Republic of Yugoslavia constitutes a threat to international peace and security". 272 Abs. I der Resolution: "Condemns the failure of the authorities of the Federal Republic of Yugoslavia (Serbia and Montenegro), including the Yugoslav People's Army (YNA), to take effective measures to fulfil the requirements of resolution 752 (1992)"; in Res. 752 hatte der SR die Einstellung jeder äußeren Einmischung in die Angelegenheiten Bosnien-Herzegowinas verlangt. 273 Vgl. Abs. 4ff. der Resolution. 274 Abs. 3 der Resolution.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
173
betreffenden Regierungen - verboten;275 hiermit wurden zum ersten Mal die serbischen Aufständischen selbst zum Adressaten einer Zwangsmaßnahme des SR. Diese Tendenz zu einer Konzentrierung auf die bosnischen Serben setzte sich fort mit SR-Res. 942 vom 23. September 1994, durch die das Embargo gegen diese weiter ausgeweitet wurde,276 während mit Res. 943 (1994) vom gleichen Tag die Maßnahmen gegen Restjugoslawien in begrenztem Umfang befristet ausgesetzt wurden. 277 Insgesamt ist das Tätigwerden des SR im Fall des ehemaligen Jugoslawiens somit von einer schrittweisen Differenzierung bei der Feststellung des Verursachers der Friedensbedrohung und damit des Adressaten der Zwangsmaßnahmen gekennzeichnet. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Reaktion des SR auf die Offensive Kroatiens zur Rückeroberung der serbisch besetzten Krajina im August 1995. Hier jedoch beschränkte sich der SR in SR-Res. 1009 (1995) auf eine politische Verurteilung des kroatischen Vorgehens;278 Maßnahmen nach Kapitel VII wurden gegen Kroatien dagegen nicht eingeleitet. Ende 1995 wurden schließlich in Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton279 die Maßnahmen gegen Restjugoslawien - und unter gewissen weiteren Voraussetzungen auch gegen die bosnischen Serben - aufgehoben. 280
(8) Somalia Der Bürgerkrieg in Somalia, begleitet von einem fast vollständigen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung und einer Hungerkatastrophe unter der Zivilbevölkerung hat den SR auch in diesem Land zu einer Intervention veranlaßt. 281 Mit SR-Res. 733 (1992) verhängte der SR zunächst ein allgemeines Waffenembargo gegen das Land; dabei stützte er sich ausdrücklich auf Kapitel VII der Charta. Problematisch an der Resolution ist jedoch, daß - wie in SRRes. 713 (1991) im Fall des ehemaligen Jugoslawiens - an keiner Stelle die
275 Vgl. Teil B, Abs. 12 der Resolution. 276 Abs. 6ff. der Resolution. 277 Die Resolution wurde verlängert durch Res. 970, 988 und 1003 (1995). 278 Vgl. Abs. 7 der Präambel der Resolution: "Entschieden mißbilligend, daß die Regierung der Republik Kroatien am 4. August 1995 eine großangelegte militärische Offensive eingeleitet und somit eine unannehmbare Eskalation des Konflikts herbeigefUhrt hat, mit dem Risiko weiterer Folgeangriffe irgendeiner Partei". 279 S.o. I. Teil, Fn. 80. 280 Vgl. SR-Res. 1021 und 1022 (1995). 281 Für einen Überblick vgl. YUN 46 (1992), 198ff.; Hutchinson, HILI 1993, 624ff.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Feststellung der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN erfolgt;282 statt dessen wird in einer aufgeweichten Fonnulierung lediglich das "Fortbestehen der Situation in Somalia" zur Friedensbedrohung erklärt. 283 In der Folge beschloß der SR mit SR-Res. 751 (1992) die Errichtung einer Operation der VN in Somalia (UNOSOM),284 deren vorrangige Zielsetzung die Leistung humanitärer Hilfe an die notleidende Bevölkerung war. Als sich jedoch herausstellte, daß die Hilfslieferungen durch Angriffe bewaffueter Banden erheblich behindert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wurden, kam es zur Annahme von SR-Res. 794 (1992), in der der SR feststellte, "daß das Ausmaß der durch den Konflikt in Somalia verursachten menschlichen Tragödie, die noch weiter verschärft wird durch die Hindernisse, die der Verteilung der humanitären Hilfsgüter in den Weg gelegt werden, eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstellt"285. Diese Fonnulierung der Feststellung einer Friedensbedrohung ist ebenso neuartig wie die vom SR angeordneten "humanitären Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta,,;286 zum ersten Mal ist hier eine Feststellung nach Art. 39 ChVN nahezu ausschließlich am Schicksal der Zivilbevölkerung orientiert worden. 287 Die Intervention der Vereinten Nationen in Somalia endete insgesamt jedoch in einem Mißerfolg; am 3. März 1995 zogen die letzten Truppen ab, ohne die Befriedung des Landes erreicht zu haben. 288
(9) Libyen Am 27. November 1991 veröffentlichten die Regierungen Groß-Britanniens und der Vereinigten Staaten eine gemeinsame Erklärung, in der sie Libyen zur Auslieferung der des Anschlags auf die bei Lockerbie abgestürzte Boeing 747 Verdächtigten sowie zur Zahlung von Schadensersatz aufforderten. 289 Nach282 Gaja, RGDIP 1993, 305; Kirgis, AJIL 1995,513.
283 284 285 286
Abs. 4 der Prämbel der Resolution. Diese Aktion wurde durch SR-Res. 814 (1993) später zu UNOSOM 11 erweitert. Abs. 3 der Präambel der Resolution. S. dazu o. S. 48. 287 Gaja, RGDIP 1993,305; Worku, S. 33; Hutchinson, HILJ 1993, 632ff.; Greenwood, EA 1993, 101; einschränkend jedoch Sorel, AFDI 1992, 78; Kimminich, AVR 1995, 452f. 288 AdG 1995, 39786. 289 Vgl. S/23307, SCOR, 47th year, 8; S/23308, SCOR, 47th year, 2: "The British and American Govemments today decJare that the govemment of Libya must: - Surrender for trial all those charged with the crime and accept complete responsibility for the actions of Libyan officials;
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
175
dem auch der SR mit der Angelegenheit befaßt worden war, forderte er Libyen durch SR-Res. 731 (1992) vom 21. Januar 1992 zunächst unverbindlich auf, diesen Forderungen Folge zu leisten. Als Libyen dieser Aufforderung nicht nachkam, beschloß der SR am 31. März 1992 SR-Res. 748 (1992), mit der er feststellte, "daß die Tatsache, daß die libysche Regierung ihren Verzicht auf den Terrorismus nicht durch konkrete Maßnahmen unter Beweis gestellt hat und daß sie insbesondere den Ersuchen in Resolution 731 (1992) noch immer nicht voll und wirksam entsprochen hat, eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" darstelle;290 dementsprechend verlangte der SR erneut die Erfllliung der Forderungen Groß-Britanniens und der Vereinigten Staaten und verhängte ein Luftverkehrs- und Waffenembargo nach Kapitel VII der Charta. Diese Feststellung ist in mehrfacher Hinsicht neuartig und bemerkenswert. Zum einen hat in ihr der SR zum ersten Mal ein Problem des internationalen Terrorismus zum Gegenstand einer Feststellung nach Art. 39 ChVN gemacht. Zum anderen hat sich jedoch der SR nicht auf die Feststellung beschränkt, daß ein konkreter terroristischer Akt eine Friedensbedohung darstelle, sondern hat darüber hinausgehend auch das Ausbleiben konkreter Maßnahmen seitens des betroffenen Staates, insbesondere die Nichtauslieferung der Verdächtigen sowie wohl auch die Verweigerung der Leistung von Schadensersatz, in die Friedensbedrohung mit einbezogen. Als Folge dieser Handhabung des Art. 39 ChVN hat der SR faktisch eine weitreichende Regelungskompetenz in Anspruch genommen, deren Problematik noch nachzugehen sein wird. 291
(10) Liberia Seit dem Sturz des Präsidenten Samuel Doe tobt in Liberia ein Bürgerkrieg, der auch durch das Eingreifen der Economic Community ofWest African States (ECOW AS) und die Entsendung einer Friedenstruppe (Economic Community
- Disclose all it knows ofthis crime, including the names ofall those responsible, and allow full access to all witnesses, documents and other material evidence, incIuding all the remaining timers; - Pay appropriate compensation." Näher zu den Hintergründen dieses Falls, insbesondere auch in Bezug auf das Verfahren vor dem IGH, s.o. S. 21ft". 290 Abs. 7 der Präambel; fUr den englischen Wortlaut der Feststellung vgl. Einleitung, Fn. 16. 291 S.u. S. 254ft".
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Monitoring Group, ECOMOG) nicht beendet werden konnte. 292 Dieser Konflikt veranlaßte daher den SR, mit SR-Res. 788 (1992) ein Waffenembargo auch gegen dieses Land zu verhängen; bei der Feststellung der Friedensbedrohung bediente er sich dabei, wie schon in den Fällen des ehemaligen Jugoslawiens und Somalias, einer etwas abgemilderten Formulierung. 293 Zu weiteren Maßnahmen nach Kapitel VII kam es trotz Fortdauer des Konflikts nicht.
(l J) Haiti
Von besonderem Interesse ist im Hinblick auf Art. 39 ChVN auch das Tätigwerden des SR im Zusammenhang mit dem Konflikt um die Wiedereinsetzung des demokratisch gewählten Präsidenten von Haiti, Aristide. 294 Dieser war am I. Oktober 1991 kurz nach seinem Amtsantritt durch einen Militärputsch gestürzt und außer Landes getrieben worden; im Anschluß an die hierauf folgenden politischen Wirren kam es zu einem beachtlichen Flüchtlingsstrom aus Haiti, der insbesondere die Vereinigten Staaten über ihre Militärbasis Guantanamo auf Kuba betraf. 295 Als Antwort auf den Staatsstreich verhängte zunächst die OAS ein Ölembargo gegen Haiti; dieses erwies sich jedoch aufgrund seiner mangelnden Universalität als weitgehend unwirksam. Daher wurde schließlich mit SR-Res. 841 (1993) der SR selbst tätig, nachdem er hierzu von dem ständigen Vertreter der legitimen Regierung Haitis bei den VN aufgefordert worden war. 296 In dieser Resolution stellte der SR bezüglich der Situation in Haiti fest, "that, in these unique and exceptional circumstances, the continuation ofthis situation threatens international peace and security in the region"297. Obwohl diese Formulierung denkbar unklar gehalten ist und einer Feststellung im Sinne des Art. 39 ChVN kaum entspricht, verhängte der SR unter ausdrück-
292 Vgl. YUN 46 (1992), 195ff. 293 Vgl. Abs. 5 der Präambel der Resolution: "Determining that the deterioration of the situation in Liberia constitutes a threat to international peace and security, particularly in West Africa as a whole". Dazu auch No/te, ZaöRV 1993, 634; AdG 1992, 37453f. 294 Vgl. hierzu umfassend AdG 1991,36079. 295 Vgl. AdG 1992, 36431. 296 Darauf bezieht sich auch der SR selbst, vgl. die Abs. 1 und 13 der Präambel der Resolution. 297 Abs. 14 der Präambel der Resolution.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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licher Bezugnahme auf Kapitel vn298 ein verbindliches Embargo auf die Lieferung von Öl und Waffen an Haiti. 299 Unter dem Eindruck dieser Maßnahmen kam es zu Verhandlungen zwischen den beteiligten Parteien, die schließlich in das sog. Abkommen von Governor's Island über die Rückkehr des Präsidenten Aristide und den Übergang zum verfassungsmäßigen Zustand mündeten; im Gegenzug suspendierte der SR durch SR-Res. 861 (1993) die von ihm zuvor verhängten Zwangsmaßnahmen. 300 Binnen kurzem kam es jedoch zu Schwierigkeiten und Verzögerungen bei der Umsetzung des Abkommens, die Zweifel an der Vertragstreue der haitianischen Militärfilhrung weckten. 301 Als Ergebnis hob der SR daher die Suspendierung der Zwangsmaßnahmen wieder aufS 02 und weitete diese schließlich durch SRRes. 917 (1994) zu einem vollständigen Handelsembargo aus. Die Intervention des SR erreichte ihren Höhepunkt in SR-Res. 940 (1994), in der der SR feststellte, der "einzigartige Charakter" der Situation in Haiti mache eine "außergewöhnliche Antwort" erforderlich303 und daher die Mitgliedstaaten zum Einsatz "aller notwendigen Mittel" ermächtigte, um den Abtritt der Militärregierung zu erreichen. Noch vor Ablauf des hiermit verbundenen Ultimatums und unter dem Druck einer drohenden Invasion lenkte die haitianische Militärftlhrung schließlich ein und ermöglichte die unblutige Besetzung des Landes durch US-amerikanische Truppen. 304 Nach der hierauf folgenden Rückkehr des Präsidenten Aristide hob der SR alle Zwangsmaßnahmen gegen Haiti auf. 305 Vordergründig betrachtet war Haiti sicherlich der größte Erfolg fllr den SR seit Ende des zweiten Golfkrieges; Wert und Bedeutung dieses Erfolges fllr die zukünftige Praxis des SR sind allerdings schwer einzuschätzen. Dazu trägt insbesondere die Nachhaltigkeit bei, mit der der SR den "außergewöhnlichen" und "einzigartigen" Charakter der Situation in Haiti betonte. 306 Offenkundig sollte jede Präzedenzwirkung fllr andere Fälle vermieden werden; dies wurde auch noch einmal ausdrücklich in einer Erklärung des Präsidenten des SR zu SR-Res.
298 Abs. 15 der Präambel der Resolution. 299 Abs. 5 der Resolution. 300 Hierzu AdG 1993, 38029. 301 So wurde zum Beispiel die Landung einer Beobachtermission im Hafen von Port-au-Prince gewaltsam verhindert, AdG 1993,38345. 302 SR-Res. 873 (1993). 303 Abs. 2 der Resolution. 304 AdG 1994, 39327ff. 305 SR-Res. 944 und 948 (1994). 306 Vgl. insbesondere die Resolutionen 841 (1993) und 940 (1994). 12 Martcnczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
841 (1993) klargestellt. 307 Festzuhalten bleibt, daß der SR im Falle Haitis zum ersten Mal die Verfassungswidrigkeit eines Regimes zum Anlaß seines Einschreitens genommen hat; damit hat er absolutes Neuland beschritten. 308
(12) Angola Nach langem Bürgerkrieg war es in Angola im Jahr 1992 endlich zu freien Wahlen unter Beteiligung sowohl der Regierungsparteien als auch der Rebellenbewegung UNITA gekommen. 309 Nachdem die Regierungsparteien die erste Runde der Wahlen, die von internationalen Beobachtern weitgehend als fair und korrekt bezeichnet worden waren, unverhofft gewonnen hatten, nahm die UNITA den bewaffneten Kampf jedoch wieder auf. Das hieraus resultierende erneute Aufflammen des Bürgerkriegs veranlaßte den SR, die von dem Verhalten der UNIT A hervorgerufene Situation in SR-Res. 864 (1993) als Friedensbedrohung zu bezeichnen310 und zu bestimmen, daß Öl und Waffen nur noch an durch die angolanische Regierung zu bezeichnende Stellen geliefert werden dUrften; hierdurch sollte verhindert werden, daß Lieferungen an die UNITA gelangen könnten. Bemerkenswert an dieser Resolution ist vor allem die Tatsache, daß hier der SR zum ersten Mal Zwangsmaßnahmen von Anfang an gezielt nur gegen eine nichtstaatliche Bürgerkriegspartei und nicht gegen einen Staat im ganzen verhängt hat. 311
(13) Ruanda Am 6. April 1994 kam der Staatspräsident Ruandas, Habyarimana, beim Abschuß seines Flugzeugs ums Leben. 312 In der Folge brach der bereits seit längerem schwelende Bürgerkrieg in Ruanda mit voller Härte aus; dabei kam es zu ethnisch motivierten Massakern größten Ausrnasses an der Zivilbevölkerung. 313 307 SIPV. 3238, SCOR, 3238th meeting, 9, 20f. (1993). Hierzu auch Freudenschuß, AulPIL 1993, 26f.; Corten, EJIL 1995, 128f. 308 Einen geflihrlichen Präzedenzfall sieht hierin Falk, HILJ 1995, 341; zurUckhaltender Corten, EJIL 1995, 131. 309 Zum Hintergrund s. AdG 1992, 37244; YUN 47 (1993), 246ff. 310 Teil B, Abs. 4 der Präambel: "Determining that, as a result of UNITA's military actions, the situation in Angola constitutes a threat to international peace and security". 311 Vgl. AdG 1993,38199. 312 Hierzu AdG 1994,38835; zur Vorgeschichte Mouton, AFDI 1994, 214ff. 313 Vgl. AdG 1994, 38835ff.; 3897Iff.; 39048f.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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Daraufhin stellte der SR in SR-Res. 918 (1994) fest, die Situation in Ruanda stelle eine Bedrohung ftlr den Frieden dar,314 und verhängte ein Waffenembargo nach Kapitel VII der Charta. Diese Feststellung einer Friedensbedrohung in SR-Res. 918 (1994) gründete sich insbesondere auf die humanitäre Situation in Ruanda, wie aus der Präambel der Resolution deutlich wird, in der der SR die Lage in Ruanda als "humanitäre Krise von ungeheurem Ausmaß" bezeichnet31S und zudem auf die Strafbarkeit des Völkermordes als internationales Verbrechen hinweist. 316 Diese humanitäre Zielrichtung des Tätigwerdens des SR wird noch deutlicher in SR-Res. 929 (1994),317 in der der SR feststellte, "daß das Ausmaß der humanitären Krise in Ruanda eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit in der Region"318 darstelle, und auf dieser Basis eine einzelstaatliche Militäraktion Frankreichs zu humanitären Zwecken genehmigte. 319 Im gleichen Atemzug betonte der SR jedoch, daß es sich um einen einmaligen Fall handele, der dringende Maßnahmen der Staatengemeinschaft erforderlich mache;320 selbst hier zeigt sich somit wieder eine gewisse Vorsicht des SR bei der Einordnung humanitärer Belange unter die Tatbestände des Art. 39 ChVN.
bb) Unterbliebene Feststellungen: einige Beispiele Im allgemeinen ist es wenig aussichtsreich, Aufschluß über die Reichweite der Kompetenzen des SR aus jenen Fällen zu gewinnen zu versuchen, in denen dieser gerade keine Feststellung nach Art. 39 ChVN getroffen hat. Die Lähmung des SR durch das Vetorecht der Supermächte brachte es mit sich, daß eine Vielzahl von Konflikten - genannt seien hier nur die sowjetische Blockade Berlins, die Kubakrise, der Vietnamkrieg oder der sowjetische Einmarsch in Afghanistan - ohne eine Antwort der VN blieben, obwohl an ihrem friedensstörenden oder friedensgeflihrdenden Charakter kein vernünftiger Zweifel bestehen konnte. Es gab jedoch auch einige Fälle, in denen sich eine ernsthaftere Diskussion im SR um die Anwendbarkeit des Kapitels VII der Charta entspann; auf diese soll daher in der Folge eingegangen werden. 314 Teil B, Präambel: "Detennining that the situation in Rwanda constitutes a threat to peace and security in the region". 315 Abs. 7 der Präambel. 316 Abs. 9 der Präambel. 317 Kimminich, AVR 1995, 448f. 318 Abs. 10 der Präambel. 319 Abs. 3 der Resolution; hierzu auch Mouton, AFDI 1994, 220ff. 320 Abs. 9 der Präambel. 12"
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
(1) Die spanische Frage
Ein interessantes Beispiel ist die Behandlung der sogenannten spanischen Frage durch den SR.321 Im April 1946 hatte Polen einen Resolutionsentwurf eingebracht, nach dem die Existenz und die Aktivitäten des spanischen Regimes unter General Franco zu einer Friedensbedrohung erklärt und alle Mitgliedstaaten zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Spanien aufgefordert werden sollten. Hintergrund war vor allem der Wunsch, nach Ende des zweiten Weltkrieges nun auch noch die letzte Bastion des Faschismus in Europa zum Einsturz zu bringen; daneben wurde verwiesen auf gewisse Spannungen im Verhältnis zwischen Spanien und Frankreich, die letzteres bereits zur zeitweiligen Schließung der Grenze veraniaßt hatten. Im SR bestanden jedoch Zweifel, ob die bloße Existenz eines politischen Regimes schon als Friedensbedrohung angesehen werden könne. Die Frage wurde daher an ein eigens gebildetes Subkomitee überwiesen,322 das schließlich in seinem Bericht323 zu dem Ergebnis kam, Art. 39 ChVN erfasse nur unmittelbar bevorstehende Friedensbedrohungen ("imminent threats to the peace"), nicht auch bloß potentielle; es liege daher lediglich eine Situation vor, deren Fortdauer die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte, d.h. eine Situation im Sinne des Kapitels VI der Charta. 324 Schon bei der Diskussion im Subkomitee wurden allerdings Zweifel an dieser Auslegung laut. Art. 39 ChVN eröffne dem SR auch präventive Kompetenzen; gerade angesichts der geringen Intensität der Maßnahmen nach Art. 41 ChVN, deren Erfolgsaussichten bei aktuellen Friedensbrüchen ohnehin eher gering seien, müsse der SR befugt sein, auch bloß potentiellen Friedensbedrohungen zu begegnen.325 Im Ergebnis wurde jedoch der polnische Resolutionsentwurf mit sieben zu vier Stimmen abgelehnt; zu Maßnahmen nach Kapitel VII kam es daher nicht. 326
321 S/32, S/43, SCOR, Ist year, Ist. ser., suppt. no. 2, 54f. (1946); vgt. hierzu auch RoP, Bd. 2, S. 352ff.; Kahng, S. 36ff.; Luard, S. 362f. 322 SR-Res. 4 (1946). 323 S/75, SCOR Ist year, Ist ser., spec. suppt. (1946). 324 A.a.O., 8ff. 325 SCOR, Ist year, Ist ser., 45th meeting, 336ff. (1946). 326 SCOR, Ist year, Ist ser., 48th meeting, 388 (1946).
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
181
(2) Der Fall der US-Geiseln in Teheran Ein weiterer Beispielsfall ist auch die Behandlung der Frage der in Teheran festgehalten US-Geiseln. Während der iranischen Revolution im Jahr 1979 war es mit Duldung oder sogar Unterstützung der iranischen Revolutionsregierung zur Erstürmung der Botschaft der Vereinigten Staaten in Teheran gekommen;327 das diplomatische und konsularische Personal wurde als Geisel festgehalten, um die Vereinigten Staaten zur Auslieferung des geflohenen Schah zu veranlassen. Nachdem der SR mit diesem gravierenden Verstoß gegen die Unverletzlichkeit diplomatischer und konsularischer Vertretungen und ihres Personals befaßt worden war, verabschiedete er zunächst eine Resolution, in der er die Geiselnahme verurteilte und filr den Fall ihrer Fortsetzung mit Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta drohte. 328 Als jedoch die Entscheidung über Zwangsmaßnahmen anstand, erhob der sowjetische Delegierte Bedenken mit dem Argument, die Situation habe noch nicht die Qualität einer aktuellen Friedensbedrohung erreicht; zudem gehe diese höchstens von den USA selbst aus. 329 Die Sowjetunion stimmte daher gegen einen Resolutionsentwurf, der umfangreiche nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen gegen Iran vorgesehen hatte; wegen des sowjetischen Vetos unterblieben alle Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta. 330
cc) Wertung Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß sich der SR in seiner Praxis zu Art. 39 ChVN stets in starkem Maße an dessen Tatbeständen orientiert hat. In keinem der Fälle, in denen es zu einem Tätigwerden des SR nach Kapitel VII gekommen ist, hat es der SR versäumt, darzulegen, von welchem der Tatbestände des Art. 39 ChVN er ausging und aufgrund welcher Tatsachen diese Entscheidung erfolgte. Dabei waren die Feststellungen umso differenzierter und eingehender, je weiter die jeweilige Konfliktsituation noch von der eines aktuellen Friedensbruchs entfernt war. Häufig in solchen Fällen hat der SR eine wenigstens mittelbare Gefahr internationaler Gewaltanwendung zu begründen
327 Vgl. hierzu auch die Entscheidung des lOH im Teheran-Fall, ICJ Rep. 1980,3, 28ff. 328 SR-Res. 461 (1979) und hier insb. Abs. 6 der Resolution. 329 SIPV. 2191, SCOR, 35th year, 2191st meeting, 2 (1980); dazu auch Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 22. 330 Vgl. dazu Reisman, AJIL 1980, 904ff.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
versucht;331 wo auch dies nicht gelang, zog er sich in einer etwas bedenklich stimmenden Weise auf die Behauptung zurück, die "Einzigartigkeit" einer Situation rechtfertige die Annahme einer Friedensbedrohung und ein Tätigwerden nach Kapitel VII.332 Auch die Beispielsfälle der spanischen Frage und der US-Geiseln in Teheran belegen, daß Entscheidungen über Feststellungen nach Art. 39 ChVN im SR keineswegs ohne Auseinandersetzung mit den Tatbestandsmerkmalen dieser Vorschrift erfolgen. Zwar ist die Behandlung der spanischen Frage in verfahrensmäßiger Hinsicht ohne Wiederholung geblieben. 333 Es hat sich jedoch gezeigt, daß selbst bei offenkundig politischer Determinierung der jeweiligen Positionen - wie etwa der Sowjetunion im Teheran-Fall - die Argumentation stets am Wortlaut des Art. 39 ChVN orientiert bleiben muß. Es ist somit im Hinblick auf Art. 39 ChVN zu weitgehend, wenn vertreten wird, der SR habe "jamais lu la Charte avec des lunettes de notaire, voire de juge ou d'avocat"334. Es ist richtig, daß der Begriff der Friedensbedrohung bei Einigkeit im SR teilweise "außerordentlich weit verstanden werden kann"335. Aber das heißt nicht, daß sich der SR in seiner Praxis zu Art. 39 ChVN in einem reinen Dezisionismus ergangen hätte. Vielmehr zeigt auch seine Praxis bei aller Uneinheitlichkeit im einzelnen - ein Bemühen um rationale und normative Kriterien, anband derer die Reichweite der Befugnisse nach Kapitel VII bestimmt werden kann; und hierbei kommt den Merkmalen des Art. 39 ChVN entscheidende Bedeutung zu.
b) Stellungnahmen internationaler Gerichte
aal Die Anordnungen des IGH im Fall Lockerbie Der IGH hat bislang noch keine Gelegenheit gehabt, abschließend zur Frage der Bedeutung und Reichweite der Feststellungsbefugnis des SR nach Art. 39 ChVN Stellung zu nehmen. Im Fall Lockerbie konnte der IGH im Rahmen des Verfahrens nach Art. 41 I IGH-Statut von einer endgültigen Klärung der Frage 331 So z.B. im Fall Südrhodesiens, Südafrikas und wohl auch Libyens. 332 So insbesondere im Fall Haitis, aber (unnötigerweise, s.u. S. 228ff.) auch in den
Fällen Somalias und Ruandas. 333 Kahng, S. 93f. 334 Sur, AFDI 1991, 120. 335 Frowein in Simma. Art. 39, Rn. 21; ebenso Stein, AVR 1993, 222f.; Ipsen, VN 1992,42.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
183
der Gültigkeit von SR-Res. 748 (1992) absehen;336 Art. 39 ChVN fmdet dementsprechend in den Anordnungen des Gerichtshofs überhaupt keine Erwähnung. Auch in den Sondervoten der Richter gehen die AusfUhrungen, soweit die Frage angesprochen wird, meist nicht über tastende Ansätze hinaus. 337 Lediglich in den abweichenden Meinungen der Richter Bedjaoui und Weeramantry finden sich etwas eingehendere Ausfllhrungen. Ausgehend von einer strikten Trennung der richterlichen Funktion des IGH und der politischen Funktion des SR338 schreibt etwa Bedjaoui: 339 "De meme, on ne voyait pas comment le Conseil de securite pouvait etre censure pour etre passe du chapitre VI avec la resolution 731 (1992) au chapitre VII avec la resolution 748 (1992) et pour avoir ainsi qualifie discretionnairement une situation comme susceptible de menacer la paix et la securite internationales." Er erinnert zwar an die Kritik, die - insbesondere im Namibia-Fall - gegen ein zu weites Verständnis der Kompetenzen des SR vorgebracht wurde,340 fährt dann aber fort: 341 "Mais en la presente circonstance, comment la cour, qui n'est pas saisie du differend plus large, peut elle contester que le Conseil de securite est maitre de la qualification des situations internationales et qu'il peut se placer sur le terrain du chapitre VII de la Charte, meme s'il peut paraitre deroutant a plus d'un que l'horrible attentat de Lockerbie est vue aujourd'hui comme une menace pressante a la paix internationale alors qu'il s'est produit il y a plus de trois ans?" Man kann hier ein beträchtliches Unbehagen bezüglich der Art und Weise der Anwendung des Kapitels VII durch den SR feststellen; zugleich zeigt sich jedoch auch ein gewisses Maß an Resignation im Hinblick auf mögliche Grenzen der Feststellungsbefugnis des SR. Ähnlich argumentiert insofern Richter Weeramantry in seiner abweichenden Meinung. Er betont zunächst die Bindung aller Organe an die Charta;342 die Kompetenzen des SR seien bei aller Weite gern. Art. 24 11 1 ChVN durch die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen begrenzt. 343 Was aber aus dieser Grenze konkret fUr Art. 39 ChVN zu folgern wäre, bleibt unklar, insbesondere da Weeramantry in der Folge ausft1hrt: 344
336 337 338 339 340 341 342 343 344
Dazu o. S. 21ff. Vgl. die bereits zitierte sep. op. des Richters Shahabuddeen, o. S. 23f Diss. op. Bedjaoui, ICJ Rep. 1992, 33, 34. Aa.O., 42; Hervorhebung vom Verf. A.a.O., 42f. Aa.O., 43; Hervorhebungen im Original. Diss. op. Weeramantry, ICJ Rep. 1992, 50, 56. Aa.O., 61, 65; zu dieser Grenze vgl. allerdings schon o. S. 154ff. Aa.O., 66, Hervorhebung vom Verf.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
However, once we enter the sphere of Chapter VII, the matter takes on a different complexion, for the determination under Article 39 of the existence of any threat to the peace, breach of the peace, or act of aggression, is one entirely within the discretion ofthe Council. It would appear that the Council and no other is the judge ofthe existence of the state of affairs which brings Chapter VII into operation. That decision is taken by the Security Council in its own judgment and in the exercise of the Juli discretion given to it by Article 39." Von irgendwelchen Grenzen des Ermessens des SR ist hier keine Rede mehr; die Argumentation ist damit aber auch nicht frei von einer gewissen Widersprüchlichkeit. Es überzeugt nicht, wenn auf einer allgemeinen Ebene die Rechtsbindung des Rates betont wird, nur um dann der alles entscheidenden Frage der Reichweite und Grenzen der Feststellungsbefugnis des SR nach Art. 39 ChVN mit Resignation zu begegnen. Allerdings darf man diese Aussagen in den Sondervoten auch nicht überbewerten; sie tragen einen vorläufigen Charakter und sind zudem auch vereinzelt geblieben. Insgesamt muß man daher festhalten, daß die Anordnungen des IGH im Fall Lockerbie keine neue Klarheit in die Diskussion um die Bedeutung des Art. 39 ChVN haben bringen können;345 sie manifestieren vielmehr die Unsicherheit, die auch im Gerichtshof in dieser Frage bestand.
bb) Die Bosnien-Entscheidungen des IGH Wenig Neues erbrachten hinsichtlich der Auslegung des Art. 39 ChVN auch die zwei Anordnungen des IGH im Rechtsstreit zwischen Bosnien-Herzegowina und Restjugoslawien. 346 Der IGH selbst vermied jegliche Stellungnahme zur Möglichkeit einer Überprüfung von SR-Res. 713 (1991).347 Der Richter Ajibola hielt in seinem Sondervotum zur zweiten Anordnung des IGH zwar jede Rechtskontrolle der Resolution rur ausgeschlossen, stützte sich dabei aber mehr auf prozessuale Erwägungen, ohne auf Art. 39 ChVN auch nur einzugehen. 348 Richter ad hoc E. Lauterpacht vertrat, der SR sei bei seinen Feststellungen nach Kapitel VII zwar nicht von allen rechtlichen Bindungen frei, aber auch der IGH sei in seiner Kontrollfunktion beschränkt. 349 Wie aber dieses Spannungsverhältnis aufzulösen wäre, ergibt sich aus dem Sondervotum nicht.
345 346 347 348 349
Vgl. ebenso Reisman, AJIL 1993, 94. ICJ Rep. 1993, 3ff.; 325ff.; zu diesem Fall auch schon o. S. 24ff. Vgl. o. S. 25. Sep. op. Ajibola, ICJ Rep. 1993, 390, 405f. Sep. op. E. Lauterpacht, ICJ Rep. 1993, 407, 439.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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cc) Die Kompetenzentscheidung des Jugoslawien-Tribunals Erwähnt werden muß an dieser Stelle noch die Entscheidung des Internationalen Jugoslawien-Tribunals im Fall Prosecutor v. Tadic vom 2. Oktober 1995.350 In dieser Entscheidung hatte sich das Tribunal mit Einwänden der Verteidigung auseinanderzusetzen, die unter anderem die Frage betrafen, ob das Gericht durch den SR überhaupt rechtmäßig errichtet worden war. Nachdem das Tribunal zunächst seine Kompetenz-Kompetenz zur Entscheidung dieser Frage bejaht hatte,351 ging es auch auf die Rechtsgrundlagen der konstitutiven Resolutionen des Sicherheitsrats ein. Dabei ftlhrte es aus, der SR habe im Rahmen des Art. 39 ChVN ein weites Ermessen, das jedoch nicht grenzenlos sei;352 der SR müsse sich bei der Feststellung einer Friedensbedrohung stets im Rahmen der Ziele und Grundsätze der Charta halten. 353 Das Gericht konnte jedoch offenlassen, wie diese Grenzen im einzelnen zu ziehen wären, da es sich bei dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien bereits um einen bewaftheten Konflikt und mithin nicht mehr um eine bloße Bedrohung des Friedens gehandelt habe. Auch im internationalen Charakter des Konflikts sah das Gericht kein Problem, da nach der Praxis des SR interne Konflikte ebenfalls dem Art. 39 ChVN unterfielen. Auf dieser Grundlage wurde schließlich die Errichtung des Tribunals als nichtmilitärische Zwangsmaßnahme nach Art. 41 Ch VN fUr rechtmäßig erklärt. 354 Zu den besonderen Problemen der Rechtfertigung der Errichtung eines Gerichts aus Art. 41 ChVN soll hier nicht Stellung genommen werden. 355 Bemerkenswert ist die Entscheidung aber schon insofern, als es sich bei ihr um die bislang weitreichendste Stellungnahme eines internationalen Gerichts zu Rechtsnatur und Bedeutung der Feststellungsbefugnis aus Art. 39 ChVN handelt. Gleichwohl sollte die Präzedenzwirkung der Entscheidung nicht überschätzt werden. Dies folgt schon aus der etwas eigentümlichen prozessualen Konstellation, in der das Tribunal letztlich gezwungen war, über die Rechtmäßigkeit seiner eigenen Errichtung zu befinden. Vor allem aber bestand fUr das Gericht angesichts des offen militärischen Charakters der Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien keine Veranlassung, sich wirklich intensiv mit den Grenzen der Feststellungsbefugnis des SR zu befassen. Auf die eigent350 International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, ILM 35 (1996), 32; s. auch schon o. S. 48f. 351 A.a.O.,40f. 352 A.a.O., 42. 353 A.a.O.,43. 354 A.a.O., 45. 355 Dazu schon o. S. 48f.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
lich problematischen Fragen kann daher auch die Kompetenzentscheidung des Jugoslawien-Tribunals keine Antwort geben; auf dem Weg zur Klärung der Reichweite und Grenzen des Art. 39 ChVN ist sie nicht mehr als ein erster Schritt.
c) Der Streitstand in der Literatur Diese Unklarheit in der internationalen Rechtsprechung spiegelt letztlich nur den Streitstand in der Literatur wider. Es ist üblich geworden, dem SR im Rahmen des Art. 39 ChVN pauschal ein "weites Ermessen" oder einen Beurteilungsspielraum zuzusprechen;356 dabei wird aber zumeist weder begründet, woraus sich ein solches Ermessen ergeben soll, noch dessen Reichweite oder eventuelle Grenzen in irgendeiner Weise präzisiert. Jedenfalls diesen letzten Vorwurf vermeidet zwar eine Reihe von Autoren, die Art. 39 ChVN im Sinne einer ausschließlichen, keiner rechtlichen Kontrolle unterliegenden Feststellungskompetenz verstehen. Die Begründungen bleiben allerdings auch hier zumeist recht dürftig; es unterscheiden sich lediglich die Formulierungen, mit denen das "Ermessensmonopol"357 des SR zum Ausdruck gebracht wird. Es wird gesagt, die Feststellungen nach Art. 39 ChVN seien "completely within the discretion of the Security Council"358 und daher "necessarily conclusive and have the nature of fmdings in the legal sense of the word"359. Der SR bewerte die Tatsachen "1\ la maniere d'un juge"360; diese seien daher "authentifies pour tous les etats-membres"361 und hätten "force de verite legale defmitive"362. Die 356 Vgl. Kipp in Strupp/Schlochauer, S. 585; Beyerlin in Wolfrum, S. 724; Bruha in Wolfrum, S. 765; Bedjaoui, S. 67 und in BlokkerlMuller, S. 26; Conforti, S. 175, RdC 197411,210 (Fn. 2), 219 und in R.-J. Dupuy, S. 52; Broms, RdC 1977 I, 369f.; Komarnicki, RdC 1949 11, 82 (der allerdings auf S. 85 wieder davon spricht, auch der IGH habe an der Herausarbeitung der Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN mitzuwirken); Kunz, AJIL 1960, 330; Dominice, SZIER 1995, 425; Arcari, RDI 1992, 958; Marauhn, ZaöRV 1992, 782; Petersmann, ZVglRW 1981, 18; D. L. Johnson, HILJ 1978, 889; Andres Saenz, RED! 1992, 338; Neuhold, S. 113; Schaefer, S. 35; Zack/in, S. 88; Report to the President, S. 91. 357 Bruha, S. 1IOf.; vgl. auch Fink, AVR 1991, 468, der von einem "Auslegungsmonopol" des SR spricht. 358 Kelsen, S. 727; Reisman, AJIL 1993,93; Lapidoth, AVR 1992, 115. 359 Halderman, S. 73; ähnlich auch ders., ICLQ 1968, 702; Goldberg, USDSB 1967. 143. 360 Cohen-Jonathan in Cot/Pellet, S. 651. 361 R. L. Bindschedler, RdC 1963 1,366 sowie FS Wehberg, S. 72. Kaum vereinbar damit ist es allerdings, wenn derselbe Autor die Verhängung von Zwangsmaßnahmen gegen Südrhodesien mit dem Argument kritisiert, die Annahme einer Friedensbedrohung habe "kaum den Tatsachen entsprochen" (vgl. ZaöRV 1968, 10f.).
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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Charta verfolge in Art. 39 ChVN einen "procedural approach"363; die Feststellung des casus foederis in den Vereinten Nationen sei keine Definitions-, sondern eine Verfahrensfrage 364 . Dementsprechend wird auch jede gerichtliche Kontrolle der Feststellungen des SR fiIr ausgeschlossen gehalten; die Entscheidung obliege dem SR "in letzter Instanz"365 und sei "non-reviewable"366. Diese terminologische Vielfalt läßt sich allerdings in einem kurzen Satz auf einen Nenner bringen: "a threat to the peace is whatever the Security Council says is a threat to the peace"367. Einen gegenüber diesen Auffassungen leicht vermittelnden Ansatz verfolgen einige Autoren, die zwar ebenfalls grundsätzlich von einem Ermessen des SR ausgehen, zugleich aber gewisse Grenzen zu formulieren versuchen. Es wird gesagt, der SR dürfe bei seinen Feststellungen nicht willkürlich handeln;368 "arbitrary or spurious decisions" seien unzulässig. 369 Andere sehen die hauptsächliche Grenze fiIr den SR gern. Art. 24 11 1 ChVN in den Zielen und Grundsätzen der VN.370 Das Problem hierbei ist jedoch, daß die AusfUhrungen auch insofern meist über wenige Worte nicht hinausgehen; die praktische Bedeutung der angenommenen Grenzen der Feststellungsbefugnis des SR bleibt daher völlig im Dunkeln. Teilweise wird die praktische Bedeutungslosigkeit der 362 Combacau, S. 54; ähnlich Rambaud, RGDIP 1976, 846, der den konstitutiven Charakter der Feststellung des SR betont; Herdegen, VandJTL 1994, 152; Dicke/Rengeling, S. 60, 82; Ferencz, Bd. 2. S. 45; ebenso wohl auch Fenwick, AJIL 1967, 755, der die Feststellung des SR trotz aller Kritik rur "final" hält. 363 Delbrück, EPIL 3, I I I; vgl. auch Herdegen, FS Bernhardt, S. I I I f, der von einem "prozeßhaften Charakter" der FesteIlung nach Art. 39 ChVN spricht. 364 Vgl. Norton, VaJIL 1987, 472f; Chayes, S. 85 (gleichermaßen zu Art. 6 RioVertrag und Art. 39 ChVN argumentierend). Letzterer hat seine Auffassung zu Art. 39 ChVN allerdings später revidiert, vgl. CLR 1985, 1475. 365 Kewenig, FS Scheuner, S. 282. 366 Higgins, ICLQ 1968,80, The World Today, 1967, 101, und PASIL 1970,46; Fawcett, BYIL 1965/66, 116ff.; Ruzii, S. 87 und JOl 1970, 37; Keith, S. 76ff.; ebenso wohl auch Klein, FS Mosler, S. 484. Ähnlich schon Wilhelm Wengier in seinen Berichten rur das Institut de Droit International (s. l. Teil, Fn. 138), der selbst de lege ferenda eine gerichtliche Kontrolle der Feststellungen nach Art. 39 ChVN rur unvereinbar mit den Funktionen des SR hält (AlDI 44 I [1952], 224, 235f.; 45 I [1954], 265, 276); in der Resolution des Instituts fand die Frage allerdings keine Erwähnung (AIDI 4711 [1957],476). 367 Akehurst, S. 219; Dinstein, S. 258; ebenso auch Combacau, S. 100. 368 Gaja, RGDIP 1993, 315; ähnlich Stein, AVR 1993, 223. Vgl. auch Andres Saenz, REDi 1992, 338, die vom SR eine objektive Einschätzung der Situation verlangt. 369 McDougal/Reisman, AJIL 1968,9. 370 Gowlland-Debbas, S. 45lf. und ICLQ 1994,91; Degni-Segui in CotlPellet, S. 460, 462f.; Abellan Honrubia, FS Diez de Velasco, S. 13; Fakher, S. 70; Zourek, AFOl 1974,23.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Grenzen sogar ausdrücklich zugestanden; die einzige effektive Grenze sei das Vetorecht. 37 ! So verstanden, läuft auch dies Auffassung auf ein Feststellungsmonopol hinaus; die Unterschiede sind bloß noch terminologischer Natur. Insgesamt ist in der Literatur eine erhebliche Abneigung gegen eine Auseinandersetzung mit den konkreten Tatbestandsmerkmalen des Art. 39 ChVN zu verspüren. Man geht so weit, eine Definition gar fllr "unmöglich" zu halten; dem Urteil des SR wird daher "entscheidende Bedeutung" zugesprochen. 372 Nur vereinzelt wird den Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 39 ChVN eine eigenständige Bedeutung zugestanden. Ein Ermessen habe der SR nur bezüglich der Tatsachenfeststellungen;373 die Tatbestandsmerkmale seien im übrigen unbestimmt und wertausfllllungsbedürftig, deswegen aber einer juristischen Definition noch nicht entzogen. 374 Wirklich versucht wird eine solche Defmition allerdings nur selten. Eine frühe Ausnahme ist die ausfllhrliche Arbeit von Arntz zum Begriff der Friedensbedrohung, der allerdings in strikter Anlehnung an das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 ChVN eine sehr enge Defmition vorschlägt, nach der "nur die akute Gefahr, daß physische Gewalt iSd Art. 2 Z. 4 SVN in den internationalen Beziehungen angewendet wird", als Friedensbedrohung anzusehen sein soll.375 Erst in jüngster Zeit fmden sich dagegen Ansätze, die ausgehend von der Nähe der Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung eine vermittelnde Auslegung des Begriffs der Friedensbedrohung versuchen. 376 Insgesamt ist festzustellen, daß die "single most important provision" der Charta eine recht stiefmütterliche Behandlung durch die Literatur erfahren hat. Das kann man nicht allein auf die Lähmung des SR zu Zeiten des kalten Krieges 37! Degni-Segui in CotlPellet, S. 464f. 372 Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 17; diesem folgend Ipsen, VN 1992, 42. 373 Arntz, S. 40; unklar Cavare, RdC 1952 I, 256 und RGDIP 1950, 659f., der zwar einerseits dem SR ein Ermessen nur bezüglich der Tatsachenfeststellung zugestehen will, diesen aber andererseits rur nur an die Ziele und Grundsätze der VN gebunden hält (vgl. RGDIP 1950, 660). 374 Dahm, S. 389, der aber gleichzeitig auch von einem Ermessen des SR spricht; Wengier, S. 23 (Fn. 31). 375 Arntz, S. 64; diesem zustimmend Randelzho/er in DelbTÜck, S. 36 (Fn. 99); Heintze in Heintze, S. 73; ähnlich auch Marschang, KJ 1993,72, der meint, daß Art. 39 ChVN stets ein "bewaffuetes Verhalten" voraussetze. 376 Vgl. Schilling, AVR 1995, 89f.: "[ ... ] eine Bedrohung des Friedens [liegt] immer dann vor, wenn die Gefahr einer internationalen bewaffueten Auseinandersetzung zunimmt"; insofern spricht er dem SR allerdings eine "weitgefaßte Einschätzungsprärogative" zu, ohne dies weiter zu präzisieren. Nach Nowlan, FS Bock, S. 181, kann der SR eine Friedensbedrohung feststellen, "wenn die Gefahr besteht, daß es zu zwischenstaatlichen bewaffneten Auseinandersetzungen kommen wird"; damit wird allerdings kaum eine Klärung der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN erreicht. Ähnlich wie Nowlan auch Gaja, RGDIP 1993,301.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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schieben; denn das rechtliche Potential einer Bestimmung ist unabhängig von zufälligen Machtkonstellationen, die sich in den VN wohl noch mehr als einmal ändern werden. Es wäre allgemein eine wichtige Aufgabe der Literatur, der Praxis des SR gewisse Leitlinien zu geben; gegenwärtig schwankt die Lehre jedoch zwischen einer extrem engen und einer extrem weiten Sicht des Art. 39 ChVN, ohne daß man das Gefllhl hätte, daß die rechtlichen Argumente wirklich ausgeschöpft würden. Die zentrale Frage dabei ist, ob und inwieweit es sich bei der Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN um eine im Ermessen stehende Kompetenz des SR handelt, oder ob den Tatbestandsmerkmalen dieser Bestimmung nicht doch eine eigenständige Bedeutung zukommen muß. Diese Frage ist entscheidend auch filr die Möglichkeiten einer gerichtlichen Kontrolle der Beschlüsse des SR; ihr gilt es sich daher nunmehr zuzuwenden.
