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German Pages [256] Year 2016
Roland Girtler
Streifzug durch den
Wiener Wurstelprater Die bunte Welt der Schausteller und Wirte
2016 BÖHLAU VERLAG · WIEN · KÖLN · WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildungen: Vorderseite – Postkarte: Wien, II. K.k. Prater m. Riesenrad, um 1900, Privatbesitz Milan Brantusa Rückseite – Postkarte: 1. Wiener Hochschaubahn Prater, Privatbesitz Milan Brantusa
© 2016 by Böhlau Verlag GesmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Philipp Rissel, Wien Einbandgestaltung: hawemannundmosch, Berlin Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20280-6
Meiner gütigen Frau Birgitt gewidmet, die mich meine Wege gehen ließ
Inhalt Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher . . . . . . . . . . . . . . 13 1766 – Der Prater wird für das Volk geöffnet 13; Die Idee des Streifzuges – eine Radtour durch den Wurstelprater 15; Als Firmling im Prater, später mit der Freundin bei den Flipperspielen 18; Vorgehen (Methode) – Dank für Hilfe und Unterstützung 19; Die Pratergesellschaft und der „Flug über und durch Wien“ 21
1. Station: Kaffee Urania und die Praterfamilien . . . . . . . . . . 25 Die Kindheit der Sittler-Buben im Prater 29; Der Rumpfmensch Kobelkoff – der Urgroßvater von Nikolaj Pasara, die Familien Schaaf und Sittler 30; Alexander Schaaf und Liliom, der Rekommandeur (Hutschenschleuderer) 34; Praterfreundschaften – der Reiz des Boxens 35; Die Traueranzeigen des Herrn Horky 38
2. Station: Praterstern und Praterstraße . . . . . . . . . . . . . . . 41 Das Vorfeld des Wurstelpraters – geniale Theaterleute und Musiker 41
3. Station: Am Beginn der Hauptallee . . . . . . . . . . . . . . . 47 Das kaiserliche Jagdrevier und die Kundmachung Josephs II. am 7. April 1766 – der Prater im 19. Jahrhundert 47; Das Verbot Rudolfs II., den Prater zu betreten – Hans Bengel 49; Kaiser Joseph II. öffnet den Prater dem Volk 50; Es gibt nur einen Prater – Wettläufer im Prater 53; Revolution und Weltausstellung 57
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Inhalt
4. Station: Planetarium und Pratermuseum . . . . . . . . . . . . 59 Der lange Schwanz des Bären 59; Das Pratermuseum und die Fortuna, die Göttin des Glücks 61
5. Station: Riesenrad und Calafati . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Der Eingang zum Prater 65; Die Statue des Basilio Calafati 67; Das Riesenrad – die Idee des Gabor Steiner, des Vaters von Max Steiner 68; Der Brand des Praters und des Riesenrades im letzten Krieg 71
6. Station: Am Kratky-Baschik-Weg – die Familien Sittler und Koidl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Die Wildalpenbahn und der Praterunternehmer Alfred Kern 77; Der Großvater war Zuckerbäcker, der ein Ringelspiel übernahm 78; Pioniere des Kinos 79; Das Autodrom und die „Fliegen“ 80; Alfred Kern und die alten Schausteller 82; Die Firmungen – der Stephansdom und der Prater 83
7. Station: Die Schießbude des Nikolaj Pasara – Mannbarkeitsrituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 8. Station: Lachkabinett und Watschenmann . . . . . . . . . . . . 89 Josef Hader taucht auf 89
9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne . . . . . . . . . . . . 93 Der Trick mit der Zielrinne 97; Der Prater-Heinzi als Fahnenträger 102
10. Station: Die Liliputbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Das Sängerfest – die Schaubahn als Vorläufer 106; Plan der Liliputbahn 106; Die Fahrt mit der Liliputbahn 109
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Inhalt
11. Station: Die Grottenbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Frau Milans stammt aus altem Prateradel 111; Die Rettung der Grottenbahn 114
12. Station: Die Geisterbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 13. Station: Das große Autodrom – das Leben der Schausteller . . . 123 14. Station: Der Toboggan und der Kunstmaler . . . . . . . . . . 129 Der Rat der Baupolizei 129; Die „Schlumpf City“ der Kinder 132
15. Station: Die Hochschaubahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Der Bremser und die erste Reihe 135; Hubert Pichlers Freude am Prater 136
16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht . . 139 Die große Tierliebe der verstorbenen Frau Maria Reinprecht 139; Anton Reinprecht: Pferdekutscher und Gründer einer Praterdynastie 140; Ing. Franz Reinprecht – Pferdefreund und Mechaniker – der Prater brennt 141; Aufbau des neuen Karussells 142; Die Notenblattorgel 143; Die Autobahn aus Beton 144; Pferde-Reitbahn und Koppel 145; Selbst gezüchtete Pferde – Respekt vor den Pferden 146; Die Liebe zum Pony-Karussell 147; Die Zukunft des Wiener Praters – die Einmaligkeit der Fahrgeschäfte 148; Der Stolz auf die Stammgäste 148
17. Station: Die Wiener Rutsche – Frau Liselotte Lang, geb. Schaaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die etwas komplizierte Geschichte der aus Leipzig stammenden Schaafs im Wiener Prater 155; Die Erinnerungen von Frau Lang an die Zeit vor dem Krieg – früher ging man in den Prater tanzen 158; Die Vergnügungsbetriebe für die ganze Familie, die Firmlinge 159; Frau Lang blickt in die Zukunft 9
Inhalt
160; Die Betroffenheiten der Frau Lang und der ewige Reiz des Wurstelpraters 160
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Hut ab vor dem Mann aus Tirol! 163; Dachdecker und Bergsteiger 165; Die Türme im Stift Kremsmünster 170; Die harte Arbeit des Dachdeckers 172; Meister im Geometrischen Zeichnen 174; Das Erlebnis auf einem Festplatz in Kanada 174; Die erste Maschine – das Problem mit der Donauinsel 177; Der Platz im Prater und das Riesenringelspiel 179; Das Geschäft mit den Vergnügungsmaschinen – die Mitarbeiter 181; Auf Pachtgründen des Praters 183; „Seien Sie froh, dass Sie von keiner Universität verpatzt wurden!“ 183; Die Faszination des Praters 185; Wien, die schönste der Stadt der Welt 188
19. Station: Die Schwarze Mamba des Tirolers . . . . . . . . . . . 191 20. Station: Das Schweizerhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Lydia Kolariks Erinnerungen an ihre Kindheit im Prater 197; Walter Zeman, der Panther von Glasgow im Schweizerhaus 200; Verwegene Fußballfans im Schweizerhaus 202; Stammgäste und Kriminalbeamte 203; Die Kolariks und ihre Geschichte 204; 1945: Die Hauptkampflinie geht durch das Schweizerhaus – die Fahrt nach Wien 207; Die zwei Fremdsprachen: Wienerisch und Tschechisch 208; Ventilator, Stelzen und Bäume – das Schweizerhaus 210; „Salzstangerl, Brezerl“ – das kommunistische Jugendlager 212; Schankbursch, auf der Handelsakademie 213; Abenteuerliche Matura 214; Bundesheer und Studium 214; Tüchtige Frau und tüchtige Kinder 217; Der Getränkehandel – das Budweiser Bier 217; Das Geheimnis des Bieres im Schweizerhaus 219; Die Gastfreundlichkeit des Wirtes 220; Der Zauber des Gastgartens 222 10
Inhalt
Zwischenstation: Seelische Betreuung der Praterleute – die beiden Praterpfarrer 225 21. Station: Maria Grün – Madonna auf dem Praterbankl . . . . . 229 22. Station: In den Büschen – Erinnerungen an Landstreicher, Fassldibbler und Strizzis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Der Armenarzt Dr. Schrank und die Damen des leichten Gewerbes 235; Mit der Polizei unterwegs 237
23. Station: Wieder in der Hauptallee – in der Meierei: Silvia Lang, die Vizepräsidentin des Praters, und die Familie Holzdorfer . . . . 241 Das Fürst-Theater und die alten Kinos 242; Die Republik Kugelmugel 245; Die Feste im Prater 247; Das Wurstel- oder Kasperltheater 248; Praterlieder – das Ende des Streifzuges 250
Literatur (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
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Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher 1766 – Der Prater wird für das Volk geöffnet „Niemandem soll es verwehrt sein, daselbst zu gehen, zu reiten, Kegel zu schieben und sich sonstwie zu unterhalten.“1
In der Bibliothek meines Urgroßvaters befand sich ein Buch von Carl Julius Weber, eines durch Deutschland und Österreich reisenden Deutschen, aus dem Jahre 1849. In diesem beschreibt er sehr genau seine Erlebnisse in Wien. Dabei vergleicht er Wien und Paris, er kommt zu dem Schluss: „Zwei bis drei Monate lange ziehe ich Paris vor, aber als ständigen Aufenthalt Wien!“ Der Prater dürfte es diesem Reisenden besonders angetan haben, denn er bringt ein Gedicht, das wahrscheinlich von ihm stammt, in dem der Prater neben dem Glacis, der Fläche vor der Stadtmauer, die es heute nicht mehr gibt, hervorgehoben wird. Es heißt in diesem Gedicht: „Paris ist eine schöne Stadt und gegen Wien viel größer. Doch mir gefällt halt in der Tat mein liebes Wien viel besser! ... Paris, laut wie Theater, hat kein Glacis und keinen Prater!“
Tatsächlich ist es der Prater, der Wien einen besonderen Charme verleiht. 13
Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher
Der Prater war in früheren Zeiten im Eigentum des in Wien residierenden römisch-deutschen Kaisers. Das Wort Prater leitet sich vom lateinischen Wort „pratum“ für Wiese ab. Dem „gewöhnlichen“ Volk war das Betreten des Praters jedoch verboten, denn der Kaiser und der hohe Adel wollten hier vor allem bei der Jagd ungestört sein. Am 7.4.1766 erließ Kaiser Joseph II. eine Kundmachung, in der er den Prater für das „Volk“ als geöffnet erklärt. In diesem Dokument ist auch von Vergnügungen wie dem „Ballenschlagen“ (vielleicht eine Frühform des Fußball) die Rede, wie später zu erzählen sein wird. Am Rande des Praters errichteten nun Kaffeesieder und Wirte ihre Lokale. Belustigungen lockten die Wiener an und Kinder erfreuten sich an den Puppenspielen, deren Hauptfigur der lustige Hanswurst war, von dem sich die Bezeichnung „Wurstelprater“ für diesen Teil des Praters ableitet.
Abb. 1: Belustigungen lockten schon sehr frühe die Wiener in den Prater und Kinder erfreuten sich am Kaspar, auch Hanswurst genannt.
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Die Idee des Streifzuges – eine Radtour durch den Wurstelprater
Der Adel war verärgert, dass nun auch das „gewöhnliche Volk“ sich im Prater, in dem früher nur Aristokraten spazierten, aufhalten durfte. Man beschwerte sich beim Kaiser und meinte, man wäre nicht mehr unter sich und der Kaiser selbst würde nun mit dem Volk in Berührung kommen. Dies wäre doch unmöglich. Der Kaiser antwortete bloß, er fände darin keinen Übelstand. Das „Volk“, das im Prater Unterhaltung suchte, hatte also die Sympathie von Kaiser Joseph II.
Die Idee des Streifzuges – eine Radtour durch den Wurstelprater Das vorliegende Buch ist ein großer Streifzug, auf den ich mich auch tatsächlich mit dem Fahrrad immer wieder begeben habe, und zwar ein Streifzug durch den Wiener Wurstelprater – und nicht durch den gesamten Prater, der sich bis hin zu den Praterauen und zur Freudenau an der Donau erstreckt. Im Wurstelprater gibt es, wie es heißt, über 250 Attraktionen, von denen freilich nur ein paar typische hier genauer vorgestellt werden können. Aber dennoch will ich versuchen, mit diesem Buch einen spannenden Einblick in das vergangene und das jetzige Leben des Wurstelpraters zu geben. Nach dem Muster eines Streifzuges, den ich als Radfahrer unternehme, ist dieses Buch aufgebaut. Ich beginne meine Tour im Kaffee Urania. Ich radle dann zum Beginn der Hauptallee, weiter geht es zum Riesenrad und anderen Stätten des Praters. Dazwischen mache ich jeweils bei einer Station halt, um dazu aus der Geschichte und dem heutigen Alltag des Praters etwas zu erzählen. Allerdings kann ich nicht jedes Fahrgeschäft und nicht jede Gaststätte beschreiben, sondern nur einige. Ein literarisch großartiges Büchlein über den Wurstelprater stammt von dem Wiener Schriftsteller Felix Salten (1869–1945). Berühmt ge15
Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher
worden ist Felix Salten, er hieß eigentlich Siegmund Salzmann, durch sein Buch „Bambi“, aber wohl auch durch den von ihm anonym verfassten Roman „Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“, die als ein Meisterstück erotischer Literatur gesehen wird. In seinem 1911 erschienen „Wurstelprater“ gelingt es Salten, Stimmung für den Prater zu erwecken. Er schreibt: „Unaufhörlich wimmelt es von Menschen ... Dienstmädchen schieben ihre Kinderwägen ..., die Müßiggänger schlendern, die Dirnen eilen, im langen Zug wandert der kleine Mann mit Weib und Kegel, stampft der Student, zwischendurch schlüpfen die kleinen Buben, welche die Schule schwänzen, um zu den Buden zu laufen.“ Der Wiener Prater, der aus dem Wurstelprater und den Praterauen samt der Hauptallee besteht, hat seinen Zauber. Ich radle regelmäßig dorthin und erhole mich im Schatten der alten Kastanienbäume, auf deren gesunden Bestand Gärtner sorgsam achten. Der Prater ist etwas Einmaliges in seiner ganzen Buntheit. Große Freude am Prater hatte auch der oberösterreichische Dichter Adalbert Stifter (1805–1868), der von „unserem“ Prater schreibt: „Wenige Hauptstädte in der Welt dürften so ein Ding aufzuweisen haben, wie wir unseren Prater. Ist es ein Park? Nein. Ein Wald? Nein. Eine Lustanstalt? Nein. – Was denn? Alles dies zusammengenommen.“ Der Wiener Prater vereint danach also Park, Wald und Lustanstalt. Der Wurstelprater ist also im Sinne Stifters eine „Lustanstalt“, die bereits 1825 als Volksprater bezeichnet wird. Der Wurstel- oder Volksprater gehört zum nordwestlichen Teil des Praters im Nahgebiet des Pratersterns. Er liegt im 2. Bezirk Wiens, in der Leopoldstadt. Der Name „Wurstel“ geht auf den „Hanswurst“ zurück, einer bäuer lich-derben Figur, die bereits im 16. Jahrhundert auf den Bühnen auftaucht. Der heitere Wiener Hanswurst ist eine Erfindung von Josef Anton Stranitzky (1676–1726), eines Mannes, der sowohl Schauspieler und 16
Die Idee des Streifzuges – eine Radtour durch den Wurstelprater
Abb. 2: Vom Hanswurst, einer Erfindung von Josef Stranitzky, hat der Wurstel prater seinen Namen. 17
Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher
Theaterleiter als auch Zahnarzt war. Die damaligen Zahnärzte allerdings waren wilde Leute. Stranitzky war jedoch vor allem Schauspieler und Puppenspieler. In beiderlei Form trat auch der Hanswurst auf – als Mensch und auch als Puppe. Erst später wird die Heimat des Hanswurst das Puppen- oder Kasperltheater, wie es auch im Prater wieder seinen festen Platz hat, zur Freude der Kinder.
Als Firmling im Prater, später mit der Freundin bei den Flipperspielen Seit meiner Kindheit übt der Prater, speziell der Wurstelprater, eine ungeheure Faszination auf mich aus. Hier verbrachte ich mit meinem Bruder und meinen Freunden schöne Nachmittage, so auch den Nachmittag der Firmung. Es ist heute noch üblich, dass in Wien nach der Firmung, die oft im Stephansdom stattfindet, die Firmlinge mit ihrem Göd (Firmpaten), den Eltern und Verwandten den Prater aufsuchen, um sich zu vergnügen und ordentlich zu essen. Daran erinnert das Sprichwort: „Essen wie ein Firmling.“ Auch wir taten das, fuhren mit kleinen Autos und fürchteten uns in der Geisterbahn. Beliebt war der Prater für manche Schüler auch während der Woche, wenn sie es vorzogen, die Schulstunden lieber im Wurstelprater zu verbringen als in der Schule. Durch die Jahrzehnte hindurch hat der Wurstelprater seinen Charme bewahrt. In den letzten Jahrzehnten ist er moderner geworden, hat aber seinen Zauber nicht verloren. Die Attraktionen wurden immer aufregender. Einige alte Einrichtungen sind leider verschwunden. Dazu gehört der berühmte Watschenmann, auf dessen breites ledernes Gesicht man gegen einen kleinen Geldbetrag eine kräftige Ohrfeige landen konnte, wobei die Kraft des Hiebes angezeigt wurde. Meine Mutter liebte diesen Watschenmann. Die alten mechanischen Flipperautoma18
Vorgehen (Methode) – Dank für Hilfe und Unterstützung
ten sind neuen elektrischen Geräten gewichen. Ich liebte die alten Flipperautomaten, zu denen ich regelmäßig als junger Bursche mit einer jungen Dame namens Birgitt pilgerte, um uns an dem Flipperspiel, bei dem die Kugeln noch mit menschlicher Kraft in das Spiel befördert wurden, zu ergötzen. Nachher gingen wir ins Schweizerhaus und labten uns am Budweiser Bier. Inzwischen sind wir längst verheiratet und bereits Urgroßeltern eines kleinen Arthurs, mit dem ich sicher bald den Prater aufsuchen werde. Später, als ich bereits an der Wiener Universität angestellt war, führte ich eine Studie über die Wiener Polizei durch. Ich durfte mit Erlaubnis des Leiters der Bundespolizei im österreichischen Innenministerium Ministerialrat Franz Weiskirchner am Dienst der Polizei monatelang teilnehmen, wobei ich mich auch auf den Wiener 2. Bezirk, zu dem der Prater gehört, konzentriert habe. Ich begleitete Polizisten bei ihrem Dienst, der sich auch auf die Prostitution im Prater bezog. Am Rande des Wurstelpraters griffen Polizisten in meiner Gegenwart regelmäßig Damen des „leichten Gewerbes“ (der Prostitution) auf, um sie zu „perlustrieren“.2
Vorgehen (Methode) – Dank für Hilfe und Unterstützung Meine folgenden Betrachtungen bauen auf Beobachtungen und Gesprächen im Wurstelprater auf, aber auch auf Literaturarbeit u. Ä. Zu meinem methodischen Vorgehen habe ich Näheres in meinen Büchern „Methoden der Feldforschung“ und „10 Gebote der Feldforschung“ geschrieben. (Das Wort Methode, es kommt aus dem Griechischen, heißt nichts anderes als der Weg zu einem Ziel.) Im Sommersemester 2015 hielt ich an der Universität Wien eine Übung zur „teilnehmenden Beobachtung“ ab. Ich schickte in dieser Lehrveranstaltung Studentinnen und Studenten in den Wiener Wur19
Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher
stelprater, um Beobachtungen zu machen und darüber eine kleine Studie zu verfassen. Einige meiner Studentinnen und Studenten waren von dieser Idee begeistert und schrieben spannende und interessante Arbeiten, aus denen ich einiges zitieren werde, freilich stets mit Nennung der Namen der tüchtig Forschenden, zu diesen zählen die Studentinnen Constanze Beeck, Katinka Dudás, Melanie Eberhart, Jara Lauchart und Isabella Leistentritt. Geholfen hat uns bei diesen Forschungsabenteuern Milan Brantusa vom Wiener Prater, er ist Besitzer der Altwiener Grottenbahn und einer schaurigen Geisterbahn. Ich hatte ihn einige Male in mein Seminar eingeladen, wo er uns viel über den Prater und die dort lebenden Menschen erzählte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an meinem Seminar durften in der Grotten- und der Geisterbahn meines Freundes Milan Brantusa gratis fahren. Milan Brantusa sei an dieser Stelle herzlich gedankt, ebenso wie Lydia Kolarik und ihrem Bruder Jan Karl Kolarik, den Besitzern des berühmten Schweizerhauses, die uns gerne Auskunft über die Buntheit der Besucher des Praters gaben. Mit meinen Studentinnen und Studenten verbrachte ich nette Stunden im Schweizerhaus bei mäßigem (!) Biergenuss. Besonders danke ich Stefan Sittler-Koidl, dem Präsidenten des Praterverbandes, seinem Bruder Thomas Sittler und ihrem Freund Nikolaj Pasara, aber auch all jenen Praterleuten, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen, wie z. B. der Prater-Heinzi. Auch Mag. Michael Prohaska von der Prater GmbH danke ich, denn er begegnete meiner Idee, über den Wurstelprater zu forschen, mit großem Wohlwollen. Zu danken ist auch Mag. Alexander Schatek, mit dem ich einen netten Nachmittag im Café Landtmann verbracht habe. Er liebt den Prater, deshalb kam er auf die Idee, eine Topothek anzulegen, in der eine Vielzahl von Ansichtskarten vom Leben im Prater seit über 100 Jahren gespeichert 20
Die Pratergesellschaft und der „Flug über und durch Wien“
sind. Im Internet sind die alten Fotos nach Begriff, Datum, Ort und Blickrichtung auffindbar. Schlussendlich möchte ich meinem Freund DDr. Franz Josef Mayr danken, dessen großartige Dissertation über den Wiener Prater an der Universität Wien ich betreuen durfte und der mich zu diesem Buch angeregt hat. Ohne seine Hinweise und Hilfe wäre dies Buch wohl nicht zustande gekommen.
Die Pratergesellschaft und der „Flug über und durch Wien“ Bevor ich mit meinem Streifzug beginne, radle ich in die Ausstellungsstraße, die an den Prater grenzt. Auf der Parzelle 7 des Praters steht das Bürogebäude, in dem sich die Wiener Prater GmbH befindet, die zuständig für Entwicklung und Marketing des Praters ist. Sie hat die Aufgabe, den Prater in seiner ganzen Buntheit der Öffentlichkeit zu präsentieren. Ich betrete im 2. Stock das Büro von Herrn Mag. Michael Prohaska, Geschäftsführer der Prater GmbH, er empfängt mich mit freundlichen Worten. Ich erfahre, dass die Prater GmbH gemeinsam mit den Praterunternehmern, die ihre Gründe von der Gemeinde Wien gepachtet haben, daran arbeitet, den Prater, der wie kein anderer Ort „Energie und Lebensfreude versprüht“, der Welt zu präsentieren. „Abenteuer, Tradition und Wiener Charme“ gehören zum Prater, dessen Angebote in trefflichen Worten von der „Prater Wien GmbH“ so beschrieben werden: „Gefüllt mit turbulenten Achterbahnen, grusligen Geisterbahnen und Attraktionen aller Art für Groß und Klein – kaum sonst wo auf der Welt findet sich ein ähnlicher Platz, der alle Sinne auf so mitreißende Art und Weise herausfordert. Egal, ob vergnügliche Stunden mit der Familie oder Essen mit Freunden und anschließender Tour durch die Adrenalin-Highlights. Hier vergehen die Stunden wie im Flug – Spaß haben und genießen – so lautet das Praterprinzip!“ 21
Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher
Darüber will ich nun mit Mag. Prohaska sprechen. Er bietet mir in seinem Büro, von dem aus man einen prächtigen Blick auf einen Teil des Praters genießen kann, einen Platz an. Die freundliche Frau Alice Harrer, eine Mitarbeiterin im Team der Prater GmbH, bringt mir Tee. Ich erzähle Magister Prohaska von meiner Absicht, einen kulturwissenschaftlich-literarischen Streifzug durch den Wurstelprater zu machen und darüber ein Buch zu schreiben. In unserem Gespräch kommen wir darauf zu sprechen, dass der Prater für Wien und seinen Tourismus von ungeheurer Bedeutung ist. In Liedern, wie „Im Prater blühn wieder die Rosen“ oder „So ein Ringelspiel“, und in Filmen, wie der „Dritte Mann“ mit Orson Wells oder „Das Riesenrad“ mit O. W. Fischer, wurde und wird der Prater für viele Menschen europa- und weltweit zum Ziel eines Wien-Besuches. Aufgabe von Magister Prohaska und seinen Mitarbeitern ist es, den Tourismus im Prater zu fördern. Dafür wird viel getan, mit großem Erfolg. Magister Prohaska kam schließlich auch auf die Idee, eine Marke oder ein Symbol für den Prater zu schaffen, um der bunten Welt des Praters gerecht zu werden. Bis jetzt gab es so etwas nicht. Der Magister zeigt mir dieses Symbol für den Prater: Auf rotem Grund sind die Umrisse der wichtigsten Fahrgeschäfte, wie die des Riesenrades und der Liliputbahn, in weißer Farbe zu sehen. Es hat sich in den letzten Jahren viel getan im Prater. Früher ging es dort wild zu. Ich erinnere mich an Raufereien im Prater, in eine war ich vor ca. 30 Jahren selbst verwickelt. Ich wollte einem jungen Mann, der aus einem Lokal vor zwei Männern floh, helfen, mit dem Erfolg, dass die beiden von ihrem Opfer abließen und sich auf mich stürzten. Hätten sich nicht meine Frau und eine uns befreundete Dame zwischen mich und meine Verfolger gestellt, wäre diese Geschichte für mich nicht so glimpflich ausgegangen. Da aber die Spielhallen aus dem Prater aus juristischen Gründen verschwunden sind und Sicherheitsleute sich heute darum sorgen, dass die Besucher nicht belästigt oder angepöbelt 22
Die Pratergesellschaft und der „Flug über und durch Wien“
werden, ist Ruhe im Wurstelprater eingekehrt. Dazu kommt noch, dass Prostituierte aus dessen Umkreis verbannt wurden. Der Prater ist also nicht nur sicherer, er ist auch familienfreundlicher geworden. Wir kommen auf den Eingangsbereich des Praters beim Riesenrad zu sprechen, der von manchen kritisiert wird, denn er sehe wie eine Kulisse aus. Magister Prohaska meint, dass gerade dies dem Farbenreichtum und dem Charakter des Praters entspricht. Schließlich soll dieser Eingangsbereich zum Prater die Besucher auf eine Art Märchenwelt vorbereiten. Im Anschluss an unser Gespräch unternehme ich mit Magister Prohaska einen kleinen Rundgang durch den Prater. Er zeigt mir zunächst eine „Gstettn“, auf der demnächst ein Casino entstehen wird, in welches die hier sich befindende Spielhalle intergriert werden soll. Wir gehen zum Riesenradplatz. Unmittelbar neben dem Figuren kabinett der Madame Tussaud befindet sich ein interessantes Prateretablissement. In diesem lädt mich Herr Prohaska zu zwei abenteuerlichen Fahrten in eine imaginäre Welt ein, eine neue Attraktion im Prater. Wir begeben uns in einen dunklen Raum und halten uns an einem Geländer fest, wie verlangt wird. Dann geht es los, man fühlt sich als Motorradfahrer, der tollkühn auf der chinesischen Mauer bergauf und bergab fährt. Wir wechseln den Raum. In dem anderen Raum erleben wir einen wahrlich atemberaubenden Flug über Wien. Wir befinden uns im Flyboard der „Vienna Airlines“ und zwar in einem Doppeldecker aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Der Doppeldecker startet in den Wiener Kanälen, er fliegt halsbrecherisch durch die Innenstadt und dann steigt er in den blauen Himmel, im Sturzflug geht es hinab knapp über Schönbrunn hinweg usw. Ich glaube, in rasantem Tempo zu fliegen. Ich erlebe die Wienerstadt im Flug, zum Teil im Sturzflug und bin froh, 23
Ein paar Gedanken vorweg – mein Zugang zum Prater als Feldforscher
einigermaßen heil diesen spannenden Flug überstanden zu haben. Ich bedanke mich herzlich bei Magister Prohaska für dieses berauschende Erlebnis, das man im Prater genießen kann. Wir gehen noch gemeinsam zurück zum Büro und ich verabschiede mich herzlich. Ich nehme noch die Gelegenheit wahr, mit Herrn Harald Stangl, einem Mitarbeiter von Mag. Prohaska, er ist Betriebsleiter und Verwalter des Praters, zu sprechen. Vom Fenster seines Büros fällt der Blick auf das Riesenrad. An der Wand hängt ein Plakat aus der Vorkriegszeit, man nimmt wahr, dass das Riesenrad doppelt so viele Kabinen hatte wie heute. Herr Stangl hat einen interessanten Urgroßvater, er war Italiener und hieß mit dem Familiennamen Cassantello. Er war nach Wien gekommen, um als Monteur bei der Errichtung des Riesenrades Geld zu verdienen. Dabei lernte er die Urgroßmutter Stangls, sie war Marktfrau, kennen und bald kündigte sich Nachwuchs an. Dann allerdings verließ Herr Cassantello Wien. Was aus ihm geworden ist, kann Herr Stangl nicht sagen, er ist aber durch seine Herkunft eng mit dem Prater verbunden. Zu seinen Aufgaben zählt, mit den Praterunternehmern daran zu arbeiten, dass die Fahrgeschäfte des Praters ihre Attraktivität behalten. Aber auch der öffentliche Bereich, zu dem die Gassen des Praters gehören, obliegt ihm. So ist es dem Herrn Stangl zu verdanken, dass es einen Gabor-Steiner-Weg gibt, benannt nach dem „Vater“ des Riesenrades. Ich bedanke mich herzlich, grüße und wandere zu meinem Fahrrad. Ich verlasse den gastlichen Ort und begebe mich auf den Weg zur 1. Station meines „Streifzuges“.
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1. Station: Kaffee Urania und die Praterfamilien Als die 1. Station meines Streifzuges habe ich das Kaffee Urania im 3. Bezirk ausersehen, hierher hat mich Stefan Sittler-Koidl, Präsident des Wiener Praterverbandes, also des Verbandes der Wiener Praterunternehmer, gebeten. Zu seinen Praterunternehmen gehört u. a. das bekannte romantische Blumenrad. Ich bin voll der Erwartung, denn er wird mir über das Leben im Wiener Prater erzählen, er wird seinen Bruder Thomas und Herrn Nikolaj Pasara, der ebenso im Vorstand des Praterverbandes sitzt, mitnehmen. Mit meinem Fahrrad fahre ich zum Kaffee Urania in der Radetzkystraße unweit des Donaukanals und der Franzensbrücke, die in den 2. Bezirk, also hinüber zum Prater führt. Dieses Kaffee Urania ist nicht mit dem modernen Café Urania zu verwechseln, das sich direkt in der Urania an der Aspernbrücke befindet. Das Kaffee Urania hier im dritten Bezirk ist in einem alten Haus an der Ecke von Radetzkystraße und Oberer Weißgerberstraße untergebracht. An einem Geländer vor diesem Eckhaus mache ich mein Fahrrad fest. Der gelblich leuchtende Schriftzug „Kaffee Urania“, der an die Reklameschilder der 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert, lädt zum Betreten ein. Hier starte ich also meinen Prater-Streifzug. Ich betrete das Kaffeehaus, das, wie Kenner meinen, zu den genialsten Orten im 3. Bezirk gehört. Ich sehe Stefan Sittler-Koidl, der mit drei Herren am Tisch sitzt. Der eine ist Thomas Sittler, der Bruder von Stefan Sittler-Koidl und ebenso Unternehmer, der andere Herr ist Nikolaj Pasara, Diplompädagoge, er war Hauptschullehrer und ist Besitzer einer Schießbude beim Blumenrad. Der vierte Herr, der einen gezückten Fotoapparat bei sich trägt, ist Dr. Hans Werfring, Historiker, Fotograf und Kolumnist, der schon einiges 25
1. Station: Kaffee Urania und die Praterfamilien
geschrieben hat, auch über dieses Kaffeehaus. Wir begrüßen einander herzlich. Zu ihnen gesellt sich der Wirt des Kaffeehauses, der seit Jahren Fotos, Ansichtskarten, Todesanzeigen und Ähnliches aus dem Prater sammelt. Im Folgenden will ich das Kaffeehaus, das mit der Geschichte des Praters verbunden ist, schildern, aber auch das Gespräch mit den Herrn, das ich aufgenommen und abgeschrieben habe, einigermaßen wahrheitsgetreu wiedergeben, um so den Lesern ein buntes Bild vom Leben der Praterunternehmer zu geben. Ich fühle mich hier im Kaffee Urania zurückversetzt in die Zeit vor über 60 Jahren. Rot gepolsterte Stühle, Tische mit marmorähnlichen Platten und eine Wurlitzerorgel, also ein klassischer Musikautomat, erfreuen die Besucher. Der Besitzer dieses Kaffees ist der 1943 geborene Hubert Horky. Er hat das Kaffeehaus von seiner Mutter übernommen, die es seit 1936 besessen hatte. Aber schon in der Monarchie wurde hier ein Kaffeehaus betrieben. Als Gertrude Horky 1936 das Kaffeehaus übernahm, schaffte sie dafür neues Mobiliar aus Kunstleder an. Seit damals dürfte sich hier im Kaffeehaus nicht viel verändert haben, außer vielleicht der Name, denn vor dem Krieg hieß das Kaffee Urania noch „Café Urania“. Nach dem Zweiten Weltkrieg besetzten russische Soldaten das Kaffeehaus. Angeblich sind damals sogar Pferde mit hereingenommen worden. Im Nebenraum, in dem ein Billardtisch steht, ist eine lange Sitzbank mit Tischen zu sehen. Besonders begeistern bereits im Eingangsbereich dieses abenteuer lichen Kaffeehauses die vergrößerten Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden. Es sind vor allem die Bilder, die sich auf den Prater und dessen Geschichte beziehen, die interessant sind. Wenn einer über den Prater etwas wissen will, so ist ihm zu raten, hierher zu kommen und mit Herrn Horky, falls dieser Zeit hat, gemeinsam die Bilder an den Wänden, die voll von Geschichten sind, anzuschauen. Daneben besitzt Herr Horky mindestens 2000 Fotos, die er in Alben geordnet hat. Er 26
Die Pratergesellschaft und der „Flug über und durch Wien“
ist ein eigenwilliger Herr, der Herr Horky, der angeblich das Kaffeehaus nur aufsperrt, wenn er es selbst will. Tatsächlich öffnet er es von Montag bis Samstag ab ca. 20.15 Uhr. Der Schmäh des Herrn Horky gefällt den Besuchern. Er kann, wenn er will, die Leute glänzend mit seinem mitunter trockenen Humor unterhalten. Ich begrüße Herrn Horky, der sich an unseren Tisch setzt, freundlich. Auch der Hund von Herrn Horky, es ist eine Hundedame mit dem Namen Lady, wird von mir höflich begrüßt. Herr Horky zeigt mir ein Buch über den Prater von Helmut Qualtinger, einem Wiener Original. Er dürfte Qualtinger persönlich gekannt haben. Herr Horky erzählt über seine Beziehung zum Prater: „Seit meinem 12. Lebensjahr gehe ich fast jeden Tag in den Prater, heute gehe ich mit meinem Hund. Ich kenne alle Praterunternehmer und alle kennen mich. Habe auch meinen Ärger mit manchem gehabt. Ich habe zum Beispiel der Frau XY, einer großen Praterunternehmerin, 80 Fotos gebracht. Dann hat sie so getan, als ob ich ihr etwas gestohlen hätte. Die Fotos habe ich nicht mehr zurückbekommen! So kann es einem gehen!“ Thomas Sittler fügt hinzu: „Wir beide haben aber immer gut zusammengearbeitet. Wir sind interessiert an den alten Fotos. Wenn ich alte Fotos von unserer Familie gefunden habe, so habe ich sie dem Herrn Horky zur Verfügung gestellt!“ Horky erzählt weiter: „Die Händler auf dem Flohmarkt zeigen zuerst mir ihre Praterkarten, die sie neu hereinbekommen haben, dann verkaufen sie sie an andere. Die Händler warten auf mich. Da oben hängt ein Bild vom Jahre 1860, es ist das Knusperhäuschen. Viele Leute waren so einfältig und haben mich gefragt, ob ich das fotografiert habe. Interessant an dem Bild ist, dass auf diesem ein Plumpsklo zu sehen ist, das es bis nach dem Krieg gegeben hat.“ Horkys Bilder geben einen Einblick in die Kulturgeschichte des Praters. Ich frage Stefan Sittler, er ist 35 Jahre alt, nach seinen Praterunternehmen, von denen ich einiges gehört habe. Stefan Sittler, der mit Karin Koidl verheiratet ist, zählt 27
1. Station: Kaffee Urania und die Praterfamilien
auf: „Wir haben u. a. den Eisberg – die interaktive Grottenbahn –, das Blumenrad, Breakdance, das ist die schräge Platte mit den 16 Wagerln drauf, die Achterbahn Volare, bei der man auf dem Bauch liegend auf den Schienen fliegt.“ Auf meine Frage, wie die Praterunternehmer zu ihren neuesten Attraktionen kommen, meint Thomas Sittler: „Da ist eine ganze Industrie dahinter. Während des Winters sind die Messen.“ Ich erwähne, dass es mir Freude macht, über den Prater in all seiner Buntheit zu schreiben und dass ich in meinen „Geschichterln“ ganz allgemein die Leute respektvoll behandle. Sie sollen an dem, was ich schreibe, Freude haben. Stefan Sittler lacht und meint, er habe Gottvertrauen, dass ich ihm nichts Böses will. Cafetier Horky zeigt auf ein Bild und meint, dieses habe ihm ein früherer Trafikant im Prater, der nach Amerika ausgewandert ist, gebracht. Er sei extra deswegen aus den USA hierher in sein Kaffeehaus gekommen. Herr Horky ist angetan von der Anhänglichkeit des nach den USA ausgewanderten Trafikanten, der sich weiterhin dem Prater verbunden fühlt. Herr Horky kommt auf das Riesenrad zu sprechen: „Das Riesenrad hat 1944 gebrannt, weil die Hochschaubahn gebrannt hat. Der letzte Besitzer des Riesenrades vor dem Krieg, Eduard Steiner, ist im KZ gestorben. Ein Rechtsanwalt hat die Erben des Besitzers in Tschechien gefunden, die damals von dort nicht ausreisen durften. Er hat ihnen gesagt, ihr habt ohnehin kein Geld. Ich gebe euch Geld, dafür gehört das Riesenrad mir. So ungefähr war das.“ Ich frage, wie man an Frau Dr. Lamac, die Mehrheitseigentümerin des Riesenrades, herankommen kann. Ich glaube, ich kenne sie, sie dürfte um 1973 eine Studentin von mir an der Wiener Universität gewesen sein. Ich erinnere mich, dass damals eine Studentin mir erzählte, sie würde die Hälfte des Riesenrades besitzen. Thomas weist auf ein Foto an der Wand, das einen würdigen Herrn zeigt und sagt: „Dieser Herr war unser Urgroßvater, Philipp Kolnhofer hat er geheißen, er war Obmann des Praters. Er gehörte zu den Leuten, 28
Die Kindheit der Sittler-Buben im Prater
die am Aufbau des Praters nach dem Krieg, nach 1945, mitgewirkt haben. Jetzt ist Stefan, sein Urenkel, Präsident des Praters.“ Ich füge hinzu, dass man auf so eine Funktion stolz sein könne, denn der Praterpräsident ist so etwas wie ein König, oder wie ein Kaiser in seinem Reich.
Die Kindheit der Sittler-Buben im Prater Stefan lächelt dazu und erzählt über seine Bindung an den Prater, dieser gehöre zu seinem Leben: „Wir, Thomas und ich, sind gemeinsam mit unserem Freund Nikolaj Pasara als Praterkinder im Prater aufgewachsen. Ich würde mir wünschen, dass meine Kinder auch so wie wir damals im Prater aufwachsen. Ich bin glücklich, im Prater zu leben. Wir sind hier immer auf Urlaub.“ Thomas ergänzt: „Als Praterkind hat man Dauerurlaub. Der Prater besteht aus einer Menge von Leuten, die glücklich sind, das tun zu dürfen, was sie tun wollen. Einmal Prater immer Prater. Horky ist mit 12 Jahren in den Prater gekommen, jetzt ist sein Kaffeehaus voll mit Bildern aus dem Prater. Auch er gehört zum Prater.“ Herr Horky verweist auf die Fotos an der Wand: „Zuerst hing hier nur ein Foto vom Prater, dann waren es vier und jetzt, wie man sieht, ist alles voll von Bildern. Ich bin ein Narr, habe mich als ein solcher immer weiter entwickelt. Hier in meinem Kaffeehaus haben sie Szenen für dreißig Filme gedreht, für Kriminalfilme zum Beispiel für ‚Soko Donau‘ oder ‚Kommissar Rex‘. Zu mir haben die Kameramänner und Regisseure gesagt: ‚Wir bitten Sie, ändern Sie hier im Kaffeehaus nichts. Dieses Kaffeehaus ist einmalig.‘ Auch für die Fernsehserie ‚Spuren des Bösen‘ haben sie hier gedreht, gleich zehn Mal. Wegen dieses Kaffeehauses sind Deutsche zu mir gekommen und haben sich gefreut, dass es so etwas in der Nähe des Praters gibt.“ Das Kaffeehaus bereitet also auf die Erlebniswelt Prater vor. Man ist stolz hier auf den Prater, vor allem Stefan Sittler-Koidl ist es: „Vor 29
1. Station: Kaffee Urania und die Praterfamilien
Kurzem war ich auf einem Zauberabend, weil mich auch diese Materie interessiert, im Café Zartl. Das Wort ‚simsalabim‘ stammt nämlich von einem Zauberer aus dem Prater. Ich habe an diesem Abend den Zauberkünstler Tony Rei kennengelernt, der mir gesagt hat, dass er Zauberlehrling dieses alten Praterzauberers war. Das finde ich spannend. Leider kann ich selbst nicht zaubern.“ Nun erzähle ich, dass ich, weil ich kein Musikinstrument spielen und nicht singen kann, mir beigebracht habe, mit vier Bällen zu jonglieren. Im weiten Sinn bin also auch ich ein Schausteller. Stefan und die anderen staunen. Stefan Sittler-Koidl verweist darauf, dass es beim Prater ein Zirkus- und Clownmuseum gibt. Ich kenne es, werde es wieder einmal aufsuchen. Als ich festhalte, dass es für Kinder von Praterleuten schön gewesen sein muss, im Prater aufzuwachsen, führt Stefan Sittler-Koidl spitzbübisch lächelnd aus: „Wir sind als Buben gerne am alten Kobelkoffplatz auf einem Kirschbaum gesessen und haben Kirschen gegessen, dabei haben wir die überreifen Kirschen, die nicht mehr gut schmeckten, dem M. auf die frisch verputzte Fassade geworfen. Er hat dann aus dem Fenster herausgerufen: „Was macht ihr Lausbuben da?“ Der Kobelkoffplatz ist nach Nikolai Kobelkoff benannt. Dieser Herr war um 1900 eine Sensation im Prater, er hatte nur Stümpfe anstelle der Hände und Füße. Er war trotz seiner Behinderung ein Kunstschütze. Diesen Platz gibt es leider nicht mehr.
Der Rumpfmensch Kobelkoff – der Urgroßvater von Nikolaj Pasara, die Familien Schaaf und Sittler Nikolaj Pasara, der links von mir sitzt, zeigt auf ein Bild an der Wand des Kaffeehauses, auf dem Herr Kobelkoff abgebildet ist. Nicht ohne Stolz meint mein Sitznachbar: „Dieser Kobelkoff war mein Ururgroßvater. Er hieß mit Vornamen Nikolai wie ich. Er kam aus Sibirien.“ 30
Die Kindheit der Sittler-Buben im Prater
Mich interessiert dieser Künstler, der schließlich im Prater seine Heimat gefunden hat. Nikolaï Kobelkoff wurde als Nikolai Wassiljewitsch Kobelkow am 22. Juli 1851 in Wossnesensk im Gouvernement Orenburg in Russland geboren. Kobelkoff kam als vierzehntes Kind einer Bauernfamilie zur Welt. Ihm fehlten sämtliche Gliedmaßen. Trotz der Stümpfe erlernte er Tätigkeiten wie Schreiben und Zeichnen, indem er das Schreibgerät zwischen Kinn und Armstumpf klemmte. Er arbeitete fleißig an sich und wurde ab 1870 schließlich zu einer Attraktion auf Jahrmärkten und Bühnen in Europa und in Amerika. In Wien lernte Kobelkoff Anna Wilfert, die Ururgroßmutter meines lieben Sitznachbarn, kennen. 1876 heiratete er sie. Diese Ehe war äußerst fruchtbar, elf Kinder bekamen die beiden, von denen fünf in jungen Jahren starben. Im Jahre 1900 entstand der Stummfilm „Kobelkoff“, der einen kurzen Ausschnitt aus dem Bühnenprogramm Kobelkoffs zeigt. Diese Filmaufnahme wird im Filmarchiv Austria aufbewahrt und ist im Internet abrufbar. Kobelkoff verdiente gut mit seinen Auftritten, dies ermöglichte ihm, 1913 im Wurstelprater seine Fahrgeschäfte „Toboggan“, das sich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Besitz von Kobelkoffs Familie befand, und die Menagerie Parisienne mit einem Schweine-Karussell zu kaufen. Kobelkoff war eine Berühmtheit in Wien und in der Wiener Gesellschaft gern gesehen. 1933 starb Kobelkoff im Kreise seiner Familie im Prater. Sein „ehrenhalber gewidmetes Grab“ befindet sich auf dem evangelischen Friedhof Simmering. Mein Sitznachbar studierte an der Pädagogischen Hochschule und arbeitete eine Zeit lang als Hauptschullehrer, bevor er wohl im Sinne seines Ururgroßvaters wieder in den Prater zurückkehrte und eine Schießbude übernahm. „Meinen Nachnamen Pasara erhielt ich von meinem Vater, er ist Dalmatiner.“ Thomas Sittler ergänzt: „Seine Mutter war die Besitzerin eines Schaustellerbetriebes. Sein Vater, der dort beschäftigt war, hat die Mutter aufgezwickt und geheiratet.“ Die Schau31
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steller des Praters haben etwas Aristokratisches an sich. Durch Heirat gehört man zur Pratergesellschaft und wird so zum Schausteller, oder man achtet darauf, innerhalb der Welt des Praters zu heiraten. So heiratete Stefan Sittler Karin Koidl, deren Vater das bekannte Blumenrad, ein Riesenrad im Kleinen, geschaffen hat, und eine Spielhalle besaß. Diese Verbindung von Sittler und Koidl schuf gewissermaßen ein Fürstentum im Kaiserreich des Praters. Auch Thomas Sittler, er ist 37 Jahre alt, freut sich über seine Bindung an den Prater: „Meine Freundin ist Victoria Schaaf, die aus einer bekannten Praterfamilie kommt. Mit ihr habe ich einen Sohn, wir haben noch nicht geheiratet. Der Sohn heißt Oscar Schaaf, wegen der Tradition.“ Der kleine Oscar gehört zu der ältesten Schaustellerfamilie im Prater, die auf August Schaaf zurückgeht. Dieser August Schaaf stammte aus Sachsen und zog mit kleinen Menagerien durch Mitteleuropa. 1866 gründete er im Prater seinen ersten Betrieb, in dem er Menschen, die sich von anderen wesentlich unterschieden, auftreten ließ. Dazu gehörten Zwerge und Riesen und andere Typen, wie eben der Rumpfmensch Nikolai Kobelkoff aus Sibirien, dessen Ururenkel neben mir im Kaffee Urania sitzt. August Schaafs Sohn Friedrich Carl war es, der die ersten Schaukelpferde in den Prater brachte sowie die erste Notenblattorgel, den ersten Cinematographen – den Vorläufer des Kinos –, die erste Rutschbahn und den „Velocipede circus“, in dem Radfahrer ihre Künste zeigten. Dessen Sohn wieder, es war dies Karl Schaaf, heiratete die Enkelin Nikolai Kobelkoffs und eröffnete 1911 das Aeroplankarussell. Als durch den Zweiten Weltkrieg die meisten Fahrgeschäfte des Praters niedergebrannt waren, nur fünf Hütten waren übrig geblieben, war es Ing. Karl Schaaf, der Geldgeber auftrieb und damit begann, den Prater mit aufzubauen. Der nächste in der Dynastie der Familie Schaaf war Dipl. Ing. Dr. Alexander Schaaf (1923–1996), also der Urgroßvater vom kleinen Oscar, dem Sohn von Thomas Sittler. Alexander Schaaf wurde im Prater geboren. Er wur32
Die Kindheit der Sittler-Buben im Prater
de Soldat in der Wehrmacht, geriet in Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 heimkehrte, und musste schließlich fünf Monate später den Betrieb seines plötzlich verstorbenen Vaters übernehmen. Er tat sich zusammen mit seinen Geschwistern und anderen Verwandten aus den Familien Kobelkoff und Wilfert, um Teile des Praters wieder aufzubauen. 65 von 200 Betrieben des Praters, ein kleines Prater-Imperium, wurden von Alexander Schaaf dirigiert, er avancierte somit zum informellen „Praterkönig“. Das hohe Ansehen, das Alexander Schaaf genoss, zeigte sich schließlich darin, dass am Tag seines Begräbnisses alle Betriebe der Familie geschlossen waren und schwarze Fahnen im Prater wehten. Dreizehn Enkel- und fünf Urenkelkinder hinterließ der „Prater könig“ Alexander Schaaf. Er war ein tüchtiger und umsichtiger Mann, den man gerne in Ausschüsse und diverse Körperschaften berief. Auch gründete er einige Institutionen, wie den Wiener Schaustellerverband und die Prater-Seelsorge, schließlich war er Vorsitzender des Sicherheitsausschusses für Vergnügungsbetriebe in Europa und Ehrenvizepräsident der europäischen Schaustellerunion, der ESU. Ebenso war er ein Funktionär der Wiener Handelskammer. Interessant ist, dass Alexander Schaaf auch Mitglied in der „Schlaraffia“ war, einer 1859 in Prag gegründeten deutschsprachigen und weltweiten Vereinigung zur Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor. Die Schlaraffia ist ein Männerbund, dessen Symbol für Weisheit und Humor der Uhu ist. In der Schlaraffia bedient man sich einer alten Sprache, als Gruß verwendet man das Wort „Lulu“, welches eine Abkürzung vom lateinischen Wort „ludum ludite“ („spielt das Spiel“) sein dürfte. Irgendwie passt die Schlaraffia zur außeralltäglichen Welt des Praters. Vielleicht war dies ein Grund, dass Alexander Schaaf diesem heiteren Männerbund, dem u. a. auch Gustav Mahler, Oscar Straus und Peter Wehle angehörten, beitrat. In der Schlaraffia trug Alexander Schaaf den Namen Liliom. Dies wohl nicht ohne Grund, denn Liliom hieß auch der Rekommandeur, also der Ausrufer, 33
1. Station: Kaffee Urania und die Praterfamilien
in dem berühmten Theaterstück „Liliom“ des ungarischen Dramatikers Ferenc Molnár. Für die deutsche Bühne wurde es von Alfred Polgar als „Vorstadtlegende in 7 Bildern und einem szenischen Prolog“ bearbeitet. Während in der ungarischen Originalfassung Liliom der Rekommandeur eines Karussells im Budapester Stadtwäldchen ist, ist er dies in der Fassung von Alfred Polgar im Wiener Prater. Liliom ist bei der Karussellbesitzerin Frau Muskat angestellt, deren Liebhaber er auch ist.
Alexander Schaaf und Liliom, der Rekommandeur (Hutschenschleuderer) Es ist bemerkenswert, dass Alexander Schaaf, der „Praterkönig“, in der „Schlaraffia“ sich den Namen Liliom zugelegt hat, nämlich den Namen eines Rekommandeurs (von französisch „recommander“, empfehlen), wie man heute noch speziell im Wiener Prater jene Leute nennt, die bei einem Fahrgeschäft, z. B. einem Karussell, mit heiteren Sprüchen die Vorbeigehenden auf dieses aufmerksam machen, um sie zu animieren, einzusteigen. Die Rekommandeure gehören zum Prater, sie sorgen für Unterhaltung, machen Späße mit den Fahrgästen und freuen sich, wenn diese gut gelaunt wieder ausstiegen. Die Rekommandeure, wie sie auch typisch für Jahrmärkte und Mengarien sind, gibt es im Prater heute noch. Die große Aufgabe des Rekommandeurs besteht zunächst darin, die Besucher des Praters durch heiteres Wortspiel dazu zu bringen, stehen zu bleiben und ihm zuzuhören. Ist ihm dies einmal gelungen, so besteht die Chance, dass einige der Zuhörer sich bewegen lassen, Karten oder Chips für die Geisterbahn, das Ringelspiel oder das Autodrom zu kaufen. Meist kümmern sich Rekommandeure auch um die Musik im Fahrgeschäft. Ein altes Wort für Rekommandeur ist Hutschenschleuderer, wie man ursprüngliche jene Leute bezeichnete, die die Hutschen, die Schaukeln, auf Jahrmärkten anschoben, damit sich diese in Bewegung setzten. 34
Praterfreundschaften – der Reiz des Boxens
Praterfreundschaften – der Reiz des Boxens Nikolaj Pasara, mein Sitznachbar im Kaffee Horky, erwähnt, er gehöre gleich zwei Praterfamilien an, die eine ist die Familie Wilfert, die auch im „Böhmischen Prater“ im 10. Bezirk Fahrgeschäfte besitzt, und die andere ist die Familie Kobelkoff. Thomas Sittler erinnert sich an die Zeit, als Nikolaj Pasara noch in die Schule ging: „Der Nikolaj ist mit uns Sittlers im Prater aufgewachsen. Er hat im Prater trotz des ganzen Trubels bei seiner Großmutter im Spiegelkabinett für die Schule gelernt. Obwohl er im Prater gelebt und gelernt hat, hat er es bis zum Hauptschullehrer gebracht.“ Nikolai erzählt dazu: „Die Lehrer in der Schule, im Gymnasium, haben gewusst, dass ich im Prater lebe. Sie haben mich immer unterstützt. Sie haben sich gedacht, ich bin ein armer Bub, weil ich im Prater in dem Lärm meine Aufgaben machen muss. Maturiert habe ich im Gymnasium in der Kleinen Sperlgasse.“ Stefan Sittler weist nicht ohne Stolz auf seine Karriere als Schüler hin: „Wir beide, mein Bruder und ich, waren nur in der Hauptschule in der Wittelsbachstraße, das war eine Praterschule, die viele Praterkinder besuchten. Wir sind also echte Wittelsbacher! Das war die erste Schule in Wien, in der Buben und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden. Wir sind im Prater aufgewachsen, neben dem Kinderautodrom, um die Ecke wohnte der Nikolaj Pasara. Wir haben früh schlafen gehen müssen. Um 10 Uhr am Abend haben uns die Eltern in das Bett geschickt. Neben uns war das Sturmboot. Wir sind mit den Schreien aus dem Sturmboot eingeschlafen. Ich habe das in der Volksschule meiner Lehrerin erzählt und gefragt, ob es nicht sein kann, dass man davon etwas dumm wird. Sie verneinte dies“. Nikolaj Pasara erzählt über seine Beziehung zu den beiden Sittler- Buben, seinen Jugendfreunden: „Der Kontakt zu ihnen wurde im Laufe der Zeit schwächer, als meine Familie in den 90er-Jahren alles verkauft 35
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hat. Ich hatte nur mehr meinen Onkel und meine Tante im Prater. Ich war nicht mehr aktiv im Prater. Daher wurde ich Hauptschullehrer. Ich habe Deutsch und Geschichte studiert. Unterrichtet habe ich aber auch Mathematik und Physik sowie Turnen und Deutsch. Als ich Thomas Sittler wieder einmal traf, fragte er mich: ‚Geht dir der Prater nicht ab?‘ Ich habe ihm geantwortet: ‚Natürlich geht er mit mir ab.‘ Schließlich bin ich im Prater und mit den Sittler-Brüdern aufgewachsen. Thomas half mir wieder in den Prater zurückzukommen. Dafür bin ich ihm dankbar, denn mein Herz gehört dem Prater, hier bin ich aufgewachsen.“ Thomas Sittler nickt, er meint: „Auch ich liebe meine Schießbude am Calafattiplatz. Dort habe ich sogar einen Kinderwatschenmann stehen.“ Ich schaue mir nun die Bilder an der Wand des wunderbaren Kaffee hauses an. Ein Bild zeigt Buben, die ein Ringelspiel drehen, dieses Ringelspiel wird mit menschlicher Kraft angetrieben. Es ist ein ausdruckstarkes Bild. Ich erzähle, dass auch ich als Kind mit Freunden auf einem Jahrmarkt ein Ringelspiel gedreht haben, wobei wir im Kreis gehend die Streben, an denen die Sitze hingen, antauchen mussten. Der Ringelspielbesitzer hatte uns Buben darum gebeten. Mir wurde allerdings schlecht dabei. Die beiden Sittler-Burschen, Stefan und Thomas, sind ausgebildete Boxer. Thomas Sittler erzählt: „Wir sind durch unseren Vater zum Boxen gekommen. Mein Bruder Stefan ist zweimal Wiener Meister im Boxen geworden. Im Schwergewicht. Ich war zweimal österreichischer Jugendmeister im Mittelgewicht.“ Stefan Sittler-Koidl ergänzt: „Ich war je einmal österreichischer Jugend- und einmal Juniorenmeister und einmal Wiener Meister. Das Boxen haben wir im Prater gebraucht wegen der Banden, die es früher im Prater gegeben hat. Unser Vater war ein guter Boxer, von ihm haben wir die Freude am Boxen übernommen, er war bei den Olympischen Spielen 1976. Er hat dort den 8. Platz 36
Praterfreundschaften – der Reiz des Boxens
gemacht. Mein Vater wurde dann von seinem Schwiegervater vor die Wahl gestellt: ‚Entweder du lässt dich deppert hauen oder du kommst zu uns in den Prater und kannst bei uns mitarbeiten.‘ Mein Vater hat ja nichts gehabt. Er hat gesagt: ‚Ich bin mit einem Koffer gekommen.‘ Er war der erste Sittler im Prater. Unser Vater, Christian heißt er, war Profiboxer. Er hat 7 Profikämpfe gehabt und gewonnen. Er war sehr fleißig. Sein Schwiegervater hat zu ihm gesagt: ‚Hör auf zum Boxen. Wenn du das machst, kannst du meine Tochter heiraten.‘ Mein Vater hat sich dann vor den Trainer hingestellt und hat gesagt: ‚Es ist aus mit dem Boxen.‘ Der Vater ist ein echter Pratermensch, mehr als andere. Er ist ein feiner Mann, anders als seine Buben.“ Vater Sittler hat also seine Karriere als Boxer beendet und hat in den Prater eingeheiratet. Zum Thema Boxen meint Thomas Sittler noch: „Wir Boxer nennen alle die, die die asiatischen Kampfsportarten ausüben, Pyjama-Raufer (abfällige Bezeichnung ihrer Wettkampfkleidung). Ich habe das Buch von Richard Steiner, dem bekannten Gürtelkönig, gelesen. Er war in derselben Boxerschule wie wir. Er beschreibt viele, die wir auch kennen ... Ohne unser Boxen hätten wir damals in den 90er-Jahren nicht überleben können im Prater. Damals gab es noch Banden.“ Als ich erwähne, ein Student hätte geschrieben, dass im Prater eine positive Stimmung besteht, bestätigt Thomas Sittler dies: „Das ist richtig, das ist auch durch die Securities. Es genügt, wenn ein Sicherheitsmann bloß dasteht.“ Schließlich kommt Thomas Sittler auf ein verwegenes Abenteuer zu sprechen: „Als wir jung waren, habe ich mir gedacht, wir müssen außerhalb des Praters etwas machen. Da bin ich auf die glorreichen Idee gekommen: Wir kaufen uns ein Puff [Freudenhaus, Anm. d. Verf.]. Wir fuhren gemeinsam zum Mexikoplatz und haben dort alles wegen eines Puffs ausgemacht. Ich hatte beim Boxen jemanden kennen gelernt, der sein Puff verkaufen wollte. Das haben wir unseren Eltern erzählt, die sind gleich närrisch geworden, als sie 37
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hörten, dass wir das Puff kaufen wollten. Wir haben daher vom Puff abgelassen und uns dann ein anderes Geschäft im Prater gesucht. Das war ein Ringelspiel mit einer Schießbude.“ Hans Werfring, der auch Kolumnist in der „Wiener Zeitung“ ist, wird durch die alten Bilder vom Prater – einige erinnern an das Kriegsgeschehen des letzten Weltkrieges – angeregt, eine Geschichte zu erzählen: „Beim Kampf um Wien hat die SS nach ihrem Rückzug das Wasser im Prater abgesperrt. Als der Prater gebrannt hat, haben Praterunternehmer, da sie kein Wasser hatten, alles, was flüssig war, wie Bier und Wein, aus den Kellern geholt und in Schaffel gegossen, um das Feuer zu löschen. Diese Geschichte könnte stimmen, denn ähnlich haben die Mönche in Klosterneuburg reagiert, als der Verduner Altar gebrannt hat. Sie verwendeten Wein aus der Stiftskellerei, um das Feuer zu löschen. Ich halte es also nicht für unmöglich, dass die Praterleute auch so gehandelt haben“.
