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German Pages 347 [356] Year 2003
Funktionale Syntax
W G DE
Funktionale Syntax Die pragmatische Perspektive
Herausgegeben von Ludger Hoffmann
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2003
@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-017631-9 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Inhalt Ludger Hoffmann Einleitung Ludger Hoffmann Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
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Ursula Bredel & Horst Lohnstein Die Verankerung von Sprecher und Hörer im verbalen Paradigma des Deutschen
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Angelika Redder Partizipiale Ketten und autonome Partizipialkonstruktionen
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Winfried Thielmann Zur Funktionalität des Seinsverbs im Deutschen
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Rainer von Kiigelgen Parenthesen handlungstheoretisch betrachtet
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χ
Petr Bednarsky Deutsche und tschechische Präpositionen im Vergleich. Das Beispiel an und na
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Kristin Bührig Zur Strukturierung von Diskurs und Hörerwissen: auf jeden Fall im alltäglichen Erzählen und in der Hochschulkommunikation
249
Frederike Eggs „Weiß sowieso jeder" - Eine fiinktional-grammatische Analyse der Ausdrücke sowieso, eh, ohnedies und ohnehin
270
Konrad Ehlich Determination. Eine funktional-pragmatische Analyse am Beispiel hebräischer Strukturen
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Oicsana Kovtun Zur unbestimmten Determination im Deutschen im Vergleich zum Russischen und Ukrainischen
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Ludger Hoffmann Einleitung
1. Syntax zwischen Form und Funktion Die Syntax gehört zu den besonders intensiv bearbeiteten Bereichen der modernen Linguistik. Realisation, Kombinatorik und Abfolge sprachlicher Mittel bilden den Kern grammatischer Betrachtung. Der syntaktischen steht die Analyse des Lexikons, der Struktur des Wortschatzes gegenüber. Sie behandelt im Rahmen der Morphologie Wortbildung und Formen eines Wortes, in der lexikalischen Semantik Wortbedeutungen und Bedeutungsbeziehungen. Der kombinatorische Aufbau von Äußerungsbedeutungen aus den Bedeutungen der Äußerungselemente ist Gegenstand der Satzsemantik. Eine alle diese Perspektiven vereinheitlichende Grammatiktheorie ist noch nicht in Sicht. In der Tradition war Syntax die Lehre vom Aufbau der Sätze durch Wortfoimen. Der Aufbau wurde nicht unabhängig von Bedeutungen erfasst, denn Sätze galten als Ausdruck gegliederter Gedanken. In dem weiten semiotischen Verständnis bezeichnet Syntax die Beziehungen zwischen „Zeichenträgern" (so Charles Morris), unabhängig von der Semantik. Vorausgesetzt ist hier ein statisches System mit festen Zeichenbedeutungen. In der gegenwärtigen Forschung ist Syntax für die einen ein zentrales Organisationsmuster sprachlichen Handelns oder des Aufbaus von Bedeutungen, andere sehen sie funktions- und bedeutungsunabhängig als mentalen Algorithmus, fundiert in einem Modul des menschlichen Geistes, das für die universelle Basis aller Sprachen verantwortlich ist. In formalen Theorien (logische Semantik, Computerlinguistik), die natürliche Sprachen als Symbolsystem auffassen, wird zwischen künstlichen Sprachen (Logik, Programmiersprachen) und natürlichen Sprachen prinzipiell kein Unterschied gemacht.1 In der Syntax ist dann festgelegt, was ein korrekter/wohlgeformter Ausdruck der Sprache L ist. Die zugrunde liegende Entscheidung basiert in der Regel auf der Sprecherintuition. Einflussreich über die generativen Richtungen hinaus waren und sind die Auffassungen von Noam Chomsky. In den 50er Jahren hat er - auf strukturalistischer Basis - eine algorithmische Sicht begründet: Syntax is the study of principles and processes by which sentences are constructed in particular languages. Syntactic investigation of a given language has as its goal the construction of a grammar that can be viewed as a device of some sort for producing the sentences of the language under analysis. (...) The ultimate outcome of these investigations should be a theory of linguistic structure in 1
Brückenschläge zu formalen Theorien haben Chomsky in den fünfziger und Montague in den sechziger Jahren geleistet.