2. Ermessensprobleme im Völkerrecht: systematische Klirungen
Ein wesentliches Problem in der bisherigen Diskussion zu Art. 39 ChVN ist die mangelnde Klärung des begrifflichen Instrumentariums gewesen, mit dem sich die Autoren mit der Frage der Reichweite der Kompetenzen des SR auseinanderzusetzen versucht haben. Man spricht davon, der SR habe ein "breites Ermessen"377, einen "erheblichen Beurteilungsspielraum"378, eine "power of appreciation"379 oder ein "pouvoir discretionnaire"380, ohne daß jedoch wirklich klar würde, was mit diesen Begriffen jeweils genau gemeint ist; man spricht dem SR Gestaltungsspielräume zu, ohne die Kriterien offenzulegen, nach denen rechtliche Bindung und Gestaltungsfreiheit abzugrenzen sind; und dort, wo Grenzen des Ermessens angenommen werden, bleibt dunkel, wie eigentlich die Kontrolle ihrer Einhaltung zu erfolgen hätte. An dieser Stelle kann zwar keine allgemeine Ermessenslehre des Völkerrechts begründet werden,381 filr die im gegenwärtigen Völkerrecht die Voraussetzungen wohl noch weitgehend fehlen;382 eine solche kann auch nicht einfach aus dem nationalen öffentlichen Recht übertragen werden. 383 Aber gerade dieser Mangel an allgemeinen Regeln
377 378 379 380
Beyerlin in Wolfrum, S. 724. Petersmann, ZVglRW 1981, 18. Franck, AJIL 1992,519. Rambaud, RGDIP 1977,872.
381 Für Ansätze in diese Richtung vgl. B/eckmann, EuGRZ 1979, 492ft'.; Fawcett,
BYIL 1957, 311ft'.
382 Vgl. o. S. 62. 383 Vgl. o. S. 64ft'.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
macht die Offenlegung des systematisch-begrifflichen Vorverständnisses nur noch dringlicher; dem dienen die folgenden Ausführungen.
a) Ermessen, Beurteilungsspielraum, unbestimmter Rechtsbegriff
Jede Handlungsermächtigung besteht grundsätzlich aus Tatbestand und Rechtsfolge;384 in diesem Rahmen kann das Recht das Handeln von Behörden oder Organen jedoch in unterschiedlich starkem Maße determinieren. Eine erste Form der Lockerung ist hierbei die Einräumung eines Rechtsfolgenermessens, durch welches dem Organ freigestellt wird, ob und wie es bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen tätig werden will. Wichtiger noch im vorliegenden Zusammenhang ist jedoch, daß Abstufungen in der Intensität der rechtlichen Determinierung nicht nur auf der Ebene der Rechtsfolgen, sondern auch auf der Tatbestandsebene denkbar sind. Dabei sind diese Gestaltungsspielräume auf der Tatbestandsebene tendenziell problematischer als solche auf der Rechtsfolgenseite, weil sie zu einer Erweiterung von sachlichen Kompetenzen und nicht bloß zu mehr Flexibilität bei deren Wahrnehmung ftlhren. Hieraus erklärt sich auch, daß etwa das deutsche Verwaltungsrecht bei der Anerkennung von Gestaltungsspielräumen auf der Tatbestandsebene traditionell sehr zurückhaltend ist. 385 Ein Ermessen im eigentlichen Sinne wird überhaupt nur im Rahmen der Entscheidung über die Rechtsfolgen anerkannt; die Tatbestandsvoraussetzungen dagegen unterliegen als sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe grundsätzlich voller gerichtlicher Kontrolle. Nur ausnahmsweise wird - etwa bei besonderer Sachkunde der Verwaltung - ein Beurteilungsspielraum auf Tatbestandsebene anerkannt;386 dieser betriffi dann jedoch nicht die Auslegung der Rechtsbegriffe an sich, sondern nur die Feststellung des Vorliegens ihrer tatsächlichen Voraussetzungen. Diese Systematik von Rechtsfolgenermessen, Beurteilungsspielraum und grundsätzlich voll überprütbarem unbestimmtem Rechtsbegriff ist jedoch eine Eigentümlichkeit des deutschen Verwaltungsrechts, die sich in dieser Strenge in keiner anderen Rechtsordnung wiederfmdet. 387 In der Tat muß man sehen, daß eine volle rechtliche Durchnormierung der Voraussetzungen hoheitlichen Handeins zwar vielleicht aus rechtsstaatlicher Perspektive wünschens-
384 Einen etwas anderen Ansatz verfolgt die Unterscheidung von finaler und konditionaler Programmierung; vgl. hierzu König/Dose in König/Dose, S. 62ff. 385 Vgl. hierzu Ossenbühl in Erichsen, § 10, Rn. 11; Achterberg, § 18, Rn. 33ff. 386 Vgl. Ossenbühl in Erichsen, § 10, Rn. 34ff. 387 Vgl. Oeter in Frowein, S. 269; Schwarze, S. 246; Bullinger, FS Jahrreiß, S. 23; Klinghoffir, Annuario 1968, 20f.
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wert,388 jedoch keineswegs nonnlogisch zwingend ist; ein Tatbestandsennessen im Sinne einer höchstens an allgemeine Grundsätze und Prinzipien, jedoch nicht an konkrete Tatbestandsvoraussetzungen gebundenen Entscheidung ist daher auch im Völkerrecht eine denkbare Gestaltung. Umgekehrt sind aber mit einer Entgegensetzung von Tatbestandsennessen und unbestimmtem Rechtsbegriff auch die denkbaren Abstufungen ftlr das Völkerrecht noch nicht erschöpft. Es darf nicht übersehen werden, daß auch dort, wo die Handlungsennächtigung an konkrete Tatbestandsvoraussetzungen geknüpft ist, deren Feststellung ein komplexer Prozeß bleibt, der sich unterteilt in die Feststellung der Tatsachen einerseits und die "qualification juridique des faits" oder Subsumtion unter die jeweilige Nonn andererseits. Auch bei einer tatbestandlich ausfonnulierten Handlungsennächtigung ist es daher durchaus denkbar, eine volle gerichtliche Kontrolle nur bezüglich der Subsumtion durchzufUhren und die Tatsachenfeststellungen nur eingeschränkt oder gar nicht zu überprüfen. Eine solche Zurücknahme der Kontrolle tatsächlicher Feststellungen ist im nationalen Recht wohl bekannt, obwohl sich allgemeine Regeln insofern nicht nachweisen lassen;389 sie liegt auch der Figur des Beurteilungsspielraums im deutschen Recht zugrunde. Zwar wird teilweise vertreten, der Beurteilungsspielraum sei eigentlich nichts anderes als ein verkleidetes Tatbestandsennessen;390 aber unabhängig von der Berechtigung dieser Kritik an der deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik sollte man nicht übersehen, daß der Beurteilungsspielraum bezüglich der Tatsachenfeststellung durchaus einen eigenständigen Typus rechtlicher Nonnierung darstellt. Sicherlich kann auch eine Einschätzungsprärogative bezüglich der Tatsachen ein erhebliches Maß an Gestaltungsfreiheit mit sich bringen; aber es macht doch einen Unterschied, ob ein Organ in seiner Entscheidung lediglich an mehr oder minder allgemeine Ennessensgrenzen gebunden ist, oder ob es sich an konkret ausfonnulierten Tatbestandsvoraussetzungen zu orientieren hat. Im letzteren Fall kann man zwar auch nicht mehr von einer uneingeschränkten Rechtsbindung sprechen; gleichwohl bleibt die Bindung aber immer noch enger als etwa im Rahmen eines Tatbestandsennessens. Insgesamt ergeben sich somit vom Tatbestandsennessen über den Beurteilungsspielraum bis hin zum unbestimmten Rechtsbegriff durchaus eine Reihe möglicher Abstufungen in der Intensität rechtlicher Bindung auf der Tatbestandsebene; und auf dieser Skala zwischen Ennessensmonopol und uneinge388 Vgl. etwa Bleckmann, S. 66, der auch rur das Völkerrecht fordert, Eingriffsvoraussetzungen müßten immer voll rechtlich überprütbar sein. 389 Näher hierzu u. S. 240ff. 390 Vgl. etwa die Kritik bei Klinghoffer, Annuario 1968, 20f.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
schränkter gerichtlicher Kontrolle muß auch die Feststellungsbefugnis des SR nach Art. 39 ChVN anzusiedeln sein.
b) Ermessensmißbrauch oder Ermessensüberschreitung?
Je nachdem, welches Maß an Gestaltungsfreiheit des SR man anzunehmen bereit ist, stellt sich auch das Problem der gerichtlichen Kontrolle in unterschiedlicher Weise. Gänzlich ausgeschlossen ist sie, wenn man dem SR ein uneingeschränktes Ermessen zuspricht; keinen Beschränkungen unterliegt sie, wenn man eine völlige Rechtsbindung des SR im Rahmen des Art. 39 ChVN annimmt. Problematisch wird die Art und Weise gerichtlicher Kontrolle jedoch im Falle der Annahme begrenzter Ermessens- oder Beurteilungsspielräume. Im nationalen Recht haben sich verschiedene Formen der Ermessenskontrolle herausgebildet, die sich insbesondere dadurch unterscheiden, ob Gegenstand der Kontrolle die subjektiven Motive des Entscheidenden oder der objektive Inhalt der Entscheidung sind. 391 Im ersten Fall kann man von einem Ermessensmißbrauch oder "detournement de pouvoir" sprechen, der dann vorliegt, wenn eine Befugnis zu anderen Zwecken ausgeübt wird als denen, zu deren Verfolgung sie übertragen wurde; im zweiten Fall läßt sich von einer Ermessensüberschreitung im Sinne einer Unvereinbarkeit der Entscheidung mit gewissen objektiven Rechtsgrundsätzen sprechen. Der Ansatzpunkt beider Formen der Kontrolle ist ein grundsätzlich verschiedener. Es genügt daher nicht, wenn etwa einfach die Ziele und Grundsätze der VN als Grenze fUr das Ermessen des SR genannt werden;392 man muß auch sagen, in welcher Weise man ihre Einhaltung zu kontrollieren gedenkt. Im Völkerrecht hat sich bislang noch keine einheitliche Meinung zur Frage der ,?bjektiven oder subjektiven Ausrichtung der Kontrolle von Gestaltungsspielräumen durchgesetzt. Teilweise wird angenommen, eine subjektive Kontrolle sei grundsätzlich auch bezüglich der Rechtsakte internationaler Organisationen möglich; die Figur des "detournement de pouvoir" wäre demnach auch im Recht der internationalen Organisationen relevant. 393 Andere Autoren ste391 Fawcett, BYIL 1957,311. 392 So aber die o. Fn. 370 genannten. 393 Vgl. Fawcett, BYIL 1957,313; Kiss, EPIL 7,1; Jacque, S. 179; ähnlich de lege ferenda Schlochauer, S. 25, der die Übertragung der klassischen Anfechtungsgründe des staatlichen Verwaltungsrechts unter Einschluß des "detournement de pouvoir" auf das Völkerrecht befilrwortet. Ähnlich auch Gowlland-Debbas, ICLQ 1994, 94 und AJIL 1994,663, die gegen Feststellungen nach Art. 39 ChVN den Einwand eines "abuse of rights arising from failure by states to exercise their rights in good faith" filr möglich hält.
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hen einer subjektiv ausgerichteten Kontrolle eher ablehnend gegenüber. Im Völkerrecht komme es auf Motive grundsätzlich nicht an;394 der "contentieux des competences" im Völkerrecht sei daher "essentiellement objectif'.395 Einige Autoren schließlich befilrworten eine Anwendung beider Ansätze nebeneinander. 396 Diese Diskussion leidet allerdings unter ihrer zu großen Allgemeinheit. Teilweise wird schon nicht scharf genug zwischen der Frage eines Rechtsrnißbrauchs seitens der Mitgliedstaaten und der Kontrolle der Rechtsakte der internationalen Organisationen unterschieden. 397 Vor allem aber ist es erforderlich, die große Vielfalt und strukturelle Unterschiedlichkeit internationaler Organe zu berücksichtigen, die das Aufstellen allgemeiner Regeln zu einem schwierigen Unterfangen macht. Daher sollte die Frage nach einer objektiven oder subjektiven Ausrichtung der Ermessenskontrolle nicht allgemein entschieden werden, sondern nur in Ansehung der Strukturen und Funktionen des jeweiligen Organs; vorliegend fragt sich somit, ob eine subjektive Kontrolle der Kompetenzausübung des SR mit dessen Struktur und Organisation vereinbar wäre. Eine subjektive Kontrolle setzt voraus, daß die Motive, die ein Organ bei der Entscheidungsfindung bewegen, bekannt sind oder jedenfalls mit hinreichender Sicherheit ermittelt werden können. 398 Die "Motive des Sicherheitsrats" gibt es jedoch gar nicht, sondern nur die Motive seiner einzelnen Mitglieder. Aber schon diese Motive sind - wie bereits ausgefUhrt wurde 399- praktisch kaum zu ermitteln; dies hat auch der IGH selbst im Fall Conditions for Admission festgestellt, in dem er ausfilhrte: 400 "Ces motifs, qui relevent du for interne, echappent manifestement a tout contröle" . Aber selbst wenn die Motive der einzelnen Mitglieder des SR zu ermitteln wären, bliebe immer noch das Problem, daß jeder Beschluß des SR der Zustimmung von mindestens neun Mitgliedern bedarf (Art. 27 11, III 394 Guggenheim, RdC 1949 I, 250. 395 Zoller, S. 197, die eine Ausnahme nur filr dienstrechtliche Streitigkeiten macht (S. 198); Bleckmann, EuGRZ 1979, 494f.; ähnlich auch Taylor, BYIL 1972/73,325, der
- ohne dies allerdings näher auszufilhren - meint, die Rechtsakte von SR und GY könnten immer nur wegen Unzuständigkeit, nicht aber wegen Ermessensmißbrauchs überprüft werden. Die Möglichkeit einer Kontrolle auf "abuse of discretionary power" bezweifelt auch Akehurst, S. 219. 396 So etwa Cheng, S. 134; Spiropoulos, RHDI 1948, 13; vgl. auch Billib, S. 211, der sowohl Ermessensmißbrauch als auch Ermessensüberschreitung filr einen "allgemeinen Rechtsgrundsatz" hält, ohne dies allerdings näher zu erläutern. 397 Ygl. etwa Kiss, EPIL 7, I, der "detournement de pouvoir" ohne jede Differenzierung sowohl rur die Kompetenzausübung der Mitgliedsstaaten als auch die der Organe selbst für maßgeblich hält. 398 Taylor, BYIL 1972/73, 331. 399 S.o. S. 80. 400 ICJ Rep. 1947/48,57,60. 13 Martenczuk
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ChVN); deren Motive werden sich jedoch kaum jemals völlig decken. Die Rechtsfolgen eines etwaigen Ermessensmißbrauchs durch das einzelne Mitglied auf den Beschluß im ganzen wären somit völlig unklar. Auch rechtswidrige Stimmabgaben im SR sind grundsätzlich wirksam;401 man könnte daher höchstens die Abstimmung insgesamt rur nichtig erklären, was jedoch insbesondere dort, wo die notwendige Mehrheit auch ohne die fehlerhafte Stimme vorgelegen hätte, ebenfalls nicht sachgerecht wäre. Eine subjektiv ausgerichtete Kontrolle des SR ist folglich von vornherein kein tauglicher Ansatz filr eine Eingrenzung der Befugnisse des SR.402 Die Kontrolle kann immer nur objektiv erfolgen; sie muß sich daran ausrichten, ob die Entscheidung ihrem Inhalt nach mit den objektiven Grenzen des Rechts vereinbar ist. Ermessensfehler des SR könnten daher immer nur in der Form der Ermessensüberschreitung auftreten. Ermessen, Beurteilungsspielraum und unbestimmter Rechtsbegriff unterscheiden sich daher niemals in Ausrichtung und Gegenstand der Kontrolle; ihr Unterschied liegt vielmehr in der Enge oder Weite der rechtlichen Bindungen, die der SR bei der Wahrnehmung seiner Befugnisse zu beachten hat.
c) Das Problem der Kontrolldichte
Das zentrale Problem ist somit letztlich, wie eng die rechtlichen Grenzen der Befugnisse des SR zu ziehen sind; es ist ein ausgewogenes Verhältnis von Gestaltungsfreiheit und rechtlicher Bindung anzustreben. Es fragt sich allerdings, an welchen Maßstäben sich die Abgrenzung der Kompetenzen des SR orientieren sollte. Die völkerrechtliche Praxis ist sehr spärlich;403 es haben sich daher im Recht der internationalen Organisationen noch keine Bereiche herausbilden können, rur die Ermessens- oder Beurteilungsspielräume allgemein anerkannt wären. Das Problem der Dichte gerichtlicher Kontrolle hat allerdings auch das nationale öffentliche Recht seit langem beschäftigt; man hat daher erwogen, ob die hier gemachten Erfahrungen nicht auch rur das Völkerrecht nutzbar gemacht werden könnten. 404 Es ist jedoch fraglich, ob sich aus dem nationalen Recht wirklich Prinzipien gewinnen lassen, die sich als allgemeine Maßstäbe gerichtlicher Kontrolldichte auf völkerrechtliche Sachverhalte übertragen ließen; solche Maßstäbe sind nicht 401 402 403 404
S.o. S. 79. Ebenso Bowett, EJIL 1994, 95. S.o. S. 57ft". Vgl. Bleckmann, S. 65ft". und EuGRZ 1979, 490ft".
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einmal im nationalen Recht selbst immer klar nachzuweisen. 405 Der Ansatz des deutschen Rechts, Beurteilungsspielräume nur ausnahmsweise und nur ftlr klar umgrenzte Sachgebiete anzuerkennen,406 ist vereinzelt geblieben. Die Rechtsprechung in Frankreich etwa orientiert sich in einer sehr kasuistischen Weise an der Schutzwürdigkeit der Interessen im Einzelfall und der Frage der richterlichen Sachkompetenz, ohne daß sich hier schon allgemeine Kriterien ftlr die richterliche Kontrolldichte nachweisen ließen;407 in Groß-Britannien - und zu einem gewissen Grade auch in den USA408_ geht die Rechtsprechung bedingt durch den andersartigen Verwaltungsautbau vor allem vom Begriff des Handelns "ultra vires" aus,409 der zwar ähnliche Funktionen wie die Ermessenslehre erfiillt, von der Rechtsprechung aber ebenfalls sehr kasuistisch gehandhabt wird. 410 Die Regelungen der nationalen Rechtsordnungen sind im einzelnen sehr nuanciert4 11 und kaum auf einen allgemeinen Nenner zu bringen. 412 Gewisse Maßstäbe ließen sich daher nur in einem Vergleich der praktischen Ergebnisse - die so unterschiedlich oftmals nicht sind - erreichen. 413 Aber auch eine solche Analyse von "Fallgruppen"414 muß notwendigerweise sehr abstrakt bleiben, will sie nicht ihre Übertragbarkeit auf das Völkerrecht geflihrden; damit verliert sie aber zugleich an Aussagekraft. Sicherlich kommt es wesentlich darauf an, ob es dem Gericht möglich ist, "die Verwaltungsentscheidung sachgerecht zu kontrollieren oder das Werturteil der Verwaltung durch eine bessere Entscheidung zu ersetzen";415 sicherlich ist dies dann nicht der Fall, wenn eine Entscheidung im wesentlichen "politischen" Charakter trägt oder eine besondere Sachkunde oder Sachnähe verlangt.416 Aber die Frage ist ja gerade, wann das der Fall ist, und dies kann nicht im Wege von Analogien, sondern nur im Hinblick auf die konkrete Befugnis entschieden werden. Der Blick auf das 405 Für einen rechtsvergleichenden Überblick über die Ennessenslehren in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft vgl. Schwarze, S. 246ff.; vgl. auch die Länderberichte bei Jochen Abraham Frowein (Hrsg.), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung, Berlin u.a. 1993. 406 Hierzu o. S. 190. 407 Vgl. Schwarze, S. 250; de Laubadere, S. 29If.; R. HojJmann, S. 124f.; Bullinger, FS Jahrreiß, S. 21; Fromont, FS Jahrreiß, S. 67ff.; Bleckmann, EuGRZ 1979,491. 408 Vgl. Dolzer, DÖV 1982, 578ff. 409 Hierzu Foulkes, S. 185ff.; Riedei, S. 88ff.; von Loeper, S. 74ff. 410 Schwarze, S. 266; von Loeper, S. 85f. 411 Klinghoffir, Annuario 1968, 18. 412 Auby/Fromont, S. 460; Schwarze, S. 279; Bullinger in Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 3, S. 218f.; Oeter in Frowein, S. 266, 372; Brewer-Carias, S. 36, 91ff. 413 Auby/Fromont, S. 461. 414 Bleckmann, EuGRZ 1979,494. 415 Bleckmann a.a.O., 491. 416 Bleckmann a.a.O., 494. 13*
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Problem der Kontrolldichte im nationalen Recht hilft zwar, das Problem zu verdeutlichen, er löst es jedoch nicht. Die Entscheidung darüber, ob einem internationalen Organ ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum einzuräumen ist, muß daher anband einer umfassenden Auslegung der Satzung erfolgen; dies hat auch der IGH im IMCO-Fall bestätigt.417 Maßstab filr die Reichweite der Befugnisse des SR ist und bleibt daher allein die Charta der Vereinten Nationen, der es sich nunmehr zuzuwenden gilt.
3. Art. 39 eh VN als Ermessenstatbestand?
Es ist zunächst die These zu untersuchen, nach der die Feststellung nach Art. 39 ChVN im Ermessen des SR liegt. Der Wortlaut des Art. 39 ChVN selbst vermag hierüber keinen Aufschluß zu geben. Zwar ist vertreten worden, aus der Wendung "stellt fest" ("determines"j"constate") in dieser Bestimmung folge, daß der SR hier ein Feststellungsmonopol haben mUsse. 418 Aber diese Wendung ist keineswegs eindeutig, denn es steht nicht fest, ob der Feststellung durch den SR nur deklaratorische oder auch konstitutive Wirkung zukommen soll; davon hängt aber gerade ab, ob der SR insofern wirklich ein Ermessen hat. Die Nennung konkreter Tatbestandsmerkmale in Art. 39 ChVN spricht vielmehr eher gegen die Annahme eines Ermessens,419 ohne daß damit aber die Möglichkeit eines solchen schon völlig ausgeschlossen wäre. Letztlich finden sich im Wortlaut des Art. 39 ChVN sowohl Elemente, die auf ein Feststellungsmonopol hindeuten könnten, als auch solche, die auf eine strikte Rechtsbindung hinweisen. Entschieden werden kann die Frage daher nur aus dem Gesamtzusammenhang der Charta heraus. Dabei ist zunächst auf das Problem der Möglichkeit einer Definition der Tatbestandsmerkmale des Art. 39 Ch VN einzugehen. Sodann gilt es, sich mit der These auseinanderzusetzen, nach der dem SR ein unbeschränktes Ermessen zusteht; anschließend ist zu prüfen, ob eine angemessene Begrenzung der Befugnisse des SR durch die Ziele und Grundsätze der Charta möglich ist.
417 JCJ Rep. 1960, 150, 160. Hier ging es um die Frage, ob Art. 28 c der IMCOKonvention, wonach die Versammlung die acht größten Schiffahrtsnationen in das "Maritime Safety Committee" zu "wählen" hatte, dieser ein Ermessen bezüglich deren Bestimmung einräumte; unter Berücksichtigung des Oesamtzusammenhangs verneinte der lOH diese Frage schließlich trotz des eher rur ein Ermessen sprechenden Wortlauts. 418 Fawcett, BYIL 1965/66, 116; den gerade entgegengesetzten Schluß zieht Schilling, AVR 1995,83. 419 Arntz, S. 40.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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a) Das Dejinitionsproblem in Art. 39 ChVN Ein besondere Rolle im Rahmen der Diskussion zu Art. 39 ChVN hat stets die Frage einer Definition seiner Tatbestandsmerkmale und hier insbesondere der des Merkmals der "Angriffshandlung" gespielt. Diese Diskussion reicht bis in die Zeit des Völkerbundes zuruck;420 sie ist jedoch in den Vereinten Nationen aufgenommen und hier insbesondere im Hinblick auf Art. 39 ChVN weitergefiihrt worden. Es soll daher untersucht werden, welche Rückschlüsse sich aus dieser Diskussion auf die Natur der Feststellungsbefugnis des SR ziehen lassen.
aa) Die Diskussion auf der Konferenz von San Francisco Schon die Dumbarton Oaks Proposals, die die Grundlage der Diskussion auf der Konferenz von San Francisco bildeten, hatten eine Bestimmung vorgesehen, die dem heutigen Art. 39 ChVN in allen wesentlichen Punkten entsprach. 421 Hierzu brachte jedoch eine Reihe von Regierungen Änderungsvorschläge ein, die alle darauf abzielten, das Merkmal der "Angriffshandlung" ("act of aggression"l"acte d'agression") einer näheren Bestimmung zu unterziehen. 422 Allerdings wurde schon im Rahmen der Diskussion über den Änderungsvorschlag Boliviens klargestellt, daß die geforderte Definition nicht im Sinne einer abschließenden Aufzählung möglicher Angriffshandlungen gemeint war. Den Befilrwortem einer Definition ging es allein darum, das Einschreiten des SR bei Vorliegen einer Angriffshandlung gleichsam zu automatisieren; im übrigen sollte er jedoch durchaus frei bleiben, auch weitere Tatbestände zum Anlaß eines Eingreifens zu nehmen. 423 Der Änderungsvorschlag wurde letztlich abgelehnt, weil trotz der Betonung des nicht abschließenden Charakters der Definition die Befilrchtung bestand, eine solche könne eine die Entscheidungsfreiheit des SR präjudizierende Wirkung haben; zudem hielt man es filr unmöglich, eine wirklich überzeugende Definition zu finden. 424 Im abschließenden Bericht des 420 Vgl. etwa schon die Londoner Konvention über die Bestimmung des Angreifers vom 3.14. Juli 1933, LNTS 147,67; einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung seit Ende des ersten Weltkrieges geben Ferencz, Bd. I, S. 13ff.; Stone, S. 27ff. 421 Punkt VIIIIB/1, UNCIO III, I.
422 Vgl. den Vorschlag der Tschechoslowakei, UNCIO 11, 466; der Philippinen, ebd., 535, 538; des Iran, ebd., 554, 557; sowie Boliviens, ebd., 577, 584f. 423 Vgl. UNCIO XII, 341; s. auch die Begründung des Änderungsvorschlags der Tschechoslowakei, UNCIO III, 468. Vgl. zu der Diskussion insgesamt Russell/Muther, S. 670ff.; Report to the President, S. 90f. 424 UNCIO XII, 342.
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Rapporteurs Paul-Boncour wurden diese Argumente noch einmal bestätigt;425 zusammenfassend ftlhrte er aus: 426 "The Committee therefore decided to adhere to the text drawn up at Dumbarton Oaks and to leave to the Council the entire decision as to what constitutes a threat to the peace, a breach ofthe peace, or an act ofaggression." In der Verwendung des Begriffes "entire decision" ("entiere appreciation") hat man verschiedentlich eine Bestätigung der Annahme gesehen, daß der SR im Rahmen des Art. 39 ChVN ein uneingeschränktes Ermessen habe. 427 Aber der Sinn dieser Wendung ist alles andere als klar. 428 Sinn hätte es gemacht, von einer "abschließenden" oder einer "alleinigen" Entscheidung zu sprechen; was man aber unter der "gesamten" Entscheidung zu verstehen hat, ist fraglich. Vor allem muß man aber den Bericht von Paul-Boncour vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Diskussion sehen. Es ging gar nicht um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der Natur der Feststellungsbefugnis des SR; Gegenstand der Debatte war nur der Versuch gewesen, gewisse Garantien dafUr zu erreichen, daß der SR im Falle einer Angriffshandlung auch wirklich dem Angegriffenen zu Hilfe eilen würde. Die Kehrseite der Medaille, nämlich die Frage, ob die Eingriffsmöglichkeiten des SR denn nicht auch Grenzen haben sollten, wurde überhaupt nicht problematisiert. Lediglich Paul-Boncour selbst erwähnt die Frage einer gewissen Begrenzung der Kompetenzen des SR im Hinblick auf Diskussionen, die in einem anderen Komitee der Konferenz in anderem Zusammenhang geftlhrt wurden429 und verweist insofern auf die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen;430 eine Stellungnahme zum Problem der Natur der Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN kann man darin jedoch nicht sehen. Insgesamt muß man feststellen, daß auf der Konferenz von San Francisco ein Problembewußtsein bezüglich der Frage der Grenzen der Feststellungsbefugnis des SR weitgehend fehlte. Daraus, daß sich die Staaten insofern keine Gedanken machten, kann man allerdings noch nicht schließen, sie hätten sich deshalb einer völlig unbegrenzten Feststellungsbefugnis des SR unterwerfen wollen. Die Entstehungsgeschichte der Charta bleibt an dieser
425 UNCIO XII, 502ff. 426 A.a.O., 505; Hervorhebung vom Verf. 427 Degni-Segui in CotIPellet, S. 460f.; Rambaud, RGDIP 1976, 843. 428 Wengier, S. 23 (Fn. 21) nennt sie "eigenartig". 429 Es ging um einen Änderungsvorschlag Norwegens, der darauf abzielte, dem SR eine "politique de compensation" zu Lasten kleinerer Staaten unmöglich zu machen; das war jedoch eine Frage des Rechtsfolgenermessens, nicht des Art. 39 ChVN (s. dazu u. S. 270). 430 UNCIO XII, 505.
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Stelle stumm; sie kann die Annahme eines Ennessens des SR im Rahmen des Art. 39 ChVN weder stützen noch widerlegen. 431
bb) Die Resolution zur Defmition der Aggression Das Bemühen um eine Definition der Aggression fand allerdings mit der Konferenz von San Francisco keineswegs einen Abschluß. Die Diskussion wurde vielmehr im Rahmen der VN fortgesetzt,432 bis es schließlich am 14. Dezember 1974 zur Annahme von GV-Res. 3314 (XXIX)433 kam. Diese Resolution mit dem Titel "Definition of Aggression" enthält in ihrem Art. 3 eine Aufzählung einer Reihe von Handlungen, die als Angriffshandlung anzusehen seien. Dieses Merkmal wurde zwar nicht ausschließlich,434 aber doch vor allem auch im Hinblick auf Art. 39 ChVN definiert; es fragt sich daher, welche Bedeutung der Resolution insofern für die Feststellungsbefugnis des SR zukommt. Unzweifelhaft ist zunächst, daß die GV keine Befugnis hat, Resolutionen zu fassen, die den SR im Rahmen seiner Tätigkeit nach Kapitel VII der Charta binden könnten. Die Resolution selbst stellt denn auch in Absatz 4 ihrer Präambel klar, daß die Bestimmungen der Charta über die Funktionen und Kompetenzen der Organe der VN unberührt bleiben; nach Absatz 10 der Präambel soll sie lediglich eine unverbindlichen Richtlinie bei der Bestimmung von Angriffshandlungen sein. Die Resolution als solche ist demnach klar unverbindlich ftlr den SR;435 man könnte höchstens erwägen, ob in ihr nicht eine authentische Interpretation der Charta durch die Mitgliedstaaten gesehen werden könnte. 436 Abgesehen davon, daß ein solches Verständnis schon durch Absatz 4 der Präambel der Resolution ausgeschlossen erscheint, kann die Frage vorliegend dahinstehen, da die Resolution letztlich keine Aussagen bezüglich der Natur der Feststellungskompetenz des SR enthält. Zielsetzung war auch hier ausschließlich, die Verhängung von Zwangsmaßnahmen durch den SR zu erleichtern und 431 Arntz, S. 41.
432 Ein Überblick über die Diskussion in den VN und die Entstehungsgeschichte der Resolution gibt Ferencz, Bd. 2, S. Hf. 433 AJIL 69 (1975), 480. 434 Die Resolution zielte unter anderem auch auf Fragen der Staatenverantwortlichkeit und der individuellen Verantwortlichkeit (vgl. Art. 5 11 der Resolution) sowie des Selbstverteidigungsrechts ab; kritisch zu dieser Multifunktionalität der Resolution Röling, FS Menzel, S. 390. 435 Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 14; Bothe, JIR 1975, 141; Rambaud, RGDIP 1976,858; Gaja, RGDIP 1993,300; Bruha, S. 282f. 436 In diesem Sinn etwa Zourek, AFDI 1974, 28; unklar Ferencz, Bd. 2, S. 26.
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zu beschleunigen. 437 Eine Begrenzung der Kompetenzen des SR war weder Ziel noch Gegenstand der Resolution;438 Art. 4 stellt denn auch ausdrücklich klar, daß die Aufzählung in Art. 3 nicht abschließend gemeint ist. Umgekehrt ist jedoch zu beachten, daß die Resolution dem SR auch nirgends ein Ermessen bezüglich der Feststellungen nach Art. 39 ChVN zuspricht;439 angesichts der relativ engen und konservativen Definition der Angriffshandlung in Art. 3 kann auch in der Bestimmung ihres nicht abschließenden Charakters in Art. 4 noch keine Bestätigung eines solchen Ermessens gesehen werden. 440 Mit GV-Res. 3314 (XXIX) verhält es sich daher im Ergebnis nicht anders als mit den travaux preparatoires: eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Natur und Reichweite der Feststellungsbefugnis des SR war nicht ihr Ziel und Problem; dementsprechend kann sie die Annahme eines Ermessens insofern weder bestätigen noch widerlegen. 441
cc) Unmöglichkeit der Definition? Die Diskussionen, die um die Definition der Aggression geftlhrt worden sind, illustrieren jedoch nur das allgemeinere Problem der Möglichkeit einer angemessenen Definition der Tatbestandsmerkmale des Art. 39. Die Aussage des ehemaligen britischen Außenministers Austen Chamberlain, filr den eine Definition der Aggression "a trap for the innocent and a sign-post for the guilty" war,442 ließe sich ohne weiteres auf jedes der Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN übertragen. Dabei ist die Gefahr einer "Falle filr die Unschuldigen" noch der weniger problematische Aspekt; denn auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN ist der SR schließlich nicht zum Einschreiten verpflichtet. Die Befiirchtung hingegen, eine unangemessen enge Definition der Voraussetzungen eines Einschreitens des SR könnte dessen Fähigkeit beeinträchtigten, auf internationale Konflikte flexibel zu reagieren, hat sicherlich im 437 Vgl. Absatz 9 der Präambel. 438 Eine solche wäre über die Definition allein der Angriffshandlung als eines von dreien dem SR alternativ zur Verfilgung stehenden Tatbestandsmerkmalen auch gar nicht zu erreichen gewesen; kritisch zum Nutzen der Resolution insofern Stone, S. 23f.; Meier, AVR 1974/75, 376f.; Röling, FS Menzel, S. 391. 439 Bothe, JIR 1975,141. 440 Anders hätte dies etwa bei einem Resolutionsentwurf der Sowjetunion von 1954 (abgedruckt bei Ferencz, Bd. 2, S. 207) ausgesehen, der eine ausdrücklich nicht abschließende Aufzählung von Angriffshandlungen vorsah, die an sich schon alle möglichen Formen von "economic" und "ideological aggression" umfaßte. 441 Ebenso Conforti in R.-J. Dupuy, S. 53. 442 Zitiert nach McDougal/Feliciano, S. 149 (Fn. 77).
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Hintergrund vieler Stellungnahmen zur Natur seiner Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN gestanden. Die weitverbreitete Resignation in der juristischen Literatur443 hat hier wohl eine ihrer Ursachen; die Frage ist jedoch, ob diese Befiirchtungen wirklich berechtigt sind. Dabei reicht es nicht aus, zur Begründung eines Ermessens des SR darauf zu verweisen, daß die Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN in diesem nicht weiter definiert würden. 444 Jeder Rechtsbegriff ist ab einer gewissen Stufe nicht mehr weiter defmiert; diese unausweichliche Abstraktheit ist gerade das Wesen des Rechts und schließt die juristische Auslegung noch nicht aus. 445 Die Frage ist, warum das gerade bei den Merkmalen des Art. 39 ChVN anders sein sollte. Sicherlich ist zuzugestehen, daß die internationalen Situationen und Konflikte, mit denen der SR in seiner Praxis befaßt sein wird, so mannigfaltig, komplex und in ihrer konkreten Gestaltung unvorhersehbar sind wie die internationalen Beziehungen überhaupt. 446 Der Versuch, die Merkmale des Art. 39 ChVN durch eine Aufzählung konkreter Situationen oder Konflikte abschließend zu definieren, wäre daher in der Tat ungeeignet und würde zu einer unangemessenen Beschränkung der Handlungsfiihigkeit des SR fUhren; dies hat auch die Diskussion um die Definition der Aggression gezeigt, in der die Aufzählung bestimmter, als besonders schwer oder eindeutig erachteter Angriffshandlungen immer nur mit der Maßgabe erfolgte, hier ein Eingreifen des SR zu erleichtern, nicht aber, es in anderen Fällen auszuschließen. 447 Diese Untauglichkeit eines kasuistischen Vorgehens muß aber noch nicht heißen, daß die Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN keiner weiteren Präzisierung im Wege einer abstrakten Definition mehr zugänglich wären. Die Wortwahl in Art. 39 ChVN ist ja nicht völlig zufiillig; ihr liegen gewisse Wertungen zugrunde, die maßgeblich waren rur die Übertragung der Hauptverantwortung filr den Weltfrieden und die internationale Sicherheit an den SR. Diese Wertungen herauszuarbeiten und zu präzisieren, ist durchaus eine sinnvolle juristische Aufgabe; dies ist bei Art. 39 ChVN ebensowenig "unmöglich" wie bei jedem anderen Rechtsbegriff. Sicherlich ist diese Aufgabe nicht einfach. Eine überzeugende Defmition wird nicht schon im ersten Ansatz gelingen, sondern setzt einen konstanten Diskussionsund Klärungsprozeß voraus; Zweifelsfälle werden dabei immer bleiben. Das 443 Vgl. etwa die Aussagen von Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 17,21; Freudenschuß, AuJPIL 1993,37; Dominice, SZIER 1995,425; ähnlich auch Stone, S. 91; allgemein s.o. S. 186ff. 444 So aber Kipp in Strupp/Schlochauer, S. 585; Zack/in, S. 88. 445 Daß es nicht um die logische Unmöglichkeit, sondern eher um die Wünschbarkeit einer Definition geht, betont auch Stone, S. 78f. 446 Dies wurde auch im Rahmen der Diskussion auf der Konferenz von San Francisco betont; vgl. UNCIO XII, 342. 447 Näher zu den verschiedenen Definitionstypen Stone, S. 80ff.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
allein schließt jedoch die Möglichkeit einer juristischen Klärung nicht aus, denn - wie schon von McDougal und Felician0448 hervorgehoben wurde - "the impossibility of absolute precision does not necessarily render complete confusion desirable". Der Entscheidung über die Voraussetzungen des Eingreifens des SR läßt sich letztlich nicht ausweichen, und eine Rechtswissenschaft, die sich selbst entmündigt, tut nicht nur sich selbst Unrecht, sie verweigert auch dem SR jede Orientierungshilfe in seiner Entscheidungsfmdung. Noch einmal mit den Worten von McDougal und Feliciano: 449 "[ ... ] the incidence ofrational decisions [... ] is more apt to be increased, by explicit, sustained, and systematic efforts of cIarifying relevant variables and policies of community approved value goals affecting decisions about coercion."
Nichts wird dagegen erreicht durch: 450 "[ ... ] an approach that assumes a completely futilitarian attitude towards words, views each specific case of coercion in a microcosm with no more than a few terms of highest level of abstraction, and relies upon calculation of momentary expediencies and, as it were, on visceral sensitivity".
Der Hinweis des Juristen auf die Unzulänglichkeit des eigenen Tuns ist noch keine zureichende Begründung filr die Annahme eines Ermessens des SR; die Frage nach der Rechtsnatur der Feststellungsbefugnis des SR nach Art. 39 Ch VN läßt sich nicht mit der Behauptung umgehen, dessen Gegenstand bewege sich außerhalb der Möglichkeiten juristischer Auslegung und Defmition.451 Damit ist noch nicht auszuschließen, daß dem SR im Rahmen des Art. 39 Ch VN nicht gleichwohl ein Ermessen zustehen kann. Aber dies ist eine Kompetenzfrage, nicht eine, die sich schon aus einer inhärenten Begrenztheit der juristischen Disziplin beantworten ließe, und die daher keineswegs so alternativlos ist, wie dies in der wissenschaftlichen Diskussion zuweilen erscheint. Entschieden werden muß sie aus dem Gesamtzusammenhang der Charta unter Berücksichtigung ihres Ziels und Zwecks; den Argumenten, die insofern vorgebracht wurden, gilt es sich nunmehr zuzuwenden.