Die Traueranzeigen des Herrn Horky Herr Horky zeigt uns seine Sammlung von Traueranzeigen, die sich vor allem auf die Praterleute beziehen, es sind aber auch Parten von Politikern wie Bruno Kreisky oder Jörg Haider dabei. Eine Liste bezieht sich auf verstorbene Praterunternehmer, die Alexander Schaaf erstellt hat. Herr Horky serviert guten Rotwein. Wir sehen eine Parte von Kobelkoff, der am evangelischen Teil des Zentralfriedhofes begraben liegt. Er hat eine Art Ehrengrab. Praterhüttenbesitzer werden die verstorbenen Praterleute auf Todesanzeigen und Grabsteinen genannt, erzählt einer der Anwesenden. Man erkennt: Die meisten der Praterleute sind evangelisch. Nikolaj meint dazu: „Die Wilferts waren Hugenotten, sie sind aus Frankreich vertrieben worden. Sie haben den evangelischen Glauben in den Prater gebracht. Der Name Wilfert kommt aus dem 38
Die Traueranzeigen des Herrn Horky
Französischen. Hier auf einer Parte steht: Emilie Wilfert. Sie ist meine Urgroßmutter, sie ist auf Prater Nummer 12 gestorben, dort, wo ich heute meinen Betrieb, die Schießbude, habe. Die Wilferts, also meine Verwandten, liegen auf dem katholischen Friedhof, obwohl sie evangelisch sind. Kobelkoff wollte eine Wilfert in Wien heiraten. Man hat ihm jedoch gesagt: ‚Du kannst sie nicht heiraten, weil du orthodox bist.‘ Daraufhin sind die beiden nach Dresden gefahren, dort hat man sie aber auch nicht verheiratet. Schließlich haben sie es in Ungarn versucht, wo sie endlich einen evangelischen Pfarrer gefunden haben, der sie getraut hat.“ Wir kommen auf die Hochzeiten zu sprechen. Die katholischen Brautleute werden mit Vorliebe in dem Kirchlein Maria Grün im Prater, die evangelischen meist in der Kirche am Tabor getraut. Stefan Sittler freut sich, dass seine beiden Kinder im Prater zur Welt gekommen sind. Thomas Sittler hat – wie erwähnt – einen Buben, den Oscar. Nikolaj Pasara hat drei Kinder. Er liebt sie. Eine Familie ohne Kinder ist für ihn nicht vorstellbar. Ich bedanke mich herzlich für das Kommen dieser netten Leute und das anregende Gespräch. Ich rede noch mit Hans Werfring, dem Fotografen, bedanke mich für den Wein, zu dem er uns eingeladen hat und bekräftige den Herren noch einmal meine große Sympathie für Schausteller und Musikanten. Auf Wunsch meiner Gesprächspartner jongliere ich mit drei und dann mit vier Bällen. Ich ernte Applaus. Ich verabschiede mich von Herrn Horky, dem Inhaber des Kaffee Urania, dessen Sammlung von alten Praterfotos mir sehr imponiert. Ich bedanke mich bei ihm für die Einladung zu einem Getränk und die Zeit, die er mir geopfert hat. Ebenso verabschiede ich mich von Stefan Sittler-Koidl und seinem Bruder Thomas Sittler, von Nikolaj Pasara und Hans Werfring. Ich bin ihnen allen dankbar dafür, dass sie sich Zeit genommen haben, mit mir über die bunte Welt des Praters zu reden und aus ihrem Leben 39
1. Station: Kaffee Urania und die Praterfamilien
zu erzählen. Ein besonderer Dank gebührt freilich Stefan Sittler-Koidl, der das Treffen eingefädelt hat, aber auch Herrn Horky, der uns eine bunte Kulisse geboten und alle zu einem guten Wein eingeladen hat. Ich verabschiede mich mit Handschlag, verlasse die imposante Gesellschaft und das Kaffee Urania und radle weiter.
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2. Station: Praterstern und Praterstraße Das Vorfeld des Wurstelpraters – geniale Theaterleute und Musiker Ich radle von der Radetzkystraße im 3. Bezirk über die Franzensbrücke in den 2. Bezirk, in die Leopoldstadt, die ihren Namen von Kaiser Leopold I. hat, der vor allem auf Drängen seiner sehr katholischen spanischen Gattin 1669/70 die Juden aus dieser Gegend vertreiben und die jüdische Synagoge niederbrennen ließ. An deren Stelle errichtete er die dem heiligen Leopold geweihte Kirche. Wenig Ruhm erntete dieser Kaiser, als er bei der Türkenbelagerung Wien im Jahre 1683 mit seiner Familie nach Passau flüchtete und die Wiener ihrem Schicksal überließ. Als Kaiser Leopold auf seiner Flucht vor den Türken am 7. Juli 1683 durch Langenzersdorf kam, wurde er von bewaffneten Bauern heftig beschimpft.3 Daran denke ich, als ich die Franzensbrückenstraße entlang in den zweiten Bezirk – Leopoldstadt – zum Praterstern radle, in den sieben Straßen münden. Im 18. Jahrhundert war hier schon ein Platz, auf dem sieben Alleen sternförmig zusammentrafen. Beim Praterstern mache ich eine kurze Pause, ich betrachte das 1896 hier errichtete Denkmal für Admiral Wilhelm von Tegetthoff, des Siegers der Seeschlacht von Lissa gegen Italien im Jahre 1866. Bereits 1864 im deutsch-dänischen Krieg kämpfte er im Seegefecht bei Helgoland in der Nordsee auf deutscher Seite gegen Dänemark. Dänemark verlor den Krieg, wodurch Schleswig-Holstein deutsch wurde und blieb. Tegetthoff war also ein Seeheld, er verstarb 1871 im Alter von 43 Jahren an einer Lungenentzündung. Zu Reichtum hat er es nicht gebracht. Sein Vermögen, das er seinen Brüdern hinterließ, betrug 267 Gulden und 40 Kreuzer. Ein damaliger Gulden entsprach ungefähr 6 Euro heute. 41
2. Station: Praterstern und Praterstraße
Abb. 3: Der Praterstern um 1930 mit dem Denkmal Tegetthoffs, des Siegers der Seeschlacht von Lissa (1866).
Das Tegetthoff-Denkmal mit seinen aus den Wellen emporsteigenden Pferden und den griechischen Göttinnen, die Kränze in den Händen halten, erscheint wie ein fantasievoller Vorposten des Wurstelpraters, ebenso wie die Praterstraße, die direkt zum Denkmal hinführt. In früheren Zeiten hieß diese Straße, sie war bloß ein Fahrweg, Jägerzeile. Jägerzeile hieß der Weg, weil Kaiser Maximilian II. 1569 für seine J äger und Holzarbeiter, die im Prater tätig waren, kleine Häuser in einer „Zeil“, also in einer Reihe, bauen ließ. Die Praterstraße belebten Leute, die mit Theater und Musik zu tun hatten, sie vermochten bestens die Welt des Praters anzubahnen: Auf Praterstraße Nummer 31 stand von 1781 bis 1847 das Leopoldstädter Theater und dann von 1847 bis 1944 das Carltheater, dessen Besitzer Carl Carl hieß. In diesem Theater traten als Schauspieler und Bühnenautoren Ferdinand Raimund und Johann Nestroy auf. Nach dem 42
Das Vorfeld des Wurstelpraters – geniale Theaterleute und Musiker
Tod Carls war es Nestroy, den man zum Direktor dieses Theaters machte. Auf Nr. 54 wohnte Johann Strauß (Sohn) mit seiner Frau, der Sängerin Henriette Treffz-Chalupetzky, die sich selbst den Adelsnamen Jetty Edle von Treffz verpasste. Diese Dame war vorher mit Moritz Ritter von Todesco, dem Mitbesitzer der Textilfabrik Marienthal, liiert. Hier komponierte Strauss seinen berühmten „Donauwalzer“. Auf Nummer 70 befindet sich der Dogenhof, der 1898 „zur Ehre der wunderschönen Stadt Venedig“, wie es auf der Tafel im Hauseingang heißt, erbaut worden ist. Den Eingang zum Kaffeehaus schmückt daher der Markuslöwe. Entworfen hat den Dogenhof der aus Mähren stammende Carl Caufal (1861–1929) im Stile der venezianischen Gotik. Zum Leben Carl Caufals ist festzuhalten, dass er einige Wohnbauten in Wien schuf und dass er 1903 wegen schuldbarer Krida aufgrund „verunglückter Hausspekulationen“ zu drei Wochen strengem Arrest verurteilt wurde. Der Dogenhof steht wohl in enger Beziehung zu der Praterstadt „Venedig in Wien“ auf der Kaiserwiese die von Gabor Steiner initiiert wurde. Gepachtet hat Gabor Steiner, über den ich später erzählen werde, das Grundstück von der englischen Investorengruppe Kaisergarten-Syndicate limited. Dieser Gesellschaft hatte der Kaiser Franz Joseph 1890/91 gemeinsam mit seinen Brüdern Karl Ludwig und Ludwig Viktor den zwischen Praterstern, Ausstellungsstraße und Prater Hauptallee gelegenen Kaisergarten verkauft. „Venedig in Wien“ wurde 1895 eröffnet, es zeigte kunstvolle Nachbildungen venezianischer Bauwerke und Kanäle, die mit Gondeln befahrbar waren. „Venedig in Wien“ war ein großer Erfolg, Menschen aus allen sozialen Schichten zog es dorthin. Böhmische Dienstmädchen und Soldaten der alten Monarchie amüsierten sich hier ebenso wie die feinen Leute des 1. Bezirks. Die bekanntesten Komponisten 43
2. Station: Praterstern und Praterstraße
ihrer Zeit, wie Carl Michael Ziehrer, Franz Lehár und Oscar Straus, traten hier auf. Gabor Steiner erhielt durch diese Attraktion hohes Ansehen, das ihm zugute kam, als er um eine Baugenehmigung für das Riesenrad ansuchte. Einzufügen ist, dass diese Praterstadt „Venedig in Wien“ nichts – außer dem Namen – mit der nahen Venediger Au zu tun hat, die in einer Urkunde aus dem Jahr 1377 erstmals erwähnt wird. Ich kehre zur Praterstraße zurück. Auf der Praterstraße 72, und zwar im Hotel Nordbahn, hat ein Großer der Filmmusik 1888 das Licht der Welt erblickt. Es ist dies der Sohn Gabor Steiners, Max Steiner bzw. Maximilian Raoul Steiner, der 1971 in Beverly Hills, Kalifornien, gestorben ist. Vater Gabor Steiner achtete darauf, dass Sohn Max die Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst besucht, die er bereits mit 16 Jahren absolviert hat. Max Steiner wirkte von 1904 bis 1914 als Dirigent in Großbritannien. Dann übersiedelte er in die USA, wo er seine Karriere als Filmkomponist begann. Über Max Steiner weiß ich viel von meinem Freund Hans Öhlinger, Steuerberater in Linz und Spezialist für amerikanische Filmmusik. Er hat mir erzählt, wie Max Steiner mit Können, Charme und Witz Filmgeschichte geschrieben hat, immerhin brachte er es auf insgesamt 24 Oscarnominierungen und gewann den Preis dreimal. Er schrieb die Filmmusik u. Ä. zu den Filmen „Vom Winde verweht“, „King Kong und die weiße Frau“ und „Casablanca“ sowie „Die Sommerinsel“. 2003 brachte die US-Post eine 37-Cent-Briefmarke mit Steiner als Motiv heraus. Max Steiner war viermal verheiratet. Über ihn ist eine schöne Biografie im Böhlau Verlag erschienen. Auf dem Haus Praterstraße 72 ist eine Gedenktafel angebracht, auf der zu lesen Ist: „In diesem Haus wurde am 10. Mai 1888 MAX STEINER geboren. Seine Karriere begann in ‚Venedig in Wien‘, der Theater- und Vergnü44
Das Vorfeld des Wurstelpraters – geniale Theaterleute und Musiker
gungsstadt im Prater. 1914 wurde er Kapellmeister am Broadway, 1929 führender Filmkomponist – ‚Gone with the Wind‘, ‚Casablanca‘ – in Hollywood, wo er am 28. Dezember 1971 verstorben ist. – Die Erste, 1988.“ Max Steiner gilt als Vater der Filmmusik.
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3. Station: Am Beginn der Hauptallee Das kaiserliche Jagdrevier und die Kundmachung Josephs II. am 7. April 1766 – der Prater im 19. Jahrhundert Ich radle vom Praterweg auf dem Radweg zum Beginn der Hauptallee des Wiener Praters. Hier mache ich meine nächste Station und lasse sowohl den Wurstelprater mit dem Riesenrad, links der Hauptallee, als auch die gepflegten Kastanienbäume der Hauptallee, die zum Lusthaus und durch die bewaldete Praterau führt, auf mich wirken. Schon sehr früh galt der Prater als ein prächtiges Jagdgebiet, allerdings nur für die hohen Herrschaften. Den Bauern und Bürgern war es bis 1848 untersagt, zu jagen. Daher wurde so mancher Bauer und Bürger zum Wildschützen. Auch im Prater dürfte es solche Wildschützen gegeben haben, denen es Freude machte, den hohen Herrn das Wild wegzuschießen. Überliefert ist, dass 1194 Herzog Friedrich I. der Katholische, ein Babenberger – die Babenberger waren die ersten Herrn Österreichs –, einige Gründe der Praterau dem adeligen Geschlecht Prato, das noch im 14. Jahrhundert als „von Wiesen“ vorkommt, übergab. Der größte Teil der Pratergründe kam im 13. Jahrhundert an das Stift Klosterneuburg. Wiener Klöster erhielten weitere Gründe. Die übrigen Gründe des Praters gehörten dem jeweiligen Landesherrn. Auch die Stadt Wien hatte einen Anteil am Wald und an den Wiesen am Rande des Praters, dies war das „Stadtgut“ – die Große Stadtgutgasse und die Kleine Stadtgutgasse im 2. Bezirk erinnern noch daran. Das Stadtgut war also städtischer Besitz, auf welchem sich bereits eine Gastwirtschaft mit allerlei Vergnügungen befand. Es erstreckte sich von der Stadtgutgasse bis zum oberen Teil des 47
3. Station: Am Beginn der Hauptallee
Abb. 4: Die Hauptallee des Praters führt vom Praterstern zum Lusthaus, sie bildet die nördlichen Grenze des Wurstelpraters.
späteren Wurstelpraters. Es lässt sich wohl behaupten, dass dieser Bereich des Stadtgutes in gewisser Weise der Vorläufer des Vergnügungsparks des Praters, also des Wurstelpraters, gewesen ist. Es gab am Stadtgut sogar eine Wiese der Gemeinde, die „Stierwiese“, auf der der sogenannte Gemeindestier weidete, also jener Stier, der die Kühe der damaligen Bauern am Rande des Praters zu bespringen hatte. Auf dem Pratergebiet, das dem Landesherrn gehörte, ließ 1537 bis 1538 Kaiser Ferdinand I. einen Durchschlag durch die dicht bewaldete Praterau ausführen und mit Bäumen bepflanzen, es entstand die Hauptallee. Im Jahre 1567 löste jedoch Kaiser Maximilian II. Klosterneuburg, der Stadt Wien und anderen Eigentümern im Prater deren Besitzrechte ab und stellte so ein geschlossenes Jagdrevier her, das er schließlich umzäunen ließ. Gegen den Unteren Werd (Werd – mhd. 48
Das Verbot Rudolfs II., den Prater zu betreten – Hans Bengel
für Insel) hin stellte ein Bach, es war dies der Fugbach – auch an ihn erinnert die gleichnamige Gasse – die natürliche Grenze zum Waldund Wiesengebiet des alten Praters dar. 1569 ließ Kaiser Maximilian II. auf dem Gebiet der heutigen Praterstraße, damals hieß sie Venediger Au – sie hatte ihren Namen von einer hier 1486 errichteten venezianischen Glasschmelze und Bläserei –, durch Hans Georg von Kuefstein 16 Häuschen für die Hofjagdbediensteten „in einer geraden Zeil“ erbauen, die man nun Jägerzeile nannte. Der Begriff Venediger Au wurde in der Folge für das Gebiet nordöstlich davon verwendet. Schließlich hatte jedes dieser Jägerhäuschen auch das Recht zur Ausschank von Wein und Bier. Außerhalb des eingefriedeten Jagdgebietes lag also damals schon ein viel besuchter Ausflugsort der Wiener. Dies veranlasste Wirte, sich hier anzusiedeln. Unter diesen Wirten war um 1570 auch ein gewisser Sperl. Es ist anzunehmen, dass dieser der Ahnherr einer früher bekannten Wiener Wirtsdynastie ist.
Das Verbot Rudolfs II., den Prater zu betreten – Hans Bengel 1592 befahl Rudolf II., der allerdings nur selten in Wien gewesen sein dürfte, er hielt sich meist in Prag auf: „Niemand soll in Unserer Au, dem Prater, Sommers- oder Winterzeit gehen, fahren, reiten, hetzen, jagen oder fischen ohne Willen des kaiserlichen Forstjägers Hans BENGEL.“ Dieser „Bengel“ entsprach seinem Namen. Wurde ein Wiener, der ohne Erlaubnis das Jagdgebiet des Praters betreten hatte, erwischt, so ging Hans Bengel in oft grausamer Weise gegen ihn vor. Als einmal ein Bub im Prater dabei ertappt wurde, wie er Reisig sammelte, ließ Hans Bengel ihn an einen Baum binden und von Holzknechten prügeln. Als die Wiener davon erfuhren, war die Entrüstung gegen Hans Bengel derart groß, dass man befürchtete, man würde sich an ihm rächen. (K. E. 49
3. Station: Am Beginn der Hauptallee
Schimmer, Alt und Neu Wien – Geschichte der österreichischen Kaiserstadt. 1. Bd. Wien 1904, S. 667). Eine besondere Freude an der Jagd hatte wohl auch Kaiser Karl VI. (1685–1740), der Vater Maria Theresias. Es war allerdings nicht nur die Jagdleidenschaft, die ihn zur Jagd beflügelte, sondern auch der Wunsch der kaiserlichen Ärzte, die meinten, die Jagd würde dem Kaiser guttun, denn dessen Beleibtheit hatte zugenommen, er war also immer dicker geworden. Ob Kaiser Karl VI. durch die Jagd an Gewicht verloren hat, ist leider nicht überliefert. Jedenfalls litten die Wiener sehr darunter, das Jagdgebiet des Praters nicht betreten zu dürfen. Die meiste Zeit über bis Ende des 18. Jahrhunderts war der Prater hermetisch abgeschlossen. Allerdings beim Praterstern im oberen Teil des Stadtgutes, das im Besitz der Gemeinde Wien war, entwickelte sich das sogenannte „Lustwaldl“, ein Belustigungsort, den man als Vorbild des späteren Wurstelpraters ansehen kann. Es gab dort bereits Kegelbahnen, ambulante Schänken, Schaukeln und Marionettenspieler.
Kaiser Joseph II. öffnet den Prater dem Volk Am 7. April 1766 schließlich erlässt Kaiser Joseph II. (1741–1790), ab 1765 römisch-deutscher Kaiser, die berühmte Kundmachung, die den Prater dem Volk öffnete – zur Verwunderung und zum Ärger der Aristokratie. In dieser Kundmachung heißt es: „Es wird anmit jedermänniglich kundgemacht, wasmassen Seine kaiserliche Majestät aus Allerhöchst zu dem hiesigen Publico allermildest seyenden Zuneigung Sich allergnädigst entschlossen und verordnet haben, dass künftighin und von nun an, zu allen Zeiten des Jahres und zu allen Stunden des Tages, ohne Unterschied Jedermann in den Prater sowohl, als in das Stadtgut frei spazieren zu gehen, zu reiten und zu fah50
Kaiser Joseph II. öffnet den Prater dem Volk
ren, und zwar nicht nur in der Haupt-Allee, sondern auch in den Seiten-Alleen, Wiesen und Plätzen, die allzu abgelegenen Orte und dicken Waldungen wegen sonst etwas zu besorgenden Unfugs und Missbrauchs alleinig ausgenommen, erlaubet, auch Niemand verwehrt sein soll, sich daselbst mit Ballenschlagen [Vielleicht eine Vorform des Fußballspiels, Anm. d. Verf.], Kegelschieben und anderen Unterhaltungen eigenen Gefallens zu divertiren, wobei man sich aber versieht, dass Niemand bei solcher zu mehrer Ergötzlichkeit des Publici allergnädigst verstatteten Freiheit sich gelüsten lassen werde, einige Unfüglichkeit oder sonstige unerlaubte Ausschweifungen zu unternehmen und anmit zu einem allerhöchsten Missfallen Anlaß zu geben.“4 Die Wiener wunderten sich wohl, dass mit einem Schlag die bisher ängstlich gehüteten Schranken gefallen waren. Karl Eduard Schimmer schreibt über den Ärger der „hohen Herrschaften“ mit dem Kaiser: „Aber auch die hohen Kreise, die wie so manche andere Territorien in Wien und in der ganzen Staatsverwaltung, den Prater für ihre ausschließliche Domäne gehalten hatten, waren nicht wenig konsterniert. Am Hofe und in manchen ‚Kanzleien‘ stäubte der Puder in ganzen Wolken von den Perücken ob des unaufhörlichen Schüttelns der wohlweisen Köpfe, da man in dieser neuen Maßregel des ‚jungen allergnädigsten Herrn‘ wieder nichts sah, als eine Beeinträchtigung wohlerworbener Rechte und Privilegien. Einige hochstehende Herren wagten sogar ‚alleruntertänigst‘ Vorstellungen bei dem Kaiser dagegen zu erheben, dass der Prater, dieses bisher streng gehütete Terrain, nun künftig auch der ‚Populace‘ zugänglich sein solle, wodurch dem Adel und dem Hof wieder eine Möglichkeit entzogen werde, sich ungehindert zu divertiren und seine Majestät selbst in die penible Lage geraten könne, mit dem Volke in Berührung kommen und sich unter dasselbe mengen zu müssen. Mit jenem schlagfertigen Witz, der ihm oft zu Gebote stand, wies der Kaiser Joseph II. diese Einwendungen mit 51
3. Station: Am Beginn der Hauptallee
den Worten ab: „Ich sehe darin keinen Übelstand und keine Gefahr. Man muss dies nicht gar so genau nehmen, denn bedenken sie doch, wenn ich zum Beispiel, mich nur unter Meinesgleichen aufhalten wollte, dürfte ich aus der Kapuzinergruft (der Begräbnisstätte der Habsburger Könige und Kaiser) gar nicht hinausgehen.‘ Vielleicht, um zu zeigen, dass er die Berührung mit dem Volke nicht scheue, sondern sie sogar suche, fuhr der Kaiser an einem der nächsten schönen Sonntage in den Prater. wo er den Wagen verließ und frohgemut unter den Menschen wandelte, die sich auf diesem prächtigen Erdenfleck ergingen, der ein Teil ihrer schönen Vaterstadt und ihnen doch bisher so fremd war, als läge er in einem anderen Weltteil. Kaum hatte man ihn erkannt, so lief alles herbei, um ihn zu begrüßen: ehrenfeste Bürger jauchzten ihm zu und sprachen in schlichten Worten den Dank für dieses köstliche Geschenk aus, das noch den fernsten Enkeln zu Lust und Erquickung diente, man rief die Kinder herbei, um ihnen den Monarchen zu zeigen, der Jung und Alt so sehr bedachte.“5 Kaiser Joseph II. gestatte gleich nach Eröffnung des Praters allen Gastwirten und Kaffeesiedern, Zelte und Buden aufzuschlagen. Da es auch Leute gab, die sich nicht entsprechend benahmen, erging im Frühjahr 1767 die erste „Prater-Ordnung“. Da sie manches Streiflicht auf das damalige Volksleben wirft, sei sie wiedergegeben: „Avertissement. Es wird anmit jedermänniglich bekannt gemacht, wasmassen Seine Römisch Kaiserliche Majestät aus Allerhöchst zu dem Publico allermildest tragenden Zuneigung abermalen allergnädigst sich entschlossen und verordnet haben, dass wie voriges Jahr Jedermann in den Brater (!), wie auch in das Stadtgut, sowohl in der Hauptallee ... fein spazieren zu gehen ... erlaubet, anbei Niemand verwehrt sein soll, sich ... nach eigenem Gefallen zu belustigen.“ Weiter heißt es, dass Seine Römisch Kaiserliche Majestät „allermildest und allergerechtest zu verordnen geruhet“, dass der Prater und auch das Stadtgut an den Sonn52
Es gibt nur einen Prater – Wettläufer im Prater
und Feiertagen „vor Elf Uhr Vormittags, einfolgsam vor dem gehaltenen Vormittags-Gottesdienst nicht geöffnet werden, mithin Keiner, wes Standes er auch sei, weder fahrend, reitend, noch zu Fuß, an den Sonnund Feiertagen vor gedachter vormittägiger elfter Stunde in den Brater oder das Stadtgut über oder hinabzufahren sich erkecken (!), auch nach erneuter Verordnung die in dem Brater befindlichen Wein- oder Bierwirthe, Gastgeber und Kaffeesieder und all übrige, auch kleinere Krämersleute bei gleichmäßiger Ahndung sich nicht erfrechen (!) sollen, an den Sonn- und Feiertagen vor bemeldter elfter Stunde Vormittags etwas, auch nur das allermindeste auszuschenken, auszuspeisen oder zu verkaufen, annebst noch weniger einiges Spiel oder Ergötzlichkeiten zu halten“. Im gleichen bandwurmartigen Stil wird auch daran erinnert, dass es mit großem Missfallen beobachtet worden sei, wie sich das Publikum nicht an die Zeichen zur Räumung des Praters gehalten, sondern sich über Gebühr und Erlaubnis daselbst aufgehalten habe usw.6 Joseph II. dürfte seine Meinung jedoch geändert haben, denn 1775 ließ er die Einfriedung des Praters ganz entfernen, wodurch der Zutritt in den Prater zu jeder Zeit und ohne alle Beschränkung freigegeben war. Allerdings gab es eine Ausnahme: dem berühmten Feuerwerker Stuwer – nach ihm ist die Stuwergasse benannt – wurde das Privileg erteilt, an den Tagen, an denen er seine pyrotechnischen Veranstaltungen durchführte, den Prater abzusperren und ein kleines Eintrittsgeld einzuheben.
Es gibt nur einen Prater – Wettläufer im Prater Im 19. Jahrhundert ging es mitunter kriegerisch zu in den Praterauen, vor allem als Napoleon mit seinen Truppen 1809 über die Donau zog. Die österreichischen Truppen hatten bis an die Donau hin Schanzen aufgeworfen und die Linie bis zum Lusthaus hin mit Kanonen, Grena53
3. Station: Am Beginn der Hauptallee
dieren und der Landwehrmannschaft besetzt. Am 11. Mai befahl Napoleon zwei Kompanien an den Donauarm, um von dort das Lusthaus einzunehmen. Es wurden Schiffe geholt und eine Brücke geschlagen, auf der die Kompanien übersetzen konnten. Napoleon gelang es jedoch nicht, beim Kampf um das Lusthaus den österreichischen Truppen den Weg abzuschneiden. Am 21. Mai siegten die österreichischen Truppen bei Aspern. Allerdings schlug Napoleon sie kurze Zeit später bei Wagram. Nach dem Sieg über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig 1814 kam es zum Wiener Kongress, an dem beinahe alle gekrönten Häupter Europas teilnahmen. Auch bei diesem spielte der Prater eine bedeutende Rolle als Schauplatz glänzender Feste. Feste dieser Art und die Buntheit der Unterhaltung im Prater trugen zu dessen Berühmtheit bei. Folgen wir Carl Julius Weber, der in seinem Buch „Briefe eines durch Deutschland reisenden Deutschen“ über den Prater 1849 u. a. dies schrieb: „Die Leopoldsvorstadt ist wohl für den Fremden die interessanteste von allen, denn sie ist die lebendigste und nächste am Prater (!). In ihrer Jägerzeile ist der Casperl ... Durch diese mit Kastanienbäumen besetzte schöne Jägerzeil, wo unter Zelten die Caffeehaus-Gäste sitzen, gelangt man auf einen großen, freien Halbkreis, von dem fünf Alleen in die waldigten Donau-Inseln auslaufen, und wir sind im weltberühmten Prater (Prado). Es gibt nur Einen Prater, sagen die Wiener, und haben Recht. Hieran hat aber der Prater weniger Anteil, als die bunte Menschen-Masse, die hier versammelt ist. An Sonntagen geht es so bunt nach dem Prater, wie einst nach der Arche Noah’s ... Wenn der Wiener nichts weiter anzufangen weiß, geht’s halt in den Prater! Ungebunden und frei zeigt sich hier die Volkslust, nie aber auf so rauhe und gemeine Weise wie häufig im Norden. Man isst, trinkt, schäkert, liebelt, plaudert, sieht, hört Alles in der Ruhe der Götter. – ich entsinne mich nicht einmal Jungen gesehen zu haben, die sich schimpfen oder herumbalgen. Ein echter Wiener macht es sich so gut zur Gewis54
Es gibt nur einen Prater – Wettläufer im Prater
Abb. 5: Das Lusthaus am Ende der Hauptallee wurde um 1781 errichtet, es geht zurück auf ein kaiserliches Jagdhaus. Hier trafen sich im 19. Jh. Adel und Bürgertum.
senssache, Sonntags den Prater zu besuchen ... Der mittlere Raum ist auch der Mittelpunkt des Praterlebens, denn hier sind die Gasthäuser, Buden Caroussell, Kegelbahnen, Schaukler, Possenreißer, Marionetten und Wagen ... Kein Platz in Europa kann dem Prater gleichen ... Der Prater ist unendlich mehr, als die hoch berühmten Champs Elisees der Pariser ... Vor Joseph war der Prater nur den Herrschaftswagen offen, jetzt aber allen Menschenkindern! ... In dieser langen Allee (Hauptallee) bis zum Lusthaus am Ende des Praters und an der Donau ist am ersten März ein Wettrennen der Läufer, die noch zu Wien allein Mode sind.“7 Weber spricht hier ein jährliches Wettrennen am 1. Mai von herrschaftlichen Läufern im Prater an, das allerdings nicht allen gefiel. Dieses Wettrennen stammte aus einer Zeit, als es in Wien noch keine Straßenbeleuchtung gab und Läufer den Kutschen Adeliger, wenn sie in der Nacht unterwegs waren, mit Fackeln voranliefen, um die Straße zu erhellen. Diese Läufer waren besonders auffällig und bunt angezogen. Je 55
3. Station: Am Beginn der Hauptallee
schneller und ausdauernder so ein Läufer war, desto stolzer war sein adeliger Dienstgeber. Den Wienern schien dieses Wettrennen am 1. Mai im Prater zu gefallen, denn sie zogen in großer Zahl in die Hauptallee, an deren Beginn ein Zelt für die Preisrichter stand. Von dort ging der Lauf bis zum Lusthaus und zurück. Gute zehn Kilometer mussten dabei bewältigt werden. Auch Tribünen waren errichtet worden, auf welchen die vornehmen Herrschaften Platz nahmen. Zu beiden Seiten der Hauptallee standen dicht gedrängt die Zuschauer. Unter den Dienstgebern der Läufer wurden oft beträchtliche Wetten auf deren Sieg abgeschlossen. Ein Böllerschuss zeigte den Beginn des Rennens an, an dem sich bis zu zwölf herrschaftliche Läufer in ihren bunten Trachten beteiligten. Während des Laufes folgten den Läufern zwei Kutschen, eine war für den Arzt bestimmt, die anderen diente dazu, einen wegen Überanstrengung zusammengebrochenen Läufer aufzunehmen. Je näher die Läufer dem Ziel kamen, desto aufgeregter wurden die Zuschauer, die die Läufer durch Zurufe ermunterten. Dabei legten sie den Läufern die Namen ihrer adeligen Herren bei. Man hörte Rufe wie: „Bravo, Kinsky!“, „Halt dich gut, Esterhazy“ oder „Vorwärts, Liechtenstein!“ So scholl es durch die Hauptallee. Die drei schnellsten Läufer wurden am Ziel mit Beifall und Musik empfangen, sie erhielten Geldpreise. Schimmer schrieb in seinem Buch „Alt und Neu Wien“, dass dies ein empörendes Schauspiel gewesen sei, welches ein Hohn auf jedes Gefühl von Menschenwürde und Menschenliebe sei. Er dachte dabei auch an die „armen Teufel, die zusammengestürzt waren und von dem nachfahrenden Wagen aufgelesen wurden“. Erst im Mai 1848 unterblieb fortan dieses Schauspiel. 8 Schimmer empfand also diese Wettrennen als menschenunwürdig. Wahrscheinlich wäre dieser Autor entsetzt gewesen, hätte er gewusst, dass der Prater später für Läufer und Fußballspieler geradezu ein Paradies werden wird und in der Hauptallee sowie im Stadion einmal die härtesten sportlichen Wettkämpfe stattfinden werden. 56
Revolution und Weltausstellung
Revolution und Weltausstellung Im Oktober 1848, während der Wiener Revolution gegen das Kaiserhaus, waren der Prater und die Jägerzeile, also die Praterstraße, Schauplätze schwerer Kämpfe zwischen den revoltierenden Wiener Arbeitern, Studenten und Bürgern und den von Fürst Windisch-Grätz und Graf Jelačić befehligten reaktionären kaiserlichen Truppen. Begonnen hat alles am 6. Oktober 1848, als kaiserliche österreichische Truppen von Wien aus gegen das aufständische Ungarn ziehen sollten. Die mit den Ungarn sympathisierenden Wiener Arbeiter und Studenten sowie die gegen das Kaiserhaus meuternden Truppen versuchten, diesen Abmarsch zu verhindern. Die Revolution endete blutig. Daran denke ich hier am Beginn des Praters, wo nicht wenige, für Freiheit und Menschenwürde kämpfende Studenten ihr Leben ließen. Um den Aufstand der freiheitsliebenden Ungarn niederzuschlagen, holte das Kaiserhaus schließlich die Russen. Mit diesen gemeinsam gelang es auch, die Ungarn nieder zu zwingen. Im Jahre 1873 und zwar vom 1. Mai bis 2. November fand im Prater die Wiener Weltausstellung statt, die Vorläuferin späterer Messen und diverser Ausstellungen. Die Praterstraße war und ist wohl der wichtigste Verkehrsweg zu diesen Veranstaltungen. Die Wiener Weltausstellung war die fünfte Weltausstellung und die erste im deutschsprachigen Raum. Das Areal dieser Ausstellung hatte eine Gesamtfläche von etwa 233 Hektar. Begrenzt wurde das Ausstellungsgelände im Südwesten durch die Prater Hauptallee und im Nordwesten durch den Praterstern und den ehemaligen Nordbahnhof. Im Südosten bildeten die Auenniederungen und im Nordosten die Donau die Grenze dieser imposanten Weltausstellung. Die architektonische Leitung der Wiener Weltausstellung lag in den Händen von Karl Freiherr von Hasenauer, einem der bedeutendsten Architekten des damaligen Wien. Von ihm 57
3. Station: Am Beginn der Hauptallee
stammen die Pläne zur Rotunde, an die heute u. a. die Rotundenbrücke erinnert. Durch die Aushubarbeiten für die Rotunde entstand im Prater ein kleiner Hügel, der sogenannte Konstantinhügel. Benannt ist dieser nach dem Obersthofmeister Konstantin zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1828– 1896), welcher an der Bauleitung der Weltausstellung mitgewirkt hat. Die Rotunde war ein Kuppelbau, sie war damals die größte Kuppel der Welt (Durchmesser 108 m) und sie war größer als das von 118–125 n. Chr. erbaute Pantheon in Rom (Durchmesser 43,4 m); übertroffen wurde sie erst 1957 durch eine Messehalle in Belgrad (Durchmesser 109 m). Die Rotunde fiel 1937 einem Großbrand zum Opfer. Bei der Wiener Weltausstellung zeigten 53.000 Aussteller ihre Leistungen, wobei kulturelle Themen hervorgekehrt wurden. Anstelle der Rotunde steht heute das Hauptgebäude der Wiener Messe. 1895 wurde das Vergnügungsareal „Venedig in Wien“, auf das ich bereits bei der Station Praterstern eingegangen bin, errichtet. Und 1897 entstand das Riesenrad, dem ich mich später widmen werde. Ich radle weiter.
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4. Station: Planetarium und Pratermuseum Ich radle in Richtung Eingang des Praters, doch bevor ich zu diesem gelange, mache ich noch Station beim viel besuchten „Zeiss-Planetarium“, kurz Planetarium genannt. Es ist einer Betrachtung wert, denn es gehört zum Wurstelprater, auch wenn es nur an dessen Rande liegt, unmittelbar bei der Haupt allee.
Der lange Schwanz des Bären Das Planetarium hat seine besondere Faszination, denn es ermöglicht Blicke in die Welt der Gestirne und deren geheimnisvolle Wanderungen am Firmament. Das Wort Planetarium hat auch tatsächlich mit „Wandern“ zu tun, denn im Begriff Planet steckt das griechische Wort „planetes“, das so viel wie Wanderer bedeutet. Die Gesetze, die hinter den Wanderrouten der Planeten um die Sonne stecken, haben schon die alten Griechen interessiert. Angeblich soll der griechische Mathematiker Archimedes (287–212 v. Chr.), er lebte in Syrakus auf Sizilien, bereits eine mechanische Kugel konstruiert haben, um die Bewegung von Mond und Sonne darzustellen. U. a. hat der römische Dichter Ovid über diese sonderbare Kugel, die mit Wasser angetrieben wurde, berichtet. Ein gewisser Marcellus, so heißt es, habe diese Kugel nach Rom gebracht, wo sie höchste Bewunderung bei den Römern erregte. Leider gibt es keine Zeichnung von dieser Vorform des Planetariums. Charakteristisch für ein modernes Planetarium ist, dass es aus einem Gebäude mit einer halbkugelförmigen Kuppel besteht. Neugierig betrete ich das Planetarium. Mit einer kleinen Gruppe von Interessierten 59
4. Station:Planetarium und Pratermuseum
werde ich in den Kuppelraum eingelassen. Ich setze mich in einen der bequemen Liegesitze, von denen aus man bequem die an der Kuppelwand sichtbar werdenden Sterne beobachten kann. Andere Besucher legen sich einfach auf den Boden, um noch besser den Geheimnissen des unendlichen Weltalls auf die Spur zu kommen. Ich folge den Erzählungen des jungen Astronomen, Lukas Fuchs ist sein Name. Allmählich wird es dunkel im Raum, das Auge passt sich der Finsternis an, leuchtende Sterne und die ganze Milchstraße erscheinen an der Innenseite der Kuppelwand. Diesen Sternenhimmel über uns, der sich bewegen lässt, verdanken wir einem kugelförmigen Projektor in der Mitte des Raumes. Durch ihn entsteht ein simulierter Sternenhimmel – hierin liegt der Unterschied zur Sternwarte, von der aus man wirkliche Sterne sehen kann. Erfinder des Projektors für Planetarien war der Physiker Walter Bauersfeld, der 1919 im Auftrag der Firma Carl Zeiss-Jena einen solchen baute. In einem solchen Zeiss-Planetarium befinde ich mich also. In Europa soll es ca. 450 solcher Planetarien geben. Das erste Planetarium außerhalb Deutschlands wurde am 7. Mai 1927 in Wien, und zwar vor dem heutigen Museumsquartier eröffnet. Die Vorstellungen in diesem sollen regelrecht von den Wienern gestürmt worden sein. 1931 schließlich übersiedelte diese „Wundermaschine“ in den Prater. Den Zweiten Weltkrieg überlebte es nicht. Erst im Juni 1961 ging man daran ein neues Planetarium zu errichten. Am 20. Juni 1964, also vor etwa 50 Jahren, wurde es eröffnet. Es wurde unter tüchtigen Direktoren zu einem Zentrum der astronomischen Volksbildung. In letzten Jahren wurde dieses herrliche Kunstwerk modernisiert und erfreut nun Jung und Alt. Herr Lukas Fuchs führt uns, während wir von unseren Liegesitzen aus in den „Himmel“ blicken, in die Weite des Weltalls. Spannend sind die Sternbilder, das sind Sternformationen, die aus einigen hellen Sternen bestehen und einer mythischen Figur, wie einem Tier, einem Gegenstand o. Ä. zugeordnet werden. Sternbilder, wie die Waage oder der 60
Das Pratermuseum und die Fortuna, die Göttin des Glücks
Große Bär, erleichtern die Orientierung am Sternenhimmel und waren daher auch für Wüstenkarawanen und die Seefahrer von Bedeutung. Der griechische Philosoph Ptolemäus beschrieb bereits 48 Sternbilder. Eines der von ihm beschriebenen Sternbilder ist der „Bärenhüter“, den wir am Himmel ausnehmen können. Neben dem „Bärenhüter“ sind die Sternbilder des Großen und Kleinen Bären zu sehen. Der griechischen Sage nach habe die griechische Göttin Hera aus Eifersucht die Nymphe Kallisto, in die der Göttervater Zeus verliebt war, und deren Sohn in zwei Bären verwandelt. Zeus soll diese beiden Bären an ihren Schwänzen in den Himmel geschleudert haben (daher übernatürlich lange Schwänze). Seitdem können wir sie als Sternbilder am Nachthimmel bewundern. Das griechische Wort für Bär ist „arktos“, daraus leitet sich die Bezeichnung „Arktis“ ab, das „Land unter dem Großen Bären“.
Das Pratermuseum und die Fortuna, die Göttin des Glücks Ich verlasse beeindruckt das Planetarium, ich habe einiges gelernt und schaue noch in das Pratermuseum, das im selben Haus untergebracht ist. Es ist ein schönes Museum, das mit Geschmack, Wissen und Witz eingerichtet wurde, und zwar mit Erinnerungsstücken, Fotos, Originalstücke aus Praterbuden usw., die der Heimatforscher Hans Pemmer (1886–1972) in mühevoller jahrelanger Arbeit gesammelt hat. Hans Pemmer war ein emsiger Wiener Heimatforscher, der für seine Arbeiten hoch ausgezeichnet wurde; er war es auch, der sich für die Erhaltung des St. Marxer Friedhofes eingesetzt hat. Er war einer der Mitbegründer der Wiener Museen. 1933 schuf Hans Pemmer in seiner Wohnung sein privates „Pratermuseum“, in dem er einen großartigen Einblick in die Geschichte des Wurstelpraters gab. Diese Sammlung schenkte Pemmer 1964 der Stadt Wien, die das Pratermuseum mit dem Wiener Planetarium in dem Neubau an der Hauptallee des Praters unterbrachte. 61
4. Station:Planetarium und Pratermuseum
Eines der Glanzstücke des Museums ist die „Fortuna“, also die Göttin des Glücks, die zum 1945 abgebrannten Fortuna-Palast gehörte. Die Fortuna in voller Größe ist am Calafattiplatz zu sehen (siehe 5. Station). Ein alter Watschenmann ist zu sehen, ebenso wie eine Bauchrednerpuppe, ein Wahrsageautomat, alte Ringelspielfiguren, Bilder von Ringkämpfern, Zwergen, kuriosen Menschen ohne Unterleib, Zwerg-Schuhen und einem Riesen-Anzug usw. Es sind bisweilen schaurige Sachen, mit denen man die Praterbesucher zu überraschen suchte. Plakate verweisen auf Sensationen im Prater. Vor den Augen der Betrachter dieser vielen Fotos und Schaustücke im Pratermuseum entsteht eine spannende Welt. Aus dem Jagdgebiet des Kaisers wurde ein Tummelplatz der feinen und weniger feinen Leute, aber auch der Unterwelt (siehe Kapitel „22. Station“). Arbeiter, Studenten, noble Damen, heitere Mädchen, Kinder jeden Alters, adelige Herrschaften und anderes Volk trieben und treiben sich im Prater herum. Unter ihnen waren in früheren Zeiten auch die berühmten Wäschermädeln, die sich im Prater vielleicht mit Kadetten zu einem Liebesabenteuer trafen. Die Praterburschen gehörten ebenso zum Bild des Praters wie Drehorgelspieler und Damenkapellen, die Stücke von Strauß und Ziehrer zum Besten gaben. Für die Kinder gab es Puppentheater, die in einfachen Holzhütten Geschichten vom Kasperl, dem Hanswurst, aufführten. Dazwischen tönte das „Hereinspaziert! Hereinspaziert, meine Herrschaften“ der Rekommandeure bzw. der Hutschenschleuderer. Der Prater veränderte sich im Lauf der Geschichte, aber im Wesen blieb er gleich. Wohl sind einige historische Praterunternehmen verschwunden, aber einige sind geblieben, wie der Rutschturm „Toboggan“, das alte Riesenrad, die Liliputbahn, die Hochschaubahn, das „Schweizerhaus“, Geisterbahn und Grottenbahn. Zwischen den historischen Betrieben glänzen die neuen, modernen, hydraulisch betriebenen und hoch technisierten Fahrgeschäfte. 62
Das Pratermuseum und die Fortuna, die Göttin des Glücks
1896 wurde das erste Kino im Prater eröffnet, 1898 tauchte die erste elektrisch betriebene Grottenbahn im Prater auf, es war die erste Märchenbahn in Europa. Anlässlich der Popularität des Flugzuges wurde 1911 das erste „Aeroplankarussell“ aufgebaut. 1926 folgte das erste „Autodrom“ und 1933 die erste „Geisterbahn“. 1928 wurde die heute noch fahrende „Liliputbahn“, eine verkleinerte Form der großen Dampflokomotiven, in den Prater gebracht. 1935 brachte ein Praterunternehmer aus Chicago die rasante „Flugbahn“, eine nicht auf Schienen gebundene Anlage, in den Prater. Es lässt sich nicht alles aufzählen, was im Prater oft nur für kurze Zeit entstand, um Publikum anzuziehen und zu unterhalten. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts dehnte sich der Wurstelprater über die Ausstellungsstraße nach Norden aus. Einige Vergnügungsbetriebe siedelten sich in der Venediger Au an, so 1892 der Zirkus Busch. Neben dem Zirkus Busch gab es Reitställe, Bierdepots und diverse Schaubuden. Im Rahmen der Schlacht um Wien wurde der Wurstelprater Anfang April 1945 nahezu vollständig zerstört. Er wurde in den folgenden Jahren neu errichtet bzw. wieder aufgebaut, wobei der Teil in der Venediger Au nicht mehr einbezogen wurde. 1981 brannte das Kino Lustspieltheater zwischen Ausstellungsstraße und Riesenrad, das letzte bestehende Praterkino, ab und wurde nicht wieder aufgebaut. Das Kino mit rund 1000 Sitzplätzen hatte hier als Nachfolger eines 1845 gegründeten Theaters seit 1927 bestanden. Seit 1938 befindet sich der Wurstelprater im Grundeigentum der Wiener Stadtverwaltung; die Anbieter von Vergnügungs- und Gastronomiebetrieben sind Pächter der von ihnen benützten Flächen. Die Stadtverwaltung lässt den Wurstelprater von einer ihrer Tochterfirmen verwalten (s. o.).
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4. Station:Planetarium und Pratermuseum
Mit dem Prater ist also eine spannende Geschichte verbunden, aber auch eine Geschichte des Leidens und der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Auch das Riesenrad, das große Symbol des Praters, brannte, wie ich bei der nächsten Station erzählen werde.
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5. Station: Riesenrad und Calafati Der Eingang zum Prater Ein kurzes Stück schiebe ich mein Fahrrad, dann bin ich beim modernen, abenteuerlich gestalteten Eingang zum Prater, dem Tor zur Welt der Schausteller, Wirte und neugierigen Besucher. Hier ist viel los. Die Wiener – Kinder wie Erwachsene – liebten und lieben ihren Prater. Im Wiener Dialekt spricht man allerdings nicht vom Prater sondern vom Brader oder Brater, denn im Wiener Dialekt gibt es das harte „P“ so gut wie nicht. Das Wort Brater findet sich sogar in der „Prater-Ordnung“ von 1767, die ich oben schon zitiert habe, in der von den im „Brader (!) befindlichen Bierwirthen“9, zu lesen ist. Mit heiteren Zeichnungen, Sprüchen und Ähnlichem auf einer aufgestellten Wand bei einem Brunnen sollen inmitten des Platzes vor dem Riesenrad offensichtlich die Besucher auf die bunte Welt des Praters eingestimmt werden. Auch Kaiser Franz Joseph und seine Elisabeth tragen hier das Ihre dazu bei, den Prater als märchenhafte Welt erscheinen zu lassen. Hier, beim Eingang zum Prater, steht ein Ringelspiel im alten Stil nachgebaut, wohl um den Besuchern ein Gefühl für den alten Prater zu vermitteln. Daneben macht das Wiener Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud auf sich aufmerksam, es ist nach seinem englischen Vorbild eingerichtet. Berühmte Leute der österreichischen Gegenwart erfreuen die neugierigen Besucher, wie Conchita Wurst und Arnold Schwarzenegger. Daneben befindet sich – wie bereits erzählt – die Lokalität mit den beiden Filmanimationen: die Fahrt mit dem Motorrad auf der chinesischen Mauer und der halsbrecherische Flug über Wien. 65
5. Station: Riesenrad und Calafati
Abb. 6: Das Riesenrad, ein Wahrzeichen Wiens und des Praters, wurde 1897 eröffnet.
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Die Statue des Basilio Calafati
Die Statue des Basilio Calafati In der Mitte des Riesenradplatzes steht die Statue des Basilio Calafati, eines aus einer griechischen Familie stammenden Zauberkünstlers, Schaustellers und Gastwirtes im Wiener Prater. Geboren wurde er am 1.1.1800 in Triest und starb am 27. Mai 1878 in Wien – ich nehme an im Prater. Auf dem St. Marxer Friedhof gibt es einen Gedenkstein für ihn. Der Name Basilio Calafati bzw. griech. Βασίλειος Καλαφάτης heißt auf Deutsch so viel wie „König Schönsprecher“ (basileos – der König, fati – von femi – sprechen). Vielleicht war er dies auch. Ab 1820 trat Calafati im Prater auf, 1830 wurde er Assistent von Sebastian von Schwanenfeld, dem „Zauberer vom Prater“. Von ihm erwarb er 1834 die Praterhütte „Schießstätte, Spielhalle“. 1840 eröffnete er ein Ringelspiel mit Holzpferden. Diese beiden Pferde ersetzte er 1844 durch zwei Lokomotiven, „Hellas“ und „Peking“. Auf die Idee dazu kam er, als 1838 die erste dampfbetriebene Eisenbahn der Nordbahn auf der Strecke Wien–Wagram in Betrieb ging. Basilio dürfte von dieser begeistert gewesen sein. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass Schausteller oft sehr schnell begreifen, wie Erfindungen bestens auf Jahrmärkten und Vergnügungsparks eingesetzt werden können. Später ließ Basilio das Obergeschoß des Ringelspiels abtragen. Dadurch wurde der in der Mitte des Ringelspiels freistehende Mast sichtbar. Damit dieser zauberhaft und anziehend wirkt, wurde aus diesem ein 9 Meter hoher vornehmer Chinese, den man bald „Großer Chinese“ nannte. Basilio Calafati war ein sehr umtriebiger Mann, der weiterhin nach Attraktionen für den Prater suchte. 1846 eröffnete er neben seinem Karussell ein Restaurant und später dann auch einen Billardsalon. Basilio wurde zur Praterlegende, er ist es heute noch, eben wegen des „Großen Chinesen“, der am „Calafattiplatz“ im Wurstelprater steht.
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5. Station: Riesenrad und Calafati
Das Riesenrad – die Idee des Gabor Steiner, des Vaters von Max Steiner Das Wiener Riesenrad, zu dem heute ein kleines Museum und ein Kaffeehaus gehören, ist in einer Zeit errichtet worden, als in Europa und in den USA tüchtige Ingenieure sich bemüht haben, hohe Türme und ähnliche Objekte aus Eisen herzustellen. Vorbild war wohl der Eiffelturm in Paris, der anlässlich der Pariser Weltausstellung 1889 dem staunenden Publikum präsentiert wurde. Auf der Suche nach geeigneten Objekten kam man auf die Idee, Riesenräder zu bauen. Riesenräder gehören zu den Fahrgeschäften wie Ringelspiele bzw. Karussells, Autodrome, Schaukeln, Geisterbahnen und ähnliche Attraktionen, die auf Volksfesten oder in Vergnügungsparks die Besucher erfreuen. Das erste Riesenrad, das dem Riesenrad im Prater ähnlich ist, wurde 1893 anlässlich der Weltausstellung in Chicago vom Ingenieur für Eisenbahntechnik George Washington Gale Ferris aus Pittsburgh errichtet. Damals suchte der leitende Architekt der Chicagoer Weltausstellung Daniel Burnham nach etwas Einzigartigem in der Architektur, das alles andere übertreffen sollte. Von Daniel Burnham stammt das Zitat: „Mach keine kleinen Pläne. Sie haben nicht den Zauber, das Blut der Menschen in Wallung zu bringen. Sie werden nicht realisiert. Mach große Pläne, setze Dir hoffnungsvoll die höchsten Ziele – und arbeite.“ Das von George Washington Gale Ferris konstruierte Riesenrad entsprach dieser Vorstellung. Als „Ferris Wheel“, ein Riesenrad mit der Höhe von 80,5 Metern, wurde es berühmt. Leider wurde es 1906 verschrottet. Fasziniert von diesen Riesenrädern war auch der Wiener Gabor Steiner (1858–1944), geboren in Temeschwar im Banat. Dieser Gabor Steiner war ein umtriebiger Herr. Durch seinen Vater, den Kassenchef im Theater an der Wien, lernte er die Theaterluft lieben und wurde Theaterdirektor in Hannover, Dresden und Berlin. Schließlich machte 68
Das Riesenrad – die Idee des Gabor Steiner, des Vaters von Max Steiner
man ihn zum Leiter des Carltheaters in der Leopoldstadt. Gabor Steiner hatte Freude daran, die Menschen zu unterhalten, aber dabei auch etwas zu verdienen. So wurde er 1892 Leiter der Hans-Wurst-Bühne in der Wiener Rotunde. 1894 pachtete er die Kaiserwiese am Beginn des Praters, auf dem er 1895 den legendären Vergnügungspark „Venedig in Wien“ errichtete. Schließlich kam er auf die Idee, im Prater nach dem Vorbild des Riesenrades von Chicago ein solches zu schaffen. Geplant und konstruiert haben dieses Bauwerk die beiden Engländer Walter Basset of Watermouth – er hatte den Namen von seiner Mutter – und Harry Hitchins. Eröffnet wurde das Riesenrad 1897. Es wird zwar oft – vielleicht aus Gründen des Fremdenverkehrs – behauptet, dies wäre anlässlich des 50. Thronjubiläums von Kaiser Franz Joseph gewesen, dies kann allerdings nicht stimmen, da dieses Jubiläum erst 1898 gefeiert wurde. Eigentümer des Riesenrades war Walter Basset, er blieb dies bis 1916. Dann wurde er enteignet. Drei Jahre später kaufte der Prager Kaufmann Eduard Steiner das Riesenrad – er war kein Verwandter von Gabor Steiner. Eduard Steiner, der das Riesenrad zuerst eigentlich abreißen wollte, verpachtete es. 1938 wurde das Riesenrad „arisiert“, das heißt von den Nazis an vier nationalsozialistische Praterunternehmer verkauft wurde. Eduard Steiner starb im Konzentrationslager. In ihrem schönen Buch „Das Riesenrad hat alle entzückt“ (Wien 1997) erzählt Frau Cecile Cordon sehr spannend die Geschichte des Riesenrades. 1940 wird das Riesenrad unter Denkmalschutz gestellt. Irgendwie dürften sich Juden und Nazis im Prater vertragen bzw. sich gegenseitig geholfen zu haben. Frau Cordon schreibt nämlich, dass Praterleute erzählen, dass sich die jüdischen und nationalsozialistischen Praterunternehmer gegenseitig geschützt hätten. In der Nazizeit hätten die Nazis die Juden versteckt, und danach hätten die Juden die Nazis verteidigt. Doch dürfte diese goldene Regel nicht immer gegolten 69
5. Station: Riesenrad und Calafati
haben.10 Nach dem Krieg wurde das Riesenrad den Erbinnen Eduard Steiners restituiert, die in der damaligen kommunistischen Tschechoslowakei wohnten. Da diese wohl kein Interesse am Riesenrad hatten, schließlich waren sie durch den Eisernen Vorhang von Wien getrennt, dürften sie froh gewesen sein, dass ihnen Herr Dr. Karl Lamac das Riesenrad „günstig“ abgekauft hat. Das Riesenrad befindet sich heute im Privatbesitz von Dorothea Lamac und Hans-Peter Petritsch. Vom Riesenrad, das insgesamt 64,75 Meter hoch ist, genießt man eine prachtvolle Aussicht bis hin zum Kahlenberg, zum Stephansdom und zur Donau, aber auch hinunter auf den Wurstelprater mit seinen farbenfrohen Fahrgeschäften. Das alte Riesenrad hatte vor dem Brand des Praters 1945 30 Gondeln. Aus Stabilitätsgründen reduzierte man diese auf 15. Es lockte stets auch Abenteurerinnen und Abenteurer an, die das Riesenrad für ihre Kunststücke nutzten. Berühmt wurde die Zirkusartistin Madame Solange d’Atalide, die 1914 auf ihrem Pferd, das auf dem Dach einer Gondel stand, eine Runde mit dem Riesenrad fuhr. Filmregisseure waren ebenso angetan von dem imposanten Riesenrad. Unmittelbar nach dem Krieg, als Teile des Praters und der Wienerstadt durch Bomben in Schutt und Asche lagen, war das Riesenrad zu einem Symbol des Wiederaufbaus geworden. Im Film „Der dritte Mann“, der in der Wiener Nachkriegszeit spielt, ist das Riesenrad zu sehen, aber auch eine seiner Gondeln, in der die beiden Hauptfiguren sich treffen, um unbeobachtet miteinander zu sprechen. In dem Film „Der Hauch des Todes“ unternimmt James Bond, alias Timothy Dalton, eine schöne Fahrt mit dem Riesenrad. Auch in anderen Filmen erstrahlt das Riesenrad als eine verheißungsvolle Kulisse.