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Ludger Hoffmann which the descriptive devices utilized in particular grammars are presented and studied abstractly, with no specific reference to particular languages. (Chomsky 1957:13)
Gegenstand der Syntax ist, wie Sätze, die für Chomsky Sprache ausmachen, konstruiert werden. Eine sprachübergreifende Perspektive klingt hier bereits an. Ein mentalistisch-biologisches Fundament erhält Chomskys Theorie in den sechziger Jahren. Wie der Strukturalismus betrachtet Chomsky eine Aufnahme von Bedeutungskonzepten wie 'Denotation* oder 'Wahrheit* in eine grammatische Theorie skeptisch (z.B. in Chomsky 2000:132). In einer Theorie, die nicht auf die vorfindliche externe, sondern auf die interne, mentale Sprache zielt, seien sie problematisch, denn Sprache sei nicht dazu da, die Welt zu repräsentieren oder Intentionen zu realisieren. Was an Bedeutungen berechenbar ist bzw. die Kombinatorik bestimmt, ist Teil der Syntax. Wörter sind Merkmalsbündel, die phonetisch auszugeben sind. Sprache ist für Chomsky eine mentale Algebra, ein Algorithmus des Geistes, festgelegt durch einen angeborenen Initialzustand, der alle Sprachen zu Variationen eines Themas macht. Das Gehirn enthält linguistische Einheiten nicht als Symbole, Repräsentationen oder gar intentionale Größen, sondern als - online und nicht im Gedächtnis -kombinatorisch aufgebaute Strukturen. Dies entzieht einem großen Teil gegenwärtiger Psycho-linguistik den Boden. Die grundsätzliche Frage ist, ob menschlicher Sprache eine angeborene Struktur zugrundeliegt, die ein formales System mit einer Erzeugungskomponente und Umgebungsschnittstellen beinhaltet und unabhängig ist von Zwecken und Funktionen oder Eingebundenheit in eine Lebenspraxis. Oder ob mit einer algorithmischen Sicht der Gegenstand der Sprachwissenschaft unzulässig - d.h. bis hin zur Ignoranz gegenüber faktischem Erklärungsbedarf - reduziert und damit das Maß notwendiger wissenschaftlicher Idealisierung überschritten wird. Die radikale Kritik besagt, dass die Ausblendung zentraler Sprach-eigenschaften wie Bedeutung und Funktion und die nur beschränkt empirische Fundierung die Theorie inadäquat mache. Chomsky allerdings hat öfter verdeutlicht, dass es ihm nur um Grammatik im Sinne von Syntax geht, nicht um das, was sonst für die meisten Sprache ausmacht. Radikal formuliert er seine antifunktionalistische Position so: In general, it is not the case that language is readily usable or »designed for use« (Chomsky & Lasnik 1993:509)
Strittig erscheint auch der Zugang zum Gegenstand. Der Strukturalismus, wie er sich zwischen den dreißiger und fünfziger Jahren im 2o. Jahrhundert herausgebildet hat, setzte dem als unwissenschaftlich bezeichneten Rückgang auf die eigene Intuition und Sprachkenntnis den Primat der empirisch und gemäß präziser Methodologie auf der Basis eines hinreichenden Daten-Korpus zu erschließenden sprachlichen Oberfläche entgegen. Eine wissenschaftliche Linguistik sollte in dieser Weise empirisch fundiert sein und intersubjektiv nachvollziehbare Analyseverfahren einsetzen. Das Sprachsystem wurde - im Rückgriff auf den „Cours" von de Saussure - als System von Beziehungen charakterisiert, in dem
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jedes sprachliche Element auf Basis der Differenz zu andren Elementen seine Identität als Wert zugewiesen bekommt. Dies unabhängig von mentalen Prozessen, von sprachlichem Wissen, von verdächtiger Introspektion, von Bedeutung. ...the ideal of most structuralists has been to concentrate on the analysis of utterances with as few references as possible to what they stood for and, consequently, to identify and classify linguistic units on the basis of their distribution in the recorded speech segments (...) As we know, nothing should be called .linguistic' unless it is manifested somehow in that stretch of the communicative process that lies between the lips of the speaker and the ears of the listener. (Martinet 1960: 2)
Der empiristische Sprachphilosoph Quine, der die schärfsten Argumente gegen Propositionen, Intensionen und die Möglichkeit radikaler Übersetzung vorgebracht hat, formulierte es drastisch: Man darf den vertrauten Charakter der mentalistischen Redeweise nicht mit Klarheit verwechseln und sich in eine Traumwelt der Introspektion locken lassen. (Quine 1976:57)