448 S.62. 449 S. 154f. Eine andere Frage ist allerdings, ob die von McDougal und Feliciano vorgenommene "configurative analysis" (S. 257) der relevanten Faktoren (vgl. insb. S. 167ff.) nicht selbst noch zu sehr im Bereich des Unverbindlichen bleibt. Deren nichtdefinitorischer Ansatz erhellt zwar die relevanten Gesichtspunkte rur die rechtliche Wertung; indem er jedoch ihr relatives Gewicht untereinander völlig offenläßt, vermag er letzIich ebenfalls kaum steuernde Funktion rur die Praxis des SR zu entfalten. 450 S. 155. 451 Ebenso Arntz, S. 40f.; Wengier, S. 23 (Fn. 21); wohl auch Dahm, S. 389.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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b) Grenzenlosigkeit der Feststellungsbefugnis? Dabei gilt es zunächst die These zu untersuchen, nach der der SR im Rahmen seiner Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN über ein völlig unbegrenztes Ermessen verfUgt. Die Begründungen, die hierfUr angeboten werden, bleiben zumeist sehr knapp;452 gleichwohl ist zu überlegen, ob sich fiir eine solche Grenzenlosigkeit der Feststellungsbefugnis nicht Argumente aus Verfahren, Struktur oder Funktionen des SR finden lassen könnten.
aa) Die These vom "procedural approach" Zuweilen ist - ohne daß dies näher ausgefiihrt worden wäre - vertreten worden, die Charta verfolge im Rahmen des Art. 39 ChVN nicht einen defmitorischen, sondern einen "procedural approach"453. Nach dieser Lehre wäre die Rechtmäßigkeit der Feststellung nach Art. 39 ChVN allein abhängig vom Verfahren vor dem SR,454 nicht aber von der inhaltlichen Qualität der Entscheidung. Die Frage ist jedoch, ob die inhaltliche Grenzenlosigkeit des Ermessens des SR wirklich schon unter Hinweis auf das Verfahren vor dem SR begründet werden kann. Sicher ist nicht zu bestreiten, daß auch Verfahren unter gewissen Umständen eine legitimierende Wirkung entfalten können; so ist zum Beispiel in vielen nationalen Rechtsordnungen eine Vorverlagerung der Garantien fiir sachgerechte Entscheidungen der Verwaltung auf die Verfahrensebene zu beobachten. 455 Aber eine solche Legitimation durch Verfahren setzt eine ganze Reihe von Garantien voraus, die erst in ihrer Gesamtheit eine relative Wahrscheinlichkeit fiir eine Entscheidung in Objektivität und unter vollster Berücksichtigung aller relevanten Umstände und Argumente begründen; idealtypisch verwirklicht fmden sie sich insofern im gerichtlichen Verfahren, dessen Ergebnissen daher auch leichter endgültige Wirkung zugesprochen werden kann. 456 Diese Erwägungen lassen sich jedoch auf den SR als politisches Organ kaum übertragen;457 sein Verfahren hat nicht die mindeste Ähnlichkeit mit einem 452 Nachweise s.o. S. 186ff. 453 Nachweise s.o. Fn. 363f. 454 Konsequent insofern Delbrnck in Sirnma, Art. 25, Rn. 18, der ausdrücklich die Beachtung des formellen Rechts fordert; s. dazu aber o. S. 15lf. 455 Vgl. Lerche in Frowein, S. 252. 456 Vgl. hierzu Luhmann, S. 57ff. 457 Vgl. Leben, S. 270.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
gerichtlichen. 458 Der SR besteht nicht aus unabhängigen, unparteilichen Richtern, sondern aus weisungsgebundenen Vertretern einzelner Staaten, die durch nichts daran gehindert sind, Streitigkeiten im Lichte ihrer eigenen konkreten Interessen zu entscheiden; im Rahmen des Kapitels VII gilt dabei nicht einmal die Pflicht der Streitparteien zur Stimmenthaltung nach Art. 27 III Ch VN a.E. Auch das Verfahren selbst ist kaum justizförmig geregelt. 459 Es gibt kein geordnetes Verfahren, in dem die Parteien ihre tatsächlichen und rechtlichen Argumente austauschen könnten; selbst das rechtliche Gehör ist in der Praxis nicht immer gewährleistet. 460 Auch die Öffentlichkeit der Sitzungen des SR461 ist nur eine scheinbare, denn in Wirklichkeit fallen die Entscheidungen schon im Vorfeld in einer Art Geheimdiplomatie; in der Sitzung selbst wird der gefundene Komprorniß nur noch vollzogen. 462 Insgesamt kann somit von einer "Legitimation durch Verfahren" in Bezug auf die Feststellung nach Art. 39 ChVN keine Rede sein. 463 Die These vom "procedural approach" ist letztlich nichts anderes als eine beschönigende Formel fiir ein grenzenloses Feststellungsermessen des SR; eine Begründung ist sie nicht.
bb) Unvertretbarkeit der Entscheidung? Eine andere Frage ist es, ob nicht die Feststellung nach Art. 39 ChVN eine unvertretbare ist, die nur aufgrund der politischen Einschätzung und Sachkunde der Mitglieder des SR getroffen werden kann. Eine solche Unvertretbarkeit könnte insbesondere auf den besonderen Status gestützt werden, der den ftlnf ständigen Mitgliedern des SR in Art. 23 I 2 und Art. 27 III ChVN eingeräumt ist und aus dem man ableiten kann, daß die Charta deren politischer Einschätzung durchaus eine hervorgehobene Bedeutung beimißt. 464 Aber schon eine 458 Vgl. E. Lauterpacht, S. 42f. 459 Vgl. dazu schon o. S. 167. 460 S.o. Fn. 177. 461 Vgl. Art. 48ff. der Verfahrensordnung des SR (0. Fn. 178); schon hiernach kann der Rat jederzeit beschließen, unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu tagen (Art. 48 der Verfahrensordnung). 462 Hierzu umfassend Aust in R.-J. Dupuy, S. 365ff. Kritisch auch Reisman, AJIL 1993, 85f.; Graefrath, EJIL 1993, 191, 195. 463 Tomuschat, RdC 1993 IV, 329; Schilling, AVR 1995, 80. 464 Hiermit argumentierend Caflisch in AI-NauimilMeese, S. 656; Cutler, VaJIL 1984/85, 495. Vgl. auch Kunz, AJIL 1960, 330, der die filnf ständigen Mitglieder als "globales Direktorat" bezeichnet.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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etwas genauere Analyse des Sinnes dieser bevorzugten Stellung zeigt, daß sich aus ihr kein Hindernis fi1r die rechtliche Überprüfung von Feststellung nach Art. 39 ChVN ableiten läßt. Hintergrund der Einrichtung ständiger Mitglieder war die Erkenntnis, daß in der Situation nach dem zweiten Weltkrieg jede kollektive Zwangsmaßnahme, die nicht von den filnf ständigen Ratsmitgliedern und hier insbesondere den Supennächten Vereinigte Staaten und Sowjetunion mitgetragen würde, unweigerlich zum Scheitern verurteilt wäre; die "Yalta Voting Formula" sollte daher sicherstellen, daß jede Maßnahme des SR immer auch von einem ausreichenden Machtpotential getragen sein würde. 465 Die Einschätzung der ständigen Ratsmitglieder ist daher nach dem System der VN in der Tat insoweit unvertretbar, als sie niemals gegen ihren Willen zu einem Einschreiten gezwungen werden können. Allein dieses Vetorecht bringt jedoch noch nicht die Befugnis mit sich, jede wie auch immer geartete Aktivität des SR zu legitimieren. Die Einrichtung ständiger Mitglieder des SR kann folglich nicht dazu filhren, diesen von allen rechtlichen Bindungen freizustellen. Die Feststellung nach Art. 39 ChVN ist auch keine, die eine besondere Sachkunde voraussetzen würde, über die nur der SR verfilgt und die daher eine Überprüfung etwa durch den IGH ausschließen müßte. Zwar klingt eine solche Auffassung immer wieder in den Äußerungen an, nach dem es bei Art. 39 ChVN nicht um rechtliche Auslegung, sondern um die Feststellung von Tatsachen geht. So ist etwa gesagt worden, die Feststellung nach Art. 39 ChVN sei keine "question of legal interpretation, but a question of evidence, of proof, or of fact"466; ähnliches ist auch in den Diskussionen des SR hin und wieder geäußert worden. 467 Aber diese Äußerungen sind schon methodisch schwer haltbar. Selbst wenn dem SR hinsichtlich der Tatsachenfeststellungen ein gewisser Beurteilungsspielraum zustehen sollte,468 so bleibt doch immer noch die Notwendigkeit, die Tatsachen unter die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN zu subsumieren. Dieser Wertungsvorgang ist jeder Rechtsanwendung immanent469 und kann nicht einfach dadurch beiseite geschoben werden, daß man behauptet, es handele sich um eine Tatsachenfrage. Daß aber der SR zur Entscheidung solcher nonnativer Frage strukturell von vornherein besser geeignet wäre als der IGH, läßt sich kaum überzeugend begründen. Von einer "Unvertretbarkeit" der Entscheidung nach Art. 39 ChVN kann daher ebenfalls keine Rede sein. 465 Vgl. Engelhardt, AVR 1962/63, 382f. 466 Gowlland-Debbas, S. 451f.; ebenso D. L. Johnson, HILJ 1978, 901; ähnlich Rambaud, RGDIP 1976, 842, der meint, Art. 39 ChVN liege eine "conception empiri-
que" zugrunde. 467 Vgl. etwa SIPV. 1264, SCOR, 20th year, 1264th meeting, 5 (1966). 468 Dazu u. S. 240ft". 469 S. schon o. S. 190f.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
cc) Primat der Politik? Letztlich laufen alle Auffassungen, die dem SR ein grenzenloses Ermessen im Rahmen der Feststellung nach Art. 39 ChVN einräumen, auf einen absoluten Primat der Politik im Rahmen der Aufgabe der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit hinaus. Diese Aufgabe wird, so scheint es, als eine solche empfunden, die nur mit politischen Mitteln und im politischen Verfahren bewältigt werden kann; dem Recht und den Gerichten wird hier jede legitime Funktion abgesprochen. Es fragt sich jedoch, ob diese Auffassung wirklich vor der Charta Bestand haben kann. Nach ihr ist die Feststellung nach Art. 39 ChVN gleichsam das "Sesam, öffue Dich!" zu einem Reich ebenso unbeschränkter wie unkontrollierbarer Kompetenzen; die Charta mit ihrer ganzen ausgefeilten und abgewogenen Kompetenzstruktur hat nur solange Bedeutung, als nicht der SR das Kapitel VII rur anwendbar erklärt. 470 Der SR wird zum Souverän der Staatengemeinschaft, dessen Entscheidungsgewalt keine Grenzen gesetzt sind. Man muß sich die Konsequenzen dieser Auffassung einmal in aller Deutlichkeit vor Augen halten: nimmt man sie wirklich ernst, dann wäre der SR durch nichts gehindert, etwa die mangelhafte Qualität des Fremdsprachenunterrichts oder die hohe Arbeitslosigkeit in einem Staat als Bedrohungen des Friedens einzustufen und entsprechende Abhilfe zu verlangen. Man könnte natürlich einwenden, daß der SR vermutlich nie so unklug sein wird, solche Beschlüsse tatsächlich zu fassen; aber es wirkt kaum sehr überzeugend, wenn man ihm erst rechtliche Befugnisse zugesteht, um dann darauf zu hoffen, daß er von ihnen keinen Gebrauch machen wird. Die These von der Grenzenlosigkeit der Feststellungsbefugnis des SR muß sich daher schon beim Wort nehmen lassen. Sie gibt dem SR das rechtliche Potential in die Hand, sich als die Weltregierung zu gebärden, von der schon der Richter Gros im Fall Namibia treffend bemerkte: 471 "11 ne suffit pas de dire qu'une affaire a un "echo" sur le maintien de la paix pour que le Conseil de Securite se transforme en gouvernement mondiaI."
Damit wird keineswegs die uneingeschränkte Wünschbarkeit internationaler Kooperation auch auf globaler Ebene geleugnet. Aber es geht nicht an, einem Organ unbeschränkte Kompetenzen zuzusprechen, ohne auch nur im Ansatz überprüft zu haben, ob es zu deren Wahmehmung wirklich besser geeignet ist als nationale Stellen. Sicherlich gehört die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gern. Art. 24 I ChVN zu den legitimen Aufgaben des SR. Aber dieser Begriff wird von der These der Grenzenlosigkeit der Befug470 Deutlich Kewenig, FS Scheuner, S. 282. 471 Sep. op. Gros, ICI Rep. 1971, 323, 340; ähnlich Gaja, RGDIP 1993, 311.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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nisse des SR völlig sinnentleert; was bleibt, ist eine "omnipotence juridique absolue"472, die, so wohlmeinend ihre Verfechter auch sein mögen, mit Friedenswahrung nicht mehr unbedingt etwas zu tun haben muß. Es läßt sich eben die Wahrnehmung einer konkreten Aufgabe nicht dadurch sicherstellen, daß man ihrem Träger freistellt zu tun, was immer ihm auch beliebt; die Annahme eines unbegrenzten Ermessens fUhrt bei übertragenen Kompetenzen unweigerlich in einen Selbstwiderspruch. 473 Dieser läßt sich auch durch Erwägungen der Rechtssicherheit nicht überspielen. Es ist bereits betont worden, daß sich die Rechtstreue der Mitgliedstaaten nicht durch die Entrechtlichung der Strukturen der VN sichern läßt;474 dies gilt auch fi1r die Feststellung nach Art. 39 ChVN, deren Respektierung man nicht dadurch fiirdern kann, daß man sie in ihrer Bedeutung auf eine subjektive, nicht weiter hinterfragbare Einschätzung der Mitglieder des SR reduziert. Auch aus der Erfahrung des Völkerbundes475 läßt sich nichts anderes schließen. 476 Das Manko des Völkerbundes war es, daß er überhaupt kein zentrales Entscheidungsorgan hatte, nicht, daß dieses einen zu geringen Ermessensspielraum gehabt hätte. Man kann auch nicht annehmen, daß die Mitgliedstaaten wirklich von dem einen Extrem totaler Dezentralisierung in das andere totaler Unterwerfung gefallen sind. Die These, die Feststellungsbefugnis des SR nach Art. 39 ChVN sei frei von allen rechtlichen Grenzen, ist daher nicht haltbar; nicht alles, was der Sicherheitsrat zu einer Bedrohung des Friedens erklärt, muß darum schon notwendigerweise eine solche sein. 477 Auch die Feststellungen nach Art. 39 ChVN sind nicht über jede rechtliche Kritik erhaben; sie müssen sich vielmehr im Rahmen der kompetenziellen Grenzen des SR halten, die es nunmehr zu präzisieren gilt.
c) Die Ziele und Grundsätze als Grenze der Feststellungsbefugnis? Mit der Ablehnung eines grenzenlosen Ermessens im Rahmen des Art. 39 Ch VN ist allerdings noch nicht gesagt, daß dem SR insofern überhaupt kein Ermessen zustehen könnte. Wer aber dementsprechend die Tatbestandsmerk472 Klinghoffor, Annuario 1968, 18. 473 Vgl. Bothe in R.-J. Dupuy, S. 69, der die Annahme eines unbegrenzten Ermessens des SR fiir theoretisch wie praktisch inakzeptabel hält; ebenso Schilling, AVR
1995, 80. Die grundsätzliche Begrenztheit eines jeden Ermessens betonen auch R. L.
Bindschedler, RdC 1963 I, 315; Cheng, S. 132; KlinghofJer, Annuario 1968, 18.
474 475 476 477
S.o. S. I 48ff. Dazu o. S. 136ff. So aber Gowlland-Debbas, S. 453. Gegen die o. Fn. 367 genannten.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
male des Art. 39 ChVN für unbeachtlich hält, der muß sagen, woraus sonst sich die Grenzen dieses Ermessens ergeben sollen. Dabei ist es nicht ausreichend, einfach zu sagen, der SR dürfe nicht "willkürlich" handeln. 478 Was "Willkür" ist, läßt sich nicht feststellen, solange nicht klar ist, was unter einer ordnungsgemäßen Amtsfiihrung zu verstehen wäre. Es muß daher nach objektiven Grenzen gesucht werden, aus denen sich der Umfang und die Reichweite der Kompetenzen des SR ermitteln lassen. Als solche kämen die Ziele und Grundsätze der VN in Betracht, wie sie in Art. 1 und 2 der Charta niedergelegt sind und zu deren Beachtung gern. Art. 24 11 1 ChVN auch der SR verpflichtet ist. Es genügt jedoch nicht, wie dies häufig geschieht, einfach pauschal auf die Ziele und Grundsätze der VN als Grenze der Feststellungsbefugnis zu verweisen. 479 Ob sich über diese Ziele und Grundsätze wirklich eine sachgerechte Eingrenzung der Befugnisse des SR erreichen läßt, kann vielmehr nur in einer eingehenden Untersuchung der relevanten Bestimmungen ermittelt werden; diese soll im folgenden vorgenommen werden.
aa) Die Ziele der Vereinten Nationen Zu untersuchen ist zuerst, ob sich eine Begrenzung der Feststellungsbefugnis des SR aus dessen Bindung an die Ziele der Charta zu ergeben vermag, wie sie in Art. I ChVN, aber auch in der Präambel niedergelegt sind. Dabei ist zu beachten, daß Art. 24 11 1 Ch VN diese Ziele in ihrer Gesamtheit in Bezug nimmt; daher könnte nur ein solches Verhalten des SR gegen die Charta verstossen, das keinem der in Art. 1 Ch VN genannten Ziele zu dienen geeignet ist. Nun sind diese Ziele jedoch nicht nur auf die unmittelbar friedenssichernde Tätigkeit (Art. 1 Nr. 1 ChVN) beschränkt; zu ihnen gehört es vielmehr auch, "freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen" (Art. 1 Nr. 2 ChVN) oder "eine internationale Zusammenarbeit herbeizufilhren, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten [... ] zu festigen" (Art. 1 Nr. 3 ChVN). Diese Formulierungen könnten unbestimmter kaum sein; zu Recht ist bemerkt worden, daß es wohl kaum ein internationales Problem geben dürfte, von dem man nicht mit guten Gründen behaupten könnte, daß es irgendeines der Ziele des Art. 1 ChVN berühre. 480 478 So aber die o. Fn. 368f. genannten. 479 Wie dies etwa die in Fn. 370 genannten tun. 480 R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 320.
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Jeder soziale Mißstand wird letztlich in irgendeiner Weise Rückwirkungen auf die Ziele der VN haben. Als Grenze filr die Kompetenzen des SR sind diese daher ungeeignet; eher schon könnten sie das Programm einer Weltregierung darstellen, die der SR aber nun gerade nicht ist und auch nicht sein soll.481 Man könnte sich allerdings fragen, ob sich die Verweisung auf die Ziele der VN in Art. 24 11 1 Ch VN nicht in dem Sinne verstehen ließe, daß damit nur jene Ziele angesprochen wären, die sich unmittelbar auf die dem SR übertragene Aufgabe der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit beziehen. 482 Aber die insofern relevante Wendung des Art. 1 Nr. 1, Hs. 1 ChVN beschränkt sich darauf, wortwörtlich die Formulierungen zu wiederholen, die auch schon in Art. 39 ChVN auftauchen, und es ist kaum einzusehen, warum sie hier nun eher einer Auslegung zugänglich sein sollten. 483 Die einzige Wirkung, die ein Abstellen auf Art. 1 Nr. 1 ChVN als Grenze der Befugnisse des SR haben könnte, wäre eine Vermehrung des Dunkels, das dessen Kompetenzen ohnehin schon umgibt; eine sinnvolle Umgrenzung der Kompetenzen des SR wird so aber nicht erreicht. Auch die Präambel gibt keine praktikablen Kriterien an die Hand. Man könnte zwar insofern zunächst an den siebten Absatz der Präambel denken, nach dem Waffengewalt nur noch im "gemeinsamen Interesse" angewendet werden soll. Abgesehen von der Frage, ob diese Wendung filr die Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen überhaupt eine Bedeutung haben kann, ist jedoch der Begriff des "gemeinsamen Interesses" schon eine Leerformel, aus der sich rechtliche Grenzen ebenfalls nicht ergeben. Aus den Zielen der VN läßt sich somit keine praktikable Begrenzung der Feststellungsbefugnis des SR ableiten. 484
bb) Die Grundsätze der Vereinten Nationen Fraglich bleibt, wie es um die Grundsätze der Vereinten Nationen bestellt ist, auf die Art. 24 11 1 ChVN verweist und die sich in Art. 2 ChVN niedergelegt fmden. Allerdings ergibt schon eine oberflächliche Betrachtung, daß keineswegs alle diese Grundsätze überhaupt rur eine Begrenzung der Feststellungsbe-
481 S. dazu o. S. 206. 482 So anscheinend Schachter, AJIL 1991, 457, der meint, daß es ausreiche, wenn ein Beschluß des SR dem "broad aim of maintaining international peace and security" genüge. 483 So auch Conforti in R.-J. Dupuy, S. 54. 484 Dies gesteht sogar Degni-Segui in CotlPellet, S. 464 zu. 14 Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
fugnis des SR in Betracht kommen. 485 Art. 2 Nr. 2 bis 5 ChVN regeln ausschließlich Verpflichtungen der Mitgliedstaaten; Art. 2 Nr. 6 ChVN betrifft Nichtmitglieder der VN und hat bestenfalls die Wirkung einer Erweiterung der Kompetenzen der Organisation. Übrig bleiben allein Art. 2 Nr. 1 und 7 ChVN, auf deren Bedeutung im Hinblick auf eine Begrenzung der Feststellungsbefugnis des SR nunmehr einzugehen ist.
(l) Gern. Art. 2 Nr. 1 Ch VN beruht die Organisation auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit ihrer Mitglieder. Es ist schon nicht ganz klar, ob das Schwergewicht dieser Bestimmung eher auf der Souveränität oder auf der Gleichheit liegt.486 Der Aspekt der Souveränität ist jedenfalls im Verhältnis zur Organisation schon abschließend in Art. 2 Nr. 7 ChVN geregelt; relevant kann insofern nur der Aspekt der Gleichheit werden, der allerdings schon von der Charta selbst durch die bevorzugte Stellung der ständigen Mitglieder des SR gern. Art. 23 I 2, 27 III ChVN etwas relativiert ist. Gleichwohl könnte man fragen, ob sich aus dieser Bestimmung nicht eine Verpflichtung des SR ergeben könnte, bei seinen Beschlüssen alle Mitgliedstaaten gleich zu behandeln,487 so daß er etwa nur dann zu einem Einschreiten nach Art. 39ff. ChVN befugt wäre, wenn er dies auch bislang schon in vergleichbar gelagerten Fällen getan hat. 488 Aber zum einen ist in den internationalen Beziehungen nur selten ein Fall wirklich gleich gelagert; zum anderen überzeugt schon ein kurzer Blick auf die praktischen Konsequenzen einer solchen Gleichbehandlungspflicht davon, daß sie letztlich nicht bestehen kann. Denn wäre der SR, der 40 Jahre lang internationale Krisen und Kriege auch größten Ausrnasses hat geschehen lassen, wirklich zur Gleichbehandlung verpflichtet, dann hätte er heute längst seine Kompetenzen verwirkt. Diese Unmöglichkeit einer Pflicht zur Gleichbehandlung ist letztlich bedingt durch die Mitgliederstruktur und das Abstimmungsverfahren des SR; es wäre unangebracht, wollte man einer zufälligen Stimmenmehrheit oder auch nur dem Veto eines ständigen Mitglieds eine die Kompetenzen des SR rur die Zukunft beschränkende Wirkung beimessen. Art. 2 Nr. 1 Ch VN bietet daher ebenfalls keinen brauchbaren Ansatzpunkt rur eine Begrenzung der Befugnisse des SR.
485 Vgl. Reisman, AJIL 1993,93. 486 Vgl. dazu Bleckmann in Simma, Art. 2 Ziff. I, Rn. 6. 487 Eine solche Gleichbehandlungspflicht bejaht ganz allgemein für die Organe der VN Bleckmann in Simma, Art. 2 Ziff. I, Rn. 2, 45. G. Watson, HILJ 1993, 34f., leitet eine "equal protection clause" aus Art. 1 Nr. 2 und 55 ChVN her, schweigt sich allerdings über deren praktische Bedeutung aus. 488 Dies scheint etwa Marschang, KJ 1993, 71, anzunehmen, wenn er meint, mit SR-Res. 748 (1992) habe der SR "auch verglichen mit seiner eigenen Praxis den Bogen überspannt" .
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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(2) Nach Art. 2 Nr. 7 Hs. I ChVN haben die VN keine Befugnisse zum Eingreifen in "Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören". Dieser Grundsatz wird sogleich eingeschränkt durch Art. 2 Nr. 7 Hs. 2 ChVN, nach dem hierdurch die Anwendung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta nicht berührt wird; die innere Zuständigkeit ("domestic jurisdiction"/"domaine reserve") der Mitgliedstaaten scheint daher von vornherein keine begrenzende Funktion ftlr die Tätigkeit des SR nach Kapitel VII entfalten zu können. 489
Ohnehin muß gesehen werden, daß die Bedeutung der inneren Zuständigkeit oder Souveränität der Mitgliedstaaten ftlr die Befugnisse des SR keineswegs so klar ist, wie dies nach Art. 2 Nr. 7 Hs. 2 ChVN erscheinen könnte. Seit der Entscheidung des StlGH im Falle der Decrets de nationalite490 werden unter den "inneren Angelegenheiten" allgemein jene verstanden, die keiner Regelung durch das Völkerrecht unterliegen; diese Auslegung hat sich auch zu Art. 2 Nr. 7 ChVN durchgesetzt. 491 Der Sinn eines derartig formulierten Einwands gegen die Zuständigkeit einer internationalen Organisation ist jedoch ausgesprochen zweifelhaft: denn wenn eine internationale Organisation zuständig zur Befassung mit einem konkreten Sachverhalt ist, dann unterliegt dieser Sachverhalt damit unweigerlich auch einer völkerrechtlichen Regelung; und wenn er keiner völkerrechtlichen Regelung unterliegt, dann kann die Organisation auch nicht zuständig sein. Der Einwand der inneren Angelegenheit in dieser relativen Fassung liefert keine eigenständigen Argumente, sondern ist bloß eine andere Formulierung ftlr die Rechtsbehauptungen der Parteien;492 dies belegt gerade auch die häufig vertretene Auffassung, nach der Art. 2 Nr. 7 Hs. 2 ChVN nur deklaratorische Bedeutung zukomme, da eine Situation im Sinne des Art. 39 ChVN ohnehin niemals eine innere Angelegenheit darstelle. 493 Die Berufung auf die inneren Angelegenheiten ist mithin ein Scheinargument, dessen vorgeblicher "Ausschluß" die Konfusion nur noch verstärkt. 494 Dies wird auch durch die Praxis der VN belegt, in der die Berufung auf Art. 2 Nr. 7 ChVN regelmäßig in einen unfruchtbaren Austausch von Behauptung und Gegenbehaup-
489 Vgl. nur G. Watson, HILJ 1993, 35f. 490 Decrets de nationalite promulgues a Tunis et au Maroc (zone fram;aise), CPJI sero B, no. 4, 23f. (1923). 491 Vgl. RandelzhoJer in Simma, vor Art. 2, Rn. 24; Kelsen, S. 77\. 492 Vgl. auch Claude, Swords to Plowshares, S. 167. 493 Vgl. Jimenez de Arechaga, S. 120; Ermacora in Simma, Art. 2 Zitf. 7, Rn. 12. 494 Dementsprechend ist auch die Frage gegenstandslos, ob unter "Zwangsmaßnahmen" im Sinne von Art. 2 Nr. 7 Hs. 2 ChVN nur Beschlüsse nach Art. 41 und 42 ChVN zu verstehen sind oder auch die Feststellung nach Art. 39 ChVN und vorläufige Maßnahmen nach Art. 40 ChVN (vgl. hierzu Kelsen, S. 768f.). 14'
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
tung gefUhrt hat;495 dies gilt gerade filr die Maßnahmen nach Kapitel VII, wo sich die betroffenen Staaten durch Art. 2 Nr. 7 Hs. 2 ChVN natürlich nicht davon haben abhalten lassen vorzubringen, es liege überhaupt keine der Situationen des Art. 39 ChVN vor, so daß die fragliche Angelegenheit in ihre innere Zuständigkeit falle. 496 Insgesamt muß festgestellt werden, daß die Regelung in Art. 2 Nr. 7 ChVN das Problem der Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche von Mitgliedstaaten und Organisation nicht löst; auch und gerade im Rahmen der Tätigkeit des SR nach Kapitel YII der Charta stellt sich daher unausweichlich die Frage, ob eine konkrete Angelegenheit wirklich schon ein Einschreiten des SR rechtfertigt oder nicht vielleicht besser den Mitgliedstaaten überlassen werden sollte. Das einzige Problem dabei ist, ob man diese Frage schon auf der Ebene allgemeiner Grundsätze oder erst im Rahmen der Auslegung der konkreten Befugnisnorm berücksichtigen soll. Der erstgenannte Ansatz würde voraussetzen, daß sich insofern eine hinreichend klare Formulierung filr einen materiell ausgerichteten Grundsatz der BeachtIichkeit der inneren Zuständigkeit fmden ließe. Dabei wird teilweise schon als Grenze des Tatbestandsermessens ein Abstellen auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit befilrwortet. 497 Aber es ist zweifelhaft, ob allein dieser Grundsatz schon zu einer angemessenen Begrenzung der Befugnisse des SR fUhrt. Der SR ist zuständig nur filr die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit; er ist nicht befugt, ftlr jedes beliebige internationale Problem eine verhältnismäßige Lösung zu finden. Wenn überhaupt, dann muß die Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Auslegung des Art. 39 ChVN selbst berücksichtigt werden,498 denn nur so kann auch eine funktionale Begrenzung der Befugnisse des SR erreicht werden. Ein anderer Grundsatz, über dessen Eignung zur Begrenzung der Befugnisse des SR man nachdenken könnte, ist das sogenannte Subsidiaritätsprinzip, nach dem eine Aufgabe nur dann von der höheren Organisationsebene wahrgenommen werden darf, wenn ihre effektive Erfilllung auf der niedrigeren Ebene nicht
495 Vgl. Claude, Swords into Plowshares, S. 168ff.; zu dem typischen Argumentationsmodell vgl. auch Ermacora in Simma, Art. 2 Ziff. 7, Rn. 21. 496 Fast schon zum Ritual wurden diese Diskussionen in den Konflikten um Apartheid und Kolonialismus im südlichen Afrika; vgl. etwa RaP, Bd. 1, Suppl. 3, 100ff. (Südafrika), 235ff. (Angola). Hierzu umfassend auch Cadoux, AFDI 1977, 135, der meint, die Praxis der VN habe Art. 2 Nr. 7 ChVN "in gewisser Weise sterilisiert". 497 Vgl. etwa Sonnenschein, S. 110, die aus Art. 2 Nr. 7 ChVN ableitet, die Intervention des SR müsse so gering sein wie möglich und der Friedensbruch jedenfalls prima facie evident; ähnlich anscheinend auch Delbrück, VRÜ 1993,20, der den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als einzige Grenze rur die Befugnisse des SR nennt. 498 So der Ansatz von Arntz, S. 53.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
213
gesichert erscheint. 499 Dieser Grundsatz hat mit dem Vertrag von Maastricht500 unlängst zum ersten Mal formell Eingang in das Recht der internationalen Organisationen gefunden. Seine Operationalisierung ist jedoch auch im Rahmen der Europäischen Union noch mit erheblichen Problemen behaftet. 50 1 Die Frage, ob eine Aufgabe auf höherer Stufe "besser" durchgefiihrt werden kann, ist letztlich nur eine Umformulierung der Fragestellung; eine Antwort auf die Frage enthält jedoch auch der Subsidiaritätsgrundsatz nicht. Der Subsidiaritätsgrundsatz kann daher eine Auslegung der jeweiligen Befugnisnormen ebenfalls nicht ersetzen. Die Forderung einer Respektierung der inneren Souveränität oder Zuständigkeit ist letztlich - unabhängig von Art. 2 Nr. 7 Ch VN - keiner überzeugenden Formulierung in Form eines allgemeinen Grundsatzes fähig. Es ist somit festzuhalten, daß sich aus den allgemeinen Grundsätzen der Vereinten Nationen keine praktikablen Grenzen fUr die Feststellungsbefugnis des SR ableiten lassen;502 die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen vermögen den Kompetenzen des SR keine Konturen zu geben. Die Annahme eines Ermessens des SR im Rahmen seiner Feststellungsbefugnis nach Art. 39 ChVN scheitert damit daran, daß es nicht möglich ist, Rechtsprinzipien außerhalb des Art. 39 ChVN nachzuweisen, die zu einer sachgerechten Eingrenzung der Befugnisse des SR filhren würden; alle Vorschläge, die gemacht wurden, laufen daher entweder auf die Willkür des SR oder auf die des Rechtsanwenders hinaus. Eine überzeugende Eingrenzung der Befugnisse des SR muß daher ihren Ausgang bei Art. 39 ChVN selbst nehmen.
4. Rechtsbegriffe und Beurteilungsspielräume in Art. 39 ChVN
Es gilt somit nunmehr, die rechtlichen Voraussetzungen der Feststellung nach Art. 39 ChVN näher zu untersuchen. Dabei ist zunächst auf die Frage ein499 Gewisse Ansätze in dieser Richtung finden sich bei P.-M. Dupuy, RGDIP 1991, 630; Torelli in R.-J. Dupuy, S. 185ff., die beide das Subsidiaritätsprinzip als Grenze für die humanitäre Tätigkeit des SR nennen. 500 Vertrag über die Europäische Union, Art. G, Nr. 5, BGBI. 1992 II, 1253 (zukünftig Art. 3 b II EWGV): "In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". 501 Vgl. hierzu Lambers, EuR 1993, 229ff.; Mäschel, NJW 1993, 3027ff.; Scholz, FS Helmrich, S. 411 ff. 502 Reisman, AJIL 1993, 93; Degni-Segui in CotlPellet, S. 464.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
zugehen, ob Art. 39 Ch VN eine Rechtsverletzung voraussetzt. Im Anschluß daran wird versucht, eine nähere Umschreibung der Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN zu geben; abschließend ist die Frage zu klären, ob und inwieweit dem SR im Rahmen des Art. 39 ChVN ein Beurteilungsspielraum zusteht.
a) Die Frage des Sanktionscharakters Die Maßnahmen des SR sind immer eine Reaktion auf staatliches Verhalten. 503 In der' Diskussion über die Natur und Reichweite der Befugnisse des SR ist daher häufig die Frage untersucht worden, ob es sich bei den Maßnahmen nach Kapitel VII um "Sanktionen" handele;504 mit dem Begriff "Sanktion" ist dabei die Reaktion auf eine Rechtsverletzung gemeint. 505 Diese Diskussion ist von großer Bedeutung fi1r die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN, denn wären die Maßnahmen des SR als Sanktionen anzusehen, dann würde die Rechtsverletzung zu einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal des Art. 39 ChVN. Welche Bedeutung diesem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal zukommen würde, hängt allerdings noch von einer Reihe weiterer Fragen ab. Zum einen fragt sich, welche Normen die Maßnahmen nach Art. 39 ChVN eigentlich zu sanktionieren bestimmt sein sollen. Zum anderen ist auch danach zu unterscheiden, ob man die Rechtsverletzung fi1r eine hinreichende oder fi1r eine notwendige Bedingung im Rahmen des Art. 39 ChVN hält; die erste Annahme würde tendenziell eher auf eine Ausweitung, die zweite auf eine Einengung der Kompetenzen des SR hinauslaufen. In diesem Sinne ist in der Folge das Verhältnis des Art. 39 ChVN zum Gewaltverbot, zur Figur des internationalen Verbrechens sowie zum Völkerrecht im allgemeinen zu untersuchen.
503 Unklar Arntz, S. 26, der die Friedensbedrohung auch als "Situation" ansieht; eine "Situation" kann jedoch nie Adressat der Beschlüsse des SR sein, sondern immer nur ein konkreter Staat, auf dessen Verhalten eingewirkt werden soll. Richtigerweise verlangt daher auch Arntz a.a.O., daß im Ergebnis stets auch eine friedensbedrohende Handlung vorliegen müsse. 504 Vgl. etwa Arntz, S. 29ff.; Combacau, S. 12ff.; Cavare, RdC 1952 I, I 95ff. 505 Zur Unheitlichkeit der Verwendung des Begriffs im allgemeinen Völkerrecht vgl. Combacau, EPIL 9, 337; Beyerlin in Wolfrum, S. 721.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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aa) Art. 39 ChVN und das Gewaltverbot Zunächst gilt es, das Verhältnis von Art. 39 ChVN zu Art. 2 Nr. 4 ChVN zu klären, nach dem alle S06 Staaten verpflichtet sind, in ihren internationalen Beziehungen jede Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen; unter "Gewalt" wird im Einklang mit der Entstehungsgeschichte S07 dabei allgemein nur die bewaffnete Gewalt verstanden. S08 Damit ist zugleich klar, daß im Fall einer Verletzung des Gewaltverbots auch immer die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN gegeben sein werden; die eigentlich problematische Frage ist nur, ob man in der Verletzung des Gewaltverbots auch eine notwendige Bedingung ftlr die Feststellung im Sinne des Art. 39 ChVN sehen will. In der Literatur finden sich teilweise Ansätze, die daftlr plädieren, Art. 39 ChVN in engem Zusammenhang mit Art. 2 Nr. 4 ChVN zu sehen. S09 Dies gilt insbesondere auch ftlr die Arbeit von Arntz, der den Begriff der Friedensbedrohung in einer sehr eng an Art. 2 Nr. 4 ChVN angelehnten Weise defmiert: S10 "Eine Situation stellt dann eine Friedensbedrohung dar, wenn ernstzunehmende Anzeichen darauf hindeuten, daß eine Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch einen oder mehrere Staaten droht oder bereits erfolgt ist. [... ] Von den zahlreichen möglichen Gefahren rur den Weltfrieden erfaßt der Begriff der Friedensbedrohung also nur das letzte Stadium: die akute Gefahr, daß physische Gewalt iSd Art. 2 Z. 4 SVN in den internationalen Beziehungen angewendet wird."
Es ist zwar nicht sicher, daß die Herbeiftlhrung einer solchen "akuten Gefahr" wirklich immer schon einen Verstoß gegen das Gewaltverbot darstellen würde; bei einigen der von Arntz genannten Beispiele - wie etwa der Mobilmachung oder dem TruppenaufinarschslI - könnte man dies unter Umständen bezweifeln. Aber dies sind letztlich Fragen im Randbereich der Auslegung des Art. 2 Nr. 4 ChVN, die nichts an der Grundthese einer weitgehenden 506 Die gewohnheitsrechtliche Geltung des Gewaltverbots ist bestätigt worden durch die Entscheidung des lOH im Nicaragua-Fall. Merits, IC] Rep. 1986, 14, 99f. 507 Auf der Konferenz von San Francisco wurde ein Antrag Brasiliens, auch die Anwendung wirtschaftlichen Drucks in das Gewaltverbot aufzunehmen, ausdrUcklich abgelehnt (UNCIO VI, 334f., 609). 508 GoodrichiHambro/Simons, S. 49; Viral/y in CotlPellet, S. 122; RandelzhoJer in Simma, Art. 2 Ziff. 4, Rn. 17; Verdross/Simma, § 492; Jimenez de Arechaga, S. 85; Kewenig, BDGV 1982, 11; a.A. Zourek, FS Rolin, S. 534; Paust/Blaustein, AJIL 1974, 438. 509 Vgl. Menk, S. 86, der allerdings auf S. 106 dem Art. 39 eh VN gleichwohl einen weiteren Anwendungsspielraum einräumen will, um dann auf S. 141 aber doch wieder zu vertreten, Maßnahmen nach Kapitel VII dürften nur gegen den Rechtsbrecher gerichtet werden. 510 S.64. 511 A.a.O.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Deckungsgleichheit der Art. 39 ChVN und Art. 2 Nr. 4 ChVN ändern. 512 Fraglich ist jedoch, ob diese restriktive Sicht der Befugnisse des SR zutrifft. Zuzugestehen ist, daß in der Tat ein enger systematischer Zusammenhang zwischen beiden Bestimmungen besteht, der sich schon aus den Strukturprinzipien kollektiver Sicherheit ableiten läßt. 513 Zu diesen gehört vor allem das Merkmal der Introvertiertheit, dessen deutlichster Ausdruck Art. 2 Nr. 4 Ch VN ist; insofern sind sowohl Gewaltverbot als auch Zwangsgewalt des SR ein Reflex der einheitlichen Zielsetzung, die Anwendung von Gewalt auch im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander auszuschließen. Aus dieser einheitlichen Zielsetzung folgt jedoch noch nicht unbedingt eine übereinstimmende Reichweite bei der Bestimmungen. Schon ein Vergleich des Wortlauts bei der Bestimmungen legt eine solche Deckungsgleichheit nicht unbedingt nahe, denn das Merkmal der "Bedrohung des Friedens" in Art. 39 Ch VN würde so nahezu jede eigenständige Bedeutung verlieren; bestenfalls könnte es noch die "Androhung" der Gewaltanwendung im Sinne des Art. 2 Nr. 4 Ch VN umfassen. Vor allem ist aber zu bedenken, daß bei aller Einheitlichkeit der Zielsetzung nicht die Unterschiedlichkeit der Ansätze zu ihrer Verwirklichung übersehen werden darf. Art. 2 Nr. 4 Ch VN regelt die Rechte und Pflichten der Staaten untereinander; seine Durchsetzung erfolgt wie im klassischen Völkerrecht in dezentraler Weise und dabei insbesondere durch das Recht zur kollektiven und individuellen Selbstverteidigung nach Art. 51 S. I ChVN. Art. 39 ChVN ist dagegen die Rechtsgrundlage fUr kollektive, zentral gesteuerte und bis zu einem gewissen Grad rechtlich geordnete Maßnahmen zur Sicherung des Friedens, die nicht mit den gleichsam archaischen Mitteln der Selbsthilfe und Selbstverteidigung gleichgesetzt werden können. Diese strukturellen Unterschiede in dem Verfahren zur Durchsetzung der Ziele des Sicherheitssystems können nicht ohne Einfluß auf die Auslegung bleiben. Viele der Argumente, die fiir eine restriktive Auslegung des Art. 2 Nr. 4 ChVN - und damit im Reflex auch des Art. 51 Ch VN - sprechen könnten, greifen bei Art. 39 Ch VN nicht; es könnte daher durchaus als sinnvoll erscheinen, dem SR präventive Befugnisse zuzugestehen, die weit in das Vorfeld des Art. 2 Nr. 4 Ch VN hineinreichen. An dieser Stelle jedenfalls kann festgehalten werden, daß Art. 2 Nr. 4 ChVN und Art. 39 ChVN nicht von vornherein deckungsgleich sind;514 Art. 39 ChVN ist mehr als bloß ein Mechanismus zur Sanktionierung von Verstössen gegen das Gewaltverbot. 512 So betont Arntz auf S. 29ff. den Sanktionscharakter der Maßnahmen nach Kapitel VII; daraus ist zu schließen, daß er die genannten Fälle wohl auch als Verletzung des Gewaltverbots einstufen wUrde. 513 S. hierzu o. S. 134ff. 514 Neuhold, S. 114 und EPIL 4, 100; Dinstein, S. 258; R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 385 sowie FS Wehberg, S. 70.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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bb) Art. 39 ChVN und die "internationalen Verbrechen" Im allgemeinen Völkerrecht gibt es eine Reihe von Ansätzen, die Beachtung bestimmter, als essentiell fiir die Interessen der internationalen Gemeinschaft empfundener Normen dadurch zu sichern, daß ihnen ein besonderer, über den des allgemeinen Völkerrechts hinausgehender Status eingeräumt wird. 515 Diese Tendenz läßt sich feststellen in der Anerkennung zwingenden Völkerrechts in Art. 53 WÜV oder in der Diskussion um sogenannte Verpflichtungen erga ornnes. 516 Eine besondere Ausprägung hat sie jedoch in Gestalt der Figur der sogenannten "internationalen Verbrechen" von Staaten gefunden, die im Rahmen der Arbeiten der ILC zur Kodifikation der Staatenverantwortlichkeit entwickelt worden ist;517 die Relevanz dieser Figur fiir Art. 39 ChVN soll daher in der Folge untersucht werden. 518 Eine allgemeine Definition des "internationalen Verbrechens" findet sich in Art. 1911 des ersten Teils des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit519 , der bestimmt: "An internationally wrongful act which results from the breach by aState of an obligation so essential for the protection of fundamental interests of the international community that its breach is recognized as a crime by that international community as a whole constitutes an international crime." In Art. 19 III werden sodann in einer nicht abschließenden Aufzählung eine Reihe von Rechtsverletzungen genannt, die stets ein internationales Verbrechen darstellen sollten; dazu zählt die Aggression, der Kolonialismus, Sklaverei, Völkermord und Apartheid, aber auch die Verletzung gewisser essentieller Bestimmungen zum Schutz der Umwelt, "such as those prohibiting massive pollution of the atmosphere or of the seas". Wichtiger ist jedoch noch ein Blick auf die Rechtsfolgen des internationalen Verbrechens nach den Arbeiten der ILC. Hier ist zum einen hervorzuheben, daß - wie auch bei den Verpflichtungen erga ornnes - grundsätzlich jeder Staat berechtigt sein soll, auf die Begehung eines
515 Einen Überblick über Ansätze rur hierarchische Normstrukturen im Völkerrecht gibt Kadelbach, S. 26ff. 516 Vgl. hierzu schon die Entscheidung des JGH im Fall Barcelona Traction, JC] Rep. 1970, 3, 32; Frowein, FS Mosler, S. 243ff. 517 Hierzu allgemein Kadelbach, S. 52ff. 518 Vgl. dazu auch Gaja, RGDIP 1993, 307ff. 519 YJLC 1980 Il/2, 30.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
internationalen Verbrechens mit Repressalien zu antworten;520 zum anderen sind Pflichten zur Nichtanerkennung der durch das Verbrechen herbeigeftlhrten Situation und zur NichtunterstUtzung des Rechtsverletzers vorgesehen. 52! Diese Pflichten sind allerdings "subject, mutatis mutandis, to the procedures embodied in the United Nations Charter with respect to the maintenance of international peace and security"522. Damit soll jedoch nur ausgedrückt werden, daß etwaige Beschlüsse des SR nach Kapitel VII der Charta Vorrang vor den Pflichten nach dem Recht der Staatenverantwortlichkeit hätten; eine besondere Rolle im Rahmen der Ahndung internationaler Verbrechen wird dem SR hierdurch nicht zugestanden. 523 Die Bestimmung ist somit nicht mehr als eine besondere Ausprägung des eigentlich selbstverständlichen Grundsatzes, nach dem die Möglichkeit eines Eingreifens des SR nach Maßgabe der Charta von den Durchsetzungsmechanismen des Rechts der Staatenverantwortlichkeit nicht berührt wird. 524 Insgesamt ist somit festzustellen, daß die Figur des "internationalen Verbrechens" einen ausschließlich dezentral strukturierten Ansatz zur Durchsetzung des Völkerrechts darstellt; diese Eigenschaft teilt sie mit den übrigen Ansätzen zur "Hierarchisierung" des Völkerrechts, die alle letztlich auf eine Umorientierung und Effektivierung der Instrumente von Selbsthilfe und Selbstverteidigung hinauslaufen. Damit ist sie aber strukturell völlig anders ausgerichtet als Art. 39 ChVN, der die Aufgabe der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit beim SR zentralisiert und damit den Durchsetzungsstrukturen des klassischen Völkerrechts entzogen hat, und dies macht die Übertragung von Wertungen aus dem einen auf den anderen Bereich problematisch. Es wäre zum Beispiel keinesfalls systematisch einleuchtend, Feststellungen nach Art. 39 ChVN an das Vorliegen eines internationalen Verbrechens zu bin-
520 Vgl. Art. 9 LV.m. Art. 5 e des zweiten Teils des Entwurfes, wie er im ftlnften Bericht des Rapporteurs der ILC Willem Riphagen enthalten ist (YILC 19841111,2). 52! Art. 1411 des zweiten Teils (s.o. Fn. 520). 522 Art. 141II des zweiten Teils (s.o. Fn. 520). 523 Kritisch zu der denkbar unklaren Fassung des Art. 14 III auch Simma, AVR 1986,400. 524 Vgl. den bereits durch die ILC angenommenen Art. 5 des zweiten Teils (YILC 1983 1112, 43; dieser wird mittlerweile in der Arbeit der ILC als Art. 4 geftlhrt, vgl. YILC 1985 1111, 5): "The legal consequences of an intemationally wrongful act of astate set out in the provisions of the present part are subject, as appropriate, to the provisions and procedures of the Charter of the United Nations relating to the maintenance of international peace and security".
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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den; insofern gilt das schon zum Verhältnis zu Art. 2 Nr. 4 ChVN Gesagte entsprechend. 525 Man könnte sich höchstens fragen, ob nicht eine Rechtsverletzung, die schon jeden einzelnen Staat zur Anwendung von Gegenmaßnahmen berechtigt, nicht erst recht auch eine Situation im Sinne des Art. 39 ChVN begründen muß. Diese Frage wurde vom Berichterstatter der ILC verneint,526 ist jedoch streitig geblieben. 527 Das Problem dabei ist vor allem, daß die ausgesprochen weite Definition des internationalen Verbrechens im Entwurf der ILC keineswegs frei von Zweifeln ist;528 zudem handelt es sich bei dem Abstellen auf die "Anerkennung als internationales Verbrechen" durch die internationale Gemeinschaft letztlich um eine Leerformel, die keine Probleme löst. Die Figur des internationalen Verbrechens unterliegt wie auch alle anderen Versuche zur Hierarchisierung des Völkerrechts so erheblichen Zweifeln bezüglich ihrer Zweckmäßigkeit und ihres Anwendungsbereichs, daß jeder Versuch, hier die Wertungskriterien ft1r die Bestimmung der Weite der Kompetenzen des SR zu gewinnen, zum Scheitern verurteilt ist.
cc) Art. 39 ChVN und das allgemeine Völkerrecht Es ist nunmehr das Verhältnis des Art. 39 ChVN zum Völkerrecht im allgemeinen zu untersuchen. Klar ist dabei zunächst, daß die Verletzung des Völkerrechts allein noch keine hinreichende Bedingung ft1r das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN ist. 529 Der SR ist nicht der "bras seculier du droit international"530. Seine Zuständigkeit umfaßt nur die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit; sie gibt ihm nicht die allgemeine Befugnis zur Entscheidung aller Rechtsstreitigkeiten in den internationalen Beziehungen. 531 Problematisch ist dagegen die Frage, ob es sich bei der Verletzung 525 S.o. S. 215ft". 526 Vgl. den sechsten Bericht von Wi/lem Riphagen (YILC 198511/1,3): "It should be noted in this connection that the commission of an international crime does not necessarily affect the maintenance of international peace and security". Ebenso Gaja, RGDIP 1993, 308 (Fn. 25). 527 Gegen Riphagen etwa Mohr in SimmalSpinedi, S. 126; vgl. auch Grae} rath1Mohr, StuR 1986, 37, nach denen jedes internationale Verbrechen automatisch Fragen des Friedens und der internationalen Sicherheit aufwirft. 528 Vgl. etwaP.-M Dupuy, RGDIP 1980, 475ft". 529 Gaja, RGDIP 1993, 301. 530 Weckel, AFDI 1991, 173. 531 Näher zu dem Verhältnis von Zwangs- und Regelungsgewaltjedoch u. S. 254ft".