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Der Brand des Praters und des Riesenrades im letzten Krieg
Der Brand des Praters und des Riesenrades im letzten Krieg Ein Schicksalstag für den Prater war der 8. April 1945, als russische Flugzeuge Wien und auch den Prater mit Bomben zudeckten. Das Riesenrad dürfte zwar nicht direkt durch Bomben getroffen worden sein, wie erzählt wird, es wurde jedoch durch das Feuer, das sich von brennenden Buden ausdehnte, zerstört. Über den Brand des Praters hat die 2015 verstorbene Frau Maria Reinprecht, die Besitzerin des „1. Wiener Ponyzirkus“, eine handschriftliche Aufzeichnung von ein paar Seiten verfasst. Ich danke meinem Freund Franz Josef Mayr, dass er mir diese aus dem Jahre 2004 stammende Aufzeichnung überließ. Ich werde diese im Kapitel über den Ponyzirkus bringen. Maria Reinprecht, die „Grande Dame“ des Praters, schrieb: „Wien 1945 – 8. April, Zweiter Weltkrieg – Die Amerikaner überließen den Russen den Luftraum und so flogen russische Kampfflugzeuge, die etwas kleiner waren als die amerikanischen, über Wien und warfen unter anderem Brandbomben ab. Sie setzten dabei auch Maschinengewehre ein. Am 8. April verdunkelte sich der Himmel mit schwarzem Rauch und man sah auch Flammen aufsteigen. Mein Vater, der Gott sei Dank durch ein Wunder nicht zum Volkssturm einrücken musste, half bei den Löscharbeiten in der Nähe vom 2. Rondo, denn dort gab es einen Brunnen. Das Pratergebiet war zu dieser Zeit ohne Leitungswasser. Dieses Objekt mit Brunnen brannte auch nicht ab. Von unserem Karussell, Wohnbau, Stall und Wirtschaftsgebäude war das Flammenmeer noch circa 300 m entfernt. Der Prater brannte an einigen Stellen, so auch bei der Ausstellungsstraße. Beim jetzigen Wieselburger Gasthaus. Der West-Wind, der sehr stark wehte, brachte nach kurzer Zeit das Grottenbahngebäude von der Firma Pilz in Brand und dann fing das Praterrestaurant Walfisch Feuer, dies war genau vis a vis von unserem 71
5. Station: Riesenrad und Calafati
Karussell. Meine Mutter schickte mich Vater suchen, denn die Flammen konnten bald unser Objekt erreichen. Ich lief durch die irre Hitze, links und rechts brannten schon die Hütten. Ich hatte Glück und fand in kurzer Zeit Vater. Mutter und Schwester hatten schon unsere beiden Pferdewägen aus der Remise gebracht. Zu dieser Zeit hatten wir 8 Pferde, 6 Ziegen, 8 Hühner, 1 Hahn, 40 Hasen, 1 Hund und 3 Katzen. Je 2 Pferde wurden vor einen Wagen gespannt und je 2 hinten festgebunden. Die Hasen kamen in 2 riesengroße Korbkoffer, so etwas hat man heute nicht mehr. Hühner und Hahn hielten sich ängstlich im Stall auf und so konnten wir sie leicht fangen und in einen Korb verfrachten, dieser wurde mit einem Doppelbettleintuch überdeckt und zugebunden. Koffer und Korb kamen auf die Pferdewägen, sowie Futter und Pferdegeschirr. Mutter lud auch ihre Nähmaschine und alle Lebensmittel auf. Unsere Dokumente wurden auch mitgenommen, sonst blieb alles im Haus. Zirka 1 Jahr gingen wir in derselben Kleidung, die wir anhatten an diesem 8. April. Vater machte das Hoftor auf und wir fuhren auf die Perspektivstraße. Die Ziegen und der Hund liefen frei mit. Eine Geiß, sie war schon alt, war nicht aus dem Stall zu bringen. Die Katzen haben wir leider auch nicht mitnehmen können, denn wir konnten sie nicht finden. Mein Vater wollte mit uns in den 18. Bezirk zu seinem Bruder fahren, aber der Platzmeister vom Tennisplatz Wanderer, vor dem wir standen, erklärte uns, dort wären schon die Russen, aber wir könnten im Umkleideraum vom Tennisplatz die Tiere unterbringen – was wir mit Dank annahmen. Der Prater brannte lichterloh und Mutter weinte. Einige Ausländer, die hinter unserer Parzelle in Baracken wohnten, hatten plötzlich einen Hydranten mit Wasser entdeckt und hatten auch einen Schlauch zur Hand. So retteten sie die Zuckerlhütte und auch die Parzelle neben unserem Stall. Wohnhaus, Karussell und Wirtschaftsgebäude standen da schon in einem Flammenmeer. 72
Der Brand des Praters und des Riesenrades im letzten Krieg
Die Kampfhandlungen dauerten noch einige Tage. Wir konnten im Keller des Hauses Ausstellungsstraße 39 unterkommen. Als endlich die Russen mit ihren Fahrzeugen die Ausstellungsstraße entlang fuhren, war ich die einzige, die sie mit Winken und Hurra begrüßten. Unserer Familie ist Gott sei Dank nichts geschehen. Mein Vater, spezialisiert auf Diesel-Einspritzpumpen, mußte schon nach kurzer Zeit für die Fahrzeuge der Russen arbeiten. Ich möchte noch dazu bemerken, dass es ein langer Kampf um den Praterstern war. Die Tiefflieger erschossen auch einige Pferde, 2 wurden gestohlen, nur ein gelähmtes Pferd sowie einige Ziegen, Hühner und Hasen blieben uns erhalten. Ich wurde gefragt, ob ich das Riesenrad brennen gesehen habe. – Ich habe so riesige Flammen und schwarzen Rauch gesehen und die große Hitze gespürt. Wenn ich so nachdenke, könnte ich noch viel bemerken – was soll’s! Ein Häuflein Asche blieb allein, da soll ein Prater-Wurstel lustig sein? 1945. Reinprecht Maria vereh. Lindengrün Wien, 10. Februar 1992 Alleininhaberin des 1. Wr. Pony-Karussell.“ Diese berührenden Zeilen zeigen, mit welcher Liebe Frau Reinprecht am Prater und an ihrem Ponykarussell hing. Sie erzählte mir, wie sie ein durch den Bombenhagel verschüttetes Pony mit eigenen Händen lebend aus dem Schutt geborgen hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der durch Bomben und Schützengräben zerstörte Prater, der 1938 in das Eigentum der Gemeinde Wien übergegangen war, durch Privatinitiativen, wie schon erzählt, wieder aufgebaut.
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6. Station: Am Kratky-Baschik-Weg – die Familien Sittler und Koidl Ich schiebe mein Rad zum nahen Calafattiplatz. Hier stehen zwei überlebensgroße Figuren. Die eine ist der „Große Chinese“ des Basilio Calafati, die andere Figur ist die Fortuna, die dereinst beim nahen Fortuna-Palast, der im Krieg ein Raub der Flammen wurde, gestanden ist. Beide sind Nachbildungen aus Kunststein um 1965–67 durch die Künstlerin Pompe-Niederführ. Die Originale sind 1945 beim „Kampf um Wien“ von Bomben zerstört worden. Am Sockel des „Großen Chinesen“ steht allerdings fälschlich „Calafati“, obwohl dies der Name seines Erfinders Basilio Calafati ist, von dem ich schon erzählt habe. Der österreichische Sänger Peter Cornelius vergleicht sich in seinem Lied aus dem Jahre 1978 mit dem „Großen Chinesen“, dem ehemaligen Mittelpunkt eines Ringelspieles, den er ebenso unrichtig als „Calafati“ anspricht – diese Verwechslung passiert häufig. Es heißt in diesem großartigen Lied u. a.: „Wie da Calafati auf ’m Prater Ringelspü’ steh’ i do und i waß net wie ma gschiecht.“ Direkt am Calafattiplatz führt der Kratky-Baschik-Weg vorbei. Benannt ist dieser Weg nach dem Magier Anton Kratky-Baschik (1821– 1889), der aus Prag stammt. Den orientalisch wirkenden Beinamen Baschik hat er sich selbst zugelegt. Zunächst veranstaltete er Geistervorführungen. Tourneen führten ihn nach Deutschland, England und Amerika. 1862 kehrte er nach Wien zurück und eröffnete 1864 im Prater auf der Feuerwerkswiese sein „Zaubertheater“. 1874 bis 1889 trat er auf dem Areal des späteren Fortuna-Palastes auf. Er gab Geistervorführungen, in seiner Magierhöhle zeigte er „Die schlafende Sylphide“, „Die Teufelsmühle am Wienerberg“ u. a. Er verwendete als erster Geißlersche 75
6. Station: Am Kratky-Baschik-Weg – die Familien Sittler und Koidl
Röhren. Ihm folgte sein Sohn Matthias Kratky-Baschik und diesem Franziska Kratky-Baschik, verheiratetet Pikl. 1911 wurde das Zaubertheater geschlossen. Hier am Kratky-Baschik-Weg steht das Tagada, das Thomas Sittler gehört. Seit 1994 ist dieses bunte, originelle Fahrgeschäft im Eigentum der Familie Sittler. Hergestellt wurde dieses Objekt 1988 in Italien, es kam gleich darauf nach Österreich in den Prater. Zunächst besaß es die Familie Kern, die ebenso eng mit dem Prater verbunden ist wie andere Praterfamilien. Nachdem das Tagada in den Besitz der Firma Sittler übergegangen war, wurde es neu adaptiert. Dabei wurde auf der Fassade der Kopf von Elvis Presley zum Ärger der Sittlers verkehrt gemalt. Als im Winter 2002/2003 die Fassade erneut bemalt wurde, wurde der Kopf dieses großen Musikers in die richtige Form gerückt. Im Jahr 2005 übergaben die Sittlers das Tagada ihrem Sohn Thomas. Das Tagada übt gerade auf jüngere Leute, aber auch auf alte eine besondere Faszination aus. Thomas Sittler freut sich über die Anziehungskraft seines Tagada, welches dem Prater eine weitere Attraktivität verleiht. Gleich beim Tagada befindet sich das Blumenrad von Thomas Sittlers Bruder Stefan Sittler-Koidl, der Karin Koidl geheiratet hat, die ebenso dem Adel des Praters angehört. Es haben sich also zwei noble Leute gefunden – zum eigenen Nutzen, aber auch zum Nutzen des Praters. Angeblich hat sich Stefan Sittler, der es immerhin zum Präsidenten des Praterverbandes gebracht hat, vor dem Blumenrad in seine jetzige Frau Karin verliebt. Man heiratete und teilt seitdem nicht nur einige Fahrgeschäfte des Praters, sondern auch die Namen. Karin Koidls Vater Heinrich hatte in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts das Automatenspiel in den Prater gebracht. Seine Tochter, die als Kind an der Kassa aushalf, dürfte zunächst nicht die Absicht gehabt haben, im Prater ihr Leben zu verbringen, sie absolvierte die Hotelfachschule und zog nach Paris. Als sie wieder einmal den 76
Die Wildalpenbahn und der Praterunternehmer Alfred Kern
Prater besuchte, lernte sie Stefan Sittler kennen. „Nachdem ich Karin kennengelernt habe, habe ich zur Konkurrenz gewechselt“, soll Stefan Sittler-Koidl scherzend gesagt haben, als er ins Geschäft seiner Frau einstieg. Heute betreiben die beiden das Blumenrad mit der romantischen „The Bar“. Aus dem alten Automatencasino haben sie eine Indoor-Hochschaubahn gemacht. Das Ehepaar Sittler-Koidl ist ein ideales Paar, es arbeitet gemeinsam im Prater in seinen Geschäften, es ist glücklich mit vier Kindern, zwei Hunden und einer Katze. Der Prater bestimmt ihr Leben. Die beiden Sittler-Koidls sind echte Praterleute, die glücklich sind, andere mit ihren Fahrgeschäften zu erfreuen. Daher luden sie am 21.4.2010, als der „Eisberg“ am Calafattiplatz eröffnet wurde, Kinder des Kinderdorfes Hinterbrühl ein, in einem schienenlosen Wagen die Eislandschaft der Polarwelt mit Eisbären, Polarfüchsen und Riesenkraken, aber auch die Höhe des Eisberges und die Tiefen des polaren Meeres zu erkunden. Die Sittler-Koidls betreiben auch das „Volare – The flying Coaster“. Von diesem Fahrgeschäft heißt es: „Auf einer Strecke von 420 Meter Länge und 23 Meter Höhe düsen die Fahrgäste mit dem Kopf voran und auf dem Bauch liegend die gesamte Strecke entlang und erleben so das kribbelnde Gefühl des Fliegens.“
Die Wildalpenbahn und der Praterunternehmer Alfred Kern Nicht weit vom „Eisberg“ steht die „Wildalpenbahn“ von Alfred Kern bzw. der Firma „Kern und Waldmann“ (Herr Waldmann ist der Schwiegersohn von Herrn Kern). Sie ist benannt nach dem steirischen Ort Wildalpen, dem Ort, wo die 2. Wiener Hochquellenwasserleitung ihren Ausgang nimmt. Bei der Eröffnung dieser Gebirgsbahn im Prater waren übrigens auch der Bürgermeister von Wildalpen und ein Musikant von dort eingeladen. Mit einem Glas Wiener Wasser aus Wildalpen feierte 77
6. Station: Am Kratky-Baschik-Weg – die Familien Sittler und Koidl
man die Eröffnungsfahrt. Diese Wildalpenbahn führt die Besucher in Rundbooten, die zunächst mit einem Lift in die Höhe befördert werden, weiter auf einer Wasserstraße an Wasserfällen vorbei und durch Tunnels, wobei die Rundboote in Drehung versetzt werden, zu Tal. Die Familie Kern, deren Stammvater Basilio Calafati ist, ist stolz auf diese Bahn. Alfred Kern meint: „Wir sind seit 1890 als Familienunternehmen im Prater tätig, mit Herz und Leidenschaft über fünf Generationen.“11
Der Großvater war Zuckerbäcker, der ein Ringelspiel übernahm Ein schönes Gespräch mit Herrn Alfred Kern, er trägt den Titel Kommerzialrat und war von 1998 bis 2003 Präsident des Praterverbandes, hat mein Freund Franz Josef Mayer geführt. Dafür sei ihm gedankt. Im Folgenden beziehe ich mich auf dieses Gespräch. Der Großvater von Herrn Alfred Kern hieß Emerich Kern, er war Zuckerbäcker in Baden bei Wien. Er hängte seinen Beruf an den Nagel, als er zuckerkrank wurde. Auf der Suche nach einem neuen Beruf sprach er mit seinem Onkel Karl Bart, der im Prater eine Parzelle (Nummer 80) mit einem sich darauf seit circa 1860 befindlichen Ringelspiel besaß. 1895 übernahm Emerich Kern dieses Ringelspiel. Er war begeistert von diesem und dürfte gut mit dem Ringelspiel verdient haben, daher baute er es zu einem Prachtkarussell um. Dieses besaß eine baldachinartige, großzügig verzierte Fassade und eine Kuppeldecke. Dazu kam noch das Schaugeschäft „Fahrt in der Taucherglocke“. Dabei handelte es sich um eine Hütte, die als Dampfschiff mit Rauchfang und Schaufelrädern „verkleidet“ war. Im Inneren dieser waren Bilder vom Meer zu sehen, die den Besuchern das Gefühl vermitteln sollten, sich auf einer Schiffsreise zu befinden. Für die damalige Zeit (1900) war dies eine Weltsensation, der Erfolg war groß. Direkt hinter der „Taucherglocke“ 78
Pioniere des Kinos
befand sich das Wohnhaus der Großeltern von Alfred Kern. Fünf Kinder hatten die Großeltern. Josefine Kern, die Tante von Alfred, heiratete Herrn Stefan Perlmann. Dieser hatte im Karussell von Herrn Karl Bart, welches Emerich Kern übernommen hatte, gearbeitet.
Pioniere des Kinos Herr Perlmann, also der Onkel von Alfred Kern, war ein genialer Mann, er erkannte schon sehr früh die enorme Bedeutung des neuen Mediums „Kino“. Im Lauf der Zeit wurde er zu einem der profiliertesten Experten für Tonfilme. Bereits 1903 wurde die Taucherglocke als Stummfilmkino umgebaut. Das Stummfilmkino war um die Jahrhundertwende das Unterhaltungsmittel schlechthin. Ein Klavierspieler hatte zu den einzelnen Szenen die Begleitmusik zu spielen. Die Gesamtlänge eines Stummfilmes betrug circa 20 Minuten. Das 1903 gegründete Kino Kern wurde 1914 umgebaut und das Karussell in ein Kinotheater umgestaltet. Es wurde so Platz für circa 450 Personen geschaffen. Die Kinositze waren damals noch nicht nummeriert, die Eintrittskarten mussten nach der Vorstellung wieder zurückgeben werden. Da oft gruselige Filme gespielt wurden, erhielt das Kino Kern bald den Beinamen „Blutoper“. Zu diesem Kern-Kino kam bald auch noch das Tegetthoff-Kino am Praterstern dazu. Es handelte sich bei diesem um ein Rundkino, im Obergeschoß befand sich ein Planetarium mit einer sehr teuren Zeiss-Optik. Während des Zweiten Weltkrieges durfte der Herr Stefan Perlmann, also der Onkel von Alfred Kern, nicht in Erscheinung treten, da er Halbjude war. Während dieser Zeit führte der Vater von Alfred Kern die Geschäfte, dazu verwaltete er auch noch das Nestroy-Kino und einige kleinere Kinos in Wien. „Der Vater musste damals zur Partei (NSDAP) gehen, da sonst das Betreiben der Kinos nicht möglich gewesen wäre“, sagt Alfred Kern. Im Jahr 1944 wurde das Kern-Kino von 79
6. Station: Am Kratky-Baschik-Weg – die Familien Sittler und Koidl
einer Bombe getroffen und ist ausgebrannt. Auch das Tegetthoff-Kino wurde getroffen, brannte aber nicht ab. Da es sich bei diesem jedoch um einen Holzbau handelte, trug die Bevölkerung das kostbare Holz des Kinos für Heizzwecke davon – 50 Polizisten, die das Kino bewachten, konnten dies nicht verhindern. Herr Alfred Kern erzählt: „Nach dem Krieg musste mein Vater als ehemaliger Nazi untertauchen, nun trat mein Onkel, der Halbjude, wieder in Erscheinung. Als Halbjude galt er quasi als Kriegsverfolgter und wurde daher als Wiedergutmachung mit der Verwaltung einiger Wiener Kinos betraut (z. B. mit dem Kosmos-Kino, Schwarzenberg-Kino, Weltspiegel), die vor dem Krieg in jüdischem Eigentum gestanden waren und deren Eigentümer geflüchtet sind. Auch nach der Rückkehr des Eigentümers war mein Onkel noch viele Jahre Direktor im Kosmos-Kino. Da nach dem Krieg im Prater alle Kinos zerstört waren, haben sich der Onkel und sein Vater entschlossen, einfache Schaustellergeschäfte im Prater zu eröffnen, wie eine Schleuderbahn und ein Ringelspiel.“
Das Autodrom und die „Fliegen“ 1948 baute der Vater von Alfred Kern gemeinsam mit Herrn Aschenbrenner das Elite-Autodrom auf. An der Halle für dieses Autodrom arbeitete die ganze Familie mit. Sogar alte Nägel wurden von den Familienmitgliedern dafür gerade gebogen. Am 20. März 1948 wurde das Autodrom eröffnet, es war das erste Autodrom nach dem Krieg im Wiener Prater. Dieses Autodrom gibt es heute noch, allerdings wurde es einige Male umgebaut. In der Mitte der Fahrbahn befand sich meist ein Mann, entweder als Clown oder als Dienstmann kostümiert, dessen Aufgabe es war, die Leute anzulocken. Es gab damals zwei Typen. Eine Clownfigur und später einen Dienstmann. Später wurde in der Mitte der Fahrbahn eine fixe Figur, der Adabei, angebracht. 80
Das Autodrom und die „Fliegen“
Typisch für das Autodrom war und ist noch immer der Einsatz der sogenannten „Fliegen“. Das sind junge, hübsche Mädchen, die im Autodrom eingesetzt wurden, um junge Burschen anzulocken und zu einer Fahrt zu animieren. Es ging dabei dem Geschäftsinhaber allerdings nicht nur darum, männliche Gäste anzulocken. Ein leer stehendes Autodrom schreckt erfahrungsgemäß neue Gäste ab, durch ein florierendes Autodrom werden neue Gäste auf das Geschäft aufmerksam. Die „Fliegen“ mussten oft über mehrere Stunden im Auto sitzen, sie konnten nicht aussteigen und aufhören, wann sie wollten. In der Regel betrug ihre Arbeitszeit vier bis fünf Stunden pro Tag. Bedingt durch ihre Lockfunktion haben sie natürlich viele junge Männer kennengelernt, ihre Freunde und Bekanntschaften wechselten daher oft täglich. Diese jungen Mädchen waren in der Regel arbeitslos, hatten viel Zeit, keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Der Kontakt zum Elternhaus bestand in vielen Fällen auch nicht mehr, manchmal wussten sie am Abend noch immer nicht, wo sie schlafen konnten. Manche Burschen haben die schwierige Situation dieser Mädchen natürlich schamlos ausgenützt. Es ist sicher auch vorgekommen, dass eine „Fliege“ aus Geldbeschaffungsgründen zur professionellen Prostituierten wurde, aber generell kann man „Fliegen“ nicht als Prostituierte bezeichnen. Sie sind eher Mädchen mit einem sehr lockeren Lebenswandel. „Fliegen“ arbeiteten in früheren Jahren in nahezu jedem Autodrom. In den 70er-Jahren gab es im Wiener Prater noch acht Autodrome. Neben dem Autodrom errichteten die Kerns noch ein großes Hänge karussell mit Holzpferden und Autos mit 100 Plätzen. Später wurde das Karussell an Herrn Julius Kolnhofer verkauft. An die Stelle des Karussells kam der „Hurrikan“, das erste hochqualifizierte technische Geschäft mit selbst-steuerbaren, pneumatisch auf- und abwärtsbewegbaren Flugzeugen. Heute gibt es diesen Hurrikan nicht mehr. 81
6. Station: Am Kratky-Baschik-Weg – die Familien Sittler und Koidl
Alfred Kern und die alten Schausteller Herr Kern erzählt schließlich über die alten Schausteller, die ihr Gewerbe noch auf Jahrmärkten betrieben. Er selbst fährt mit meinem Nostalgieringelspiel heute noch zu verschiedenen Veranstaltungen. Die alten Schausteller waren auch durchwegs begnadete Rekommandeure, also gute Ausrufer. Auch Herr Alfred Kern versteht dieses Geschäft des Ausrufens. Er meint, dass die echten Schausteller im Prater die Geschäfte ihrer Vorfahren mit Stolz und Ehrfurcht weiterführen, auch wenn heute der Gewinn nicht mehr sehr groß ist. Der Vater von Alfred Kern ist 1952 gestorben. Seine Tante, Frau Jose fine Perlmann, der Onkel war auch schon tot, fragte im Jahre 1965 Alfred Kern, ob er ihr bei ihrer Arbeit im Prater, sie war auch schon 75 Jahre alt, helfen könne. Alfred war bis dahin in der Textilbranche in Oberösterreich tätig. Da er ahnte, dass es mit der Textilbranche abwärtsging, sagte er zu, im Prater bei der Tante zu arbeiten. Zu dieser Zeit betrieben die beiden vier Schaustellergeschäfte. Heute sind es fünf, allerdings baut Alfred Kern ganz im Sinne der reisenden Schausteller auch außerhalb des Praters Fahrgeschäfte auf. So steht sein Nostalgie ringelspiel jedes Jahr zu Weihnachten am Karlsplatz. Für Alfred Kern gehört ein Karussell zum Gesamtbild des Praters, genauso wie das Autodrom, die Geisterbahn, die Hochschaubahn, die Liliputbahn, die Grottenbahn, aber auch der Gurkerlhändler und der Zuckerwatteverkäufer. Da einige Praterunternehmer mehrere Geschäfte betreiben, werden die traditionellen Schaugeschäfte von den gewinnbringenden Geschäften mitgetragen. Extrem wichtig ist für Alfred Kern die Vielfalt des Angebots. Nach seiner Schätzung kommen circa 50 Prozent der Praterbesucher aus Wien, circa 20–25 Prozent sind Touristen, der Rest kommt aus den Bundesländern. Genaue Untersuchungen bezüglich der Besucheranzahl 82
Die Firmungen – der Stephansdom und der Prater
gibt es nicht, aber man kann davon ausgehen, dass circa drei Millionen Besucher pro Saison – von März bis Oktober – in den Prater kommen. Da sind aber auch jene Besucher dabei, die nur durch den Prater spazieren und nichts konsumieren. Auch die sind notwendig, da auch sie dazu beitragen, die ganze Praterfläche optisch lebendig aussehen zu lassen. Noch vor zehn Jahren waren die besten Besuchertage Samstag und Sonntag, durch den Einkaufssamstag ist der Samstag aber sehr schwach geworden.
Die Firmungen – der Stephansdom und der Prater Zu den Firmungen, die zum Leben im Prater gehörten, erwähnt Herr Kern, dass früher circa 20 Firmungen pro Jahr im Stephansdom durchgeführt wurden. Jeder, der es sich nur irgendwie leisten konnte, hat versucht, sein Kind im Stephansdom firmen zu lassen. Das Einzugsgebiet der Firmungen in Wien erstreckte sich über Niederösterreich, Oberösterreich und Burgenland. Die Tage, an denen im Stephansdom gefirmt wurde, waren für die Praterunternehmer die Supertage schlechthin. An diesen Tagen hatte Herr Kern sechs Kassiere im Autodrom, heute ist es einer. Ein Besuch des Praters war neben der Uhr und einem Luxusluftballon das Hauptgeschenk jeder Firmung. Das Firmungsgeschäft ist leider schon seit Jahren vorbei. Jetzt gibt es nur mehr wenige Firmungen im Stephansdom, denn heutzutage wird schon in jeder kleinen Pfarre in den Bundesländern gefirmt. Dadurch fällt der Besuch des Praters aus. Stephansdom und Prater gehörten also zusammen. Herr Kern liebt den Wiener Prater, er ist der älteste Vergnügungspark der Welt. In keinem Land der Welt gibt es im Zentrum der Stadt ein so großes Vergnügungszentrum mit solch großer Tradition und Vielfalt der Schaustellergeschäfte. Man kann den Prater in all seiner Vielfalt genießen, ohne dafür zu bezahlen. In den modernen Themenparks am 83
6. Station: Am Kratky-Baschik-Weg – die Familien Sittler und Koidl
Abb. 7: Praterbesuch der drei Girtler-Buben am Tag ihrer Firmung, 1954.
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Die Firmungen – der Stephansdom und der Prater
Rande der Großstädte ist eine relativ hohe Eintrittsgebühr zu bezahlen, daher beginnt mit dem Eintritt sofort eine Vergnügungshektik, da ja der Eintrittspreis „hereingespielt“ werden soll. Alles ist auf schnelle Konsumation aufgebaut. Das gibt es im Prater nicht. Die breite Streuung der Schaustellergeschäfte ist einmalig auf der ganzen Welt. Der Prater deckt die Wünsche der Bevölkerung von 5 bis 100 Jahren ab. Auch ältere Besucher fahren mit der Geister- oder Grottenbahn und erinnern sich so an ihre Kindheit. Durch die einmalige Lage des Praters im Erholungsgebiet grüner Prater werden zusätzlich auch Sportler, Spaziergänger und Erholungssuchende angesprochen. Am Ende des Gesprächs meint Herr Alfred Kern weise: „Der Wiener Prater ist über Jahrhunderte gewachsen und hat sich stets nach den Wünschen seiner Besucher weiterentwickelt und dadurch sein Aussehen dem Lauf der Zeit angepasst, ohne sein einmaliges Gesamtbild zu verlieren. Das Aussehen des Praters mag vielleicht in Zukunft von Menschenhand weiter verändert werden, die irrsinnig breite Palette an verschiedensten Unterhaltungsmöglichkeiten macht ihn jedoch einmalig und hoffentlich unsterblich.“
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7. Station: Die Schießbude des Nikolaj Pasara – Mannbarkeitsrituale Zu den klassischen Geschäften des Praters, wie auch jedes Jahrmarktes, gehören die Schießbuden, in denen es vor allem darum geht, Kunstblumen, früher waren es Papierblumen, dadurch zu erwerben, dass man mit einem Gewehr das Röhrchen, in dem die gewünschte Blume steckt, trifft. Neben dem „Eisberg“ befindet sich die Schießbude von Nikolaj Pasara, des Freundes der Sittler-Burschen und Urenkels des Rumpfmenschen Kobelkoff. Er ist stolz auf seine Schießbude an der Ausstellungsstraße, gleich neben dem Eisberg, aber auch auf die Leute, die in dieser arbeiten. Er erzählt dazu: „Ich besitze nur eine Schießbude. Wir sind die Einzigen, deren Rosen, auf die man schießt, aus Krepppapier sind, wir stellen sie selber her. Das gibt es im ganzen Prater sonst nicht mehr.“ Es ist spannend, das Leben bei dieser Schießbude und überhaupt bei Schießbuden, von denen es einige im Prater gibt, zu beobachten. Die Burschen, die das Gewehr laden und die geschossene Blume dem Schützen bringen, unterhalten durch Scherze die Vorbeigehenden und versuchen, sie zu bewegen, stehen zu bleiben und einen Schuss zu wagen. Oft sind diese Burschen Gelegenheitsarbeiter, sie gehören zum Leben im Prater. Sie wissen von der Eitelkeit der jungen Herren, die ihren Mädchen ihre Schießkünste präsentieren. Die Mädchen freuen sich über die Rosen, die ihnen von den wagemutigen Schützen überreicht werden – als freundliche Liebesbotschaften. Das Beweisen der Schießkünste – oder der eigenen Kraft bei diversen Kraftmaschinen im Prater – erinnert an alte Mannbarkeitsrituale, bei denen junge Burschen ihre Fähigkeiten gegenüber ihren Altersgenossen und vor allem gegenüber den Mädchen demonstrieren. Ich selbst tat gerne bei solchen Aktionen 87
7. Station: Die Schießbude des Nikolaj Pasara – Mannbarkeitsrituale
mit und freute mich über gute Schüsse samt den dabei eroberten Blumen, die ich eventuell mit Handkuss meiner damaligen Freundin Birgitt, mit der ich inzwischen 52 Jahre lang verheiratet bin, weiterreichte. Ich schieße jetzt noch gerne vor allem Rosen aus Krepppapier. Manche bringe ich nach Hause. Manche Rose ziert den Lenker meines Fahrrades. Blumen aus dem Prater behalten diese Stätte des Vergnügens und der Freude in bester Erinnerung.
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8. Station: Lachkabinett und Watschenmann Josef Hader taucht auf Weiter geht die Radtour. Beim Lachkabinett mache ich halt. Hier erwartet mich Andreas Schaaf, auch ein Herr aus altem Adel des Praters. Über seinen Vorfahren Alexander Schaaf habe ich schon berichtet. Andreas Schaaf, 1967 geboren, ist bereits Großvater. Vater des Kindes seiner Tochter ist Thomas Sittler. Der Sohn der beiden trägt den Namen Oscar, wie der aufmerksame Leser dieses Buches weiß. Zunächst zeigt mir Andreas Schaaf den alten Watschenmann, der im Eingangsbereich des Lachkabinetts hinter Glas zu bewundern ist. Dieser Watschenmann schaut ziemlich ramponiert aus, vielleicht ist es jener Watschenmann, von dem mir meine Mutter erzählt hat, dass sie an diesem als Studentin bei ihren Praterbesuchen in Begleitung meines Vaters die Kraft ihrer Watsche bzw. Ohrfeige gemessen hat. Andreas Schaaf meint, es gebe zwar mehrere Watschenmänner, aber dieser sei der originale, er sei ca. 130 Jahre alt. Dieser Watschenmann, der nun „in Pension“ ist, wie Andreas meint, hat viel mitgemacht, nicht nur die Watschen vieler Praterbesucher, sondern auch Malträtierungen durch russische Soldaten während der Besatzungszeit. Er soll auf einem Schießübungsgelände als Ziel verwendet worden sein. Er wurde dann wieder repariert und stand bis 1993 vor dem Lachkabinett. Ohrfeigen könne man ihn jetzt nicht mehr, aber betrachten. Es gab übrigens bis in die 70er-Jahre eine satirische Radiosendung im österreichischen Rundfunk, die sich nach dem Watschenmann im Prater „Watschenmann“ nannte. In dieser wurden politische und andere Themen auf das Korn genommen und „abgewatscht“, also kritisiert. 89
8. Station: Lachkabinett und Watschenmann
Mein Fahrrad lasse ich im Lachkabinett, das Andreas Schaaf mit einem Rollbalken absperrt, und gehe mit ihm in das klassische Prater-Gasthaus „Zum englischen Reiter“. Der würdige Ober begrüßt uns freundlich. Wir bestellen uns je einen Tee. Andreas erzählt mir von seiner Mutter Evelyne, einer geborenen Schaaf. Sein Ziehvater war Herr Hubert Dostal, der einige schöne und wegen ihrer kühnen Buntheit auffallende Objekte, wie den Clownkopf, Space shot, Domino und Boomerang unweit des Lachkabinetts sein Eigen nennt. In den 60er-Jahren sei Herr Dostal, den Andreas sehr schätzt, als Schneider in den Prater gekommen. Eine Zeit lang war er der Freund seiner Mutter. Wir reden über die Beziehung von Andreas zum Prater. Andreas erklärt mir, wie er am Prater hänge, er gehöre zum Prater. Daher verlässt er nur äußerst selten den Prater. An schönen Tagen befinde er sich von 10 Uhr bis 24 Uhr im Geschäft. Er wolle sich auch von niemandem vertreten lassen, außer von seiner Frau. Zur Schule ist Andreas, wie die Sittler-Buben, in der Wittelsbachgasse gegangen. Er nennt sich auch einen echten Wittelsbacher, wie die Sittler-Buben. Er erzählt aber auch von seinem Lachkabinett, das mit seinen vielen den Betrachter verzerrenden Spiegeln, Irrwegen und Hindernissen auf eine alte Geschichte zurückblicken kann. In einer Zeitung sei einmal gestanden, dass es im Lachkabinett spuke, der Zauberer Kratky würde dort erscheinen. Aufgrund dieser Meldung seien viele Leute in das Lachkabinett gekommen, in der Hoffnung den spukenden Zauberer zu sehen. Einige dürften ihn tatsächlich gesehen haben. Während unseres Gesprächs kommt Thomas Sittler, der Vater von Oscar, dem Enkel von Andreas Schaaf. Er setzt sich uns. Er erzählt von seinem prächtigen Ringelspiel am Calafattiplatz, das aus dem Jahre 1912 stammt. Wir reden über die Familienverhältnisse der Praterleute. Verwandt und verschwägert sind wohl die meisten untereinander. Wir zahlen unsere Zeche, Andreas Schaaf lädt mich großzügig ein. Eigentlich wollte ich die beiden einladen. Thomas meint: „Wir 90
Josef Hader taucht auf
raterleute laden gerne unsere Freunde ein!“ Wir verlassen den „EngP lischen Reiter“. Wir spazieren in Richtung „Wilde Maus“. Vor diesem stehen Leute eines Filmteams. Wieder einmal dient der Prater als Filmkulisse. Es soll in diesem Film um einen arbeitslosen Ehemann gehen, der seine Zeit im Prater verbringt, aber seiner Ehefrau vormacht, er habe in dieser Zeit eine Arbeit. So oder ähnlich soll der Inhalt des Filmes sein, von dem einige Szenen hier im Prater gedreht werden. Aus der „Wilden Maus“ tritt der Hauptdarsteller Josef Hader, Kabarettist und Schauspieler. Als er mich sieht, begrüßt er mich freundlich, wir kennen uns aus seiner Studentenzeit – er hat, wie er erzählt, eine Lehrveranstaltung bei mir besucht –, aber auch sonst begegneten wir einander. Jedenfalls freuen wir uns, einander zu sehen. Josef Hader begrüßt auch Thomas Sittler, er kennt ihn von den Besuchen mit seinem Sohn Florian im Prater, bei denen sie auch das Tagada von Thomas Sittler am Calafattiplatz aufsuchten. Thomas Sittler ist es stets eine Ehre, wenn die beiden sein Tagada aufsuchen. Morgen würde das Filmteam auch vor dem Tagada drehen. Darüber freut sich Thomas. Freundschaftlich verabschieden wir einander. Jeder geht seines Weges.
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9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne Nicht weit vom Lachkabinett treffe ich den Prater-Heinzi. Wir gehen ein Stück zusammen. Beim Lachkabinett der Familie Schaaf war auch der Arbeitsplatz vom Prater-Heinzi, den ich durch Milan Brantusa kennengelernt habe. Wir setzen uns ins Schweizerhaus. Er nimmt sich Zeit, mir aus seinem Leben zu erzählen. Der sympathische Mann ist ein Original mit Witz und Charme. Er ist für mich der klassische Vertreter der Hutschenschleuderer und Rekommandeure des Praters, also jener Leute, die andere animieren, eines der Fahrgeschäfte zu besuchen oder sich auf ein Spiel einzulassen. Der Prater-Heinzi ist eine Berühmtheit im Prater, er kennt den Prater seit Jahrzehnten wie kein Zweiter. Wir setzen uns an einen runden Tisch beim Eingang des Gastgartens. Mein Rad stelle ich um die Ecke ab. Der Prater-Heinzi ist ein schlanker, mittelgroßer Herr mit blauen Augen und gelocktem weißem Haar. Der Kellner bringt jedem einen Apfelsaft. Ich frage den Prater-Heinzi, ob er gerne Wein trinkt, ich habe ihm einen mitgebracht. Er meint, sehr gerne sogar. Wir kommen auf Ringelspiele im Prater zu sprechen. Wir beide betonen, mit solchen nicht zu fahren, denn es würde uns übel werden durch die Drehungen. Er betont: „Mir ist immer schlecht geworden beim Ringelspül.“ Nun beginnt der Prater-Heinzi zu erzählen: „Ich bin ein 43er-Jahrgang. Wegen meiner blonden Locken, heute sind sie weiß, haben die Leute gemeint, ich wäre ein Madl. Wenn man ein Foto von mir vom 46er-Jahr anschaut, glaubt man wirklich, ich bin a Madl. Jö, was für ein schönes Madl, haben die Leute gesagt, wie sie mich gesehen haben. 93
9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne
Mein Name ist Heinrich Holub. Ich bin der Prater-Heinzi! Ich werde nun erzählen, wie ich in den Prater gekommen bin! 1958 wurde ich Lehrbub in Hernals in der Beheimgasse 32, in der Ersten österreichischen graphischen Maschinenfabrik Georg Koll und Sohn. Geboren bin ich in Hernals und dort auch aufgewachsen. Während des Sommers war ich die meiste Zeit jedoch in Klosterneuburg bei meiner Großmutter, die in Kierling einen schönen Garten gehabt hat. In den Prater bin ich wegen Geldmangels gekommen. Ich hatte damals als Lehrbub vier Wochen Urlaub, das war 1961. Zu dieser Zeit habe ich einen Freund gehabt, er war auch Lehrbub. Ich habe ihn gefragt: ‚Hörst, weißt du nicht, wo man sich etwas Geld verdienen kann?‘ Ich wollte damals den Führerschein machen, habe aber nur 70 Schilling in der Woche verdient, das war zu wenig. Mein Freund, er hat im 2. Bezirk nicht weit vom Prater gewohnt, hat zu mir gesagt: ‚Geh in den Prater, irgendwer braucht immer irgendjemanden, der ihm hilft.‘ So war das! Dann bin ich in den Prater gegangen, und zwar an einem Freitag auf d’ Nacht, am letzten Arbeitstag. Auf diese Weise bin ich zum Schaaf Hannes gekommen, der mich zu einem Spiel mit der Zielrinne verleiten wollte, über das ich später noch erzählen will. Ich habe zum Hannes Schaaf gesagt, dass ich nicht spielen will. Das war der Beginn meines Praterlebens. Weiter habe ich zum Schaaf Hannes, der mich zum Spiel mit der Zielrinne animieren wollte, gesagt: ‚Ich habe kein Geld mit, ich suche eine Arbeit.‘ Der Schaaf hat geantwortet: ‚Ja, der Vater sucht eh für morgen einen, der ihm hilft. Bei dem, der jetzt da ist, hört die Urlaubszeit auf, er muss wieder zurück zu seiner Arbeit. Jetzt hat er mich seinem Vater, dem Alexander Schaaf vorgestellt. Der hat gesagt, ich solle morgen kommen, um 14 Uhr am Samstag. Ich habe mir gedacht, ich komme lieber statt um 14 Uhr schon um 13.30 Uhr. Außer mir hat sich noch jemand anderer vorgestellt. Der ist aber zu spät gekommen. Ich war aber früher dort, daher hat der Schaaf mich genommen, ist eh klar. Ich habe mir gedacht, 94
9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne
drei Wochen habe ich Urlaub, jetzt mache ich einmal zwei Wochen. Ich habe ja nicht gewusst, was er mir zahlt. Meine erste Aufgabe war, Leute über einen Laufteppich so zu führen, dass sie nicht niederfallen. Das war im alten japanischen Vergnügungspalast, dort wo jetzt das Calypso steht. Dort gab es unten ein Förderband. Bei diesem war ein Geländer. Wenn die Leute sich an diesem angehalten haben, so sind sie gefallen, denn das Förderband ist mit den Füßen weiter gelaufen. Ich musste die Leute führen, damit sie sich nicht anhalten. Viele sind gestürzt. Wenn Leute weiß angezogen waren und es sie auf den Hintern gehaut hat, war ihr Hintern schwarz. Ich habe die Leute also halten müssen, dass es sie nicht hinhaut. Der Schaaf hat mir dafür pro Tag 80 Schilling gegeben. Das war viel für mich, denn als Lehrbub habe ich in der Woche nur 80 Schilling verdient. Und der hat mir am Tag so viel gegeben. 10 Stunden habe ich gearbeitet. 8 Schilling hat er mir in der Stunde gegeben. Das war damals viel Geld. 560 Schilling habe ich in der Woche verdient. So viel hat damals für gewöhnlich ein Monteur verdient. Ich war aber Aushilfskraft. Außenstehende haben mich wegen meiner Tätigkeit im Prater als Hutschenschleuderer bezeichnet. Als ich beim Bundesheer in der Heeresnachschubkompanie, also bei der Versorgung, eingerückt war, sind wir als Rekruten nach Berufen eingeteilt worden. Hätte ich damals, als man mich gefragt hat, was ich von Beruf bin, gesagt, ich bin Elektromechaniker, wäre ich in die Werkstätte gekommen. Ich habe aber gesagt, ich bin vom Prater – mich haben damals ohnehin viele vom Prater her gekannt. Darauf hat der Spieß zu mir gesagt: ‚Ah, das ist der Hutschenschleuderer.‘ So hat man früher zu den Praterarbeitern gesagt. Als ich gesehen habe, dass ich beim Schaaf so viel verdiene, habe ich gleich drei Wochen durchgearbeitet, und zwar die letzten beiden Juliwochen und die erste Augustwoche. Die vierte Woche habe ich mir als Urlaub vergönnt. Nachher musste ich dann weiter in meinem Be95
9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne
ruf arbeiten, denn ich musste meine Lehrzeit beenden. Der Alexander Schaaf hat zu mir gesagt, weil ich so tüchtig sei, könne ich jeden Samstag und Sonntag kommen. Er hat gesehen, dass ich nicht faul bin. Bis Ende Oktober ging die Saison, dann haben sie während des Winters zugesperrt. Im 62er-Jahr im März habe ich die Facharbeiterprüfung in der Firma Elin gemacht. Mein Vater war Betriebsleiter auf einem Schiff bei der DDSG. Er war dort leitender Ingenieur. Ich komme also aus einer technischen Familie. Den Führerschein hatte ich schon vor der Prüfung gemacht. Mit dem Auto meines Vaters bin ich, um einizudrahn [anzugeben, Anm. d. Verf.], in die Firma gefahren. Ich habe dann in der Firma gekündigt, ich musste die Kündigungszeit abwarten. Und am 2. oder 3. Mai 1962 habe ich für immer im Prater angefangen, beim Schaaf! Die Schaafs haben mich nun fix angemeldet, vorher war ich ja nur Taglöhner bei ihnen. Dann hat der Schaaf gesehen, dass ich noch andere Talente habe und dass ich mehr kann, als die Leute bloß über das Laufband zu führen. Inzwischen von 1961 auf 1962 ist das Lachkabinett umgebaut worden. Das alte hat man weggerissen, nun ist das große Calypso Lachkabinett gebaut worden. Seit dem 62er-Jahr ist dieses in Betrieb. Da der Schaaf von meinen Talenten überzeugt war, machte er mich zum Rekommandeur, das ist der, der die Leute animiert, herein in das Lokal zu kommen oder irgendwo einzusteigen, in die Geisterbahn oder Ähnliches. Ich täte das heute auch noch gerne. Wenn ich bei Milans Grottenbahn vorbeigehe, und da sitzt die Astrid Schaaf bei der Kassa, da sage ich zu den vorbeigehenden Leuten, ich habe schon meinen Schmäh: ‚Niemand muss zu Fuß gehen, alles funktioniert. Ihr könnt’s gleich mitfahren! Keiner muss zu Fuß gehen!‘ Solche Sprüche sind mir eingefallen, die ich dann laufend wiederholt habe. Gerne habe ich den Leuten, wenn sie unschlüssig herumgeschaut haben, bloß zugerufen: „Alles funktioniert!“ (Er lacht). Ah, das ist schön, denken sie sich. Früher hat der 96
Der Trick mit der Zielrinne
Schaaf die Leute selbst hereinrekommandiert. Da er nun ein bisserl eine Freizeit wollte, habe ich das für ihn gemacht. Ich habe gesehen, wie die anderen Rekommandeure es machen, habe es nachgemacht und einiges verbessert. Sonst wäre ich nicht so lange dort geblieben. Die Leute früher waren leichter zu begeistern. Das geht heute nicht mehr so. Wenn die Eltern mit den Kindern bei mir vorbeigekommen sind, habe ich ein Kind bei der Hand genommen und bin mit ihm zu den Lachspiegeln, die links und rechts beim Eingang hingen. Der eine Spiegel hat einen klein gemacht, der andere dick, verzerrt also. Ich habe das Kind zu einem der beiden Spiegeln gestellt und gesagt: ‚Jetzt schau dich da an.‘ Ha, ha, haben die Kinder gelacht, wie eben die Kinder sind. Dann war es schon leiwand. So habe ich ganze Familie in das Lachkabinett gebracht. Ich habe zum Beispiel zum Vater gesagt: ‚Geh, schau Papa, die Kinder wollen ja auch etwas sehen. Die freuen sich schon den ganzen Tag drauf.‘ Der Vater hat sich darauf erweichen lassen und ist nun mit den Kindern in das Lachkabinett gegangen.“ Ich füge hinzu: „Solche Typen wie du sind leider schon ausgestorben im Prater, es gibt sie heute kaum noch.“ Der Prater-Heinzi nickt und erzählt weiter: „Als Hutschenschleuderer bin ich also 1962 zum Bundesheer gekommen. Echte Hutschenschleuderer, die einen mit der Schaukel hinauf geschossen haben, die gibt es ja nicht mehr. Im Prater hat es ein paar geben, bei den reisenden Schaustellern gibt es vielleicht noch ein paar. Es gibt für Kinder noch solche. Die alten Hutschen sind ja rundherum gegangen. Beim Überschlag waren sie angeschnallt.“
Der Trick mit der Zielrinne „Nach dem Bundesheer bin ich wieder zurück in den Prater. Damals ist der Schaaf Hannes abgesprungen. Nun musste ich an seiner Stelle die 97
9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne
Zielrinne übernehmen. Original heißt das Spiel ‚Chinesische Haarnadel‘. Das Spiel mit der Zielrinne ist ein Zockerspiel. Eine solche Zielrinne besitze ich noch. Es ist ein interessantes Spiel, bei dem ich viele Leute arm gemacht habe. Damals war das Spiel nicht verboten. Heute würde man verhaftet werden wegen eines solchen Spiels. Einer hat zu mir gesagt, mit diesem Spiel haben die Römer schon die Christen hineingelegt, vor zweitausend Jahren. Es ist ein brutales Spiel. Bei dem Spiel muss man einen guten Schmäh haben, um den anderen zu bedienen, also zu betrügen. Es ist wichtig bei diesem Spiel, dass man (als Spielleiter) dauernd redet. Dieses Spiel besteht aus einem Holzbrett, in dem eine schön verchromte Eisenschiene eingelegt ist. In der Mitte dieser Schiene sind Wellen. Auf dieser Schiene wird nun ein kleines K ugerl gestoßen, es läuft zunächst glatt, dann kommen die Wellen. In der Mitte dieser gibt es den 12er. Der war so fein, dass die Kugel bei dem fast nie stehen geblieben ist. Das hat keiner gesehen, dass es so fein gemacht ist. Vor dem 12er war ein 11er usw. So war es. Zu den Vorbeigehenden habe ich gesagt: ‚Kommt her, anschau’n ist gratis.‘ So habe ich die Leute herangezogen. Dann habe ich ihnen das Spiel vorgeführt, ich konnte es ja, denn ich hatte einen Trick, damit die Kugel beim 12er stehen bleibt. Wie der Hannes Schaaf noch mitgetan hat, haben wir zwei Zielrinnen gehabt. Der Hannes hatte eine und ich eine. Wenn die Leute dann vom Lachkabinett heruntergekommen sind, sind sie an mir und dem Schaaf Hannes, dem Buben vom Alexander Schaaf, vorbeigegangen. Der Hannes war in meinem Alter, vielleicht um 2 Jahre jünger als ich. Einmal sind drei Schweizer bei uns vorbeigekommen, wir waren aber nur zu zweit, daher musste der dritte Schweizer zuschauen. Wir haben die zwei arm gemacht. Der Hannes hat dem einen ca. 180 Franken abgenommen. Und ich dem anderen auch so viel. Der eine hat von mir eine Armbanduhr rein von Gold bekommen. Für den anderen habe ich keine Uhr mehr gehabt. Standuhren aus Porzellan hatten wir aber, die 98
Der Trick mit der Zielrinne
waren aber kaputt, sie waren ostdeutsche Fabrikate. Mit schönen Zifferblättern und einem springenden Hengst. Wir haben nun dem zweiten Schweizer eine kaputte Uhr gegeben, uns ist nichts anderes übrig geblieben. Der Schweizer hat das gemerkt und gesagt: ‚Die got do nit (die geht doch nicht), da schepperts do.‘ Darauf habe ich gesagt mit Schweizer Akzent: ‚Das ist die Automatik.‘ Darauf sagt der dritte Schweizer: ‚Das gibt es aber nicht, ich bin ja selbst Uhrmacher.‘ Sag ich: ‚Das ist eine dütsche Uhr, die Dütschen sind technisch voran.‘ (Er lacht.) So war das damals! Die Schweizer haben verwundert geschaut. Wir haben die Uhr schön eingepackt in Zeitungspapier. Ich habe dem Schweizer gesagt: ‚Das müsst du schön tragen unter dem Arm und so nach Hause gehen. Und wenn du zu Hause bist, dann geht die Uhr wieder.‘ Die Schweizer haben das geglaubt und sind mit der Uhr gegangen. Ich hoffe, sie sind nicht mehr böse auf mich. Die meisten Leute haben mit meinem Schmäh Freude gehabt, überhaupt wenn sie etwas gewonnen haben. Hier und da hat es schon Reklamationen gegeben, aber eine wirkliche Anzeige nicht. Heute zieht der Schmäh von damals nicht mehr. Es gab aber auch noch das Deckelablegen. Man musste fünf Platten so fallen lassen, dass ein Kreis komplett verdeckt war. Dann hat man gewonnen. Eigentlich hat man bei diesem Spiel keine Chance gehabt. Am leichtesten hat man sein Geld mit der Zielrinne verdient. Ich habe dauernd geredet, daher sind die Leute geblieben. Ich habe zum Beispiel gesagt: ‚Jetzt ist die Kugel wieder etwas zu weit gerannt, so ein Pech!‘ Oder: ‚Nicht so stark!‘ Wenn jemand zu wenig angetaucht hat, habe ich gesagt: ‚So schwach aber nicht.‘ So hat mancher 200 oder 300 Schilling bei mir gelassen. Das war ja ein Geld, jeder Schuss 3 Schilling. Diese Spiele gibt es heute nicht mehr. Vielleicht täte es heute wieder funktionieren, aber die Leute sind heut zu verwöhnt. Wir haben damals Armbanduhren ausgespielt, die wir billig am Mexikoplatz eingekauft ha99
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ben. Eine hat 60 Schilling gekostet. Der erste Preis bei der Ziellinie war ein Radio, das hat eh keiner gewonnen, denn die Kugel ist nicht beim 12er stehen geblieben, oder höchst selten. Pro Schuss mussten die Leute 3 Schilling zahlen. Die Armbanduhr haben wir so hingelegt, dass der Spieler auf sie geschaut hat und dadurch angeregt war, weiterzuspielen. Die Uhr ist rein von Gold, haben wir gesagt. (Er lacht.) Die Leute haben das aber anders aufgefasst, sie haben geglaubt, die Uhr ist wirklich von Gold, dabei war sie nur rein von Gold, also ohne Gold. Es war ja kein Gold drinnen, aber ausgeschaut haben sie so, also ob sie aus Gold sind. Die Uhren haben sogar einen Datumsanzeiger gehabt. Einmal habe ich die Uhr jemanden vorgeführt. Das war beim Eingang ins Lachkabinett. Als ich das Uhrband weggebe und die Uhr umdrehe, ist das Werk aus der Uhr gefallen. Ich habe dazu gesagt: ‚Und so geht es, die Uhr zu reinigen.‘ Ich habe die Uhr gleich wieder zugemacht. So etwas muss einem einfallen. Einmal habe ich einen Schweizer bedient [betrogen, Anm. d. Verf.], er hat 200 Franken verspielt. Und ein anderer hat eine ganze Anzahlung für einen Traktor bei mir gelassen. Das waren damals 7000 Schilling. Ich habe das letzte Mal mein Spiel am 3. August 1980 offen gehabt. Dann habe ich es eingestellt. Die Leute haben mich ja alle schon gekannt und wollten sich auf kein Spiel mit mir einlassen. Ich habe kein Geschäft mehr gemacht. Die Leute haben einen Bogen um mich gemacht. Vorher hatte ich gut verdient. Ich war ein echter Profi. Ich habe bereits in der Früh mit der Zielrinne angefangen. Die meisten haben im Prater erst zu Mittag aufgemacht, da hatte ich schon 1500 Schilling eingenommen. Das Geld hat ja nicht mir gehört. Der Herr Schaaf hat mir ein Drittel von dem Geld, das ich eingenommen habe, gegeben. Das war ein schönes Geld. Von dem Geld habe ich mir einen Grund gekauft, ein Haus und ein Auto. Geheiratet habe ich 1973. Meine Frau stammt auch von einer Schaustellerfamilie, einer italienischen. Kennengelernt haben wir uns am europäischen Schaustellerkongress in Wien 100
Der Trick mit der Zielrinne
im Jahr 1972. Von meinem Onkel habe ich etwas Italienisch gelernt, daher konnte ich mit meiner Frau sprechen. Meine Frau hat kein Wort Deutsch gekonnt. Einen Sohn haben wir, der allerdings kein Talent für den Prater hat. Meine Frau konnte zu Hause bleiben, ich verdiente genug. Sie stammt aus Padua, sie hat drei Schwestern. Die jüngste ist im Lunapark in Bibione, die hat auch ein Schaustellergeschäft, sie hat es vom Vater übernommen. Sie haben einen großen Verkaufswagen. Während des Sommers verkaufen sie Getränke und Süßigkeiten. Alles Mögliche haben sie, ein schönes Geschäft ist das. Von Mitte Mai bis Mitte September stehen sie in Bibione. Die Eltern meiner Frau besitzen auch einen Schaukeldampfer, drei Kinderringelspiele und ein Trampolin, alles in Bibione. Sie ziehen aber mit ihren Sachen auch herum. Das ist harte Arbeit. Im Prater ist es leichter. Die Reisenden müssen immer Auf- und Abbauen. Das fällt im Prater weg.“ Der Prater-Heinzi erzählt weiter: „Dieses Spiel mit der Zielrinne ist später eingestellt worden. Es hat keiner mehr gemacht. Ganz Österreich ist durch dieses Spiel bedient worden. Es gab auch den Kübel mit den Holzkugeln. Das war auch eine linke Hacken [ein Schwindel, Anm. d. Verf.]. Der, der das vorgezeigt hat, hat eine Kugel drinnen gelassen, dadurch ist die Kugel, die er hinein geworfen hat, drinnen geblieben, denn sie ist durch die andere Holzkugel abgedämpft worden. Ganz selten ist eine Kugel, die man in den leeren Kübel geworfen hat, geblieben. Wenn wir im Winter auf Jahrmärkte gefahren sind, haben wir diese Spiele mitgebracht. Im Winter war ja der Prater geschlossen. Wir aber mussten Geld verdienen, wir mussten ja weiterleben. So war es damals. Wir waren angestellt, auch während des Winters waren wir weiter angemeldet. Im Winter habe ich 300 Schilling in der Woche bekommen. Der Schaaf und ich sind mit einem VW-Bus, dann mit einem Fiat-Bus herumgefahren. Ich hatte ein Tischerl mit, einen Meter mal einen halben Meter. Auf diesem lag die Zielrinne. Auf einem anderen Tisch stan101
9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne
den die zwei Kübeln, die wir auch mithatten. Der Herr Schaaf hatte die Konzession für diese Spiele, daher musste er immer mitfahren. Außer mir war noch einer mit, der ebenso ein Spiel betrieben hat. Manchmal sind wir sogar zu viert gewesen. Das Weiteste, wohin wir gefahren sind, war Horn und Langenlois. Die Jahrmärkte gibt es überall, heute verkaufen sie Geschirr und Socken oder so etwas. 2004 bin ich in Pension gegangen. Ich habe den Wandel des Praters miterlebt. Früher, wenn die Leute ins Stadion gegangen sind, waren viel mehr zu Fuß im Prater unterwegs als heute. Damals, 1962, war das Match Österreich gegen Ungarn. 86.000 Besucher waren damals im Stadion. 80 Prozent der Besucher des Stadion sind hier durchgekommen. Es hat sich viel geändert. Vor allem gibt es keine Zielrinnen mehr, mit denen man ganz gut verdienen konnte.“ Wir reden noch über den Wandel des Praters. Der Prater-Heinzi meint etwas wehmütig: „Früher gab es mehr Kraftspiele, wie die ‚Dicke Berta‘, die man hinaufschießen musste. Bei dieser ‚Dicken Berta‘ waren am Abend meist Angeber und Wichtigmacher, die ihre Kraft zeigen wollten. Das war ein gutes Geschäft! Da gab es eine Rakete zum Hinaufschießen. Wenn einer stark war, hat man auf das Gerät noch Gewichte draufgelegt. Dabei haben viele Leute zugeschaut! So ein Geschäft geht heute nicht mehr, genauso nicht wie der Watschenmann. Die Box-Automaten haben den Watschenmann verdrängt. Ich repariere diese Automaten.“
Der Prater-Heinzi als Fahnenträger Der Prater-Heinzi repariert nicht nur Geräte und Gewehre für die Praterleute, er betätigt sich bei festlichen Anlässen auch als Träger der Praterfahne. Genauer gesagt ist der Prater-Heinzi Fahnenträger des Wiener Schaustellerverbandes, dessen Symbol das Riesenrad ist. Er erzählt mir, 102
Der Prater-Heinzi als Fahnenträger
dass der Wiener Bürgermeister Häupl ihn bei einem Donauinselfest vor einigen Jahren als den langjährigsten Fahnenträger vorgestellt hat. Seit 1971 trägt er die Fahne des von Dr. Alexander Schaaf im selben Jahr gegründeten Verbandes. Diese Fahne befindet sich im Besitz des Prater-Heinzi. Auf der einen Seite dieser Fahne ist das Wagerl eines Autodroms und der Calafati – eigentlich der große Chinese (s. o.) – zu sehen und auf der anderen Seite das Riesenrad. Der Prater-Heinzi will mir Fotos, die ihn mit der Fahne zeigen, schicken. Anschauen kostet nichts, meint er lächelnd. Die wichtigste Gelegenheit, diese Fahne zu tragen, ist der Schaustellerball, der jedes Jahr in einem anderen Bundesland stattfindet. 2014 war der Ball im Wiener Parkhotel Schönbrunn. 2016 wird er wahrscheinlich in Kärnten sein. In Kärnten gibt es gleich zwei solcher Schausteller-Vereine, in Vorarlberg und in Tirol jedoch nur einen. Der älteste Schaustellerverband ist der von Niederösterreich, erzählt der Prater-Heinzi. Um den 20. Jänner würde der Ball der Schausteller jeweils stattfinden. Es geht sehr zeremoniell bei diesen Bällen zu. Besonders faszinierend für die Zuseher sei der Einmarsch der Fahnenträger. Der Ball gliedert sich in folgende zeremonielle Akte: Eröffnungsfanfaren Traditioneller Fahneneinmarsch Grand-Gala-Buffet Damenspende Tanz und Unterhaltung mit internationaler Show-Band Mitternachtsüberraschung – Großes Quiz und Preis-Verlosung Die Frau des Prater-Heinzi ist ebenso einen Fahnenträgerin, sie gehört dem Schaustellerverband „Donauweibchen“ an. Auch dieser hat seinen Ball. Die Damen freuen sich, wenn der Prater-Heinzi diesen besuchen kommt. 103
9. Station: Der Prater-Heinzi – Rekommandeur und Träger der Praterfahne
Zur Organisation dieser Schaustellerbälle trägt wohl Mag. Prohaska vom Praterverband wesentlich bei, schließlich liegt ihm der Fremdenverkehr im Prater am Herzen. Zweck des Verbandes der Schausteller ist vorrangig die Vertretung der Schausteller, um deren wirtschaftliche Lage zu verbessern, aber auch, um sich gegenseitig zu unterstützen. Dazu gehören gemeinschaftliche Reisen, ebenso wie der gemeinsame Besuch von Messen und anderer Berufsveranstaltungen. So unterhält der Wiener Schaustellerverband regelmäßig einen Stand bei der Wiener Messe. Präsident bzw. Obmann des Verbandes der Wiener Schausteller war bis zum Jahr 1988 Dr. Alexander Schaaf, ihm folgte Ferry Keinrath. Von Letzterem heißt es, dass er es unter anderem versteht, die Gäste des Schaustellerballes bestens zu unterhalten. Der Prater-Heinzi, auch wenn er schon ein würdiger, aber sehr drahtiger Herr ist, gehört zur Kultur der Wiener Schausteller, deren Fahne er mit Stolz trägt.