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des Völkerrechts vielleicht um eine notwendige Bedingung fUr die Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta handelt. Eine solche Auffassung könnte sich vor allem auf die Wirkung der Maßnahmen nach Kapitel VII stützen, die prohibitiv und in den Augen der öffentlichen Meinung häufig auch inkriminierend532 sind. Man hat daher die Maßnahmen des SR als repressive, dem Zweck der Durchsetzung des Rechts dienende Sanktionen verstanden 533 ; diese dürfe der SR nur gegen einen Staat richten, dem ein völkerrechtswidriges Verhalten zur Last falle. 534 Der SR wäre demnach in jedem zwischenstaatlichen Konflikt verpflichtet zu prüfen, welche der Parteien im Recht ist und welche im Unrecht; Maßnahmen, die im Widerspruch zu den materiellen Rechten der Parteien stehen, wären rechtswidrig und nichtig. Die Frage ist jedoch, woraus sich eine solche Bindung des SR an das allgemeine Völkerrecht ergeben sollte. Die Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN geben dafilr nichts her. Dabei kann dahinstehen, ob es - etwa aus Art. 2 Nr. 3 ChVN - eine allgemeine Pflicht gibt, den Frieden nicht zu bedrohen;535 denn selbst wenn es sie gäbe, käme man dadurch einer Präzisierung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 39 ChVN immer noch nicht näher. 536 Man könnte sich allerdings fragen, ob sich eine Bindung des SR an das Völkerrecht nicht aus seiner Bindung an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen gern. Art. 24 11 1 ChVN ableiten ließe. Jedoch gilt es, die klare Regelung des Art. 1 532 Aus dem "Strafcharakter" der Maßnahmen nach Art. 41 Ch VN schließt etwa Combacau, S. 133, diese dürften nicht gegen das Opfer einer Aggression gerichtet werden. Diese Auffassung Combacaus verträgt sich jedoch kaum mit seiner Annahme, daß der SR bei der Feststellung der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN ein unbegrenztes Ermessen habe (s.o. Fn. 367). Wenn der SR völlig frei ist zu entscheiden, welches Ereignis oder welche Handlung er zum Anlaß seines Eingreifens nehmen will, dann ist er auch frei einzuschreiten, gegen wen er will; konsequent in diesem Sinne etwa Dinstein, S. 257; R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 384f. 533 Menk, S. 141; Arntz, S. 29ff. 534 Menk a.a.O.; Arntz, S. 34. 535 Bejahend etwa R. L. Bindschedler, FS Wehberg, S. 70; zum Rechtscharakter der Verpflichtung aus Art. 2 Nr. 3 ChVN vgl. Tomuschat in Simma, Art. 2 Ziff. 3, Rn. Ilf. 536 Daher sind alle die Auffassungen, die den Sanktionscharakter der Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta damit begründen, daß die Herbeifilhrung einer Situation im Sinne des Art. 39 ChVN automatisch schon eine Verletzung der Charta bedeute, die durch den Beschluß des SR nur noch konkretisiert werde (so etwa Combacau, S. 16 und EPIL 9, 339; P.-M. Dupuy, RGDIP 1993,625; Kelsen, S. 736, der allerdings in AJlL 1948, 788 den Sanktionscharakter der Maßnahmen nach Kapitel VII verneint; Schaefer, S. 36, der von einer Verletzung der Charta "i.S.v. Art. 39" spricht) von einem reichlich theoretischen Charakter. Ihr einziger Sinn liegt vermutlich darin, die Maßnahmen des SR mit dem Anschein einer zusätzlichen Legitimation auszustatten; dies ist jedoch überflüssig, denn die Maßnahmen des SR legitimieren sich aus der Unterwerfung der Mitgliedstaaten unter seine Zwangsgewalt, und diese ist davon unabhängig, ob es sich nun um Sanktionen handelt oder nicht.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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Nr. I Ch VN zu beachten, in der die "Grundsätze der Gerechtigkeit und des Völkerrechts" als Richtlinie fUr den SR nur auf die friedliche Streitbeilegung nach Kapitel VI, nicht aber auf die Kollektivmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta bezogen werden. 537 In ganz ähnlicher Weise spricht auch der dritte Absatz der Präambel von der Aufgabe, überhaupt erst "Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können".538 Diese Differenzierungen sind nicht zuflilliger Natur, sondern waren Gegenstand eingehender Debatten auf der Konferenz von San Francisco. 539 Die Dumbarton Oaks Proposals hatten ursprünglich eine Bestimmung vorgesehen, die dem heutigen Art. I Nr. I ChVN in allen Belangen entsprach, jedoch überhaupt keine Bezugnahme auf das Völkerrecht enthielt;540 die heutige Fassung beruht auf einem Änderungsantrag, den die Sponsoren der Konferenz 541 selbst noch eingebracht hatten. 542 Gleichwohl gab es auch hierzu noch ein knappes Dutzend Änderungsanträge, die - mit Unterschieden in den Formulierungen alle darauf abzielten, den SR allgemein und insbesondere im Rahmen seiner Tätigkeit nach Kapitel VII an das Völkerrecht zu binden. 543 Diese Anträge wurden im Rahmen der Diskussionen in Komitee 1/1 unter anderem damit begründet, die VN dürften keinen "peace of expediency rather than a peace of justice" zulassen;544 dagegen wurde jedoch vorgebracht, eine Bindung an das Völkerrecht wäre geflihrlich, da sie fUr die Parteien eines Konflikts stets eine bequeme Ausflucht bieten würde, um sich den Anordnungen des SR zu entzie-
537 Kelsen, S. 730; Sciso, RDI 1992, 371; Kopelmanas, S. 198ff.; Dahm, S. 392; Kennedy, VaJIL 1993, 905f.; Conforti in R.-J. Dupuy, S. 55; diese Syntax des Art. 1 Nr. 1 ChVN mißachten dagegen diss. op. Weeramantry, Lockerbie, ICJ Rep. 1992, 50,65; Bedjaoui, S. 42 und FS Rigaux, S. 83; MacDonald, CYIL 1993, 25; Arntz, S. 33. Im übrigen hat der SR selbst nach Art. I Nr. 1 Hs. 2 ChVN die Wahl zwischen Gerechtigkeit und Recht, so daß ihm auch hier ein erheblicher Spielraum bleiben würde (vgl. Kelsen, S. 730 und AJIL 1948, 788f.; a.A. aber Higgins, AJIL 1970, 9). 538 Zur Entstehungsgeschichte dieser Wendung vgl. Wolfrum in Simma, Präambel (S. Iff.), Rn. 8f. 539 Vgl. die Darstellungen bei RusselllMuther, S. 636; GoodrichiHambrolSimons, S. 27f.; Jimenez de Arechaga, S. 37ff.; Kopelmanas, S. 198ff.; Wolfrum in Simma, Art. 1, Rn. 11; vgl. hierzu auch diss. op. Weeramantry, Lockerbie, ICJ Rep. 1992, 50, 60ff.
540 Punkt 1/1, UNCIO I1I, 2. 541 D.h. die schon an der Ausarbeitung der Dumbarton Oaks Proposals beteiligten SiegermIlchte Vereinigte Staaten, Sowjetunion, Groß-Britannien und China. 542 UNCIO I1I, 25. 543 Für eine Zusammenstellung dieser Anträge vgl. UNCIO VI, 535ff.; vgl. auch UNCIO VI, 27. 544 UNCIO VI, 318.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
hen. 545 Im Ergebnis enthielten die Änderungsvorschläge zwar Mehrheiten von 19 zu 15 beziehungsweise 19 zu 12 Stimmen, scheiterten damit jedoch an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. 546 Das Problem wurde aber durch einen ägyptischen Änderungsvorschlag erneut aufgeworfen, diesmal in Kommission 1, wo sich ebenfalls eine ausfUhrliche Diskussion entspann. 547 Befilrworter des Antrags warnten insbesondere vor einer Wiederholung einer ungerechten Friedensregelung ausschließlich zu Lasten kleinerer Staaten, wie sie etwa das MOnchener Abkommen von 1938 bedeutet hatte. 548 Letzten Endes scheiterte der Antrag jedoch auch hier mit 21 zu 21 Stimmen. Wesentliche Motive filr diese Ablehnung einer Bindung des SR an das Völkerrecht fmden sich in dem Diskussionsbeitrag des Delegierten der Vereinigten Staaten, Stassen: 549 "It is our view that the people of the world wish to establish a Security Council, that is, a policeman who will say, when anyone starts to fight, »Stop fighting« Period. And then it will say, when anyone is all ready to begin to fight, »You must not fight« Period. That is the function of a policeman, and it must be just that short and that abrupt; that is, unless at that place we add any more, then we would say, »Stop fighting unless you claim international law is on your side« That would lead to a weakening and a confusion in our interpretation."
Der Charta liegt somit die bewußte Konzeption zugrunde, den SR im Interesse eines schnellen und effektiven Eingreifens in seiner Tätigkeit nach Kapitel VII nicht an das allgemeine Völkerrecht zu binden. In der Tat wäre eine solche Bindung auch mit großen Gefahren filr das Sicherheitssystem der Vereinten Nationen verbunden. Dort, wo es bereits zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen ist, kann es unter Umständen ausgesprochen schwierig sein festzustellen, welche Partei nun der Angreifer ist und welche der Angegriffene; würde sich der SR auf derartige Diskussionen einlassen, wäre dies eine hervorragende Möglichkeit filr die Akteure, sich allen ihnen ungünstigen Beschlüssen des SR mit dem Argument zu widersetzen, sie beeinträchtigten ihre materiellen Rechte. Selbst dort, wo ein Konflikt noch nicht das Stadium der offenen militärischen Auseinandersetzung erreicht hat, kann ein Einschreiten des SR zur Verhinderung möglicher Gefahren ftIr den Weltfrieden nicht davon abhängen, ob eine friedensbedrohende Handlung nun mit dem Völkerrecht im Einklang steht oder nicht; die materiellen Rechte der Parteien stehen auch insofern unter dem Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit den Erfordernissen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Die Frage der Rechtswidrigkeit ist
545 A.a.O. 546 A.a.O.; vgl. zusammenfassend auch den Bericht in UNCIO VI, 446, 453f. 547 UNCIOVI, IO,21ff. 548 Vgl. etwa den Delegierten Urugays, UNCIO VI, 33. 549 UNCIO VI, 29.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
223
daher irrelevant fUr die Feststellung nach Art. 39 ChVN.550 Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta können auch gegen einen Staat gerichtet werden, dessen Verhalten im Einklang mit dem VR steht;551 gibt es mehrere den Frieden störende Staaten, so hat der SR insofern ein Auswahlermessen. 552
b) Die Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN Die Befugnisse des SR nach Kapitel VII der Charta sind gern. Art. 39 ChVN von der Feststellung abhängig, daß "eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung" vorliegt. Diese Tatbestandsmerkmale sind alternativ; es genügt, wenn auch nur eine der genannten Situationen vorliegt. Das Merkmal der Angriffshandlung unterscheidet sich allerdings von dem des Friedensbruches nur dadurch, daß mit ihm die Verantwortlichkeit fUr den Friedensbruch einer bestimmten Partei zugewiesen wird;553 die Frage der Verantwortlichkeit ist jedoch fUr die Befugnisse des SR ohne Belang. 554 Dementsprechend hat der SR auch niemals eine Angriffshandlung festgestellt. 555 Die folgende Untersuchung kann sich daher auf die Merkmale des Bruchs und der Bedrohung des Friedens beschränken. Dabei ist zunächst auf den Begriff des Friedens in Art. 39 ChVN einzugehen; anschließend ist darzulegen, daß und inwiefern Art. 39 ChVN nur den "internationalen" Frieden schützt. In einem dritten Schritt wird schließlich die Frage der Art und Intensität der Störung des Friedens zu erörtern sein; dabei ist insbesondere der Begriff der Bedrohung des Friedens zu bestimmen. 550 Combacau, S. 93; Akehurst, S. 220; Aroneanu, S. 131; Dicke/Rengeling, S. 82; Gowlland/Debbas, S. 452 und ICLQ 1994, 61; Lapidoth, AVR 1992, 114; Higgins, AJIL 1970, 16; Fink, AVR 1991,469; McDougal/Reisman, AJIL 1968, 8; von Schenk, ZaöRV 1968,262; Schilling, AVR 1995, 88f.; Uerpmann, AVR 1995,109. 551 Kelsen, S. 729 und AJIL 1948, 788; Bindschedler, RdC 1963 I, 384f. und FS Wehberg, S. 70; Combacau, S. 131; Ross, S. 141; Bowett, S. 255f.; Dinstein, S. 258; Dahm, S. 391; Goldberg, USDSB 1967, 143; Klein, FS Mosler, S. 487; vgl. auch Gerold, S. 114f., der diesbezüglich auf den Unterschied zu Art. 6 Rio-Vertrag hinweist,
nach dem Zwangsmaßnahmen ausdrücklich den Zweck haben "to assist the victim". 552 Näher zur Problematik und zu den möglichen Grenzen dieses Auswahlermessens u. S. 266. 553 Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 12. 554 Vgl. o. S. 219ff. Dazu, daß sich aus der Feststellung einer Angriffshandlung auch keine Selbstbindung des SR zum Einschreiten gegen den Angreifer ergibt, vgl. u. S.274. 555 Rambaud, RGDIP 1976, 846ff.; Weckei, AFDI 1991, 168; Dominice, EIlL 1991, 92; dies gilt selbst rur den Fall der irakisehen Invasion Kuwaits, vgl. o. S. 170.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
aa) Der Begriff des Friedens Einheitliches Schutzgut des Art. 39 ChVN ist der "Frieden"; es bedarf daher zunächst der Klärung, was unter diesem Ausdruck eigentlich zu verstehen ist. "Frieden" ist grundsätzlich ein auslegungsfilhiger Begriff; man kann unter ihm allein die Abwesenheit von bewaffneter Gewalt und akutem Zwang verstehen, man kann ihn aber auch weitergehend im Sinne eines harmonischen und konfliktfreien, in diesem Sinne also "friedlichen" Zusammenlebens interpretieren. Diese Deutungsmöglichkeiten bestehen auch fUr den Frieden als Schutzgut des Sicherheitssystems der Vereinten Nationen. Hier hat sich die Diskussion insbesondere an der der Friedens- und Konfliktforschung entstammenden Entgegensetzung von "negativem" und "positivem" Frieden entzündet, mit der die Notwendigkeit betont werden sollte, die Aufgabe der Friedenssicherung nicht nur an der unmittelbaren Gewaltanwendung, sondern vielmehr an den tieferliegenden Konfliktursachen zu orientieren. 556 Unter dem "negativen Frieden" wird demgemäß die bloße Abwesenheit von Krieg verstanden, während der "positive Frieden" die Gesamtheit der politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Voraussetzungen im Leben der Staaten und Einzelmenschen umfaßt, die ein dauerhaft konfliktfreies Zusammenleben erst garantieren. In Übertragung auf Art. 39 ChVN hängt von dieser Unterscheidung die grundsätzliche Orientierung der friedenssichernden Tätigkeit des SR ab; es fragt sich mit anderen Worten, ob dieser Garant nur der Minimalbedingungen internationaler Koexistenz ist oder ob zu seinen Aufgaben auch die Verwirklichung des "optimum world public order" gehört. 557 Das Selbstverständnis des SR ist insofern nie ganz eindeutig gewesen. Sicherlich ist er in der Vergangenheit verschiedentlich auch in Konflikten tätig geworden, die noch keine unmittelbare Anwendung bewaffneter Gewalt beinhalteten; hingewiesen sei insofern etwa auf sein Vorgehen gegen Südrhodesien, Südafrika, Libyen und Haiti. 558 Aber aus diesen vereinzelten Aktionen läßt sich noch keine allgemeine Aussage über das Schutzgut des Art. 39 ChVN ableiten; ebensogut lassen sie sich als Präventivmaßnahmen zur Sicherung des negativen Friedens auf der Grundlage des Tatbestandsmerkmals der Friedensbedrohung darstellen. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings die Erklärung des 556 Vgl. hierzu etwa RandelzhoJer in Delbrück, S. 13ff.; Czempiel in Delbrück, S. 77ff. 557 Zu der Unterscheidung von "minimum" und "optimum order" vgl. McDougal/Feliciano, S. VII. In ähnlicher Weise unterscheidet auch P.-M. Dupuy, RGDIP 1993, 623, eine "dimension structurelle" und eine "dimension securitaire" der Friedenssicherung, von denen nur die letztere dem SR übertragen sei. 558 S.o. S. 167ff, I 74ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
225
Präsidenten des - zum ersten Mal auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs tagenden - SR vom 31. Januar 1992, in der es heißt: 559 "Die Abwesenheit von Krieg und militärischen Konflikten garantiert fiir sich allein noch nicht den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Die nichtmilitärischen Ursachen von Instabilität im wirtschaftlichen, sozialen, humanitären und ökologischen Bereich sind zu Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit geworden." Diese Formulierungen lassen erkennen, daß sich auch im SR die Überzeugung durchzusetzen beginnt, daß eine effektive Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit tiefer ansetzen muß als nur am akuten militärischen Konflikt. Es geht allerdings zu weit, wenn vertreten wird, durch diese Erklärung sei die Diskussion um den negativen und positiven Friedensbegriff ein filr allemal im Sinne des letzteren entschieden worden. 560 Davon abgesehen, daß der SR durch bloße Erklärungen nicht seine eigenen Kompetenzen erweitern kann, ist auch fraglich, ob die Erklärung im Sinne einer Aussage zu der Reichweite der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 39 ChVN gemeint war. Dagegen spricht, daß die Erklärung im nächsten Satz fortflihrt, die Mitgliedstaaten müßten der Lösung der genannten Angelegenheiten "höchste Priorität beimessen und dabei unter Einschaltung der zuständigen Gremien vorgehen"561; daraus ergibt sich, daß der SR insofern keine Aussage zu seinen eigenen Befugnissen machen wollte, sondern lediglich den Aufgabenkreis der VN im ganzen umrissen hat. 562 Welches Organ im System der VN daher zur Wahrnehmung welcher Aspekte der Friedenssicherung befugt ist und mit welchen Mitteln, läßt sich nur aus einer differenzierten Betrachtung der jeweiligen Kompetenzgrundlagen ermitteln; es ist daher irrefilhrend, wenn teilweise von "dem" Friedensbegriff der Charta gesprochen wird. 563 Fraglich ist allein, was unter Frieden im Sinne des Art. 39 ChVN zu verstehen ist. Dabei ist zu beachten, daß die VN nach der schrecklichen Erfahrung zweier Weltkriege insbesondere von dem Bestreben geprägt war, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren"564; dementsprechend ist auch in Art. 1 Nr. 1 ChVN das Ziel der 559 SIPV. 3238, SCOR, 3238th meeting, 141, 143 (1992); Übersetzung aus VN 1992, 66f. 560 So aber Ipsen, VN 1992, 66. 561 SIPV. 3238, SCOR, 3238th meeting, 141, 143 (1992); VN 1992,66; Hervorhebung vom Verf. 562 Ebenso Graefrath, EJIL 1993, 187; Koojmans in R.-J. Dupuy, S. 118; Nowlan, FS Bock, S. 173f. 563 Vgl. etwa Wolfrum in Simma, Art. I, Rn. 5, der meint, der Charta liege der positive, Reuter, VN 1973, 19, der meint, ihr liege der negative Friedensbegriff zugrunde. 564 Vgl. den ersten Absatz der Präambel. 1S Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit im Verhältnis zu der Tätigkeit der VN im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und humanitären Bereich (vgl. Art. I Nr. 2 und 3 ChVN) klar hervorgehoben. Dieser abgestuften Zielsetzung entspricht auch eine differenzierte Regelung der Kompetenzen der Organe. Die Hauptverantwortung ftlr die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist allein dem SR übertragen (Art. 24 I ChVN); weitreichende Kompetenzen stehen diesem im wesentlichen nur unter den Voraussetzungen des Kapitels VII zur Verfilgung, während er im übrigen auf die Aufgabe friedlicher Streitbeilegung nach Kapitel VI beschränkt ist. Die Wahrnehmung der nicht unmittelbar sicherheitsrelevanten Aufgaben ist dagegen anderen Organen zugewiesen, so etwa der GV in Art. 13 und 14 ChVN sowie der GV und dem Wirtschafts- und Sozialrat in Kapitel IX und X der Charta; diese sind hierbei jedoch ausschließlich auf konsultative und koordinierende Tätigkeiten beschränkt. Diese differenzierte Kompetenzstruktur würde hinfllllig, wenn der Friede im Sinne des Art. 39 ChVN der positive Friede wäre. Der positive Friede ist nicht mehr als eine Zielvorstellung von denkbar höchster Abstraktheit, mit der sich jede nur denkbare politische Auffassung rechtfertigen läßt. 565 Wäre der SR nach Art. 39 Ch VN Garant eines positiven Friedens, dann könnte er letztlich jeden von ihm als solchen empfundenen sozialen Mißstand zum Anlaß seines Eingreifens nehmen; er würde wiederum zu der Weltregierung, die er nach dem System der Charta nicht ist und nicht sein soll. Auch aus der Verwendung des Begriffes der "internationalen Sicherheit" im Gegensatz zu dem des Weltfriedens in Art. I Nr. I und 39 Hs. 2 ChVN ergibt sich nichts anderes; Sicherheit ist nicht die absolute und optimale Sicherheit vor Konflikten, sondern beschreibt lediglich das Ergebnis der friedenssichernden Aktivität des SR aus der einzelstaatlichen Perspektive. 566 Ein enges Verständnis des Friedensbegriffs in Art. 39 ChVN wird letztlich auch durch dessen Wortlaut selbst bestätigt, denn es wäre kaum erkennbar, worin der Unterschied zwischen einer "Bedrohung" und einem "Bruch" des positiven Friedens liegen sollte. 567 Sicher kann auch ein solch enges Verständnis des Friedensbegriffs nicht in jeder Hinsicht befriedigen. Aus politologischer Sicht ist zutreffend eingewendet worden, daß es sich bei der Unterscheidung von positivem und negativem Frieden in gewisser Weise um ein Scheinproblem handelt. 568 Ziel allen politischen 565 Vgl. Bathe in R.-J. Dupuy, S. 72. 566 Den Begriff der Sicherheit definiert im Sinne einer "Sicherheit vor alIfiUligen Angriffen" Verasta, FS Verdross, S. 533f. Jede eigenständige Bedeutung spricht der Wendung ab Kelsen, S. 13. 567 Nawlan, FS Bock, S. 174. 568 Czempiel in Delbrück, S. 77.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
227
Handelns ist letztlich immer das gewaltfreie und harmonische Zusammenleben; dabei gibt es keine logische Grenze, die mittelbare und unmittelbare Ursachen von Krieg und Gewalt voneinander zu scheiden vermöchte. 569 Negativer und positiver Friedensbegriff unterscheiden sich daher entgegen dem ersten Anschein gar nicht so sehr in ihrer Zielsetzung; die eigentlichen Unterschiede liegen vielmehr darin, wie tief man zur Erreichung dieser Ziele anzusetzen bereit ist. Einer allein an der Zielerreichung orientierten Betrachtungsweise muß dabei jede entgegenstehende kompetenzielle Grenze als dysfunktional erscheinen; aber diese Betrachtungsweise kann nicht die des Völkerrechtlers sein. Organisatorische Strukturen lassen sich nicht auf Wunschdenken gründen; es gibt in den internationalen Beziehungen noch kein Organ, das geeignet und berufen wäre, Garant des positiven Friedens zu sein. Auch der SR ist zur Wahrnehmung nur einer begrenzten Kategorie von Aufgaben in der Lage; man täte ihm keinen Gefallen, wollte man ihm Aufgaben zuschieben, die er nach seiner Struktur gar nicht angemessen wahrnehmen kann. Die Idee eines "positiven Friedens" ist so verheißungsvoll wie inhaltsleer; sie vermag der politischen Entscheidung daher keine Orientierung zu geben. Was man in einer langfristigen Perspektive rur dem Frieden dienlich hält, folgt aus Gerechtigkeitsvorstellungen, die nicht aus dem Begriff des Friedens abgeleitet werden können, sondern ihm untergeschoben werden; der SR ist jedoch nicht das richtige Organ, um diese Gerechtigkeitsüberzeugungen mit verbindlicher Wirkung filr die internationale Gemeinschaft zu formulieren. Sicherlich ist die Gefahr nicht ganz von der Hand zu weisen, daß der SR damit letztlich darauf beschränkt bleiben könnte, an Symptomen zu kurieren, deren wirkliche Ursachen seinem Zugriff entzogen bleiben; sicherlich fehlen in den VN obligatorische Mechanismen eines "peaceful change", die Situationen im Sinne des Art. 39 ChVN vielleicht schon in der Entstehung verhindern könnten. 570 Aber diese Defizite lassen sich de lege lata nicht beheben. Dabei bedeutet eine Entscheidung filr einen engen Friedensbegriff noch keineswegs, daß dem SR insofern überhaupt keine präventiven Kompetenzen zustehen könnten; gerade der Begriff der Bedrohung des Friedens bietet hier Ansatzpunkte, die es wohlwollend, aber mit Augenmaß zu entwickeln gilt. 571 Nicht jede Form sozialer Instabilität kann daher schon unter Art. 39 ChVN fallen. 572 Art. 39 ChVN liegt ein "negativer Friedensbegriff" zugrunde: 573 sein 569 Zu den Wechselbeziehungen von "optimum" und "minimum order" vgl. auch McDougal/Feliciano, S. 122. 570 Dies kritisieren etwa Reuter, VN 1973,22; Kelsen, AJIL 1948, 790; Menk, S. 20f. 571 Vgl. dazu u. S. 232ff. 572 Graefrath, EJIL 1993, 186; ähnlich Gaja, RGDIP 1993,301. 15·
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Ziel ist ausschließlich die Verhinderung der Anwendung oder Androhung bewaffneter Gewalt. Ob ein konkretes Verhalten schon als "bewaffnete Gewalt" einzustufen ist, kann im Einzelfall zweifelhaft sein; insofern ist auf Art. 3 der Resolution zur Defmition der Aggression 574 verwiesen werden, der eine im wesentlichen akzeptierte Interpretation des geltenden Völkerrecht darstellt. 575 Wesentlich ist in jedem Fall jedoch, daß der Begriff des Friedens in Art. 39 Ch VN eine funktionale Grenze fiir die Tätigkeit des SR darstellt: sie ist ausgerichtet allein auf die Verhinderung oder Unterdrückung bewaffneter Konflikte. Aufgabe des SR ist nicht die Verwirklichung der optimalen internationalen Ordnung; seine Aufgabe ist es vielmehr allein, die Gewaltlosigkeit als Grundlage friedlicher Koexistenz in der internationalen Gemeinschaft sicherzustellen.
bb) Der internationale Frieden Mit der Feststellung, daß Frieden im Sinn des Art. 39 ChVN die Abwesenheit von physischer Gewalt bedeutet, ist noch nichts über die möglichen Akteure der gewaltsamen Konflikte gesagt, mit deren Verhinderung der SR betraut ist. Schon Art. 39 Hs. 2 ChVN nennt es jedoch als Zielsetzung der Maßnahmen nach Art. 41 und 42 ChVN, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit" ("international peace and security"/"Ia paix et la securite internationales") zu wahren oder wiederherzustellen; diese Formulierung wird auch in Art. 1 Nr. 1 ChVN verwandt. Somit ist klar, daß Ziel der Maßnahmen nach Kapitel VII nicht die Verhinderung von Gewaltanwendung schlechthin, sondern nur die Verhinderung von Gewalt in den internationalen Beziehungen ist;576 Schutzgut des Art. 39 ChVN ist nur der internationale Frieden. Damit stellt sich sogleich die Frage, wann ein Konflikt als "international" angesehen werden kann. International ist sicherlich ein Konflikt zwischen souveränen Staaten; den zwischenstaatlichen Krieg klassischer Prägung zu verhindern, war auch die vorrangige Motivation der Gründer der VN. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß es zu bewaffneten Konflikten kommen kann, die zwischenstaatlichen Kriegen in 573 Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 6; Randelzhofer in DelbrUck, S. 33, 36; Reuter, VN 1973, 19; Nowlan, FS Bock, S. 172; Tomuschat, RdC 1993 IV, 342; Delbrück, EPIL 3, 107; Neuhold, EPIL 4, 102; Heintze in Heintze, S. 72; Arntz, S. 22ff.; Worku, S. 2; Dicke/Rengeling, S. 20; Menk, S. 22. 574 S.o. Fn. 433.
575 Dies gilt selbst für denn wohl strittigsten Punkt der Definition, den der sogenannten "kleinen Gewalt" durch Entsendung oder Unterstützung irregulärer bewaffneter Einheiten (Art. 3 g der Definition), die auch vom IGH im Nicaragua-Urteil als Verstoß gegen das Gewaltverbot gewertet wurde (Merits, IC] Rep. 1986, 14, 103); vgl. hierzu Fischer in Ipsen, § 57, Rn. 31. 576 Kelsen, S. 19.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
229
Intensität und Ausmaß der Zerstörungen in nichts nachstehen, ohne daß an ihnen deshalb notwendigerweise souveräne Staaten beteiligt sein müßten. Gerade die nach Ende des kalten Krieges aufgebrochenen Konflikte im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und des ehemaligen Jugoslawiens sowie in verschiedenen Ländern Afrikas haben belegt, daß auch solche Konflikte eine erhebliche Herausforderung ftlr die internationale Ordnung bedeuten. 577 Die Frage ist daher, ob und inwieweit Konflikte zwischen nichtstaatlichen Akteuren den internationalen Frieden im Sinne des Art. 39 ChVN berühren können. In der Literatur findet sich insofern häufig die Aussage, der "reine Bürgerkrieg" berühre den internationalen Frieden nicht. 578 Aber diese Formel ist wenig aussagekräftig, da sie gerade offenläßt, wie denn die Grenze zwischen "reinem Bürgerkrieg" und internationalem Konflikt zu ziehen ist. 579 Ebenfalls nicht weiter fUhren Auffassungen, die eine Bedrohung des internationalen Friedens durch einen Bürgerkrieg jedenfalls dann bejahen, wenn in diesen andere Staaten hineingezogen zu werden drohen. 580 In diesem Fall der Verwicklung anderer Staaten würde es sich letztlich um einen zwischenstaatlichen Konflikt handeln; fraglich wäre daher allein, ob in den Umständen des Einzelfalls auch das Vorliegen einer "Bedrohung" des internationalen Friedens zu bejahen wäre. Damit kommt man jedoch nicht der Lösung der Frage näher, ob nicht auch ganz unabhängig von der Verwicklung anderer Staaten bewaffnete Konflikte zwischen nichtstaatlichen Parteien einen Bruch des internationalen Friedens darstellen können. Für die Beantwortung dieser Frage darf nicht allein an dem Begriff des "internationalen Friedens" gehaftet werden; abzustellen ist vor allem auf den Sinn und Zweck des Sicherheitssystems derVN. Dieses war dazu bestimmt, die dezentrale und gleichsam anarchische Struktur der unorganisierten Staatengemeinschaft zu überwinden; es sollte die zentrale, friedens sichernde Funktion übernehmen, die auf nationaler Ebene der Staat mit seinem Gewaltmonopol ausftHlt. Dabei hatten die Gründer nach der Erfahrung zweier Weltkriege sicherlich vor allem den zwischenstaatlichen Konflikt in all seiner Zerstörungskraft vor Augen. Aber es war letzten Endes nicht die Rechtsform der Akteure, die den Entschluß reifen ließ, die anarchische Anwendung bewaffneter Gewalt in den internationalen Beziehungen ein rur allemal auszuschließen; es war das Ausmaß der Zerstörung und des Leides, das der militärische Konflikt zwischen 577 Vgl. Kühne, APuZ 1993, B 15/16, 12f.
578 Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 7; Arntz, S. 69; Wengier, S. 31. 579 Dies sieht auch Kelsen, S. 19, der daher das Merkmal der Internationalität des Konflikts für weitgehend bedeutungslos hält. 580 Vgl. Arntz, S. 69; Kelsen, S. 19. Hierauf stellt auch ab Nowlan, FS Bock, S. 174fT.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
großen Verbänden unausweichlich mit sich bringt. Solche Zerstörungen hervorzurufen war niemals ein Monopol der Staaten und ist es heute weniger denn je. Der GS der Vereinten Nationen hat wiederholt die zunehmende Bedeutung und Häufigkeit militärischer Konflikte unter Beteiligung nichtstaatlicher Parteien betont;581 aus einer funktionalen Betrachtung heraus ist es daher nicht sachgerecht, dem SR das Eingreifen in einen Konflikt zu verwehren, der mit modernster Waffentechnik und größter Härte entlang geographischer Fronten gefilhrt wird, bloß weil die kriegsfUhrenden Parteien nicht als Staaten im Sinne des Völkerrechts anerkannt sind. 582 Die Form des Konflikts ist ausschlaggebend, nicht die Rechtsform der Akteure; es spielt insofern im Grundsatz keine Rolle, ob es sich bei den Parteien um Rebellengruppierungen, Befreiungsbewegungen, lokale de facto-Regimes oder souveräne Staaten handelt. 583 Das heißt allerdings noch nicht, daß jede irgendwie organisierte Gewaltanwendung größeren Ausmaßes automatisch schon einen internationalen Konflikt darstellen wUrde; es muß lediglich ein Abgrenzungskriterium gefunden werden, das weniger formal ist als das der Rechtsform der Akteure. Dieses kann aus der Erwägung gewonnen werden, daß die Funktionen der VN grundsätzlich subsidiär sind hinter der friedenssichernden Funktion der staatlichen Ordnung. Die VN respektieren das staatliche Gewaltmonopol; solange die staatliche Zwangsgewalt daher noch eine steuernde Funktion hat und über dem Geschehen wacht, handelt es sich auch nicht um einen internationalen Konflikt, in dem ein Eingreifen der VN erforderlich wäre. Wenn aber die Staatsgewalt zerbricht, wenn sie selbst zur kämpfenden Partei auf eine Stufe mit ihren Gegnern herabsinkt, dann ist der SR berufen, in die Lücke zu treten, die der Wegfall des staatlichen Gewaltmonopols gerissen hat. 584 Wann genau eine solche Situation eingetreten 581 Vgl. Bericht des Generalsekretärs über die Tätigkeit der Vereinten Nationen an die 47. Generalversammlung, VN 1992, 193,203. 582 Kühne, APuZ 1993, B 15/16, 13; Dinstein, S. 260; Kunz, AJIL 1951, 140; Akehurst, S. 220; Tomuschat, RdC 1993 IV, 335f.; Frowein, RdC 1994 IV, 379f.; enger aber noch ders. in Simma, Art. 39, Rn. 10, wo er darauf abstellt, ob es sich um ein ef-
fektiv unabhängiges de facto-Regime handelt. 583 Dies wird auch durch die jüngste Praxis des SR in den Fällen des ehemaligen Jugoslawiens, Somalias, Liberias, Angolas und Ruandas belegt. Im Falle des ehemaligen Jugoslawiens richtete der SR dabei seine Maßnahmen in zunehmendem Maße gegen die Partei der bosnischen Serben (vgl. SR-Res. 820 [1993] sowie 942 [1994]; s. dazu schon o. S. 171ff.). Im Falle Angolas richtete er seine Maßnahmen gezielt nur gegen eine der Bürgerkriegsparteien, die Rebellenbewegung UNITA (vgl. SR-Res. 864 [1994]; dazu o. S. 178). 584 Herdegen, FS Bemhardt, S. 116, spricht insofern von einer "Notgeschäftsftlhrung" durch den SR. Zum "failed state" vgl. auch Murswiek, Der Staat 1996, 37, der die Rechtfertigung einer Intervention der internationalen Gemeinschaft in solchen Fällen in der Sicherung des Selbstbestimmungsrechts des betroffenen Volkes sieht.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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ist, hängt von Umständen des Einzelfalls ab und kann nicht ein fiIr allemal entschieden werden. Die schwere Lösbarkeit eines Konflikts allein ist dabei noch kein Kriterium. Daß etwa die Behörden in Nordirland dem dort gefUhrten terroristischen Bandenkrieg nicht Herr zu werden vermochten, macht diesen noch nicht zum internationalen Konflikt; er bleibt vielmehr ein nationaler Konflikt, der mit politischen oder polizeilichen Mitteln zu lösen ist und in dem der SR auch gar keine sinnvolle Rolle spielen könnte. Ein wichtiges Kriterium wird es dagegen häufig sein, ob es zu einer territorialen Aufspaltung und der Etablierung einer lokalen Herrschaft gekommen ist. Eine solche Aufspaltung wird oftmals auch eine wesentliche Voraussetzung rur die Anwendung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta sein, die nur dann wirklich selektiv eingesetzt werden können, wenn eine räumlich Trennung der Parteien stattgefunden hat. Aber auch dort, wo es zu einem totalen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung gekommen ist wie etwa in Somalia, ohne daß sich dabei schon gefestigte Herrschaftsstrukturen herausgebildet hätten, sollte der SR nicht daran gehindert werden, hier im Rahmen seiner Möglichkeiten einzuschreiten. 585 Ein solches Einschreiten ist ein Einschreiten im Rahmen der Aufgabe der Wahrung oder Wiederherstellung des internationalen Friedens, das von den Voraussetzungen des Art 39 ChVN gedeckt ist. 586 Eines besonderen Abstellens auf den humanitären Aspekt - wie es insbesondere in Resolutionen 794 (1992) im Falle Somalias und 929 (1994) im Falle Ruandas zu beobachten war -, bedarf es daneben nicht; dieser ist vielmehr nur ein - wenn auch bedeutender und wünschenswerter - Reflex der friedenssichernden Aktivität des SR.587
585 Ebenso Tomuschat, RdC 1993 IV, 339; Herdegen, FS Bernhardt, S. 116; Greenwood, EA 1993, 106. A.A dagegen Schilling, AVR 1995,91, der das Vorgehen in Somalia rur nicht mehr von Art. 39 Ch VN gedeckt hält. 586 Wie hier auch das Internationale Jugoslawien-Tribunal, Prosecutor v. Tadic,
ILM 35 (1996), 32, 43. Der SR legt im Umgang mit solchen Situationen noch eine gewisse Unsicherheit an den Tag, wie SR-Res. 713 (1992) im Fall Jugoslawiens, SR-Res. 733 (1992) im Fall Somalias und SR-Res. 788 (1992) im Fall Liberias belegen, in denen er zwar jeweils gestützt auf Kapitel VII der Charta ein verbindliches Waffenembargo verhängt hatte, eine eindeutige Feststellung nach Art. 39 ChVN jedoch vermied (s.o. S. 171 ff.). Diese Praxis des SR kann jedoch nicht überzeugen. Auch die Verhängung eines verbindlichen Waffenembargos ist nur unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN möglich. Zwar mag es im Einzelfall schwierig sein festzustellen, wann genau die Schwelle zu einem internationalen Konflikt überschritten ist; dieses Problem läßt sich jedoch nicht durch unklare Wendungen beseitigen. Im Ergebnis wird man allerdings die Resolutionen des SR im Hinblick auf das Ausmaß der Kämpfe in den fraglichen Konflikten rur rechtmäßig halten können. 587 Ähnlich Lillich, ZaöRV 1993, 563, der auch rur humanitäre Aktionen das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 39 verlangt, dann allerdings aber dem SR insofern eine Entscheidungsprärogative einräumt (a.a.O., 564).
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Das entscheidende Kriterium ist nicht der zwischenstaatliche, sondern der
nicht mehr innerstaatliche Charakter eines Konflikts;588 verliert ein Konflikt
diesen innerstaatlichen Charakter, dann gibt es keine berechtigten und schutzwürdigen Interessen, die einem Tätigwerden des SR entgegengehalten werden können. Insgesamt kann somit festgehalten werden, daß ein Konflikt dann international ist, wenn er keiner staatlichen Kontrolle mehr unterliegt; auch die Gewaltanwendung zwischen nichtstaatlichen Akteuren kann somit einen Bruch 589 des internationalen Friedens darstellen.
cc) Repression und Prävention Mit der Erkenntnis, daß das einheitliche Ziel des Art. 39 ChVN die Verhinderung bewaffneter Konflikte in den internationalen Beziehungen ist, ist allerdings noch nichts Abschließendes über die Weite der Befugnisse des SR nach Kapitel VII der Charta ausgesagt. Diese hängt vielmehr davon ab, gegen welche Art von Störungen der SR den internationalen Frieden zu verteidigen befugt ist. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen den repressiven und den präventiven Kompetenzen des SR. Ein Einschreiten des SR ist zum einen möglich gegen jeden Bruch des Friedens. Ein Friedensbruch liegt vor, wenn es bereits zu einem bewaffneten Konflikt in den internationalen Beziehungen gekommen ist, der auch noch andauert;590 in diesem Rahmen übt der SR somit eine repressive Funktion aus. Jedoch gehört zu den Aufgaben des SR nicht nur die Wiederherstellung, sondern auch die Wahrung des Weltfriedens (Art. 39 Hs. 2 ChVN); er 588 Zu eng Murswiek, Der Staat 1996, 40f., der trotz grundsätzlicher Anerkennung der Probleme des "failed state" in diesen Fällen keine Bedrohung des internationalen Friedens im Sinne des Art. 39 ChVN sieht. Berechtigt allerdings die Warnung vor einer Überdehnung des Konzepts auf Fälle, in denen - wie etwa im Falle Haitis - von einern "failed state" keine Rede mehr sein kann. 589 Der SR zieht es vor, auch in diesen Fällen noch immer von einer "Bedrohung" des Friedens zu sprechen; vgl. etwa SR-Res. 757 (1992) zu den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien und SR-Res. 794 (1992) zu Somalia. Dies suggeriert jedoch, daß der Konflikt seinen friedensbedrohenden Charakter erst aus dem möglichen Hinzutreten weiterer Elemente erhält, auf die es jedoch gar nicht ankommt; sachgerechter ist es daher, schon den bewaffneten Konflikt selbst als Friedensbruch zu werten. Ebenso Petrovic/Condorelli, AFDI 1992, 35f. 590 Die militärische Niederringung des Gegners mit anschließender Besetzung oder Annexion seines Territoriums bedeutet allerdings noch keine Beendigung des Friedensbruchs; solange der völkerrechtswidrige Zustand andauert, bleibt der SR zum Eingreifen befugt. Zu Recht ist der SR daher auch nach der vollständigen Besetzung Kuwaits durch den Irak (vgl. dazu o. S. 170f.) von einern Fortbestehen des Friedensbruchs ausgegangen (zustimmend auch Greenwood, NZWehrr 1991, 52; Wecket, AFDI 1991, 168ff.); die unglückselige Behandlung der italienischen Annexion Äthiopiens im Jahr 1935 durch den Völkerbund (dazu o. S. 138f.) hat keine Präzedenzwirkung entfalten können.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
233
verrugt daher auch über präventive Kompetenzen. Ihre rechtliche Grundlage finden diese in Art. 39 Hs. 1 ChVN, nach dem der SR auch gegen "Bedrohungen" des internationalen Friedens einschreiten kann. Die zentrale Frage fiir die Reichweite der präventiven Befugnisse des SR ist daher, was unter einer solchen Bedrohung des Friedens zu verstehen ist. Dabei ist zunächst auf das Verhältnis der Kapitel VI und VII der Charta einzugehen; anschließend wird versucht, aus einer Gesamtbetrachtung der Strukturen der VN eine Definition des Begriffs der Friedensbedrohung zu geben.
(1) Das Verhältnis der Kapitel VI und VII Befugnisse zur Wahrnehmung seiner Aufgabe der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ergeben sich rur den SR nicht nur aus Kapitel VII, sondern auch aus Kapitel VI der Charta über "die friedliche Beilegung von Streitigkeiten". Nach Art. 34 ChVN kann der SR "jede Streitigkeit sowie jede Situation, die zu internationalen Reibungen ruhren oder eine Streitigkeit hervorrufen könnte, untersuchen, um festzustellen, ob die Fortdauer der Streitigkeit oder der Situation die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefiihrden könnte"; gern. Art. 35 ChVN sind Mitglieder wie Nichtmitglieder der VN befugt, die Aufinerksamkeit des SR auf derartige Streitigkeiten oder Situationen zu lenken. Liegt tatsächlich eine Streitigkeit vor, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens oder internationalen Sicherheit zu gefiihrden, so sind die Parteien gern. Art. 33 I ChVN zur friedlichen Streitbeilegung, und, falls diese nicht zum Erfolg fiihrt, gern. Art. 37 I Ch VN zur Vorlage an den SR verpflichtet. Dieser kann in diesem Fall geeignete Verfahren oder Methoden rur die Bereinigung der Streitigkeit empfehlen (Art. 36 I ChVN) oder aber Empfehlungen zur Sache selbst machen (Art. 37 11 ChVN). Diese ungemein differenzierte Regelung zwängt die Tätigkeit des SR im Rahmen der friedlichen Streitbeilegung in ein sehr enges rechtliches Korsett; das Verfahren nach Kapitel VI hat denn auch keine große praktische Bedeutung erlangt.591 Gleichwohl beinhaltet es ebenfalls eine Regelung der präventiven Befugnisse des SR im Rahmen der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, über deren Verhältnis zu Kapitel VII der Charta es daher Klarheit zu gewinnen gilt. So ist teilweise aus der Regelung, wonach die Befugnisse des SR im Rahmen des Kapitel VI davon abhängen, daß eine Streitigkeit vorliegt, deren Fortdauer die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit geflihrden könnte (Art. 36 I, 37 11 ChVN), geschlossen 591 Vgl. Tomuschat in Simma, Art. 33, Rn. 45.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
worden, der Begriff der Friedensbedrohung in Art. 39 ChVN könne folglich nur die unmittelbaren, akuten Gefahren rur den Weltfrieden erfassen. 592 Einer ganz ähnlichen Argumentation folgte die Mehrheit des SR anläßlich der - in dieser Form allerdings vereinzelt gebliebenen - Behandlung der sogenannten spanischen Frage; hier wurde darauf abgestellt, daß Kapitel VII nur unmittelbar bevorstehende Gefahren erfasse, während bloß potentielle Gefahren unter Kapitel VI der Charta fielen. 593 Es fragt sich allerdings, ob das Verhältnis der Regelungen der Kapitel VI und VII wirklich eine abschließende Aussage über die Weite der präventiven Kompetenzen des SR nach Kapitel VII der Charta ermöglicht. Zunächst ist zu beachten, daß beide Kapitel nicht in einem Verhältnis der Ausschließlichkeit stehen, sondern in einem solchen weiterer und engerer Anwendungsbereiche. Es gibt keinen Grund, warum der SR nicht auch im Falle einer akuten Friedensbedrohung oder eines Friedensbruches nach Kapitel VI der Charta tätig werden können sollte, wenn dies nach den Umständen des Einzelfalls dienlich erscheint; auch die Formulierung in Kapitel VI, wonach es die "Fortdauer" der Streitigkeit ist, die friedensgefährdende Wirkung haben muß, soll insofern den Anwendungsbereich des Kapitel VI nicht einschränken. 594 Die Situationen und Streitigkeiten des 34 ChVN umfassen somit die Streitigkeiten des Art. 33 I ChVN, und diese wiederum jene des Art. 39 ChVN. Dieses Verhältnis schließt allerdings die Möglichkeit systematischer Argumente nicht aus. Die differenzierte Regelung der Voraussetzungen der Befugnisse des SR aus Kapitel VI spricht jedenfalls dagegen, Art. 39 ChVN so weit auszulegen, daß filr Kapitel VI daneben kein eigener Anwendungsspielraum mehr bliebe. Es wäre schwer verständlich, warum in Art. 37 11 Ch VN die Befugnis des SR, Empfehlungen in der Sache zu machen, einer eingehenden Regelung unterzogen wird, wenn ihm daneben ohnehin schon immer die weitreichenden Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta offenstehen würden; aus dem Verhältnis der Kapitel VI und VII läßt sich daher immerhin folgern, daß der Begriff der Friedensbedrohung so bestimmt werden muß, daß er nicht die Regelungen des Kapitel VI gegenstandslos macht. Fraglich ist aber, ob daraus schon folgt, daß Art. 39 ChVN nur die akute Gefahr eines bewaffneten Konflikts erfaßt. Dies hängt wesentlich davon ab, wie eng man den Anwendungsbereich des Kapitel VI zu sehen bereit ist. Gar keine Grenzen bestehen letztlich filr die Befugnis des SR aus Art. 34 ChVN, Situatio592 Arntz, S. 49; Bothe in R.-J. Dupuy, S. 73. 593 S.o. S. 180. 594 Ebenso Escher, S. 29, die allerdings dann eine Ausnahme macht, wenn eine Partei bereits militärisch besiegt ist; diese Auffassung ist jedoch ebenso wie bei Kapitel VII abzulehnen (vgl. o. Fn. 590).
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
235
nen oder Streitigkeiten zu untersuchen, da sie ja darauf gerichtet ist, überhaupt erst festzustellen, ob ihre Fortdauer den Weltfrieden oder die internationale Sicherheit gefiihrden könnte. 595 Aber auch die Empfehlungsbefugnisse des SR nach Kapitel VI wird man angesichts der geringen Intensität des Eingriffs, der mit ihnen verbunden ist, nicht an zu weitreichende Voraussetzungen knüpfen dürfen; eine Streitigkeit, deren Fortdauer die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit gefährden könnte, wird man daher schon bei jeder Streitigkeit von einiger politischer Bedeutung bejahen können. 596 Damit bleibt auch ft1r die Interpretation des Begriffs der Friedensbedrohung in Art. 39 ChVN ein erheblicher Spielraum, der über die unmittelbare Gefahr eines bewaffneten Konflikts hinausgeht; wie dieser Spielraum auszufiHlen ist, läßt sich daher allein aus der Systematik der Kapitel VI und VII nicht abschließend beantworten. 597
(2) Der Begriff der Friedensbedrohung a) Der Begriff der Bedrohung des Friedens kann somit nur in einer Gesamtbetrachtung der Charta unter Berücksichtigung ihres Ziels und Zwecks ermittelt werden. Dabei fragt sich zunächst, ob nicht vielleicht der Auffassung zu folgen ist, nach der Art. 39 ChVN nur die "unmittelbare", "akute" oder "aktuelle" Gefahr ft1r den Frieden erfaßt. 598
Dabei ist zunächst schon problematisch, was eigentlich unter einer unmittelbaren Gefahr zu verstehen sein soll. 599 Als Beispiele sind etwa die Kriegserklärung, die Mobilmachung, der Truppenaufmarsch, erhebliche Grenzverletzungen sowie die Unterstützung oder Nichtbekämpfung bewaffneter Banden genannt worden. 600 Es handelt sich somit ausschließlich um Handlungen, die herkömmlich bereits eine unmittelbare Vorstufe der Anwendung bewaffneter Gewalt darstellen beziehungsweise bereits mit einer begrenzten Gewaltanwendung verbunden sind; bei nahezu allen dieser Handlungen wäre es zumindest denkbar, sie auch als Friedensbrüche einzustufen. Man könnte sich natürlich 595 Vgl. zu den Voraussetzungen des Art. 34 Schweisfurth in Simma, Art. 34, Rn. 12ff.; s. dazu auch o. S. 41. 596 Inkonsequent Escher, S. 29, die zwar einerseits für die Anwendbarkeit des Kapitel VI verlangt, es müsse eine militärische Kontliktlösung zu befürchten sein, andererseits aber dem SR bezüglich dieser Frage einen unbegrenzten Beurteilungsspielraum zugesteht. 597 Ebenso Nowlan, FS Bock, S. 180. 598 Nachweise s.o. Fn. 375. 599 Dazu auch Bothe in R.-J. Dupuy, S. 73. 600 V gl. Arntz, S. 64.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
fragen, ob die Unmittelbarkeit der Friedensbedrohung wirklich so eng verstanden werden müßte. Soll jedoch der Begriff seine Bedeutung behalten, dann kann man als "unmittelbar" in der Tat nur eine solche Bedrohung werten, die ohne das Hinzutreten weiterer wesentlicher Ereignisse in einen militärischen Konflikt münden kann. Damit wäre in jedem Fall der Anwendungsbereich des Merkmals der Friedensbedrohung sehr reduziert. Das Schwergewicht der Tätigkeit des SR müßte auf der Bekämpfung bereits aktueller Friedensbrüche liegen; die Friedensbedrohung würde seine Kompetenzen nur noch auf einige Grenzfälle ausweiten, in denen sich die Krise bereits so zugespitzt hat, daß in jedem Augenblick mit dem Ausbruch des bewaftheten Konflikts gerechnet werden muß. Durch eine solche Begrenzung des Tatbestandsmerkmals der Friedensbedrohung auf unmittelbare Gefahren würde in der Tat eine auch gerichtlich überprütbare Begrenzung der Befugnisse des SR erreicht; daß ebenfalls einige Zweifelsfälle verbleiben würden, ist unvermeidlich und spricht noch nicht gegen das Kriterium der Unmittelbarkeit. Es fällt allerdings auf, daß eine solche Definition der Friedensbedrohung in erheblichem Widerspruch zur Praxis des SR selbst stehen würde; denn in vier der prominentesten Fälle der Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen durch den SR - nämlich den Fällen Südrhodesien, Südafrika, Libyen und Haiti - lag eindeutig keine unmittelbare Gefährdung des Friedens in dem eben beschriebenen Sinne vor. 601 Dies legt immerhin die Frage nahe, ob eine so enge Umschreibung der Befugnisse des SR wirklich eine sachgerechte Lösung darstellen kann. Es darf nicht übersehen werden, daß eine Beschränkung der Befugnisse des SR auf das Endstadium internationaler Krisen mit erheblichen Problemen filr das Sicherheitssystem der VN verbunden wäre. Je weiter ein Konflikt eskaliert, desto mehr verhärten sich auch die Fronten; kommt es schließlich gar zur militärischen Auseinandersetzung, dann nimmt der Konflikt rur die Parteien oftmals eine so essentielle Bedeutung an, daß rur ein rational gesteuertes Verhalten kaum noch Platz bleibt. Die Erfahrung zeigt, daß in solchen Situationen Gewalt nur noch durch Gegengewalt, nicht aber durch politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Druck eingedämmt werden kann; die Erfolgsaussichten nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen selbst sehr umfassender Art sind hier oftmals äußerst gering. Gerade aber im Bereich militärischer Zwangsmaßnahmen sind die Befugnisse des SR bestenfalls eingeschränkt;602 voll entwickelte Befugnisse hat er allein im Bereich nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen nach Art. 41 eh VN, die er nach 601 Selbst die Analyse der Praxis des SR von Arntz aus dem Jahr 1975 ist insofern etwas zu optimistisch, wenn er auf S. I10f. mit Südrhodesien gerade den einzigen Fall als atypische Ausnahme wertet, in dem es bis dahin überhaupt zur Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen gekommen war. 602 Vgl. dazu o. S. 45ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
237
seinem Ennessen auch differenziert einsetzen kann. Sicherlich können nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen auch im militärischen Konflikt eine flankierende Bedeutung haben. Aber der abgestufte Katalog von Zwangsmaßnahmen, der dem SR nach dem Kapitel VII der Charta zur Verftlgung steht, legt es nahe, daß der Anwendungsbereich dieser Maßnahmen doch etwas weiter sein muß als dies nach der restriktiven Auslegung der Fall wäre. 603 Eine restriktive Auslegung des Begriffs der Friedensbedrohung läßt sich auch nicht damit rechtfertigen, daß die Anwendung von Zwangsmaßnahmen in Situationen, die noch keine unmittelbare Bedrohung des Weltfriedens darstellen, immer unverhältnismäßig wäre.6 04 Manche der Zwangsmaßnahmen des Art. 41 Ch VN - etwa der Abbruch der diplomatischen Beziehungen oder ein Embargo auf Waffenlieferungen - sind von durchaus begrenzter Intensität; umgekehrt kann es auch unterhalb der Schwelle der unmittelbaren Bedrohung des Friedens Verwerfungen und Krisen von solcher Schwere geben, daß die Anwendung jedenfalls nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen nicht von vornherein als unverhältnismäßig ausgeschlossen werden kann. Ein fast ausschließlich repressives Verständnis der Befugnisse des SR wird daher dessen Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten nicht voll gerecht. Die Charta spricht selbst in Art. 1 Nr. 1 ChVN davon, Ziel der kollektiven Maßnahmen sei es, "Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen"605; Art. 24 I ChVN überträgt dem SR die Aufgabe der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, und Art. 39 Hs. 2 ChVN spricht schließlich auch rur das Kapitel VII von der Aufgabe, "den Weltfrieden zu wahren oder wiederherzustellen"606. Die Aufgabe der Friedenssicherung hat also nach der Charta in der Tat einen "preemptive thrust,,607; dieser präventiven Ausrichtung der Kompetenzen des SR wird eine Auslegung nicht gerecht, die das Merkmal der Friedensbedrohung auf einen Grenzfall des Friedensbruches reduziert. 608 Der SR ist nicht verpflichtet, im Angesicht der zunehmenden Eskalation einer Krise mit einem Eingreifen zuzuwarten, bis die Parteien endlich zur Mobilmachung schreiten. Eine Beschränkung seiner Befugnisse nur auf die unmittelbare, 603 So auch schon ein Argument im SR anläßlich der Behandlung der spanischen Frage (s.o. S. 180.). 604 So Arntz, S. 53. 605 Hervorhebung vom Verf. Der Wortlaut dieser Bestimmung ist allerdings etwas unsystematisch, da die "Verhütung" wohl eher auf Friedensbrüche und Angriffshandlungen zu beziehen wäre. 606 Hervorhebung vom Verf. 607 Dinstein, S. 256; zu den präventiven Kompetenzen des SR ebenso Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 23; McDougal/Feliciano, S. 162; McDougal/Reisman, AJIL 1968, 7; D. L. Johnson, HILJ 1978,890. 608 Nowlan, FS Bock, S. 180.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
akute oder aktuelle Gefahr eines bewaffneten Konflikts ist daher abzulehnen; es muß eine andere Bestimmung des Begriffs der Friedensbedrohung gefunden werden.
ß) Damit stellt sich das Problem der Defmition des Begriffs der Friedensbedrohung nunmehr in voller Schärfe. Seine besondere Schwierigkeit und Komplexität ergibt sich daraus, daß sich unter den vielgestaltigen Ursachen internationaler Konflikte keine objektive Unterscheidung in nähere und entferntere vornehmen läßt. Jede Definition wird daher zum einen ein gewisses Maß an Willkürlichkeit aufweisen; jede Definition wird zudem auch - bedingt durch die Vagheit der Sprache - ein gewisses Maß an Unschärfe in sich tragen. Diese Schwierigkeiten rechtfertigen jedoch weder eine sachwidrig enge noch eine sachwidrig weite Definition der Friedensbedrohung. 609 Es geht daher nicht an, dem Begriff der "Bedrohung" eine so weite Fassung zu geben, daß der SR zu einer Art Weltregierung würde, die zu sein ihn letztlich niemand filr befugt halten kann; vielmehr gilt es einen Mittelweg einzuschlagen, der versuchen muß, juristische Definition und Sachgerechtigkeit in Einklang zu bringen. Hierbei ist insbesondere von der organisatorischen Struktur des SR auszugehen. Der SR ist kein Weltparlament; seine Zusammensetzung ist nur von eingeschränkter Repräsentativität. Zwar besteht er aus zehn gewählten Mitgliedern, bei deren Wahl auch der Gesichtspunkt einer angemessenen geographischen Verteilung zu berücksichtigen ist (Art. 23 I 3 Ch VN); darüber hinaus gehören ihm jedoch auch filnf ständige Mitglieder an, filr deren Zugehörigkeit insbesondere ihre hervorgehobene machtpolitische Stellung zur Zeit der Gründung der VN ausschlaggebend war (Art. 23 I 2 ChVN). Der SR ist eine hybride Einrichtung, halb machtpolitisches Zweckbündnis, halb Exekutivorgan einer rechtlich verfaßten Staatengemeinschaft. Diese Struktur bringt es mit sich, daß der Aufgabenkreis des SR nur ein beschränkter sein kann. Der SR ist gleichsam ein Organ "filr's Grobe". Es ist nicht seine Aufgabe, Lösungen filr die Detailprobleme der internationalen Beziehungen zu fmden; hierzu verfUgt er weder über die notwendige Legitimation noch über eine angemessene Problemlösungskapazität. Seine Aufgabe ist es vielmehr, dort tätig zu werden, wo machtvolles Eingreifen notwendig wird; sein Gestaltungsmittel ist vor allem der Zwang. Zwang kann jedoch nicht die Antwort auf alle Probleme der internationalen Beziehungen sein; er darf nur dann zur Anwendung kommen, wenn zum einen mit einer gütlichen Einigung nicht mehr zu rechnen ist und zum anderen die Bedeutung der Angelegenheit fiir die internationale Gemeinschaft im Ganzen eine solche Intervention rechtfertigt.
609 Allgemein zu dem definitorischen Problem in Art. 39 ChVN auch schon o. S. 197ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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Die Befugnisse des SR konstituieren daher ein "pouvoir de crise"610; es sind nur die erheblichsten Verwerfungen in den internationalen Beziehungen, die sein Einschreiten rechtfertigen können. Solche Verwerfungen sind allerdings nicht erst dann denkbar, wenn es bereits zum bewaffueten Konflikt gekommen ist oder ein solcher unmittelbar bevorsteht. Der SR muß vielmehr auch dann zum Einschreiten befugt sein, wenn die wesentlichen Bedingungen fUr den Erhalt des Friedens wegzufallen drohen. 611 Dies ist dann der Fall, wenn Reibungen und Konflikte in den internationalen Beziehungen ein solches Maß annehmen, daß sie unter Minderung der wechselseitigen Dialog- und Verständigungsflihigkeit zu einer weitgehenden Verhärtung der Positionen fUhren, wenn ein konfliktträchtiges Problem alle anderen Aspekte der wechselseitigen Beziehungen zu überlagern beginnt und so ein destabilisierendes Element612 in die Beziehungen trägt. Die Friedensbedrohung ist somit gekennzeichnet durch eine gewisse "Explosivität"613; diese Explosivität hängt jedoch nicht unbedingt von der zeitlichen Nähe eines bewaffueten Konflikts ab, sondern davon, ob eine Streitigkeit das zwischenstaatliche Klima so weitgehend beeinträchtigt, daß die Chancen rur eine friedliche Lösung des Konflikts dauerhaft gemindert sind. Wenn der Grundkonsens über die Wünschbarkeit friedlicher Koexistenz beeinträchtigt zu werden droht, dann muß auch der SR zum Einschreiten befugt sein, unabhängig von der häufig eher zufälligen Frage, ob der militärische Konflikt nun bereits unmittelbar bevorsteht oder nicht. Die Bedrohung des Friedens kann daher umschrieben werden als jedes Verhalten eines Staates, das zu einem so erheblichen Zerwürfnis in den internationalen Beziehungen filhrt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem bewaffneten internationalen Konflikt kommt, erheblich erhöht wird. 614 Für die Frage, ob dies der Fall ist, kommt es nicht auf die subjektive Einschätzung des einzelnen betroffenen Staates an; es muß sich vielmehr um ein Verhalten von einer solchen Schwere handeln, daß es nach den in der Staatengemeinschaft vorherrschenden Wertanschauungen zu einer wesentlichen Ursache fUr einen bewaffueten internationalen Konflikt werden kann.
610 Wecket, AFDI 1991, 166. 611 Heinz/Phillip/Wolfrum, VN 1991, 126.
612 Auf das Element der Destabilisierung weist D. L. Johnson, HILJ 1978,921, hin.
613 Combacau, S. 100.
614 Vgl. Nowtan, FS Bock, S. 181; Schilling, AVR 1995, 89f. Ähnlich Gaja, RGDIP 1993, 301; McDougat/Feliciano, S. 125, 259, die darauf abstellen, ob ein Verhalten "a substantiallikelihood ofa need for a military response" erzeuge.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen c) Beurteilungsspielräume des Sicherheitsrats?
Diese Definition ist natürlich einer weiteren Ausfilllung fähig und bedürftig. Wie eine solche Ausfilllung aussehen und welche Rolle der SR hierbei spielen kann, ist im folgenden weiter zu präzisieren. Auf der Grundlage der vorgenommenen Eingrenzung der Tatbestandsmerkmale des Art. 39 ChVN wird daher der Frage nachgegangen, inwieweit dem SR in diesem Rahmen Beurteilungsspielräume zuzugestehen sind. Diese Frage kann sich in zweierlei Hinsicht stellen: zum einen hinsichtlich der Tatsachenfeststellung, die im Rahmen des Art. 39 stets erforderlich ist; zum anderen bezüglich des in dem Merkmal der Friedensbedrohung enthaltenen prognostischen Elements.
aal Sachverhaltsermittlung Der erste Schritt auf dem Weg zur Feststellung eines Friedensbruchs oder einer Friedensbedrohung ist stets die Ermittlung der relevanten Tatsachen durch den SR; die zutreffende Tatsachenermittlung ist daher eine wesentliche Voraussetzung ftlr die inhaltliche Richtigkeit einer Feststellung nach Art. 39 ChVN. Es fragt sich jedoch, ob auch diese Tatsachenfeststellungen in uneingeschränkter Form der rechtlichen Kritik und Kontrolle unterliegen. Verbreitet wird dem SR insofern ein "Ermessen" zugestanden;615 dies gilt selbst ftlr Autoren, die die Feststellungsbefugnis des SR ansonsten ftlr rechtlich strikt gebunden halten. 616 Begründungen ftlr diese These finden sich allerdings kaum; ebensowenig wird klar, welche Grenzen dieses "Ermessen" - wobei man besser von einem Beurteilungsspielraum sprechen sollte617 - eigentlich hat. Es findet sich lediglich die allgemeine Behauptung, "a measure of discretion" sei "always involved in the evaluation of a factual situation"618; ein ähnliches Denken scheint auch hinter den Auffassungen zu stehen, die die rechtliche Unangreifbarkeit der Feststellungen des SR mit dem Argument begründen, es handele sich um Tatsachenfragen, nicht um solche rechtlicher Interpretation. 619 Die rechtliche Unangreifbarkeit von Tatsachenfeststellungen ist jedoch keineswegs ein so allgemeines Prinzip, wie dies aus diesen Auffassungen erschei615 GoodrichiHambro/Simons, S. 293; GoodrichiSimons, S. 352; Cavare, RdC 1952 I, 256 und RGDIP 1950, 659f. 616 Vgl. Arntz, S. 40, der meint, der SR habe insofern ein "gewisses Ermessen". 617 S. dazu o. S. 191. 618 GoodrichiSimons, S. 352; ebenso GoodrichiHambro/Simons, S. 293. 619 S. dazu o. S. 205.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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nen könnte. Das Völkerrecht selbst hat ohnehin kaum Gelegenheit gehabt, Maßstäbe ftir die Überprütbarkeit tatsächlicher Feststellungen durch internationale Organe zu entwickeln. 620 Es gibt zwar einige nationale Rechtsordnungen, die die gerichtliche Kontrolle behördlicher Tatsachenfeststellung nur in eingeschränkter Form zulassen;621 hingewiesen sei auf die sogenannte "substantial evidence rule" im Recht der Vereinigten Staaten, nach der nur überprüft wird, ob sich nach Lage der Akten hinreichend gewichtiges Beweismaterial zur Stützung der Annahmen der Behörde ergibt. 622 Allerdings sind diese Beurteilungsspielräume zumeist an die Beachtung gewisser Verfahrensgarantien durch die Behörde gekoppelt;623 im einzelnen sind die Regelungen des nationalen Rechts so differenziert, daß sich allgemeine Prinzipien kaum nachweisen lassen. 624 Die Diskussion muß sich daher ganz an den Funktionen und Möglichkeiten der jeweils fraglichen Organe orientieren. Dabei können die Befugnisse der Mitgliedstaaten zur Kritik an den tatsächlichen Feststellungen des SR nicht weiter gehen als die, die man dem IGH im Verfahren der inzidenten oder gutachtlichen Kontrolle zugestehen kann. Maßstab muß daher sein, wie eine sinnvolle und den Aufgaben und Befugnissen beider Organe gerecht werdende Verteilung der Kompetenzen im Bereich der Sachverhaltsermittlung zwischen SR und IGH auszusehen hätte. Dabei ist zunächst zu fragen, welche Verfahren und Instrumente der Sachverhaltsermittlung SR und IGH überhaupt zur Verfilgung stehen. Ein rechtlich eigenständiges Verfahren der Sachverhaltsermittlung kennt der SR nicht. Er verfilgt zwar über eine Untersuchungsbefugnis aus Art. 34 ChVN und kann Anregungen und Informationen sowohl von den Staaten (Art. 35 I, 11 ChVN) als auch vom GS (Art. 99 ChVN) empfangen; es kann aber nicht übersehen werden, daß die wesentlichsten Informationsquellen des SR nicht seine eigenen sind, sondern die seiner Mitgliedstaaten, insbesondere deren Geheim- und Nachrichtendienste. Dies hat gerade auch der Lockerbie-Fa1l625 deutlich gemacht, in dem sich die Überzeugung des SR einer Verwicklung Libyens in den internationalen Terrorismus ausschließlich auf Ermittlungsergebnisse der Behörden einiger Mitgliedstaaten stützte. Dem IGH dagegen stehen im wesentlichen die Instrumente der Sachverhaltsaufklärung zur Verfilgung, die auch vor 620 S.o. S. 57ft'. 621 Vgl. hierzu Lerche in Frowein, S. 250ft'.; zur Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland s. auch o. S. 190ft'. 622 Vgl. dazu Do/zer, DÖV 1982, 589; van A/styne in Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 2, S. 1149. 623 Vgl. hierzu Lerche in Frowein, S. 252. 624 Vgl. Lerche in Frowein, S. 249; Klinghoffer, Annuario 1968, 21, 31; Bullinger in Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 3, S. 219. 625 S.o. S. 21 ft'. 16 Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
nationalen Gerichten üblich sind;626 er kann die Erteilung von Auskünften und die Vorlage von Urkunden anordnen (Art. 49 S. 1 IGH-Statut), die Vornahme von Untersuchungen oder die Anfertigung von Gutachten in Auftrag geben (Art. 50 IGH-Statut) sowie Zeugen und Sachverständige vernehmen (Art. 51 IGHStatut). 627 Gleichwohl sind die Möglichkeiten einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung durch den IGH mehr als prekär. 628 Eine umfassende Sachverhaltsaufklärung würde es vielfach erforderlich machen, staatliche Aussagen zu hinterfragen und überprüfen, etwa durch Untersuchungen vor Ort, Vernehmung von Regierungsbediensteten oder Einsicht in amtliche Unterlagen; man kann davon ausgehen, daß eine solche Aufklärung regelmäßig auf den offenen oder versteckten Widerstand des betroffenen Staates stossen wird. Das Problem ist nun, daß der IGH selbst über keine Zwangsmittel verfUgt, um diesen Widerstand zu überwinden;629 bestenfalls kann er ihn, sofern er offen zutage tritt, im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigen. 630 Allein auf dieser Grundlage wird jedoch in der Vielzahl der Fälle keine überzeugende Entscheidung möglich sein; man muß daher festhalten, daß einer obligatorischen Sachverhaltsaufklärung durch den IGH erhebliche praktische Probleme entgegenstehen. Die Frage ist nun, welche Schlußfolgerungen aus diesen Problemen fUr die Praxis des IGH zu ziehen sind. Gem. Art. 36 II c IGH-Statut gehört zu den Aufgaben des IGH auch die Entscheidung über "das Bestehen jeder Tatsache, die, wäre sie bewiesen, die Verletzung einer internationalen Verpflichtung darstellt"; die Entscheidung über Tatsachenfragen gehört damit im Grundsatz durchaus zu den Aufgaben des Gerichtshofs. 631 Im streitigen Verfahren im allgemeinen gibt es rur ihn auch kaum eine Möglichkeit, diesen Problemen auszuweichen, denn keine der Parteien kann hier von vornherein Anspruch auf größere Glaubwürdigkeit erheben. So unzulänglich seine Mittel sein mögen, muß der IGH doch zur Aufklärung des Sachverhalts schreiten und hat dies in seiner Praxis auch verschiedentlich getan. 632 Verbleiben Zweifel, so ist - wie
626 Vgl. hierzu allgemein Rosenne: S. 572ff.; Highet, AJIL 1987, 7ff. 627 Das nähere Verfahren findet sich geregelt in Art. 62ff. der Verfahrensordnung des IGH. 628 Skeptisch insofern auch Orrego Vicuiia in R.-J. Dupuy, S. 46. 629 Vgl. hierzu Norton, VaJIL 1987, 479ft:; Highet, AJIL 1987, 10. 630 In diese Richtung geht auch die Regelung des Art. 49 S. 2 IGH-Statut. 631 Highet, AJIL 1987,6. 632 Für einen umfassenden Überblick über die Praxis des IGH vgl. Highet, AJIL 1987,13ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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der IGH im Fall Nicaragua ausgefilhrt hat633 _ nach den Grundsätzen der Beweislast zu entscheiden; die Schwierigkeit der Beweisaufuahme macht diese jedoch noch nicht von vornherein unzulässig. 634 Fraglich ist aber, ob diese allgemeinen Grundsätze im Fall der inzidenten Kontrolle der Beschlüsse des SR nicht der ModifIkation bedürfen. Das Besondere an dieser Konstellation ist, daß es nicht um die tatsächlichen Behauptungen der Parteien selbst geht, sondern diese vielmehr über die Berechtigung der tatsächlichen Feststellungen eines internationalen Organs im Streit sind. Sicherlich sind auch die Feststellung des SR nicht über jeden Zweifel erhaben; gerade das rechtlich weitgehend ungeordnete und auf Erkenntnissen der Mitgliedstaaten beruhende Verfahren der Sachverhaltsermittlung schränkt deren Verläßlichkeit in gewisser Weise ein. Gleichwohl ist jedoch festzustellen, daß die Mehrheitserfordernisse filr die Abstimmung im Sicherheitsrat es gewährleisten, daß dessen Sachverhaltsermittlungen im Regelfall immer noch ein erheblich höheres Maß an Objektivität aufweisen als einzelstaatliche Behauptungen. Umgekehrt sind die Probleme, vor die der IGH gestellt wäre, sollte er zu einer umfassenden Aufklärung der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Feststellung nach Art. 39 ChVN schreiten müssen, womöglich noch größer als dies schon im allgemeinen der Fall ist. Gerade im Bereich der Wahrung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit werden viele der relevanten Informationen nur über geheim- und nachrichtendienstliche oder sonstige vertrauliche Quellen zu erhalten sein; deren Offenlegung würden sich in vielen Fällen vermutlich aber selbst gutgläubige Staaten widersetzen. Gerade der Lockerbie-Fa1l635 macht deutlich, daß eine wirklich umfassende Überprüfung der tatsächlichen Annahmen des SR den IGH zu äußerst schwierigen und tiefgreifenden Ermittlungen zwingen würde, filr die ihm in vielerlei Hinsicht die organisatorischen Voraussetzungen fehlen. Anders als bei normativen Fragen läßt sich daher nicht sagen, daß der IGH das geeignete Organ wäre, um die tatsächlichen Feststellungen des SR einer umfassenden Überprüfung zu unterziehen. Dem SR ist daher ein Beurteilungsspielraum bezüglich der tatsächlichen Voraussetzungen der Feststellung nach Art. 39 ChVN einzuräumen. Hieraus wird zugleich deutlich, daß es im Recht der VN keine "Unschuldsvermutung" zugunsten der Mitgliedstaaten gibt, die der SR durch seine Feststellung nach Art. 39 ChVN widerlegen müßte;636 633 Nicaragua. Jurisdiction and Admissibility, IC] Rep. 1984, 392, 437. Kritisch dazu diss. op. Schwebet. Nicaragua. Merits, IC] Rep. 1986, 259, 293ff., 320ff.; zu diesem Norton, VaJIL 1987, 483ff. 634 So auch Norton, VaJIL 1987,483, der dem IGH insofern gleichwohl Zurückhaltung empfiehlt, ohne daß jedoch klar würde, wie dies praktisch umgesetzt werden sollte. 635 S.o. S. 21ff. 636 So aber wohl Graefrath, EJIL 1993, 197 und Mohr, DuR 1992,308, die beide gegen SR-Res. 748 (1992) einwenden, die Verwicklung Libyens in das Attentat von 16"
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilit!l.rischer Zwangsmaßnahmen
vielmehr geht es überhaupt nicht um Schuld oder Unschuld, sondern um die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, in deren Rahmen der Grundsatz "in dubio pro reo" keinen Platz hat. 637 Dies kann natürlich nicht heißen, daß der SR im Rahmen der Sachverhaltsermittlung völlig frei wäre; eine solche Auffassung würde alle rechtlichen Grenzen seiner Befugnisse schnell wieder leerlaufen lassen. Man kann vielmehr davon ausgehen, daß der IGH nicht daran gehindert ist, die Argumentation des SR wenigstens auf ihre äußere Plausibilität hin zu überprüfen; insofern dürfte es möglich sein! Argumente des Klägers, die die Annahmen des SR auch ohne eingehende Beweisaufuahme als in hohem Maße unwahrscheinlich erscheinen lassen, zu berücksichtigen. Wie intensiv diese Plausibilitätskontrolle letztlich zu sein hat, wird sich erst am konkreten Fall herausarbeiten lassen; dabei ist es keineswegs ausgeschlossen, daß diese Maßstäbe auch angezogen werden könnten, sollte die gerichtliche Kontrolle der Beschlüsse internationaler Organisationen sich einmal einer größeren Akzeptanz erfreuen als dies heute der Fall ist. Gegenwärtig muß dem SR insofern jedoch ein Beurteilungsspielraum zugestanden werden; dieser ist Bestandteil der in Art. 39 ChVN verankerten Feststellungsbefugnis und kann daher den Mitgliedstaaten auch außerhalb des gerichtlichen Verfahrens entgegengehalten werden.
bb) Prognose (1) Beurteilungsspielraum oder unbestimmter Rechtsbegriff?
Die Bedrohung des Friedens setzt ein Verhalten voraus, durch welches das Risiko eines bewaffneten internationalen Konflikts erheblich gesteigert wird. Ihr wohnt somit ein prognostisches Element inne; die Feststellung einer Friedensbedrohung bedeutet ein Wahrscheinlichkeitsurteil über die Fortentwicklung bestimmter Konflikte in den internationalen Beziehungen, aus dem erst auf ihr friedensbedrohendes Potential geschlossen werden kann. Die Frage ist nun, wem man dieses Wahrscheinlichkeitsurteil in letzter Instanz übertragen soll. Im nationalen Recht wird bei schwierigen Prognoseentscheidungen, die nur aufgrund einer besonderen Sachkenntnis oder Sachnähe getroffen werden können, Lockerbie sei nicht "bewiesen". Eine ganz anderes Problem ist es dagegen, daß der Grundsatz "in dubio pro reo" sehr wohl rur das Verfahren gegen die mutmaßlichen libyschen Attentäter gelten müßte, sollten sie denn einmal ausgeliefert werden; daß die nationalen Gerichte insofern zu anderen Ergebnissen kommen könnten als der SR, beeinträchtigt jedoch nicht die Rechtmäßigkeit der Feststellung des SR. 637 Ebenso Stein, AVR 1993, 223.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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den politischen Instanzen oftmals ein Beurteilungsspielraum zugestanden. 638 Es ist daher zu überlegen, ob die Entscheidung über den friedens bedrohenden Charakter eines Konflikts nicht ebenfalls eine solche ist, über die vor allem der SR im Rahmen seiner Hauptverantwortung filr den Frieden und die internationale Sicherheit zu befinden hat. Ein von rechtlicher Kontrolle freier Prognosespielraum kann dabei umso mehr angezeigt sein, je weniger die Prognose einer rationalen Überprüfung anhand objektiver Erfahrungssätze zugänglich ist. 639 Es ist jedoch fraglich, ob man annehmen kann, die Entscheidung über das Vorliegen einer Friedensbedrohung sei rationaler Kritik von vornherein nicht zugänglich. Zwar ist das Geschehen in internationalen Krisen regelmäßig durch eine so große Vielfalt von Faktoren determiniert, daß ihr weiterer Fortgang nie mit endgültiger Sicherheit vorhergesagt werden kann. Bloße Unsicherheit hinsichtlich des Prognoseergebnisses reicht jedoch noch nicht aus, um die Möglichkeit normativer Kritik auszuschließen. Auch in den internationalen Beziehungen ist die Bildung von Erfahrungssätzen über das friedensgeflihrdende Potential bestimmter Verhaltensweisen möglich und notwendig. Dabei darf nicht übersehen werden, daß diese Erfahrungssätze unausweichlich auch einen stark normativen Einschlag besitzen. Für die Überprüfung solcher normativer Urteile generell-abstrakten Charakters ist der IGH jedoch aufgrund der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit seiner Richter (Art. 2 IGH-Statut) und seiner relativen Repräsentativität filr die Staatengemeinschaft (Art. 9 IGH-Statut) in besonderer Weise qualifiziert. 640 Ein weiteres wesentliches Kriterium filr die Zuerkennung eines Prognosespielraums ist, daß hierdurch nicht rechtlich schutzwürdige Belange schutzlos gestellt werden dürfen. 641 Diese Gefahr einer weitgehenden Unterhöhlung der Souveränität der Mitgliedstaaten bestünde jedoch, wollte man dem SR einen Prognosespielraum hinsichtlich des Vorliegens einer Friedensbedrohung zuerkennen. Denn es ist nicht ersichtlich, wie ein solcher Prognosespielraum effektiv rechtlich begrenzt könnte. Eine "Vertretbarkeitskontrolle" der Feststellungen des SR ist weder im Hinblick auf seine Motive642 noch auf das von ihm zu be638 Vgl. Bleckmann, EuGRZ 1979,491,495. Zur Rechtslage in der Bundesrepublik im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers vgl. Ossenbühl, FS Bundesverfassungsgericht, S. 496ff. 639 Ossenbühl, FS Bundesverfassungsgericht. S. 501. 640 Vgl. Claude, Swords into Plowshares, S. ISS; G. Watson, HILJ 1993,45. 641 Vgl. beispielsweise zur Bedeutung der Wertigkeit von Grundrechten für die Weite von Prognosespielräumen im deutschen Verfassungsrecht Ossenbühl, FS Bundesverfassungsgericht, S. S06ff. 642 S. dazu schon o. S. 192ff.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
achtende Verfahren643 möglich. Auch äußere Grenzen wie etwa die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen bieten keinen Ansatz ftlr eine effektive Kontrolle. 644 Daher kann eine Kontrolle der Feststellungsbefugnis des SR immer nur anhand von objektiven und allgemeinen Rechtssätzen erfolgen. Hinsichtlich der Friedensbedrohung ist dies das Erfordernis der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten internationalen Konflikts. Diese Frage kann auch durch den IGH überprüft werden; ein Prognosespielraum steht dem SR insofern nicht zu.
(2) Die Dynamik des Begriffs der Friedensbedrohung
Dies heißt allerdings nicht, daß dem SR insofern jeglicher Gestaltungsspielraum genommen wäre. Auch nach der gegebenen Defmition der Friedensbedrohung ist diese nicht statisch. Es steht nicht ein ftlr alle Mal fest, welche Verhaltensweisen als Bedrohung des Friedens anzusehen sind; die Friedensbedrohung ist vielmehr ein offener Tatbestand, der auch zukünftige Entwicklungen aufzunehmen vermag. Diese Dynamik des Tatbestandsmerkmals der Friedensbedrohung ergibt sich insbesondere auch aus dem ihr eigenen normativen Element. Durch die Qualifikation eines Verhaltens als Friedensbedrohung wird zum Ausdruck gebracht, daß dieses nach den Wertungen der internationalen Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit aufgrund seiner Schädlichkeit und Gefllhrlichkeit als unter keinen Umständen mehr hinnehmbar anzusehen ist; die Friedensbedrohung markiert sozusagen die äußeren Grenzen der Toleranzbereitschaft der internationalen Gemeinschaft. Die Überzeugungen darüber, welche Werte der internationalen Gemeinschaft als so fundamental und essentiell angesehen werden, daß ihre Verletzung nicht mehr toleriert werden kann, sind jedoch nicht naturgegeben, sondern unterliegen dem Wandel. Dieser Wandel kann auch nicht ohne Einfluß auf das Wahrscheinlichkeitsurteil im Rahmen der Feststellung einer Friedensbedrohung bleiben, denn ein Verhalten, welches zu einer Zeit noch als Frage der inneren Angelegenheiten angesehen wird, mag zu einer anderen durchaus als so anstössig und verwerflich erscheinen, daß es zur Ursache militärischer Konflikte werden kann. Der Begriff der Friedensbedrohung kann daher nicht völlig isoliert von den Überzeugungen in der Staatengemeinschaft gesehen werden; ein Verhalten, das gegen Werte gerichtet ist, die von der
643 Dazu o. S. 203f. 644 Dazu ebenfalls schon o. S. 207ft".
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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überwältigenden Mehrheit der internationalen Gemeinschaft als unantastbar empfunden werden, kann daher als Friedensbedrohung angesehen werden. 645 Eine solche allgemeine Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft darf jedoch nicht zu voreilig bejaht werden. Ihren Ausdruck kann sie grundsätzlich in all den Formen fmden, in denen sich auch die Bildung des Völkergewohnheitsrechts vollzieht: durch einzelstaatliche Praxis ebenso wie durch multilaterale Verträge oder Beschlüsse internationaler Organisationen, wobei jedoch immer erforderlich ist, daß wirklich ein konkrete und nahezu universelle Überzeugung nachweisbar ist. In diesem Rahmen und unter diesen Voraussetzungen kann auch die Praxis des SR selbst einen gewissen Einfluß auf die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Friedensbedrohung haben; auch sie kann unter Umständen Ausdruck des generellen Willens der internationalen Gemeinschaft sein, gewisse Verhaltensweisen nicht mehr hinnehmen zu wollen. Eine Feststellung nach Art. 39 ChVN allein hat diese Wirkung jedoch noch nicht; nur dort, wo die Praxis des SR gleichsam zum Kulminationspunkt allgemeiner Anstrengungen in der Staatengemeinschaft wird, kann ihr eine gewisse Bedeutung filr das normative Element der Friedensbedrohung zukommen. Die Annahme eines solchen Wertewandels in der internationalen Gemeinschaft setzt zugleich voraus, daß auch die Praxis des SR insofern hinreichend konstant und konsequent ist; ein bloß vereinzeltes Vorgehen reicht insofern nicht. Mit diesen Einschränkungen und unter diesen Voraussetzungen kann daher in der Tat von einer "dynamischen Interpretation,,646 des Merkmals der Friedensbedrohung gesprochen werden; zwischen der Praxis des SR und der Auslegung des Art. 39 ChVN besteht eine gewisse Wechselbeziehung. Grenzenlos wird die Feststellungsbefugnis des SR allerdings auch dadurch nicht, denn sie bleibt gebunden an die Rechtsüberzeugungen in der Staatengemeinschaft, deren Beharrungstendenzen ihr enge Grenzen setzen.
645 Auf die Überzeugungen der Staatengemeinschaft stellt auch ab Conforti, S. 179 und in R.-J. Dupuy, S. 56. Ein ähnlicher Ansatz ist bei der Definition des ius cogens in Art. 53 S. 2 WUV und der internationalen Verbrechen in Art. 1911 des ersten Teils des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit (s.o. S. 217) zugrundegelegt worden, allerdings mit dem Unterschied, daß hier unter Verzicht auf jedes objektive Element allein auf die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft abgestellt wird. 646 lpsen, VN 1992, 42.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
(3) Einige Beispiele
Abschließend soll der gefundene Begriff der Friedensbedrohung durch einige Beispiele veranschaulicht werden; dabei wird allerdings kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Ein erster Bereich, in dem die Feststellung friedensbedrohender Handlungen in Betracht kommt, ist der der militärischen Rüstung und Bewaffnung. Hierbei geht es allein um die Frage, ob der Kauf oder die Entwicklung bestimmter Waffen schon an sich eine Bedrohung des Friedens darstellen kann; nicht gedacht ist an Situationen, in denen der Waffenkauf lediglich Teilaspekt und Mittel einer ohnehin schon als friedensbedrohend eingestuften Politik ist. 647 Wann militärische Rüstung an sich schon als Friedensbedrohung einzuschätzen ist, wird von verschiedenen Umständen des Einzelfalls abhängen. Zunächst werden Waffenkäufe erst dann als bedrohlich empfunden werden, wenn die Beziehungen zwischen den betroffenen Staaten nicht derart sind, daß ein bewaffneter Konflikt zwischen ihnen ohnehin kaum zu erwarten ist. Zudem ist Voraussetzung, daß die Rüstung des betreffenden Staates ein solches Ausmaß oder eine solche Qualität erlangt, daß hierdurch das Sicherheitsgefilhl potentieller Gegner in einer ganz erheblichen Weise beeinträchtigt wird; dies wird insbesondere im Fall einer atomaren, biologischen oder chemischen Bewaffnung anzunehmen sein, ist aber auch im Fall einer massiven konventionellen Aufrüstung und selbst bei einzelnen konventionellen Waffentypen denkbar. 648 Unter diesen Voraussetzungen ist das Problem der Rüstung ein nahezu exemplarisches Beispiel dafilr, wie Verhaltensweisen, die selbst noch nicht gewaltsam sind, zur Entstehung eines Konfliktpotentials filhren können, das die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten internationalen Konflikts in starkem Maße erhöht; durch die Rüstung kann es zu einer Spirale der Angst kommen, an deren Ende sich eine Partei allein aus einem Gefilhl der Bedrohung heraus zum Erstschlag entschließt. 649 Unter diesen Voraussetzungen muß der SR nach Art. 39 ChVN zum 647 Wie dies etwa bei der gegen die Waffenkäufe Südafrikas gerichteten SR-Res. 418 (1978) der Fall war; s. dazu o. S. 169f. 648 Ein Beispiel hierfür bietet der Einsatz der sogenannten Scud-Mittelstreckenraketen des Irak gegen Israel im Konflikt um Kuwait (vgl. dazu AdG 1991, 3548f.), in deren Anbetracht man durchaus vertreten kann, daß eine neue Aufrüstung des Irak mit vergleichbaren Waffen und unter dem gleichen politischen Regime eine Bedrohung des Friedens darstellen würde; dementsprechend hat SR-Res. 687 (1991) den Verzicht auf derartige Waffen zu einer Bedingung für die Einstellung der bewaffneten Kampfhandlungen gegen den Irak gemacht. 649 Insbesondere im mittleren Osten ist es häufig zu solchen Konflikten gekommen; erinnert sei etwa an die Bombardierung eines irakisehen Atomreaktors durch israelische Kampfflugzeuge am 7. Juni 1981, die Israel mit dem Verdacht begründete, der Irak arbeite an der Entwicklung von Atomwaffen (vgl. AdG 1981, 24639ff., 24692ff.).