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10. Station: Die Liliputbahn Ich nähere mich mit dem Fahrrad der berühmten Liliputbahn. Diese hat wohl ihren Namen vom Land Liliput, einem Land in dem Buch „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift, in dem winzige Menschen leben. Es gibt sie seit dem Jahre 1928. Beim Betriebsgebäude Liliputbahn unweit der Hochschaubahn lasse ich mein Radl stehen und betrete das Gebäude. Ich treffe Herrn Ing. Alexander Ruthner, der seit 2009 Geschäftsführer der „Liliputbahn im Prater GesmbH“ ist. Er ist ein liebenswürdiger Herr, der mir einiges über die Geschichte der Liliputbahn erzählt. Mit ihm gehe ich in das sogenannte Heizhaus, in dem ich Herrn Dipl. Ing. Ronald Durstmüller kennenlerne. Er leitet den Bereich „Bahnbetriebe und Werkstätten“ des Unternehmens. Mit freundlichen Worten schenkt er mir sein schönes Buch über die Liliputbahn „Eine Runde zum Vergnügen – Geschichte, Technik und Betrieb der Wiener Liliputbahn“ (Wien 2013). Ich danke ihm für dieses hervorragende Buch, aus dem viel über die Liliputbahn zu erfahren ist. Herr Durstmüller, der gerade dabei ist, eine Dampflokomotive zu überprüfen, erzählt mir, dass einer seiner besten Lokomotivführer ein Zahnarzt ist, sein Name ist Mathias Lidauer ist, dem es nebenberuflich Freude macht, mit der Liliputbahn durch den Prater zu fahren. Herr Durstmüller kümmert sich vorrangig um die Liliputbahn und die schienenlosen Praterzüge, die auch dem Unternehmen gehören. Um die Belange der übrigen Fahrgeschäfte der Liliputbahn-Gesellschaft, wie die „Super-Achter-Bahn“, die „Dizzy-Mouse“, die „Aquagaudi“, das „Sturmboot“ und das „Laser-Spy“, sorgt sich Herr Ing. Alexander Braun. Sein Vater war früher Geschäftsführer des Unternehmens. Über ihn werde ich noch erzählen. 105
10. Station: Die Liliputbahn
Das Sängerfest – die Schaubahn als Vorläufer Die Liliputbahn galt als besondere Attraktion anlässlich des 10. Deutschen Sängerbundtreffens 1928 in Wien. Dieses Sängerfest war dem 100. Todestag des Liederfürsten Franz Schubert gewidmet. Seit 1928 also erfreut die Liliputbahn die Besucher des Praters. Die Liliputbahn hat einen interessanten Vorläufer, und zwar eine Schaubahn, die im Jahre 1824 errichtet wurde, bloß 227,5 Meter lang war und von Pferden gezogen wurde. Auf die Idee, diese kurze Bahn im Prater anzulegen, kam der berühmte Eisenbahningenieur Franz Anton von Gerstner, der Geldgeber suchte, um eine Eisenbahnlinie von Linz nach Budweis errichten zu können. Tatsächlich interessierten sich Handelshäuser für dieses Projekt, so konnte1825 begonnen werden, die Pferdeeisenbahn Budweis–Linz zu bauen. Dies war die erste Eisenbahn Österreichs, für die hier im Prater Reklame gemacht wurde. Der Prater hat also Eisenbahngeschichte geschrieben. Die kurze Schaubahn wurde schließlich wieder abgetragen. Es gab auch die Schnackerlbahn, eine Petroleumbahn, im Prater, die um 1890 vom Zirkus Busch in der Venediger Au zur Rotunde verkehrte. Auch an diese erinnert nichts mehr.
Plan der Liliputbahn Als Ludwig Pretscher, ein Praterunternehmer, 1925 die Deutsche Verkehrsausstellung in München besuchte, wurde er auf die dort verkehrende, mit Dampf betriebene Liliputbahn aufmerksam. Er dachte sich, eine solche kleine Bahn würde gut in den Prater passen, und suchte nach Geldgebern, die er bald unter den Wirten und Schaustellern des Praters fand. Der Zivilingenieur Franz Gaudernack entwarf entsprechende Pläne. Zunächst war eine Strecke von 4,7 Kilometern vom Riesenrad zur Waldkapelle Maria Grün unweit des Lusthauses geplant. 106
Plan der Liliputbahn
Da es auch in der Steiermark eine Haltestelle gab, die Maria Grün hieß, wollte man nach einem anderen Namen statt Maria Grün suchen, doch dies erübrigte sich, da die Gemeinde Wien die entsprechenden Grundstücke für diese kleine Bahn nicht abtreten wollte. Schließlich führte die Strecke von der hinter dem Riesenrad gelegenen Hochschaubahn zur Haltestelle Rotunde. 1927 begann man mit dem Bau der Liliputbahn. Am 1. Mai 1828, am Tag der Arbeit, wurde sie feierlich eröffnet.1933 wurde die Bahnstrecke bis zum Stadion verlängert. Die Streckenlänge der Liliputbahn beträgt heute 3,9 Kilometer. Die Strecke, die in ungefähr 20 Minuten zurückgelegt wird, verläuft in einem Rundkurs. Folgende Stationen gibt es: Prater Hauptbahnhof – unweit des Planetariums, Schweizerhaus-Luftburg (nur in Fahrtrichtung Stadion), Rotunde (bei der Kaiserallee), Stadion (danach Umkehrschleife). Die Liliputbahn, Spurweite 381 Millimeter, erhielt zunächst zwei Dampflokomotiven, die immerhin Zugsgarnituren mit bis zu 200 Fahrgästen mit einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h ziehen konnten. Beim Brand des Praters während des Krieges im April 1945 wurde auch die Liliputbahn empfindlich in Mitleidenschaft gezogen. Nach dem Krieg erwarb der jüdische Textilhändler Jakob Passweg, der die NS-Zeit in einem Versteck in Wien überlebt hatte, diese Praterbahn. Einer seiner Schuldner hatte ihm seinen Anteil an der Liliputbahn angeboten. Passweg war damit einverstanden und kaufte die Anteile der anderen Eigentümer. 1950 wurde Passweg schließlich Alleinbesitzer diese kleinen Bahn, die er zu seiner Lebensaufgabe machte und die gut zum Prater passt. 107
10. Station: Die Liliputbahn
Abb. 8: Die Liliputbahn gibt es seit dem Jahre 1928, sie verläuft in einem Rundkurs unweit der Hauptallee.
Die Liliputbahn gehört heute – wie erwähnt – einem Unternehmen, das sich Liliputbahn im Prater GesmbH nennt. Alleingesellschafterin ist Anna Kleindienst, eine Enkelin von Jakob Passweg, dem wohl zu danken ist, dass die Liliputbahn die Nachkriegswirren überstanden hat. 108
Die Fahrt mit der Liliputbahn
Die Fahrt mit der Liliputbahn Vor einigen Jahren lud mich Herr Ronald Braun, er war damals Geschäftsführer der Liliputbahn-Gesellschaft, zu einer Fahrt mit der Liliputbahn ein. Es war ein schöner, warmer Nachmittag. Die Kastanienbäume im Prater standen in voller Blüte. Beim Hauptbahnhof der kleinen Bahn nahm ich in einem Waggon direkt hinter der Dampflokomotive Platz. Vorwiegend werden die beiden Dampfloks nur an den Sonn- und Feiertagen eingesetzt, sonst sind es die Dieselloks, die die Waggons durch den Prater ziehen, erklärte mit Herr Braun. Dass an diesem Tag eine Dampflokomotive fuhr, war dem Umstand zu verdanken, dass knapp vor uns der Bürgermeister von Wien mit noblen Gästen sich zum Stadion fahren ließ. Der Lokomotivführer saß elegant auf seinem Dampfross. Der frühere Bundeskanzler Bruno Kreisky soll einmal als Lokomotivführer fungiert haben. Wir fuhren durch die Praterau zum Stadion. Hier kamen ein paar Gäste hinzu. Nun ging es retour. Der Rauch aus der Dampflok zog über uns hinweg. Fußgänger blieben stehen und betrachteten neugierig die Dampflokomotive, einige fotografierten sie. Herr Braun schwärmte von seiner Liliputbahn. Kindern und älteren Leuten gefiele die Dampflokomotive sehr. Ein Herr meinte allerdings einmal zu ihm, er solle dieses stinkende Ungetüm zum Alt eisen geben. Jedoch habe sich ein älteres Ehepaar bei ihm bedankt, dass diese schöne alte Lokomotive noch immer verwendet wird, sie würde sie an ihre Kindheit erinnern. Eine alte Kultur ist mit dieser würdigen Dampflokomotive verbunden. Mich erinnerte der Lokomotivführer, wie er die Kohle in das Feuer schaufelte, an die alten Wildwestfilme, in denen allerdings ein eigener Heizer zur Verfügung stand, um das Dampfross mit Kohle zu füttern. Nicht alle hatten vor dem Krieg Freude an der dampfenden und pfeifenden Lokomotive. Vor allem ärgerten sich über sie die Künstler des 109
10. Station: Die Liliputbahn
Varietés Leicht, an der die kleine Eisenbahn vorbeifuhr, denn mitunter übertönten die Geräusche der Lokomotive die Scherze der Vortragenden. Sie mussten daher mit den Pointen ihrer Witze warten, bis die Liliputbahn vorbeigezogen war. Das Varieté Leicht ist leider während des Kriegsgeschehens 1945 abgebrannt. Die Liliputbahn gehört zum Prater, sie erinnert an Kinderfreuden. Pro Runde werden etwa 130 Liter Wasser und ungefähr 20 Kilogramm Kohle verbraucht. Die Liliputbahn erfreut die Besucher des Praters durch ihre Kleinheit, durch ihre unscheinbare Präsenz, die jedoch ihren Reiz hat. Der Lokomotivführer ist stolz auf seine Tätigkeit. Eine kleine Geschichte ist noch nachzutragen. In der Arbeiter-Zeitung vom 14. Juni 1966 konnte man unter der Überschrift „Liliputbahnpersonal ist ‚Obrigkeit‘“ Folgendes lesen: „Wegen einer nicht beachteten Anweisung gerieten im Spätsommer 1965 ein Fußgänger und ein Lokführer der Liliputbahn in Streit, wobei der Passant den Bahnangehörigen bedrohte, diesen im Verfahren als Liliputaner bzw. Liliputler bezeichnete und damit eine feindselige Einstellung bekundete. Der Fall ging bis vor den Obersten Gerichtshof, der in seinem Urteil feststellte, dass die Liliputbahn rechtlich eine Eisenbahn ist und ihre Bediensteten daher Schutz als obrigkeitliche Personen genießen.“
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11. Station: Die Grottenbahn Die Frau Milans stammt aus altem Prateradel Mit meinem Fahrrad fahre ich zur 1. Altwiener Grottenbahn. Sie gehört Frau und Herrn Brantusa. Milan Brantusa, früherer Vizepräsident des Wiener Praterverbandes, lernte ich durch meinen Freund Dr. Franz Josef Mayr kennen. Milan Brantusa, mit dem mich bald freundschaftlicher Kontakt verband, fiel mir durch seine Fotografierkünste auf. Seine Photos sind in der Online-Zeitung des Praters, deren Chefredakteur er ist, zu bewundern. Auch im Internet sind Milan Brantusas prächtige Bilder von Praterunternehmen zu sehen.12 Für mich ist Milan der klassische Vertreter der alten Praterkultur mit ihren Buden, Ringelspielen, dem Riesenrad, den Autodromen, Schießbuden, Geisterbahnen, dem berühmten Kasperltheater und den Wirtshäusern. Milan gehört zur Geschichte des Wiener Praters. Den Zugang zum Prater fand Milan Brantusa durch Automaten, mit denen früher ein gutes Geschäft zu machen war. Er erzählt: „Irgendwann bin ich durch meinen Vater zu den Automaten gekommen. Durch die Automaten kam ich in den Prater. Ich habe zunächst Automaten repariert, gemeinsam mit meinem Vater. Das ist nicht lange gut gegangen. Eines Tages war der Kerl, mein Vater, pleite. Darauf habe ich mich auch von meinem Vater getrennt. Ich habe mir nun eine eigene Wohnung genommen. Bald verdiente ich als Automatenmechaniker ganz gut. Zeitweise lebte ich nobel. Mir ist es herrlich gegangen. Ich hatte mich auf Geldspielautomaten und Flipper spezialisiert.“ Ich erzähle von den alten Spielhallen mit den mechanischen Flipperautomaten, auf denen ich gerne gespielt habe. Es war ein schönes Spiel. Dies betont 111
11. Station: Die Grottenbahn
auch Milan: „Die Leute waren begeistert. Beim Schweizerhaus gibt es noch eine Halle, in dieser steht noch so ein alter mechanischer Flipper, wie sie in den 60er-Jahren existierten. Das Hinausschießen der Kugel ist mechanisch, das andere aber elektrisch. Zuerst habe ich im Prater freiberuflich bei mehreren Prater-Unternehmern gearbeitet. Dann aber nur mehr für einen Unternehmer, denn bei dem hatte ich mein fixes Geld.“ Ich frage Milan, ob er nicht im Prater wie ein Fremder gewirkt hat, da er keiner Praterfamilie entstammt. Milan nickt: „Richtig, ich bin heute noch irgendwie ein Fremdkörper im Prater. Meine Frau kommt aus dem Pratermilieu, sie ist eine geborene Schaaf. Ihr ist es wichtig, dass der Ruf ihrer Familie, die zur Prater-Aristokratie gehört, keinen Schaden leidet.“ Ich nicke und meine, dass ich die Familie Schaaf, über die ich oben schon einiges geschrieben habe, hoch schätze. Schließlich sind die Schaafs eine echte Prater-Dynastie, wie Langs und Wilferts.13 Gleich aristokratischen Familien sind auch diese Familien untereinander verwandt und verschwägert. Mich interessiert, wie Milan zu einer Frau aus altem Prateradel gekommen ist. Milan: „Das war ein reiner Zufall. Ich kannte ihre Schwester, die Silvia, sie ist eine Schaaf-Tochter aus dem Prater, sie hatte mit Automaten zu tun. Die Schaafs sind schon über 150 Jahre im Prater. Sie kommen aus Ostdeutschland. Es ist eine eigene Geschichte, wie die in den Prater kommen.“ Ich kenne die Geschichte, möchte jedoch Milans Ausführung hier einbringen, denn sie ergänzt einiges, was ich oben schon dargetan habe. Milan erzählt: „Es gab den alten Schaaf, einen reisenden Schausteller, der hatte unterwegs den Kobelkoff, den Rumpfmenschen, den Mann ohne Hände und Füße, kennengelernt. Dieser ist dann bei ihm aufgetreten. Die beiden hatten ein irres Geld verdient. Gemeinsam sind sie in den Prater gekommen, durch Heirat mit den zwei Schwestern Wilfert. Der Schaaf hat eine geheiratet und der Kobelkoff die andere. Dieser Kobelkoff hatte eine 112
Die Frau Milans stammt aus altem Prateradel
starke Psyche. Er hatte elf Kinder. Er war eine Sensation, er hat gut verdient.“14 Auch Milan gehört durch Heirat nun zu den Praterfamilien. Wie es dazu kommt, erzählt er nun: „Durch die Silvia Lang, die mit Automaten zu tun hatte, habe ich ihre Schwester, eine geborene Schaaf, kennengelernt. Wir sind gemeinsam einmal in eine Art Disko gegangen. Ich bin bei der Schaaf hängen geblieben. Beide waren wir frisch geschieden. Zuerst habe ich mit meiner zweiten Frau im 9. Bezirk gewohnt und jetzt wohne ich im Prater. Es war nicht geplant von mir, in eine Praterfamilie einzuheiraten. Geld war für mich nie wichtig. Meine Frau sagt heute noch: ‚Geld spielt für dich überhaupt keine Rolle.‘ Ich möchte meine Ideen umsetzen. Wenn ich meine Ideen umsetzen kann, bin ich glücklich. Ideen habe ich pausenlos.“ Ich meine bewundernd zu Milan: „Du hast in die Schaafdynastie geheiratet.“ Milan erklärt es genauer: „In einen Zweig dieser Familie Schaaf habe ich eingeheiratet. Die Schaafs sind weit verzweigt. Frau Liselotte Lang war die älteste Schaustellerin im Prater, sie hatte die Wiener Rutsche. Sie ist eine geborene Schaaf.“ Ich frage: „Sind die Schaafs stolz auf ihre Familie?“ Milan: „Die Silvia ist stolz, dass sie eine Lang ist. Der Vater war der Lang. Daher ist sie fixiert darauf.“ Ich füge ein: „Obwohl Frau Liselotte Lang stolz darauf ist, eine geborene Schaaf zu sein, sagt ihr Sohn, der Karli Lang, stolz: ‚Wir sind die Familie Lang, wir sind keine Schaafs.‘“ Zur Familie Schaaf meint Milan noch: „Die Schaafs sind schon weniger geworden. Es ist wirtschaftlich viel danebengegangen. Es sind Leute ans Ruder gekommen, die keine Ideen hatten.“ Auf meine Frage, ob es einen König des Praters gibt, meint Milan: „Die Könige des Praters waren eigentlich nicht die Schausteller, sondern die, die das Geschäft mit den Automaten machten. Der alte Koidl hat mit den Automaten viel verdient. Er hat die Spielautomaten in den Prater gebracht. Geholfen 113
11. Station: Die Grottenbahn
hat ihm dabei der Lang, er vermittelte ihm die Halle, in der er dann mit den Automaten sein Geld verdient hat. Gekauft hat er sie von einer Frau, die mit einem Kobelkoff verheiratet war. Die erste Spielhalle im Prater hat also einer Kobelkoff gehört. Seit dieser Zeit sind die Automaten gegangen wie der Teufel. Weil die Frau Kobelkoff die erste mit den Automaten war, hat sie mitunter über ihre Verhältnisse gelebt. Sie ist zum Beispiel einmal fortgegangen aus der Halle und hat einem der Spieler die Schlüssel gegeben zum Aufpassen. Wie soll denn das gut gehen? Das muss man sich einmal vorstellen!!“
Die Rettung der Grottenbahn Schließlich kommt Milan auf die Grottenbahn zu sprechen: „Mit ihrem ersten Mann wollte meine spätere Frau, eine geborene Schaaf, die Grottenbahn, die sie gekauft hatte, wegreißen. So vor 30 Jahren. Sie sind aber aus irgendwelchen Gründen nicht dazugekommen, dies zu tun. Die Grottenbahn hat damals schäbig ausgesehen. Ich habe zu meiner Frau, nachdem sie geschieden war und mich geheiratet hatte, gesagt: ‚Wir reißen die Grottenbahn nicht ab. Ich richte die Grottenbahn her. Das Wegreißen kostet viel Geld. Etwas Neues aufbauen kostet aber auch viel Geld. Die Grottenbahn gefiel mir, sie hat etwas Liebes an sich. Ich habe meiner Frau gesagt, es wäre doch schön, die Grottenbahn wieder herzurichten. Heute ist sie glücklich mit der Grottenbahn. Sie würde sie um keinen Betrag der Welt hergeben. Ich habe die Grottenbahn mit einem Helfer selbst renoviert. Wir haben viel Geld hineingesteckt. Die Fassade, die wir jetzt haben, die haben wir uns von einem Bildhauer machen lassen. Den hatte ich ausgeforscht. Ich hatte erst schon eine Idee, wie die Grottenbahn aussehen soll.“ Auf meine Frage, ob er mit der Grottenbahn zufrieden ist, führt Milan aus: „Ich bin eigentlich sehr zufrieden. Die Grottenbahn hat sich 114
Die Rettung der Grottenbahn
Abb. 9: Die 1. Altwiener Grottenbahn mit ihren Märchenfiguren baut auf einer alten Geschichte auf, die auf das Jahr 1898 zurückgeht.
lange amortisiert. Die Investitionen halten sich in Grenzen. Die Eltern fahren mit ihren Kindern. Wenn Jugendliche vorbeigehen, hört man, wenn sie oft sagen: ‚Jö, da bin ich auch einmal gefahren.‘ Wenn so ein Mädchen das erste Kind bekommt, wird sie mit dem Kind auch wieder mit der Grottenbahn fahren. Und dieses Kind kommt auch wieder. Das ist so, wie Konrad Lorenz meint: Sie sind alle geprägt. Das ist wunderschön so! Die Grottenbahn muss nicht nur den Kindern gefallen, sie gefällt auch den Erwachsenen. Meine Grottenbahn gibt es seit 1951. Vor dem Krieg gab es gewaltige Grottenbahnen, sie waren riesengroß und sind mit den heutigen nicht zu vergleichen. Meine Grottenbahn heißt ‚Altwiener Grottenbahn‘. Früher, unmittelbar nach dem Krieg, hatten drei Unternehmer drei Grottenbahnen im Prater gebaut. Der Prettscher, der Buchner und noch irgendeiner. Auch Geisterbahnen haben sie gebaut. Jeder hat dem anderen dabei geholfen.“ 115
11. Station: Die Grottenbahn
Abschließend kommen wir noch einmal auf die Grottenbahn zu sprechen. Mit der Grottenbahn hat Milan sein Lebensglück gefunden, wie er meint. Er schlug sogar ein Angebot von Johann Graf aus, der ein Glückspielunternehmen großen Stils mit dem Namen Novomatic aufgebaut und unglaublich viel dabei verdient hat. Im Prater hatte Graf das größte Wett-Casino Europas mit ungefähr 250 Spielautomaten, vom Video-Slot über Pokerautomaten bis zu Bingo-Maschinen, aufgemacht. Spielbegeisterte konnten dort zwischen Marmorpalmen und vergoldeten Spiegelwänden ihr Glück versuchen. Dieser Herr Graf, der es sogar zu einem Professorentitel gebracht hat, wollte vor über 20 Jahren, als Milan noch mit Automaten zu tun hatte, mit ihm eine leer stehende Halle mieten, um in dieser hundert Automaten aufzustellen. Doch Milan war die ganze Sache zu unsicher, er tat nicht mit. Milan heiratete stattdessen. Er wollte sich in keine spekulativen Geschäfte einlassen. Mit der Heirat erheiratete er sich auch die Grottenbahn, etwas Handfestes, das sich wunderbar ausbauen ließ. Ich meine noch zu Milan, wie wichtig für einen Mann eine gute Frau ist, überhaupt hier im Prater. Zum Ausbau seiner Grottenbahn erzählt er noch: „Ich hatte eine gewisse Vorstellung gehabt, wie die Grottenbahn aussehen soll. Ich brauchte also einen guten Künstler, der mir die Grottenbahn künstlerisch gestaltet. Ich hatte das Glück, einen solchen zu finden. Deswegen schaute ich einmal auf die Schallaburg, dort habe ich einige Künstler kennengelernt. Es hat mir gefallen, was sie gemacht haben. Nachher habe ich mit diesen Künstlern Gespräche geführt. Aber diese waren so abgehoben, dass es für mich sinnlos war, mit ihnen etwas für die Grottenbahn zu machen. Ein anderes Mal habe ich bei einer Messe gesehen, wie das Heck von einem Auto modelliert worden ist. Das hat mir gefallen. Ich habe gefragt, wer das gemacht hat. Den Künstler, der das gemacht hat, den brauche ich. Mit dem wurde ich zusammengebracht. Dem Künstler habe ich erklärt, dass ich für die Grottenbahn eine schöne Fassade brauche. Die hat er mir 116
Die Rettung der Grottenbahn
dann auch wunderbar gebaut. Von diesem stammen auch die Figuren in dem Märchenpark. Er arbeitet nun auch für das Theater.“ Milan Brantusa hat einen weiten Horizont und ist gewitzt genug, auf die Geschicke des Praters einzuwirken. Er ist glücklich mit seiner Frau und seiner Grottenbahn. Studentinnen und Studenten von mir, die die Absicht hatten, ihre Seminararbeit über einen Bereich des Praters zu schreiben, sind von ihm eingeladen worden, gratis mit der Grottenbahn, aber auch mit der Geisterbahn, die er ebenso in letzter Zeit renoviert hat, zu fahren. Originalität und Spürsinn einzelner Praterunternehmer sind es auch, die den Prater immer wieder neu – oder ewig jung – erscheinen lassen.
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12. Station: Die Geisterbahn Ich schiebe mein Fahrrad weiter, ich komme zur Geisterbahn „Hotel Psycho“, dessen Geschäftsführer Milan Brantusa ist. Ich fuhr bereits mit dieser Geisterbahn und erschreckte mich gehörig bei den diversen mörderischen Attraktionen mit Blut, hohlwangigen Geistern, Schreie ausstoßenden Toten oder Halbtoten, Folterinstrumente oder ähnliche Werkzeuge benutzenden Henkersknechte, und anderen Schreckgestalten, die plötzlich vor mir standen. Auch durchfuhr mich der Schrecken, als ich plötzlich mich selbst mit der neben mir sitzenden Begleiterin, auch sie stammt aus einer alten Praterfamilie, vor mir erblickte, und zwar in einem geschickt angebrachten Spiegel. Ich war froh, wieder im Freien zu sein. Geisterbahnen sind zwar für manchen gruselig oder schrecklich, machen aber das Leben im Prater bunter. Das weiß Milan Brantusa, aber das weiß auch die aus einer alten Praterdynastie stammende Frau Alice Kolnhofer, die die derzeit älteste Geisterbahn im Prater ihr Eigen nennt, es ist dies das „Geisterschloss“. Frau Alice Kolnhofer ist nicht nur Besitzerin der Geisterbahn, sondern auch der Attraktionen „Extasy“, auf deren Platz 1947 die erste Raketenbahn stand, und „Hip Hop“. Sie ist eine patente Dame, die auch tüchtige Kinder hat. Milan Brantusa und Alice Kolnhofer wissen, wie auch die anderen Geisterbahnenbesitzer im Prater, worauf es bei Geisterbahnen ankommt. Typisch für Geisterbahnen ist, dass die Fahrgäste durch gruselige Effekte aller Art, wie Lichterscheinungen, grauenhafte Schreie und Bilder von fürchterlich zugerichteten Menschen, erschreckt werden sollen. Manchmal kommen dazu noch Furcht einflößende, verkleidete Angestellte, um noch mehr Schrecken zu verbreiten. Die Besonderheit einer 119
12. Station: Die Geisterbahn
Abb. 10: In den Geisterbahnen des Praters werden die Fahrgäste durch grauen erregende Figuren und Effekte erschreckt.
Geisterbahn liegt darin, dass durch den plötzlichen Anblick grauenhafter Szenen der Adrenalinspiegel steigt. Dies erzeugt Gänsehaut und man ist schlussendlich froh, dem Grauen entkommen zu sein. Angst und Lust verbinden sich. Die spitzen Schreie vor allem der Damen künden davon. Die Vorläufer der Geisterbahnen sind die Grottenbahnen, in denen ein Gefühl der Freude und des kindlichen Erinnerns an Märchen vermittelt werden soll – ganz im Gegensatz zu den Geisterbahnen, in denen die Besucher mit Schrecklichem konfrontiert werden. Die erste typische Geisterbahn im Wiener Prater wurde 1933 errichtet, sie erhielt den Namen „Geisterschloss“. Das Besucherinteresse soll enorm gewesen sein. Während der letzten Kriegsjahre ging die Geisterbahn, wie andere Praterbetriebe auch, im Bombenhagel russischer Flieger unter. 1948 wurde das „Geisterschloss“ wiedereröffnet. Im Prater gibt es neben 120
12. Station: Die Geisterbahn
diesem eine Reihe von Geisterbahnen, wie den „Roten Adler“ (1947) und das „Hotel Psycho“, vor dem ich jetzt stehe und das 2014 von Milan Brantusa eröffnet wurde. 1955 wurde das „Geisterschloss“ vom Großvater von Frau Alice Kolnhofer übernommen. Sie selbst führt diese Geisterbahn ab 1981, in der dritten Generation. Das Geisterschloss ist also seit 50 Jahren im Familienbesitz. Zu den prominenten Gästen dieser Geisterbahn zählen der 007-Darsteller Timothy Dalton samt Bond-Girl, die Leute von „Kommissar Rex“ sowie die Spezialisten des Kaisermühlen-Blues. Alice Kolnhofer ist ein echtes Praterkind, das sich freut, im Wurstelprater leben und arbeiten zu können.
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13. Station: Das große Autodrom – das Leben der Schausteller Ich radle zum Super-Autodrom der Katja Kolnhofer, der Tochter von Alice Kolnhofer. Ich habe Frau Katja Kolnhofer bei der Presseeinladung des Praterverbandes im Frühjahr 2015 kennengelernt. Sie ist eine glänzende Vertreterin der Praterdynastie Kolnhofer. Sie kümmert sich um ihr Super-Autodrom und andere Fahrgeschäfte bzw. Schießbuden. Von Katja Kolnhofer lese ich in einem Aufsatz von Kerstin Kellermann vom 31.8.2014 in der Straßenzeitung „Augustin“, dass sie selbst mit Lötkolben und anderen Geräten umzugehen weiß, wenn einer der 28 elektrischen Wägen des Autodroms zu reparieren ist. Der Urgroßvater von Katja Kolnhofer, Philipp Kolnhofer, ist 1921 von Ungarn nach Österreich ausgewandert. In der Prater Hauptallee machte er das allererste Café-Restaurant auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte sich sein Sohn, Philipp Kolnhofer II., als Obmann des Praterverbandes – Thomas Sittler bezeichnet ihn ebenso als seinen Urgroßvater.15 Philipp Kolnhofer II. ist Vater von zwei Töchtern, die obwohl verheiratet, den Familiennamen des Großvaters tragen, und auch die Geschäfte weiter betreiben, so auch seine beiden Enkelinnen, von denen eine Katja Kolnhofer ist. Diese, auf ihre Arbeit angesprochen, meint treffend: „Unsere Arbeit ist die Kultur des Vergnügens.“ Früher besaß die Familie noch das „Palast-Autodrom“ in der Halle, in der jetzt das „Extasy“ steht. Maturiert hat Katja in der sogenannten „Knödelakademie“, einem Gymnasium für wirtschaftliche Frauenberufe. Mit 19 Jahren verließ sie den Prater – die Familie lebte hinter dem Spielcasino – samt ihrem ersten Kind und erstem Ehemann. 2009 kehrte sie, geschieden, mit drei Kindern, in den Prater zurück, 123
13. Station: Das große Autodrom – das Leben der Schausteller
was „ein Chaos, aber auch wieder eine Befreiung“ war. Sie übernahm das Super-Autodrom am Calafattiplatz. Der frühere Pächter hat aus gesundheitlichen Gründen das Autodrom aufgegeben, und Katja Kolnhofer übernahm es im Stile ihrer Vorfahren. Zu ihrem Beruf als Eigentümerin eines Autodroms führt Katja weise aus: „Für den Schausteller-Beruf gibt es bis heute keine Ausbildung. Man lernt sich vielmehr durch das Leben mit den Maschinen in den Beruf ein. In den großen Betrieben haben die Gehilfen inzwischen eine Betriebstechniker-Ausbildung. Wichtig, um hier bestehen zu können, ist die Gemeinschaft der Praterunternehmer. Der Prater ist wie ein kleines Dorf, die meisten bleiben auf ewig hier. Es gibt Seilschaften und Fehden, aber zum Glück ist alles parteifrei, und die Probleme ähneln jenen einer Familie. Eifersüchteleien, Neid, und gekränkte Eitelkeiten kommen einmal bei diesem oder jenem Unternehmer durch. Aber im Großen und Ganzen passt es für uns alle“ (siehe dazu Kerstin Kellermann, 2014). Die Mutter Katjas, Alice Kolnhofer, war ihr eine wichtige Stütze, als sie in den Prater zurückkehrte. Katja Kolnhofer meint in aller Achtung vor ihrer Mutter: „Ich hatte keine Angst, denn sie war da. Die Mama schafft das, es gibt nichts, was ich ihr nicht zutraue.“ Zu ihrem Tagesablauf erzählt sie, dass sie jeden Tag um zehn Uhr im Super-Autodrom ist und dieses aufsperrt, die Stofftiere für die Schießbuden herrichtet u. Ä. Von 16 bis 20 Uhr ist sie zu Hause bei ihren vier Kindern, von halb neun bis ein Uhr in der Nacht ist sie wieder im Prater – sieben Tage in der Woche. Eine gewisse Eigenständigkeit und Durchsetzungsvermögen dürfte Katja Kolnhofer von ihrer Mutter geerbt haben. In diesem Sinn meint sie selbstbewusst: „Ich lasse mir das Ruder nicht aus der Hand nehmen!“ Wenn Mutter Alice Kolnhofer demnächst einmal in Pension geht, wird ihre Tochter Katja drei weitere Praterbetriebe übernehmen. Einen wesentlichen Satz für das wirtschaftliche Überleben sagt Katja: „Im Sommer verdient man gut, aber das muss auch für den Winter genügen.“ Im 124
13. Station: Das große Autodrom – das Leben der Schausteller
Winter kümmert sich Katja um ihre Kinder, aber auch um Reparaturen, Investitionen und um Belange des Praterverbandes. Die Arbeit der Schausteller im Prater erinnert an die Arbeit alter Bauern, für die die Zeit zwischen Anfang März bis Ende September die Zeit der Arbeit mit den Tieren und am Feld war. Ab Ende September bis Anfang März war die Zeit der Ruhe. Die Bauern hatten nun Zeit, sich um das Reparieren der Geräte zu kümmern und auch um alltägliche Dinge, die während des Sommers nicht erledigt werden konnten. Die Arbeit im Autodrom hat ihren eigenen Reiz. Der „kleine Mann“ erlebt in den kleinen Wägen, die an die 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnern, die Freuden der Freiheit. Insofern hat der Benützer des Autodroms etwas Aristokratisches an sich. Er kann frei über sein Auto verfügen, kann seine Fahrkünste, freilich innerhalb gewisser Regeln, demonstrieren und kann sogar einen Frontalzusammenstoß, vielleicht mit einem Wagen, in dem eine Dame alleine sitzt, riskieren, um auf diese Weise ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Dies alles um einen geringen Preis. Meistens dürften es jedoch mehr Männer sein als Damen, die Freude am Fahren im Autodrom verspüren. Zusätzlich zum Fahrvergnügen vermitteln an den Wänden Malereien von Wildwestszenen, in der Steppe galoppierende Pferde, Adlerschwingen, Lichter von Las Vegas den Duft der weiten Welt. Unterstrichen wird das Ganze durch laut tönende Musik. Spannende Beobachtungen über das Handeln von Besuchern in einem Autodrom, und zwar im Turbo Autodrom Testarossa, hat meine Studentin Frau Jara Lauchart gemacht. Sie verfasste darüber ihre Arbeit in meiner Lehrveranstaltung. Zunächst beschreibt sie das Leben im Prater, sie ist fasziniert von der farbenfrohe Menge: „Eine bunt durchgemischte Ansammlung von Menschen – die einen unbeschwert und freudestrahlend, die anderen schweißgebadet und erleichtert, gerade mal so davongekommen zu sein. Jung und alt, arm und reich … – alles 125
13. Station: Das große Autodrom – das Leben der Schausteller
ist hier versammelt, um sich vom Wurstelprater in seinen Bann ziehen zu lassen.“ Eine Szene im Autodrom wird von ihr so nachgezeichnet: „Drei Jugendliche rammen sich so heftig es geht und stoßen mit dem eigenen Körpergewicht noch zusätzlich nach vorne, so dass die Autos einen kräftigen Ruck nach vorne machen und dadurch beim Aufprall heftig auseinanderhüpfen. Auf der Fahrbahn sind außerdem noch eine junge Frau, ein älterer Herr mit einem kleinen Jungen und ein Mann. Der Mann versucht immer allen auszuweichen ... Die junge Frau kann mit ihrem Auto nicht weiterfahren, da die drei Jugendlichen sie von mehreren Seiten eingekreist und jetzt an den Rand gedrängt haben. Sie lacht und sucht gleichzeitig Blickkontakt zu dem Mann, der auf der anderen Seite der Fahrbahn gerade dem älteren Herrn mit dem kleinen Jungen ausweicht ...“ Auch aus der Seminararbeit von Katinka Dudas möchte ich hier einiges zitieren. Sie beginnt diese mit einem Satz von der Homepage des Turbo Autodrom Testarossa: „Jeder kennt es – jeder liebt es! Beim Autodrom fährt der Spaß immer mit, egal ob alleine oder zu zweit. Für viele ist es das größte Vergnügen, endlich tun zu dürfen, was im täglichen Straßenverkehr verboten ist, nämlich andere Autos zu rammen, von der Spur zu drängen und in die falsche Richtung zu fahren! Und da dieses Fahrvergnügen ganz ohne Führerschein genossen werden kann, dürfen auch die Jüngeren schon ihre ersten Runden drehen – vorausgesetzt, man ist gut angeschnallt.“ Frau Dudas fügt hinzu: „Dieser Slogan verrät uns sofort, was für eine sozialwissenschaftliche Forschung über ein ganz gewöhnliches Autodrom interessant sein könnte.“ Sehr akademisch – und daher originell – äußert sich die Autorin über die Beziehung der Geschlechter im Autodrom: „Wenn junge Männer in Gruppen an der sozialen Situation teilnehmen und gleichaltrige Mädchen sich auch auf der Autodromfläche befinden, interagieren diese zwei Gruppen meistens miteinander. Die Jungen verfolgen die 126
13. Station: Das große Autodrom – das Leben der Schausteller
Mädchen und versuchen sie anzufahren. Die Mädchen reagieren mit Kreischen und Lachen. In dieser Interaktion ergibt sich eine Art Flirt, zu welchem es fast jedes Mal kommt, wenn diese zwei Gruppen sich gleichzeitig auf der Fläche befinden.“
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14. Station: Der Toboggan und der Kunstmaler Der Rat der Baupolizei Ich radle ein Stück weiter zum berühmten Turm Toboggan, einer Turmrutschbahn. Der Name kommt von den Algonkin-Indianer in Nordamerika und heißt so viel wie Schneeschlitten aus Holz. In Nordamerika soll es auch die ersten Turmrutschbahnen gegeben haben. In Europa tauchen sie um 1900 auf, zuerst wohl in Paris und dann auch in Deutschland. Heute gibt es nur mehr wenige solcher Toboggans. Der Toboggan im Wiener Wurstelprater wurde 1913 eröffnet, und zwar vom oben schon oft erwähnten Nikolai Kobelkoff, allerdings unter dem Namen „Teufels Rutsch“. Es gab zwar noch andere Rutschtürme im Prater, überlebt hat aber nur die „Teufels Rutsch“, die während des Zweiten Weltkrieges völlig abbrannte. Nach dem Krieg wurde der ca. 25 Meter hohe Rutschturm nach alten Plänen wieder aufgebaut und erhielt den klassischen Namen Toboggan. Bis 1970 blieb der Toboggan im Besitz der Familie Kobelkoff. Charakteristisch für den Toboggan ist, dass der Besucher auf einem mehr oder weniger schnell laufenden Förderband bis zur Mitte des fast durchwegs aus Holz bestehenden Turmes befördert wird. Von dort muss er auf Treppen zur Turmspitze steigen, von der aus er die Aussicht genießen kann, bevor er auf einer Sackleinwand sitzend in engen Kurven hinunterflitzt. Das Publikum kann sich ergötzen, wenn der Besucher Schwierigkeiten hat, auf dem Förderband das Gleichgewicht zu halten. Generalsaniert wurde der 25 Meter hohe, hölzerne Toboggan, der inzwischen denkmalgeschützt wurde, um 2009.
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14. Station: Der Toboggan und der Kunstmaler
Abb. 11: Der Praterturm – das große Ringelspiel des Mannes aus Osttirol.
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Der Rat der Baupolizei
Der Wiener Maler Konkolits, ein origineller Herr, den ich die Ehre habe zu kennen, ist der jetzige Besitzer des Toboggans. Eigentlich war der 25 Meter hohe, hölzerne Turm schon in den 1990er-Jahren abbruchreif, doch der Maler Sammy Konkolits, der sich in Gabi Lindengrün, deren Eltern neben dem Toboggan eine Würstel-Hütte hatten, verliebt war, dem gefiel auch der abbruchreife Toboggan und er wollte ihn renovieren. Dies gelang schließlich auch. Als Sammy Konkolits zuerst einen Herrn der Baupolizei fragte, ob es sich auszahle, den Toboggan wieder herzustellen, meinte dieser sinngemäß: „Da gehört einer her, der sich nicht auskennt. Weil, wenn sich einer auskennt, greift er das da nicht an.“ Jedenfalls gelang es dem in die Wiener Mundart verliebten Sammy Konkolits, mit allerhand Unterstützungen und Zuwendungen die Sanierung des Toboggan zu betreiben. Heute ist er ein Prachtstück, dessen Eingangsbereich wunderbare Bilder unseres Malers zieren. Sammy Konkolits selbst kommt zwar aus keiner Prater-Familie, aber seine Gefährtin Gabi Lindengrün, mit der er gemeinsam den Turm renoviert hat. Gabi Lindengrün als echtes Praterkind – schon ihre Großeltern waren hier beschäftigt – freut sich über den renovierten Toboggan. „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie schön das für mich ist“, sagt sie, „ich kenn den Turm ja seit meiner Kindheit. Ich weiß gar nicht, wie oft ich da schon heruntergerutscht bin.“ Aus Anlass des 100. Geburtstages des Toboggan kam eine eigene Sonderbriefmarke heraus, dazu gab es auch eine Festschrift. Die Originalität von Sammy Konkolits, der am 17.9.1959 in Wien geboren wurde und im 10. Bezirk aufgewachsen ist, zeigt sich darin, dass er einen besonderen Wiener Schmäh hat. So antwortete er, als man ihn auf seine Farbenblindheit ansprach, diese würde ihn nicht stören, den auf den Farbtuben steht ohnehin drauf, welche Farbe drinnen ist. Schließlich versucht er, den „Wiener Schmäh“ optisch darzustellen, wenn er Begriffe wie „Blechtrottel“ oder „Gfrastsackl“ malt. 131
14. Station: Der Toboggan und der Kunstmaler
Dieser begabte Maler ist auf vielfältige Weise mit Witz und gutem Schmäh unterwegs. 1999 beauftragte der „Wiener Prater“ den Künstler mit der Erstellung eines neuen Logos für den Prater. Als Mundart-Maler ging er davon aus, dass der „Wiener Volksprater“ als „Wurstelprater“ geliebt wird, so entstand als Logo der allseits beliebte und überaus liebenswerte – Praterwurstel. Auch bei seinen Fahrgästen läuft sein Wiener Schmäh. So sagt er zu denen, die auf den Turm wollen: „Kennt’s eich aus? Sackerl mitnehmen – und ja net bremsen!“ Die Fahrt vom Toboggan, der alten Teufelsrutschen, gehörte in früheren Zeiten zu den kühnsten Fahrten im Wiener Wurstelprater. Heute jedoch, nach mehr als 100 Jahren, fällt der Toboggan neben Dutzenden High-Tech-Attraktionen – Turbo-Booster, Schwarze Mamba, Ejection Seat, Tornado und vielen anderen – kaum mehr auf. Viele Wiener sind jedoch froh, dass es sie noch gibt, die gute alte Teufelsrutsche in der Nähe des Schweizerhauses. Und dies ist dem farbenblinden Maler Sammy Konkolits zu danken.
Die „Schlumpf City“ der Kinder Unser Maler Sammy Konkolits freut sich über den Toboggan, aber auch über die dahinter liegende „Schlumpf City“, in der er als Kind mit seinem ersten Doppeldecker geflogen ist. Es ist das Reich der Familie Popp, angeblich eines der charmantesten Fleckchen, die der Prater zu bieten hat. Hier befinden sich, gleich in der Nähe zum Toboggan, ein Kinderringelspiel, eine Eisenbahn, eine Auto-Bergbahn, ein Mini-Monza und ganz hinten die alten Flugmaschinen. Josef Popp, dessen Urgroßeltern im 19. Jahrhundert mit einem Pony-Karussell angefangen haben, will diese klassischen Kinder-Attraktionen weiterführen, doch er hat keine Lust durch Investitionen ein größeres Geschäft zu machen. Er meint: „Aber wenn wir des alle machen – was bleibt denn dann 132
Die „Schlumpf City“ der Kinder
vom Prater übrig? Dann wird’s halt ein Hightech-Vergnügungspark, der überall auf der Welt stehen könnte.“ Sein Sohn Paul denkt ebenso, auch er will im Prater bleiben. „Nein, ich werd gar nichts umkrempeln. Das soll so bleiben, wie’s ist“, sagt er resolut.16
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15. Station: Die Hochschaubahn Radelnd gelange ich zur Hochschaubahn, sie gehört zu den klassischen Betrieben des Wiener Praters, sie erinnert an den Prater der 50er-Jahre. Gebaut wurde die Hochschaubahn in den Jahren 1948 bis 1950. Ich besitze ein Foto von meiner Firmung im Jahre 1955, das meinen Vater mit meinem Bruder Dieter, der gleichzeitig mit mir gefirmt wurde, ebenso wie mein Cousin Wolfi, vor der Hochschaubahn zeigt. Die Hochschaubahn wird als Familienunternehmen geführt. Sie ist ein reiner Holzbau mit einer konventionellen Schienenanlage. Daraus ergibt sich eine hohe Betriebssicherheit.
Der Bremser und die erste Reihe Mit großem Aufwand wird, wie ich lese, der Originalzustand der Hochschaubahn erhalten. Ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor der Hochschaubahn ist der mitfahrende Bremser, der nicht nur ein traditioneller Begleiter für die Fahrgäste ist, sondern auch ein zusätzlicher Sicherheitsfaktor. Meine Studentin Melanie Eberhart, die eine nette Proseminararbeit über diese Alpenfahrt-Hochschaubahn, auch Zwergerlbahn genannt, geschrieben hat, sprach während der Fahrt mit dem Bremser, der sie offensichtlich zu dieser Fahrt eingeladen hat. Dieser meinte, er würde sich ärgern, dass die meisten der Passagiere der Hochschaubahn in der ersten Reihe der Wagerln sitzen wollen. Manche Familien warten sogar so lange, bis sie in einem Wagerl ganz vorne sitzen können. Dies sei ärgerlich, weil er deshalb länger fahren müsse und weniger Pause habe. Beobachtet hat Frau Eberhart übrigens auch, dass manchmal Großeltern mitunter ohne ihre Enkelkinder fahren, um ihre Kindheitserinnerungen aufzufrischen.