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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Einschreiten berechtigt sein;650 insofern können auch die Rüstungskontrollbestimmungen, die dem Irak durch SR-Res. 687 (1991) auferlegt wurden, direkt aus Art. 39 ChVN gerechtfertigt werden. 651 Zugleich wird deutlich, warum ein Einschreiten des SR auch nicht davon abhängen kann, ob ein friedensbedrohendes Verhalten im konkreten Fall gegen das Völkerrecht verstößt oder nicht. So hat zwar der IGH festgestellt, daß in Abwesenheit besonderer vertraglicher Verpflichtungen alle Staaten nach dem Völkerrecht frei sind, über Art und Ausmaß ihrer militärischen Rüstung selbst zu entscheiden;652 dies kann jedoch kein Hindernis fiir den SR sein, gegen militärische Rüstung einzuschreiten, wenn diese zu einer Gefahr fiir den Weltfrieden wird. 653 Auch die Tatsache, daß der SR gern. Art. 26 Ch VN die Aufgabe hat, Pläne zur Errichtung eines Systems der Rüstungsregelung auszuarbeiten, ändert hieran nichts; die Notwendigkeit einer umfassenden Rüstungsregelung beeinträchtigt nicht seine Befugnis nach Art. 39 ChVN zum Einschreiten im Einzelfall. Ein weiteres Gebiet, auf dem ein Einschreiten des SR gegen Bedrohungen des Friedens in Betracht kommt, ist das des staatlich geförderten Terrorismus und ähnlicher gegen die Interessen fremder Staaten gerichteter Gewaltakte. Solche Akte stellen noch nicht selbst einen bewaffneten internationalen Konflikt dar, da sie nach Art und Ausmaß nicht den Charakter einer militärischen oder paramilitärischen Auseinandersetzung tragen. 654 Auch terroristische Einzelakte können jedoch schwerste Schäden verursachen, und sie können vor allem ein erhebliches Maß an Verunsicherung in den betroffenen Staaten auslösen. Diese Verunsicherung und die Schwierigkeit der direkten Abwehr terroristischer Einzelangriffe werden dabei oftmals einen erheblichen Handlungsdruck erzeugen, der in vielen Fällen in militärische Gegenschläge gegen den vermuteten Urheber
650 Marauhn, ZaöRV 1992,783; Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 23. 651 Vg!. Marauhn a.a.O.; Sur, AFDI 1991,51. Dies gilt unabhängig von der Frage,
ob dem SR im Rahmen der Auferlegung von Bedingungen rur einen Waffenstillstand noch besondere Befugnisse zustehen (vg!. o. S. 49f.). 652 Nicaragua. Merits, ICJ Rep. 1986, 14, 135. 653 Mahraun, ZaöRV 1992,783. Daher wäre der SR unter Umständen auch befugt, gegen eine an sich rechtmäßige Beendigung von Verpflichtungen aus einem Rüstungskontrollabkommen einzuschreiten; dieses Problem hätte sich zum Beispiel anläßlich der angedrohten Kündigung des Atomwaffensperrvertrags (Treaty on the Non-Proliferation ofNuciear Weapons v. 1. Juli 1968, UNTS 729,161, BGB!. 1974 I1, 786) durch Nordkorea stellen können (vg!. dazu AdG 1993, 37650ff., 37742f.), ganz unabhängig davon, ob dieser Rücktritt nach Art. 10 des Vertrags überhaupt zulässig gewesen wäre. In SRRes. 825 (1993) beschränkte sich der SR allerdings darauf, die nordkoreanische Haltung in scharfer Form zu kritisieren, ohne schon nach Kapitel VII tätig zu werden. 654 Vg!. in diesem Zusammenhang insbesondere Art. 3 g der Resolution zur Definition der Aggression (s.o. Fn. 433).
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
oder Förderer der Attentate münden kann. 655 Gerade die Tatsache, daß man ein Recht zur Selbstverteidigung aus Art. 51 ChVN gegen terroristische Gewaltakte nicht anerkennen kann,656 macht es umso dringlicher, hier zumindestens dem SR ein Eingreifen zu ermöglichen. Die Unterstützung terroristischer Akte durch nationale Regierungen fUhrt zu einem ganz erheblichen Konfliktpotential in den internationalen Beziehungen; sie ist daher eine Friedensbedrohung, auf die der SR mit Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta antworten kann. 657 Dies gilt in noch stärkerem Maße, wenn sich die Gewaltakte gegen staatliche Organe richten. Mordanschläge auf ausländische Staatsoberhäupter6 58 sind daher ebenso eine klare Bedrohung des internationalen Friedens wie etwa die Besetzung und Geiselnahme des Personals einer ausländischen Botschaft, jedenfalls wenn dies auf Veranlassung oder mit Unterstützung staatlicher Stellen geschieht. 659 Ein sehr viel problematischerer Anwendungsbereich des Merkmals der Friedensbedrohung sind dagegen Konflikte, die aus der Behandlung des Einzelnen durch seine eigene Staatsgewalt entstehen. Bis zum Ende des zweiten Weltkriegs wurde das Verhältnis von Bürger und Staatsgewalt nahezu ausschließlich als Gegenstand der inneren Angelegenheiten angesehen; hier ist es jedoch zu einem starken Wertewandel gekommen, der auch fUr die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Friedensbedrohung von Bedeutung ist. Seinen Anfang nahm dieser Prozeß mit den Bestrebungen um eine Dekolonisierung, die zu einer immer stärkeren Betonung des Rechts auf Selbstbestimmung (Art. 1 Nr. 2 Ch VN)660 bis hin zur Qualifikation der gewaltsamen Aufrechterhaltung kolo655 So filhrte etwa der Verdacht der Vereinigten Staaten, Libyen sei in den Anschlag auf die Berliner Diskothek "La Belle" verwickelt gewesen, am 15. April 1986 zur Bombardierung von Tripolis und Bengasi (vgl. AdG 1986, 29797ff.). Auch im Lockerbie-Fall (s.o. S. 2Iff.) standen mehr oder minder unausgesprochen Drohungen der Vereinigten Staaten und Groß-Britanniens im Raum, wiederum zu militärischen Maßnahmen zu greifen (vgl. Marschang, KJ 1993, 63). 656 Vgl. Fischer in Ipsen, § 57, Rn. 35. 657 Gaja, RGDIP 1993,306; Stein, AVR 1993, 223; Conforti, S. 181; a.A., aber zu eng Mohr, DuR 1992, 307f. 658 Erinnert sei etwa an die versuchte Ermordung des Staatspräsidenten Venezuelas auf Veranlassung des Diktators der Dominikanischen Republik, Trujillo, die im Jahr 1960 zu Zwangsmaßnahmen der OAS gegen die Dominikanische Republik filhrten (vgl. dazu Inter-American Institute, S. 139ff.). 659 Daher waren die Einwände der Sowjetunion gegen die Anwendbarkeit des Kapitels VII der Charta im Fall der Teheraner Geiselnahme (s.o. S. 18If.) nicht gerechtfertigt; ebenso Frowein in Simma, Art. 39, Rn. 22. Auch hier kam es übrigens zu einer militärischen Intervention der Vereinigten Staaten mit dem Ziel einer Befreiung der Geiseln, die allerdings scheiterte (AdG 1980, 23499). 660 Vgl. insbesondere die Declaration on the Granting o/Independence to Colonial Countries and Peoples, GV-Res. 1514 (XV) v. 14.10.1960 sowie die Declaration on Principles 0/ International Law Concerning Friendly Relations and Co-operation
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nialer Vorherrschaft als internationales Verbrechen durch die ILC 661 tUhrten. Ein besonderer Aspekt in diesem Rahmen war die konstante und zunehmend schärfer werdende Verurteilung der Praxis der Rassentrennung oder "Apartheid" in einigen Gebieten des südlichen Afrika durch die internationale Gemeinschaft,662 die schließlich zu der Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen gegen Südrhodesien663 und gegen die Republik Südafrika664 filhrte. Die Mißbilligung dieser Praktiken, die in der Tat zu einer beträchtlichen Belastung der internationalen Beziehungen und zu einer völligen Vergiftung der Atmosphäre zwischen den noch unter weißer Vorherrschaft stehenden Kolonien und Staaten und den bereits unabhängigen Staaten fUhren mußten, ist mittlerweile so allgemein und uneingeschränkt, daß man heute davon ausgehen muß, daß gewaltsamer Kolonialismus und Apartheid eine Bedrohung des Friedens darstellen. 665 Beide Praktiken spielen jedoch heute international keine große Rolle mehr. Dagegen stellt sich nunmehr die Frage, ob nicht auch ganz allgemein erhebliche Verletzungen der Menschenrechte eine Friedensbedrohung darstellen können. Eine besondere Situation ist dabei gegeben, wenn solche Praktiken nach ihrem Ausmaß und ihrer Zielsetzung zugleich den Tatbestand des Völkermordes im Sinne des Art. II der Völkermord-Konvention 666 erfUllen. Der Völkermord ist von der internationalen Gemeinschaft allgemein als eines der verwerflichsten Verbrechen anerkannt. 667 Hinzu kommt, daß ethnisch ausgerichtete massive Menschenrechtsverletzungen sehr häufig zu erheblichen Verwerfungen in den internationalen Beziehungen filhren müssen. Dies gilt selbst dort, wo es keinen anderen Staat gibt, der sich - etwa aufgrund ethnischer Verwandtschaft - zu einer Intervention hinreißen lassen könnte, denn unterdrückte Bevölkerungsgruppen sind die potentiellen Kriegsparteien von morgen. Ethnische Unterdrückung und Verfolgung bringen letztlich immer die Gefahr von bewaffheten Konflikten großen Ausmaßes mit sich; dabei ist unwesentlich, ob es zu einer Aufspaltung in souveräne Staaten kommt oder ob der among States in Accordance with the Charter 0/ the United Nations, GV -Res. 2625 (XXV) v. 24.10.1970 (AJIL 65 [1971], 243). 661 Vgl. Art. 19 III b des ersten Teils des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit (s.o. S. 217). 662 Vgl. in diesem Zusammenhang Art. 19 III c des ILC-Entwurfs (s.o. S. 217) sowie die International Convention on the Suppression and Punishment 0/ the Crime 0/ Apartheid (UNTS 1015, 244), die allerdings keine universelle Annahme gefunden hat. 663 S.o. S. 167f. 664 S.o. S. I 69f. 665 Dupuy, RGDIP 1980, 475; Grae/rathiMohr, StuR 1986, 37; Mohr in Simma/Spinedi, S. 126. 666 S. Einleitung, Fn. 34. 667 Vgl. Art. I der Völkermordkonvention (Einleitung, Fn. 34); Art. 19 III c des ILC-Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit (0. S. 217).
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Konflikt nur gleichsam de facto international ist. 668 Der Völkennord kann daher als Bedrohung des internationalen Friedens angesehen werden;669 dies gilt auch fUr nationale, ethnische, rassische oder religiöse Verfolgung und Unterdrückung im allgemeinen, wenn sie Ausmaße annimmt, die denen des Völkermords zumindest nahekommen. Daraus folgt allerdings noch nicht, daß Verletzungen der Menschenrechte generell schon eine Bedrohung des Friedens darstellen würden; dies gilt selbst dort, wo es sich um in einem Staat häufige und fortgesetzte Praktiken handelt. 670 Solche Rechtsverletzungen mögen zwar den inneren Frieden eines Staates gefiihrden, anders als bei ethnisch, rassistisch oder religiös orientierter Unterdrückung schlägt sie jedoch nicht so unmittelbar auf den internationalen Frieden durch; dies ist auch der Grund dafUr, daß den Problemen des Minderheitenschutzes stets das besondere Augenmerk der internationalen Gemeinschaft gegolten hat. Daher kann das politische Regime eines Staates nicht deswegen schon als Friedensbedrohung angesehen werden, weil es nicht westlichen politischen Standards entspricht oder im Widerspruch zur Verfassungsordnung des betreffenden Staates selbst steht. 671 Einer Qualifikation des Mangels an Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit als Friedensbedrohung steht gegenwärtig auch die Tatsache entgegen, daß wohl die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten der VN gemessen an westlichen Maßstäben über kein legitimes politisches System verfUgen; man wird hier kaum überall eine Friedensbedrohung annehmen können. 672 Daher begegnen auch die Maßnahmen des SR gegen Haiti zur Erzwingung der Wiedereinsetzung des gestUrzten Präsidenten Aristide 673 erheblichen rechtlichen Bedenken. 674 Der SR ist nicht der oberste Garant der Verfassungsordnungen der Mitglieder der Vereinten Nationen und er 668 Zum Merkmal des internationalen Konflikts vgl. näher o. S. 228ff. 669 Mohr in Simma/Spinedi, S. 126; GraefrathiMohr, StuR 1986,37. 670 Wie hier Higgins, S. 255. Weiter dagegen Abellan Honrubia, FS Diez de Velasco, S. 7; Dominice, SZIER 1995,437; Worku, S. 14. 671 Weitergehend Lukashuk in Damrosch/Scheffer, S. 147; Franck, ebd., S. 170, der
von einem im Entstehen begriffenen "Recht auf Demokratie" spricht. 672 Farer in Delbrück, S. 52f. 673 S.o. S. 176ff. 674 Schilling, AVR 1995, 91; Murswiek, Der Staat 1996, 43; Falk, HILJ 1995, 355ff.; a.A. Corten, EJIL 1995, 13\. Dasselbe gilt auch für die Zwangsmaßnahmen der OAS, die diese aufgrund des Rio-Vertrags gegen Haiti verhängt hatte (vgl. AdG 1991, 36079). In der OAS haben derartige Konflikte im übrigen eine gewisse Tradition. Schon 1954 faßten die Mitgliedstaaten der OAS die Resolution von Caracas, in der jede kommunistische Machtergreifung in einem amerikanischen Staat als Friedensbedrohung bezeichnet wurde (kritisch dazu Gerold, S. 102). Dementsprechend kam es 1964 zu Zwangsmaßnahmen gegen Kuba, deren Rechtmäßigkeit allerdings ebenfalls bestritten wurde (vgl. dazu Kutzner, S. 119f.; Gerold, S. 104).
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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hat bislang auch keine Anstalten gemacht, es zu sein. Es erweckt daher den Anschein einer gewissen Willkürlichkeit, wenn der SR nun gegen Haiti vorgeht und ein Staat wie China, dessen Regierung in westlichen Augen sicherlich über keinen höheren Grad an Legitimität verfUgt, als ständiges Mitglied des SR an der Verhängung der Zwangsmaßnahmen mitwirkt. 675 Die wenig überzeugende Art und Weise, in der der SR versucht hat, den "einzigartigen" Charakter der Situation auf Haiti darzutun, verstärkt dabei nur noch die Bedenken. Es liegt der Verdacht nahe, daß es hier mehr um die Wahrnehmung regionaler politischer Interessen ging als um die Wahrung des Weltfriedens;676 dafilr ist Kapitel VII jedoch nicht gedacht. Das politische System eines Staates an sich ist daher keine Friedensbedrohung; insofern gilt noch immer die Auffassung, die auch der SR im Rahmen der Behandlung der spanischen Frage677 zugrunde legte. Es kann und soll zwar nicht ausgeschlossen werden, daß der SR in Zukunft einmal stärkere Befugnisse im Hinblick auf die Gewährleistung von innerstaatlicher Demokratie und Menschenrechten erhalten wird; aber noch ist die internationale Gemeinschaft zu heterogen, als daß der SR eine solche Aufgabe wirklich konsequent erfilllen könnte. Insgesamt kann festgehalten werden, daß der Tatbestand der Friedensbedrohung dem SR durchaus weite, aber nicht grenzenlose Befugnisse gewährt. Hervorzuheben ist auch, daß dem SR insofern im Rahmen neuer Entwicklungen neue Aufgaben erwachsen können; zu denken ist dabei etwa an den Schutz von Natur und Umwelt, der auch auf internationaler Ebene eine zunehmend essentiellere Bedeutung zu gewinnen beginnt,678 oder staatlich gefOrderten internationalen Drogenhandel. 679 Der Tatbestand der Friedensbedrohung ist offen, um eventuelle Entwicklungen auf diesen und anderen Gebieten aufzunehmen; insofern bleiben auch die Aufgaben des SR ausbaufähig. 675 Farer in De1brück, S. 53. 676 Murswiek, Der Staat 1996, 43. Auch die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten insbesondere durch ihre Marinebasis Guantänamo auf Kuba mit einem Flüchtlingsstrom aus Haiti konfrontiert wurden (worauf sich auch der SR bezog, vgl. Abs. 9 und 11 der Res. 841 [1993]), ändert hieran nichts; es war nicht das geringste Risiko eines bewaffneten internationalen Konflikts erkennbar (a.A. Corten, EJIL 1995, 132f.). 677 S.o. S. 180. 678 Dabei ist weniger gedacht an absichtliche Schädigungen der Umwelt, wie sie etwa der Irak im zweiten Golfkrieg als Mittel der Kriegsfilhrung eingesetzt hat (vgl. AdG 1991, 35333), als vielmehr an die Frage, ob auch nur bedingt vorsätzliche bzw. fahrlässige Schädigungen der Umwelt großen Ausmaßes wie die Umleitung oder Stauung von Flüßen, die Abholzung von Regenwäldern oder die Verursachung atomarer Verseuchung eine Bedrohung des Friedens darstellen könnten. Es ist abzusehen, daß diese Fragen angesichts zunehmend knapperer Ressourcen und Lebensräume in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen werden. S. hierzu auch Farer in Delbrück, S. 55. 679 Dazu Kolosov in Damrosch/Scheffer, S. 236. Die organisierte Kriminalität als Friedensbedrohung nennt Farer in Delbrück, S. 46.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen 11. Probleme des Rechtsfolgenermessens
Liegen die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN vor, so hat der SR grundsätzlich ein Ennessen bezüglich der sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen. 680 Er ist grundsätzlich frei zu entscheiden, ob er überhaupt tätig werden will und falls ja, ob er sich fiir die Abgabe von Empfehlungen nach Art. 39 Hs. 2 Ch VN entscheidet oder zu militärischen oder nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen greift. Aber auch wenn sich der SR filr die Anwendung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen entschieden hat, bleibt noch Raum filr weitere Entscheidungen. Es muß festgelegt werden, was mit den Maßnahmen genau erreicht werden soll, der Adressat muß bestimmt und Art und Umfang der Maßnahmen definiert werden. Alle diese Entscheidungen können von beträchtlicher Bedeutung filr die Rechte der betroffenen Staaten sein; es fragt sich daher, ob der SR insofern in seiner Entscheidung völlig frei ist oder ob es rechtliche Grenzen seines Rechtsfolgenennessens gibt. Dabei ist zunächst der Frage nachzugehen, ob und inwieweit der SR durch nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen auch regelnd in die Rechte der Konfliktparteien eingreifen darf. Sodann ist das Problem der Adressatenauswahl im bewaffneten Konflikt zu. untersuchen. Abschließend wird auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie auf die Gebote der Humanität und der Menschenrechte als mögliche Grenzen des Rechtsfolgenennessens eingegangen.
1. Die Regelungsbefugnis des Sicherheitsrats
In der Praxis des SR ist immer wieder zu beobachten gewesen, daß dieser gleichsam wie ein internationales Gericht zu den völkerrechtlichen Rechten und Pflichten der Parteien Stellung bezieht und somit eine Art streitentscheidender Funktion wahmimmt;681 man hat insofern von einem "quasi-judiziellen" Cha-
680 Dahm, S. 391.
681 Vgl. hierzu, allerdings durchgehend ohne spezielle Auseinandersetzung mit Kapitel VII der Charta, Kahng, S. 150ff.; Halderman, S. 7Iff.; E. Lauterpacht, S. 39ff.; Schachter, AJIL 1964, 960ff.; Higgins, AJIL 1970, 5ff. Vorliegend wird dagegen nur auf das Problem einer Regelungsbefugnis im Rahmen des Kapitel VII eingegangen. Ob der SR daneben auch außerhalb dieses Kapitels in AusnahmeflUlen über streitentscheidende Kompetenzen verfUgt, kann hier nicht erörtert werden; vgl. insofern aber die Diskussion, die sich an der Rechtfertigung von SR-Res. 276 (1970) durch das NamibiaGutachten des IGH entzündete (dazu o. S. 37ff.).
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
255
rakter der Tätigkeit des SR gesprochen. 682 In der Praxis des SR nach Kapitel VII der Charta sind solche Stellungnahmen zu den materiellen Rechten der Parteien in verschiedener Form zu beobachten gewesen. So hat der SR teilweise eigenständige Beschlüsse gefaßt, in denen die Rechtswidrigkeit einer von ihm mißbilligten Situation oder die Nichtigkeit einer Handlung683 festgestellt wird; solche Beschlüsse sind regelmäßig mit der Aufforderung an die Mitgliedstaaten der VN verbunden, die entsprechende Situation oder Handlung nicht anzuerkennen. Teilweise ist die Regelung der materiellen Rechtspositionen aber auch nur eine implizite Folge der Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen; ein gutes Beispiel hierftlr ist etwa SR-Res. 748 (1992), in der der SR nicht nur die mutmaßliche Verwicklung Libyens in den internationalen Terrorismus zu einer Friedensbedrohung erklärte, sondern weit darüber hinausgehend auch anordnete, Libyen müsse dem Ersuchen der Vereinigten Staaten und Groß-Britanniens um die Auslieferung zweier libyscher Staatsbürger nachkommen. Eine ähnliche Tendenz des SR zu sehr tiefgreifenden Regelungen der aus Friedensbrüchen oder Friedensbedrohungen entstehenden Probleme und Konflikte zeigt sich übrigens auch in SR-Res. 687 (1991), in der als Bedingung ftlr die Einstellung der bewaffneten Kampfhandlungen gegen den Irak die Anerkennung einer im Einzelnen noch festzulegenden Grenze sowie die Leistung von Reparationen festgelegt wurden. 684 Es soll hier nicht auf die besonderen Probleme der Friedensregelungen im Anschluß an militärische Zwangsmaßnahmen eingegangen werden;685 gleichwohl ist es lohnend zu untersuchen, ob ein vergleichbarer, die materiellen Positionen der Parteien letztlich umfassend regelnder Beschluß auch auf der Grundlage der Art. 39,41 ChVN möglich wäre. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage nach der Existenz und Reichweite einer Regelungsbefugnis des SR im Rahmen des Kapitels VII. Ist er, sobald eine Feststellung nach Art. 39 ChVN erfolgt ist, befugt, die Situation in ihrer Gänze an sich zu ziehen und über alle insoweit auftauchenden Fragen abschließend zu entscheiden? Oder muß er sich vielleicht gerade umgekehrt jeder Einflußnahme auf die materiellen Rechtspositionen der Parteien enthalten? Diesen Fragen soll nunmehr nachgegangen werden.
682 Vgl. Schachter, AJIL 1964,960; E. Lauterpacht, S. 45. 683 So etwa SR-Res. 216 (1965), mit der die Rechtswidrigkeit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung Südrhodesiens festgestellt wurde; SR-Res. 662 (1990), in der die Annexion Kuwaits durch Irak filr nichtig erklärt wird. 684 S.o. S. 49f. 685 Zu den Gründen dafilr s.o. S. 50f.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
a) Die Diskussion auf der Konferenz von San Francisco Das Problem der substantiellen Regelungsbefugnisse des SR hat auch schon die Konferenz von San Francisco beschäftigt. Ausgangspunkt war die folgende Bestimmung der Dumbarton Oaks Proposals: 686 "Should the Security Council deern that a failure to settle a dispute [... ] in accordance with its recommendations made under paragraph 5 of Section A, constitutes a threat to the maintenance of international peace and security, it should take any measures necessary for the maintenance of international peace and security in accordance with the purposes and principles ofthe organization." Diese Bestimmung, hätte von einer großen Bedeutung fUr die Regelungsbefugnis des SR sein können. Die Empfehlungen nach dem ftlnften Absatz des Abschnitts A waren nämlich die Empfehlungen des SR zur Streitbeilegung in der Sache, wie sie heute im wesentlichen in Art. 37 11 ChVN vorgesehen sind; zudem bestand diese Regelung zusätzlich zu der dem heutigen Art. 39 ChVN entsprechenden, so daß man hätte annehmen können, daß der SR nach ihr befugt sei, die Nichtbefolgung einer Empfehlung zur Streitbeilegung in der Sache automatisch als Friedensbedrohung zu werten und dementsprechend Zwangsmaßnahmen zu verhängen. 687 Die Bestimmung wurde jedoch im Laufe der Diskussionen als zu kompliziert und überflüssig kritisiert und schließlich gestrichen;688 dies läßt darauf schließen, daß die Verfasser der Charta keine eigenständige Befugnis des SR zur Durchsetzung seiner Empfehlungen zur Streitbeilegung in der Sache wünschten. Im selben Sinne berichten Russell und Muther689 , ausschlaggebend filr die Streichung der Bestimmung sei die Befilrchtung gewesen, es könnte zu einer "imposition of settlement terms" durch den SR kommen; es sollte daher klargestellt werden, "that the Council could recommend terms or order sanctions". Dementsprechend wird vielfach vertreten, nach der Entstehungsgeschichte der Charta sei dem SR die endgültige
686 Punkt VIIIIB/1, UNCIO III, 1, 13. 687 Eine ganz ähnliche Position vertritt übrigens rur die Charta in ihrer geltenden Fassung Kelsen, S. 95, 728, nach dem der SR jederzeit frei ist, die Nichtbefolgung einer Resolution nach Kapitel VI als Friedensbedrohung zu werten. Auf der Grundlage der Annahme der Grenzenlosigkeit der Feststellungsbefugnis (vgl. Kelsen, S. 727) ist eine solche Auffassung zwar nur konsequent; nach der hier vertretenen Auffassung ist ein solcher Automatismus jedoch nicht mit Art. 39 ChVN zu vereinbaren (ebenso SteiniRichter in Simma, Art. 37, Rn. 57; Graefrath, EJIL 1993, 195). 688 Vgl. UNCIO XII, 372, 381 sowie den Bericht von Paul-Boncour, ebd., 502, 506. Vgl. auch Report to the President, S. 90, wo davon die Rede ist, Abschnitt VIIIIB habe einige "over-nice distinctions" enthalten. 689 S.669.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
257
Streitentscheidung versagt.690 Den VN fehle ein "Obligatorium der Streitbeilegung"; es gelte das Prinzip, daß kein Staat zu einer Konfliktregelung gezwungen werden dürfe. 691
b) Zwangsgewalt und Regelungsbefugnis Die Frage ist aber, ob die Streichung der Bestimmung aus den Dumbarton Oaks Proposals den Sicherheitsrat wirklich jeder Regelungsbefugnis berauben konnte. Ausgangspunkt der Überlegungen muß dabei die Befugnis des SR sein, verbindliche Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta anzuordnen, um die Einstellung eines bestimmten, den Frieden störenden oder bedrohenden Verhaltens zu erreichen. Aus dieser Möglichkeit des SR, ein bestimmtes Verhalten der Konfliktparteien zu erzwingen, ist zu schließen, daß Beschlüsse über Zwangsmaßnahmen zugleich die Wirkung haben, eine entsprechende Verhaltenspflicht der Parteien zu begründen. Auch insofern gehen die Beschlüsse des SR den Rechten der Parteien gern. Art. 25 Ch VN vor; mit der Verhängung von Zwangsmaßnahmen ist daher die Begründung materieller Verhaltenspflichten der Konfliktparteien unausweichlich verbunden. 692 Darüber hinaus findet sich eine Befugnis des SR zur verbindlichen Auferlegung von Verhaltenspflichten unabhängig von der gleichzeitigen Verhängung von Zwangsmaßnahmen auch in Art. 40 ChVN;693 dieser Bestimmung kommt insofern nur klarstellende Bedeutung zu. Gäbe es sie nicht, müßte man eine entsprechende Regel direkt aus der Zwangsgewalt des SR ableiten; eine gewisse Regelungsbefugnis ist der Zwangsgewalt somit immanent. Die hiermit verbundenen Rechtseingriffe können im übrigen auch im Verfahren der Inzidentkontrolle relevant werden; dies war insbesondere im Fall Lockerbie der Fall, wo sich der Rechtsstreit ja zwischen den unmittelbaren Streitparteien abspielte. 694
690 GoodrichlHambro/Simons, S. 300; Halderman, S. 69f.; limenez de Arechaga, S. 378; Manin, S. 77; Dinstein, S. 275f.; Klein, FS Mosler, S. 477, 482; Graefrath, EJIL 1993,193, 196. 691 Escher, S. 26. 692 Ebenso Klein, AVR 1991,434; Dominice, EJIL 1991,93, der darauf hinweist, daß auch Art. 41 S. 1 ChVN von inhaltlichen "Beschlüssen" spricht, deren Durchsetzung die Zwangsmaßnahmen dienen sollen. Ähnlich Higgins, AJIL 1970, 6, die meint, der SR könne wenigstens die Verhaltenspflichten der Mitgliedstaaten aus der Charta verbindlich festlegen. 693 Vgl. dazu o. S. 43f. 694 Insofern überzeugt es nicht, wenn verschiedentlich vertreten wird, inhaltliche Konflikte zwischen Resolutionen des SR und Entscheidungen des IGH könnten gar nicht auftreten, weil ersterer nicht über die Befugnis zur "substanziellen Streitrege1ung" 17 Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Die einzige Frage ist, wie tiefgreifend diese Regelungsbefugnis ist. Dabei ist zunächst die Bestimmung des Art. 40 S. 2 ChVN zu beachten, nach der vorläufige Maßnahmen "die Rechte, die AnsprUche und die Stellung der beteiligten Parteien" unberührt lassen. Daraus ist nicht im Umkehrschluß zu folgern, Maßnahmen nach Art. 41 oder 42 ChVN dürften die materiellen Rechte der Parteien berühren; aufgrund der einheitlichen Natur der Regelungsbefugnis des SR ist vielmehr davon auszugehen, daß Art. 40 S. 2 ChVN insofern eine allgemeine Regel aufstellt. Die Frage ist jedoch, welche Bedeutung dieser Bestimmung wirklich zukommen kann. Das Problem ist, daß es der SR, will er in einem Konflikt tätig werden, nicht venneiden kann, zugunsten der einen oder anderen Partei Stellung zu beziehen; dies gilt unabhängig davon, ob der SR nun lediglich "vorläufige Maßnahmen" anordnet oder gleich zur Verhängung von Zwangsmaßnahmen schreitet. Schon ein einfaches Beispiel genügt, um dies zu verdeutlichen: will der SR etwa gegen einen militärischen Konflikt einschreiten, in dem es bereits zur teilweisen Besetzung des Territoriums einer der Parteien gekommen ist, so kann er entweder einen Waffenstillstand anordnen oder einen Waffenstillstand verbunden mit dem Rückzug aus den besetzten Gebieten. Nun ist aber keineswegs gesagt, daß die erfolgte militärische Besetzung gegen das Völkerrecht verstoßen hat. Jede denkbare Anordnung beeinträchtigt daher die Rechte und Interessen einer Partei; beiden zugleich kann es der SR niemals Recht machen. 695 Strikte Neutralität von Beschlüssen des SR ist unmöglich. 696 Eine regelnde Wirkung ist mit den Anordnungen und Maßnahmen des SR nach Kapitel VII untrennbar verbunden; die Wendung, der SR "could recommend tenns or order sanctions"697, suggeriert einen Gegensatz, den es so gar nicht gibt.
verfilge (vgl. etwa Klein, FS Mosler, S. 477, 482; Dinstein, S. 275f.). Davon abgesehen, daß Konflikte schon im Hinblick auf die Pflicht zur Duldung der Zwangsmaßnahmen an sich auftreten können (vgl. dazu o. S. 33ff.), liegt in der verbindlichen Auferlegung von Verhaltenspflichten rur die Parteien ein Eingriff, der gern. Art. 25 ChVN auch im Verfahren vor dem lOH beachtlich ist. 695 Diese Problematik wurde im Zusammenhang mit dem niederländisch-indonesischen Konflikt im Jahr 1947 erörtert (RoP, Bd. 2, S. 375f.); hierzu auch Jimenez de Arechaga, S. 326; Simon in CotlPellet, S. 685. Nicht überzeugend dagegen Dominice, EJIL 1991,93, der die in SR-Res. 660 (1990) enthaltene Anordnung, der Irak solle sich aus Kuwait zurückziehen, nicht mehr rur eine "vorläufige" Maßnahme im Sinne des Art. 40 Ch VN hält; es fragt sich, was dann überhaupt noch eine vorläufige Maßnahme wäre. 696 Jimenez de Arechaga, S. 326; Simon in CotIPellet, S. 684f.; Kelsen, S. 743; GoodrichiHambrolSimons, S. 308; Schachter, AJIL 1964, 964; ebenso rur Kapitel VI Escher, S. 104f. Vgl. auch Bailey, S. 36, der meint, der SR könne einen Streit abschließend entscheiden, wenn dies rur die Aufrechterhaltung des Weltfriedens erforderlich sei. 697 RusselllMuther, S. 669.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
259
Der Unterschied zwischen einer Regelung durch den SR aufgrund seiner Befugnisse nach Kapitel VII der Charta und einer Entscheidung über die materiellen Rechte der Parteien, wie sie etwa ein internationales Gericht treffen wUrde, liegt vielmehr auf einer anderen Ebene. Er besteht darin, daß der Beschluß des SR nur Verhaltenspflichten der Parteien aus und auf Grundlage der Charta begründet. Der SR ist kein internationales Gericht. Sein Beschluß kann die Rechte und Pflichten der Parteien nach dem allgemeinen Völkerrecht nicht verbindlich interpretieren; er überlagert sie lediglich, soweit dies ftlr die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist. In diesem rechtlichen Sinne sind die Maßnahmen des SR daher in der Tat "vorläufig", denn sie schließen nicht aus, daß nach Wegfall des Friedensbruchs oder der Friedensbedrohung und nach Ende der Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta nach allgemeinem Völkerrecht vielleicht in einem anderen Sinn über die Rechte der Parteien zu entscheiden ist als dies der SR getan hat. Diese - durch den Wortlaut der Charta allerdings nur unzureichend ausgedrUckte - Konzeption war letztlich auch die der Verfasser der Charta; dies kommt zum Ausdruck in der Weise, wie der SR mit einem Polizeibeamten verglichen wurde, der die Streitparteien erst einmal trennt und in Gewahrsam nimmt, bevor er sie zur Klärung von Recht oder Unrecht vor den Richter ruhrt. 698 Man kann allerdings nicht umhin festzustellen, daß diese Analogie zur Rolle des Polizeibeamten in der nationalen Rechtsordnung auf einer Vereinfachung beruht. Sie übersieht, daß es jenen Richter, vor den der SR die Parteien bringen sollte, in der internationalen Ordnung gar nicht gibt. Es gibt keine obligatorische Gerichtsbarkeit im Völkerrecht; und auch die Streitbeilegung nach Kapitel VI der Charta kann nicht gegen den Willen der Parteien erfolgen. 699 Solange es aber keine obligatorischen Mechanismen friedlicher Streitbeilegung gibt, wird allen Anordnungen und Maßnahmen zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ein hohes Maß faktischer Endgültigkeit anhaften; 700 die Endgültigkeit ist dabei in dem Sinne zu verstehen, daß sich der betroffene Staat ihr nicht mehr einseitig zu entziehen vermag. Natürlich stünde es den Parteien offen, sich in freien Verhandlungen auf eine andere als die vom SR getroffene Regelung zu einigen. 698 V gl. etwa die schon zitierte Stellungnahme des Delegierten Stassen auf der Konferenz von San Francisco (0. S. 222). Ein ganz ähnliches Verständnis der Rolle des SR findet sich auch bei Bowett, S. 254. 699 Kaum überzeugend daher die Argumentation von Stassen, UNCIO VI, 30, der in der Tätigkeit des SR nach Kapitel VI eine Parallele zu der einer "Jury" im nationalen Recht sehen wollte. 700 Tavernier, EJIL 1990, 280: "Ie provisoire peut durer fort longtemps"; ähnlich Menk, S. 346, der davon spricht, die Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII seien "possesorisch" im Ziel, aber "petitorisch" im Ergebnis. Daran scheitert auch der Vorschlag von E. Lauterpacht, S. 44, der die Regelungsbefugnis des SR dadurch begrenzt sieht, daß der SR nur das "unmittelbar Notwendige" anordnen dürfe; das Problem ist ja, daß das unmittelbar Notwendige im Ergebnis endgültig ist. 17'
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Aber das können sie nach einem Gerichtsurteil auch; das Problem wird regelmäßig nur sein, daß die begünstigte Partei gar kein Interesse an einer Neuverhandlung der Angelegenheit haben wird. In ihren faktischen Wirkungen unterscheidet sich daher ein Beschluß des SR nach Kapitel VII der Charta kaum von einem Richterspruch. Der Unterschied liegt vielmehr in ihrer engen funktionalen Ausrichtung. Ihr Ziel ist nicht die Verwirklichung der materiellen Rechte der Parteien; ihr Ziel ist allein die Vermeidung oder Beendigung bewaftheter internationaler Konflikte.1° 1 Die Regelungsbefugni~ ist somit an die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN gebunden; und aus diesem Zusammenspiel von Zwangsgewalt und Regelungsbefugnis folgt der quasi-judizielle Charakter der Tätigkeit des SR nach Kapitel VII der Charta.
c) Art. 39 ChVN als Grund und Grenze der Regelungsbefognis Die Regelungsbefugnis ist somit nicht unbeschränkt. Sie hat ihre Grundlage in Art. 39 ChVN, und in diesem findet sie auch ihre Grenzen. Der SR kann nur insoweit in Rechte der Parteien eingreifen, als dies zur Beseitigung des Friedensbruchs oder der Friedensbedrohung erforderlich ist; er kann nur solche Verhaltenspflichten auferlegen, die der Beseitigung solcher Situationen dienen. Die Regelungsbefugnis des SR ist allein auf das Ziel der Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bezogen; eine darüber hinausgehende Kompetenz, Recht zu setzen, Recht zu sprechen oder gar zu strafen, steht ihm nicht zu. Damit wird das Problem allerdings lediglich ZUTÜckverlagert in die Auslegung des Art. 39 ChVN. Wie hier die Grenzen gezogen werden könnten, soll anhand einiger praktischer Beispiele erörtert werden.
aa) Das Auslieferungsverlangen im Fall Lockerbie Einen schwierigen Grenzfall der Ausübung der Regelungsbefugnis des SR stellt SR-Res. 748 (1992) im Fall Lockerbie 702 dar, in der der SR Libyen unter anderem verpflichtete, die zwei des Bombenanschlags auf den bei Lockerbie abgestürzten Jumbo Verdächtigten an die Vereinigten Staaten oder Groß-Bri701 Diese funktionale Ausrichtung betonen auch Higgins, AJIL 1970, 5f.; Graefrath, ZaöRV 1995, 12f.; sehr viel weiter dagegen Tomuschat, RdC 1993 IV, der eine allgemeine Regelungsgewalt für den SR fordert. 702 S.o. S. 21 ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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tannien auszuliefern. Die Beweislage in diesem Fall kann hier nicht gewürdigt werden. 703 Selbst wenn jedoch annimmt, daß sich der SR bei der Feststellung einer libyschen Verantwortlichkeit filr den Anschlag im Rahmen seines Beurteilungsspielraums gehalten hat,704 bleibt die Frage, ob sich hieraus auch eine Befugnis ergibt, von Libyen die konkrete Maßnahme der Auslieferung der Verdächtigen zu verlangen. Dazu genügt es nicht, daß der konkrete terroristische Akt als Friedensbedrohung einzustufen war; 705 erforderlich ist vielmehr, daß man in der Verweigerung der Auslieferung selbst eine Bedrohung des Friedens sehen kann. Einer solchen Qualifikation als Friedensbedrohung könnte nicht schon entgegengehalten werden, daß die Verweigerung der Auslieferung durch Libyen nicht gegen internationales Recht verstossen habe. 706 Art. 39 ChVN setzt keine Rechtsverletzung voraus; die Frage, ob Libyen nach allgemeinem Völkerrecht zur Auslieferung verpflichtet war oder nicht,707 spielt daher keine Rolle. Weiter erscheint es zu allgemein, wenn vertreten wurde, die Verweigerung der Auslieferung mutmaßlicher Straftäter, zumal wenn es sich um eigene Staatsangehörige handele, könne niemals eine Friedensbedrohung darstellen. 708 Daran ist sicher richtig, daß im Normalfall die Verweigerung eines Auslieferungsersuchens, sei sie nun rechtmäßig oder nicht, kaum eine so erhebliche Verwerfung in den internationalen Beziehungen hervorrufen wird, daß dies die Annahme einer Friedensbedrohung rechtfertigen könnte. Die Frage ist jedoch, ob man das Problem der Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter so isoliert und abstrakt betrachten darf. 709 Man muß bedenken, daß die Beziehung zwischen Libyen und den auszuliefernden Personen keine völlig zufällige war, sondern daß es sich um Bedienstete des libyschen Geheimdienstes handelte, von denen der SR aufgrund seines Beurteilungsspielraums davon ausgehen konnte, daß sie das Attentat in ihrer Eigenschaft als Organe des libyschen Staates verübt hatten. Es ging daher vorrangig gar nicht um ein Auslieferungsproblem, sondern um einen Akt des staatlich gefOrderten internationalen Terrorismus; an dem zu dessen Bekämpfung Erforderlichen muß sich somit auch die Lösung orientieren.
703 Eingehend zu den Fakten des Falles EmersoniDufJy sowie Joyner/Rothbaum, MichJIL 1993, 225ff. 704 Zum Beurteilungsspielraum des SR bezüglich der Tatsachen vgl. o. S. 240ff. 705 S. hierzu o. S. 249f. 706 So aber Graefrath, EJIL 1993, 199. 707 Dazu bejahend Ipsen, VN 1992,43; a.A. Stein, AVR 1993, 212f.; Graefrath, EJIL 1993, 188f; Czaplinski, PYIL 1993, 40. 708 Orihuela Calatayud, REDI 1992, 407f.; Mohr, DuR 1992, 309. 709 Daß auch der SR dies nicht getan hat, betont Arcari, RDI 1992, 945.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Die besondere Problematik des internationalen Terrorismus ergibt sich hierbei aus seiner Verborgenheit: auch der verantwortliche Staat wird sich kaum je offen zu seiner Verantwortung bekennen. Die Vereitelung geplanter Anschläge ist schwierig und gelingt nur selten; auch die Aufklärung der HintergrUnde eines bereits erfolgten Anschlags wird - wenn überhaupt - meist erst nach umfangreichen und insbesondere zeitraubenden Ermittlungen möglich sein. Damit fragt sich, was der SR gegen die Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit überhaupt unternehmen kann, wenn doch einmal die Verantwortlichkeit eines Staates festgestellt wird. In einem solchen Fall ist es nicht der konkrete, möglicherweise schon länger zurückliegende Anschlag, der den Frieden bedroht;710 es ist vielmehr die begrUndete Befiirchtung, daß eine Regierung, die in der Vergangenheit terroristische Akte unterstützt hat, dies auch in Zukunft wieder tun könnte. Nun kann man jedoch nicht einen ganzen Staat unter Überwachung stellen; die Friedensbedrohung kann daher nur dadurch beseitigt werden, daß das Vertrauen in den Verzicht des betreffenden Staates auf solche Akte wiederhergestellt wird. Bloße Absichtserklärungen werden hier nicht ausreichen, insbesondere, wenn sie schon in der Vergangenheit nicht eingehalten worden sind; dementsprechend hat der SR in SR-Res. 748 (1992) festgestellt, daß es gerade "the failure by Libya to demonstrate by concrete actions its renunciation of terrorism"711 sei, die eine Bedrohung des internationalen Friedens darstelle. Die Frage ist somit allein, wie diese konkreten Handlungen aussehen sollten. Allein erfolgversprechend ist es dabei letztlich, wenn der betroffene Staat gezwungen wird, selbst und effektiv gegen die institutionellen Strukturen, Organisationen und Einzelpersonen vorzugehen, die in die Planung oder Ausfllhrung terroristischer Akte verwickelt sind. Bloße Alibiaktionen reichen nicht aus, um die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen;712 in dem heiklen Bereich des internationalen Terrorismus können schon bewußt zweideutige Positionen ausreichen, um eine Bedrohung des internationalen Friedens zu begrUnden. Die Auffassung des SR, daß Libyen diesen Ansprüchen nicht gerecht wurde, war jedenfalls nicht offensichtlich unvertretbar und hielt sich somit im Rahmen seines Beurteilungsspielraums. Welche konkreten Maßnahmen der SR Libyen 710 Fehlgehend daher die Bemerkungen von Bedjaoui in seiner diss. op. im Fall Lockerbie, in denen er sein Unverständnis darüber äußert, daß das Attentat von Lockerbie auch nach drei Jahren noch als Friedensbedrohung angesehen werde (s. das Zitat o. S. 183). 711 Hervorhebung vom Verf. 712 Zu Recht weist Stein, AVR 1993, 214, daraufhin, daß die Betonung des Rechts Libyens, die Beschuldigten gern. Art. 7 Montreal-Konvention seiner eigenen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, etwas "blauäugig" erscheinen könnte.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
263
insofern auferlegte, stand in seinem Ermessen; 713 daher konnte er durchaus auch die Auslieferung der zwei Verdächtigen anordnen. 714 Die Anordnung der Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter war daher mit der Charta vereinbar;715 SR-Res. 748 (1992) ist ein Beispiel ftlr eine rechtmäßige Ausübung der Regelungsbefugnis des SR nach Kapitel VII der Charta. 716
bb) Weitere Beispiele Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß sich SR-Res. 748 (1992) allein aus den Problemen der Bekämpfung des internationalen Terrorismus rechtfertigt; aus ihr kann keine allgemeine Erweiterung der Regelungsbefugnis des SR gefolgert werden.? 17 Insbesondere ist große Zurückhaltung bei der Berücksichtigung des Verdachts mangelnder Friedenstreue einer Regierung ihm Rahmen des Art. 39 ChVN geboten. Die Tatbestände des Art. 39 ChVN sind grundsätzlich objektiver Natur; nur in dem Maße, in dem eine Reaktion auf die aktuelle Friedensstörung aus der Natur der Sache heraus nicht oder nicht rechtzeitig möglich sein würde, können auch subjektive, auf konkreten Handlungen grün-
713 Dabei hätte der SR, wäre er zu der Auffassung gekommen, daß die Verantwortung rur den Anschlag auf noch höherer Ebene zu suchen sei, wohl sogar verlangen können, daß die verantwortlichen Regierungsmitglieder zur Rechenschaft gezogen würden. Ob ein solches Verlangen allerdings politisch klug wäre, ist eine andere Frage; keine Regierung wird sich selbst "ans Messer liefern", so daß vermutlich mit einer erheblichen Verschärfung des Konflikts zu rechnen wäre. 714 Rechtlich unbeachtlich ist dabei, ob die Auslieferung der Verdächtigen nach libyschem Recht überhaupt zulässig war, da die Pflicht zur Befolgung der Beschlüsse des SR niemals unter dem Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit dem Landesrecht stehen kann (Evans, MJLT 1994,60); eine andere Frage ist, ob es politisch glücklich war, sich über eine immerhin so verbreitete Regel wie das Verbot der Auslieferung eigener Staatsangehöriger hinwegzusetzen. Ebenfalls ein rein politisches Problem ist die Tatsache, daß die Auslieferung gerade an die zwei Staaten angeordnet wurde, die das stärkste eigene Interesse an einer Verfolgung der Attentäter an den Tag gelegt hatten (zur Möglichkeit eines fairen Prozesses vgl. insofern sep. op. Shahabuddeen. Lockerbie, ICJ Rep. 1992, 28, 29ff.). 715 Ebenso lpsen, VN 1992, 43; Stein, AVR 1993, 223; McGinley, GJICL 1992, 597; a.A. Mohr, DuR 1992, 308f.; Graefrath, EJIL 1993, 196, 199; Gunn, UTFLR 1993,236; Harper, NYUJILP 1994, 155. 716 Zu weitgehend jedoch JoyneriRothbaum, MichJIL 1993, 260, die den SR als den "supreme sovereign in the international extradition system" bezeichnen. Dies Formulierung übersieht, daß der SR nur im Rahmen und unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN zur Befassung mit internationalen Auslieferungsfragen befugt ist. 717 Anders wohllpsen, VN 1992,42, der in SR-Res. 748 (1992) den "Beginn einer Kontinuität" sehen will.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
dende Momente in die Bewertung aufgenommen werden,718 Über darüber hinausgehende Kompetenzen spezial- oder generalpräventiver Art verfilgt der SR nicht,719 Insbesondere ist der SR auch nicht zur verbindlichen Entscheidung von Rechtsfragen befugt, die sich aus Anlaß einer Friedensbedrohung oder eines Friedensbruchs ergeben mögen. 720 Hieraus ergeben sich Bedenken gegen die dem Irak nach Abschluß der militärischen Operationen durch SR-Res. 687 (1991)721 auferlegte Verpflichtung zur Leistung von Reparationen,722 Die bloße Uneinigkeit über Grund oder Höhe einer Schadensersatzforderung ist noch keine Friedensbedrohung; aus Art. 39 ChVN ergibt sich daher keine Kompetenz zur Entscheidung über Reparationen. 723 Es ist zudem höchst zweifelhaft, ob durch die einseitige Auferlegung von Schadensersatzpflichten die Bereitschaft des Irak zu aggressivem Verhalten in der Zukunft gemindert wird. Auch Erwägungen generalpräventiver Art 724 vermögen die Regelung nicht zu rechtfertigen, denn aus Art. 39 ChVN ergibt sich lediglich eine Befugnis zur Verhütung und Beseitigung von Friedensbrüchen, aber keine allgemeine Strafgewalt des SR.725
718 Ein Beispiel hierfilr könnte auch in den dem Irak durch SR-Res. 687 (1991) auferlegten RüstungskontrolIregelungen gesehen werden, die sowohl in der objektiven Gefährlichkeit des Waffenarsenals des Irak als auch in der im Verlaufe des Golfkriegs demonstrierten Bereitschaft zu dessen rücksichtslosem Einsatz gründeten (dazu auch schon o. S. 248f.). 719 A.A. anscheinend Herdegen, FS Bernhardt, S. 117. 720 Gaja, RGDIP 1993, 311. 721 Zu dieser bereits o. S. 49f. 722 Kritisch auch Bothe in R.-J. Dupuy, S. 76; Grae/rath, ZaöRV 1995,35; P.-M. Dupuy, RGDIP 1991,626; Higgins, S. 183f.; Con/orti, S. 180. 723 A.A. ohne nähere Begründung Frowein in Simma, Art. 41, Rn. 15. Zur Frage einer Rechtfertigung der Resolution aus ungeschriebenen Kompetenzen des SR ist damit noch nichts gesagt; vgl. dazu Wecket, AFDI 1991, 181, der Art. 24 ChVN als Grundlage anzunehmen scheint; Lavalle, NYIL 1992, 59; Cottereau, AFDI 1991, 116 (alle die Rechtmäßigkeit der Resolution bejahend). 724 Auf solche stützt sich Farer in Delbrück, S. 48. 725 Bedenken bestehen im übrigen auch gegen SR-Res. 748 (1992), soweit diese Libyen durch die pauschale Bezugnahme auf die Forderungen Groß-Britanniens und der Vereinigten Staaten (s.o. Fn. 289) auch zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtete. Denn konnte die Auslieferung der Verdächtigen noch als eine angemessene Maßnahme zur Beseitigung der Friedensbedrohung angesehen werden, so gilt dies nicht mehr rur die Zuerkennung von Schadensersatzansprüchen; durch eine solche wird nicht der friedensbedrohende Tatbestand beseitigt, sondern es werden rechtliche Folgerungen aus ihm gezogen (McGintey, GJICL 1992, 599). Hieraus wird man zwar nicht die Rechtswidrigkeit der SR-Res. 748 (1992) insgesamt zu folgern haben; anders wäre dies jedoch
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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Problematisch sind weiterhin auch die Regelungen der SR-Res. 687 (1991), durch die der SR eine Demarkation der Grenze zwischen Irak und Kuwait vorgesehen hat. Formal sah die Resolution zwar lediglich vor, daß der Generalsekretär den Parteien bei der Demarkation der Grenze Beistand leisten solle; 726 faktisch erfolgte die Demarkation jedoch durch eine Demarkationskommission, deren Ergebnis sich der SR anschließend zu eigen machte. 727 Unabhängig von den Besonderheiten des gewählten Verfahrens erweckt das Ergebnis Bedenken im Hinblick auf die Reichweite der Regelungsbefugnis des SR. Denn durch die Demarkation sollten offensichtlich die Grenzstreitigkeiten zwischen Irak und Kuwait konstitutiv 728 geregelt werden. Eine inhaltliche Gestaltung der materiellen Rechte der Parteien ist dem SR jedoch versagtJ29 Es muß dabei klar zwischen der Befugnis zur Anordnung der zur Wahrung und Wiederherstellung des Friedens erforderlichen Maßnahmen und der materiellen Streitentscheidung unterschieden werden. So kann der SR zwar den - unter Umständen dauerhaften - Rückzug eines Staates aus einem Gebiet anordnen, nicht aber die Gebietshoheit übertragen. 730 Entsprechend wäre der SR berechtigt, jede Verletzung der von ihm fUr maßgeblich erachteten Grenze durch den Irak zum Anlaß seines Einschreitens nach Kapitel VII der Charta zu nehmen; aber dies heißt noch nicht notwendigerweise, daß diese Grenze auch die nach allgemeinem Völkerrecht maßgebliche ist. 731 Der SR könnte seine mangelnde Befugnis zur verbindlichen Entscheidung streitiger Fragen des allgemeinen Völkerrechts auch nicht dadurch überspielen, daß er die Nichteinigung der Parteien über ihre materiellen Rechte selbst als bei Zwangsmaßnahmen, die ausschließlich der Durchsetzung von Schadensersatzpflichten dienen. 726 Abs. 3 der Resolution: "Calls upon the Secretary-General to lend his assistance to make arrangements with Irak and Kuweit to demarcate the boundary between Irak and Kuweit". 727 Vgl. den Bericht der Kommission vom 20. Mai 1993 (ILM 32 [1993], 1429), der vom SR durch SR-Res. 833 (1993) angenommen wurde. 728 Es erscheint nicht zutreffend, wenn der Demarkation lediglich deklaratorischer Charakter zugesprochen wird (Sur in R.-J. Dupuy, S. 26; Bathe in R.-J. Dupuy, S. 75; Klein, A VR 1991, 434; WeckeI, AFDI 1991, 182). Denn dann müßte gegen sie ja weiterhin der Einwand zulässig sein, die Demarkation sei nicht im Einklang mit dem Recht erfolgt. Gerade dieser Einwand sollte aber nach dem Sinn der SR-Res. 687 (1991) ausgeschlossen sein. 729 A.A. Delbrück in Simma, Art. 24, Rn. 10; Kelsen, AJIL 1948, 788f., die annehmen, der SR könne im Rahmen des Kapitels VII auch über die territoriale Zuordnung von Gebieten entscheiden. 730 So schon Fitzmaurice in seiner sep. op. im Fall Namibia, ICJ Rep. 1971, 220, 294; ebenso WeckeI, AFDI 1991, 182; MacDanald, CYIL 1993, 31. 731 Kritisch zum Vorgehen des SR daher auch Kirgis, AJIL 1995, 530f.; Higgins, S. 183f.; Harper, NYUJILP 1994, 177.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Friedensbedrohung wertet und diese zur Annahme einer vertraglichen Regelung verpflichtet. Denn das bloße Beharren auf Rechtspositionen ist noch keine Bedrohung des Friedens. Eine solche entsteht erst dann, wenn versucht wird, Rechtspositionen mit gewaltsamen Mitteln durchzusetzen; hiergegen ist der SR jedoch unzweifelhaft zum Einschreiten berechtigt. Durch die beschriebenen Grenzen der Regelungsbefugnis des SR werden dessen Handlungsmöglichkeiten somit nicht übermäßig beschränkt. Die Befriedungswirkung einer durch Zwangsmaßnahmen erzwungenen Änderung materieller Rechte wäre ohnehin höchst unsicher. 732 Dagegen ist der SR auch nach der hier vertretenen Auffassung nicht gehindert, die zur Wahrung des Weltfriedens erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Die Regelungsgewalt des SR ist ein Reflex seiner Zwangsgewalt, und diese dient nur der Sicherung des negativen Friedens als Minimalbedingung friedlicher Koexistenz. Die Reichweite seiner Regelungsbefugnis bleibt daher an Art. 39 ChVN gebunden; in diesem findet sie ihre Grundlage, aber auch ihre Grenze.
2. Das Problem der Adressatenauswahl Zu einem internationalen Konflikt gehören mindestens zwei. Will der SR in einen internationalen Konflikt eingreifen, so muß er regelmäßig zugunsten einer Partei Stellung beziehen. Weniger problematisch ist die Frage der Adressatenauswahl dabei im Fall der bloßen Friedensbedrohung. Hier wird der militärische Konflikt lediglich antizipiert und bleibt daher in seinen Strukturen diffus; es wird oftmals überhaupt nicht klar vorherzusehen sein, welche Parteien wirklich in den Konflikt verwickelt werden und wer letztlich die Schwelle zur bewaffneten Gewalt überschreiten wird. Will der SR hier präventiv tätig werden, so bleibt ihm kaum ein anderer Ansatzpunkt, als sich an den Staat zu halten, dem das friedensbedrohende Verhalten unmittelbar zur Last nUlt;733 fUr ein Auswahlermessen bleibt aus praktischen Gründen wenig Raum.
732 Diese Bedenken gelten auch in Bezug auf SR-Res. 687 (1991), nach der der Irak seine Annahme der Waffenstillstandsbedingungen erklären mußte (s. dazu o. S. 49). Es ist fraglich, ob durch solche Erklärungen die Kooperationsbereitschaft des betroffenen Staates wirklich erhöht wird. 733 Daher ging es fehl, wenn gegen die über Südrhodesien verhängten Sanktionen eingewandt wurde, die Gefahr eines bewaftheten Konflikts gehe ja bestenfalls von seinen Nachbarstaaten im südlichen Afrika, nicht aber von Südrhodesien selbst aus (vgl. hierzu McDougal/Reisman, AJIL 1968, 8; Higgins, Tbe World Today 1967, 103); es wäre kaum erfolgversprechend gewesen, sämtliche Staaten des südlichen Afrikas mit Zwangsmaßnahmen zu belegen.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
267
Sehr viel deutlicher wird das Problem der Adressatenauswahl dagegen, wenn es bereits zu einem bewaffueten internationalen Konflikt mit klar feststellbaren Parteien gekommen ist. Wäre die Entscheidung hier nach dem Recht zu fiUlen, dann könnte es regelmäßig nur ein Ergebnis geben. Aber die Feststellung nach Art. 39 ChVN setzt keine Rechtsverletzung voraus;734 jede Partei kommt daher grundsätzlich als Adressat von Zwangsmaßnahmen in Betracht. Die rechtliche Indifferenz der Charta gibt dem SR somit einen gewissen Ermessensspielraum. Dieser Spielraum ist in seinem Sinn und seiner Problematik noch etwas näher zu untersuchen; anschließend ist zu fragen, ob das Auswahlermessen des SR auch rechtliche Grenzen hat.
a) Sinn und Problematik des Auswahlermessens
Das Auswahlermessen des SR im Fall eines Friedensbruchs rechtfertigt sich aus wesensmäßigen Problemen des bewaffueten internationalen Konflikts. Der bewaffueten Auseinandersetzung ist es eigen, daß man es einer Kampfhandlung nicht ansehen kann, ob sie zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken erfolgt; es kann daher häufig zu der Situation kommen, daß nicht eindeutig festzustellen ist, auf welcher Seite die Verantwortlichkeit fllr einen bewaffueten internationalen Konflikt liegt. Die Befugnis des SR zum Einschreiten kann jedoch nicht von der Möglichkeit einer vollständigen Klärung dieser Frage abhängen; er muß daher auch ohne vorherige Klärung der Verantwortlichkeit die Maßnahmen treffen dürfen, die er rur zur Wiederherstellung des Friedens erforderlich hält. Aber selbst dort, wo der Angreifer zunächst relativ klar auszumachen ist, muß Raum fllr ein Auswahlermessen des SR bleiben. Denn die ursprünglichen Verantwortlichkeit müssen nicht unbedingt immer prägend fllr den Konflikt bleiben; es ist bei zunehmender Dauer eines Konflikts durchaus denkbar, daß die Lage durch Änderungen der Kriegsziele, Offensiven und Gegenoffensiven, Waffenstillstände und Wiederaufnahme der Kampfhandlungen so unübersichtlich wird, daß die Frage der ursprünglichen Kriegsschuld völlig in den Hintergrund tritt gegenüber der, wie man die Kampfhandlungen möglichst schnell beenden oder jedenfalls eine weitere Eskalation verhindern kann. 735 Der SR kann nicht verpflichtet sein zu prüfen, wer hier im Recht ist und wer im Unrecht oder auf wessen Verhalten der Konflikt unmittelbar ZUTÜckzufilhren ist. Jeder Beteiligte einer militärischen Auseinandersetzung wird daher zum möglichen Adressaten von Zwangsmaßnahmen, selbst wenn er in Ausübung des Selbstver734 S.o. S. 219ft'. 735 Ein solcher mit zunehmender Dauer immer undurchsichtiger werdender Konflikt war etwa der erste Golfkrieg zwischen Iran und Irak (1980-1988); diesselben Probleme stellen sich auch in dem Dreiparteienkonflikt im ehemaligen Jugoslawien.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
teidigungsrechts aus Art. 51 Ch VN handelt. 736 So kann der SR zur Eindämmung eines Konflikts durchaus Zwangsmaßnahmen gegen alle Parteien verhängen, obwohl dadurch unausweichlich auch der Verteidiger getroffen wird. Ein Beispiel hierftlr war etwa das mit SR-Res. 713 (1991) gegen das ehemalige Jugoslawien verhängte Waffenembargo, das auch gegen die Nachfolgestaaten fortgalt; die Argumentation Bosnien-Herzegowinas vor dem IGH im BosnienFa1l737 , eine solche Interpretation der Resolution sei durch Art. 51 ChVN ausgeschlossen, trifft nicht zu. 738 Aber der Verteidiger kann sogar alleiniger Adressat der Maßnahmen des SR sein. Die Gegenoffensive des Verteidigers, der Versuch der Rückeroberung rechtswidrig besetzten Gebiets kann als Friedensbruch gewertet und mit Zwangsmaßnahmen belegt werden. Dem kann nicht entgegengehalten werden, Ziel der Maßnahmen des SR müsse stets die Wiederherstellung des status quo sein.139 Wenn damit gemeint ist, der SR müsse den rechtmäßigen Zustand wiederherstellen, dann ist dies unzutreffend, denn die Rechtswidrigkeit spielt filr die Befugnisse des SR keine Rolle. Versteht man als den status quo dagegen den friedlichen Zustand, dann ist diese Aussage zwar zutreffend, sagt aber noch nicht, in welcher Weise diese Wiederherstellung zu erfolgen hätte. Der SR ist daher nicht zur Wiederherstellung irgendeines faktisch oder rechtlich bestimmten status quo verpflichtet, sondern zu der des Friedens. 740 Zu diesem Zweck muß er gegen jede Partei vorgehen können, die Akte bewaffueter Gewalt vornimmt. Dabei ist es eher irrefilhrend, wenn man insofern eine Haftung von "Störern" und "Nichtstörern" unterscheidet;741 die rechtliche Indifferenz des Art. 39 ChVN bewirkt, daß jede in einen militärischen Konflikt verwickelte Partei grundsätzlich "Störer" ist. Das hieraus folgende Auswahlermessen des SR ist keineswegs unproblematisch. Schon filr alle Parteien gleichermaßen geltende Zwangsmaßnahmen können den Verteidiger erheblich stärker treffen, wenn sie seine Unterlegenheit perpetuieren; das Waffenembargo aus SR-Res. 713 (1991) und seine negativen 736 Bowett, S. 255f. AA Conforti, S. 177; Combacau, S. 133, dessen Auffassung wegen der o. Fn. 532 angemerkten Kritik jedoch nicht recht stimmig scheint. 737 ICJ Rep. 1993, 3, 6, 8; s. auch o. S. 24ff. 738 AA Scott u.a., MichJIL 1994, 59. Zweifelnd Petrovic/Condorel/i, AFDI 1992, 43f. 739 Eine solche Orientierung am status quo vertreten etwa Menk, S. 22; Aroneanu, S. 131. 740 So auch Combacau, S. 130. 741 So aber Menk, S. 142, der im Einklang mit seiner Auffassung, daß es sich bei den Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta um Sanktionen rur Rechtsverstösse handele, jede "Nichtstörerhaftung" im Ergebnis ablehnt.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
269
Effekte auf die Verteidigungsmöglichkeiten der bosnischen Muslime gegen die militärisch überlegenen Serben ist hierfilr ein deutliches Beispiel. Schwerwiegender ist jedoch noch, daß der SR auch nicht gehindert wäre, in einer einseitigen Weise zugunsten eines Angreifers Stellung zu beziehen, was noch verschärft wird durch die faktische Endgültigkeit der Beschlüsse des SR.742 So wird in der Literatur vertreten, der SR könne dem Angegriffenen die Räumung 743 oder gar die Abtretung 744 von Gebieten auferlegen; er könne gar eine dem Münchener Abkommen von 1938 ähnliche Regelung durchsetzen.145 Bislang ist es zu solchen Ergebnissen noch nicht gekommen; die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die verschiedenen Stadien des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zeigt jedoch, daß Gesichtspunkte des "Appeasement" auch heute noch ihre Bedeutung haben können. Ein gewisses Unbehagen bleibt nicht aus angesichts der Vorstellung, das Auswahlermessen des SR könnte zum rechtlichen Vehikel fUr ein "zweites München" werden. Häufig wird Kritik insofern nur in Form rechtspolitischer Bedenken geäußert.1 46 Die Frage ist jedoch, ob es nicht vielleicht auch rechtliche Grenzen des Auswahlermessens geben muß; ihr ist im folgenden nachzugehen.
b) Eine Opjergrenze aus der Charta? Das Problem ist aber, wie eine rechtliche Grenze des Auswahlermessens des SR überhaupt aussehen könnte. Es würde nicht angehen, hier über die Hintertür wieder die Bindung des SR an das allgemeine Völkerrecht einzufilhren, die nach Art. 1 Nr. 1 ChVN im Rahmen des Kapitel VII gerade nicht besteht. Die einzige Frage kann daher sein, ob es vielleicht gewisse äußerste Grenzen dessen gibt, was der SR von einer Partei an Opfern verlangen kann. Insofern hat man vertreten, der "politische Selbstmord" könne von einem Staat niemals verlangt werden; es gebe hier eine "im Naturrecht begründete Opfergrenze", die der SR nicht überschreiten dürfe.147 Nach anderer Auffassung soll der SR auch im
742 S. dazu o. S. 259. 743 Dahm, S. 391. 744 Kelsen, AJIL 1948, 788f.; dazu, daß solche territorialen Zuordnungen al\erdings außerhalb der Befugnisse des SR liegen, vgl. o. S. 265. 745 Escher, S. 106, die dies sogar rur Kapitel VI vertritt, was angesichts der Regelung in Art. I Nr. I Hs. I ChVN kaum vertretbar erscheint. 746 Vgl. R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 384f. und ZaöRV 1968, 10 (Fn. 17). 747 Dahm, S. 392. Nach Dahms eigener Auffassung zu Art. 25 ChVN (s.o. Fn. 46) dürfte al\erdings selbst dies den Beschluß des SR nicht seiner Verbindlichkeit berauben.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Rahmen des Kapitel VII der Charta an die "Gerechtigkeit" gebunden sein. 748 Aber solche Fonnulierungen stellen keine praktikablen rechtlichen Grenzen fUr das Ennessen des SR da. Mit dem einfachen Hinweis auf "Naturrecht" oder "Gerechtigkeit" ist es nicht getan. Eine Grenze des Ennessens des SR könnte immer nur eine solche des positiven Rechts sein; es fragt sich, ob sich eine solche Opfergrenze in der Charta der VN nachweisen läßt. Dabei ist zunächst wieder ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte angezeigt. Die Frage einer Opfergrenze spielte auch schon auf der Konferenz von San Francisco eine große Rolle; die Erfahrung des Mtlnchener Abkommens von 1938 war insbesondere den kleineren Nationen noch zu deutlich in Erinnerung. Die Versuche, den SR allgemein an das Völkerrecht zu binden,749 scheiterten jedoch ebenso wie eine belgischer Vorschlag, dem IGH eine Zuständigkeit zur Entscheidung darüber zu übertragen, ob ein Beschluß des SR die "independence and vital rights" der betroffenen Staaten respektiere.7 50 Besonderer Erwähnung bedarf hier noch ein norwegischer Änderungsvorschlag zu der dem heutigen Art. 24 11 I Ch VN entsprechenden Bestimmung der Dumbarton Oaks ProposaIs, der eine Bindung des SR an "the provisions ofthe Charter and the consideration that no solution should be imposed upon astate of a nature to impair its confidence in its future security and welfare" vorsah.7 51 Die Fonnulierung dieses Antrags besticht zwar nicht gerade durch Klarheit, die Zielsetzung wird aber jedenfalls deutlich: der SR sollte gehindert werden, eine "politique de compensation" zu Lasten kleiner Staaten zu verfolgen. 752 Diesem Antrag war letztlich kein anderes Schicksal beschieden als allen anderen Versuchen, die Kompetenzen des SR zu begrenzen. 753 Interessant ist allerdings die Begründung, die der Delegierte der Vereinigten Staaten fUr die Ablehnung des norwegischen Vorschlags durch seine Regierung gab: ihm zufolge war eine Politik wie die von Norwegen befUrchtete schon durch die Bindung des SR an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen ausgeschlossen; halte sich der SR hieran nicht, handele er "ultra vires". 754 748 Jimenez de Arechaga, S. 43, der eine solche Bindung aus Art. 2 Nr. 3 ChVN ableiten will, einer Bestimmung, die allerdings überhaupt nichts mit den Befugnissen des SR zu tun hat und mit der man die speziellere Regelung in Art. I Nr. I ChVN nicht überspielen kann. 749 Dazu o. S. 221 f. 750 Vgl. UNCIO XIV, 445. Vgl. zu beiden Ansätzen auch diss. op. Weeramantry, Lockerbie, IC] Rep. 1992, 50, 61. 751 UNCIO III, 365, 368. 752 Vgl. UNCIO XI, 378. 753 Zur Ablehung des Antrags vgl. UNCIO XI, 378f.; vgl. hierzu auch den Bericht von de Castro, ebd., 675, 679f. 754 UNCIO XI, 379.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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Die Frage ist, ob diese Auffassung wirklich eine korrekte Interpretation der Charta darstellt. Sicherlich ist der SR gern. Art. 24 11 1 Ch VN an die Ziele und Grundsätze der VN gebunden; problematisch ist jedoch, ob sich aus diesen auch justiziable Grenzen ftlr das Auswahlermessen des SR ergeben. Art. I NT. I Ch VN scheidet dabei von vornherein aus; 755 man könnte sich sogar fragen, ob der Ausschluß der Bindung des SR an Völkerrecht und Gerechtigkeit im Rahmen des Kapitel VII nicht eine die anderen Ziele und Grundsätze der VN verdrängende Sonderregelung darstellt. Aber das Problem ist vor allem, ob diese Ziele und Grundsätze überhaupt eine praktikable Grenze ftlr das Ermessen des SR abgeben. Man könnte dabei zunächst einmal an das Selbstbestimmungsrecht der Völker aus Art. I Nr. 2 ChVN denken. Aber einmal von der Frage der Rechtsqualität des Selbstbestimmungsrechts abgesehen,756 ist fraglich, ob es nach seinem Inhalt überhaupt zur Begrenzung der Befugnisse des SR geeignet ist. Dabei ist schon strittig, wer überhaupt als Rechtsträger des Selbstbestimmungsrechts anzusehen ist. 757 Dabei wird vielfach unterschieden zwischen einem "defensiven" Selbstbestimmungsrecht, das nur Staatsnationen zukomme, und einem "offensiven" Selbstbestimmungsrecht, das auch ethnischen Völkern innerhalb eines Staates zustehen könne. 758 Das defensive Selbstbestimmungsrecht ist dabei allein auf den Erhalt des status quo gerichtet759 und deckt sich daher weitgehend mit dem Gewaltverbot; eine Bindung des SR an das defensive Selbstbestimmungsrecht würde auf eine Bindung an das Recht im Falle militärischer Auseinandersetzungen hinauslaufen und kann daher nicht akzeptiert werden. Eine eigenständige Bedeutung käme dem Selbstverteidigungsrecht dagegen in seiner offensiven Version zu. Es ist jedoch äußerst fraglich, ob ein solches Recht unter Einschluß etwa eines Rechts auf Sezession überhaupt anzuerkennen ist. 760 Schon prozedural dürfte die Ermittlung des Willens eines ethnischen Volkes in einer militärischen Konfliktlage nahezu unmöglich sein. Darüber hinaus ist jedoch im Einklang mit dem negativen Friedensbegriff der Charta von einem Vorrang der Friedenssicherung über Fragen der Selbstbestimmung auszugehen. Der SR kann nicht gehindert sein, gegen einen Bürgerkrieg vorzugehen, weil eine der Parteien beansprucht, sie handele in Ausübung des "offensiven Selbstbestimmungsrechts"; dabei muß es ihm freistehen, gegen 755 S.o. S. 208f. 756 Vgl. hierzu Thürer, S. 93, und EPIL 8, 471 (zurückhaltend zur Rechtsqualität); Doehring in Simma, nach Art. I, Rn. 1 (Rechtsqualität bejahend). 757 V gl. Gusy, AVR 1992, 390ff.; Murswiek, Der Staat, 1984, 525; Thürer, EPIL 8,
472. 758 Murswiek, Der Staat 1984, 533; Gusy, AVR 1992, 39f. 759 Gusy a.a.O.
760 Unter engen Voraussetzungen bejahend Doehring in Simma, nach Art. 1, Rn. 55f.; Murswiek, Der Staat 1984, 539; dagegen Gusy, AVR 1992, 406f.; Thürer, S. 98 und EPIL 8, 473.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
welche der Parteien er Zwangsmaßnahmen anwenden will. Nach jeder Sichtweise ist daher das Selbstbestimmungsrecht nicht geeignet, das Auswahlermessen des SR zu begrenzen. Eine weiteres Prinzip, an das man denken könnte, wäre der Grundsatz der souveränen Gleichheit der Mitgliedstaaten aus Art. 2 Nr. 1 ChVN; man könnte sich fragen, ob aus diesem Grundsatz nicht wenigstens eine Verpflichtung des SR abgelesen werden könnte, die Souveränität und staatliche Existenz der Mitgliedstaaten zu wahren. Aber Art. 2 Nr. 1 Ch VN ist keine allgemeine Garantie gegen den Untergang oder Zerfall von Staaten; der SR ist nicht verpflichtet, Veränderungen im Mitgliederbestand der Staatengemeinschaft zu verhindern. Die Frage könnte daher nur sein, ob die Existenz der Staaten nicht wenigstens gegen rechtswidrige Angriffe geschützt werden müßte; aber damit käme wieder die Frage der Rechtswidrigkeit ins Spiel, die im Rahmen des Kapitel VII der Charta eben keinen Platz hat. Auch Art. 2 Nr. 1 ChVN enthält daher keine Grenze filr das Auswahlermessen des SR;761 die Ziele und Grundsätze der Charta führen zu keiner Begrenzung des Auswahlermessens des SR.
c) Zwingendes Völkerrecht als Grenze des Auswahlermessens? Fraglich ist, ob sich Grenzen des Auswahlermessens außerhalb der Charta finden lassen. In Betracht kommt insofern das zwingende Völkerrecht (ius cogens). Bei diesem handelt es sich gern. Art. 53 WÜV um Normen, die von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt sind als Normen, von denen nicht abgewichen werden darf; ein Vertrag, der im Widerspruch zum ius cogens steht, ist nichtig. Im Schrifttum ist eine Bindung des SR an das ius cogens teilweise bejaht worden; 762 das ius cogens als "inviolable principles of morality" oder "eternal elements of public order common to all legal systems" gehe nicht nur dem Vertragsrecht, sondern auch den Rechtsakten des SR vor,763 In ähnlicher Weise vertrat auch Richter ad hoc E. Lauterpacht in seinem Sondervotum
761 Ebenso Kopelmanas, S. 200 (Fn. 1). 762 Herdegen, VandJTL 1994, 156; Scott u.a., MichJIL 1994, 59, 110; G. Watson, HILJ 1993,38; Gowlland-Debbas, ICLQ 1994,93; vgl. auch Klein, FS Mosler, S. 487, der vertritt, der SR könne nichts anordnen, was die Parteien nicht auch selbst vereinbaren könnten. 763 Scott u.a., MichJIL 1994, 11Of.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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zur zweiten Bosnien-Entscheidung des IGH764, das Verbot des Völkennords müsse als ius cogens den Resolutionen des SR vorgehen. 765 Dabei ist allerdings schon problematisch, was unter einer solchen "Bindung" des SR an das Völkerrecht zu verstehen sein soll. Im Hinblick auf die Problematik des Auswahlennessens kommt hierbei nur der Fall in Betracht, daß es in einem Konflikt zwischen zwei oder mehreren Parteien zu einem Verstoß gegen eine als zwingend anerkannte Völkerrechtsnonn gekommen ist. Dann ist zu erwägen, ob nicht wenigstens in diesem Fall der SR zu einem Einschreiten zugunsten der durch die zwingende Nonn geschützten Partei verpflichtet sein mUßte. Anerkannt als ius cogens sind in der Staatengemeinschaft jedoch nur einige wenige Nonnen wie insbesondere das Gewaltverbot sowie das Verbot des Völkennordes, der Piraterie oder der Sklaverei. 766 Insbesondere im Hinblick auf das Gewaltverbot zeigt sich aber, daß eine Bindung des SR an das ius cogens nicht mit dem System der Charta in Einklang zu bringen ist. Denn eine Verletzung des Gewaltverbots durch irgendeine Partei liegt in jedem militärischen Konflikt zwingend vor. Wollte man den SR insofern zum Einschreiten gegen die Partei verpflichten, der der Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht zur Last flillt, so würde dies letztlich wiederum zu einer Verpflichtung des SR zur Prüfung der materiellen Rechtslage filhren; von dem Auswahlennessen des SR bliebe nichts übrig. 767 Ebenfalls keine Lösung wäre es, eine Bindung des SR nur an besondere Nonnen des Völkerrechts - wie etwa das Verbot des Völkermordes - anzunehmen; denn es bliebe offen, wie eine solche selektive Bindung des SR an das ius cogens zu begründen wäre. 768 Aber auch vom Geltungsgrund her ist eine Bindung des SR an das ius cogens nicht überzeugend zu begründen. Naturrechtlich anmutende Begründungen eines Geltungsvorrangs 769 scheiden dabei schon angesichts des konsensualen Charakters des ius cogens gern. Art. 53 S. I WÜV aus. Aber auch unabhängig hiervon gilt, daß der Charta keineswegs ein niedrigerer Rang zukommt als dem ius cogens. Die Charta ist die universelle und fUr nahezu alle Staaten unabdingbare Organisationsordnung der internationalen Gemeinschaft; sie steht daher dem ius cogens im Hinblick auf ihre Bindungswirkung in nichts nach. Der 764 S. dazu schon o. S. 24ff. 765 Sep. op. E. Lauterpacht, leJ Rep. 1993,407,440; in der Folge aber zweifelnd
zur Frage der Unwirksamkeit von SR-Res. 713 (1991) (a.a.O., 441). 766 Heintschel von Heinegg in Ipsen, § 15, Rn. 59f. m. w. Nachw. 767 Daß eine Bindung des SR an das Gewaltverbot nicht in Betracht kommt, räumt auch Herdegen, VandJTL 1994, 156, ein. 768 Diese Erklärung bleiben auch o. Fn. 762 genannten schuldig. 769 Wie etwa die von Scott u.a., o. Fn. 763. 18 Martenczuk
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Unterschied liegt nicht im Geltungsgrund, sondern im Regelungsgegenstand. Insofern bestehen jedoch erhebliche Bedenken dagegen, das ius cogens als Rechtsinstitut der nichtorganisierten Staatengemeinschaft in das Recht der Vereinten Nationen zu transplantieren; wie sich gezeigt hat, wäre eine solche Operation auch gar nicht ohne erhebliche Brüche zu vollziehen. Das ius cogens stellt daher keine Grenze ft1r das Auswahlermessen des SR dar.
d) Se/bstbindung des Sicherheitsrats? Zu erwägen bleibt, ob der SR nicht wenigstens dann zu einem Vorgehen gegen den Angreifer verpflichtet ist, wenn er selbst das Vorliegen einer Angriffshandlung festgestellt hat. Für eine solche Selbstbindung des Sicherheitsrats könnte sprechen, daß sich die Feststellung einer Angriffshandlung von der eines Friedensbruchs nur dadurch unterscheidet, daß in ihr die Verantwortung ft1r den Friedensbruch einer konkreten Partei zugewiesen wird; 770 diese Feststellung der Verantwortlichkeit wäre jedoch ohne Konsequenzen, wenn der SR in seinem Auswahlermessen weiterhin unbeschränkt bliebe. Die Möglichkeit einer Selbstbindung des SR ist daher vereinzelt bejaht worden. 771 Eine ähnliche Tendenz lag auch den Bemühungen um eine Definition der Aggression im Rahmen der Konferenz von San Francisco und später im Rahmen der Vereinten Nationen zugrunde, deren Ziel es war, den SR im Fall einer Angriffshandlung zu einem Vorgehen gerade gegen den Angreifer zu bewegen. 772 Problematisch an der Annahme einer Selbstbindung des SR ist jedoch schon, daß der SR einer solchen leicht auszuweichen kann. Denn die Angriffshandlung ist nur eines von drei alternativen Merkmalen des Art. 39 ChVN, so daß sie keine zwingende Voraussetzung ft1r die Wahrnehmung der Befugnisse nach Kapitel VII der Charta darstellt. Der SR hat sich in seiner Praxis dementsprechend jeder Feststellung einer Angriffshandlung enthalten; dies gilt selbst ft1r den an sich relativ klaren Fall der irakisehen Invasion Kuwaits. 773 Zwar könnte man in dieser Zurückhaltung auch eine implizite Anerkennung der Selbstbindung durch Feststellung einer Angriffshandlung sehen. Zutreffender erscheint es jedoch, insofern von einer in politischen Erwägungen begründeten Vorsicht des SR auszugehen. Diese Vorsicht erscheint im Hinblick auf die unsichere politische und militärische Machtbasis des SR auch 770 771 772 773
S. dazu schon o. S. 223.
Ross, S. 141f.
S. hierzu o. S. 199f. So o. S. 170.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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angemessen. Denn selbst wenn in einem militärischen Konflikt der Angreifer festgestellt ist, können militärische Machtverhältnisse oder gewandelte Umstände es gleichwohl notwendig machen, zur Beendigung des Konflikts auf Verhandlung und Komprorniß zurückzugreifen; dies belegt auch die allmähliche Wandlung der Haltung des Sicherheitsrats gegenüber Restjugoslawien im Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. 774 Eine Selbstbindung des SR durch Feststellung einer Angriffshandlung erschiene daher der Komplexität der Aufgaben des SR nach Kapitel VII der Charta nicht angemessen. Das Auswahlermessen des SR im Umgang mit bewaffneten internationalen Konflikten unterliegt somit keinen rechtlichen Grenzen. Die einzige wirkliche Grenze und Voraussetzung der Befugnisse des SR ist Art. 39 ChVN; wird dessen Schwelle erst einmal überschritten, erhält der SR eine weitgehend unbegrenzte Gestaltungsfreiheit. Rechtspolitisch stimmt diese Rechtslage allerdings eher bedenklich. Eine Politik, die Aggression belohnt, wird langfristig nie dem Frieden dienen. 775 Es wird auch nicht verkannt, daß die Grenzenlosigkeit des Auswahlermessens in gewisser Weise die Bedeutung des Art. 39 ChVN wieder relativiert: kein Staat, sei er auch noch so friedliebend, kann sich darauf verlassen, nicht doch einmal Adressat von Zwangsmaßnahmen zu werden, wenn er in eine Situation im Sinne des Art. 39 ChVN hineingedrängt wird. Der Frieden der VN ist aber nicht notwendigerweise der gerechte Frieden; 776 es gilt insofern der Grundsatz "peace over justice", nicht "peace through justice".777 Die Charta gibt dem SR unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN einen weiten Gestaltungsspielraum; wie er diesen ausfllllt, unterliegt wohl der Kontrolle durch die öffentliche Meinung, nicht aber der des Rechts.
3. Der Grundsatz der Verhllltnismllßigkeit
Hat sich der SR entschieden, daß und gegen wen er einschreiten will, so muß er immer noch festlegen, welche konkreten Maßnahmen zur Anwendung zu bringen sind. Hierbei ist nicht nur die Entscheidung zwischen nichtmilitärischen und militärischen Zwangsmaßnahmen problematisch; auch wenn der SR sich grundsätzlich filr ein Eingreifen mit nichtmilitärischen Mitteln entschieden hat, bleibt immer noch ein weiter Spielraum möglicher Maßnahmen, der von einem begrenzten Embargo filr einzelne Güter und Bereiche bis zum völligen politi774 775 776 777 18'
Dazu o. S. 171 ff. Escher, S. 105. R. L. Bindschedler, RdC 1963 I, 385. Claude, Swords into Plowshares, S. 232f.; Dicke/Rengeling, S. 23f.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
schen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Boykott reichen kann. Auch diese Entscheidung ist von erheblicher Bedeutung filr die Rechte des betroffenen Staates. Es stellt sich daher die Frage, ob das Ermessen des SR hier völlig frei ist oder ob es rechtliche Grenzen kennt; als solche käme insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Betracht. Die Frage seiner Geltung ist zwar bislang insbesondere filr den Übergang von nichtmilitärischen zu militärischen Maßnahmen diskutiert worden; 778 es handelt sich jedoch um ein allgemeines Problem der Befugnisse des SR nach Kapitel VII der Charta,779 dem daher an dieser Stelle nachzugehen ist. Dabei könnte man zunächst überlegen, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht ein allgemein gültiges Rechtsprinzip darstellt, an das der SR somit schon von daher gebunden wäre. Eine solche Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als allgemeiner Rechtsgrundsatz wird verschiedentlich bejaht; 780 dabei wird insbesondere auf seine breite Anerkennung im nationalen Recht hingewiesen. 781 Aber es ist fraglich, ob eine solche Postulierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als allgemeines Rechtsprinzip die Begründung seiner Geltung am Maßstab der Charta ersetzen kann. Es ist zu unterscheiden zwischen der Verhältnismäßigkeit als allgemeinem Rechtsgedanken einerseits und als dogmatische Prüfungsstufe andererseits. Als Rechtsgedanke oder Wertungsprinzip dürfte die Verhältnismäßigkeit sicherlich jeder Rechtsordnung immanent sein; das Recht beansprucht immer filr sich, "verhältnismäßige" Lösungen anzubieten. So allgemein das Kriterium ist, so inhaltsleer ist es allerdings auch; eine Orientierung filr das Ermessen des SR ergibt sich insofern nicht. Eine ganz andere Frage ist es dagegen, ob man die Geltung des Verhält778 Vgl. Eisemann in CotlPellet, S. 696; Fischer in CotlPellet, S. 708; Goodrich/Hambro/Simons, S. 314; Combacau, S. 188; Virally, S. 462; GowllandDebbos, S. 417; Cavare, RGDIP 1950, 668; Broms, RdC 1977 I, 369f.; HeinzIPhi[jppIWo!frum, VN 1991, 125; Lapidoth, AVR 1992, 117, die allesamt von
einem mehr oder minder unbegrenzten Ennessen des SR ausgehen; differenzierter dagegen Frowein in Simma, Art. 42, Rn. 11; Fawcett, BYIL 1965166, 120; Weston, AJIL 1991, 528ff. (der seine Kritik an der Einleitung bewaffiteter Maßnahmen gegen den Irak durch SR-Res. 678 [1991] aber vor allem rechtspolitisch ausrichtet). 779 Insofern hat es auch die ILC in ihren Beratungen zu Art. 30 des ersten Teils ihres Entwurfs zur Staatenverantwortlichkeit (s.o. Fn. 2) beschäftigt; die Zweckmäßigkeit einer Behandlung von Repressalien und kollektiven Zwangsmaßnahmen durch einen einheitlichen Artikel wurde unter anderem mit dem Argument bezweifelt, daß letztere im Unterschied zu ersteren nicht die Wahrung der Verhältnismäßigkeit voraussetzten (vgl. etwa den Diskussionsbeitrag von Francis, YILC 1979 I, 60; ebenso auch Jagota, NYIL 1985, 258). 780 Delbrück, EPIL 7, 399; Frowein in Simma, Art. 42, Rn. 11; Bothe in R.-J. Dupuy, S. 78; Marschang, KJ 1993,72 (Fn. 45); Nowlan, FS Bock, S. 182; Herdegen, VandJTL 1994, 157; Arntz, S. 53. 781 Vgl. insb. Bothe in R.-J. Dupuy, S. 76ff.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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nismäßigkeitsprinzips als eigenständige dogmatische Prüfungsstufe anerkennen soll. Ob eine solche eigenständige Prüfung überhaupt sinnvoll ist, ist abhängig von dem Zusammenspiel rechtlicher Befugnisse und kompetenzieller Grenzen in ihrem Gesarntzusammenhang; je enger man etwa die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Befugnis faßt, desto weniger Raum bleibt fUr den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 782 Von einer allgemeinen Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als eigenständiger Prüfungsstufe kann daher nicht gesprochen werden; 783 die Frage seiner Geltung kann nur aus dem konkreten Kompetenzgeftlge des Kapitels VII der Charta heraus entschieden werden. Dabei darf im übrigen auch nicht undifferenziert nach der Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips an sich gefragt werden. 784 Unter "Verhältnismäßigkeit" kann man sowohl die Erforderlichkeit einer Maßnahme als auch ihre Angemessenheit im Verhältnis zum angestrebten Zweck verstehen; im ersteren Sinn erfordert sie eine empirische, im letzteren eine normative Bewertung. Es handelt sich somit um durchaus unterschiedliche Aspekte, die auch in der Diskussion unterschieden werden müssen.
a) Erforderlichkeit
Zwangsmaßnahmen dienen allein dem Zweck, Friedensbrüche zu unterdrücken und Friedensbedrohungen zu beseitigen; weitergehende Eingriffe in die Rechte der Staaten sind nicht zulässig. Daher ist es grundsätzlich nur konsequent, wenn vertreten wird, der SR müsse sich bei jeder Verhängung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII im Rahmen der Erforderlichkeit halten und dürfe nur das mildeste geeignete Mittel zum Einsatz bringen; 785 Zwangsmaßnahmen seien immer "ultima ratio" .786 Das Problem ist jedoch, wer befugt sein soll, über die Erforderlichkeit einer Zwangsmaßnahme in letzter Instanz zu 782 Ein gutes Beispiel hierfilr bietet etwa Arntz, S. 53, der Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit schon im Rahmen seiner restriktiven Auslegung des Begriffs der Friedensbedrohung berücksichtigt. 783 Ebenso Oeler in Frowein, S. 274; Higgins, S. 236. Selbst das deutsche Recht unterwirft nicht jeden Hoheitsakt einer eigenständigen Prüfung der Verhältnismäßigkeit, sondern sieht eine solche nur bei Ermessensverwaltungsakten vor; im übrigen - etwa im Strafrecht oder bei gebundenen Verwaltungsakten - wird die Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht in eigenständiger Form vorgenommen, sondern ist in die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen intergriert. 784 So aber etwa Delbrück, VRÜ 1993, 20; Bothe, S. 8ff., die die Geltung bejahen; lagota, NYIL 1985, 258, der sie verneint. 785 Frowein in Simma, Art. 42, Rn. 11; Marschang, KJ 1993, 72. 786 Dahm, S. 394.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
entscheiden; es fragt sich, ob es sich hierbei um eine justiziable Grenze handelt oder ob dem SR nicht insofern ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen ist. Einen ersten Hinweis in dieser Hinsicht enthält schon Art. 42 S. 1 ChVN, der die Anwendung militärischer Zwangsmaßnahmen davon abhängig macht, daß der SR der "Auffassung" ist, daß sich die in Art. 41 ChVN vorgesehenen Maßnahmen als unzulänglich erwiesen haben oder erweisen wUrden. Diese Bestimmung ist in zweierlei Hinsicht bedeutsam: zum einen belegt sie, daß die Erforderlichkeit einer Maßnahme durchaus ein Kriterium ftlr die Entscheidung des SR darstellen muß. Vor allem aber ist bemerkenswert, daß Art. 42 S. 1 ChVN insofern ausdrucklich auf die "Auffassung" des SR abstellt;787 diese Wendung wäre schwer erklärlich, wenn es sich bei dem Kriterium der Erforderlichkeit um einen voll justiziablen Maßstab handeln wUrde. Art. 42 S. 1 ChVN spricht daher daftlr, daß dem SR insofern ein Beurteilungsspielraum zustehen sollte; wenn dies schon ftlr die Entscheidung zwischen nichtmilitärischen und militärischen Maßnahmen gilt, mUßte es erst recht ftlr die Entscheidung zwischen verschiedenen nichtmilitärischen Maßnahmen gelten. Zudem fragt sich, ob ein Beurteilungsspielraum des SR insofern nicht schon aus sachlichen Notwendigkeiten abzuleiten ist. Denn im Unterschied zu der Prognose im Rahmen der Entscheidung über das Vorliegen einer Friedensbedrohung788 hängt die Entscheidung über die Erforderlichkeit von Erwägungen der Zweckmäßigkeit im Einzelfall ab, ftlr die sich kaum allgemeine Kriterien fmden lassen. Der von Zwangsmaßnahmen bedrohte Staat wird sich regelmäßig urmachgiebig zeigen; auf keinen Fall wird er offenlegen, ab welchem Maße politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Drucks er zu einem Einlenken bereit sein wird. Die Eignung nichtmilitärischer Maßnahmen als Zwangsmittel in den internationalen Beziehungen ist dabei schon im allgemeinen äußerst kontrovers. 789 Die Zwangswirkung, die von einer nichtmilitärischen Maßnahme auf einen Staat ausgehen kann, hängt von einer so unüberschaubaren Vielzahl innerer und äußerer Faktoren ab, daß verläßliche Prognosen insofern kaum möglich sind; und selbst wenn man die objektive Zwangswirkung einer Maßnahme bestimmen könnte, bliebe immer noch die Unsicherheit bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Entscheidungsprozesse im betroffenen Staat, die abhängen von der Rolle der öffentlichen Meinung, der Haltung der Bevölkerung und der Frage, ob es womöglich zu einer Trotzreaktion kommt. 790 Ob eine konkrete Zwangsmaßnahme wirklich erforderlich ist oder ob auch eine mildere Maß787 Dies übersieht Marschang, KJ 1993, 73 (Fn. 45). 788 S.o. S. 244ff. 789 S. Einleitung, Fn. 50. 790 Eine gewisse Systematisierung der relevanten Faktoren versuchen etwa Doxey, 10 1972, 528fT.; Joyner, VaJIL 1992, 37ff.; Hasse, S. 19fT., 115fT.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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nahme ausreichen würde, läßt sich daher - wenn überhaupt - höchstens im nachhinein sagen. Der SR ist jedoch nicht verpflichtet, Zwangsmaßnahmen gestuft anzuwenden, um sie so "auszuprobieren". Dies folgt schon aus der Wendung des Art. 42 S. 1 ChVN, wonach der SR sofort zu militärischen Maßnahmen greifen kann, wenn er der Auffassung ist, daß andere Maßnahmen unzulänglich sein würden;791 eine andere Auffassung würde auch die Handlungsfllhigkeit des SR gefllhrden. Die Entscheidung über die Erforderlichkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen erfordert daher eine Prognose, die auf tatsächlichen Einschätzungen beruht, die sich nur schwer an einem objektiven Maßstab messen lassen. Es wäre daher kaum denkbar, daß der IGH einen Beschluß des SR über die Anwendung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen mit der Begründung verwerfen würde, daß dem SR mildere Mittel zur Verftlgung gestanden hätten; selbst "klare Fälle", in denen man die Einschätzung des SR als offensichtlich unzutreffend verwerfen könnte, wird es in diesem Bereich kaum geben. 792 Der SR hat daher bei der Entscheidung über die Erforderlichkeit der Maßnahmen nach Kapitel VII der Charta einen Beurteilungsspielraum, der keiner rechtlichen Überprüfung unterliegt; sein Rechtsfolgenermessen ist auch insofern nicht begrenzt.
b) Angemessenheit
Eine ganz andere Frage ist es dagegen, ob nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen auch auf ihre Angemessenheit im konkreten Fall hin zu überprüfen sind; die Angemessenheit wird dabei im Sinn der Forderung verstanden, daß der durch die Maßnahmen verursachte Schaden nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck stehen darf. Die Frage der Angemessenheit erfordert also eine normative Bewertung der Zweck-Mittel-Relation und ist daher grundsätzlich einer rechtlichen Überprüfung zugänglich. Das eigentliche Problem ist hier, ob es sinnvoll ist, neben den tatbestandlichen Voraussetzungen der Befugnisse des SR aus Art. 39 Ch VN noch einen zusätzlichen Prüfungsschritt einzuftlhren. Diese Frage hängt ganz wesentlich davon ab, wie eng man die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN versteht; der Test ftlr die Notwendigkeit einer eigenständigen Prüfung der Angemessenheit liegt mit anderen Worten in der Frage, 791 Combacau, S. 188.