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15. Station: Die Hochschaubahn
Hubert Pichlers Freude am Prater Zur Hochschaubahn gehört ein schmuckes Gasthaus, in dessen Gastgarten ich Herrn Hubert Pichler gemeinsam mit meinem Freund Dr. Franz Josef Mayr treffe. Herr Hubert Pichler, ein liebenswürdiger Herr, war früher, von 2004 bis 2008, Präsident des Praterverbandes. Wir bestellen uns je einen Apfelsaft. Er erzählt uns aus seinem Leben. Geboren wurde Herr Pichler im Jahre 1948. Er besuchte vier Jahre ein humanistisches Gymnasium nicht weit von der Hauptallee entfernt, bevor er in das sogenannte TGM in der Währingerstraße im 9. Bezirk wechselte, wo er auch maturierte. Seine Erinnerungen an die Prater Hauptallee sind nicht sehr erfreulich, denn, wenn er und andere Schüler des Gymnasiums (die Schule lag nahe beim Prater) etwas in der Schule angestellt haben, mussten sie zur Strafe die Hauptallee entlang bis zum Lusthaus und wieder zurück laufen. Herr Pichler erinnert sich lächelnd daran. Zum Prater kam er, weil sein Stiefvater Mitbesitzer der Hochschaubahn war. Die frühere Hochschaubahn, die am selben Platz stand, war während des Krieges niedergebrannt. Nach der Matura machte Herr Pichler seinen Dienst im Bundesheer. Nun begann er mit dem Studium der Wirtschaftswissenschaften, allerdings studierte er nicht fertig. Als sein Stiefvater starb, erbte er einen Anteil an der Hochschaubahn, es waren 25 Prozent. Der Notar, der sich um die Erbschaft zu kümmern hatte, dürfte Sympathien für Hubert Pichler gehabt haben, denn er sprach mit den anderen vier Miteigentümern der Hochschaubahn, sie sollten doch ihm, dem Hubert Pichler, der ein junger Mann sei und gute Ideen habe, ihre Anteile verkaufen. Hubert würde sich sicher um die Hochschaubahn verdient machen. Seine Mutter kaufte allmählich die anderen Anteile an der Hochschaubahn. Seit 1971 ist die Bahn im Besitz der Familie. Der Maschinenraum wurde in den folgenden Jahren komplett modernisiert, ebenso wurden die Elektroinstallationen erneuert. Über136
Hubert Pichlers Freude am Prater
wacht wird die Anlage durch ein Computersystem. Pro Jahr könnten es rund 100.000 Personen sein, die die Hochschaubahn transportiert. Gratisfahrten gibt es für bedürftige Kinder aus Österreich und der ganzen Welt wie zum Beispiel für Kinder aus Tschernobyl oder Rumänien. Herr Pichler führt uns nach dem Gespräch in das hölzerne Gehäuse der Hochschaubahn, in dem sich eine Werkstätte befindet. Zwei Mechaniker hat er in dieser angestellt, die sich nicht nur um die Hochschaubahn und um die Wagerln kümmern, sondern auch um Fahrräder und Rikschas, die hier, aber auch am Praterstern entliehen werden können. Ca. 400 Räder besitzt Herr Pichler, 250 sind ausleihbereit. Dazu kommen 45 Rikschas. Auf die Idee mit den Rädern kam er, weil er neben der Hochschaubahn ein zweites Standbein suchte. Der Rad- und Rikschaverleih dürfte ein gutes Geschäft sein. Hubert Pichler ist zwar gelernter Unternehmensberater, aber seine Berufung ist der Prater, ihm gehört seine Liebe. Wer einmal im Prater gearbeitet hat, meint er, der kann sich nicht mehr von ihm lösen. Für ihn ist die Beschäftigung mit der Hochschaubahn kein Beruf, bei dem man sagt, man ist froh, wenn man aufhören kann. Es ist eher umgekehrt bei ihm. Wenn es knapp vor 6 Uhr am Abend ist, sagt er sich, schade, dass der Tag schon aus und die Arbeit vorüber ist. Für ihn ist sein Hobby sein Beruf. Er liebt die Buntheit des Praters mit seinen Menschen. Dennoch meint er, die Menschen seien heute aggressiver als früher. Am schönsten ist es für ihn, wenn er eine Großmutter mit dem Enkelkind in der Hochschaubahn sieht und diese ihm sagt, wie schön die Hochschaubahn doch ist, genauso wie früher, als auch sie noch jung war. Am schönsten ist es für ihn auch, wenn er merkt, dass die Menschen, die hierher kommen und mit der Hochschaubahn fahren, sich freuen. Seine Frau, sie ist eine Türkin, hat er bei einem Ball der katholischen Mittelschulen kennengelernt. An diesem Ball nahm er mit der Tochter eines reichen Bauern aus dem 22. Bezirk teil, der gerne gehabt hätte, wenn er seine Tochter heiratet. Doch aus dem wurde 137
15. Station: Die Hochschaubahn
nichts, stattdessen verliebte er sich bei diesem Ball in seine jetzige Frau, die er schließlich geheiratet hat. 45 Jahre ist er verheiratet und hat zwei Töchter und ein Enkelkind. Es gibt nichts Schöneres als Enkelkinder, meint er glücklich. Ich stimme ihm zu, auch ich habe eine große Freude mit meinen Enkelkindern. Wir kommen auf den Schaustellerpfarrer Farrugia zu sprechen, den auch er kennt. Dieser sei ein klasser Bursche. Als Herrn Pichlers Mutter starb, verweigerte ihr der zuständige Wiener Pfarrer ein kirchliches Begräbnis, weil sie aus der Kirche ausgetreten war. Pater Farrugia aber meinte, dies wäre ein Unsinn von dem Priester gewesen und führte für die Mutter das christliche Begräbnis durch. Hubert Pichler hat großen Respekt vor Pfarrer Farrugia. Über den neuen Präsidenten Stefan Sittler-Koidl freut er sich, weil er ein junger Bursche ist, der auch neue Ideen einzubringen imstande ist. Als seine Frau merkte, dass sein Interesse dem Prater gilt, meinte sie, sie würde sich scheiden lassen, wenn er im Prater seine Lebensaufgabe findet. Dennoch blieb sie bei ihm. Hubert Pichler lächelt, als er meint, dass die Wirtschaftsuniversität, an der er einmal studiert hat – allerdings nicht fertig – und seine Frau als Lektorin gearbeitet hat, nun im Prater angesiedelt ist. Der Prater lässt ihn nicht los, hier sieht er die Vielfalt der Gesellschaft und erfreut sich an ihr. Die Wanderung im Inneren der Hochschaubahn, die eigentlich „Alpenfahrt“ heißt, hat etwas Geheimnisvolles. Man hört und sieht die Kette, die die Wagerln in die Höhe zieht. Und man hört einen Wasserfall, den man aber nicht sieht. Sein Wasser, es ist selbstverständlich Hochquellenwasser, kommt aus den Alpen. Der Prater fasziniert Hubert Pichler. Er ist Teil seines Lebens. Er ist froh, hier an der Hochschaubahn, die die Besucher bei ihrer „Alpenfahrt“ am Großglockner und an Heiligenblut vorbeiführt, seinen Lebensmittelpunkt zu haben. 138
16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht Die große Tierliebe der verstorbenen Frau Maria Reinprecht Ich schiebe mein Fahrrad zum 1. Wiener Pony-Karussell von Frau Maria Reinprecht, die ich vor einiger Zeit noch kennenlernen durfte. Leider ist sie 2015 gestorben. Sie war die „Grande Dame“ des Wiener Praters. Bei meinem Besuch zeigte sie mir den Stall, in dem ihre Pferde vorbildlich gehalten wurden. Frau Reinprecht war eine große Tierliebhaberin. Das zeigt sich in einer von Frau Reinprecht handschriftlich verfassten Beschreibung der Zerstörung des Praters im April 1945, die ich im Kapitel über das Riesenrad – Station 5 – wiedergebe. Mein Freund Franz Josef Mayr führte mit Frau Reinprecht ein langes Gespräch, über das er mir genau erzählte. Im Folgenden beziehe ich mich darauf. Frau Maria Reinprecht, sie ist eine verehelichte Lindengrün, wurde am 10.2.1932 geboren. Sie war die Alleininhaberin des 1. Wiener Pony-Karussells mit lebenden Pferden, einer Pferdereitbahn, einer Go-Kart-Bahn, einer Kinderautobahn und Kinderschaukeln. Der Großneffe von Frau Maria Reinprecht ist Alexander Meyer-Hiestand, er ist der Geschäftsführer ihrer Betriebe. Mit Kommerzialrat Wilhelm Popp hat sie die Firma Popp-Reinprecht gegründet, die einen Reitpavillon, eine Motorbootfahrt, eine Kindereisenbahn, eine Kinderflugbahn, eine Automatenhalle etc. betreibt. Neben den Familien Schaaf/Lang und Kolnhofer/Sittler zählt die Familie Reinprecht/Popp mit zwölf Schaustellergeschäften zu den drei „großen“ Praterfamilien in der heutigen Zeit. Franz Josef Mayr war begeistert von Frau Maria Reinprecht, weil sie als wirkliche Tierliebha139
16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht
berin während des Gespräches eine deutsche Dogge („Samy“), einen Golden Retriever („King“) sowie sechs Katzen um sich hatte.
Anton Reinprecht: Pferdekutscher und Gründer einer Praterdynastie Der erste ihrer Vorfahren, der sich im Prater niederließ, war der Großvater von Frau Reinprecht, Anton Reinprecht (1817–1881). Anton Reinprecht besaß ein Ei-, Käse- und Buttergeschäft am Rochusmarkt im 3. Bezirk. Um große Lieferungen durchführen zu können, schaffte er sich ein Pferd und einen Wagen an. Als dieser Großvater einmal in Deutschland auf Besuch war, sah er ein Karussell, das, wie es damals üblich war, noch mit Pferden und nicht mit einem Motor betrieben wurde. Da der Großvater sein Pferd und Pferde überhaupt liebte, kam er auf die Idee, in der Ausstellungsstraße 167 direkt neben der Feuerwerkswiese ein Karussell mit „Lebenden Pferderln“ zu eröffnen. Zu seinem bereits vorhandenen Pferd kaufte er noch zwei Pferde dazu. Als 1890 die Roth’schen Gründe in der Ausstellungsstraße verkauft und anschließend verbaut wurden, übersiedelte der Großvater das Karussell in die Zufahrtsstraße. Nun erwarb er noch zwei Pferde. Im Laufe der folgenden Jahre kamen einige Pferde dazu, sodass der Großvater seine Tiere nach bestimmten Zeitspannen durch ausgeruhte Tiere ersetzen konnte. Die elf Kinder des Großvaters wurden beim Karussell eingesetzt, um abwechselnd die Drehorgel zu betätigen. Das Pony-Karussell des Großvaters war ein reiner Holzbau, die Kutschen waren aber mit stilvollen Holzschnitzereien verziert. In den Kutschen saßen auf dem erhöhten Vorderteil meistens die Buben, dabei hatten sie das Gefühl, dass sie wirklich kutschieren. In den Kutschen und auf der Hinterseite der Kutsche saßen die Mädchen mit ihren Müttern, oder auch Damen ohne Kinder, sie stellten sich wohl vor, sie würden eine Ausfahrt mit einer Equipage in die Hauptallee unternehmen. Der Großvater der Frau Reinprecht starb jung an einem 140
Ing. Franz Reinprecht – Pferdefreund und Mechaniker – der Prater brennt
Leberleiden im 51. Lebensjahr. Nach dem Tod des Großvaters führte die Großmutter eine Zeit lang das Geschäft weiter.
Ing. Franz Reinprecht – Pferdefreund und Mechaniker – der Prater brennt 1920 übernahm der Vater von Maria Reinprecht, Ing. Franz Reinprecht, das Pony-Karussell. Er hatte Maschinenbau studiert und baute den Betrieb aus. Als zweites berufliches Standbein eröffnete er eine Autoreparaturwerkstätte in der Nussdorferstraße. Später kamen noch Werkstätten in der Heiligenstädterstraße und im 20. Bezirk dazu. Im Jahr 1945 hatten die Reinprechts schon acht Pferde: fünf Zugpferde und drei Reitpferde, die im Karussell mitgelaufen sind. Leider ist am 8. April 1945 das Pony-Karussell vollständig abgebrannt. Zerbombt wurde ihr Wohnhaus, ein wunderschönes Holzhaus, und der Stall. Die Hitzeentwicklung war enorm. Zu diesem Zeitpunkt waren aber nur mehr ganz wenige Schausteller im Prater anwesend, fast alle waren in die Luftschutzkeller im 1. Bezirk geflüchtet. Da die Reinprechts ihre Tiere nicht alleine lassen wollten, blieben sie bei diesen, auch als die Bomben fielen. Schließlich zogen die Reinprechts mit ihren Tieren in die Ausstellungsstraße. Traurig hielt Frau Reinprecht fest, dass von ihren acht Pferden, die am Tennisplatz in der Ausstellungsstraße eingestellt werden durften, leider nur ein einziges Pferd gerettet werden konnte. Zwei Pferde wurden gestohlen, fünf Pferde wurden von russischen Tieffliegern erschossen. Das Pferd Liese wurde nach einem Bombentreffer verschüttet. Frau Reinprecht grub dieses Tier aus und pflegte es, da es vorübergehend gelähmt war. Die russischen Soldaten sahen von einer Requirierung des Pferdes ab, da es sehr schwer verletzt war. Mit Ziegenmilch und gutem Futter, das man retten konnte, wurde das Tier wieder hochgefüttert. 141
16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht
Nach Monaten ist es wieder aufgestanden, nach einem Jahr konnte es wieder den Kopf heben.
Aufbau des neuen Karussells Die Reinprechts sind dann mit dem Pferd Liese und mit einem Wagen, in dem ihr Hab und Gut (Ziegen, Hasen, Hühner etc.) aufgeladen war, in den 23. Bezirk gefahren, weil der Vater bereits im Jahr 1932 in der Breitenfurterstraße das Haus Nr. 496 gekauft hat. Im Jahr 1946 begann der Vater ein neues Karussell zu planen und aufzubauen. Der alte Platz auf der Zufahrtsstraße wurde aber von der Gemeinde Wien nicht mehr vergeben, er sollte zum neuen Messegelände hinzukommen. Die Reinprechts erhielten im Prater die Parzelle 86a, gleich gegenüber vom Schweizerhaus. Da in der Nachkriegszeit im Wiener Prater keine Holzbauten errichtet werden durften, hat der Betriebsleiter der Wiener Baufirma Sager & Wörner, für die der Vater bereits in der Vor- und Zwischenkriegszeit Kraftfahrzeuge und Traktoren repariert hat, einen für die damalige Zeit sensationellen Betonbau geplant. Dazu muss man wissen, dass der Wiener Prater vor 1945 zu 90 Prozent aus Holzbauten bestand, die dann fast alle abgebrannt sind. Der Betriebsleiter der großen Baufirma hat sich auch bei den Behörden dafür eingesetzt, dass im Prater auf Parzelle 86a ein Betonbau gebaut werden durfte. Da der Vater aber gleichzeitig drei Autoreparaturwerkstätten (9., 19. und 20. Bezirk) mit 120 Mitarbeitern geleitet hat, hat er das Unternehmen Pony- Karussell aus Zeitgründen vorerst eher widerwillig und gegen seine innere Überzeugung durchgeführt. Die Mutter und die ältere Schwester Elfriede wollten aber unbedingt wieder in den Prater zurück. Elfriede Reinprecht heiratete 1954 Wilhelm Popp. Mit den Popps wurde 1958 die Firma Wilhelm Popp und Maria Lindengrün-Reinprecht (der Ehemann heißt Lindengrün, von dem sich Frau Reinprecht später aber getrennt 142
Die Notenblattorgel
hat) gegründet. Die Schwester war wie der Vater ausgebildete Technikerin, sie legte auch zusätzlich die Meisterprüfung als Automechanikerin ab und entlastete den Vater. Dieser leitete bis zu seinem 83. Lebensjahr sowohl die Praterbetriebe als auch seine Autoreparaturwerkstätten. Im Jahr 1970 hatten die Reinprechts schon circa 25 Ponys. Nach dem Krieg, im Jahr 1947, war das neue Karussell fertig. Gleichzeitig wurde auch das Stallgebäude fertiggebaut. Da sie ein Zugpferd hatten, benötigten die Reinprechts nur noch vier Pferde, um die fünf Kutschen auf Schienen zu ziehen und den Kreis des Karussells zu schließen. Der Vater hatte sehr gute Beziehungen zur Niederösterreichischen Molkerei (NÖM), da er als Spezialist deren Maschinen reparierte. Damals war die Wiener Zentrale der NÖM in der Molkereistraße. In der Wehlistraße hatten sie einen sehr großen Stall für ihre zahlreichen Zugpferde der Milchkutschen. Die Reinprechts bekamen daher im Jahr 1947 von der NÖM zwei Pferde für Samstag und Sonntag zur Verfügung gestellt. Ein großer Pferdehändler aus der Czerningasse, der auch Pferde auf der Trabrennbahn laufen ließ, borgte ihnen die restlichen zwei Pferde.
Die Notenblattorgel Im Jahr 1949 wurde in das Ponykarussell auch die Notenblattorgel von Professor Ferdinand Molzer eingebaut. Diese Orgel, es war bereits die dritte Orgel, die Professor Molzer für die Reinprechts gebaut hat, ist heute noch immer das Prunkstück des Karussells. Eigentlich ist diese Prachtorgel für das Pony-Karussell überdimensioniert, den wahren Wert dieses Prachtstücks hätte man niemals bezahlen können. Ferdinand Molzer war Orgelbauer (er baute auch eine Orgel in der Wiener Staatsoper) und Professor im Wiener Musikverein. Ferdinand Molzer besuchte die Reinprechts jeden Sonntag, er hat später auch die Tante von Frau Reinprecht, Karoline, geheiratet. Er stiftete auch für die Orgel 143
16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht
im Pferdekarussell gestanzte Noten, die er selbst für das Instrument auf spezielle Kartons umschrieb. Noten entsprechen Löchern im Karton, durch welche die Luft in Orgelpfeifen einströmt. Dadurch entsteht die Melodie. Wann immer die Orgel spielte, begannen die Pferde automatisch zu laufen, wenn sie zum Spielen aufhörte, blieben auch die Pferde stehen. Das ist heute noch immer so.
Die Autobahn aus Beton Der Vater Reinprecht war Maschinenbauingenieur, er hat im Jahr 1950 die erste Autobahn auf einer Betonbahn im Prater geplant und eröffnet. Die Benzinautos hat er mit seinen Mitarbeitern selbst gebaut, es waren aber keine Go-Karts, da sie nur ein Gaspedal besaßen, sie waren wesentlich größer als Go-Karts und als Zweisitzer konzipiert. Wenn der Fahrer vom Gaspedal weggegangen ist, hat sich automatisch die Bremse betätigt. Diese Konstruktion war einmalig im Wiener Prater. 1965 wurde die Autobahn mit Benzinautos auf einen reinen Go-KartBetrieb umgestellt. Die Go-Kart-Bahn ist heute auf Parzelle 146 in der Zufahrtsstraße noch immer in Betrieb. Im Jahr 1958 eröffnete die Firma Popp/Lindengrün auf Parzelle 75 die Motorbootfahrt, 1959 auf Parzelle 72 die Kleine Kindereisenbahn. Im Jahr 1960 hat der Vater eine Kinderautobahn entworfen und alle Autos selbst gebaut. Die Kinderautobahn, heute „Monzabahn“ genannt, befindet sich direkt neben dem Pony-Karussell vor dem Wohnhaus der Reinprechts. Dieses Fahrgeschäft geht sehr gut und wirft im Gegensatz zu den Pferdegeschäften Gewinn ab. Direkt neben dem Pony-Karussell befinden sich auch noch heute die alten Kinderschaukeln. Auch diese hat der Vater bereits 1922 selbst gebaut. Da sie aus Eisen bestehen, wurden sie durch das Feuer im Jahr 1945 nicht zerstört. Seit 1938 durften die Schaustellergeschäfte an Wochentagen erst ab 14.00 Uhr geöffnet werden, nur am Sonntag durften sie ganztägig öffnen. Frau Reinprecht hat im Jahr 1946 immer 144
Pferde-Reitbahn und Koppel
gleich nach Schulschluss die Schaukeln geöffnet, das war an manchen Tagen natürlich auch schon vor 14.00 Uhr. Es wurde aber sehr streng kontrolliert und der Vater bekam manchmal eine Verwarnung oder sogar eine Anzeige.
Pferde-Reitbahn und Koppel Im Jahr 1960 kaufte der Vater auch die Parzelle 117b und errichtete dort seinen Töchtern zuliebe die Reitbahn. Hinter der Reitbahn befindet sich die Koppel für die Pferde. 1970 wurde auf Parzelle 83b die Kinderautobahn Babycar errichtet, 1970 kam auf Parzelle 84 eine Automatenhalle, 1975 auf Parzelle 82 eine Kinderautobergbahn und auf Parzelle 95 der Wiener Reitpavillon dazu. Bereits im Jahr 1965 hatten die Reinprechts schon 20 eigene Ponys, vor nicht allzu langer Zeit standen 42 Pferde im Stall. Davon waren 39 Ponys, drei Pferde gehörten zur Rasse der Shyre Horse. Auch einige Island- und Shetlandponys wurden und werden hier gehalten. Da Haflinger besonders gutmütige und folgsame Pferde sind, werden sie gerne eingesetzt. Die Reitpferde müssen auf den geringsten Wink sofort reagieren. Wenn der Reitbursche bemerkt, dass ein Kind auf dem Pferderücken Angst bekommt, müssen die Pferde auf Befehl übergangslos in Schritt fallen. Ungefähr 50 Prozent aller Ponys sind Schecken und gehören zur Rasse Pinto Tobiano, die aus Nordamerika stammt. Diese Rasse hat braune, glatte Flecken auf weißem Untergrund. Schon die Sioux und Crow-Indianer haben diese Ponys wegen ihrer Farbe und Ausdauer sehr geschätzt und gezüchtet. Fast alle ihre Pferde haben die Reinprechts selbst gezüchtet. Frau Reinprecht hat für die Zucht zwei Hengste gekauft und den Stuten zugeführt. Die Fohlen wurden nicht verkauft, die Stallungen wurden daher vergrößert. Im Jahr 1981 wurde die Spielautomatenhalle auf Parzelle 84a gekauft und ein sehr großer 145
16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht
Stall gebaut, 1992 kam Parzelle 82 von Frau Guerini dazu, das Stallgebäude wurde nochmals wesentlich vergrößert. Das derzeitige Stallgebäude, meint Frau Reinprecht, geht über drei Parzellen, für insgesamt fünfzig Ponys. Jedes der Pferde hat eine eigene Box. Besonders stolz ist man auf drei Shyre Horse Pferde. Sie stammen aus England, die Shyre-Horse-Rasse gehört zu den größten Pferden der Welt. Jedes Pferd wiegt über eine Tonne und hat ein Stockmaß von circa zwei Metern. Es sind sehr gutmütige Pferde, sie werden aber nicht im Karussell eingesetzt. Es sind reine Zugpferde. Manchmal werden die Pferde für eine Kutschenfahrt in der Hauptallee gemietet.
Selbst gezüchtete Pferde – Respekt vor den Pferden Prinzipiell werden alle 39 Ponys in den drei Betrieben der Reinprechts eingesetzt. Die selbst gezüchteten Pferde beginnen mit vier Jahren im Karussell zu arbeiten. „Wir haben aber sehr viele alte Pferde, da wir nur sehr selten ein Pferd weggeben“, erzählte Frau Reinprecht. Liese, das älteste Pferd, ist bereits 36 Jahre alt und arbeitet an manchen Tagen noch immer auf der Reitbahn, jedoch niemals länger als eine Stunde pro Tag. Es gibt jedoch eine gewisse Spezialisierung. Ponys, die im Karussell oder im Reitpavillon eingesetzt werden, wechseln nicht auf die Reitbahn und umgekehrt. Alle Pferde werden täglich bewegt. Im Winter werden sie circa zwei bis drei Stunden in den Betrieben eingesetzt, im Sommer circa vier bis fünf Stunden. Eine Fahrt dauert circa zwei Minuten, die Pferde drehen meist nur wenige Runden hintereinander, einige im Schritt, einige im Trab. Nach einer Pause von circa zehn Minuten beginnt die nächste Fahrt. Nur an ganz wenigen Sonntagen, wenn das Geschäft besonders gut geht, sind die Intervalle zwischen den Fahrten kürzer. Zusätzlich werden die Pferde an Wochentagen von 9.00–11.00 Uhr in die Hauptallee zum Grasen geführt und wenn sie nicht in einem der drei Betriebe arbeiten, können sie sich in der großen Koppel 146
Die Liebe zum Pony-Karussell
bewegen. Während dieser Zeit werden die Boxen aller Tiere gereinigt, täglich wird frisches Stroh ausgelegt. Die Kosten dafür sind beträchtlich.
Die Liebe zum Pony-Karussell Das Geschäft im Wiener Prater ist in den letzten Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Es gibt derzeit ganz einfach zu viele alternative Freizeitmöglichkeiten in Wien und Umgebung. Computer und Internet führen auch dazu, dass immer weniger junge Gäste in den Wiener Prater kommen. Früher gab es nur den Wiener Prater als Vergnügungspark, viele Kinder freuten sich schon die ganze Woche, wenn sie am Wochenende mit dem Pony-Karussell fahren konnten. Eine Fahrt mit dem Pony-Karussell gehörte traditionell zu jeder Firmung. Es gab in früheren Zeiten auch kaum ein Kind, das anlässlich eines Praterbesuchs nicht mit dem Pony-Karussell gefahren ist. Heute hat fast jeder Pferdeliebhaber ein eigenes Pferd für seine Kinder, viele Ausflugsgasthäuser haben in ihrem Garten ein Pony für kleine Kinder. Frau Reinprecht führte das Pony-Karussell nur mehr aus Liebe zu den Pferden und zur Wahrung der Familientradition. Jeder Unternehmer, der aus rein betriebswirtschaftlichen Gründen handelt, hätte das Karussell schon lange geschlossen. Die älteren Schausteller haben alle eine sehr enge Bindung an den Wiener Prater, da nach dem Krieg alle Betriebe neu aufgebaut werden mussten. Seit dieser Zeit blieben fast alle Schaustellergeschäfte im Familienbesitz. Die Reinprechts sind froh, mehrere Geschäfte zu besitzen, um so das Pony-Karussell finanzieren und dadurch am Leben erhalten zu können.
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16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht
Die Zukunft des Wiener Praters – die Einmaligkeit der Fahrgeschäfte Die traditionellen Schausteller hoffen, dass der Wiener Prater niemals zu einem eingezäunten Themenpark umgestaltet wird. Die gelungene Mischung aus traditionellen Schaustellerbetrieben (Geisterbahn, Autodrom, Karussell, einfachen Fahrgeschäften etc.) und hochmodernen hydraulisch-pneumatischen Hochgeschäften und Hochfahrbahnen (Volare, Starflyer etc.) ist einmalig auf der ganzen Welt. In gewisser Weise modernisiert sich der Wiener Prater alljährlich selbst. Kein Schausteller kann über einen längeren Zeitraum ein Geschäft führen, das vom Publikum nicht angenommen wird. Fast jeder Schausteller hat auf mehreren Parzellen Geschäfte. Zur Pflege der Tiere und der Stallungen benötigen die Reinprechts acht Angestellte, auch in den Wintermonaten, wenn überhaupt keine Gästefrequenz vorhanden ist. Zusätzlich kommen noch die Kosten für Futter, Stroh, Tierarzt, Reparaturen, Investitionen, Miete etc. Im Jahr 1992 wurde das Pony-Karussell um einen Millionenbetrag renoviert. Die Errichtung einer stilvollen Glasfassade mit winterfesten Wärmeschutzfenstern und -türen war besonders teuer. Das Kupferdach und die Holzkonstruktion des Daches wurden ebenfalls erneuert. Um die Anlage wurden stilvolle Laternen und ein neuer Zaun aufgestellt. Die Verkleidung der Kutschen wurde nach den alten Originalen mit zweifärbigen Holzfurnieren gestaltet. Das 1. Wiener Pony-Karussell ist ein fixer Bestandteil der Wiener Praters.
Der Stolz auf die Stammgäste Auf ihre vielen Stammgästen ist Frau Reinprecht sehr stolz. Immer wieder kommen auch ältere Gäste mit ihren Enkel- oder sogar Urenkelkindern und erzählen voller Stolz, dass auch sie schon mit dem Karussell in ihrer Jugendzeit gefahren sind. Sie fahren dann mit den Kindern 148
Der Stolz auf die Stammgäste
und ich konnte schon oft erkennen, wie glücklich sie dabei sind. Frau Reinprecht war sich sicher, dass ihre Entscheidung richtig war, nach dem Tod des Vaters 1983 und der Schwester 1985 das Karussell allein weiterzuführen, obwohl ökonomische Gründe für ein Schließen des Betriebes sprachen, da ein Pferdebetrieb heutzutage nur sehr schwer rentabel geführt werden kann. Soweit die Wiedergabe des Gesprächs mit Frau Reinprecht, die leider nicht mehr unter den Lebenden weilt. Man glaubt ihr, wenn sie von der Liebe zu den Ponys erzählt. Sie wird sich gekränkt haben, als Außenstehende gemeint haben, die Ponys hätten es schlecht bei ihrem Karussell. Ich selbst machte mich daran, die Ponys bei ihrer Arbeit zu beobachten. Ich sah, dass sie von den Angestellten der Reinprechts gemütlich im Kreis geführt und von den auf ihnen sitzenden Kindern gestreichelt wurden. Frau Constanze Beeck, die an meiner Lehrveranstaltung über die Methode der teilnehmenden Beobachtung teilnahm, hat eine kleine Forschungsarbeit über das 1. Wiener Pony-Karussell verfasst. Zum Gegenstand ihrer Beobachtung machte sie dieses Karussell, denn dieses hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, als sie einmal durch den Prater zur Wirtschaftsuniversität wanderte. Sie blieb beim Karussell stehen und schaute den Ponys zu, da es sie interessierte, wie die Pferde gehalten werden und wie die Besucherinnen und Besucher auf die Pferde reagieren, wobei sie den „Fokus“ auf die sozialen Beziehungen zwischen Menschen, die mit Pferden zu tun haben, und zwischen Mensch und Pferd legte.17 Nach einer Beschreibung der „Arbeit“ der Pferde beim Karussell hält die Studentin aufgrund ihres Beobachtungsprotokolls fest, dass die beiden Männer, die sich um die Pferde kümmern, aus Kroatien und Rumänien stammen, also aus Gegenden, in denen heute noch Pferde für die tägliche Arbeit der Kleinbauern eingesetzt werden. Es lässt sich 149
16. Station: 1. Wiener Pony-Karussell – Frau Maria Reinprecht
wohl sagen, dass diese beiden Mitarbeiter im Karussell und auf der Reitbahn gute Erfahrungen mit Pferden mitbringen. Schließlich meint Frau Beeck, dass zwischen Pony und Mensch eine mitunter sehr enge Beziehung besteht. Diese zeigt sich unter anderem darin, dass die Pferde als gleichwertig mit den Menschen gesehen werden, die Pferde werden auch mit Menschennamen belegt. So nannte einer der Mitarbeiter seine beiden Pferde Fritz und Flora. Die Ponys werden bisweilen wie Freunde behandelt, die man mit Vorliebe streichelt. Manche der Besucher sprechen sogar mit den Ponys, andere beugen sich zu den Ponys hinunter, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sein. Ein solches Handeln ist unabhängig von sozialer Schicht, glaubt die Studentin gesehen zu haben. Andererseits sind die Ponys im Karussell auch echte Arbeitstiere, da sie die Wägen zu ziehen haben, in denen die Fahrgäste sitzen. Das Fahren mit der Kutsche erinnert nostalgisch an frühere Zeiten, als nur noble Leute, allen voran der Kaiser, sich Pferd und Kutsche leisten konnten. Insofern hat das Pony-Karussell für Kinder auch eine lehrreiche Funktion. Das Kind sieht aber auch, dass das Tier der Pflege und des Mitgefühls des Menschen bedarf, schließlich ist es der Mensch, der das Pony füttert und pflegt. Kinder reagieren sehr unterschiedlich auf die Ponys, meint die Autorin. Einige Kinder laufen sofort auf die Ponys zu, um sie zu streicheln, andere Kinder wieder sind zurückhaltend. Grundsätzlich jedoch ist das Kind neugierig gegenüber Ponys. Dies bedeutet eine positive Funktion des Pony-Karussells. Die Studentin hörte auch die Kritik an dieser Art der Pferdehaltung. Einige Leute meinten, dass die Pferde, weil sie andauernd im Kreis laufen, gesundheitlich geschädigt werden. Für einen Teil der Prater-Touristen ist das Pony Karussell ein beliebtes Fotomotiv.
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Der Stolz auf die Stammgäste
Das Besondere des Pony-Karussell, meint meine Studentin, ist, dass es in diesem nicht um Schnelligkeit, Geschicklichkeit oder Gruseln geht, wie bei anderen Fahrgeschäften, wie den Autodromen und Geisterbahnen, sondern um eine echte Mensch-Tier-Beziehung, die sehr förderlich sein kann, was schlussendlich auf eine uralte kulturelle Tradition hindeutet.
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17. Station: Die Wiener Rutsche – Frau Liselotte Lang, geb. Schaaf Mit meinem Rad komme ich bei der „Wiener Rutsche“ von Frau Lise lotte Lang vorbei. Sie sitzt wie immer in ihrem Häuschen am Beginn der langen, wellenförmigen Rutsche. Auch sie entstammt einer alten Praterdynastie. Kennengelernt habe ich diese interessante Dame durch meinen Freund Franz Josef Mayr. Auch mit ihr führte Franz Josef ein langes Gespräch, über das er mir einigermaßen genau berichtete. Meine folgenden Ausführungen beziehen sich darauf. Dafür sei Franz Josef Mayr, der mir die Erlaubnis gab, dieses zu verwenden, herzlich gedankt. Liselotte Lang wurde am 1.10.1927 als Tochter von Herrn Ing. Karl Schaaf und seiner Ehefrau Helene in eine Schaustellerfamilie geboren und wurde selbst Schaustellerin. Frau Lang war zweimal verheiratet. Aus ihrer ersten Ehe mit Josef Gruber stammen die Töchter Elisabeth und Renate, aus ihrer zweiten Ehe mit dem Präsidenten des Praterverbandes, Eduard Lang (25.6.1912–5.11.1995), die Tochter Silvia und der Sohn Karl. Alle vier Kinder brachten es zu erfolgreichen Schaustellern und Unternehmern im Wiener Prater. Liselotte Lang erlebte ebenso wie Frau Maria Reinprecht die nahezu vollständige Zerstörung des Wiener Praters am 8. April 1945. Frau Lang hat vielleicht das größte Wissen über die Praterdynastie Schaaf-Kobelkoff und überhaupt über die Geschichte des Praters. Sie war immer eine Schaustellerin mit Leib und Seele und sie ist von einer ungemein warmherzigen Art.
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17. Station: Die Wiener Rutsche – Frau Liselotte Lang, geb. Schaaf
Abb. 12: Die elegante „Wiener Rutsche“ gehört der Praterfamilie Lang.
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Die Geschichte der aus Leipzig stammenden Schaafs im Wiener Prater
Die etwas komplizierte Geschichte der aus Leipzig stammenden Schaafs im Wiener Prater Johann Friedrich August Schaaf (1821–1885), geboren in Leipzig, war der erste der Familie im Wiener Prater. Frau Lang erzählt, dass Johann Friedrich August Schaaf, kurz August Schaaf, Samengärtner war und mit einem Pferdewagen in Deutschland von Markt zu Markt gefahren ist. Auf einem dieser Märkte lernte er einen Puppenspieler kennen, dem er sein einfaches Kasperltheater abkaufte. Später kaufte Schaaf noch Tiere von der Hamburger Tierhandlung Hagenbeck, mit denen er in den folgenden Jahren auch im Wiener Prater auftrat. August Schaaf bereiste abwechselnd mit Schaubühnen, Marionettentheater, Menagerien, Affentheater etc. ganz Mitteleuropa. 1859 wurde sein Sohn Friedrich Carl geboren. 1866 kaufte August Schaaf das Schaugeschäft im Prater, Parzelle 66, von Herrn Redl. In diesem Panoptikum wurden allerhand Figuren aus Gips gezeigt, wie siamesische Zwillinge und andere Abnormitäten. 1869 starb seine zweite Frau. 1870 heiratete Johann Schaaf Auguste Wilfert (1847–1908) in Wien. August Schaaf holte den Rumpfmenschen Nikolai Wassiljew Kobelkoff von Hamburg nach Wien. Kobelkoff wohnte im Prater bei der Familie Schaaf und lernte dort auch die junge Anna Wilfert, Tochter eines Schaustellerehepaares, die öfters in Wien auf Besuch bei den Schaafs waren, kennen und heiratete sie. 1885 starb August Schaaf. Seine Frau führte das Geschäft bis 1925 weiter und verkaufte es dann an Friedrich und Stephanie Holzdorfer. 1886 baute Friedrich Carl Schaaf, der Sohn von August Schaaf, verheiratet mit Emilie, geb. Wilfert (Schwester von Auguste Wilfert-Schaaf ), gemeinsam mit den bekannten Schaustellern Pretscher und Präuscher eine Rutschbahn neben dem Buschkino in der Ausstellungsstraße. Dann kaufte er das Karussell „Zum goldenen Ritter“ auf Parzelle 34 155
17. Station: Die Wiener Rutsche – Frau Liselotte Lang, geb. Schaaf
Abb. 13: Der Russe Nikolai Kobelkoff wurde ohne Arme und Beine geboren, er brachte es dennoch im Prater zum Kunstschützen. Er heiratete Anna Wilfert und zeugte mit ihr 11 Kinder.
im Prater. Das Geschäft ging nicht gut, so beschloss er, das Ringelspiel wieder zu verkaufen. Es kam 1888 nach Smyrna in die Türkei. 1888 wurde Karl Johannes Schaaf geboren. Friedrich Carl Schaaf errichtete 1891 ein Rudersportkarussell. Dieses war ein besonders prachtvolles Karussell, das in der Ersten Mai-Straße am Eingang in den Wiener Prater in unmittelbarer Nähe vom Riesenrad stand. 1896 stellte Friedrich Carl Schaaf die ersten Schaukelpferde in seinem Rudersportkarussell auf, einige Jahre später folgte die erste Notenblattorgel. Neben dem Rudersportkarussell wurde auch das erste mechanische Hippodrom aufgestellt. Die Spiralfedern dafür wurden in Paris bestellt. Im Jahre 1902 präsentierte Friedrich Carl Schaaf erstmalig einen elektrischen Karussellantrieb. 1904 wurde das sogenannte Neptunkarussell unter einem reich 156
Die Geschichte der aus Leipzig stammenden Schaafs im Wiener Prater
geschmückten, im Sezessionsstil gehaltenen Baldachin errichtet. 1913 wurde nach Entwürfen von Ing. Karl Johannes Schaaf eine unterirdische Karussellkonstruktion von der Simmeringer Waggonfabrik gebaut. Jeder Wiener kannte diesen Prachtbau. Das Schaustellergeschäft mit anschließendem Wohnhaus fiel, so wie die meisten anderen Schaustellergeschäfte auch, dem furchtbaren Brand am 8. April 1945 zum Opfer. 1911 kaufte Friedrich Carl Schaaf Parzelle 28 von Johann Wimmer. Herr Schaaf errichtete zeitgemäß ein Aeroplankarussell (Fa. Fritz Bothmann aus Gotha). Später kamen noch eine Scheibenbahn mit rotierenden Bodenplatten und ein Fahrradkarussell hinzu. 1927 starb die Gattin von Friedrich Carl Schaaf. 1928 kaufte sein Sohn, Ing. Karl Schaaf, der Vater von Liselotte Lang und verheiratet mit Helene, geb. Kobelkoff, von Markus Feld die Praterparzelle 22 und baute dort ein Fliegerkarussell. Das waren zwei Aeroplane, die sich schaukelnd im Kreise drehten. Später kam noch ein Freudenrad dazu. 1935 schuf Ing. Karl Schaaf die Todesmauer für besonders mutige Besucher. Es handelte sich dabei um eine Motorradfahrt an einer senkrechten Wand. Diese Schaustellergeschäfte gingen im großen Brand des Praters im April 1945 zugrunde. Nach dem Tode von Ing. Karl Johannes Schaaf, 1946, kam sein Sohn Alexander Schaaf (1923–1996) aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Es gelang ihm, Parzelle 45 von Frau Stadlbauer und Frau Führer zu kaufen. Er eröffnete dort das Durchgehgeschäft Calypso, das heute noch besteht. Es wurde das Herzstück seiner Schaustellergeschäfte, das er auch immer wieder umbaute und dem Trend der Zeit anpasste. Sein Enkel Andreas Schaaf betreibt es derzeit. Im Laufe der folgenden dreißig Jahre kaufte der Bruder von Frau Lang, Alexander Schaaf, Parzelle um Parzelle im Wiener Prater und schuf ein Imperium an verschiedensten modernen Schaustellergeschäften, wie es vergleichsweise vor dem Krieg nur Friedrich Holzdorfer gelungen war. Alexander Schaaf wurde von den Medien „Wiens ungekrönter König der Schausteller“ genannt. Am 157
17. Station: Die Wiener Rutsche – Frau Liselotte Lang, geb. Schaaf
Höhepunkt seiner Schaustellertätigkeit besaß er die mit Abstand meisten Schaustellergeschäfte aller Schausteller im Wiener Prater. So weit die etwas kompliziert erscheinende Geschichte der Schaafs im Wiener Prater, wie sie von Liselotte Lang erzählt wird.
Die Erinnerungen von Frau Lang an die Zeit vor dem Krieg – früher ging man in den Prater tanzen Früher sei es ruhiger im Prater gewesen, meint Frau Lang, die Schausteller hätten untereinander freundschaftliche Beziehung gepflegt und ihre Geschäfte waren familiär geführt. Es gab noch nicht so viele Geschäfte wie heute, am Wochenende war der Praterbesuch aber immer sehr gut. Es gab noch keine große Konkurrenz, die Wiener Bevölkerung kam auch mehrmals im Jahr auf Besuch. Heute ist das nicht mehr so. Im Sommer lebt der Prater von den Touristen. Schlecht war früher, so Frau Lang, dass es kaum finanzielle Unterstützungen beim Aufbau der Geschäfte gab, bis auf wenige Ausnahmen waren die meisten Schausteller eher arm. Die Vergnügungssteuer belastete uns zusätzlich. Ab 1970 war eine zunehmende Qualität der Betriebe erkennbar. Einige Besitzer von Spielhallen seien in kurzer Zeit relativ wohlhabend geworden, allerdings waren diese keine Schausteller, sondern Geschäftsleute. Bis 1945 hatten die Prater-Restaurants meistens im Lokal oder im Gasthausgarten eine Bühne, auf denen Musikkapellen gastierten oder einfache Bühnenstücke aufgeführt wurden. Es wurde auch getanzt. Zum Wochenende war der Besuch immer gut. Das heutige Publikum hat kein Interesse mehr an Bühnenstücken. Früher ging man am Wochenende in den Prater tanzen – heute geht man in die Disco.
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Die Vergnügungsbetriebe für die ganze Familie, die Firmlinge
Die Vergnügungsbetriebe für die ganze Familie, die Firmlinge Eltern und Großeltern suchten gerne, so erzählt Frau Lang, mit ihren Kindern oder Enkelkindern jene Geschäfte auf, wo sie selbst als Kind gefahren sind. Diese sind typische Vergnügungsbetriebe für die ganze Familie und für alle Altersgruppen. Die Großmutter fährt genauso gern wie das Kleinkind, Jugendgruppen oder Liebespaare. Diese Schaustellergeschäfte waren in der Anschaffung sehr teuer, permanente Änderungen sind aus bautechnischen Gründen nicht leicht möglich. Daher haben sich diese Betriebe bis heute gehalten. Im Gegensatz zu vielen modernen Fahrgeschäften sind diese Betriebe nicht transportabel, sondern sind fix gebaut. Seit Generationen war es Tradition, dass Firmlinge festlich gekleidet im Fiaker in den Prater geführt wurden. Unterhaltung und gutes Essen waren zwei wichtige Kriterien, die man für eine gelungene Firmung voraussetzte und im Wiener Prater realisieren konnte. Eine Firmung ohne Wiener Prater und ohne eine Uhr als Geschenk war unmöglich. An den Firmtagen im Mai und Juni war der Prater schon am Vormittag übervoll, vergleichbar mit dem 1. Mai. Die Firmungsgruppen kamen aus ganz Österreich. Da heute in jeder größeren Ortschaft gefirmt werden darf, kommen auswärtige Firmlinge mit ihren Paten und Verwandten kaum mehr in den Prater. Dazu kommt noch, dass die Anzahl der Firmungen stark zurückgeht, speziell in Wien. Dadurch kommen auch weniger Fiaker und weniger festlich gekleidete Firmlinge in den Prater. Früher sah man an den Firmtagen eine besonders große Anzahl von festlich gekleideten Firmlingen. Auch das ist wohl endgültig vorbei. Es gibt ganz einfach vielerlei andere Angebote, Firmung und Prater gehören nicht mehr untrennbar zusammen. Statt der Uhr gibt es ein Handy, der Praterausflug 159
17. Station: Die Wiener Rutsche – Frau Liselotte Lang, geb. Schaaf
wird durch einen Kurzurlaub ersetzt. Der Nobelfirmtag, der früher an den Donnerstag-Feiertagen und am Wochenende stattgefunden hat, ist heutzutage am Praterbesuch kaum mehr erkennbar.
Frau Lang blickt in die Zukunft Frau Liselotte Lang schaut positiv in die Zukunft. Sie glaubt wohl zu recht, dass der Wiener Prater weiterhin Bestand haben wird. Allerdings gibt es Entwicklungen, die sich bisweilen negativ auf den Wiener Prater auswirken. So sind die Leute mobiler geworden, die Konkurrenz durch viele große Feste oder ähnliche Aktivitäten, wie das Donauinselfest, die Feste am Rathausplatz, Bezirkskirchtage, ganzjährige Fußgänger zonen mit vielen mobilen Verkaufsständen usw. halten Leute ab in den Prater zu gehen. Hingegen hat sich sehr positiv die Ostöffnung ausgewirkt. Die Touristen ersetzen die zum Großteil ausbleibenden Wiener. In der Zwischensaison – Frühjahr und Herbst – sind die Gäste aus den Bundesländern für den Wurstelprater sehr wichtig.
Die Betroffenheiten der Frau Lang und der ewige Reiz des Wurstelpraters Betroffen gemacht haben Frau Lang der Brand des Lustspielkinos vor einiger Zeit und natürlich die Tage um den 8. April 1945, als der Prater brannte. Es ist ärgerlich, dass kleinere Unternehmen immer wieder aufgeben müssen, da sie keinen Gewinn machen. Es freut Frau Lang besonders, wenn neue, attraktive Schaustellergeschäfte im Prater eröffnet werden. Der Wiener Prater erneuert sich, den Wünschen der Gäste entsprechend, ständig. Traurig macht sie die Tatsache, dass nur mehr wenige große Unternehmer in der finanziellen Lage sind, große Investitionen durchführen zu können.
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Die Betroffenheiten der Frau Lang und der ewige Reiz des Wurstelpraters
Frau Lang kommt ins Schwärmen: Es ist ein herrliches Gebiet zwischen Donau und Donaukanal, in dem die Praterleute leben und tätig sind. Für die Besucher des Praters ergeben sich ungemein viele Möglichkeiten, sich zu unterhalten und zu erholen. Der Wurstelprater bietet Vergnügen und Freude für Jung und Alt, es gibt gemütliche, traditionelle Familienbetriebe, aber auch schnelle Hochschaubahnen und Fahrgeschäfte für besonders mutige Fahrgäste. Wer Ruhe sucht, findet diese in den Praterauen oder in der Hauptallee. Wer sportlich aktiv sein möchte, kann dies auf vielen Sportplätzen, Tennisplätzen etc. sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von gemütlichen Gaststätten mit Gastgärten und uralten Kastanienbäumen sowie noble Restaurants mitten in der grünen Praterlandschaft. Kein anderer Vergnügungspark auf der Welt bietet so viele verschiedenste Möglichkeiten mitten in der Großstadt. Kein Vergnügungspark der Welt hat so eine Tradition. So weit das Gespräch mit Frau Lang, die großartig zu erzählen weiß und ein Urgestein des Praters ist. Ihre Erzählungen geben Auskunft über die alte Kultur des Praters, die sich wohl verändert, aber weiterhin Bestand hat.
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18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater Ein Fremder aus Tirol, der keine Verwandten oder Freunde im Prater hat und der aus Eigenem auf die Idee kam, im Prater die höchsten und aufregendsten Fahrgeschäfte zu bauen, ist Walter Pondorfer. Auf die Idee, mit ihm zu sprechen haben mich Franz Josef Mayr, der unermüdliche Praterforscher, und Milan Brantusa, der Herr der Grottenbahn, gebracht.
Hut ab vor dem Mann aus Tirol! Bevor ich mit Walter Pondorfer sprach, erzählte mir Milan Brantusa über ihn Folgendes: „Dieser Pondorfer ist ein ‚Selfmademan‘ ohne Gleichen. Er kommt aus Dölsach in Osttirol, das ist der Ort mit der höchsten Postleitzahl von Österreich. Er hat dort Kirchtürme repariert. Dabei musste er immer hoch hinaufklettern. Dadurch hat er eine A ffinität zu solchen waghalsigen Unternehmen bekommen. Angefangen hat er mit dem Bungee Jumping. Er hat selbst die Geräte gebaut und ein paar verkauft. Dann hat er die Kugel zum Hinaufschießen mit Gummiband konstruiert. Nach zwei Jahren hat er sich gesagt, das bau ich um, statt mit „Gummibandln“ mache ich das Gerät mit Federn und Seilwinden. Von den Italienern hatte er die Idee zum Turboboot. Das hat er bei Italienern gesehen, er dachte sich, das baue ich sofort nach. So aus dem Stegreif – in seiner kleinen Fabrik. Das ist eine irrsinnig lange Stange, 40 Meter lang. Die dreht sich im Höllentempo im Kreis. Diese Geräte werden genau vom TÜV-Austria überprüft. Alleine, dass er sich über solche Sachen drübertraut, ist zu bewundern. Interessant ist die Platz163
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
wahl für seine Geräte. Bewusst nimmt er jene Plätze in Pacht von der Gemeinde Wien, die sonst keiner will. Er hat die schlechtesten Plätze ganz hinten, die keiner wollte. Er war Subpächter, den ersten Betrieb hatte er beim Popp im Prater, dort hatte er das Bungee Jumping und die Kugel aufgestellt. Die anderen waren froh, dass ein Neuer gekommen ist, der interessante Geschäfte hat und dabei gut verdient. Ich bewundere den Mann. Wie er den Turm gebaut hat, habe ich zu ihm gesagt: ‚Walter, du heißt bei mir nur mehr Herr Eiffel, nach dem Herrn Eiffel, dem Erfinder des Eiffelturms. Wenn ich mir deinen Turm anschaue, erinnert er mich an den Eiffelturm, er schaut genauso aus. Bei mir heißt du also nur mehr Herr Eiffel.‘“ Milan fängt zu Schwärmen an: „Hut ab vor diesem Mann aus Tirol! Der Mann hat eine gute Infrastruktur. Das hat natürlich viel Geld gekostet. Im Prater hat er den Vorteil, er baut die Geräte und verkauft sie auch. Er hat eine permanente Ausstellung. Er muss nicht mit seinen Sachen von einer Messe zur anderen fahren, hier ist alles von ihm ausgestellt. Hier kann man seine Konstrukte besichtigen. Er ist nicht gezwungen, seine Geräte in einem Messegelände für ein paar Tage auf- und abzubauen und sie dann wegzuführen. Jetzt hat er schon 4 oder 5 Fahrgeschäfte hier stehen. Lauter sonderbare Geräte. Das eine ist eine Schaukel mit einem Blitz, der sich dreht. Auf diesem Blitz hängt die Schaukel. Ich habe ihn gefragt, wie er dazu gekommen ist. Er sagt: ‚Daheim habe ich ein Schnürl mit einem gebogenen Draht verbunden, das habe ich gedreht, und gesehen, dass es funktioniert. Dann habe ich dasselbe, nur 50 Meter hoch, gebaut.‘ Der Pondorfer hat gute Leute, wie Statiker und Techniker, angestellt, aber die Ideen stammen von ihm. Er klettert auch selbst überall hinauf und arbeitet hoch oben. Der Praterturm mit dem Ringelspiel ist 117 Meter hoch. Es ist ein ganz gewöhnliches Kettenkarussell, das aber über 100 Meter in die Höhe geht. Die Benützer sind mit einem Gurt gut gesichert, sie können nicht herausfallen.“ Ich erkundige mich nach der Konkurrenz unter den 164
Dachdecker und Bergsteiger
Schaustellern. Milan erzählt dazu: „Der Neid ist relativ groß, wie überall auf der Welt. Wir picken mit unseren Geschäften sehr zusammen. Wenn wir viele Besucher im Prater haben, verdienen alle. Wenn keiner da ist, verdienen wir nichts. Wenn es aber darauf ankommt und wir für den Prater gemeinsam etwas machen sollen, halten wir alle zusammen.“
Dachdecker und Bergsteiger Milan Brantusa, der Mann mit der Grotten- und der Geisterbahn, hat mich neugierig gemacht. Ich treffe den Osttiroler Walter Pondorfer in einem Extrazimmer des 1. Stockes des Schweizerhauses. Auch Milan Brantusa und Franz Josef Mayr sind bei dem Gespräch dabei, eine Zeit geben uns auch Karl Kolarik und seine Schwester Lydia, die Chefs des Schweizerhauses, die Ehre ihrer Anwesenheit. Ich trinke einen Schnitt Bier – ein Schnitt ist eine geringe Menge Bier mit viel Schaum in einem Bierkrügel. Ich biete Walter Pondorfer, dessen Geschichte ich schon eine Zeit lang verfolge, das Du-Wort an. Er ist einverstanden. Franz Josef Mayr bezeichnet ihn als einen der Stars des Praters. Walter Pondorfer lacht und beginnt zu erzählen: „Ich bin am 12.7.1961 geboren worden. Also gar so jung bin ich nicht mehr. Mein Vater war Dachdecker und Zimmermann. Er ist leider schon gestorben. Einmal hatten mein Vater, damals war er noch bei einer Dachdeckerfirma angestellt, und seine Partie einen Kirchturm zu reparieren. Dieser war mit Holzschindeln gedeckt. Der Partieführer hat gesagt, mein Vater und die anderen sollen den Turm für ihre Arbeit einrüsten, damit sie am Turm arbeiten können. Mein Vater hat gemeint, es ist viel zu viel Arbeit, den Turm mit einem Gerüst zu versehen. Es ist doch besser, ein Seil zu verwenden. ‚Was, mit einem Seil?‘, hat der Partieführer gesagt, ‚So ein Blödsinn. Das ist doch viel zu gefährlich‘. Dann hat er nachgedacht und gefragt: ‚Wie meinst denn du das?‘ Darauf mein 165
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
Vater: ‚Ich werde ein Seil nehmen, damit man am Turm herumklettern kann, und etwas zum Sitzen.‘ Der Partieführer hat zu meinem Vater gesagt: ‚Mach du es, wie du willst, wir sagen nichts dem Chef. Der Chef erspart sich Geld und der Turm ist repariert‘. Mit meinem Vater hat der Meierl Sepp, ein Bergsteiger, der vor ein paar Jahren abgestürzt ist, gearbeitet. Irgendwann hat sich der Vater selbstständig gemacht und hat sich auf Kirchtürme spezialisiert. Der Krieg ist dazwischengekommen. Danach hat er weiter gemacht, er hat eine Firma aufgebaut. Mittlerweile gibt es mehrere solcher Firmen. Mein Vater war ein Pionier auf dem Gebiet des Reparierens von Kirchtürmen. Auf diese Weise hat er der Erzdiözese Wien Millionen Schilling an Gerüstkosten erspart. Seine Technik mit dem Seil wird heute von einigen Firmen weiter angewendet, so zum Beispiel von einer Firma, die am Stephansdom arbeitet. Die Technik mit dem Seil haben sie alle von meinem Vater. Ich selbst bin eigentlich ein gelernter Mechaniker. Die Firma meines Vaters hat mein Bruder übernommen. Ich habe drei Geschwister, eine Schwester und zwei Brüder. Der Bruder, der die Firma vom Vater übernommen hat, ist leider vor Kurzem gestorben. Er hat Leukämie gehabt. Er war ein Sportler, ein pumperlgsunder Mensch. Er war sportlich s uper, er ist gejoggt und Ski gefahren, alles hat er gemacht. Und dann hat er Leukämie bekommen. Wie er gestorben ist, war er etwas über 50. Er hat das Kirchturmkreuz in einem Ort bei Lienz mit meinem anderen Bruder renoviert. Zu diesem hat er gesagt, er war schon richtig schwach: ‚Das ist mein letztes Kirchturmkreuz, das ich mache.‘ Zwei Monate später ist er gestorben. Der Bruder war nicht verheiratet, er hat aber von drei Frauen vier Kinder. Meine Eltern stammen beide von einem Bauernhof. Mein Vater hat eine Leiten, ein Feld am Hang, geerbt, das war die Weber-Leiten, er ist beim Weberbauern aufgewachsen. Auf dieser Weber-Leiten hat der Vater später ein Haus gebaut, eine Fremdenpension. 166
Dachdecker und Bergsteiger
Damals in den 50er- und 60er-Jahren war in Osttirol ein Fremdenverkehr ohne Ende. Die Pension gibt es immer noch. Meine Mutter ist 92 Jahre alt. Wir hatten Stammgäste, die meisten sind schon gestorben. Aber die Kinder der Stammgäste und die Enkelkinder, die kommen noch immer zur Mutter. Die Osttiroler sind gastfreundliche Leute. Ein wildes Bergvolk in den Alpen (Er lacht.) Es sind ganz gemütliche Leute. Auch handwerklich sind die Osttiroler gut drauf. Ich bin also Mechaniker geworden, obwohl das nicht mein Traumberuf war. Bei einem Wettbewerb der Mechanikerlehrlinge von Tirol bin ich Landessieger geworden. Mechanik taugt mir nicht. Damals kontaktierte mich der ÖAMTC, ich könnte bei ihnen als Mechaniker anfangen, denn sie haben gelesen, dass ich als Lehrling der Landessieger von den Mechanikern bin. Ich habe Volks- und Hauptschule gemacht. Auch in die HTL bin ich gegangen, aber nur eine Woche. Dann habe ich Heimweh bekommen. Ich bin überhaupt sehr ungern in die Schule gegangen. Ich halte es nicht aus in einer Schule. Man sagt aber, es ist super, wenn man eine gute Ausbildung hat. Zu einem Berufsberater in der Schule habe ich gesagt, ich möchte Pilot werden, am liebsten Kampfpilot, wie die Piloten beim Bundesheer. Das täte mir richtig taugen. Als Schulerbuben beim Skifahren am Zettersfeld habe ich einmal gesehen, wie die Flugzeuge des Bundesheeres, es waren Saab-Flugzeuge, über uns über den Himmel zogen. Mit großer Geschwindigkeit und einem Krawall. Das hat mir gefallen. Ich habe mir gedacht, das muss ich machen, ich muss Pilot werden. Das habe ich dem Berufsberater unserer Schule gesagt. Dieser hat mir von einer Fachschule für Flugzeugtechnik des Bundesheeres in Langenlebarn erzählt. Ich solle mich dort bewerben, um Pilot zu werden. Es gab für diese Fachschule eine Aufnahmsprüfung. 300 haben sich beworben, aber nur 30 wurden aufgenommen. Bei dieser Aufnahmsprüfung ging es vor allem um physikalische Themen und Hausverstandssachen, wie Rechnen und ein bisserl Geografie. Ich habe mir dabei sehr leicht getan. Für mich war 167
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
das eine gemähte Wiese. Ich habe die fünftbeste Arbeit geschrieben. Aber ich bin nicht aufgenommen werden, weil unter den 300 Bewerbern eine Vielzahl von Offiziers- und Unteroffizierssöhnen waren. Man hat mir bloß gesagt, es tue ihnen leid. Ich bin nun in die HTL nach Innsbruck. Dort habe ich mich nicht wohlgefühlt. Furchtbar war das Studentenheim. Ich wohne zu hause neben dem Wald, in einem Dorf, ich kenne dort alle und habe dort meine Kumpels. Ich habe Heimweh gehabt, ich habe gerehrt [geweint, Anm. d. Verf.], keinen Freund hatte ich, nichts! Mir ist dort alles auf den Arsch gegangen. Ich bin daher abgehauen. Ich habe zum Direktor und zum Heimleiter gesagt: ‚Ich fahre heim.‘ Und bin abgehauen. Mein Vater, der Dachdecker, hat damals eine Baustelle in Innsbruck gehabt, beim Alpenzoo. Dort bin ich mit meinem Koffer hingewandert. Die Arbeiter haben mich gesehen und gefragt: ‚Was tust denn du da?‘ ‚Ich geh nicht mehr in die Schule‘, habe ich gesagt, ‚ich helfe euch da. Bis die Woche um ist, es war ein Mittwoch, werde ich dableiben. Bei euch werde ich ja schlafen können. Dann fahr ich mit euch heim.‘ Die Arbeiter haben sich vor Lachen zerkugelt, wie ich mit dem Koffer dagestanden bin. Sie haben mich gefragt: ‚Weiß das der Vater? ‘ ‚Das weiß er nicht.‘ Der Vater, der bei Landeck gearbeitet hat, ist am Freitag gekommen. Er hat geglaubt, ich besuche bloß die Arbeiter. ‚Nein‘, habe ich gesagt, ‚ich geh nicht mehr in die Schule, ich fahr heim.‘ Er hat gesagt: ‚Das geht aber nicht.‘ Dann jedoch meinte er, ich solle eine Lehre machen. Zuerst habe ich mir selbst einen Lehrplatz gesucht. Sonst ist es so, dass die Eltern einen Lehrplatz für ihre Kinder suchen. Die Eltern gehen mit, sie fragen den Chef, ob er für den Sohn oder die Tochter einen Lehrplatz hätte. Es hat geregnet, ich bin mit dem Moped schwarz [verboten, Anm. d. Verf.] gefahren, über zwei bis drei Kilometer auf Schleichwegen zu der Firma, bei der ich Lehrling werden wollte. Meine Eltern wussten nichts davon. Ich gehe in die Firma und frage: ‚Wo ist da der Chef?‘ ‚Was willst du denn?‘, war die Antwort. ‚Ich suche 168
Dachdecker und Bergsteiger
einen Lehrplatz.‘ Plötzlich kommt der Chef daher. Ich war waschelnass vom vielen Regen. ‚Was willst du denn?‘, hat der Chef gefragt. Ob ich Mechanikerlehrling werden kann, meinte ich. Da sagt er: ‚Wann willst du anfangen?‘ ‚Sobald wie möglich.‘ ‚Dann kommst du morgen!‘ (Er lacht schallend.) Ich bin wieder heimgefahren. Mit dem Postbus fuhr ich in die Stadt, nach Lienz. Dort habe ich mir einen Blauen [blauen Overall, Anm. d. Verf.] gekauft. Meine Eltern wussten nicht, dass ich mich um einen Lehrplatz umgeschaut habe. Nächsten Tag stehe ich um 7 Uhr auf, ich frühstücke. Zur Mutter habe ich gesagt: ‚Mach mir eine Jause.‘ ‚Wohin gehst du?‘, hat sie mich gefragt. ‚Zur Mechanikerlehre gehe ich, zum Dum .‘ ‚Was zu dem Gauner gehst du.‘ (Walter lacht.) Der Chef, der Dum, war aber ganz ein netter Mann, ein Superchef. Ich war damals, als ich mit der Lehre begonnen habe, 15 Jahre alt. Bis zum Bundesheer bin ich bei ihm geblieben. Der Chef wollte, dass ich nachher wieder zu ihm komme. Ich habe mir gedacht, wenn ich zu ihm gehe, dann komme ich nicht mehr weg. Dann ist das Leben gelaufen. Der Chef hat mir leid getan, ich habe zwar ein schlechtes Gewissen gehabt, aber ich bin nicht mehr zu ihm gegangen. Auch der ÖAMTC wollte mich, aber ich habe ihm abgesagt. Die Mutter hat gesagt: ‚Bist närrisch, beim ÖAMTC hast du eine sichere Stellung, da kannst du bleiben bis du sechzig bist. Den ÖAMTC hast du vor der Haustür‘. Was interessiert mich das, wenn ich noch nicht weiß, was ich bis sechzig machen will, und sagte zur Mutter: ‚Ich mache einmal eine eigene Firma auf.‘ Die Mutter wird sich gedacht haben: ‚Jetzt spinnt er komplett, der Bursch!‘ Ich war 20 Jahre alt und habe mir gesagt, ich werde selbstständig. Beim Bundesheer war ich Mechaniker. Da habe ich viel aufgeführt. Ein Kumpel von mir und ich waren einmal bei einer Übung Kontrollposten, es war eine Nachtübung. Da gab es die Feinddarsteller, das waren die Fanatischen, die beim Bundesheer geblieben sind. Uns ist das Bundesheer eher auf den Arsch gegangen. Wir haben uns als Kontrollposten gesagt, wir machen die Feind169
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
darsteller fertig. Wir sind auf einem Damm an der Drau gelegen, auf einmal kommt ein Feind vorbei. Wir haben uns gesagt, den lassen wir vorbei und dann springen wir ihn von hinten an. Als der vorbei war, haben wir ihn niedergerissen, links, rechts, in Liegestützstellung. Mit dem Gewehr haben wir ihn nieder gehalten. ‚Ausweiskontrolle!‘ Er hat seinen Ausweis herausgegeben. Mit der Taschenlampe, dem Tarnlicht, habe ich gelesen: Hauptmann XY, Kompaniekommandant! (Er lacht.) Bist du deppert. Wir haben gesagt: ‚Sie dürfen passieren.‘ Dieser Hauptmann hat uns, den Kontrollposten 5, dann zu sich rufen lassen. Wir haben uns gesagt, jetzt fassen wir etwas aus. Er hat aber gesagt: ‚Besonderes Lob dem Kontrollposten der 5. Gruppe!‘ Es hat eh alles gepasst, er hat uns gelobt. Inzwischen hat mein Vater die Firma, die Dachdeckerei, meinem Bruder übergeben. Ich habe nun bei meinem Bruder angefangen zu arbeiten, einmal da und einmal dort habe ich gearbeitet. Es war recht lustig. Mir hat die Arbeit als Dachdecker gefallen, denn ich bin gerne geklettert, und zwar in den Lienzer Dolomiten. Mit 14 Jahren bin ich bereits mit einem Freund eine schwierige Tour in den Dolomiten gegangen, und zwar den Rotenturm-Südriss, er ist ein Sechser. Ich habe also bei meinem Bruder gearbeitet, in Salzburg, in Kärnten, Tirol, Vorarlberg und ein bisserl in Oberösterreich. Ich habe zu meinem Bruder gesagt: ‚Ich fange in Wien und Umgebung an. Dort gibt es noch keine Dachdeckerei.‘ Damals war es noch eine Weltreise nach Wien. Ich habe Briefe an Bauämter und andere Stellen geschrieben.
Die Türme im Stift Kremsmünster Den ersten Auftrag habe ich vom Chorherrenstift Klosterneuburg bekommen. Wir sollten die Kirche in Langenzersdorf, die zum Stift Klosterneuburg gehört, decken. Das war der erste Turm, den wir gedeckt 170
Die Türme im Stift Kremsmünster
haben. Dann haben wir im 21. Bezirk in Wien einen Turm gedeckt. Das war der 2. Auftrag, es war ein Folgeauftrag, die Kirche am Spitz. Wir haben viel gearbeitet. Teilweise habe ich bis zu 18 Leute in der Dachdeckerei gehabt. Es waren auch gelernte Dachdecker dabei. Mit meinem zweiten Bruder, er hat die Spenglerei gelernt, habe ich den ersten Turm in Langenzersdorf gedeckt. Ich habe ihm alles erklärt – es ist eine Hausverstandsgeschichte. Mit einer guten Hand kann man jeden Beruf lernen. Ich habe ihm alles gezeigt und habe selbst ordentlich mitgearbeitet, am nächsten Tag hat er schon alleine gedeckt. Wie ich meine eigene Firma aufgemacht habe, war ich 22 Jahre alt. Wir haben wirklich tipptopp Arbeit geleistet. Das ist bei jedem Beruf wichtig, dass man gute Arbeit leistet. Wenn du hundertmal gute Arbeit machst, so macht das seine Runde. Wenn du schlechte Arbeit machst, macht das schneller die Runde. Ein gutes Beispiel muss ich dir erzählen. Das Stift Kremsmünster hat eine Barockkirche mit zwei Türmen, die wurden damals komplett neu gezimmert. Das war in den 90er-Jahren. Die Türme wurden zum Decken ausgeschrieben. Ich bin hingefahren und bin mit dem Stiftzimmerer auf die Türme gegangen. Wir haben von einem Turm zum anderen hinübergeschaut. Er hat genau die Quadratmeter von dem Turm gewusst. Er hat gesagt, ich soll einmal schätzen, wie viele Quadratmeter der Turm hat. Wenn man so etwas permanent macht, bekommt man ein Gefühl dafür. Fläche für Fläche habe ich abgeschätzt und ein paar Notizen gemacht und zusammengezählt und habe 450 Quadratmeter herausbekommen. Er hat darauf gesagt, das sind 451. Es war ein Zufall, dass ich so knapp hingekommen bin. Dem Stiftszimmerer hat es gefallen, dass ich so gut schätzen konnte, Pater Michael hat er geheißen. Er wird sich gesagt haben, was der macht, das wird schon passen. Auch ein anderer Dachdecker hat ein Anbot gemacht, er war bei Kremsmünster mit seiner Firma. Er war in seinem Anbot sogar billiger als ich. Wir mussten Referenzarbeiten angeben. Ich habe als Re171
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
ferenzarbeit u. a. meine Arbeit in Wolfsberg angegeben, wir haben dort einen wunderschönen Turm gemacht. Der Turm war einfach tipptopp.“ Ich unterbreche und frage ihn, ob ihm die Höhe nichts ausmacht, ob er schwindelfrei ist. „Ob ich oben am Turm bin, an einem Seil hänge oder neben dir sitze, ist für mich einerlei. Über meinen Turm in Wolfsberg hat der Innungsmeister der Spengler gesagt, er hätte noch nie so eine Spenglerarbeit gesehen. Er als Innungsmeister bringt so etwas nicht zusammen, meinte er. Dann habe ich zum Pater Michael in Kremsmünster gesagt: ‚Die meiste Freude hat mir gemacht, dass man gesehen hat, dass wir anständige Arbeit gemacht haben.‘ Man sieht dies ja nicht so ohne Weiteres. Wir machen anständige, saubere Arbeit, habe ich zu meinen Arbeitern gesagt. Auch wenn manche Dachdecker die Einstellung haben, das, was man macht, sieht ja ohnehin keiner, so denke ich mir, dass die Arbeit, die wir machen, gut ist, egal, ob das einer sieht oder nicht. Mich hat das natürlich gefreut, dass man gesehen hat, dass ich etwas Gutes gemacht habe, dass meine saubere Arbeit nicht umsonst war und dass wir uns bemüht haben. Ich hatte zu meinen Arbeitern immer eine super Beziehung. Sie waren meine Freunde. Auf d’ Nacht nach der Arbeit sind wir oft lumpen gegangen. Wir haben uns auch am Wochenende getroffen und sind gemeinsam auf ein Bier gegangen. Ich habe mich nicht als Chef aufgespielt. Ich habe von keinem Arbeiter etwas verlangt, was ich nicht selbst auch mache. Die Arbeit am und im Turm ist immer eine Drecksarbeit, im wahrsten Sinn des Wortes, denn auf den Türmen gibt es jede Menge Taubendreck.“
Die harte Arbeit des Dachdeckers „Ich habe als Chef genauso wie meine Arbeiter geschuftet. Vor einigen Monaten habe ich hier im Prater das Fundament für eine neue Maschi172
Die harte Arbeit des Dachdeckers
ne gegraben, es war ein Samstag. Ich habe also in der Erde gebuddelt. Sehr seriös schaute ich dabei nicht aus, meine Haare gingen kreuz und quer, geschwitzt habe ich auch. Da sind zwei Steirer am Zaun stehen geblieben und haben mir zugeschaut. Denen habe ich leid getan, sie werden sich gesagt haben, der arme ‚glatzerte‘ Arbeiter muss da alleine am Samstag ein Loch graben. Sie wollten mir helfen. Ich habe zu ihnen gesagt: ‚Das passt schon.‘ Da haben sie gesagt: ‚Du musst am Samstag am Nachmittag alleine buddeln.‘ Ich habe gesagt: ‚Der Chef gibt mir heute extra mehr Geld zum Biersaufen.‘ Ich sehe meine Arbeit eher als normal an. Das ist reine Handarbeit, die wir machen. Diese Arbeit war vor ein paar hundert Jahren nicht anders. Man braucht als Spengler auch Liebe zu seinem Beruf, sonst braucht man ihn nicht machen. Meine Firma war zwar in Osttirol ansässig. Wenn wir einen Turm repariert haben, haben wir unsere Blechbearbeitungsmaschinen, die Biegemaschine usw., in der Zwiebel vom Turm aufgestellt, wir haben dort jeweils eine richtige Werkstatt eingerichtet. Es hat dort ausgeschaut wie in einer Spenglerwerkstatt. Weißt du, wie gemütlich es oben war! Das waren die gemütlichsten Stunden oben im Turm. Ich war dann irgendwann einmal verheiratet. Ich habe zwei Super-Kinder, beide studieren in Wien. Es sind zwei Mädchen, die eine studiert Medizin und die andere Jus und Betriebswirtschaft. Ich habe gesagt, eine muss schauen, dass ich gesund bleibe – wegen der Leber. Die andere muss schauen, dass ich nicht eingesperrt werde. Ja, ich bin auf meine Kinder auch sehr stolz. Sie sind brave Gitschen [Tirolerisch bzw. kärntnerisch für Mädchen, Anm. d. Verf.]. Die eine braucht noch zwei Jahre mit dem Studium, die andere, die Medizin studiert, schließt heuer ab.“
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18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
Meister im Geometrischen Zeichnen „Im Rechnen, im Geometrisch Zeichnen und in Physik war ich in der Hauptschule gut. Ich habe sogar den Lehrer auf Fehler aufmerksam gemacht. Einmal war im Geometrischen Zeichnen der Lehrer krank. Als Vertretung erschien einmal der Schuldirektor. Dieser hat etwas auf die Tafel gezeichnet, das meiner Meinung nach falsch war. Darauf habe ich mir erlaubt, dem Direktor zu sagen, dass da etwas nicht stimmt. Er schaut an die Tafel und denkt sich, was meint der? Dann sagt er zu mir, dass ich recht hätte. Als die Zeugnisverteilung kam, hat es geheißen, ich muss mit dem Zeugnis, es war das Abschlusszeugnis von der Hauptschule, zum Direktor kommen. Ich bin also mit dem Zeugnis zum Direktor gegangen. Er hat gesagt, er müsse noch etwas auf das Zeugnis schreiben. Auf der Hinterseite hat er Folgendes geschrieben: Besondere technisch-zeichnerische Fähigkeiten! Das Zeugnis habe ich heute noch. Meine frühere Frau, eine Steirerin, hat sich im Gymnasium in Deutsch, Englisch und Französisch leicht getan. Vor allen Verwandten hat sie einmal gesagt: ‚Unsere Kinder sind sehr gescheit in der Schule.‘ Ich habe mir erlaubt, darauf zu sagen: ‚Die Kinder haben ein großes Glück, denn wenn sie von mir die Deutschkenntnisse geerbt hätten, und von meiner Frau die mathematischen Fähigkeiten, dann wären die Kinder noch immer in der 1. Klasse. Die Kinder haben das Glück, dass sie von uns beiden das Beste geerbt haben.‘“
Das Erlebnis auf einem Festplatz in Kanada Mein früherer Schwiegervater hat ein Haus in Spanien gehabt. Meine Kinder und meine Frau haben dort oft Urlaub gemacht. Als ich einmal dort im Haus des Schwiegervaters war, hat dieser – er war ein Austrokanadier, ein Grundstücksmakler, er ist leider zu früh gestorben – zu mir gesagt, er fährt für eine Woche nach Kanada, er würde mich mit174
Das Erlebnis auf einem Festplatz in Kanada
nehmen. Ich habe ihm gesagt, es ist Hochsaison, ich hätte viel in der Dachdeckerei zu tun, es gehe leider nicht. Ich kann nicht bloß in der Sonne am Meer sitzen. Ich arbeite lieber. Wieder einmal sitze ich am Meer in Spanien und muss sehen, wie spanische Arbeiter die Decke eines neuen Hauses für einen Schweizer betonieren. Plötzlich gab es einen Stromausfall und die Betonmaschine funktionierte nicht mehr. Jetzt mussten die Arbeiter mit der Hand betonieren. Ich habe ihnen zugesehen, wie langsam die arbeiten und schwitzen. Ich bin zu ihnen hinüber und habe den Spaniern gezeigt, was schaufeln heißt. Gemma, zack, zack! Ich war dann der Partieführer. Der Schwiegervater hat zu mir gesagt: ‚Du bist deppert, jetzt hast du Urlaub und arbeitest, anstatt, dass du dich ausruhst.‘ Ich habe dennoch mitgearbeitet und die Arbeit hatte Erfolg. Die Leute dort waren begeistert von mir und meiner Arbeit. Der Schwiegervater hat nun darauf bestanden, dass ich mit ihm nach Kanada fliege. Er hatte bereits die Tickets gekauft. Mir blieb nun nichts anderes übrig, als mit ihm für eine Woche nach Kanada zu fliegen. Ich war mit ihm also eine ganze Woche in Kanada unterwegs, ich habe viel gesehen und erlebt. Am Samstagabend ist der Schwiegervater weiter nach Montreal geflogen, ich bin in Toronto geblieben. Ich bin planlos durch die Stadt gegangen und habe mir die Stadt angeschaut. Zufällig bin ich zu einem Festplatz spaziert, dort habe ich gesehen, wie etwas in die Luft geschossen wird. Da habe ich mir gedacht, das schaue ich mir an. Das war ein großer Zufall, denn, wenn ich aus dem Hotel, in dem wir wohnten, in die andere Richtung gegangen wäre, würden wir nicht heute hier sitzen. Dann wäre ich nicht zu dem Platz marschiert und hätte das, was sich da abgespielt hat, nicht gesehen. Dann wäre ich heute noch Dachdecker. Die Veranstaltung dort hat geheißen Toronto State fair. Die war genau in der Woche, in der ich in Kanada war. Wenn wir eine Woche früher oder später dorthin geflogen wären, würden wir auch nicht hier sitzen. Man braucht ein bis175
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
serl ein Glück im Leben. Ich komme also hin, sehe so Gummiseile mit einer Kugel, in der Leute sitzen, die in die Höhe geschossen wird. Das hatte ich noch nie gesehen. Dass da Leute in der Kugel sitzen, das hat mich gewundert. Die Amis sind deppert, habe ich mir gedacht. Aber mich hat die Sache fasziniert. Es handelte sich bei dieser Kugel um eine kleine Maschine. Die Leute waren in einer großen Schlange bei dieser angestellt. Ich wollte in diese Kugel schon einsteigen, ich habe die Hose voll gehabt, so habe ich mich davor gefürchtet. Ich bin also nicht eingestiegen. Aber ich wollte mir diese Maschine genauer ansehen. Daneben war ein Zelt, in diesem spielte eine mexikanische Band eine spannende, rhythmische Musik. Diese hat mir gefallen. Nun habe mich in dem Zelt an einen Tisch gesetzt. Ich fühlte mich wohl. Dazu habe ich ein Bier getrunken. Dadurch bekam ich Mut und habe mir gedacht, jetzt werde ich in die Kugel einsteigen. Und ich bin auch in die Kugel gestiegen und bin mit dieser geflogen. Das hat mich voll fasziniert. Das war super. Dann bin ich zurück ins Hotel, denn am nächsten Tag in der Früh flog der Flieger ab, für den ich das Ticket hatte. Als ich im Taxi am Weg zum Flughafen sitze, hatte ich wieder Glück. Mir ist die Sache mit der Kugel wieder eingefallen. Das wäre doch etwas für den Wiener Prater, dachte ich mir. Mit dem Prater habe ich damals zwar noch nichts zu tun gehabt, aber ich war mir sicher, dass es dort nichts Ähnliches gibt. Diese Gedanken schossen mir dort durch den Kopf, während ich mit dem Taxi auf der Autobahn in Richtung Flugplatz fuhr. Ich habe den Fahrer gefragt, wo diese ‚State Fair‘ ist, also dieser Festplatz mit der Kugel ist. Darauf sagte dieser, dass dieser gleich bei nächsten Ausfahrt ist. Nun habe ich ihn aufgefordert, zu diesem Platz zu fahren. Hätte der Taxifahrer gesagt, wir müssen durch die ganze Stadt zu diesem Markt fahren, dann hätte ich gesagt, fahr weiter, sonst versäume ich meinen Flieger – und wir würden nicht hier im Schweizerhaus sitzen. Wir fahren also zu der State Fair. Das Taxi hat gehalten und ich bin zu der Maschine mit der 176
Die erste Maschine – das Problem mit der Donauinsel
Kugel gegangen und habe dem Besitzer meine Visitenkarte gegeben, er war ein Australier, er ist heute noch teilweise mein Geschäftspartner. Er hat mir auch seine Karte gegeben. Ich habe ihm gesagt, ich werde ihn anrufen, denn seine Maschine ist interessant auch für Europa, vor allem für Österreich. Ich melde mich! Von Österreich habe ich ihn angerufen. Wir haben später viel miteinander telefoniert. Dieser Mann ist von Kanada nach Australien zurückgegangen. Ich habe mir gedacht, am Telefon kommen wir auf keinen grünen Zweig. Ich bin nun zu ihm nach Australien geflogen, um zu schauen, wie das geht mit der Maschine. Er hat gesagt, von den 50, 60 Leuten, die ihn wegen der Maschine kontaktiert haben, bin ich der Einzige, der die Sache durchgezogen hat. Er hat das Patent gehabt. Er hat mir die Pläne und sonstigen Unterlagen verkauft. Das Geld, das ich mir mit der Dachdeckerei erspart habe, war innerhalb von vier Monaten weg. Ich habe einen Haufen Schwierigkeiten gehabt. Ich bin mit den Plänen heimgeflogen, aber ich konnte nichts mit diesen anfangen, weil so eine Maschine in Österreich nicht akzeptiert wird – durch die Zivilingenieure. Ich musste alles neu konstruieren und berechnen.“
Die erste Maschine – das Problem mit der Donauinsel Walter Pondorfer erzählt weiter: „Die Maschine, die ich in Kanada gesehen habe, habe ich mit meinen Leuten nachgebaut. Ich habe damals mit einem Wiener Dachdecker ab und zu zusammengearbeitet. Mit ihm und mit einem früheren Stadtrat habe ich eine Firma gegründet, damit ich mir leichter tue. Die erste Maschine wollten wir auf der Donauinsel aufstellen. Damals waren wir mit unserem Projekt in allen Zeitungen. Alles war geplant, auf meine Kosten. Ich hatte aber Probleme, eine Genehmigung für die Aufstellung der Maschine zu bekommen. Einer der Beamten hat mein Ansuchen einfach nicht weitergeleitet. Er hat zunächst gemeint, wir können ruhig mit den Fundamenten anfan177
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
gen. Als wir mit diesen begonnen haben, ist die Baupolizei erschienen und hat uns gesagt: ‚Der Bau ist eingestellt.‘ Wir hatten im Wasser der Donauinsel schon Fundamente gesetzt, geholfen haben uns dabei ehemalige Taucher der Wiener Feuerwehr. Zunächst hatte ich von einer Abbruchgarage Blöcke zuliefern lassen. Diese wurden zusammengeschraubt und mit einem Kran in das Wasser gelassen. Das hat viel gekostet, aber alles war umsonst. Die Baustelle wurde geschlossen. Das war eine Woche vor dem Donauinselfest, bei dem wir etwas verdienen hätten können. Jetzt sind wir dagestanden! Ich musste nun mit dem ganzen Zeug wieder verschwinden. Die Betonblöcke, die schon im Wasser waren, mussten entsorgt werden und die anderen auch. Drei, vier Monate Zeit und viel Geld hat mich dieses Abenteuer gekostet. Zum Stadtrat Braun, er war ja Gesellschafter der Firma, habe ich gesagt: ‚Du hast überhaupt nichts gemacht. Wir haben dich in die Firma genommen, damit du uns die ganzen Wege bei der Behörde ebnest. Getan habt ihr nichts für das Projekt. Entweder du steigst aus der Firma aus, oder ich schlage dich. Ich gebe dir das Geld deiner Einlage zurück. Und du haust ab.‘ Meine Frau hat sich über das alles geärgert, denn durch die Dachdeckerei war ich während der Woche dauernd unterwegs und am Wochenende habe ich für die Maschine gearbeitet. Meine Frau hat sich daher scheiden lassen. Ich bin glücklich geschieden. Wie die Donauinsel abgeschlossen war, bin ich nach Graz zum Schwarzlsee. Es war Anfang der Sommersaison, ich bin zum Direktor vom Schwarzlsee gegangen und habe ihm gesagt, ich möchte eine Maschine am See aufbauen. Er hat gesagt, ich könne dies tun. Nun habe ich wieder begonnen, für die Maschinen zu betonieren.“
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Der Platz im Prater und das Riesenringelspiel
Der Platz im Prater und das Riesenringelspiel Walter Pondorfer berichtet: „Ich habe an diese Sache geglaubt. Parallel dazu habe ich mich nach einem Platz im Prater umgesehen. Zuerst war ich im Rathaus und habe dort nach einem Platz im Prater gefragt. Die haben gesagt, sie haben keinen Platz. Sie haben gemeint, ich soll einen Praterunternehmer fragen, vielleicht weiß der einen Platz für mich. Ich habe nun selbst nach einem leeren Platz gesucht. Ich habe auch tatsächlich einen solchen gefunden. Bei einem Würstelstandl im Prater habe ich gefragt, wem der Platz gehört. Doch man konnte mir dies nicht sagen. Ich bin nun durch den Prater gegangen und habe alle möglichen Leute gefragt, ob sie wissen, wem dieser Platz gehört. Schließlich erfuhr ich den Namen und konnte auch den Platz pachten. Zur selben Zeit hatte ich bereits am Schwarzlsee begonnen, die Fundamente für die Maschine zu betonieren. Aber als ich den Platz im Prater bekommen hatte, habe ich die Maschine dort abgebaut und nach Wien gebracht. Hier im Prater habe ich sie schließlich aufgebaut. Wegen dieser einen Maschine habe ich dreimal betoniert! Für die Kugel hatte ich zwei primitive Masten verwendet, wie ich sie in Kanada gesehen habe. Die Kugel ist damals 40 bis 50 Meter in die Höhe gegangen. Dann haben wir ein paar Maschinen samt Gummiseilen schon verkauft. Der Australier, von dem ich die Idee dazu übernommen habe, hat von mir gekauft. Er hat gesagt, dass meine Maschine ein Mercedes ist gegen das Klumpert, das er hätte. Dann ist mir das mit den Gummiseilen auf den Arsch gegangen, weil die immer kaputtgehen. Dann habe ich die Idee gehabt, mit Stahlfedern zu arbeiten. Irgendwo habe ich ein Hängegerüst gesehen, es war recht spektakulär gebaut. Auf dem war eine Abnahmeplakette oben von einem Zivilingenieur. So einen Zivilingenieur, der bloß seine Plakette draufgibt, den brauche ich. Ich hab ihn sofort kontaktiert und ihm die Geschichte erzählt. ‚Jawohl, machen wir! Das taugt mir eh!‘, 179
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
hat er gesagt. Der Mann ist inzwischen in Pension gegangen. Dieser Ingenieur war ein lockerer Typ, ein Mann mit Hausverstand. Mit dem Blick für das Wichtige. Er war gegen den ganzen Firlefanz. Die Leute vom Prater haben sich gedacht, das ist eine einmalige Idee von mir, das Ganze ist dann wieder vorbei. Und ich bin dann wieder weg. Das haben sie sich wohl gedacht. 1995 war die erste Kugel. Nach Tirol bin ich immer wieder gependelt. Ich habe zwei Firmen zugleich gehabt, die im Prater und die Dachdeckerei. Ich glaube, ich bin zwanzig Jahre nicht auf Urlaub gefahren. Ich habe einige Maschinen gebaut. Ein paar von denen, die ich gebaut habe, habe ich schon verkauft. Unter anderem einen Bungeejumping-Turm zum Hinunterspringen. Mein Beruf ist mein Hobby. Wenn ich eine neue Maschine baue, denke ich nicht darüber nach, ob sie wirtschaftlich ist oder nicht. Ich baue sie, weil es mir Spaß macht, wenn die Idee gut ist, kommt der Rest von alleine. Die Idee zu diesem hohen Turm mit dem Ringelspiel, das höher als das Riesenrad ist, stammt von mir. Dieses Ringelspiel ist eine ganz simple Sache – und keiner ist auf so etwas gekommen.“ Der Kellner bringt uns je einen Schnitt Bier im Krügerl. Wir stoßen an. Franz Josef meint, Walter sei einer der größten im Prater. „Vor einem Jahr habe ich gehört, so hinten herum, man wolle die Tirolerinvasion, man meinte mich, stoppen.“ (Er lacht lauthals.) „Man kann aber auch verstehen, dass sich ein Schausteller ärgert, wenn er sieht, dass mein Geschäft gut läuft. Ich erfinde jedes Jahr oder jedes zweite Jahr eine neue Maschine. Ich habe ja nur scheiß Plätze bekommen. Auf die Idee mit dem großen Ringelspiel bin ich in Italien gekommen, als ich dort auf einer Messe für Schausteller gewesen bin. Eigentlich wollte ich mich um ein Kinderkarussell umsehen. An einem Messestand sah ich Fotos von einem hohen Turm und überlegte, dass man auf diesem ein Ringelspiel einbauen könnte. Das könnte eine Sensation sein.“ 180
Das Geschäft mit den Vergnügungsmaschinen – die Mitarbeiter
Das Geschäft mit den Vergnügungsmaschinen – die Mitarbeiter „Ich baue Maschinen für Vergnügungsparks und verkaufe sie an diese. In Schweden sind wir gerade dabei, eine Maschine aufzubauen. Ich war vorige Woche dort und habe gesehen, dass meine Arbeiter schon fast fertig sind mit einer Maschine. Morgen fliege ich nach Dallas, auch wegen einer Maschine.“ Franz Josef wirft ein: „Du bist derart erfolgreich, dass die Altein gesessenen hier im Prater etwas verstört sind. Sie sagen, dass der Tiroler Supersachen baut, aber es gehe ihm vorrangig gar nicht um den Prater, sondern er verwendet den Prater dazu, um seine Maschinen zu verkaufen.“ „Sie haben nicht unrecht. Ich verstehe meine Kritiker, da ich nicht nur Schausteller bin, sondern auch Fahrgeschäfte verkaufe. Von diesen Kugeln haben wir einige verkauft, von dem Turm mit dem Ringelspiel ist jetzt der dritte im Bau. Alles miteinander haben wir vielleicht 25 verkauft. Wir sind jetzt dabei, großartige Maschinen für das Münchner Oktoberfest zu bauen und zwar für einen deutschen Schausteller, der schon drei Maschinen von uns gekauft hat. Meine Praterfirma heißt Fun – Vergnügungsbetriebe. Die Firma, die Maschinen baut, ist die Funtime. Gemeldet sind beide im 2. Bezirk. Für den Verkauf der Maschinen ist der Sitz in Wien. Hinter der Kugel haben wir ein kleines Büro in einem Container, wir haben im Prater aber noch ein Büro.“ „Was sind es für Leute, die bei dir mitarbeiten?“, frage ich. „Ich habe drei Elektriker, die technisch gut sind. Einer ist momentan oben in Schweden, er ist beim Aufbau der Maschine dabei. Man braucht Leute, die die Maschine warten und auf diese schauen. Das ist ganz wichtig. Man braucht aber auch Leute, die bei der Kassa sitzen und mit den Besuchern Schmäh führen. Diese müssen nicht hoch 181
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
qualifiziert sein. Aber die, die für die Sicherheit zuständig sind, die müssen hervorragende Spezialisten sein. Jedes Jahr werden die Maschinen auf ihre Sicherheit hin geprüft, und zwar von Leuten der MA 36 der Stadt Wien. Zu diesen gehören ein Diplomingenieur und je einer vom Arbeitsinspektorat, von der Polizei, von der Feuerwehr. Dieses Team prüft jedes Jahr die Maschinen im Prater. Bevor diese Spezialisten kommen, lassen wir die Maschinen von einem österreichischen Zivilingenieur prüfen. Die Kugel muss sogar zweimal im Jahr geprüft werden. Eine solche Abnahme (Prüfung) kostet mich jedes Mal ein Vermögen. Meine Maschinen, die da im Prater stehen, haben internationalen TÜV-Standard. Jede Schraube, jedes Ding braucht ein Zertifikat, einen Materialtest. Für jede Maschine habe ich eine Dokumentation mit drei Ordnern. Ich habe Superleute, ich habe sechs Ingenieure, sie sind relativ junge Burschen. Sie arbeiten gut für mich, auf sie kann ich mich verlassen, sie haben Hausverstand. Ich bin oft zwei, drei Wochen in Amerika. Der Laden läuft daheim auch ohne mich! Ich brauche mich da um nichts kümmern. Die verdienen gut, sie ergänzen sich alle. Die wissen alles, sie sind Tiroler. Sie haben alle Kompetenzen. Ich bin ja gelernter Mechaniker. Ein Diplomingenieur hat mir gesagt, er sei begeistert von meinen Produkten, weil sie so einfach sind. Alles, was einfach ist, ist gut. Schrecklich ist die komplizierte Scheiße. Wenn ich die Idee zu einer neuen Maschine habe, zeichne ich sie mir auf, ich kritzle etwas auf Papier. In der Planungsphase setze ich mich mit meinen Leuten zusammen und bespreche mit ihnen die Probleme. Die erste Maschine da, die mit der Gummikugel, haben wir unter einem Flugdach hergestellt. Im wahrsten Sinn des Wortes ist dies eine Hinterhofmaschine.“ (Er lacht.)
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Auf Pachtgründen des Praters
Auf Pachtgründen des Praters „Die Gründe, auf denen die Maschinen stehen, sind Pachtgründe der Gemeinde Wien. Der Grund, auf dem der Turm steht, ist für 20 Jahre gepachtet. Im Vertrag steht drinnen: Pachtverhältnis auf 20 Jahre, mit Kündigungsverzicht. Wenn nichts Besonderes passiert, wenn ich die normale Pacht zahle, geht die Pacht weiter. Wenn ich nicht zahle, so ist das natürlich ein Kündigungsgrund. Eine Kündigung ist also nur aus einem wichtigen Grund möglich, zum Beispiel, wenn eine Autobahn durch diesen Grund gebaut werden soll. Oder man braucht den Platz für eine U-Bahnstation. So etwas sind wichtige Gründe. Aber wenn ein Nachbar den Grund haben will, so ist das kein wichtiger Grund. Früher war der Pachtzins für einen Grund im Prater fast ein Geschenk. Es gibt noch einige, die einen uralten Pachtvertrag haben, die stehen fast gratis da.“ Franz Josef erklärt, dass der Pachtvertrag für 99 Jahre gelte, einen Schilling zahle man für den Quadratmeter. „Auf jedem Grundstück ist hier im Prater ein Pächter drauf. Wenn ein Pächter seinen Grund weitergeben will, löst ihn die Gemeinde ab. Das war im Fall des Grundes so, auf dem mein Turm steht. Die Gemeinde hat den Vorpächter abgelöst, dann habe ich den Grund bekommen, ich zahle natürlich ordentlich.“
„Seien Sie froh, dass Sie von keiner Universität verpatzt wurden!“ Franz Josef fragt, wie es mit der Schwarzen Mamba war, einer Maschine, die von Walter Pondorfer entworfen wurde und die die Leute fasziniert. „Es gab keine Probleme. Ein Mann vom deutschen TÜV, ein doppelter Diplomingenieur, war begeistert von meinen Maschinen, er hat 183
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
zu mir gesagt: ‚Ihre Maschinen sind nur darum so genial einfach, weil Sie, also ich, von keiner Universität verpatzt worden sind. Seien Sie froh, dass Sie nie Maschinenbau studiert haben, sonst könnten Sie nicht so einfach bauen, da würden Sie zu kompliziert denken.‘“ (Walter lacht lauthals.) „Er, ein doppelter Diplomingenieur, hat zu mir gesagt, ich solle froh sein, von keiner Universität verdorben worden zu sein. Ich meine, man muss ein bisserl deppert sein, um solche Sachen zu machen, sonst tut man sich das nicht an. Das Berufsleben macht einen Großteil der Lebenszeit aus, daher soll es Spaß machen. Mein Beruf ist mein Hobby. Die Kugel habe ich in Kanada gesehen. Zuerst hatte die Kugel Gummiseile. Statt dieser, das war meine Idee, habe ich Stahlfedern genommen, da kommt man auf ganz andere Höhen hinauf. Ich habe meinen Australier angerufen und ihm gesagt, dass ich eine neue Idee hätte. Wir brauchen keine Gummiseile mehr. Ich habe noch nichts von Federn gesagt. Ich brauch keine Gummiseile mehr. Darauf hat er gesagt: ‚Was willst du dann nehmen für die Gummiseile?‘ Dann habe ich gesagt: ‚Stahlseile.‘ ‚Ha, ha‘, lachte er und sagte: ‚Wie viel Bier hast Du heute getrunken?!‘ Die Kugel hängt tatsächlich bei mir in den Stahlfedern. Ich habe ein Patent darauf. Ich habe das Amerika- und das Europatent. Ich habe einige Patente.“ „Du musst ja steinreich sein“, sage ich. „Ich bin ein armer Schlucker. Mir geht es nicht ums Geld, wenn ich aber etwas verdiene dabei, ist es auch gut. Mir tut es je leid, dass ich nicht früher auf die Welt gekommen bin, die Zeit um und vor 1900 hätte mich interessiert, es war die Zeit der Arbeitsmechanik und des Aufkommens der Elektrizität, das hätte mich interessiert. Eine Dampflok zu erfinden, das wäre etwas gewesen für mich. In der Mechanik hätte man viel machen können. Ich habe drei Elektriker. Ich sage ab und zu zu den Elektrikern, dass für sie ein Magnet ganz etwas Logisches sei. Ich aber kapiere nicht, dass 184
Die Faszination des Praters
meine Kugel durch einen Magneten gehoben wird, der hebt drei Tonnen. Man sieht da aber nichts. Wo ist da die Kraft?“
Die Faszination des Praters „Was fasziniert dich am Prater?“, frage ich Walter Pondorfer. „Das Milieu und dass ich hier Maschinen bauen kann. Das ist ein großer Unterschied zu anderen Firmen. Wenn du eine Installationsfirma hast, musst du warten, bis eine Baustelle ausgeschrieben wird, damit du dich bewerben kann. Man muss schauen, dass man den Auftrag bekommst, dass man der Günstigste ist von den vielleicht 20 Firmen, die sich bewerben. Man muss die besten Leute haben, damit man auch etwas verdient. Das ist schon hart. In der Branche im Prater aber, da kannst du Gas geben und etwas Neues machen. Aber es ist ein Risiko dabei, wenn du so einen Prototyp baust, das kostet eine Lawine an Geld, so bei 1,1 Millionen Euro, die Fundamente sind schon dabei. Wenn ich es weiterverkaufe, kostet es etwas mehr.“ (Er lacht.) „Ich bin schön langsam mit meinen Unternehmen gewachsen. Ich habe als Dachdecker keine Schulden gehabt. Etwas Geld hatte ich mir erspart. Das habe ich in die erste Maschine hineingesteckt. Auf der Donauinsel habe ich das ganze Klumpert um den Erdriegel liegen gehabt. Die Maschine habe ich weggebracht und dort alles zugeschoben, weil ich nicht mehr hin durfte. Das ganze Ersparte war weg. Ich bin mit dem Transit heimgefahren und habe mir gesagt: „Super, das habe ich jetzt gemacht. Die letzten sieben Jahre habe ich für den Blödsinn da gearbeitet, ein paar Eisenstangen habe ich und einen Erdriegel und einen paar Anzeigen wegen Schwarzfahrens.“ Dann musste ich lachen. So viel habe ich nie wieder gelacht in meinem Leben! Und zwar über das Pech, das ich hatte. Ich war so überzeugt, dass aus der Sache etwas wird. Wenn du, wie in meinem Fall, eine Bank brauchst, so hilft dir keine. Wenn du ein Haus baust, so 185
18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
borgt dir die Bank Geld, weil sie auf das Haus zurückgreifen kann. Da ist etwas. Aber bei mir war es damals so, dass nur Klumpert herumlag und dazu eine Kugel mit Gummiseilen. Wenn mir etwas passiert, die Bank sieht das Geld nie wieder. Ich habe mein Leben lang bis jetzt keinen Kredit aufgenommen. Beim Kredit muss man Zinsen zahlen. Es ist gescheiter, das eigene Geld zu nehmen. Der Mateschitz von Red Bull macht es auch so, er ist mein Vorbild.“ Sein Telefon läutet, er hebt ab, es ist anscheinend seine Freundin am Apparat. Er sagt: „In einer Stunde komme ich. Ich sitze da in einem Extrastüberl des Schweizerhauses. Ich sitze da mit einem Herrn Doktor Mayer und einem Professor. Mein geliebter Schatz, bis bald!“ Franz Josef meint, wenn er mit der Dame redet, bekommt er einen ganz verklärten Gesichtsausdruck. Walter P. sagt zu der Anruferin: „Die beiden Herren, die da bei mir sitzen, meinen, ich habe, weil ich mit dir rede, einen verliebten Gesichtsausdruck.“ Jetzt läutet mein Telefon. Ich hebe an und sage dem Anrufer, dass ich gerade im Prater mit dem genialsten Mann von Österreich, einem Tiroler, beisammensitze, das ist eine einmalige Geschichte. Frau L ydia Kolarik, die Chefin vom Schweizerhaus, kommt. Wir begrüßen sie lauthals, ich drücke ihr ein Busserl auf die Wange, sie setzt sich zu uns. Über Walter P. sagt sie, dass er ein Genie sei. Ich mache den Scherz, dass Wien die zweitgrößte Stadt von Tirol sei. Walter P. lacht. „Mir gefällt Wien auch, ich habe mich inzwischen an diese Stadt gewöhnt. Die ersten zwei Wochen fährt man sicher gerne heim. Aber wenn du länger in Wien bist, dann passt es schon. Überhaupt wenn es ein so gutes Bier wie hier im Schweizerhaus gibt. Wenn es das Schweizerhaus nicht geben würde, würde ich öfter heimfahren.“ (Walter P. lacht.) Lydia Kolarik, die ihn von seinen Besuchen im Schweizerhaus kennt, hält fest, dass seine Zeichnungen, die er auf Servietten gemacht hat, interessant seien. Sie hätte sie damals sammeln und aufheben sollen. 186
Die Faszination des Praters
Walter P. kommt noch einmal auf Wien zu sprechen: „Ich fühle mich in Wien sehr wohl, ich fahre gerne heim und fahre gerne wieder nach Wien!“ Lydia Kolarik meint, dass Walter P. gesagt hat, der Turm mit dem Ringelspiel vor dem Schweizerhaus wird das größte und höchste Ringelspiel bleiben. Sie spricht ihn darauf an, dass er in Stockholm einen ähnlichen Turm baut. Walter P. entgegnet: „Dieser ist niedriger als unserer da, hat aber als Dekoration oben noch eine 20 Meter lange Fahnenstange. Dadurch ist er ein paar Meter höher als mein Turm im Prater. Ich habe aber einen Trumpf in der Tasche, die Statik des Turms im Prater verträgt noch 12 Meter mehr. Wenn ich einmal Lust und Liebe habe, hebe ich den goldenen Spitz herunter und bau noch etwas drauf. Wenn es mir Spaß macht, gebe ich die 12 Meter dazu, dann bin ich wieder dran. Ich bin im Guinness Buch der Rekorde damit. Dieses Ringelspiel ist das Welthöchste. Als wir den Turm fertiggebaut haben, ist eine ganze Partie von Dölsachern im Schweizerhaus gesessen. Ich war ganz oben am Turm und habe gearbeitet. Sie haben mich gesehen. Einer hat gesagt: ‚Jetzt rufen wir ihn an.‘ Ein anderer hat gesagt: ‚Der geht sowieso nicht zum Handy, wenn er oben arbeitet.‘ Darauf hat ein anderer gesagt: ‚Wenn der Walter da oben meine Nummer sieht, hebt er sicher ab.‘ Sie haben gewettet, sie konnten ja zu mir heraufschauen. Als der Anruf kam, nehme ich das Handy heraus und schaue darauf. Die unten waren ja gespannt, ob ich jetzt zuwi geh [das Handy betätige, Anm. d. Verf.]. Ich habe das Handy genommen und gesagt: ‚Servas!‘ Nun habe ich sie schreien gehört. Sie, meine Freunde aus meinem Heimatort, haben gesagt, sie säßen im Schweizerhaus. Ich sage: ‚Ich komme‘, und bin schnell zu ihnen hinunter.“
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18. Station: Der Praterturm – der Mann aus Osttirol im Prater
Wien, die schönste der Stadt der Welt „Ich komme viel in der Welt herum, aber es gibt keine zweite Stadt so wie Wien. Einmal war ich in Florida, ich bin da in eine Pizzeria und habe wirklich gut gegessen. Zum Kellner habe ich gesagt: ‚Sag dem Koch, dass mir die Pizza gut geschmeckt hat und frage ihn, was er trinken will.‘ Ich habe ihn dann zu einem Drink eingeladen. Daraufhin ist die Chefin der Pizzeria gekommen und hat gesagt, das war noch nie da, dass der Koch, weil er gut gekocht hat, zu einem Getränk eingeladen wurde. Sie wollte wissen, wer ihn eingeladen hat. Sie hat gefragt, woher ich komme. ‚Aus Wien, aus Österreich‘, habe ich gesagt. Darauf hat sie gemeint, ihr Mann sei Handlungsreisender. Er kenne die ganze Welt, er sei auch ab und zu in Wien gewesen. Er hätte zu ihr gesagt, dass Wien die schönste Stadt der Welt sei. Wenn man in ein altes Beisl gehe, in dem noch Wiener sitzen und ihre alte Sprache reden, und ein scharfes Mundwerk haben, da bekomme ein Fremder nichts mit und verstehe nicht, was die Wiener reden. Man braucht dazu ein Wörterbuch. Das gefällt mir.“ Walter P. geht kurz weg, er holt Zigaretten. Lydia Kolarik meint über Walter P., dass er ein wirklich großzügiger Mensch sei. Als die Eröffnung von dem großen Ringelspiel war, hatte er Musiker eingeladen, die haben die ganze Nacht gespielt. Die Musiker waren so richtige Tiroler Burschen. Die hat er von zu Hause, aus Osttirol, geholt. Am nächsten Tag waren sie bei uns im Schweizerhaus, da waren sie etwas beschwipst. Der eine war begeistert von den Frauen im Prater, er hat vorher noch nie so viele Frauen auf einmal gesehen. Die Freunde haben immer gesagt: Geh weiter, Franz! Aber der ist immer wieder stehen geblieben und hat den Damen etwas vorgespielt. Walter P. ist wieder da und spricht: „Am Montag wollte ich nach Dallas fliegen. Das ist es mir wert, dass ich erst morgen fahre, also zwei 188
Wien, die schönste der Stadt der Welt
Tage später.“ (Er lacht dabei.) „Drüben wartet ein 140 Meter hoher Autokran auf mich. Er wartet extra auf mich. Wir, die Besitzer solcher Maschinen in den Parks, sind auf der ganzen Welt so etwas wie eine Familie. Da kennt jeder jeden. Es gibt eine spezielle Zeitschrift in Amerika, in der über die Neuigkeiten der Vergnügungsparks berichtet wird. Es macht sofort seine Runde, wenn irgendwo eine neue Maschine steht. Wenn man ein gutes Produkt hat, ist man drinnen in der Familie. In Athen haben wir die Skyline verändert, in Madrid, in Kopenhagen auch, in Tivoli steht der Starfighter, der Prototyp, der hier im Prater gestanden ist.“ Walter P. erhebt sein Bierglas, prostet uns zu und meint: „Das Bier lasse ich mir nun schmecken, in Amerika haben sie kein gescheites Bier. Das Bier schaut dort aus wie eine Kloake. Das Schweizerhaus hat mir über einige Tiefs in Wien hinweggeholfen. Die Power für den nächsten Tag habe ich mir oft im Schweizerhaus geholt.“ So weit das Gespräch mit Walter Pondorfer, dem Mann aus Tirol.
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19. Station: Die Schwarze Mamba des Tirolers Ich radle in der Straße des 1. Mai und bleibe vor der „Schwarzen Mamba“, einer riesigen Schlange, stehen. Diese „Schwarze Mamba“, ein in giftigen dunklen Farben glitzerndes Ungetüm, fasziniert mich. Ich bewundere die Leute, die den Mut haben, sich auf eine Fahrt mit der „Schwarzen Mamba“ einzulassen. Diese „Schwarze Mamba“ – sie ist nichts für schwache Nerven, wie es heißt – ist ebenso ein Fahrgeschäft von Walter Pondorfer. Um die Fahrt mit der „Schwarzen Mamba“ zu genießen, bedarf es der Schwindel freiheit und eines guten Magens, wie in einer Ankündigung zu lesen ist. Die „Schwarze Mamba“ ist eine enorme Schaukel in Gestalt einer Schlange, in der die Passagiere mit 80 km/h durch die Luft gewirbelt werden. Ich habe großen Respekt vor diesem Schlangentier, aber auch vor Walter Pondorfer, der dieses Fahrgeschäft erdacht hat. Eine Studentin von mir, Isabelle Leistentritt ist ihr Name, hat eine nette Arbeit aufgrund von Beobachtungen bei der „Schwarzen Mamba“ verfasst. Ich möchte daraus ein paar Zitate bringen, die von Interesse sein können. Man spürt in dem Beobachtungsprotokoll von Frau Leistentritt ihre Freundlichkeit und die Bereitwilligkeit, ihrem Forschungsdrang freien Lauf zu lassen. In ihrem Beobachtungsprotokoll, verfasst an einem Frühsommertag am Vormittag, beschreibt sie zunächst die „Schwarze Mamba“: „Ich bin am Weg zur ‚Schwarzen Mamba‘. Der Prater erscheint mir noch ziemlich leblos, denn es sind nur wenige Menschen hier, die das schöne Wetter mit den vielen Attraktionen hier genießen. Ich gehe auf die ‚Schwarze Mamba‘ zu. Von Weitem sieht man schon den monströsen Schlangenkopf, der in den Himmel ragt ... Die Haut oberhalb der Schlange hat blaue, teilweise violette, Schuppen, 191
19. Station: Die Schwarze Mamba des Tirolers
während die untere Seite mit dunkelorangen, blockartigen Streifen geschmückt ist. Der Schlangenkopf besitzt große braune Augen und ein großes Maul, das weit offen steht, die scharfen Zähne sind sichtbar ... Neben der Schlange ist der Ticket-Verkaufsstelle angebracht ... Moderne rhythmische Musik wird gespielt. Ich stehe vor der Schwarzen Mamba ... 1. Szene: Ich erkenne zwei Mitarbeiter. Ein Mitarbeiter sitzt in der Hütte, während der Zweite am Eingangsbereich bei der Passierschranke steht. Zwei junge Männer und zwei junge Frauen gehen durch den Eingang, an dem einer der Mitarbeiter die Tickets kontrolliert. Ein junger Mann gibt seine Schuhe in den Kasten nebenan, während sich die drei anderen gleich zu den Sitzen begeben und sich hinsetzen. Dann setzt sich auch der junge Mann ... Eine von den Frauen lässt einfach ihre Schuhe fallen. Der Mitarbeiter ignoriert dies ... Es geht los. Die Schlange fängt an sich langsam zu bewegen und sich zu drehen. Man sieht, wie die vier Personen immer weiter in die Höhe schießen. Die rhythmische Musik wird um einiges lauter. Touristen bleiben stehen, sie bestaunen die Bewegungen der Schwarzen Mamba. Die zwei Frauen und die zwei Männer geben zunächst keinen Laut von sich, so lange bis sie von der Schlange herumgeschleudert werden, sie vollführen eine 360-Grad-Drehung. Plötzlich schreien die Fahrgäste ... Die Fahrt geht zu Ende, die ‚Schwarze Mamba‘ wird immer langsamer. Ich sehe, dass die Fahrgäste trotz ihrer lauten Schreie ein Grinsen im Gesicht haben ... 2. Szene: Ein Mann und eine Frau mittleren Alters erscheinen ... Der Mitarbeiter schnallt beide an ... Die Musik wird lauter und die Schlange fängt an, sich langsam und dann immer schneller zu drehen. ... Der Sitze sind nun am höchsten Punkt angelangt. Für eine Sekunde hält die Schlange diese Position. Plötzlich dreht sie sich weiter und die Sitze fallen nach unten. In diesem Moment schreit die Frau kurz, 192
19. Station: Die Schwarze Mamba des Tirolers
der Mann bleibt ruhig. Bevor die Schlange langsamer wird, spricht der Mitarbeiter in der Hütte, wohl um Leute anzulocken, ins Mikrofon: „Super is des.“ Jetzt dreht sich die Schlange immer weniger und bleibt schließlich stehen ... 3. Szene: Einige Minuten später kommen fünf junge Leute zum Schalter. Sie sprechen Englisch mit dem Ticketverkäufer, sie sind aus Serbien, und holen sich Tickets. ... Die Schlange schleudert die Sitze um 360 Grad ... Nun ist diese Runde vorbei und der Mitarbeiter in der Hütte spricht irgendetwas Heiteres. Die fünf Jugendlichen lächeln. Sie haben den Ausgang noch nicht betreten. Plötzlich umarmt jeder jeden, alle lachen ... Die fünf jungen Leute fühlen sich wie eine Familie. Einer der Burschen hat vor zwei Tagen geheiratet, sie fühlen sich wie blutsverwandt. Ich bemerke eine große Begeisterung und bin fasziniert von der Offenheit und Freundlichkeit dieser Serben. Plötzlich werde ich eingeladen, mit ihnen mitzugehen, um mit ihnen zu feiern. Ich lehne freundlich ab. Bevor sie gehen, sagen sie, sie wollen hier im Prater einfach nur Spaß haben. Ich bekomme zwei Umarmungen, wir verabschieden uns.“ Abschließend macht sich die Verfasserin Gedanken, wie die Fahrgäste allgemein mit diesem Abenteuer umgehen. Ihr fiel u. a. auf, dass die Gäste vor der Fahrt eher langsam zu ihren Sitzen gehen, während sie nach der Fahrt sich schnellen Schrittes entfernen. Die meisten sind glücklich, die Fahrt mit der „Schwarzen Mamba“ heil überstanden zu haben, schließlich ist auf einer Tafel am Eingang zu lesen, dass kleine Leute, Leute mit Herzproblemen und einem instabilen Blutdruck o. Ä. von der Fahrt mit der „Schwarzen Mamba“ ausgeschlossen sind. Jedenfalls hat sich die Studentin Isabella Leistentritt als gute Beobachterin gezeigt mit Gefühl für jene, die sich der Gewalt der Schwarzen Mamba aussetzen und sich dann darüber freuen, ihr entkommen zu sein.
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20. Station: Das Schweizerhaus Ich schiebe mein Fahrrad zum Schweizerhaus, das gegenüber dem Riesenringelspiel von Walter Pondorfer und dem 1. Wiener Pony-Karussell liegt. Als 1766 der Prater als Volksprater für die Wiener öffentlich zugänglich wurde, soll es hier bereits eine Gastwirtschaft mit Namen „Schweizer Hütte“ gegeben haben, die um 1800 Gasthaus „Zur Tabakspfeife“, in dem Raucher eine Heimstätte fanden, geheißen hat. 1866 wurde hier eine „Schweizer Meierei“ eröffnet, aus der das „Schweizerhaus“ hervorging. Mit meiner damaligen Freundin, jetzt bin ich seit 52 Jahren mit ihr verheiratet, wanderte ich in jungen Jahren gerne im Sommer zum Schweizerhaus, um in dessen Gastgarten gutes Budweiser Bier gemeinsam mit einem Rettich zu uns zu nehmen. Seitdem liebe ich das Schweizerhaus. Es gibt noch einen Bezug zum Schweizerhaus. Ich hielt vor einigen Jahren im Salzburgischen einen Vortrag über historische Trinksitten und ihren Wandel. Unter den Zuhörern befand sich Diplomkaufmann Karl Jan Kolarik vom Schweizerhaus. Nach dem Vortrag kam er zu mir, sprach ein paar anerkennende Worte und überreichte mir seine Visitenkarte, auf der das Schweizerhaus vermerkt ist. Auf der Rück seite der Visitenkarte, die ich mir aufgehoben habe, steht mit Hand geschrieben: „Gutschrift für 6 Krügel Bier.“ Diese Krügel sind im Schweizerhaus einzulösen. Ich halte diese Visitenkarte in Ehren, sie steckt in meiner Brieftasche. Bis jetzt habe ich diese Gutschrift nicht eingelöst. Ich empfinde seit dieser Begegnung Sympathie für Karl Jan Kolarik. 1920 übernahm der legendäre Karl Kolarik, der Vater von Karl Jan, das „Schweizerhaus“. 1926 reiste er nach Böhmen, wo er Gefallen am 195
20. Station: Das Schweizerhaus
Abb. 14: Das Schweizerhaus im Prater hat eine interessante Geschichte, zu der auch gutes Budweiser Bier gehört. 196
Lydia Kolariks Erinnerungen an ihre Kindheit im Prater
Budweiser Bier fand. Er kaufte eine ganze Waggonladung dieses Bieres und brachte sie nach Wien in das Schweizerhaus. Der alte Kolarik unterhielt sich gerne mit seinen Gästen. Man merkte, er mochte sie. 1993 ist er gestorben. Seine Tochter, Lydia Kolarik, lernte ich vor einigen Jahren kennen, sie besuchte meine Vorlesungen an der Universität. Sie erzählt mir von ihrem verstorbenen Vater, der es verstanden hat, die Gäste mit Bier, Stelzen und Kartoffelpuffern zu erfreuen. Ihre Mutter, eine nette Dame, saß damals in der Küche und überblickte von da aus das Geschehen. Auch sie ist inzwischen verstorben. Durch Lydia Kolarik lernte ich einen der Kellner des Schweizerhauses kennen, und zwar den Herrn Gerhard. Für mein Kellnerbuch „Herrschaften wünschen zahlen“ erzählte er mir einiges aus seinem Leben und über die Gäste des Schweizerhauses. Herr Gerhard ist in den Beruf des Kellners hineingewachsen. Eigentlich ist er gelernter Installateur. Mit viel Gespür hat er gelernt, mit Gästen umzugehen, ohne eine entsprechende Kellnerausbildung in einer speziellen Schule zu haben. Er gehört für mich daher zu den „klassischen“ Kellnern, die gut mit den Gästen umzugehen wissen. Aufgewachsen ist er in einem Wirtshaus im Mürztal in der Steiermark. Lydia Kolarik und ihr Bruder, die jetzigen Inhaber des Schweizerhauses, sind höchst zufrieden mit Herrn Gerhard, der sich zu einem glänzenden Kellner entwickelt hat. Er ist beliebt bei den Gästen.