792 Unklar insofern Frowein in Simma, Art. 42, Rn. 11, der dem SR zwar einen gewissen Beurteilungsspielraum zugestehen will, aber nicht erkennen läßt, wo dessen Grenzen liegen sollen.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
ob die härteste mögliche Maßnahme nach Kapitel VII der Charta auch dann noch gerechtfertigt erscheint, wenn sie gegen eine Handlung am unteren Ende der Schwereskala des Art. 39 ChVN angewandt wird. Engt man etwa den Begriff der Friedensbedrohung auf die unmittelbare Gefahr eines bewaffneten Konflikts ein,793 dann wird man selbst militärische Maßnahmen stets unbedenklich finden; versteht man ihn dagegen sehr weit, so könnte Bedarf nach einer zusätzlichen Grenze entstehen. Die hier vertretene Auffassung794 geht bezüglich der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN einen mittleren Weg, und dies bleibt auch nicht ohne Auswirkungen auf die Bedeutung der Frage der Angemessenheit. Eine Friedensbedrohung ist jede Verhaltensweise, die zu einem so erheblichen Zerwürfnis in den internationalen Beziehungen fUhrt, daß das Risiko eines bewaffneten internationalen Konflikts erheblich gesteigert wird. Die internationale Gemeinschaft hat demnach ein erhebliches Interesse, derartige Akte zu unterdrUcken; dementsprechend muß sie befugt sein, dem betreffenden Staat insofern auch erhebliche Lasten aufzuerlegen. Daraus folgt, daß nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen auch umfassendster Art niemals eine unangemessene Reaktion auf eine Bedrohung des Friedens darstellen werden; dies gilt vor allem auch im Hinblick auf die ohnehin unsichere Wirkungsweise solcher Maßnahmen. Daher wäre es zum Beispiel rechtlich möglich gewesen, gegen Libyen wegen dessen Verweigerung der Auslieferung der mutmaßlichen Attentäter von Lockerbie nicht nur - wie in SR-Res. 748 (1992) geschehen - ein begrenztes Luftverkehrs- und Waffenembargo zu verhängen, sondern einen umfassenden politischen und wirtschaftlichen Boykott anzuordnen; dies gilt, obwohl dieser Fall in einigen seiner Aspekte sicherlich eher am unteren Ende der Skala des Art. 39 ChVN einzuordnen ist. 795 Die wirklich problematische Frage wäre daher, ob gegen Friedensbedrohungen auch mit militärischen Mitteln vorgegangen werden dürfte; dies liegt jedoch außerhalb des eigentlichen Gegenstands dieser Untersuchung. Immerhin wird man ein generelles Verbot militärischer Maßnahmen bei Friedensbedrohungen nicht annehmen können; 796 ob es dagegen angemessen gewesen wäre, auch gegen Libyen wegen der Lockerbie-Problematik militärisch einzuschreiten, läßt sich allerdings doch bezweifeln. Insgesamt kommt dem Grundsatz der Angemessenheit somit nur eine subsidiäre Rolle zu; jedenfalls bei nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen wird sich die Schere zwischen Zweck und Mittel wohl nie soweit öffnen können, daß eine zusätzliche rechtliche Überprüfung erforderlich wäre. 793 So Arntz, S. 64. 794 Vgl. dazu o. S. 238ff. 795 Vgl. dazu insbesondere o. S. 260ff. 796 Halderman, S. 94; a.A. Combacau, S. 94.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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4. Menschenrechte und humanitäre Erwägungen Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta sind nicht nur ein Eingriff in die Rechte des betroffenen Staates; in noch stärkerem Maße belasten sie die Zivilbevölkerung. Für militärische Zwangsmaßnahmen ist vertreten worden, daß insofern eine Bindung des SR und der unter seiner Autorität operierenden Streitkräfte an das humanitäre Völkerrecht bestehen müsse.1 97 Fraglich ist, ob der SR auch bei der Verhängung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen an die Menschenrechte oder allgemeine humanitäre Erwägungen gebunden ist. 798 Erste Ansätze ftlr eine Berücksichtigung humanitärer Belange fmden sich in der Praxis des SR selbst. 799 In sämtlichen Fällen der Verhängung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen nahm der SR humanitäre Ausnahmeklauseln in seine Resolutionen auf. Schon die gegen Südrhodesien gerichtete SR-Res. 253 (1968) nahm von dem gegen das Territorium verhängten Wirtschaftsembargo medizinische Güter und Lehrmittel sowie, unter besonderen humanitären Voraussetzungen, Nahrungsmittel aus;800 ähnliche Ausnahmen ftlr medizinische Güter und Nahrungsmittel finden sich auch in den Resolutionen in den Fällen des Irak801 und des ehemaligen Jugoslawiens802. Besondere Prominenz gewann das Problem auch im Zusammenhang mit den Wirtschaftsmaßnahmen gegen das ohnehin arme Haiti, die ebenfalls mit Ausnahmen zugunsten der Zivilbevölkerung versehen waren. 803 Zu vermerken ist auch, daß schon im historischen Vergleich in Kapitel VII der Charta eine größere Sensibilität ftlr humanitäre Belange festzustellen ist als dies noch unter dem Völkerbund der Fall war. Art. 16 VBS - der in dieser Form allerdings nie umgesetzt wurde804 - verpflichtete die Bundesmitglieder im 797 Vgl. etwa Condorelli in Stern, S. 190; Greenwood, NZWehrr 1991, 56; Scheuner, BDGV 1957, 13. 798 Hierzu bejahend Gowlland-Debbas, ICLQ 1994, 91ff. 799 Gowlland-Debbas, ICLQ 1994, 92f.
800 Abs. 3 d) der Resolution. 801 Vgl. SR-Res. 661 (1990), Abs. 3 c). Durch SR-Res. 666 (1990) beschloß der SR, die Ernährungssituation im Irak aufmerksam zu beobachten, mit besonderer Berücksichtigung anfälliger Personen wie Kinder, Schwangere und Kranke (Abs. 1 und 3 der Resolution). 802 Vgl. SR-Res. 757 (1992), Abs. 4 c); SR-Res. 820 (1993), Abs. 12. 803 Vgl. SR-Res. 841 (1993), die eine Ausnahme von dem durch sie verhängten ÖIembargo bei Lieferungen "for verified humanitarian needs" vorsieht (Abs. 7 der Resolution); Res. 917 (1994), die humanitäre Ausnahmen zu dem von ihr verhängten HandeIsembargo enthält (Abs. 7 der Resolution). 804 Sie hierzu schon o. S. 136ff.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
BUndnisfalle unter anderem, "ihren Staatsangehörigen jeden Verkehr mit den Staatsangehörigen des vertragsbrüchigen Staates zu untersagen und alle finanziellen, Handels- und persönlichen Verbindungen" abzuschneiden. Diese bedenkliche - und wohl auch kaum praktikable - Unterbrechung der Beziehungen selbst auf der Ebene der Einzelpersonen ist so nicht mehr in Art. 41 ChVN vorgesehen. Es ist daher trotz des nicht abschließenden Charakters der Aufzählung in Art. 41 S. 2 ChVN durchaus zweifelhaft, ob solche Maßnahmen noch angeordnet werden dürften. 80S Fraglich bleibt allerdings, welchen Bindungen der SR bei der Verhängung von Wirtschaftsembargos und ähnlichen, die Gesamtheit der Zivilbevölkerung betreffenden Maßnahmen unterliegt. Zwar besteht nach Art. 24 11 1 LV.m. Art. 1 Nr. 3 ChVN grundsätzlich eine Bindung des SR an die allgemeinen Menschenrechte und Grundfreiheiten. Gleichwohl bleibt jedoch problematisch, welche konkreten Schranken sich hieraus ftlr das Rechtsfolgenermessens des SR ergeben sollen,s06 Denn regelmäßig ist das Problem nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen vor allem ihre eingeschränkte Wirksamkeit; es müssen dem SR daher auch einschneidende Maßnahmen möglich sein, soll seine Handlungsflthigkeit gewahrt bleiben. Daß hierdurch der Einzelne erheblich in seiner persönlichen und sozialen Entwicklung beeinträchtigt werden kann, kann nicht zur Unzulässigkeit der Zwangsmaßnahmen filhren. Generell erscheint es daher zweifelhaft, auf Flächenwirkung angewiesene Zwangsmaßnahmen an Individualrechten messen zu wollen. Nur dort, wo Zwangsmaßnahmen zu flächenhaften und allgemeinen Verletzungen essentieller Menschenrechte wie etwa des Rechts auf Leben filhren, käme ein Verstoß gegen humanitäre Grundsätze in Betracht; als Beispiele könnte hier an schwere Hungersnöte oder Seuchen gedacht werden. Nur in solchen äußersten Fällen könnte ein Verstoß gegen Gebote der Menschenrechte und der Humanität die Nichtigkeit einer Resolution des SR zur Folge haben, die dann auch vom IGH festgestellt werden könnte. Außerhalb dieses engen Rahmens, den der SR bislang sorgsam gewahrt hat, bleibt der SR frei in der Bestimmung der zur Wiederherstellung des Friedens erforderlichen Maßnahmen.
80S Art. 41 ChVN ermöglicht dagegen weiterhin die Unterbrechung der Post- und Telegraphenverbindungen sowie sonstiger Kommunikationsmöglichkeiten. Obwohl der SR hiervon mit guten GrUnden bislang keinen Gebrauch gemacht hat (vgl. GowllandDebbos, ICLQ 1994, 92), besteht die Möglichkeit hierzu angesichts des klaren Wortlauts des Art. 41 S. 2 ChVN fort. 806 Diese Fragen übergeht Gowlland-Debbos, ICLQ 1994, 91ft'.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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III. Der Wegfall der Voraussetzungen des Art. 39 CbVN
Zwangsmaßnahmen werden regelmäßig über einen längeren Zeitraum hinweg zur Anwendung gebracht. In diesem Zeitraum können erhebliche Veränderungen in der Situation eintreten, die der SR ursprünglich zum Anlaß rur die Verhängung der Zwangsmaßnahmen genommen hat; dies kann bis zur vollständigen Beseitigung der Friedensbedrohung, des Friedensbruchs oder der Angriffshandlung gehen. Eine ausdrückliche Bestimmung über die Beendigung von Zwangsmaßnahmen enthält die Charta nicht. Gleichwohl ist aus der Zentralisierung der Entscheidung über Zwangsmaßnahmen beim SR zwingend der Schluß zu ziehen, daß auch ihre Beendigung nicht einfach im Belieben der Mitgliedsstaaten stehen kann. 807 Zur Aufhebung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der Charta bedarf es somit grundsätzlich eines Beschlusses des SR.808 Dieser Beschluß ist an die gleichen Mehrheitsvoraussetzungen gebunden wie jener über die ursprüngliche Verhängung der Maßnahmen; insbesondere gilt das Erfordernis der Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder des SR gem. Art. 27 III ChVN. Daraus ergibt sich das Problem, daß jedes ständige Mitglied des SR die Aufhebung von Zwangsmaßnahmen aus Gründen blockieren kann, die womöglich von keinem anderen Mitglied geteilt werden und mit den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN nichts mehr zu tun haben,s09 Daß dies kein rein theoretisches Problem ist, zeigen SR-Res. 686 und 687 (1991), in denen der SR trotz Erreichung des Primärziels der Zwangsmaßnahmen gegen den Irak - der Befreiung Kuwaits - die Beendigung der militärischen Aktionen bzw. die vollständige Aufhebung der Zwangsmaßnahmen an gewisse weitere Voraussetzungen knüpfte. 8iO In ähnlicher Weise war fraglich, ob filr die Aufrechterhaltung des mit SR-Res. 713 (1991) gegen das ehemalige Jugoslawien verhängten Waffenembargos auch nach dem völligen Zerfall dieses Staates noch eine Mehrheit im SR bestand. Für den durch Zwangsmaßnahmen betroffenen Staat liegt hierin natürlich eine nicht unerhebliche Gefahr. Es stellt sich daher die Frage nach der Möglichkeit eines Rechtsschutzes gegen die 807 Kreczko, VaJIL 1980, 106, der darauf hinweist, daß sonst jeder Staat Zwangsmaßnahmen an dem auf ihre Verhängung folgenden Tag wieder aufheben könnte. 808 Goodrich/Simons, S. 491 (in Analogie zu Art. 5 S. 2 ChVN); Combacau, S. 215f.; Gowlland-Debbas, S. 648; Kreczko, VaJIL 1980, 106f.; Hurst, HILJ 1980,253, 259; Suy, FS Schlochauer, S. 688f. 809 Diese Gefahr betonen Orihue/a Ca/atayud, REDI 1992, 408; Caron, AJIL 1993, 577ff. Ebensogut kann sich allerdings auch eine Mehrheit im SR rur die Aufrechterhaltung von Zwangsmaßnahmen entschließen, ohne daß garantiert wäre, daß dies immer unter den Voraussetzungen des Art. 39 ChVN erfolgt. 8iO Vgl. hierzu etwa Lavalle, NYIL 1992,53, 54ff., der die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens bejaht.
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
unberechtigte Aufrechterhaltung von nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen. Diese wäre dann zu bejahen, wenn der Wegfall der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN zugleich auch die Ungültigkeit und damit Unverbindlichkeit des fraglichen Beschlusses des SR nach sich zöge. Dem ist nunmehr nachzugehen.
1. Die Beendigung der Zwangsmaßnahmen gegen Slidrhodesien
Problematisch ist die Frage einer einseitigen Aufhebung von nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen bislang in der Praxis der VN nur im Zusammenhang mit der Beendigung der Maßnahmen gegen das ehemalige Südrhodesien Ende des Jahres 1979 geworden. Nachdem die rhodesische Regierung des Bischofs Muzorewa in die Rückkehr des britischen Gouverneurs und damit aus britischer Sicht die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung eingewilligt hatte, jedoch noch vor einer endgültigen Einigung mit den übrigen Befreiungsbewegungen, teilte Groß-Britannien dem SR am 12. Dezember 1979 mit, es betrachte die Friedensbedrohung damit als beendet und hebe somit alle Zwangsmaßnahmen gegen Rhodesien auf. 811 Dem schloßen sich weitere Staaten an, insbesondere die Bundesrepublik812 und die Vereinigten Staaten813 . Die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der VN protestierte jedoch gegen diese einseitige Aufhebung;814 insbesondere kam es zur Annahme einer Resolution der GV, in der die ausschließliche Kompetenz des SR zur Beendigung von Zwangsmaßnahmen betont und die einseitige Aufhebung als Verletzung des Art. 25 ChVN verurteilt wurde.8 15 Der Konflikt wurde jedoch rasch beigelegt, da es wenig später zu einer allgemeinen Einigung über die Zukunft des ehemaligen Rhodesiens kam, so daß der SR schon am 21. Dezember 1979 mit Res. 460 alle Maßnahmen endgültig aufheben konnte. Auch im Schriftum ist die einseitige Aufhebung der Maßnahmen überwiegend als rechtswidrig beurteilt worden;816 dies war im konkreten Fall ange811 S/13688, SCOR, 34th year, Suppl. for Oct.-Dec., 119 (1979); die Erklärung des britischen Gesandten ist auch abgedruckt bei Kreczko, VaJIL 1980,99. Zum politischen Hintergrund der Aufhebung der Zwangsmaßnahmen vgl. ausftlhrlicher Kreczko a.a.O., 99-103; Suy, FS Schlochauer, S. 684ff. 812 Vgl. Gowlland-Debbas, S. 644-646. 813 Dazu insb. Hurst, HILJ 1980, 253ff. 814 Vgl. Kreczko, VAJIL 1980, 99f.; Suy, FS Schlochauer, S. 687f.; GowllandDebbas, S. 646-648. 815 GA-Res. 192 (XXXIV) vom 19. Dezember 1979 (YUN 33 [1979], 1115). 816 Vgl. Hurst, HILJ 1980, 253, 259; Suy, FS Schlochauer, S. 688f.; GowllandDebbas, S. 648; ftlr offen hielt die Frage Kreczko, VaJIL 1980, 127f.
2. Abschnitt: Reichweite und Grenzen der Befugnisse
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sichts der fehlenden Einigung wesentlicher Parteien sicherlich auch gut vertretbar. Dementsprechend betraf die Diskussion aber auch weniger die Frage eines Rechtswidrigwerdens der Zwangsmaßnahmen,817 sondern konzentrierte sich vielmehr auf die Frage, ob sich vielleicht aus einer Auslegung der fraglichen Resolutionen des SR ein Recht Groß-Britanniens zur Feststellung des Fortfalls der Voraussetzungen der Zwangsmaßnahmen und damit zu ihrer Beendigung ergeben könnte, was im Ergebnis abzulehnen war.8 18 Es ist somit zwar auffiillig, daß auf den Fortfall der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN so wenig Gedanken verwandt wurden, angesichts der besonderen Umstände des Falls wird man hierin aber noch keine Aussage Ober die Auswirkungen eines solchen Fortfalls im allgemeinen sehen können.
2. Ein Rechtswidrigwerden der Beschlüsse des Sicherheitsrats?
Damit stellt sich die Frage, welche Auswirkungen der Fortfall der Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit eines Beschlusses des SR Ober nichtmilitärische Zwangsmaßnahmen nach der Charta auf die Wirksamkeit dieses Beschlusses hat. Diese Frage ist im Schriftum soweit ersichtlich nirgends diskutiert worden. 819 Dies ist nur konsequent von einer Position aus, die dem SR schon bei der Feststellung der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN ein unbegrenztes Ermessen zugesteht. 820 Sobald man aber die Befugnisse des SR an das Vorliegen gewisser Voraussetzungen bindet, taucht zwingend auch die Frage der Folgen ihres späteren Wegfalls auf. Dabei ist zunächst klar, daß etwaige Beurteilungsspielräume des SR insofern nicht geringer sein können. So hat der SR auch hier bezüglich der tatsächlichen Feststellungen einen Beurteilungsspielraum, der nicht der Kontrolle des IGH unterliegen würde;821 zudem müßte man ihm auch einen gewissen zeitlichen Spielraum zur Bewertung der eingetretenen Veränderungen lassen. 817 Kreczko, VaJIL 1980, 105 (Fn. 24) ließ die Frage eines exces de pouvoir seitens des SR ausdrücklich unerörtert, da diesbezüglich von Groß-Britannien nichts vorgebracht worden war. 818 Vgl. hierzu ausftlhrlich Kreczko, VaJIL 1980, 109-127. 819 Herdegen, VandJTL 1994, 155 (Fn. 159) vertritt zwar, eine Änderung der Umstände sei von Einfluß auf die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses des SR, begründet dies jedoch nicht näher. 820 Vgl. in diesem Sinne Kreczko, VaJIL 1980, 107: "Tbe political nature of the Chapter VII determination makes it difficult to argue that aState may determine unilaterally that the threat to international peace has ceased." 821 Zum Beurteilungsspielraum des SR bei der Feststellung nach Art. 39 CHVN vgl. o. S. 240ft".
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3. Teil: Rechtmäßigkeit nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen
Die Frage ist jedoch letztlich die, ob man die Figur eines "Rechtswidrigwerdens" von Beschlüssen internationaler Organisationen und hier insbesondere des SR überhaupt anerkennen soll. Schon die Annahme von Voraussetzungen ftlr die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des SR bringt in Abwesenheit obligatorischer Gerichtsbarkeit in Bezug auf die Rechtssicherheit gewisse Probleme mit sich. Aber alle Auslegungskonflikte, die insofern auftauchen könnten, bleiben doch wenigstens auf die Bewertung einer konkreten, zeitlich begrenzten Situation beschränkt. Zwangsmaßnahmen können jedoch unter Umständen, wie die Erfahrung gezeigt hat, über Jahrzehnte bestehen. In diesen Zeiträumen wird es unausweichlich zu einer Vielzahl von Veränderungen kommen, über deren Relevanz ftlr die Voraussetzungen des Art. 39 ChVN man jeweils geteilter Meinung wird sein können. Damit potenzieren sich auch die möglichen Interpretationskonflikte. Selbst wenn der IGH einmal positiv zur Rechtmäßigkeit einer Zwangsmaßnahme Stellung genommen hat, wäre nicht auszuschließen, daß diese Frage unter Hinweis auf später eingetretene Veränderungen erneut aufgeworfen wird. Dies kann jedoch kaum als wünschenswert erscheinen; ist einmal festgestellt, daß die Verhängung von Zwangsmaßnahmen rechtmäßig war-, so erscheint es sinnvoll, von nun an der Rechtssicherheit den Vorzug zu geben. Die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses des SR ist daher allein nach dem Zeitpunkt seines Zustandekommens zu bewerten. Die Aufhebung von Zwangsmaßnahmen hängt somit in jedem Fall von einem entsprechenden Beschluß des SR ab. Das schließt nicht aus, daß der SR zu dieser Aufhebung bei Wegfall der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN verpflichtet ist; aber diese Verpflichtung ist nicht gerichtlich durchsetzbar und läßt die grundsätzliche Wirksamkeit des ursprünglichen Beschlusses unberührt. 822 Diese Rechtslage in den VN kann unter dem Gesichtspunkt einer effektiven Begrenzung der Kompetenzen des SR nicht voll befriedigen; auch der zulässigerweise mit Zwangsmaßnahmen belegte Staat sollte nicht auf unbegrenzte Zeit vogelfrei gestellt werden. Das Problem resultiert letztlich aus den Mißbrauchsmöglichkeiten, die sich aus den Abstimmungserfordernissen des Art. 27 III ChVN ergeben. Das Vetorecht der ständigen Mitglieder des SR war dazu bestimmt, allen Zwangsmaßnahmen der VN eine ausreichende Machtbasis zu sichern;823 es leuchtet daher nicht ein, warum hier ein einzelnes Mitglied des SR die Aufhebung sollte verhindern können. 824 Das Erfordernis eines actus
822 Dem läßt sich auch nicht der Grundsatz "ex iniuria ius non oritur" entgegenhalten, da die Erwägungen über die Erfordernisse der Rechtssicherheit insofern spezieJler sind. 823 S. dazu o. S. 204. 824 Diese Erwägungen stehen wohl auch hinter der Änderung des Rio-Vertrages durch das Protokoll von San Jose (ILM 14 [1975], I 122ff.), nach dessen neuem Art. 20
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contrarius läßt sich aber nur im Wege einer Satzungsänderung beseitigen. 825 Vorliegend ist daher festzustellen, daß der Wegfall der Voraussetzungen des Art. 39 ChVN die Gültigkeit der BeschlUsse des SR nicht berührt; eine gerichtliche Kontrolle der Aufrechterhaltung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen ist daher ausgeschlossen.
die Verhängung von Zwangsmaßnahmen weiterhin einer Zweidrittelmehrheit bedarf, ihre Aufhebung aber nur noch einer absoluten Mehrheit. 825 Eine weitere Lösung könnte in der zeitlichen Begrenzung nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen liegen; hiervon hat der SR jedoch bislang kaum Gebrauch gemacht.
Schluß betrachtung Die Untersuchung der Möglichkeiten einer gerichtlichen Kontrolle nichtmilitärischer Zwangsmaßnahmen ftlhrt zu einem ambivalenten Ergebnis. Dies gilt schon filr die prozessualen Möglichkeiten und Grenzen der Rechtskontrolle durch den IGH. Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen ist nicht von vornherein ausgeschlossen; vielmehr bietet insbesondere die inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren dem einzelnen, mit Zwangsmaßnahmen belegten Staat eine Möglichkeit, die Beschlüsse des SR einer Kontrolle durch den IGH zuzufUhren. Aber diese Kontrolle hat einen indirekten, fragmentarischen und behelfsmäßigen Charakter; ihr Erfolg setzt das Zusammentreffen einer Vielzahl rechtlicher und faktischer Bedingungen voraus. Es läßt sich daher sagen, daß die Bedeutung der inzidenten Kontrolle im streitigen Verfahren weniger darin liegt, daß sie ein verläßliches Instrument des Rechtsschutzes gegen Zwangsmaßnahmen wäre, sondern vielmehr in der exemplarischen Bedeutung, die einer Entscheidung des IGH in diesem Verfahren zukommen müßte, wenn es denn einmal Erfolg hat. Deutlicher noch tritt die Ambivalenz der gefundenen Ergebnisse im Bereich der materiellen Befugnisse des SR zutage. Einerseits ist festgestellt worden, daß der SR auch im Rahmen seiner Tätigkeit nach Kapitel VII in vollem Umfang an die Charta der Vereinten Nationen gebunden bleibt; deren Beachtung ist somit uneingeschränkt Voraussetzung rur die Gültigkeit seiner Beschlüsse. Auch die Feststellungsbefugnis des SR nach Art. 39 ChVN ist keine unbegrenzte. Sie bleibt vielmehr an das Vorliegen eines Bruchs oder einer Bedrohung des Friedens oder einer Angriffshandlung gebunden; diese Begriffe sind grundsätzlich der gerichtlichen Kontrolle zugängliche Rechtsbegriffe, in deren Rahmen dem SR nur ein eingeschränkter Beurteilungsspielraum zuzugestehen ist. Insbesondere der Begriff der Friedensbedrohung überträgt dem SR kein unbeschränktes Ermessen; er ist vielmehr beschränkt auf solche Verhaltensweisen, die zu einer erheblichen Steigerung des Risikos eines bewaffneten Konflikts in den internationalen Beziehungen fUhren. Die Befugnisse des SR nach Kapitel VII sind somit nicht grenzenlos, aber sie sind doch von einer beträchtlichen Weite. Bedeutsam ist dabei vor allem, daß das Rechtsfolgenermessen des SR von rechtlichen Bindungen weitgehend frei ist. Er kann faktisch weitgehende Eingriffe in die Rechte der Parteien vornehmen, wenn ihm auch die materielle Streitentscheidung versagt bleibt. Er ist nicht an das allgemeine Völkerrecht gebunden
Schlußbetrachtung
289
und ist daher frei zu entscheiden, gegen welche Partei eines Konflikts er einschreiten will. Auch bezüglich der Auswahl der zu treffenden Maßnahmen bleibt er weitgehend unbeschränkt. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kommt filr nichtmilitärische Maßnahmen keine Bedeutung zu. Lediglich im Hinblick auf Menschenrechte und humanitäre Prinzipien sind dem SR gewisse Schranken auferlegt, doch verbleibt auch hier ein erheblicher Spielraum. Wollte man das so gefundene Bild der Befugnisse des SR in einem Wort charakterisieren, so könnte man davon sprechen, daß ihm eine Art Notstandskompetenz zukommt. Der SR hat ein "pouvoir de crise"; seine Befugnisse bestehen nur in ganz bestimmten, krisenhaften Situationen in den internationalen Beziehungen, in denen er dann aber in einer weitgehend souveränen und rechtlich kaum überprUtbaren Weise vorzugehen berechtigt ist. Das verschiedentlich verwendete Bild vom SR als dem "Polizeibeamten" der internationalen Gemeinschaft, dessen einzige Aufgabe es ist, ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht filr Frieden in den internationalen Beziehungen zu sorgen, ist somit nicht ganz ohne Berechtigung. Nur darf man nicht übersehen, daß jenen Notmaßnahmen des SR nicht die gleiche Vorläufigkeit zu eigen ist wie denen des Polizisten in einer rechts staatlich verfaßten Ordnung; was in der internationalen Ordnung fehlt, sind Mechanismen friedlicher und effektiver Rechtsanpassung, Rechtsdurchsetzung und Streitbeilegung. Man könnte sich daher fragen, ob die internationale Gemeinschaft nicht anstatt eines Organs, das einige wenige Konflikte machtvoll, eines solchen bedürfte, das alle Konflikte gerecht löst. Es läßt sich vermuten, daß hier auch die tiefere Motivation filr jene in der Literatur verbreitete Sichtweise liegt, nach der die Feststellungsbefugnis des SR nach Art. 39 ChVN unbegrenzt ist und rechtlichen Grenzen seiner Befugnisse - wenn überhaupt - in allgemeinen Gerechtigkeitsprinzipien oder in den Normen des allgemeinen Völkerrechts gesucht werden. Wenn nun die Frage nach der Wünschbarkeit eines Organs, daß die Aufgabe der Streitentscheidung oder auch Rechtssetzung in den internationalen Beziehungen übernehmen könnte, de lege ferenda gestellt würde, gäbe es an einer positiven Antwort sicherlich keinen Zweifel. Das Problem ist nur, daß der SR kaum jenes Weltparlament, jene Weltregierung und jenes Weltgericht ist, deren es zu einer dauerhaften Lösung der Probleme der internationalen Gemeinschaft bedürfte. Er ist nach seiner Struktur, seiner Zusammensetzung, seinem Verfahren und seiner Legitimation nicht das Organ, von dem man die Lösung aller Fragen der internationalen Ordnung erwarten dürfte; diese große Lücke in der Verfassung der internationalen Gemeinschaft bleibt offen, und auch eine noch so extensive Interpretation der Befugnisse des SR vermag sie nicht zu schließen.
19 Martenczuk
Schluß betrachtung
290
Letztlich stellt sich hier ein Problem, das jeder Auslegung der Gründungsverträge internationaler Organisationen eigen ist, nämlich die Frage, ob jene souveränen Rechte, die die nationalen Parlamente und Regierungen bislang nicht abzugeben bereit waren, ihnen nicht vielleicht im Wege der Auslegung entrungen werden können. Aber die Verwirklichung internationaler Kooperation auf dem juristischen Schleichweg hat auch ihre Gefahren. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind auf internationaler Ebene bloße Postulate, die der Verwirklichung noch harren; die juristische Auslegung sollte daher nie übersehen, daß sie zwar die Kompetenzen internationaler Organe erweitern, aber nur schwer deren legitimatorische Defizite beseitigen kann. Es hat insofern einen eigentümlichen Beigeschmack, wenn die Grenzenlosigkeit der Befugnisse des SR mit den Worten begründet wird, die Charta begründe "au profit du Conseil un Etat de police et ne cree pas un Etat de droit" I. Internationale Integration und Kooperation um jeden Preis kann sich leicht als geflihrlicher Irrweg erweisen; es gilt daher, die gegebenen Möglichkeiten internationaler Kooperation zu bewirtschaften, ohne Raubbau an den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat zu treiben. Die dogmatischen Voraussetzungen rur eine solche juristische Gratwanderung sind im gegenwärtigen Völkerrecht noch nicht sehr günstig; zu wenig Gelegenheit hat das Völkerrecht bislang gehabt, sich mit den Fragen von Rechtsbindung und Rechtskontrolle internationaler Organe auseinandersetzen. Mit der zunehmenden Intensität internationaler Kooperation und Integration werden sich die Voraussetzungen jedoch auch insofern verbessern. Soll die internationale Gemeinschaft der Zukunft eine solche des Rechts sein, so muß jetzt schon mit der Entwicklung von Standards internationaler Rechtsstaatlichkeit begonnen werden; hierbei wird auch der Vergleichung des nationalen öffentlichen Rechts eine wertvolle Rolle zukommen. Nur in einem solchen, allmählichen Prozeß kann sich ein Rechtsstaatsprinzip der internationalen Gemeinschaft herausbilden; hierzu versteht sich die vorliegende Arbeit als bescheidener Beitrag.
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Sachregister Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat
- eius intrepretari cuius condere 56
- Kontrolle durch den IGH 77ff
- inzidente und autoritative Interpretation 146ff.
- rechtliche Bindungen bei Abstimmungen 77ff
- und Praxis des SR
- objektive oder subjektive Kontrolle 80 Acte de gouvernment 109f.
Beschluß des SR
Adressatenauswahl siehe Ennessen
- Anfechtbarkeit 121 ff.
Ägäis-Kontlikt 90, 103
- Begriff 32f.
Aggression siehe Angriffshandlung
- ennächtigendes Element 33f., 86f.
Allgemeine Rechtsgrundsätze 63f.
- Gutglaubensschutz bei AusfUhrung von 125ff.
Anfechtbarkeit siehe Beschluß des SR Angola 178 Angriffshandlung - Begriff 223 - Definitionsproblem 200ff - In der Praxis des SR 170, 223, 274 - Resolution zur Definition der 199, 228ff
- Nichtigkeit 121ff., 142f. - offensichtliche Rechtswidrigkeit 158ff. - rechtfertigende Wirkung 119 - Verfahrensfehler, Auswirkungen von 152ff. Vennutung der Gültigkeit 160ff. Wegfall der Voraussetzungen 287ff. Beurteilungsspielraum
- Selbstbindung durch Feststellung einer 274f.
- Begriff 190ff.
Apartheid als Friedensbedrohung 251
- bei Tatsachenfeststellungen 205, 240ff.
Äthiopien, Überfall Italiens auf 138f., 232
- bei Prognosen 244ff.
Auslegung
- bezüglich der Erforderlichkeit von Zwangsmaßnahmen 271
- autoritative und authentische Interpretation 56 - der Charta der Vereinten Nationen 51 ff. - Bedeutung der travaux preparatoires 52ff. - effet utile 57
- im Rahmen des Art. 39 ChVN 240ff. Bosnien-Herzegowina, Rechtsstreit vor dem IGH 24ff., 91, 99, 103, 184, 268, 272f. Bürgerkriege siehe Frieden, internationaler
Sachregister Certain Expenses 56, 71, 124, 147, 155, 160f. Charta der Vereinten Nationen siehe Auslegung Chorzow, Fabrik von 98
317
- internationaler 228ff. Friedensbedrohung - Auffassungen in der Literatur 184ff. - Begriff239
competence d'attribution 40
- Beurteilungsspielraum siehe dort
Conditions of Admission 69f., 78f., 157f., 193
- Prävention 232ff.
- dynamische Interpretation 246f. - unmittelbare 236f.
Demokratie, mangelnde als Friedensbedrohung 252 detournement de pouvoir siehe Ermessen Einzelermächtigung, Prinzip der 40 electa una via siehe Inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren Empfehlungen, rechtfertigende Wirkung von 35ff., 86 Ermächtigung 45ff.
zur
Gewaltanwendung
Ermessen Begriff und Systematik 190ff.
Friedensbruch - Begriff 231 - Bürgerkrieg als 231 Friedensregelungen durch den SR 49f. Friedliche Streitbeilegung (Kapitel VI der Charta) 233ff.
Generalversammlung - Befugnisse 31f., 226 - Einholung von Gutachten des IGH 76 - Empfehlungen 35f.
- bei Feststellungen nach Art. 39 ChVN 196ff.
Gewaltenteilung 144f.
- bezüglich der Adressatenauswahl 266ff.
als ius cogens 273
- bezüglich der Rechtsfolgen 254ff.
Begriff 215
- detournement de pouvoir 80, 192
und Art. 39 ChVN 215ff.
- Ermessensmißbrauch 192ff.
Gewaltverbot
Gutachten des IGH
- Ermessensüberschreitung I 92ff.
Antragsberechtigung 75f.
- im nationalen Recht 190ff., 194ff.
und Kontrolle des SR 74ff.
- Kontrolldichte 194ff. Europäische Union 58f., 213
Wirkungen 75 - Zulässigkeitsvoraussetzungen 74ff. Gutglaubensschutz siehe Beschluß des SR
failed state 228ff. Frieden - negativer und positiver Friedensbegriff 224ff.
Haiti 47, 176ff., 252f. Humanitäre Zwangsmaßnahmen 48f., 231
318
Sachregister
ICAO 59
Internationale Verbrechen 217ff.
ICAO-Council-Fall 152f.
Inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren; siehe auch Internationaler Gerichtshof
ILC 119, 217f. IL059
- Berechtigtes Interesse des Klägers 85ff.
IMCO-FalI12lf.
- Beteiligungsmöglichkeiten des SR 111
Innere Angelegenheiten 211 f. Interets allemands en Haute-Silesie 10 I f. Internationale Organisationen - allgemeine Rechtsgrundsätze 62
- electa una via 102 - friedensbedrohende Streitigkeiten 98ff. - gleichzeitige Befassung von SR und IGH 100ff.
Auslegung der GrUndungsverträge 51 tT.
- lustiziabilität 87ff.
politischer
- Litispendenz 101 ff.
Kompetenz-Kompetenz Organe 144ff.
- Reichweite 73ff. 82ff.
- Rechtsschutz in 58ff. - travaux preparatoires, Bedeutung der 52f. - Verwaltungs gerichte 60 Internationaler Gerichtshof; siehe auch Inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren - Fakultativklausel 83f. - lurisdiktionsermessen 95ff. - Kompetenz-Kompetenz 93 - Parteifähigkeit 111 - quasi-obligatorische 92ff.
Gerichtsbarkeit
- Sachverhaltsermittlung 241 ff. - standard ofjudicial review 128, 161f. - und Auslegung der Charta 67ff. - und Befugnisse des SR 97ff. - und Kontrolle der politischen Organe 70ff. - Verfahrensarten 73ff. - Vollstreckung der Entscheidungen 41, 114 - Vorbehalte zur Zuständigkeit 83ff. - Zuständigkeit 67ff., 82ff.
- res iudicata, Beschlüsse des SR als 107ff. - vorläufiger Rechtsschutz Zwangsmaßnahmen 115ff.
gegen
- Zulässigkeitsvoraussetzungen 81 ff. Iranisch-Irakischer Krieg 170 ius cogens siehe Zwingendes Völkerrecht Jugoslawien - Krieg im ehemaligen 17Iff., 229, 275 - Kriegsverbrechertribunal siehe dort - militärische Maßnahmen 46f. - Rechtsstreit vor dem IGH siehe Bosnien-Herzegowina - Sicherheitszonen 48 lustiziabilität siehe Inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren Kollektive Sicherheit - Begriff 134ff. - Funktionsbedingungen 134ff., 140ff., 148ff. - Macht und Recht in System kollektiver Sicherheit 148ff.
Sachregister
319
- Vereinte Nationen als System der 140ff.
Namibia-Gutachten 37ff., 7lf., 129f., 153, 156f., 159, 161,206
- Völkerbund als System dem der 136ff.
Nationales öffentliches Recht
Kolonialismus als Friedensbedrohung 251
- und Charta der Vereinten Nationen 63f.
Korea-Konflikt 46. 167
- und Rechtskontrolle des SR 64ff.
Korfu-Kanal-Fall 32
nemo iudex in sua causa 144f.
Kriegsverbrechertribunal
Neue Weltordnung 19ff.
- rur Jugoslawien 48f.
Nicaragua-Fall 91, 99, 103, 108, 242f.
- rur Ruanda 49
Nichtigkeit siehe Beschluß des SR
- Kompetenzentscheidung des Jugoslawientribunals in Prosecutor v. Tadic I 85f.
Northern Cameroons 72, 95ff., 113
Kurdenkrise im Irak 171 Kuweit, Irakische Invasion des 19, 170f.
OAS 142, 164f., 176,250,252,286 Offensichtliche Rechtswidrigkeit siehe Beschluß des SR Palästina 166f.
Liberia 175f. Libyen, Sanktionen gegen siehe Lockerbie Litispendenz siehe Inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren
peaceful change 227,289 political acts 109f. Prävention siehe Friedensbedrohung
Locamo-Pakt 138
Prognosespielraum siehe Beurteilungsspielraum
Lockerbie 22Iff., 72, 77, 83, 91, 103, 109, 117, 161, 174f., 182ff., 241, 243, 255, 260ff., 280
Rechtshllngigkeit siehe Litispendenz Rechtsirrtum 125f. Rechtskraft
Menschenrechte - Bindung des Sicherheitsrat
- der Entscheidungen des IGH 113ff. SR
an
die
siehe
- Menschenrechtsverletzungen als Friedensbedrohung 252f.
der Entscheidungen des SR siehe Inzidente Kontrolle im streitigen Verfahren Rechtsstaat, internationaler 144ff., 290
Militärische Zwangsmaßnahmen 45ff.
Rechtsvergleichung öffentliches Recht
Minderheitsschulenfall 107
Regelungsbefugnis des SR
Monetary Gold 11 2
- Auslieferungsersuchen 260ff.
Montreal-Konvention 2If., 83
- Grenzregelung 265
MUnchener Abkommen 222, 269
- Reichweite 254ff.
siehe
Nationales
320
Sachregister
- Schadensersatzforderungen 264
- Handlungsformen 30ff.
- SR-Res. 687 (1991) 49, 171, 255, 263ff.
- Hauptverantwortung rur den Frieden 98ff.
- Vorläufige Maßnahmen ChVN) 43ff., 257f.
- Lähmung während des kalten Kriegs 19
(Art.
40
- Legitimation 148ff.
Regionale Abmachungen 42
- Menschenrechte, Bindung an die 281 ff.
res iudicata siehe Rechtskraft
- Regelungsbefugnis siehe Regelungsbefugnis des SR
Rio-Vertrag siehe OAS Ruanda 48, 178f. Rüstung als Friedensbedrohung 248ff. Sanktionen, nichtmilitärische maßnahmen als 219ff.
Zwangs-
Selbstbestimmungsrecht der Völker 250, 271f. Selbstverteidigungsrecht 25, 223f., 268 Sicherheitsrat - allgemeine Entscheidungsbefugnis aus Art. 24 ChVN 37ff. - als autoritativer Interpret der Charta 143ff. - Befugnisse außerhalb des Kapitels VII 42ff.
- und Auslegung der Charta siehe Auslegung - und Generalversammlung 31 f. - und IGH siehe Internationaler Gerichtshof - Unvertretbarkeit der Entscheidungen 204f. - Verfahren 153f., 203f. - Vetorecht der ständigen Mitglieder 205,286f. Somalia 48, 173f., 231 Souveräne Gleichheit, Grundsatz der 210, 272 Spanische Frage 180,253 Subsidiaritätsprinzip 212f.
- Befugnisse nach Kapitel VII 42ff.
Südafrika 169f., 248, 251
- Beschlüsse des siehe Beschluß des SR
Südrhodesien 46, 167f., 251, 284f.
- Beurteilungsspielräume des SR siehe Beurteilungsspielraum - Bindung an das allgemeine Völkerrecht 219ff., 267ff. - Bindung an das zwingende Völkerrecht 272ff.
Tatsachenfeststellungen lungsspielraum
siehe
Beurtei-
Teheran-FaIl90, 103, 181,250 Terrorismus, internationaler 249, 260ff.
- Bindung an die Charta 120ff. - Bindung an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen siehe Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen - Ermessen des SR siehe Ermessen - Feststellungsbefugnis (Art. 39 ChVN) 140, 164ff.
Umweltzerstörung und SR 253 Unbestimmter Rechtsbegriff siehe Ermessen, Begriff und Systematik Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Bindung des SR an den 275ff.
Sachregister
321
Vennutung der Gültigkeit siehe Beschluß des SR
- gegen das ehemalige Jugoslawien 24ff., 268f.
Verpflichtungen erga omnes 217
Weltbankgruppe, Organisationen der 61
Völkerbund 136ff., 207, 281f.
Welthandelsorganisation 59
Völkennord - als Friedensbedrohung 251 f. - Verbot des V ölkennords als Schranke der Adressatenauswahl24f., 272f. Vorläufige Maßnahmen (Art. 40 ChVN) siehe Regelungsbefugnis des SR Vorläufiger Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen siehe 1nzidente Kontrolle im streitigen Verfahren Waffenembargo - Voraussetzungen 231
21 Martcnczuk
Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen - als Grenze der Feststellungsbefugnis (Art. 39 ChVN) 207ff. - als Grenze 271ff.
des
Auswahlennessens
- Bindung des SR 154ff. Zwingendes Völkerrecht 25, 217, 272ff.