Lydia Kolariks Erinnerungen an ihre Kindheit im Prater Lydia Kolarik, eine liebe Dame, wartet, wie ausgemacht, im Gastgarten des Schweizerhauses auf mich. Wir setzen uns in den angenehmen Schatten eines Kastanienbaumes. Ich bewundere das Schweizerhaus mit seinem Gastgarten und sehe das Wirtshaus mit den vielen Sälen. Lydia Kolarik freut sich, mir etwas über ihre Beziehung zum Prater, der 197
20. Station: Das Schweizerhaus
zu ihrer Kindheit gehört, und über das Schweizerhaus, in dem sie sich heute als Miteigentümerin um die angenehme Atmosphäre, die die Gäste des Schweizerhauses lieben, kümmert. Eine weitere Schwester ist die Besitzerin der nahen Luftburg, auch sie hat mit Gastronomie zu tun. Lydia erzählt mir, dass die Leute hierher kommen, um sich zu erholen – bei gutem gepflegten Bier und gutem Essen, zu dem der Rettich, die Stelze, aber auch Erdäpfelpuffer und Rohscheiben gehören, die der Vater eingeführt hat. Lydia erinnert sich an eine schöne Kindheit, als das Schweizerhaus noch im Aufbau war. Es gab hier einige Hütten, denn das Schweizerhaus war durch das Kriegsgeschehen zerstört worden. In einer der Hütten wohnte die Familie Kolarik. In anderen Hütten waren das Werkzeug, die Küche und anderes untergebracht. Lydia erinnert sich an ein freies Leben im Prater, das sie genoss. Der Vater hatte das Schweizerhaus vor dem Krieg gepachtet. Da das Schweizerhaus unmittelbar nach dem Krieg unbewohnbar war, pachtete er mit seiner aus Ostfriesland stammenden Frau ein Eckgasthaus in der Engerthstraße, es hieß „Zur blauen Donau“. Der Mutter gefiel es dort jedoch nicht, sie setzte sich dafür ein, dass das Schweizerhaus wieder hergerichtet wird. Das Schweizerhaus mit seinen Bäumen und der Weite des Praters behagten der Mutter. Sie wollte Luft. Ähnlich wie in den Weiten Frieslands, in denen sie aufgewachsen war. Lydia Kolariks Schulweg zur Straßenbahn führte täglich durch den Prater. In der Früh, wenn sie wegging, war es ruhig. Wenn sie heimkehrte, empfing sie das Leben im Prater. Besonders beeindruckte sie, dass ihr der Tod, den ein maskierter Student zu spielen hatte und der bei der Geisterbahn im ersten Stock im Freien spazierte, immer, wenn sie vorbeiging, zuwinkte. Die Geisterbahn übte auf sie eine eigenartige Faszination aus. Ein leichtes Schaudern überkam sie, wenn der Sitz des Wagerls, auf dem sie in der Geisterbahn saß, plötzlich rumpelte. 198
Lydia Kolariks Erinnerungen an ihre Kindheit im Prater
Nicht alle Sitze rumpelten. Wenn sie ab und zu mit Gästen mit der Geisterbahn fuhr, achtete sie darauf, dass der Gast auf einem solchen rumpelnden Sitz saß und nicht sie. Positiv findet sie an der Geisterbahn, das sagt sie oft den Leuten, dass man in der Geisterbahn ungehemmt schreien kann. Das wäre gut für die Psyche. Wo könne man sonst um EUR 4,50, so viel kostet eine Fahrt, so laut schreien, wie man wolle? Lydia erzählt von einem Kabarettisten, Alexander Bisenz heißt er, der in der Geisterbahn als unsichtbarer Geist angestellt war. Er pflegte die Fahrgäste dadurch zu erschrecken, dass er während der Fahrt plötzlich auftauchte und auf das Wagerl sprang. Am Schweizerhaus und überhaupt am Prater gefiel ihr bereits als Kind das Leben unter schönen Bäumen, Föhren und Kastanien. Den Leuten gefällt es im Schweizerhaus. Sie achten darauf, sich entsprechend zu verhalten. Brüllende oder gar raufende Saufbolde gibt es hier nicht, meint Lydia Wenn sich doch jemand schlecht aufführt, so wissen die Kellner, wie man diesen unmöglichen Gast höflich entfernt. Über solche Störenfriede kann auch Lokalverbot ausgesprochen werden. Ein Lokalverbot hier im Schweizerhaus, stellt Lydia fest, würde manchen Besucher sicherlich härter treffen als ein kurzfristiger Gefängnisaufenthalt. Lydia fällt auf, dass die Gäste hier im Schweizerhaus nicht dauernd mit Handys spielen oder am Laptop arbeiten, daraus kann man ersehen, dass die Leute sich hier wohlfühlen und sich freuen, mit Freunden hier im Prater bei guter Speise und gutem Trank weilen zu können. Lydia Kolarik erinnert sich, dass früher unweit des Schweizerhauses sich ein kleiner Wanderzirkus mit heiteren Hunden und einem Bären aufgehalten hat. Einmal habe der Bär die Flucht ergriffen. Sie sei ängstlich in das Schweizerhaus gelaufen. Ihre Mutter dagegen trug es mit Fassung, sie war eben dabei, Erdäpfelpuffer zu braten. Dabei ließ sie sich nicht stören, sie war schließlich eine noble Dame aus dem Norden 199
20. Station: Das Schweizerhaus
Deutschlands. Lydia ist froh über ihre Herkunft. Sie hat friesische Wurzeln, aber auch österreichische und böhmische. Ihr gefällt die Orgelmusik, die vom Pferdekarussell herübertönt. Diese Töne, die an den Zirkus erinnern, passen zur Welt des Praters, in der Menschen sich vom Alltag erholen wollen. Der Prater ist eine mannigfaltige Welt. Eine alte Frau meinte zu Lydia, es gäbe die unterschiedlichsten Leute hier. Und dies wäre gut so.
Walter Zeman, der Panther von Glasgow im Schweizerhaus Ich erzähle Lydia, die mich als Radfahrer auf einen Apfelsaft eingeladen und mir eine Bierschokolade verehrt hat, eine Geschichte über den berühmten österreichischen Fußballtormann Walter Zeman und seine Beziehung zum Schweizerhaus. Mir schrieb vor einigen Jahren der liebenswürdige Herr Wilhelm Schreiber, ein ehemaliger Fußballspieler bei der Vienna und dann beim Kremser SC, dass er 1959 in die Nationalmannschaft einberufen wurde. Auf dem Weg ins Stadion zum Training habe er Walter Zeman getroffen, dieser habe ihn, da aus dem Training nichts wurde, schließlich in das Schweizerhaus auf ein Bier eingeladen. Walter Zeman war damals vielleicht der beste Fußballtormann der Welt, er spielte bei Rapid. Wegen seiner enormen Sprungkraft nannte man ihn Panther. Er wurde als Panther von Glasgow 1950 berühmt, als die Österreicher Schottland 1:0 besiegten. Zeman wurde in Österreich als erster Fußballspieler zum Sportler des Jahres gewählt. Ich erlaube mir, hier den Brief Herrn Schreibers an mich wiederzugeben, er ist von sportgeschichtlichem Interesse: „Wilhelm Schreiber (Kremser SC) Geb. 24. November 1934, Stammverein Vienna Wien/Döbling, 28.10.2008 200
Walter Zeman, der Panther von Glasgow im Schweizerhaus
Sehr geehrter Herr Girtler! Es schreibt Ihnen ein langjähriger Krone-Abonnent und begeisterter Leser Ihrer Streifzuggeschichten. Als langjähriger Hundskicker und Teilarchivar darf ich Ihnen in der Causa ‚ZEMAN‘ einiges Kopienmaterial zukommen lassen sowie eine persönliche ‚Wuchtel‘ mit dem Supergoalie schildern. In meiner Kremser Staatsligazeit wurde ich 1959 überraschend in den Teamkader berufen. 1. Training im Wiener Stadion. Auf dem Wege laufe ich in der Stadionallee auf den ‚alten‘ Walter Zeman zu. Häkelnd (neckend) fragt er mich; ‚Wo gehst denn du hin?‘ ‚Na, dort, wo du a hingehst‘, antworte ich. Daraufhin er: ‚Was heut schon alles in das Teamkader kommt?‘ Als wir uns dem Stadion näherten, standen dort nur zwei Autos. In Form des Vaters der SARA-Brüder trafen wir in den Stadion-Kabinen den einzigen Menschen... ‚Wisst’s ihr es nicht, dass das Teamtraining auf dem Sportklub-Platz ist – der Präsident Rautenstrauch hat anlässlich eines ‚Runden‘ alle eingeladen!‘ Wir beide hatten keine entsprechende Nachricht erhalten. Originalton Zeman: ‚Mich können sie im Arsch lecken – ich gehe ins Schweizerhaus – gehst mit?‘ Ich, der Super-ehrgeizige, geht mit dem Walter ins Schweizerhaus. Auf dem Weg dorthin rief ich drei Sportfotografen an, vielleicht ergibt sich eine lustige Geschichte!? Leider ergebnislos. Als einziger Kremser Spieler war ich seinerzeit absoluter Abstinenzler und nicht einmal Biertrinker. Nach zwei Krügerln hatte ich schon einen ziemlichen Fetzen (Rausch), was zur großen Erheiterung des Walter Zemans führte. Ende der Durchsage: Jeder nahm sich ein Taxi – ich fuhr heim und nie mehr gab es für mich eine Einberufung (zum Team). Es gab auch keine schriftlichen Nachwehen. Das wars. Mit herzlichen Sportgrüßen verbleibt Ihr treuer Leser in der Hoffnung, dass Sie sich etwas amüsiert haben und Sie noch lange, lange bei bester Gesundheit Ihre ‚Gschichterln‘ schreiben können. Ihr Willi Schreiber.“ 201
20. Station: Das Schweizerhaus
Ich danke Herrn Schreiber für diesen liebenswürdigen, etwas traurigen Brief, schließlich berief man ihn nach der Begegnung mit Zeman und dem Besuch des Schweizerhauses nicht mehr in das Nationalteam.
Verwegene Fußballfans im Schweizerhaus Für Fußballfans ist das Schweizerhaus, überhaupt, wenn das österreichische Nationalteam spielt, ein wichtiger Ort, an dem man sich bei gutem Bier vor dem Match auf dieses einstimmen kann. Es ist daher auch nicht möglich, vor einem solchen Match einen Tisch reservieren zu lassen, denn der Andrang in das Schweizerhaus mit seinem großen Biergarten, in dem herrliche Kastanienbäume zum Verweilen einladen, ist ungeheuerlich. Ich erlebte dies, als ich im letzten Sommer vor dem Match Österreich gegen Moldawien mit meinem Freund Herwig Patzl und seinen Eisstock-Freunden aus Spital am Pyhrn in den Garten des Schweizerhauses gelangte. Ich hatte ein paar Tage vorher Lydia Kolarik gebeten, für diese ehrenwerten Leute und mich eventuell einen Tisch zu reservieren. Sie meinte zwar, dies wäre nicht möglich, wenn wir aber früh genug kämen, würde für uns ein Tisch reserviert sein. Wir kamen früh genug und hatten einen herrlichen Tisch. Dafür danke ich Lydia Kolarik herzlich. Die nacheinander einlangenden Fußballfans füllten bald den Gastgarten des Schweizerhauses, sie waren zum großen Teil mit ihren rotweißroten Schals und anderen Österreich-Attributen erschienen. Sie begannen, sich stimmlich auf das Match vorzubereiten. Sie riefen diverse Parolen, wie man sie den Spielern während des Matches zuruft, z. B.: „Immer wieder, immer wieder Österreich.“ Es herrschte ziemlicher Lärm. Zu meinem Freund Herwig Patzl, der glücklich war, hier zu sein, sei noch festgehalten, dass er als Inhaber des „Spitaler Sportstadels“ sich einen Namen als Ski- und Wanderschuhspezialist gemacht hat. Sogar dem 202
Stammgäste und Kriminalbeamte
Trainer der österreichischen Fußballnationalmannschaft Koller verpasste er bereits Skischuhe, mit denen dieser höchst zufrieden sein soll. Fußballfans dürften vom Schweizerhaus und seinen Kellnern begeistert sein. Der Kellner Herr Gerhard erzählt mir dazu: „Ich habe einige Stammgäste, die sind Fußballfans. Ich wette mit ihnen oft, wer gewinnt, wenn Austria gegen Rapid spielt, Ich tippe auf einen Sieg von Austria, denn ich bin ein Austria-Fan. Wir wetten da höchstens um ein oder zwei Bier. Das macht Spaß, es soll ja eine Hetz’ sein. Mit einem Stammgast habe ich um 10 Krügel gewettet, dass Austria Meister wird. Es kommt selten vor, dass Austria Meister wird, aber damals ist Austria tatsächlich Meister geworden. Ich hatte also die Wette gewonnen. Der Mann, mit dem ich gewettet habe, war täglicher Gast im Schweizerhaus. Als aber Austria Meister wurde und er die Wette verloren hatte, ist er lange Zeit nicht mehr gekommen. Seine Freunde haben ihn dann wieder mit ins Schweizerhaus genommen.“
Stammgäste und Kriminalbeamte Herr Gerhard, der Kellner, ist ein guter Psychologe, der sehr geschickt mit seinen Gästen umgeht. So erzählt er mir: „Ich habe viele alte Leute als Stammgäste, eben weil ich schon so lange hier bin. Die erzählen mir auch viel. Zu mir kommt schon die zweite oder dritte Generation. Zuerst sind die Eltern mit den Kindern gekommen, jetzt kommen die Kinder schon. Da erlebt man oft die ganze Familiengeschichte. Eine Frau, deren Mann gestorben ist, sie ist an die 80, hat zu ihrem Arzt gesagt, sie nimmt keine Medikamente, stattdessen geht sie fünfmal in der Woche in das Schweizerhaus. Sie kommt von Meidling, geht die Hauptallee bis zum Lusthaus und zurück. Dann trinkt sie bei uns ein Bier und zwei Achtel roten Wein und dann einen Nussschnaps. Der Arzt hat zu ihr gesagt, sie solle nur so weitermachen.“ 203
20. Station: Das Schweizerhaus
Das Schweizerhaus mit seinen Kellnern bietet dem unter Kastanienbäumen sitzenden Gast nicht nur schäumendes, kühles Bier, sondern auch eine angenehme Atmosphäre, die auch zur Gesundung beitragen mag, wie Herr Gerhard meint. Auch Wiener Kriminalbeamte und ihre Freunde gehören zu den Stammgästen des Schweizerhauses. Es gibt die „Vereinigung österreichischer Kriminalisten“, die die bekannte Zeitschrift „Kriminalpolizei“ herausgibt und die sich regelmäßig hier im Schweizerhaus trifft. Ich empfinde es als Auszeichnung, wegen meiner Arbeiten auf dem Gebiet von Randkulturen Ehrenmitglied der Kriminalisten zu sein und mich „Ehrenkiberer“ – gemeinsam mit dem verstorbenen Schriftsteller Ernst Hinterberger und dem Schauspieler Wolfgang Böck (Kommissar Trautmann) – nennen zu dürfen. Präsident Alfred Ellinger und Vizepräsident Ferdinand Germadnik von den „Kriminalisten“, denen ich mich freundschaftlich verbunden fühle, freuen sich, mit Freundinnen und Freunden von der „Vereinigung der Kriminalisten“ im Gastgarten des Schweizerhauses stilgerecht und maßvoll Bier zu trinken.
Die Kolariks und ihre Geschichte Das Schweizerhaus ist eine der großen Attraktionen im Prater in den warmen Monaten von März bis Oktober jeden Jahres, während des Winters ist geschlossen. Die Gäste freuen sich bei Budweiser Bier und heiteren Gesprächen ihres Lebens. Diese Einmaligkeit des Schweizerhauses ist auch der Grund, warum ich Herrn Karl Jan Kolarik bitte, mir aus seinem Leben, das eng mit dem Schweizerhaus verbunden ist, zu erzählen. Er kommt meiner Bitte gerne nach und erzählt:
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Die Kolariks und ihre Geschichte
„Geboren bin ich im Oktober 1945 in Ostfriesland. Mein Vater war Obergefreiter bei der Deutschen Marine. Als junger Soldat ist mein Vater, er war gerade in der Grundausbildung, mit anderen Soldaten im Dianabad gewesen. Auf einmal hat es geheißen: ‚Wer schwimmen kann, der möge vortreten.‘ Mein Vater ist mit anderen vorgetreten. Dann hat man ihnen gesagt: ‚Ab zur Marine.‘ Alle, die vorgetreten sind, mussten nun zur Marine gehen. Sein Glück war, dass er einen LKW-Führerschein hatte. Daher wurde er Kraftfahrer bei der Marine. Dabei hat er meine Mutter in Ostfriesland kennengelernt. So bin ich ein halber Friese und ein halber Böhm. Ich habe böhmische Wurzeln, wie ich noch erzählen werde. Mein Vater war 1945, als ich zur Welt gekommen bin, in Kriegsgefangenschaft in einem Bergwerk in Nordböhmen. Er hat erzählt, er musste in einem Uranbergwerk arbeiten. Irgendwo bei Joachimstal. Er hat das Glück gehabt, relativ schnell als Kriegsgefangener aus diesem Bergwerk in ein Büro zu kommen. Man hat jemanden gesucht, der sich mit einer Buchhaltungsmaschine auskennt. Mein Vater meldete sich. Er kannte sich zwar nicht gut aus, aber er probierte so lange an der Maschine herum, bis er sich ausgekannt hat. Nun war er im Büro und nicht mehr im Bergwerk. 1947 ist er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden und nach Wien zurückgekommen. In Wien war 1947 alles zerstört. Das Schweizerhaus war abgebrannt.“ Der in Ostfriesland 1945 geborene Karl Jan Kolarik – Karl ist der Name des Vaters und Jan erinnert an die Nordsee – erzählt nun über seine böhmischen Wurzeln: „Die Großeltern sind 1880 aus Böhmen nach Wien gekommen. 1901 ist mein Vater in Wien geboren worden als zweites Kind. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg hat sein Vater Pech gehabt. Er hat vor dem Krieg Schweine aus Ungarn eingeführt, sie zu Schinken veredelt und diesen weiter nach Böhmen verkauft. Nach dem Krieg fehlte nun der Export- und der Importmarkt, um weiter mit Schweinen ein Geschäft machen zu können. Mein Großvater hat nun 205
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zu meinem Vater gesagt: ‚Das Schweizerhaus ist mein Lieblingslokal, traust du dich darüber?‘ Und mein Vater als 19-Jähriger hat gesagt: ‚Warum nicht?‘ Mein Großvater hatte damals das Schweizerhaus gepachtet gehabt. Er war Fleischer. 1919 war kein Geld da, der Weltkrieg war verloren. Die Altösterreicher aus Galizien sind nach Wien gekommen, Wohnungen wurden ihnen zugeteilt. Sie haben die Fußböden herausgerissen und verbrannt, es gab nichts zu heizen. In Wien herrschte bitterste Armut. Niemand hat sich damals ein Wirtshaus leisten können. Das Schweizerhaus im Prater gehört der Stadt Wien, auch heute noch. Da der alte Wirt des Schweizerhauses, auch er war Pächter, verstorben ist, war das Schweizerhaus vakant. Da das Geschäft im Schweizerhaus nicht gut gegangen ist, hat sich keiner gefunden, der es übernimmt. Kein neuer Betreiber traute sich also darüber. Damals hat die Saison im Mai begonnen und hat schon im September aufgehört. Mein Vater hat nun 1920 nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg auf Anraten seines Vaters das Schweizerhaus gepachtet. Als 19-Jähriger ist er in das Geschäft eingestiegen. Der Großvater hat ihm als Fleischer die Würstel geliefert.“ Karl Kolarik junior zeigt Bilder vom alten Schweizerhaus. Er erzählt dazu: „Damals gab es Konzertpreise und die normalen Preise. Wenn es Musik gab, waren die Preise etwas höher, um die Musiker, die im Schweizerhaus auftraten, zu bezahlen – das waren die Konzertpreise. Damals spielten berühmte Musiker im Schweizerhaus, zum Beispiel der Jaromir Vejvoda, er ist der Komponist des berühmten Liedes „Rosamunde, schenk mir Dein Herz und sag ja. Rosamunde, frag doch nicht erst die Mama“. Karl Kolarik zeigt mir auf einem Bild einige Herrn und erklärt: „Hier im Schweizerhausgarten ist der Vater im Mittelpunkt, links ist sein Vater. In den Vorkriegsjahren ist der Vater immer finanziell ‚geschwommen‘. Viele Wirtshäuser haben damals zugesperrt. Der Vater hatte die Handelsschule absolviert und Fleischhauerei gelernt. 1939 ist der Va206
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ter, wie gesagt, zur Marine eingezogen worden. Das Schweizerhaus war während des Krieges für Offiziere ein Rekonvaleszentenheim.“
1945: Die Hauptkampflinie geht durch das Schweizerhaus – die Fahrt nach Wien Über das Kriegsende erzählt Karl: „In den letzten Kriegstagen im April 1945 ist durch das Schweizerhaus und den Schweizergarten die Hauptkampflinie durchgegangen. Das Schweizerhaus ist abgebrannt. Es wurde von der Prater Hauptallee aus beschossen. Das Schweizerhaus ist, wie fast alles im Prater auch, in Flammen aufgegangen. Auch das Riesenrad hat gebrannt. Jetzt hat es nur mehr die Hälfte der alten Waggons. Es hat einen einzigen Betrieb gegeben, der überlebt hat. Das war die Meierei an der Hauptallee. Auf dem alten Gebäude der Meierei ist eine Weltkugel mit einem Adler abgebildet, dies war der amerikanische Pavillon bei der Wiener Weltausstellung. Jedenfalls war das Schweizerhaus niedergebrannt. Mein Vater ist erst 1947 nach Wien gekommen. Ich hatte meinen Vater bis dahin nicht gesehen. Ich war mit meiner Mutter in Ostfriesland. 1949 sind wir nach Wien gefahren. Meine Erinnerung ist, dass wir aus einem Zug hinausgeschaut haben. Meine Mutter hat mich auf das vorbereitet, was auf mich nun zukommt. ‚Jetzt siehst du deinen Papa‘, hat sie gesagt. Alle anderen haben einen Papa gehabt, ich habe bis dahin keinen gehabt. Das war für mich als Vierjähriger etwas Aufregendes. In Salzburg ist mein Vater in den Zug gestiegen. Wir hatten dann irgendein Problem mit den Russen, um über die russische Grenze bei der Enns zu kommen. Wahrscheinlich habe ich keine richtigen Papiere gehabt. Jedenfalls haben wir uns durchgeschwindelt und sind irgendwie nach Wien gekommen. Ich habe damals Plattdeutsch, wie man bei den Friesen spricht, gesprochen, aber auch etwas Hochdeutsch. Es war für mich daher schwierig, den Kindern, die Wienerisch sprachen, zu folgen. Für mich war das Wienerische wie eine Fremdsprache.“ 207
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Die zwei Fremdsprachen: Wienerisch und Tschechisch Karl schildert seine erste Zeit in Wien: „Ich war für die Leute die erste Zeit ein Piefke. Es war für mich am Anfang nicht leicht wegen des Wienerischen. Ich wurde deswegen auch verspottet, weil ich nicht Wienerisch sprechen konnte, das ist klar. Wenn man nichts versteht, hat man es gerade unter Kindern schwer. Die Sprache ist ein wichtiges soziales Mittel. Wenn man die Sprache in der Gruppe nicht kann, in der sie gesprochen wird, gehört man nicht dazu. Der Vater hat mich bald in den tschechischen Kindergarten gegeben – gegen den Willen meiner Mutter. Dieser tschechische Kindergarten war damals in der Vorgartenstraße im 20. Bezirk. Dort war auch die tschechische Volksschule, in die ich dann ging. In meiner Klasse waren zwölf Kinder: sechs Madeln und sechs Buben. Im 10., im 3. und im 16. Bezirk hat es auch je eine tschechische Volksschule gegeben. Mein Vater hat sich eingebildet, dass ich Tschechisch lerne. Er hat dies für wichtig empfunden. Im Kindergarten war es die zweite Sprache, die ich lernen musste, neben dem Wienerischen. Das Wienerische hatte ich mit Ach und Krach erlernt und auf einmal habe ich nicht mehr Deutsch reden dürfen, es hat geheißen, jetzt muss ich Tschechisch mit dem Vater und den Freunden reden, auch außerhalb der Schule, damit ich es als Umgangssprache lerne. Es ist heute für mich schön, dass ich Tschechisch kann, aber damals habe ich es nicht so gesehen, es war nicht leicht für mich. Tschechisch ist eine schwere Sprache, sie hat sieben Fälle, die Aussprache kann man lernen. Die Hürde ist die Grammatik. Natürlich haben wir, meine Schwester Lydia und ich, auch Deutsch gesprochen, wie eine Fremdsprache haben wir es gelernt, mit zwei oder drei Wochenstunden in der Schule. In der Schule haben wurde nur Tschechisch gesprochen. Es war eine schöne Zeit in der tschechischen Volksschule mit den sechs Madln und sechs Buben. Die Schule war eine Privatschule, sie wurde sehr familiär 208
Die zwei Fremdsprachen: Wienerisch und Tschechisch
geführt. Wir haben das Leben in der Schule genossen. Es gab schon damals eine Ganztagsbetreuung dort. Die ersten zwei Klassen waren schwierig. Da habe ich nicht brilliert. In der dritten und vierten Klasse ist es mir immer besser gegangen. Nach der Volksschule kam ich in die tschechische Hauptschule am Sebastianplatz im 3. Bezirk, es ist die Komenskyschule, die nach Komenius benannt ist. Es gibt sie heute noch. Ich habe mich aber trotz des tschechischen Unterrichts immer als Österreicher gefühlt und nicht als Tscheche. Und je länger ich hier war, desto mehr habe mich als Wiener gesehen. Ich bin heute Wiener mit Herz und Seele. Wenn ich wegfahre, so geht mir Wien immer ab. Ich fahre auch nicht gerne weg und komme gerne wieder heim. Wien hat heute eine Lebensqualität, die früher nicht vorstellbar gewesen wäre. Um in Wien zu leben, gehört die Sprache dazu. Es ist ein Versäumnis der Politiker, dass sie zu spät Druck gemacht haben, dass die Einwanderer Deutsch lernen. Ich würde die Familienbeihilfe mit einem Sprachkurs oder einem Sprachmindestsatz verbinden. Ich würde den türkischen Einwanderern sagen: ‚Deine Frau erhält die Familienbeihilfe, sie muss aber so und so viel Deutsch können.‘ Auch sollen die Einwanderer wissen, dass die türkischen Männer ihre Frauen nicht abhängig machen dürfen. So sind die Frauen freier. Für mich hat das die Politik verabsäumt. Wenn die Politiker vor 30 Jahren gesagt hätten, Kinderbeihilfe bekomme die Frau nur, wenn sie mit den Wienern sprechen kann, dann hätten alle Türken ihre Frauen Deutsch lernen lassen.“ Ich frage Karl Kolarik nun: „Kann man also sagen, dass du dich erst nach dem Erlernen der Sprache der Wiener als Wiener gefühlt hast?“ Karl nickt: „Ja, absolut. In der Hauptschule waren wir schon 20 Kinder in der Klasse, in der Volksschule ja nur 12. 20 ist mir damals schon sehr viel vorgekommen. In der Schule waren Wiener Tschechen. Tschechen sind ja in Wien seit 130 Jahren. Als Minderheit sind sie sehr wohl integriert gewesen. Die Tschechen haben ja gewisse Ähnlichkeiten mit den Wienern, von 209
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der Religion her und von der Mentalität her, insofern sind die Tschechen uns die nächsten. Die Ungarn sind vielleicht ein bisserl pfiffiger, die Slowaken auch. Die Italiener sind ganz anders als die Österreicher.“ Karl sieht die Gemeinsamkeit der Wiener mit den Böhmen: „Wenn ich durch Böhmen fahre, komme ich mir vor, als ob ich bei Cousins bin. Von der Mentalität her sind wir einander ähnlich. Ich war jetzt in Böhmisch-Krumau. Es ist eine der schönsten Städte, die ich kenne. Der Brauereidirektor von Budweis hat mich dorthin eingeladen. Ich verstehe mich gut mit ihm, ich kenne ihn schon ewig. Zu ihm habe ich schon ein paarmal gesagt, ich komme mir vor wie unter Cousins, wenn ich bei ihm bin. Wir beide, der Brauereidirektor und ich, reden miteinander Tschechisch. Wenn meine Frau dabei ist, reden wir Deutsch. Seine Frau kann leider nur Englisch neben Tschechisch. Je nachdem, mit welchen Leuten wir beisammen sind, reden wir Tschechisch oder Deutsch.“ Ich verweise darauf, dass die Deutschen von den Tschechen einige Wörter übernommen haben, wie Topfengolatsche und Ribiseln, und die Tschechen ebenso von uns Wörter. Karl K. ergänzt: „Manche Tschechen sagen: Geb mir den Hammel, also: Gib mir den Hammer.“
Ventilator, Stelzen und Bäume – das Schweizerhaus Karl K. geht nun darauf ein, wie das Schweizerhaus sich in den 50er-Jahren entwickelt hat: „Zu der Zeit, als ich in der tschechischen Schule war, war das Schweizerhaus noch klein und im Aufbau. Vor dem Schweizerhaus stand eine kleine Bude, es war ein alter kleiner Waggon vom Riesenrad. Das war um 1956. Es gibt noch Bilder davon. In dem Waggon haben wir kleine Ferkeln gegrillt und Cevapcici hergestellt. Die Ferkeln haben wir geschlachtet gekauft, ein Serbe, ein gewisser Beriwitsch, an den erinnere ich mich noch genau – er hat würdig mit seinem Bart ausgesehen –, hat dort die Spanferkel gegrillt und die Cevapcici gemacht. 210
Ventilator, Stelzen und Bäume – das Schweizerhaus
Etwas Besonderes war damals für mich das sogenannte Cevapcici-Semmerl. Bei diesem wird in eine Semmel Cevapcici, das ist ein faschiertes Würstchen, Senf und Zwiebel gelegt. Solche Cevapcici-Semmerl gibt es heute kaum noch, oder nur selten. Das war die Zeit, in der mein Vater eine Baracke von irgendwo gekauft hat. Auf diese Baracke hat der Vater geschrieben: ‚Provisorischer Bau aus dem Jahre 1949.‘ Dort haben wir einen Verschlag mit Erdäpfeln gehabt. So haben wir nach dem Krieg angefangen, die Rohscheiben in kleinen Mengen zu braten. Mein Vater hat das so erklärt: Wir hatten eine englische Fischbratküche. Die Fische waren damals billig und die Würstel teuer. Er hat dies mit Fischen probiert, er ist dabei auf die ‚Goschn‘ gefallen, das heißt, er hat nichts verdient damit, denn die Wiener wollen keinen Fisch essen, auch heute noch nicht. Immerhin hat er es probiert. Meine Eltern sind erst 1950 fix in den Prater gekommen. Vorher hat der Vater ab 1947 das Gasthaus ‚Zur blauen Donau‘ in der Engerthstraße, es war ein Arbeiterwirtshaus, bewirtschaftet. Hier, wo das Schweizerhaus heute steht, war verbrannte Erde, hier war gar nichts, hier war kein Baum, nur Trümmer gab es, hier war kein Geschäft zu machen. Wir haben 3000 Quadratmeter gehabt, konnten sie aber nicht nutzen. Jetzt haben wir den Waggon hier aufgestellt. Die Leute haben damals kein Geld gehabt, sie konnten nichts kaufen. Es war nichts da. Wir waren damals sehr arm. Es hat auch für uns Kinder nichts gegeben. Der Vater hat alles, was er an Geld hatte, in das Geschäft hineingesteckt. Ich erinnere mich, wie er 20 Föhren gekauft und aufgestellt hat. Meine Mutter war entsetzt, dass er Bäume gekauft hat, obwohl es an vielem anderen gefehlt hat. Dass er die Bäume gekauft hat, war vom Vater gescheit. Er hat dies investiert und daraus ist ein Gastgarten geworden“. Mein Freund, Franz Josef Mayr, meldet sich wieder zu Wort: „Deine Frau Mutter hat erzählt, dass der Vater einen Ventilator gebaut hat, damit der Geruch der Stelzen hinaus in den Prater zu den Besuchern 211
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geblasen wurde.“ Karl bejaht: „Die Leute rochen die Stelzen und kamen. Er hat dies in der Vorkriegszeit auch probiert, erst 1970 waren die Stelzen preislich erschwinglich. Die Kaufkraft war vorher gering. Wenn man von seinem Gehalt 50 Prozent für Wohnen ausgibt und 40 Prozent für das Essen, bleibt nicht mehr viel übrig, so muss man daheim essen.“
„Salzstangerl, Brezerl“ – das kommunistische Jugendlager Karl Kolarik erzählt nun über seine Kindheit, in der er bereits im Schweizerhaus mitgearbeitet hat: „Während ich in der böhmischen Volksschule war, bin ich als 10-Jähriger mit einem Körberl mit Brezerln, Semmeln und Salzstangen durch den Gastgarten gegangen. Ich habe gerufen: ‚Salzstangerln, Brezerln!‘ Das war eine tolle Aufbesserung meines Taschengeldes, im Jahr 1955. Einmal war ein amerikanischer Offizier in toller Uniform bei uns. Der war so begeistert von mir, weil ich Brezel, Semmel und Salzstangen ausrufe und verkaufe, dass er mir einen großen Aluminium-Fünfer, ein 5-Schilling-Stück, gegeben hat. Das war für mich damals das Taschengeld von einem Monat. Ich bin erstarrt, habe gedacht, er hat sich geirrt und wollte es ihm zurückgeben, darauf sagte er: ‚No, it’s for you!‘ So ein Salzstangerl hat damals 50 Groschen gekostet. 10 Groschen durfte ich mir behalten, das war mein Verdienst. In der tschechischen Hauptschule sind wir mit tschechischen Kindern auf Sommerlager verschickt worden, um besser Tschechisch sprechen zu können. Das Lager hat geheißen ‚Internationales Friedenslager‘, schließlich wurde es von den Kommunisten organisiert, den Jungpionieren mit den roten Tücherln. Für die waren wir aber unwürdige Kapitalistenkinder. Unter anderem war der 2. Bezirk damals russische Zone.“
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Schankbursch, auf der Handelsakademie
Schankbursch, auf der Handelsakademie „Mit dem Besuch der Handelsschule und der Handelsakademie“, erzählt Karl, „verband sich für mich der Wechsel von der tschechischen zur deutschen Sprache im Alltagsleben. Es war mein Entschluss, diese Schulen zu besuchen.“ Nach der tschechischen Hauptschule wechselt Karl also in die Handelsschule Weiss. Er erzählt: „Dieser Übergang war von der Sprache her schwierig. Ich wusste zwar, wie beispielsweise eine Erle auf Tschechisch heißt, nicht aber auf Deutsch. Ich hatte also einen eingeschränkten deutschen Sprachschatz. Zu dieser Zeit habe ich in der Schank gearbeitet. Das hat mir Spaß gemacht, da hat sich etwas getan. Bis zum Nachmittag war ich in der Schule. Nachher, ab 17 Uhr habe ich bei uns im Schweizerhaus Bier eingeschenkt, anstatt zu lernen. Von der Handelsschule bin ich auf die Handelsakademie gewechselt, in die sogenannte ‚Zweier-HAK‘ am Hamerlingplatz. Mir hat es dort gefallen. Ich gründete mit Freunden eine Band, eine Musikgruppe, sie war die einzige in der HAK (Handelsakademie), wir haben sogar einen Preis gewonnen. Die Schulzeit war eine schöne Zeit. In der Handelsakademie habe ich dann auch maturiert. Beeindruckt waren wir von den Rolling Stones und den Beatles. Gespielt haben wir mit unserer Band auch in Windischgarsten in der ‚Blauen Sense‘. Dort hatten wir unsere ersten Auftritte. Das hat unser Taschengeld aufgebessert. Sogar nach Karlsbad sind wir durch meine böhmischen Verbindungen gekommen. Dort haben sie uns aber nicht auftreten lassen. Eine Woche vorher wurde dort ein Konzertsaal nach einem Konzert der Stones oder Beatles zerstört. Dadurch haben wir Spielverbot bekommen. Darüber waren wir sehr enttäuscht. Mit viel Bitten bei der Polizeibehörde haben wir dann doch noch spielen dürfen.“
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Abenteuerliche Matura „Bei der Matura war eine lustige Situation. Ich hatte im Schweizerhaus ein Zimmer, in dem ich gelernt habe. Ich hatte viel zu wenig gelernt. Daher habe ich noch am ersten Tag der Matura gelernt, ich sollte erst am zweiten Tag der Matura am Nachmittag an die Reihe kommen. Draußen ist die Liliputbahn mit lautem Pfiff vorbeigefahren. Das hat mich immer kurz herausgerissen aus meinem Lernen. Um 10 Uhr klingelt das Telefon, ein Stimme sagte: ‚Hier, der Steininger.‘ Ich sage: ‚Ja, was willst du wissen?‘ Sagt die Stimme noch einmal: ‚Steininger.‘ Ich sage nervös: ‚Ja, der Steininger aus der Parallelklasse, was willst du von mir?‘ Nun sagt der Anrufer: ‚Hier spricht der Direktor Steininger von der Handelsakademie.‘ Ich bin erschrocken und sage: ‚Oh, Grüß Gott, Herr Direktor.‘ Dieser sagt: ‚Kolarik, kommen Sie schnell zur Prüfung!‘ Ich sage, ich käme erst am Nachmittag an die Reihe, ich müsse noch lernen. Das ist mir so heraus gerutscht. Da sagt der Direktor: ‚Was Sie jetzt nicht können, das erlernen Sie eh nicht mehr.‘ Ich frage, was denn um Gottes willen passiert sei. Der Direktor sagte, dass der Franz Mayer nicht erschienen sei und jetzt ich statt ihm an die Reihe käme. Mir war darauf schlecht. Ich bin zur HAK gedüst. Ich hatte eh so einen Schiss vor der Matura. Ich komme dorthin und mache die Tür auf. Der Professor sagt vorwurfsvoll: ‚Endlich sind Sie da!“ Ich schaue ihn entsetzt an, mir war eh nicht gut. Nun wirft ein anderer Professor ein: ‚Das ist nicht der, der geprüft werden sollte, sondern der, der für ihn einspringt.‘ Ich habe mich nun hingesetzt, aber es war mir noch immer schlecht. Gott sei Dank bin ich dann bei der Prüfung durchgekommen.“
Bundesheer und Studium „Nach der Matura ging ich zum Bundesheer. Dort hat man mich gefragt: ‚Wo wollen Sie denn hin?‘ Ich habe mir gedacht beim Flieger214
Bundesheer und Studium
bodenpersonal wäre es gut, denn da könnte ich ordentlich Englisch lernen. Bei den Funkern hätte es mir auch getaugt. Die Herrn beim Bundesheer haben gemeint, dies wäre nur möglich, wenn ich ein Jahr freiwillig zum Heer gehe. Ich meinte: ‚Ja, die drei Monate mehr sind mir recht, wenn ich zu den Fliegern komme und Funker werde.‘ Sie haben mich nach Glasenbach bei Salzburg eingezogen. Dort waren aber keine Flieger. Ich habe zu den Leuten vom Bundesheer gesagt: ‚Ich habe ja nur für ein Jahr unterschrieben, um zu den Fliegern zu kommen.‘ Man erwiderte, die Grundausbildung ist bei allen gleich. Ich habe mich damit abgefunden. In Glasenbach hat man es nicht leicht gehabt. Als Maturant hat man geglaubt, jetzt reißt du Welt nieder und erfindest sie neu. Als ich in die Kaserne kam, habe ich, weil etwas nicht hingehauen hat, im Spaß gesagt: ‚Da kann ich ja gleich wieder heimfahren.‘ Darauf bin ich ordentlich betoniert worden unter dem Motto, dem depperten Wiener werden wir gleich eine auflegen. Das war kein guter Einstieg für mich. Ich bin dann statt in die Jägerschule zu einer Unterabteilung einer Feldtruppe gekommen. Das war nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Wir sind mit schwerem Gepäck in die Berge gegangen. Ich bin ein Flachländler aufgrund meiner ostfriesischen Figur. Das hat mir überhaupt nicht getaugt, mit 15 Kilo in die Felsen zu gehen und von dort hinunterzuschauen. Das war eine scheiß Situation. Die Grundausbildung war im Winter. Auf einmal hat es geheißen, jetzt komme der Leistungstest. Und danach könne man dort hinkommen, wohin man wolle, ich also zum Flugbodenpersonal. Die Kappen der Flieger haben mir gefallen. Die Jägerkappe mit dem Edelweiß, das war nicht meine Sache. Das Leben als Jäger habe ich drei Monate genossen. Den Leistungstest habe ich gemacht und zu meiner Überraschung bestens bestanden. Ich habe mir zunächst gedacht, das könne nicht stimmen, es war aber Tatsache. Nun glaubte ich, nach Hörsching zu den Fliegern zu kommen. Aber nach einer Woche hat es für mich geheißen: Jägerschule 215
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Glasenbach. Mir ist alles runtergefallen. Nun bin ich in diese Jägerschule gekommen. Der dortige Oberleutnant war der Meinung, dass die vom Einjährigen-Freiwilligen-Zug ohnehin alle ‚Flaschen‘ sind und dass er es denen zeigen werde. Er hatte für uns eine Spezialausbildung vorbereitet. Ich habe mir gedacht, hoffentlich schaffe ich das. Meinem Vater habe ich gesagt, mir tauge es in Salzburg nicht, man hätte mich unter falschen Voraussetzungen dorthin gelockt. Ich fühlte mich beschissen. Mein Vater hatte damals einen pensionierten General als Stammgast gehabt, er hat nun mit diesem gesprochen und ihm meinen Fall geschildert. Der General hat sich nun für mich eingesetzt. Auf einmal war ich in der Heereswirtschaftsschule, dort waren unter 22 Akademikern nur zwei Nichtakademiker, einer von diesen war ich. Verwaltungsrecht, Verfassungsrecht habe ich hier gelernt. Es war nicht einfach für mich, aber sehr interessant. In der Ernährungswissenschaft habe ich sogar einiges Ärztliches gelernt. Man hat aber gelernt, was Hygiene ist. Diese Heereswirtschaftsschule war für mich ein guter Anschluss an die Handelsakademie. Nette Leute habe ich dort kennengelernt. Ich habe heute noch Freunde aus der damaligen Zeit beim Bundesheer. Dort habe ich viel gelernt. Beim Bundesheer habe ich mir gedacht, es wäre fein, doch weiter zu studieren. Ich bin nun auf die Hochschule für Bodenkultur gegangen. Dort war ich genau zwei Monate, dann bin ich darauf gekommen, dass ich einiges nachlernen müsste. Ich hatte mir das Studium dort nicht so schwer vorgestellt. Mathematik und Chemie hatten nicht meine Sympathie. Gärungstechnik hätte mich vielleicht interessiert. Ich habe mich nun kurzfristig entschieden, auf die Wirtschaftsuniversität zu gehen, dort würde ich eh alles, zumindest am Anfang, können. Das war natürlich nicht so, aber ich habe die Hochschule abgeschlossen. Rückblickend betrachtet war die Hochschulzeit die schönste Zeit für mich. Damals sind wir oft in das Krapfenwaldbad gegangen. Im Auge Gottes haben wir Bier getrunken. Auf den Kahlenberg sind wir gewandert. Da 216
Tüchtige Frau und tüchtige Kinder
war auch meine Frau dabei. Kennengelernt hatte ich sie im Hörsaal. Damals gab es wenig Stress auf der Wirtschaftsuniversität, es war gemütlich. Heute dürfte mehr Stress sein. Während des Studiums habe ich mir gedacht, ich könnte einmal Unternehmensberater zu werden.“
Tüchtige Frau und tüchtige Kinder Karl Kolarik kommt kurz auf seine Heirat und seine Kinder zu sprechen: „Geheiratet habe ich 1972. Meine Frau arbeitet im Schweizerhaus mit, sie ist tüchtig und kann auch gut mit den Gästen umgehen. Ich habe drei Kinder. Das älteste Mädchen ist Ärztin, sie absolviert den Turnus. Nun hat sie sich aber beurlauben lassen und arbeitet jetzt in Ostfriesland. Dort darf sie schon mitoperieren und viele ärztliche Arbeiten alleine machen. Die dort waren froh, dass sie gekommen ist. Die zweite Tochter, Regina, ist hier im Schweizerhaus. Sie war jetzt zwei Jahre in München in einem guten Lokal. Sie war auch im Hofbräuhaus, einem sehr großen Lokal. Dort hat sie sich die Hörner abgestoßen. Bei uns ist sie jetzt Assistentin. Wir schauen, dass wir sie weiterhin gut ausbilden, dass sie Verantwortung hier übernehmen kann. Wir haben auch noch einen Sohn. Er studiert an der Wirtschaftsuniversität ‚Internationale Betriebswirtschaftslehre‘. Er würde gerne in den Getränkehandel einsteigen, sagt er heute. In zwei Jahren wird er nach Deutschland gehen. Dann werden wir sehen, was er wirklich einmal machen will.“
Der Getränkehandel – das Budweiser Bier Karl Kolarik erzählt nun, wie er nach dem Studium in das Geschäft mit dem Bier einsteigt: „Als ich mit der Wirtschaftsuniversität fertiggeworden bin, hatten wir einen Getränkehandel nur mit Bier in der Augasse 11. Mein Vater hatte diesen 1937 übernommen, aber trotz kriegsbedingter Unterbrechungen blieb der Kontakt zum Budweiser Bier erhalten. 217
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Herr Buben hat den Getränkehandel während der Kriegszeit weitergeführt. Diesen Herrn Buben hat der Vater nach dem Krieg in die Gesellschaft aufgenommen. Daher hieß die Gesellschaft ‚Kolarik und Buben‘. Jetzt heißt die Firma ‚Kolarik und Leeb‘, weil wir fünf Getränkehändler übernommen haben. Leeb ist eine der Firmen, die vorher ‚Leeb Getränkehandel‘ geheißen hat. Den Leuten dieser Firma wollten wir ein wenig Heimat geben.“ Ich mache einen Schluck aus meinem Bierkrug und lobe das Budweiser, weil es herb, aber nicht zu herb schmeckt. Dazu Karl: „Es ist sehr süffig zu trinken. Das Budweiser wird noch immer in Budweis gebraut. In Amerika gibt es eine Marke Budweiser – Baddweiser ausgesprochen –, sie gehört heute zu einem südamerikanischen Konzern. Dieser hat 1970 diesen Namen gekauft. Der Chef des Konzerns soll gesagt haben, er habe in Europa ein Bier getrunken, das ihm so geschmeckt habe, dass er sich vornahm, für seine deutschen Gäste so ein Bier zu brauen. Dieses Budweiser schmeckt aber total anders als unseres in Europa. Ich habe es in Amerika verkostet. Ich verkoste alle Biere. Wir haben hier mit unserem Budweiser-Bier einen Markenschutz. Nach der Herkunftsbezeichnung darf unser Bier nur aus Budweis kommen, damit es auch als Budweiser verkauft werden kann. Über diese Markenrechte streiten schon seit 50 Jahren die Anwälte. Die amerikanische Firma Budweiser ist die größte Biermarke der Welt, aber eigentlich hat sie den Namen gestohlen. Das wird noch lange Juristen beschäftigen.“ Ich frage: „Wie oft kommt das Bier aus Budweis während des Sommers hierher?“ Karl: „Wenn das Wetter gut ist, zweimal in der Woche. Der Betrieb hier“, Karl geht auf die Besitzverhältnisse ein, „gehört zu einem Drittel meiner Schwester Lydia und zu zwei Drittel mir. Der Vater wollte es so haben.“
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Das Geheimnis des Bieres im Schweizerhaus
Das Geheimnis des Bieres im Schweizerhaus Ich komme auf die Besonderheit des Bieres im Schweizerhaus zu sprechen. Wichtig war und ist, meine ich, dass das Bier schmeckt, also angenehm die Kehle hinunterrinnt. Das ist für mich das Geheimnis des Schweizerhauses, füge ich hinzu. Darauf sagt Karl K.: „Es geht um die Kohlensäure. Wenn zu wenig Kohlensäure im Bier ist, ist das Bier schal und zu viel Kohlensäure ist auch nicht gut. Man zapft, damit das Bier schmeckt, so, dass viel Kohlensäure mit dem Schaum entweicht. Dadurch ist das Bier bekömmlicher als bei zu viel Kohlensäure.“ Mir fällt auf, dass Karl K. sich einen „Schnitt“ bestellt. Es wird ihm darauf ein Krügerl mit viel Schaum vorgesetzt. Er klärt mich auf: „Der Schnitt ist das Maß des Wirtes. Der Name stammt von der Handbewegung beim Drehen des Bierhahnes, das Schneiden. Der Wirt lässt sich also in einem großen Glas mit viel Schaum relativ wenig Bier einfüllen. Das Bier bleibt frisch und der Wirt kann mehr anstoßen mit seinen Gästen, ohne betrunken zu werden. Er kann ja nicht nach dem Zusperren betrunken heimgehen. Das wäre eine Katastrophe.“ Karl fügt noch hinzu: „Der Vater ist gerne bei den Gästen gesessen und hat sich mit ihnen unterhalten. Manchmal zum Leidwesen meiner Mutter. Der Vater hat oft nicht nur zwei Schnitte, sondern mehr getrunken. Noch als 88-Jähriger hat er seine vier, fünf Krügel Bier am Tag locker getrunken. Man hat es ihm nicht angemerkt. In den 60er-Jahren war das Schweizerhaus noch ein kleiner Betrieb, damals haben wir nur 20 Prozent der heutigen Plätze gehabt und die persönliche Ansprache der Gäste war noch notwendiger als heute.“ Zur Wichtigkeit des guten Bieres erzählt Karl noch: „Vor dem Bundesheer hatte ich kaum Alkohol getrunken. Beim Bundesheer in Salzburg trinken natürlich alle Bier. Da wollte ich auch nicht danebenstehen. Dort habe ich das Bier gekostet. Es hat mir nicht geschmeckt. Als ich einmal auf Kurzurlaub nach Wien gekommen bin, bin ich zum 219
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Smutny in der Elisabethstraße im 1. Bezirk gegangen. Dort habe ich ein Budweiser Bier getrunken. Dabei ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, ich habe gemerkt, zwischen dem Bier beim Bundesheer und diesem beim Smutny liegen Welten. Das hat mich damals bewogen, Gärungstechnik auf der Hochschule für Bodenkultur zu studieren. Daraus ist aber nichts geworden, das war ein Glück für mich.“ Ich frage Karl noch, wann dieser Gebäudeteil des Schweizerhauses am Rande des Gastgartens, in dem wir gerade sitzen, erbaut wurde. Karl erklärt: „Alles, was du hier siehst, ist ungefähr zwischen 1975 und 1999 gebaut worden. Da auf der Seite waren weiße Türen, sie stammten, darauf war der Vater sehr stolz, aus Bad Vöslau. Die haben hier genau hineingepasst. Durch eine dieser Türen soll schon Kaiser Franz Joseph gegangen sein.“
Die Gastfreundlichkeit des Wirtes Bevor wir unser Beisammensein beim Bier im Schweizerhaus beenden, habe ich noch eine Frage an Karl K., wie seine Beziehung zu den Gästen hier sei, die sich beim Bier unter den Kastanienbäumen einfinden. Er lacht und führt weit aus: „Es ist schön, gastfreundlich zu sein. Bei dieser Arbeit bekommt man unmittelbar die Zufriedenheit, aber auch die Unzufriedenheit der Gäste mit. Alle Gäste, sind kompetent, über Essen und Getränke zu urteilen, sie alle sind Spezialisten beim Essen und Trinken. In der Gastronomie steht man jeden Tag auf dem Prüfstand. Man hat eine Unzahl von Gästen, die einen beurteilen. Man ist als Gastgeber manchmal Psychologe für den Gast, wenn er mit seiner Frau einen ‚Wickel‘ gehabt hat, wenn der Chef etwas Böses gesagt hat, oder wenn der Bub in der Schule versagt hat, indem man ihm einfach zuhört. Er ist dann oft zufrieden und man hat ihm etwas Gutes getan. Es ist sehr schwierig für mich und meine Mitarbeiter, mit solchen Gästen, 220
Die Gastfreundlichkeit des Wirtes
die Probleme haben, richtig umzugehen. Der unglückliche Gast setzt sich her und ist fertig. Der Kellner denkt sich vielleicht, dass der nicht einmal grüße und ist nun grantig auf ihn. Dann sage ich zu dem Kellner: ‚Du musst das verstehen, vielleicht hat er Stress.‘ Ich freue mich, wenn Gäste gelockert und gelöst von uns gehen. Das ist das Schöne an der Gastronomie, sie ist in der Regel zum Wohlbefinden des Menschen da. Man kommt hoffentlich aus einem Gasthaus glücklicher heraus als man hineingeht. Das ist die Herausforderung für den Wirt.“ Zur Gastfreundlichkeit des Schweizerhauses gehört wohl auch, dass mit der Sperrstunde großzügig umgegangen wird. In diesem Sinn meint Karl K.: „Um 23 Uhr ist der ‚last call‘. Das letzte Bier und die letzten Getränke werden bei den Kellnern bestellt und von ihnen gebracht. In der Regel leert sich ab halb 12 Uhr der Garten. Wenn ein Match im nahen Stadion war, wird es meist später.“ Ich frage Karl K., wie es kommt, dass das Schweizerhaus einmal zum besten Gasthaus von Wien gekürt wurde. Karl K. denkt nach: „Das ist schwer zu sagen. Es gab in den 50er-Jahren bessere Lokale als das Schweizerhaus im Prater, wie zum Beispiel den ‚Walfisch‘. Es gab überhaupt viele gute Lokale nach 1945, die es heute nicht mehr gibt. Wichtig für ein gutes Gasthaus ist, dass der Gast nicht enttäuscht wird. Im Idealfall übertrifft man seine Erwartungen. Das ist nicht leicht. Das ist wie gesagt eine Herausforderung für den Wirt. Der Gast kommt mit gewissen Vorstellungen ins Lokal, er freut sich auf den Garten, in dem er sitzen kann, auf eine freundliche Umgebung, auf ein gutes Bier und auf ein gutes Essen. Der Gast muss sich die Konsumation auch leisten können. Das Hauptprinzip für einen Wirt ist, den Gast nicht zu enttäuschen. Manche Betriebe nehmen Autobusse an. Kurzfristig bringt der Bus Kohle (Geld) ins Geschäft, mittelfristig vertreibt er aber den einen oder den anderen Gast. Wir nehmen daher keine Reservierungen für Busse an. Es gibt Betriebe, die eingesehen haben, dass das Busgeschäft doch nicht so gescheit ist. Man 221
20. Station: Das Schweizerhaus
Abb. 15: Der besondere Reiz des Schweizerhauses besteht in seinem durch Kastanienbäume geschmückten Gastgarten.
ist schließlich abhängig von den Busbetreibern, die einem sagen, was man für seine Produkte verlangen darf, und die wollen, dass man Provisionen zahlt. Wenn man einmal abhängig ist von Autobussen, wenn man 25 Prozent oder mehr Geschäft mit den Bussen macht, dann kann man es sich nicht mehr leisten, Busse abzusagen. Wir aber wollen nicht von Bussen abhängig sein.“
Der Zauber des Gastgartens Ich spreche Karl K. auf den Gastgarten des Schweizerhauses an, der auf mich seit jeher eine große Faszination ausübt. Er berichtet: „Der Garten ist für uns sehr wichtig. Die Gäste kommen hierher, in Erwartung gemütlich im Garten zu sitzen. Das ist die Herausforderung für uns. Wenn es regnet, kommt der Gast nicht, denn er will ja im Garten sitzen. 222
Der Zauber des Gastgartens
Wenn er reserviert hat und es regnet, dann überlegt er, ob er absagen und woanders hingehen soll. Obwohl wir sehr viele Räume im ersten Stock haben, die klimatisiert sind, die schön sind, wollen die Gäste am liebsten im Freien sitzen.“ Milan Brantusa wirft ein: „Das Schweizerhaus behält seine Stammgäste, sie fühlen sich immer wohl, weil am Schweizerhaus baulich nie viel verändert wird.“ Ich erzähle über eine Episode im Gastgarten vor über dreißig Jahren. Mit meiner Familie habe ich vor vielen Jahren nach der Firmung meines Neffen Andreas das Schweizerhaus aufgesucht. Wir saßen im Garten. Andreas und Roland, mein Sohn, begannen zu streiten. Mein Sohn verabreichte Andreas eine Ohrfeige. Ich sagte zu Andreas, er solle seinem Cousin verzeihen und ihm keine Ohrfeige geben, damit der Streit nicht weiter eskaliert. Ja, meinte er‚ er würde ihm schon verzeihen, aber vorher haue er ihm noch eine runter. Ähnliche Streitigkeiten im Gastgarten nach Firmungen oder nach dem Besuch von Fußballmatches dürften mit Budweiser Bier versöhnlich beendet worden sein. Karl K. erzählt noch: „Wir sind das Lokal der Wiener. Deswegen haben wir im Teile des Gastgarten nach den Wiener Bezirken benannt. Wenn einer, der reserviert hat, kommt, so sagt der Kellner zu ihm: ’‚Ich habe für Sie in Sievering reserviert.‘ So kann es vorkommen, dass der Gast sagt: ‚Ich wollte nicht in Sievering etwas reserviert haben, sondern hier im Prater.‘ Nun wird der Gast aufgeklärt, dass die ‚Region‘ im Schweizerhaus Sievering heißt, die man für ihn reserviert hat. Alle Bezirke sind leider nicht im Garten vertreten. Manchmal kommt ein Bezirksvorsteher eines Bezirkes, nach dem keine Station im Gastgarten benannt ist. Es kann sein, dass der meint, sein Bezirk fehle, er hätte aber gerne, dass eine Region nach seinem Bezirk benannt werde, er würde sogar das Email-Taferl dafür zahlen. Leider können wir ihm nicht helfen. Von den 23 Wiener Bezirken haben wir 14 im Gastgarten. Die Bezirke haben wir schon bewusst ausgesucht. Bei der Bierschank heißt die Region 223
20. Station: Das Schweizerhaus
Franz-Josefs-Bahnhof. Dies darum, weil früher das Budweiser-Bier am Franz-Josefs-Bahnhof in Wien angekommen ist.“ Das wohl Einmalige am Schweizerhaus ist die Sperre des Betriebes vom 31. Oktober bis zum 15. März. Während des Winters wird meist etwas umgebaut und einiges renoviert. Die Stammgäste des Schweizerhauses freuen sich jedes Jahr auf die Eröffnung des Schweizerhauses am 15. März. Karl meint dazu: „Die Erwartungshaltung des Gastes, die nicht enttäuscht werden darf, ist groß. Er freut sich auf den 15. März. Mein Vater hat erst am 1. Mai aufgesperrt und im September zugesperrt.“ Karl führt uns noch durch den Keller. Wir bewundern die hier gelagerten Bierfässer. Wir gehen zur Schank und beobachten die Schankburschen, sie sind zu dritt. Der erste lässt das Bier in das Glas rinnen, es heißt: Er schenkt vor. Der zweite lässt das Bier aufschäumen, es gelangt ein Teil der Kohlensäure in den Schaum, es heißt: Er lässt das Bier etwas stehen, es setzt sich. Der dritte Schankbursch füllt das Krügerl mit Bier auf, er beherrscht diese Kunst. Dann wird das Bier serviert. Von Karl Kolarik verabschiede ich mich herzlich, ich bedanke mich für den Abend und das Bier. Auch Franz Josef Mayr und Milan Brantusa verabschieden sich. Mit ihnen wandere ich, mein Fahrrad schiebend, noch ein Stück durch den Prater.
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Zwischenstation: Seelische Betreuung der Praterleute – die beiden Praterpfarrer Um das seelische Heil der Praterleute kümmern sich ein katholischer und ein evangelischer Pfarrer. Der katholische Pfarrer ist Dr. Josef Farrugia, er ist Pfarrer der Votivkirche im 9. Bezirk, der evangelische Pfarrer ist Dr. Stefan Schumann, Pfarrer und Lektor an der Universität Wien. Ich sprach mit dem katholischen Pfarrer, Herrn Dr. Farrugia. Er ist freundlich, beherrscht neun Sprachen und wurde 1948 auf Malta geboren. Seine Herkunft von der Insel Malta hilft ihm wohl in seiner Funktion als Tourismus-Seelsorger. Pfarrer Farrugia ist dreisprachig aufgewachsen: mit Maltesisch, einer dem Arabischen ähnlichen Sprache, mit Englisch, seiner zweiten Muttersprache, und Italienisch. Pfarrer Farrugia kam auf Initiative von Kardinal Franz König zum Studium nach Wien an die Katholisch-Theologische Fakultät, wo er auch das Doktorat machte. 1974 wurde er zum Priester geweiht, im selben Jahr begann er in der Pfarre Altsimmering als Kaplan, seit 1983 ist er Leiter der Tourismus-Seelsorge der Erzdiözese Wien. „Die Tourismus-Seelsorge ist der Versuch, die Menschen, die in der Tourismusbranche beschäftigt sind, zu betreuen, aber auch den Touristen mit ihren ‚religiösen Bedürfnissen‘ entgegenzukommen“, so Pfarrer Farrugia im Gespräch mit der Webseite der Wiener Diözese „stephanscom.at“. Zu Pfarrer Farrugias Aufgabenbereich zählen die Flughafenseelsorge, die Gastgewerbe- und Hotellerieseelsorge, die Notfallseelsorge sowie die Zirkus- und Schaustellerseelsorge. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören auch ökumenische Gottesdienste gemeinsam mit seinem evangelischen Kollegen Dr. Schumann im Prater. Dort werden im Frühjahr bei der Eröffnung des Schweizerhauses und im Herbst vor der Winterpause jeweils ein ökumenischer 225
Zwischenstation: Seelische Betreuung der Praterleute
Gottesdienst im Schweizerhaus abgehalten, zu dem viele Praterleute kommen. Die Idee, ökumenische Gottesdienste im Prater durchzuführen, stammt von Alexander Schaaf. Zunächst wurden diese in einem Autodrom des Praters abgehalten, doch dies war dem Pfarrer und den Gläubigen zu laut. So entschied man sich für das Schweizerhaus – die Idee dazu stammt von der Seniorchefin dieser gastlichen Stätte, Frau Kolarik. Der Gottesdienst wird jeweils im ersten Stock des Schweizerhauses abgehalten. Auch Hochzeiten und Taufen in den Schaustellerfamilien werden von den beiden Herren durchgeführt. Sie stehen aber auch für Aussprachen und Beratungen zur Verfügung. Pfarrer Farrugia erzählt, seine Predigten, die sich am Evangelientext des betreffenden Sonntags ausrichten, kommen gut an, denn er predigt frei, ihm geht es vor allem auch darum, die zwischenmenschlichen Kontakte zwischen Schaustellern und ihren Angestellten zu fördern. Pater Farrugia, sicher auch Pfarrer Schumann, freut sich, wenn es den Schaustellern im Prater gut geht. Daher hören seine Predigten meist mit einem Satz dieser Art auf: „Ich wünsche weniger Arbeit und mehr Geld.“ An den Sonntagen hält er meist drei Messen: um 8 Uhr am Flughafen, um 10 Uhr in der Votivkirche und später in der Wallfahrtskirche Maria Grün, in der sich Praterleute auch gerne trauen lassen. Seit 46 Jahren ist er Priester, er hat in Oxford und in Holland gelebt. Als ich mit dem Prater-Heinzi sprach, kam das Gespräch auch auf Pfarrer Farrugia. Der Prater-Heinzi freute sich, dass ich ihn schon kennengelernt habe. Er erzählte, der Vorgänger von Pfarrer Farrugia sei ein gewisser Rektor Franzl gewesen. Er fügte noch hinzu, dass es bei großen Messen oder Jahrmärkten jeweils einen Eröffnungsgottesdienst gebe, bei denen der Pfarrer alle Teilnehmer segne, damit alles gut gehe. Der Prater-Heinzi erinnert sich aber auch, dass früher eine Taufe bei den Schaafs in einem Autodrom durchgeführt wurde. Auch Hubert Pichler von der Hochschaubahn schwärmt von Pfarrer Farrugia. Als die Mutter von Hubert Pichler starb, verweigerte 226
Zwischenstation: Seelische Betreuung der Praterleute
ihr der zuständige Wiener Pfarrer ein kirchliches Begräbnis, weil sie aus der Kirche ausgetreten war. Pater Farrugia aber meinte, dies wäre ein Unsinn von dem Priester gewesen, und führte für die Mutter das christliche Begräbnis durch. Hubert Pichler hat großen Respekt vor Pfarrer Farrugia. Auch die Herkunft des evangelischen Kollegen Dr. Stefan Schumann ist spannend. Ich sprach mit ihm, einem liebenswürdigen Herrn, im Café Landtmann. Es war eine freundliche und anregende Stunde, die ich mit ihm, der ebenso wie ich Radfahrer ist, verbracht habe. Geboren wurde Dr. Schumann 1959 in Hausham in Bayern in der Nähe des Schliersees. Maturiert hat er in Cuxhaven an der Nordsee und begann in Münster in Nordrhein-Westfalen mit dem Studium der evangelischen Theologie. Von Münster zog er nach Wien, wo er eine Zeit als freier Regisseur arbeitete und am Aufbau der „Studiobühne“ am Institut für Theaterwissenschaften der Universität Wien mitwirkte. 1990 schloss Schumann in Göttingen (!) sein Studium ab, es zog ihn wieder nach Wien. Schließlich wurde er 1993 evangelischer Pfarrer in Wien-Landstraße. Seit 1998 ist er Obmann des Vereins Evangelische Pfarrerinnen und Pfarrer in Österreich. Aber auch an der Universität ist er tätig. Dr. Schumann ist ein Mann mit Verstand, aber auch mit Theatererfahrung – er eignet sich bestens, um Touristen, Zirkusleute und Schausteller seelsorgerisch zu betreuen. Er liebt es, wie er sagt, mit Menschen auf der Reise zu sein, durch Österreich und durch ihr Leben. 1991 schon übernahm er die Leitung der evangelischen Circus- und Schaustellerseelsorge aus der Hand seines Vorgängers Pfr. Ludwig Drexler, der bald verstarb. Schnell lernte er, dass am Wiener Prater nur ein Teil der Schaustellerinnen und Schausteller in Österreich zu Hause sind. Also hieß es zu reisen, denn Menschen auf der Reise kann man eben nur auf dieser begegnen. So feiert er bis zum heutigen Tag Gottesdienste, in Bregenz, Salzburg, Linz, Graz, Klagenfurt und wo immer 227
Zwischenstation: Seelische Betreuung der Praterleute
er gerufen wird, mit ‚seinen‘ Schaustellerinnen und Schaustellern. Die Gottesdienste finden meist in Autodromen der verschiedenen Familien statt. Es ist eine Kirche, die ihren Raum in die Welt öffnet‘, könnte man sagen und so hören die Predigt, die im Mittelpunkt steht, nicht nur die Schaustellerinnen und Schausteller, sondern mancher Passant bleibt neugierig und hörend stehen. Viele kommen, um ihn zu hören. Daher nennt Pfarrer Schumann diesen besonderen Berufsstand der Schausteller „seine Gemeinde“, worin sich eine tiefe gegenseitige Verbundenheit ausdrückt, die nicht danach fragt, wer evangelisch oder katholisch oder auch konfessionslos ist. So ist er mittlerweile auch Ehrenmitglied der Schaustellerverbände Nieder- und Oberösterreichs. Im Wiener Prater fühlt er sich sehr wohl, hier konnte sein Sohn als kleines Kind jedes Fahrgeschäft ausprobieren und später als Universitätslektor kommt er mindestens einmal im Jahr mit seinen Studentinnen und Studenten hierher, um ihnen diesen besonderen Teil seines Aufgabengebietes als Pfarrer zu zeigen. Sowohl auf der Hochschaubahn als auch am Biertisch des Schweizerhauses kennt er sich aus. Auf dem Weg zum Schweizerhaus zeigt er regelmäßig seinen Studenten das Kinderautodrom, wo er nun nach über 20 Jahren wieder zwei Praterkinder taufen durfte. Im Frühsommer 2015 war ich vom Institut für evangelische Theologie an der Universität Tübingen im Rahmen einer Tagung mit dem schönen Titel „Religion auf der Reise“ zu einem Vortrag über den Prater eingeladen. Dabei erzählte ich auch von Pfarrer Farrugia und Pfarrer Schumann, die ihre Praterleute lieben und die offen sind für deren menschliche und seelische Probleme.
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21. Station: Maria Grün – Madonna auf dem Praterbankl Das Schweizerhaus liegt hinter mir, ich radle durch die Hauptallee, dort wo bis 1766 ausschließlich die Equipagen der Aristokratie fuhren. Heute sind Radfahrer, Jogger, Fußgänger, Leute mit Kinderwägen und anderes Volk aus allen sozialen Schichten unterwegs. Ich gelange vom Lusthaus über eine Schotterstraße durch den Auwald zu der beschaulichen Wallfahrtskirche Maria Grün. Vor der kleinen schmucken Kirche ist ein Blumengarten angelegt, den ein freundliches Gärtnerehepaar liebevoll pflegt. Willi Klaban kommt mir entgegen, er ist Kustos dieser schönen kleinen Kirche und der daneben befindlichen Kapelle. Er hat einen interessanten Bruder, es ist dies der bekannte Läufer Rudi Klaban, ehedem Universitätsprofessor am Institut für Sportwissenschaften. Er kam im 800-Meter-Lauf bei der Olympiade in Tokyo immerhin ins Halbfinale. Rudi Klaban, der Jahrzehnte hindurch den österreichischen Rekord über diese Distanz gehalten hat, war Leiter einer Laufsport-Gruppe an der Universität Wien, mit der ich in früheren Jahren regelmäßig durch den Wienerwald bei Neuwaldegg lief. Auch er kommt gerne hierher zu dieser Idylle im Wald. Zu den Waldläufern im Prater, die auch bei der Kapelle zu sehen sind, gehört mein Freund Dr. Walter Lang, ein ausgezeichneter Meister der Laufkunst. Auch die Waldläufer gehören zum Prater und zu dieser kleinen Kapelle. Diese kleine Wallfahrtskirche mitten im Auwald hat eine interessante Geschichte. Da es früher keine Kirche hier in der Freudenau gab, brachte 1863 der Lehrer Schrentz an einem Baum im Auwald ein Marienbild an, zu dem er mit den Schulkindern pilgerte. Auf eine ähnliche Idee kam 1911 der Wirt Plankenbüchler, er stellte nicht weit vom Lusthaus eine Marienstatute auf. Fromme Leute, unter ihnen Gärtner, Fi229
21. Station: Maria Grün – Madonna auf dem Praterbankl
scher und Donauschiffer, sahen sich ebenso bemüßigt, an den Bäumen Heiligenbilder anzubringen. Man sprach von der „Waldandacht“. Um die Bäume zu schonen, wurden allerdings die Heiligenbilder durch die Praterverwaltung samt und sonders entfernt. Schließlich fanden heilige Messen um 1890 im Turnsaal der neu gebauten Volksschule in der nahen Aspernallee statt. Doch dies war keine zufriedenstellende Lösung. Ein Kirchenbauverein wurde gegründet und im Jahre 1924 ging man daran, die Kirche Maria Grün zu bauen. Bereits zu Weihnachten desselben Jahres weihte man sie ein. Ausgestattet hat man die Kirche – es war die Zeit der Not – mit der Einrichtung der Hauskapelle des Armenhauses von Langenlois. Während des Krieges wurde Maria Grün von Bomben getroffen, aber nach dem Krieg wieder aufgebaut. Fritz Koppe und Oswald Miksch vom Kulturverein Freudenau haben darüber eine ansprechende Broschüre verfasst. Das Gnadenbild, das die Kirche schmückt, zeigt Maria mit dem Jesukind auf einer Bank in der Praterau sitzend. Dasselbe Motiv findet sich auf dem Bild in der Kerzerlkapelle daneben. Oft verharren Wandersleute und Waldläufer andächtig vor diesem Bild. In Maria Grün wird gerne verheiratet. Bei meinen vielen Besuchen in dieser lieben Kapelle wurde ich einige Male Zeuge von Hochzeiten. Auch die katholischen Schausteller des Wurstelpraters heiraten bisweilen hier an diesem romantischen Platz, die evangelischen Schausteller ziehen die Taborkirche vor. Die Kirche wird von Mönchen des Trinitarierorden – des Ordens der heiligen Dreifaltigkeit – betreut, der um 1200 gegründet wurde, zu einer Zeit, als der Islam im Kampf mit christlichen Ländern stand. Damals versuchten Trinitarier, christliche Gefangene, die sich in den Händen der Sarazenen, also der Muslime, befanden, freizukaufen. Heute kümmern Trinitarier sich neben der Seelsorge auch um die Krankenpflege, sie sind ein Orden der Barmherzigkeit. Sie helfen ebenso Reisenden und Pilgern. 230
21. Station: Maria Grün – Madonna auf dem Praterbankl
Pater Clemens Kriz, der Pfarrer von Maria Grün, arbeitet in bester Tradition dieses Ordens. Er ist ein Mann mit weitem Herzen und großer Güte. Ihm liegen jene Gruppen am Herzen, die an den sozialen Rand gedrängt werden. Pater Clemens hat Humor, er ist ein Mann des Tröstens. Man trifft ihn oft mit seinem Hund, den er irgendwo aufgelesen hat. Im Jahre 2007 wurde auf seine Initiative hin bei der Kirche Maria Grün eine Gedenkstätte für verstorbene HIV-Infizierte eingerichtet. Hier liegen viele Steine, auf denen die Vornamen der Toten zu lesen sind. Auf einem Stein liest man „Cornelia 2009“ und denkt an das Leid dieser Frau und das ihrer Familie und Freunde. Es ist ein Ort der Stille. Mein Fahrrad wartet. Ich mach es mir auf einem Bankerl unweit der Kirche bequem. Bevor ich gehe, nehme ich vier Bälle aus meinem Rucksack, die ich immer bei mir trage. Zum Erstaunen von zwei Radfahrerinnen beginne ich hier in Maria Grün zu jonglieren. Ich erzähle ihnen, ich würde dies zu Ehren der Mutter Gottes tun, die hier abgebildet, auf einer Praterbank sitzend, sich all jener annimmt, die ihre Hilfe brauchen. Dazu gehören die Schausteller des nahen Wurstelpraters, aber auch Jongleure.
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22. Station: In den Büschen – Erinnerungen an Landstreicher, Fassldibbler und Strizzis Ich verlasse mit meinem Fahrrad die Kapelle Maria Grün, es ist schon spät am Nachmittag, und fahre über einen Waldweg zum Heustadelwasser und von dort zur Hauptallee. Der Prater mit seinen Auen ist wohl seit dem Ende des 18. Jahrhunderts manchmal auch eine ideale Gegend für Landstreicher, kleine Gauner, die sich in den Büschen bestens verstecken konnten und auch noch können, aber auch für Damen des „leichten Gewerbes“, die am Rande des Wurstelpraters ihren Geschäften nachgingen. In den 1980er-Jahren kannte ich ein Landstreicherpaar, sie war mit einer Gitarre, die nur zwei Saiten hatte, unterwegs, das in der Lobau, aber auch in den Praterauen an versteckten Plätzen während der warmen Jahreszeit lagerte. Bereits um 1900 wird von solchen Bewohnern der Praterwiesen und Praterbüsche berichtet. In seinem Buch „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“ (Wien 1908) erzählt Emil Kläger, der dieses Buch „den Elenden, den Verdammten der Gesellschaft, den Lumpen von Gottes Gnaden widmet“, von solchen Praterbewohnern, die es vielleicht heute noch gibt. Das betreffende Kapitel trägt den Titel „Bei der grünen Bettfrau“, er erinnert an „Maria Grün“, die Kapelle der Praterschausteller. Emil Kläger schreibt: „Es war in den letzten Novembertagen, als sich der Kiebitz (ein Stadtstreicher) an mich wandte: ‚Nun müßten Sie wohl auch der grünen Bettfrau Ihre Visite abstatten.‘ Als er (der Kiebitz) mir vorschlug, die Lager der Obdachlosen im Prater aufzusuchen, die der Volksmund im harmlosen Spott „grüne Bettfrau“ nennt, wendete ich ein, dass man zu so vorgeschrittener Jahreszeit wohl kaum noch Schläfer dort unten finden werde ... Ich nahm also den Vorschlag des Kiebitz an und wir marschierten dem Prater zu. Dunkel lag die Hauptallee vor 233
22. Station: In den Büschen
uns ... Wir bogen quer durch die Gebüsche ein und bummelten durch den Wurstelprater ... In der Tat fanden wir bald einen Schläfer unter einem Strauch liegen. Da das Gras dünn und niedrig stand, hatte der Mann Reisig zusammengetragen und sich unter den niedrigen Zweigen so gebettet, dass sie eine natürliche Wölbung bildeten und ihm vor plötzlich eintretenden Witterungsumschlägen einen natürlichen Schutz boten. Im Weitergehen fanden wir dann noch einzelne Schlafende, besonders bei der Praterkaserne, in deren Nähe sich ein Verhau befindet, der eine große Wiese umschließt, die im Sommer zu den frequentiertesten Schlafplätzen zählen soll. Und ganz versteckt, nur Eingeweihten bekannt, befindet sich der Durchschlupf in diesem Verhau, der morgen wieder künstlich verstopft wird ... Dies geschieht, um bei polizeilichen Streifungen durch den Prater den suchenden Wachleuten die Auffindung der Schläfer zu erschweren und ihnen die Möglichkeit der Flucht offen zu lassen. Überall fanden wir einzeln und in Gruppen Schlafende im Gesträuch. Stunden vergingen, in denen wir alle Winkel des Praters durchstöberten ...“18 Zu diesen armen Leuten, die hier am Rande des Wurstelpraters im Freien nächtigten, gehörten auch die sogenannten Fassl- oder Bierdibbler, von denen Frau Liselotte Lang von der „Wiener Rutschn“ heute noch spricht. Diese baten in den Zeiten der Not, vor allem nach den Kriegen, die Wirte, ihnen die Bierreste, die in Gläsern oder in Bierfässern noch vorhanden waren, zu schenken. Sie gaben diese in metallene Reindln (Gefäße), die sie meist an einem Riemen unter dem Rock trugen. Da diese Reindln den Messapparaten der Taxifahrer ähnelten, nannte man diese Männer auch „Taxameterburschen“.19 Auch die Damen des leichten Gewerbes zogen sich in den Prater zurück, um ungestört Freier anzulocken. Mit der Weltausstellung 1873 im Prater wurden die Prostituierten erstmals erfasst – sie mussten ein Gesundheitsbuch nachweisen. Was allerdings nicht alle taten. Nur rund 234
Der Armenarzt Dr. Schrank und die Damen des leichten Gewerbes
1600 Frauen und Mädchen ließen sich registrieren. Doch im mehr oder weniger Geheimen blühte das Geschäft rund um die Weltausstellung. Die Damen flanierten über die Wege und boten den Besuchern ihre Dienste an. Dies ging gut bis zum Jahr 2011, als das neue Prostitutionsgesetz die Damen des „leichten Gewerbes“ aus dem Prater vertrieb.
Der Armenarzt Dr. Schrank und die Damen des leichten Gewerbes Mit „leichten Mädchen“ kam ich in Kontakt, als ich in den 1980er-Jahren meine Forschung bei der Wiener Polizei durchführte. Damals durfte ich mit den sogenannten Pros-Streifen (Prostitutions-Streifen) der Polizei mitfahren, das waren jene Streifen, deren Aufgabe es war, Geheimprostituierten auf die Schliche zu kommen oder Prostituierte zu kontrollieren. Die Damen des „leichten Gewerbes“ im Wiener Prater bauten auf einer alten Tradition auf, wie sie der Wiener Arzt Dr. Josef Schrank (1838–1907) in seinem 1886 erschienenen Buch „Prostitution in Wien in historischer, administrativer und hygienischer Beziehung“ sehr bunt beschrieben hat. Josef Schrank war ein in Wien niedergelassener praktischer Arzt, er war aber auch Armenarzt und ab 1879 Polizeiarzt. Er beschäftigte sich nicht nur mit „sittenpolizeilichen“ Themen, sondern damit zusammenhängend auch mit bakteriologischen Themen. Dr. Schrank brachte es zu einem angesehenen Bakteriologen, aber auch zu einem Spezialisten für die Prostitution in Wien und für den Mädchenhandel, dem er den Kampf angesagt hatte – und zwar als Präsident der „Österreichischen Liga zur Bekämpfung des Mädchenhandels“. In seinem Buch über die Wiener Prostitution versucht Dr. Schrank, die Wiener „öffentlichen Mädchen“, also die Damen des „leichten Gewerbes“, zu kategorisieren. Zunächst bezieht er sich auf eine Flugschrift 235
22. Station: In den Büschen
aus dem Jahre 1848, es war das Jahr der Revolution, in dem diese Damen in drei Klassen eingeteilt werden: 1.: Mätressen der Aristokraten, die durch ihr „Lasterleben“ schnell altern. 2.: Mädchen herabgekommener Familien, die am Anfang ihrer Laufbahn in die Hände von Kupplerinnen gefallen sind. Sie gingen fesch und bunt gekleidet ihrem Gewerbe am Graben, Kohlmarkt, Rothenturm und in der Kärntnerstraße, am sogenannten Schnepfenstrich, nach. Zur dritten Klasse gehörten ehemalige Küchenmädchen, Wäschermädchen, Fabrikarbeiterinnen u. a., die zu faul zur Arbeit sind. Für gewöhnlich kümmerte sich um ein solches Mädchen ein Strizzi, also ein Zuhälter, der vorgab, sie zu schützen. Man nannte die Strizzis auch Strich- und Kappelbuben. Kappelbuben deshalb, weil die Strizzis als Kopfbedeckung eine Kappe trugen, denn in der Zeit vor 1848 war das Kappentragen in unteren sozialen Schichten üblich, schließlich war es Lehrbuben und anderen Burschen nach der Zunftordnung nicht erlaubt, Hut und Stock zu tragen. Die Strizzis, also die Zuhälter, nannte man auch Krameltreiber, weil sie den „Krameln“, wie man die Damen des „leichten Gewerbes“ bisweilen heute noch nennt, die Männer „zutrieben“. Ein großes Aufmarschgebiet dieser Damen, die vorwiegend der geschilderten dritten Klasse der Wiener Dirnen angehörten, war, neben den Ufern des Wienflusses und der Brigittenau, der Prater. Im Prater gab es wohl seit jeher auch Geheimprostituierte, zu denen, wie Dr. Schrank schreibt, Tanzdirnen gehörten, aber auch „Gelegenheitsdirnen“, die der Prostitution nicht gewerbsmäßig nachgingen. Gelegenheitsdirnen konnten verheiratete Damen sein, die sich am Strich etwas dazuverdienten, um sich und der Familie ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Zu diesen gesellen sich, so Dr. Schrank, Dienstmädchen, Handarbeiterinnen und „hausierende Huren“, das sind Mädchen, die herumgehen und Blumen, Obst o. Ä. anbieten. Alle diese Damen waren gefährdet, geschlechtskrank zu werden. Mit der Einführung der Gesundheitsbücher in Österreich 1873 236
Mit der Polizei unterwegs
Abb. 16: Bereits um 1900 warteten Damen des leichten Gewerbes unweit des Lusthauses auf Kunden.
konnte man die Geschlechtskrankheiten zwar in den Griff bekommen, aber die Geheimprostitution nicht ausrotten.
Mit der Polizei unterwegs Die hier beschriebenen Damen des leichten Gewerbes, die kontrollierten und die geheimen, gab es im Prater bis in die jüngste Zeit. Als ich um 1980 meine Studien über die Wiener Polizei durchführte, konnte ich dies selbst sehen. Die Polizisten, die ich am Tag und in der Nacht im Prater und in der Umgebung des Praters begleitete, griffen u. a. verheiratete Damen, Mädchen aus Kärnten und anderen Bundesländern auf. Für gewöhnlich saßen diese Damen neben mir im Fonds des Funkstreifenwagens, um sie zum Kommissariat zu bringen, wo man sie dann näher befragte. Mir taten diese Frauen leid, ich versuchte daher, sie freundlich anzulächeln, doch mein Lächeln wurde nicht erwidert, of237
22. Station: In den Büschen
fensichtlich hielt man mich für einen Kriminalbeamten. Grundsätzlich waren die Beamten korrekt zu diesen Damen am „Strich“ des Praters. Einmal, als wir bei einer Prostituierten, die unweit des Wurstelpraters in der Rustenschacherallee spazierte, stehen blieben, wurden wir von ihr mit je einem Stamperl Schnaps begrüßt. Die Polizisten kontrollierten dennoch das Gesundheitsbuch, die Eintragungen über die regelmäßigen Untersuchungen waren in Ordnung. Gut gelaunt fuhren wir weiter. Festzuhalten ist, dass die Polizisten und auch ich den angebotenen Schnaps nicht getrunken haben. Mein Freund Mag. Gerhard Brenner vom Innenministerium, der einige spannende und informative Aufsätze in diversen polizeilichen Schriften verfasst hat, ließ mir einen seiner Aufsätze aus dem Jahre 2007 in der „Öffentlichen Sicherheit“ (11–12/2007) zukommen, in dem er die Arbeit der Polizistinnen und Polizisten während einer Nachtstreife im 2. Bezirk vom 4. zum 5. Oktober 2007 beschreibt. Seine Schilderung stimmt im Wesentlichen mit der Darstellung von Dr. Schrank und auch mit der meinen überein. Unter der Überschrift „Nachtschicht im Zweiten“ schreibt Gerhard Brenner zur Prostitution im Prater: „Zum Rayon (der Polizei) gehören ein Teil des Praters, die Venediger Au, die früher ein Treffpunkt der Stricher und ihrer Kunden war, und das Stuwerviertel mit dem illegalen Straßenstrich. Die Frauen, die hier meist tagsüber auf Freier warten, stammen großteils aus den östlichen Nachbarländern, aus Rumänien und Bulgarien. Trotz der vielen Bars und Bordelle im Bezirk ist es ruhig geworden um die Prostitutions- und Zuhälterszene der Leopoldstadt. ... ‚Zu Zeiten, als hier pro Gasse mehrere Prostituierte gegangen sind, sind oft auch unbeteiligte junge Frauen von den Freiern angesprochen worden‘, berichtet Albert L. In diesem Gebiet gibt es mehrere Schulen und eine Fachhochschule, die Prostituierten und ihre Freier haben den Unmut der Bewohner hervorgerufen. ... Nachts bis etwa zwei, drei oder vier Uhr Früh, je nach Geschäftsgang, sind so 238
Mit der Polizei unterwegs
genannte Tagesprostituierte in diesem Gebiet anzutreffen. Ihre Zuhälter bringen sie am frühen Abend aus Ungarn, der Slowakei und Tschechien mit Pkws, laden sie ab und führen sie nachts wieder nach Hause.“ Vom ‚Freierslohn‘ bleibt den jungen Frauen kaum etwas, die Zuhälter knöpfen ihnen alles ab ...“ Eine interessante Geschichte dazu bietet Gerhard Brenner an: „Die Polizisten entdecken ein Auto. Ein Pärchen steigt aus. ‚Er ist mein Freund, wir sind nur spazieren gefahren‘, sagt die 25-Jährige. Sein Name fällt ihr aber nicht ein. ‚Ich kenne sie nicht, ich habe sie kurz davor am Max-Winter-Platz einsteigen lassen‘, beichtet indessen ihr ‚Freund‘. 30 Euro habe er bezahl. Über eine solche Tagesprostituierte, die im Hauptberuf Lehrerin ist, schreibt Brenner: „Eine Frau hat keinen Ausweis, sie muss mitfahren zur Polizeiinspektion Praterstern. Es handelt sich um eine Lehrerin (!!) aus Bratislava, die ihr Gehalt am Vorabend zum Welttag der Lehrer im Stuwerviertel aufbessern wollte. Daraus wird nichts.“ Bemerkenswert ist hier die Verbindung von Prostitution und Welttag der Lehrer. Im Frühjahr 2015 wurde ich eingeladen, mit Kriminalbeamten jene Tour nachzufahren, die ich 1980 mit den damaligen Kriminalbeamten gefahren bin. Mein Freund Gerhard Brenner war bei dieser Tour dabei, er schrieb in der Zeitschrift „Die Kriminalisten“ unter anderem dies: „Der Strich in Wien hat sich in den letzten 30 Jahren ordentlich verändert. Roland Girtler und drei Kriminalbeamte gingen gemeinsam auf Streife, um festzustellen, was heute anders ist als 1980. ‚Kurz, schnell und günstig – das sind die Anforderungen, die die Kunden heute an die Prostituierten stellen‘, sagt Albert Lager, Gruppenführer im Landeskriminalamt. ‚Den Konsumenten von heute interessiert es nicht, sich mit einer Prostituierten in eine Bar zu setzen, ihr zwei Piccolos zu zahlen und erst dann aufs Zimmer zu gehen. Das muss heute schneller gehen.‘“ Seit 2011 ist der Straßenstrich im Stuwerviertel im 2. Bezirk beim Prater verboten. 239
22. Station: In den Büschen
Ich möchte hier eine kleine Episode vom Strich im Prater um 2005, damals war Straßenprostitution noch erlaubt, einbringen. Zu dieser Zeit führte mein Freund Franz Josef Mayr für seine zweite Dissertation Gespräche mit Damen des leichten Gewerbes aus dem Prater. Er zahlte ihnen für jedes Gespräch ein Honorar von circa 100 Euro, schließlich nahmen sich die Damen zumindest 45 Minuten Zeit. Als er einmal hörte, wie dieselbe Prostituierte für ihre Tätigkeit von einem Freier 70 Euro verlangte, fragte er sie, warum er mehr zahlen müsse als ein gewöhnlicher Freier. Die Dame antwortete ihm, bei einem gewöhnlichen Freier brauche sie bei ihrer Arbeit nicht viel denken, während sie, wenn sie ihm etwas erzähle, nachdenken müsse. Dies würde sie mehr anstrengen als die übliche Behandlung eines Freiers. Franz Josef war schließlich mit dem höheren Honorar einverstanden. Heute ist es vorbei mit den Damen des ‚leichten Gewerbes‘ und den Strizzis im Prater, sie haben ihre Arbeitsstätte verloren. Statt dieser Damen gehen heute Studentinnen und Studenten durch die Kaiserallee zu ihrer am Rande des Praters erbauten Wirtschaftsuniversität.
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23. Station: Wieder in der Hauptallee – in der Meierei: Silvia Lang, die Vizepräsidentin des Praters, und die Familie Holzdorfer Ich radle weiter in die Hauptallee. Ich gelange allmählich an das Ende meines Streifzuges durch den Wiener Prater. Bei der Meierei, dem wohl interessantesten Kaffeehaus des Praters an der Hauptallee, mache ich halt. Ich stelle mein Fahrrad ab. Beim Eingang zur Meierei kommt mir Frau Silvia Lang, die charmante Vizepräsidentin des Praters, entgegen. Ihre Mutter ist Liselotte Lang, eine geborene Schaaf. Frau Silvia Lang betont, dass die Schaafs auf 150 Jahre Pratergeschichte zurückblicken können. Sie sind also seit 1866 im Prater. Wir setzen uns an einen gemütlichen Tisch. Frau Silvia erzählt, dass sie die älteste Unterhaltungsspielhalle des Praters besitzt, sie liegt gegenüber dem Calypso-Lachkabinett. Sie führt die Wiener Rutsche, die ihre Mutter Frau Liselotte Lang geführt hat, weiter. Aber auch das Magic Dreamland gehört zu ihrem feinen Imperium. Der Prater ist für Frau Silvia wie ein Dorf. Nach außenhin hält man fest zusammen, das ist wohl das Wichtigste. So war es während des letzten Krieges, aber auch danach. Die Meierei gehört zu den letzten historischen Gebäuden der Wiener Weltausstellung von 1873. Erbaut wurde die Meierei von John Bedford und Leopold Weiß als ein Pavillon, in dem „American Drinks“ als eine Sensation serviert wurden. 1924 übernahm die Wiener Molkerei den Pavillon, die fortan süße und saure Milch anzubieten hatte. Der Name Meierei dürfte wohl darauf zurückgehen. 1941 erwarb Fritz Holzdorfer senior, ein Besitzer etlicher Vergnügungsbetriebe im Prater, das Haus. Der Krieg hinterließ an diesem Weltausstellungspavillon seine Spuren. Nach dem Krieg, und zwar 1952, übernahmen Fritz Holzdorfer und seine Frau Gemahlin den Betrieb und begannen, Milch, Eis und Ku241
23. Station: Wieder in der Hauptallee
chen auszuschenken. Sie erweiterten die Speisekarte und gewannen eine Vielzahl von Stammgästen. Heute ist es ihre Enkelin Sabine Holzdorfer, die die Tradition ihrer Großeltern und Eltern hochhält. Die Dynastie Holzdorfer gehört seit über 100 Jahren zum Prater. Großer Beliebtheit erfreute sich der Stammvater der Dynastie und Urgroßvater von Sabine, Friedrich Johann Holzdorfer, ein Baumeister und berühmter Schausteller, den man den „Praterkönig“ nannte. 1926 eröffnete er das erste Autodrom Europas und 1933 schuf er die erste Geisterbahn der Welt. Er bemühte sich in den 1930er-Jahren, den Wurstelprater zu modernisieren, was ihm auch gelang. Frau Liselotte Lang, eine noble Dame, war inzwischen erschienen. Sie meinte, der alte Holzdorfer sei ein ungemein großzügiger Herr gewesen, der armen Leuten, während des Krieges, auch den Verfolgten, gerne half und deren Kinder gratis in seinen Betrieben, wie dem Ringelspiel, fahren ließ. Frau Silvia Lang lädt mich zur heißen Schokolade und dem Apfelstrudel, die ich hier genossen habe, ein. Ich bedanke mich bei den Damen und gehe zu meinem Fahrrad.
Das Fürst-Theater und die alten Kinos Hier, am Beginn der Hauptallee standen schon vor 1800 drei Kaffeehäuser: Das erste, das zweite und das dritte Kaffeehaus, wie man sie nannte. Alle drei Kaffeehäuser verfügten über Musikbühnen, auf denen bekannte Kapellen und Sänger auftraten. Ich bin im Besitz eines Ansuchens des dritten Kaffeehauses an die Polizeibehörde vom 10. April 1884. Dieses Ansuchen – ich verdanke es meinem Freund Adi Lechner – ist insofern interessant, als dieses auf einen regen Musikbetrieb hinweist. In diesem Ansuchen heißt es:
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Das Fürst-Theater und die alten Kinos
„Löbliches Polizei Commissariat im k. k. Prater. Die in Ergebenheit gefertigte erlaubt sich, für Sonntag, den 26. des Monats im Ronacher, III. Cafehaus. im k.k. Prater, einen Unterhaltungsabendx) mit Tanz-Kränzchen zur Anzeige zu bringen und ersucht um die Bewilligung und der Lizenz hinzu. Im Falle ungünstiger Witterung findet diese Unterhaltung nicht im Prater, sondern in der inneren Stadt, Schotten-Bastei 3, statt, welches am selben Tage bis Mittag zur Kenntnis der löbl. Pölizei-Direction gebracht wird. In Ergebung Die Leitung des ‚Engl. Franz Conversations Club‘ Heh Hermann als Cassier Carl Schiller als Obmann Wien 10. April 1884 I. Färbergasse 3 x) die Unterhaltung besteht in Musikvorträgen und in Gesangsvorträgen des Gesangs-Komikers Josef Steidler aus dem Orpheum, welche (unleserlich) ...“ Die Wienerinnen und Wiener pilgerten also in den Prater, nicht nur, um sich an Ringelspielen und ähnlichen Objekten zu erfreuen, sondern auch, um sich an Musik- und Theaterstücken zu erfreuen. Zu den Leuten, die die Praterbesucher mit Theaterstücken erfreuten, gehörte auch Johann Fürst (1825–1882), der in einem Findelhaus aufwuchs und es zu einem bekannten Volkssänger brachte. Er kaufte 1862 das Schreyersche Affentheater im Prater und machte aus diesem ein Singspieltheater, welches als „Fürst-Theater“ berühmt wurde. Ich halte eine Ankündigung dieses k. k. Prater-Theaters in der Hand, in der darauf hingewiesen wird, dass am 23. September 1880 das Stück „An der blauen Donau. – Lebensbild mit Gesang in einem Akt von A. Lerch. Musik von Kapellmeister Franz Roth“ stattfindet. In diesem Stück kommt übrigens ein Privatier mit dem schönen Namen Großkopf vor. Nach dem Tod von Johann Fürst kaufte dieses Theater ein gewisser Jantsch. 1905 erhielt es den Namen „Lustspielthea243
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ter“, das 1927 die Pforten schloss. Es wurde aber am 1. Dezember desselben Jahres als „Lustspielkino“ wieder eröffnet. Es überstand den Zweiten Weltkrieg – neben dem Riesenrad als einziges Gebäude des Praters – und erfreute ab 11.11.1949 wieder die Kinobesucher. Zu Ende war es mit diesem Kino durch einen Brand im Jahre 1981. Es war das letzte Praterkino, alle anderen waren bei den Luftangriffen auf Wien 1945 zerstört worden. Andreas Schaaf vom Lachkabinett erzählte mir, dass er, als er mit seinem Großvater Alexander Schaaf 1981 damals mit dem Auto unterwegs war, den Brand des Lustspielkinos bemerkte. Über ein Funkgerät, das sie bei sich hatten, informierten sie die Feuerwehr. Sein Großvater dürfte der Erste gewesen sein, der sich bei den Florianijüngern gemeldet hat. Jedenfalls war das Lustspielkino die letzte Erinnerung an die rege Kinoszene im Prater, die bis zu der Zeit um 1900 zurückreicht. Um 1900 gab es bereits einige Schaubuden, in denen „Lebende Bilder“ gezeigt wurden. „Ausrufer“ lockten in alter Manier die Praterbesucher herein, zu einer Zeit, als man nach Belieben eintreten konnte. Ab 1910 mit dem Aufkommen längerer Stummfilme wandelten sich diese Schaubuden in theaterähnliche Gebäude und später in richtige Paläste mit fixen Vorführzeiten. Als das Obersthofmeisteramt des Kaisers sah, das die ersten fünf Kinos gute Geschäfte machten, wurden die Pachtzinse dieser Kinos um das Zehnfache erhöht. Das Kaiserhaus profitierte ganz gut von den damaligen Kinos. Um die Kinobesitzer nicht allzu zu verärgern, durften im Prater keine weiteren Kinos mehr eröffnet werden. Außerdem war ihnen im Interesse des Kaisers untersagt, ihre Kinos „Palast“ zu nennen. Offenbar durfte einen Palast nur der Kaiser besitzen. Nach dem Ende der Monarchie gab es jedoch „Filmpaläste“ im Prater. Zu den bemerkenswertesten Kinos damals gehörten neben dem Busch-Kino (1920–1945) noch das Kino Schaaf, gegründet 1897, das Kino Kern, ab 1904, und das genannte Lustspielkino. 244
Die Republik Kugelmugel
Das größte Kino war das Busch-Kino, das aus dem früheren Zirkus Busch an der Ausstellungsstraße hervorging. 1920 wurde der Zirkus Busch zum Busch-Kino umgebaut, es wurde 1945 durch Bomben zerstört. Zerstört im letzten Krieg wurde auch das von Gustav Münstedt gegründete legendäre Münstedt-Kino. Nach dem Krieg wurde es auf einem anderen Platz als einfaches kleines Kino weitergeführt. Am 5. November 1984 schloss es als letztes Praterkino seine Pforten.
Die Republik Kugelmugel Nur ein kurzes Stück radle ich in der Hauptallee, dann befinde ich mich vor der Republik Kugelmugel, die aus einer großen Kugel besteht, die von einem Zaun umgeben ist, und einem Grenzhäuschen. Über dem Eingang, der verschlossen ist, steht: „Grenze.“ Die Staatsfarben dieser eigenartigen Republik sind: Weiß-Rot-Weiß. In der Mitte dieser Farben glänzt das Abbild eines Kopfes, wahrscheinlich der Kopf des Gründers dieser Republik Edwin Lipburger. Ich besitze eine Ansichtskarte aus dem Jahre 1983 – ich erhielt sie von meinem Freund Adi Lechner –, auf der zwei Stempel zu sehen sind. Der eine, er ist viereckig, zeigt ein Fahrrad, über dem „Fahrrad-Post“ und unter dem „Kugelmugel“ zu lesen ist. Der zweite Stempel ist rund, wie die üblichen Poststempel. Ihn ziert die Aufschrift WIEN-KUGELMUGEL, die Fantasie-Postleitzahl 1028 und das Datum 23.11.83. Auf der Rückseite der Karte steht geschrieben: „Edwin Lipburger / Kugelmugel: Alles ist rund, die Erde, das Leben, die Kugel, alles dreht sich. Warum baut man nicht runde Häuser, warum wohnen wir nicht in Kugeln? Das Runde ist frei, es hat weder Anfang noch Ende.“ Dieser Gedanke ist wohl der Gründungsgedanke dieser Kugel-Republik. Bereits 1971 hatte Edwin Lipburger in Katzelsdorf in Niederösterreich dieses Haus in Form einer Kugel aus Holz errichtet, wobei ihm ein Fußball als Modell diente. Von Katzelsdorf übersiedelte 245
23. Station: Wieder in der Hauptallee
Abb. 17: Seit 1982 gibt es im Prater die „Republik Kugelmugel“, die aus einem Kugelhaus besteht.
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Die Feste im Prater
er schließlich 1982 in den Wiener Prater. Trotz Ärgers mit den Behörden gelang es Edwin Lipburger, sein Kugelhaus, welches den exakten Durchmesser von 7,68 m besitzt, also die Republik Kugelmugel, im Prater zu etablieren. Ob diese sonderbare Republik von einem Staat anerkennt wurde, weiß ich nicht. Mag. Edwin Lipburger, der sich Generalvolksanwalt und Präsident der Republik Kugelmugel nennt, gab sogar Pässe heraus, über 600 dürften es sein. Ob je einer dieser Passinhaber in dieser kugelförmigen Republik gewohnt hat, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Geboren wurde Edwin Lipburger 1923 in Lauterach in Vorarlberg. Als Beruf gibt er Fotograf, Grafiker und Maler an. Es gibt auch einen Herrn Klaus Lipburger-Kugelmugel, geboren ebenso in Lauterach, und zwar 1953, er ist seit 1986 Hofmaler der Republik Kugelmugel. Ich nehme an, er ist der Sohn des Ersteren, des fantasievollen Republikgründers.
Die Feste im Prater Auf meinem Rad sitzend sinniere ich über die Feste des Praters. Die heutigen Feste im Prater, wie Halloween, 1. Mai, Praterrummel u. Ä., bauen auf einer alten Tradition auf, die in das 18. Jahrhundert zurückgeht. Damals wirkte in Wien der Pyrotechniker und Ballonfahrer Johann Georg Stuwer, der eigentlich Johannes Stubenrauch hieß. Er wurde 1732 in Schwaben geboren und starb 1802 in Wien. Stuwer, 1773 war er nach Wien gezogen, veranstaltete ab 1774 in und um den Prater großartige Feuerwerke, die großen Zulauf hatten. Sein Vorbild und Konkurrent war der Italiener Peter Paul Girandolini, der seit 1771 Feuerwerke im Wiener Prater durchführte. Da er unter Maria Theresia das Privileg erhalten hatte, Feuerwerke durchzuführen, nannte er sich „k. k. privilegirter Kunst- und Luftfeuerwerker“. Seine Feuerwerke wurden berühmt. Stuwer muss ein kühner Mann gewesen sein: 1784 gelang ihm der Flug 247
23. Station: Wieder in der Hauptallee
mit dem von ihm entwickelten Heißluft-Fesselballon. Begleitet wurde er von seinem Sohn Kaspar, zwei Gehilfen und einem Architekten. Er erreichte an einem Seil die Höhe von ca. 50 Metern. Bei seinem dritten Aufstieg riss das Seil, der Ballon schwebte über die Donau und ging dann ohne Probleme zu Boden. Stuwer führte damit – unbeabsichtigt – die erste Freifahrt eines österreichischen Ballons durch. Dies bedeutete den Beginn der bemannten Luftfahrt in Österreich. Stuwer führte Spektakel auf, aber auch echte Volksfeste. Man bewunderte ihn. 1896 wurde in der Leopoldstadt eine Gasse nach ihm benannt.
Das Wurstel- oder Kasperltheater Zu dieser Theaterkultur gehört auch das Kasperl-Theater, an dem auch ich große Freude hatte. Für eine Zeit war es aus dem Prater verschwunden, aber heute gibt es ein solches wieder. Am Wurstelplatz, gleich beim Schweizerhaus und beim bunten Brunnen mit den heiteren Figuren, befindet sich seit 2006 das Wursteltheater. Zu einer Retterin des Kasperls wurde Lydia Kolarik vom Schweizerhaus. Auf meine Bitte hin schrieb sie mir einige Zeilen über das frühere Kasperltheater und sein Umfeld, wie es am Beginn der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aussah: „In der Straße des 1. Mai, die vom Riesenrad bis zum Schweizerhaus führt, gab es ein Lichtspieltheater. Der Bauchrednermaxi ist vor dem Gebäude aufgetreten. Es standen hundert Menschen davor und hatten Spaß. Auch ich war als Kind fasziniert von dieser Kleinkunst. Im Gebäude wurden Filme mit Charlie Chaplin, Dick und Doof usw. aufgeführt. Als das Fernsehen Einzug hielt, konnte man auf einer Bühne als Fernsehsprecher agieren. Später wurde es zu einem Sexkino. Daneben spielte der Praterkasperl in seiner Bretterbude und mit Holzbänken davor im Freien. In den 80ern wurden das Kino und Kasperltheater abgerissen. Es entstand eine Schießbude. Es gab keine 248
Das Wurstel- oder Kasperltheater
Spielstätte mehr für den Kasperl – keiner wollte ihn haben. Was wäre der Wurstelprater ohne seinen Namensgeber, dachte ich mir. Ich gab ihm eine Spielmöglichkeit auf meiner Praterwiesenparzelle in Schweizerhausnähe. Zuerst wurde noch in einer Holzhütte gespielt, dann in einem Container. Bis er nach 20 Jahren ein gemauertes Kasperlhaus auf dem Wurstlplatz erhielt. Hätte ich ihn nicht aufgenommen, wäre der Kasperl vom Wurstelprater verschwunden. Großen Dank gilt auch der Kasperltheaterdirektorin Frau Elis Veit!“ Auch das Kasperltheater kann auf eine lange Geschichte zurück blicken. Es gehört mit einer Bierausschank zu den ersten Attraktionen im Wiener Prater. Vom Kasperl, den die Wienerinnen und Wiener „Wurstel“ nannten, stammt die Bezeichnung Wurstelprater. Ein eifriger Besucher des Kasperltheaters soll während des Wiener Kongresses (1814–1815) König Friedrich Wilhelm III. von Preußen gewesen sein. Der Kasperl bzw. der Wurstel begeisterte also nicht nur Kinder, sondern auch hohe Herrschaften. Für die meisten Kinder war das Kasperltheater der erste Kontakt zum Theater. Auch mich hat der Kasperl Anfang der 50er-Jahredes vorigen Jahrhunderts fasziniert, überhaupt wenn er mit seiner Pritsche, einer Art Keule, seine Gegner, zu denen auch ein bös artiges Krokodil gehörte, behandelte. Auch der Kasperl bzw. der Wurstel gehört zur Festkultur des Praters. Zu gewissen in den Medien angegeben Zeiten, wie zu Weihnachten, zu Ostern oder zum Nikolo, tritt der Praterkaspar, der Wurstel, mit all seinen Tricks und seiner Schlagfertigkeit auf. Er bietet Theaterfeste an, nicht bloß für die Kinder zu allen heiligen oder auch weniger heiligen Zeiten.20
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23. Station: Wieder in der Hauptallee
Praterlieder – das Ende des Streifzuges Ich verlasse mit dem Fahrrad die Hauptallee und nähere mich dem Praterstern. Mir fällt ein, dass zum Prater nicht nur Fahrgeschäfte und Feste gehören, sondern auch Lieder. Eines der bekanntesten ist wohl „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“ nach der Melodie von Robert Stolz, in diesem heißt es u. a.: Im Prater blüh’n wieder die Bäume In Sievering grünt schon der Wein Da kommen die seligen Träume Es muss wieder Frühlingszeit sein Im Prater blüh’n wieder die Bäume Es leuchtet ihr duftendes Grün Drum küss, nur küss nicht säume Denn Frühling ist wieder in Wien.
Mir scheint, dass dieses Lied eher für die feinen Leute geschrieben wurde, die Zeit haben, sich an der Natur im Prater zu erfreuen, vielleicht von der Kutsche aus. Anders ist es mit diesem Lied, „Schön ist so ein Ringelspiel“, das nach einer Melodie von Hermann Leopoldi gesungen wird, der Text ist von Peter Herz. Es ist ein Lied der eher „kleinen Leute“, die nicht mit der Kutsche, sondern mit dem Fahrrad unterwegs sind. Es heißt in diesem unter anderem: Treten’s ein, nur herein – Größter Jux für groß und klein! Jeder Schimmel neu lackiert – Werkel frisch geschmiert! 250
Praterlieder – das Ende des Streifzuges
Abb. 18: Ringelspiele mit hölzernen Pferden, kleinen Autos u.ä. erfreuen seit jeher die kleinen Besucher des Praters.
Eine Fuhr, eine Tour Kostet zwanzig Groschen nur! Eine Reise voller Spaß Ohne Reisepaß! Jeder hutscht sich wie er kann – Vorwärts, gemmas an! Schön ist so ein Ringelspiel – Das is a Hetz und kost net viel! Damit auch der kleine Mann Sich eine Freude leisten kann! Immer wieder foahrt ma weg Und draht si doch am selben Fleck! 251
23. Station: Wieder in der Hauptallee
Man kann sagen, wos ma will – Schön ist so ein Ringelspiel! Der Herr Franz ganz diskret Mit sein Flirt in Prater geht! Er ist zwar ein Ehemann – Doch was liegt ihm dran? Mit Gaudee und Bahöll Fahren die beiden Karusell – Plötzlich ruft sie: ‚Franzl schau – Is das net dei Frau?‘ ‚Ja‘, schreit er, ‚Fixlaudonstern! Mit mein Zimmerherrn!‘ Schön ist so ein Ringelspiel – ...“
Es war schön für mich, durch den Wurstelprater zu radeln und mit netten Menschen gesprochen, manchmal mit ihnen auch gemäßigt gezecht zu haben. Ich habe gesehen, dass die Schaustellerinnen und Schausteller nicht nur unglaubliche Schätze besitzen, sondern auch viel dazu tun, den Alltag der Wienerinnen und Wiener, aber auch den der Gäste Wiens zu verzaubern. Ich wünsche ihnen das Beste und ziehe in Richtung Innenstadt weiter.
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Literatur (Auswahl) Cecile Cordon, Das Riesenrad hat alle entzückt, Wien 1997. Ronald Durstmüller, Eine Runde zum Vergnügen – Geschichte, Technik und Betrieb der Wiener Liliputbahn, Wien 2013. Roland Girtler, Methoden der Feldforschung, UTB, Wien 2001. Derselbe, Rotwelsch – die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden, Wien 1998. Derselbe, Herrschaften wünschen zahlen – Die bunte Welt der Kellnerinnen und Kellner, Wien 2008. Kerstin Kellermann, Das Ruder nicht aus der Hand geben – Tochter des Wiener Wurstelpraters und einer Geisterbahn-Mutter, in: Augustin, Wien 31.8.2014. Emil Kläger, Durch die Quartiere des Elends und Verbrechens, Wien 1908. Hans Pemmer / Ninni Lackner: Der Prater, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien/München 1974. Johannes Sachslehner, Wien Anno 1683, Wien 2004. Felix Salten, Der Wurstelprater. Wien 1911 E. Schimmer, Alt und Neu Wien, Geschichte der österreichischen Kaiserstadt, 2. Band, Wien 1904. Josef Schrank „Prostitution in Wien in historischer, administrativer und hygienischer Beziehung“, Wien 1886 Adalbert Stifter, Der Prater, in: Aus dem alten Wien, Wien 1943, S. 62 ff. Ursula Storch, Das Pratermuseum, 62 Stichwörter zur Geschichte des Praters, Wien 1993. Carl Julius Weber, Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen, Stuttgart 1849. Max Winter, Im Unterirdischen Wien, Wien 1905. http://www.praterkasperl.com; http://www.wien-event.at/prater; http://www. prater.at, letzter Zugriff: 25.11.2015. https://de.wikipedia.org/wiki/Basilio_Calafati http://www.augustin.or.at/zeitung/vorstadt/das-ruder-nicht-aus-der-hand-geben.html https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Todesritt_auf_dem_Riesenrad https://de.wikipedia.org/wiki/Venediger_Au http://freizeit.at/1714/die-reportage-nur-net-bremsen/61.871.898 253
Bildnachweis ÖNB Bildarchiv: Abb. 1, 2, 8, 18 Hannes J. Hochmuth: Abb. 4, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 17 Archiv des Autors: Abb. 3, 5, 6, 7, 14, 16
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Anmerkungen 1 Freie Wiedergabe aus der Verordnung Josephs II. von 1766, mit der der Prater für alle geöffnet wird (siehe dazu Station 3). 2 Siehe Näheres im Kapitel „22. Station“. 3 Vgl. Johannes Sachslehner: Wien Anno 1683, S. 143. 4 K. E. Schimmer: Alt und Neu Wien, 2. Band, S. 266. 5 A.a.O., S. 267. 6 A.a.O., S. 268. 7 C. J. Weber, S. 306ff. 8 Vgl. Schimmer, S. 548. 9 Schimmer, S. 267f. 10 Vgl. Cordon, S. 155. 11 http://www.fun4you.co.at/, letzter Zugriff: 24.11.2015. 12 http://www.freizeitparkfun.de/wiener%20prater.htm, letzter Zugriff: 24.11.2015. 13 Siehe http://www.praterdynastien.at, letzter Zugriff: 24.11.2015. 14 Siehe dazu auch Kapitel „1. Station“. 15 Siehe Kapitel „1. Station“. 16 Vgl. Andreas Bovelino in: http://freizeit.at/1714/die-reportage-nur-net-bremsen/61.871.898, letzter Zugriff: 24.11.2015. 17 Hier sei ketzerisch und augenzwinkernd festgehalten, dass Wörter wie „Fokus“ verwendet werden, um den eigenen Äußerungen eine besondere Gewichtung zu geben. Als Lateiner sei mir gestattet, darauf hinzuweisen, dass „fokus“ im Lateinischen nichts anderes heißt als „Bratpfanne“. 18 Emil Käger: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens, S. 133 ff. 19 Siehe dazu mein Buch Rotwelsch – die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden, Wien 1998. 20 Siehe dazu http://www.praterkasperl.com; http://www.wien-event.at/prater; http://www.prater.at, letzter Zugriff: 25.11.2015. 255
Rol and GiRtleR
eiGenwilliGe K aRRieRen weR seine eiGenen weGe Geht, K ann nicht übeRholt weRden
Menschen, die keinen gesellschaftlichen Zwängen folgen und ihre Originalität bewahren, sind die Helden dieses Buches. Es sind Zeitgenossen, die selten in Gesellschaftsrubriken auftauchen und ihre eigenen Wege gehen, auf denen sie keiner überholen kann: Ein Unternehmer im Wiener Prater, der die Grottenbahn rettete; ein Kriminalbeamter, der als Kolumnist einer angesehenen Kriminalzeitschrift Aufsehen erregte; eine Wirtin in Osttirol, die offen für Rebellion und Wissenschaft eintritt, und ein Wirt im Prater, der bestes Bier anbietet. Menschen mit „Eigenwilligen Karrieren“. 2011. 459 S. 17 S/w-Abb. Gb. 135 x 210 mm. ISbN 978-3-205-78644-3
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