Allerdings führte das operationale Vorgehen bei konsequenter Anwendung durchaus zu Aponen, wenn nicht eine gewisse linguistische Intelligenz zu sinnvollen Klassifizierungsentscheidungen führte. Dies lässt sich an der Konstituentenanalyse wie am klassischen Morphembegriff zeigen, den manche für unhaltbar erachten (vgl. Vennemann/Jacobs 1982:50ff.). In der generativen Variante des Poststrukturalismus wurde der Bezug auf Korpora und gesprochene Sprache getilgt und die Introspektion wieder ins Recht gesetzt, das implizite Sprachwissen („knowledge of language") wurde gar zum Gegenstand, verschärft gegenüber traditioneller Sprachwissenschaft, die noch an klassischen Texten und Denkmälern ihr Korrektiv hatte. Konsequent wurde die sprachliche Oberfläche als Objekt abgelöst durch abstrakte Regeln, Prinzipien und Strukturen, soweit sie im Sprachwissen verankert sind, die interne Sprache („I-language" (Chomsky)) ausmachen. Der genaue Zusammenhang von Wissen und Struktur blieb allerdings offen. Die Abkehr vom sprachlich Manifesten bedurfte einer Legitimation, die als Angriff auf die mit dem Strukturalismus assoziierte behavoristische Sicht des Sprachverhaltens geführt wurde (in Form von Chomskys Rezension von Skinner, deren Verhältnis zum Original sehr aufschlussreich ist). Zugleich konnte ein quasi-empirischer Bezug hergestellt werden, insofern die neue Theorie mentale Realität für ihre (im Lauf der Zeit wechselnden) Strukturmodellierungen beanspruchte und eine Erklärung für den als erstaunlich schnell und unproblematisch hingestellten Spracherwerb anbot. Nämlich auf rationalistisch/platonistische Weise: Kinder wissen schon - implizit - viel von dem, was sie erwerben, sie haben einen universalgrammatischen Ausgangszustand in den Genen. Da u.a. der riesige Wortschatz und eine oft irreguläre Morphologie gelernt werden müssen, blieb die Universalgrammatik auf ein syntaktisches Modul beschränkt,
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ja Syntax mit ihren Nachbarmodulen und Interfaces wurde überhaupt zum einzig legitimen Gegenstand einer Linguistik, die für einen „unklaren" weiten Sprachbegriff keinen theoretischen Raum hatte. Das Sprachwissen kommt vor allem über Grammatikalitätsurteile ins Spiel, die Introspektion wird auch herangezogen, um eine spezifische mentale Modellierung zu stützen, die so oder vielleicht auch anders ausfallen könnte: Ich nehme an, eine Sprache zu kennen, heißt in einem gewissen mentalen Zustand zu sein, der als eine relativ beständige Komponente von transitorischen Zuständen fortdauert. Von welcher Art ist dieser mentale Zustand? Ich nehme weiter an, in einem solchen mentalen Zustand zu sein, heißt über eine bestimmte mentale Struktur zu verfügen, die aus einem System von Regeln und Prinzipien besteht, die verschiedenartige mentale Repräsentationen erzeugen und aufeinander beziehen. (Chomsky 1981:54)
Dies könnte so verstanden werden, als würde man sich der eigenen Sprache als „System von Regeln und Prinzipien" gewahr und darin bestünde Sprachkenntnis. Sind also Regeln und Prinzipien qua Introspektion zugänglich? Ich möchte nicht über Terminologien streiten, sondern den Ausdruck »kennt Englisch« allein auf eine Person mit einer entsprechenden mentalen Struktur anwenden, ganz unabhängig von deren Fähigkeit, die intern repräsentierte Kenntnis zu gebrauchen (und sei es nur beim Denken), und unabhängig davon, Zugang zur Kenntnis zu gewinnen. (Chomsky 1981:59)
Der mentale Zustand ist also keine Fähigkeit, keine Kompetenz (daher die Aufgabe der Kompetenz/Performanz-Dichotomie der sechziger Jahre), er kann dem Bewusstsein ganz verborgen sein; die Frage noch expliziter/impliziter Kenntnis solle sich nicht mehr stellen (1981:76). Doch in welchem Sinne können wir sagen, dass das von Chomsky postulierte Rechensystem (Prinzipien, Verkettung) genau das ist, was im sprachverarbeitenden Menschen am Werk ist? Wie kann ein mentaler Zugang über ein mögliches mentales Modell - z.B. ein Modell zerebraler Code-Verknüpfungen als Darwinsche Maschine (Calvin) entscheiden? Wie abstrakt ist die Theorie und was könnte sie empirisch widerlegen? We are studying a real object, the language faculty of the brain, which has assumed the form of a full I-language and is integrated into performance systems that play a role in articulation, interpretation, expression of beliefs and desires, referring, telling stories, and so on. (...) The performance systems appear to fall into two general types: articulatory-perceptual, and conceptual-intentional. (Chomsky 2000: 27f.) It is possible that natural language has only syntax and pragmatics... (Chomsky 2000:132)
An diesem Punkt setzt im Grunde der Revisionismus von Jackendoff (2002) ein, der im Rahmen einer Syntax-Semantik-Parallelarchitektur die mentale Fundierung beibehält, aber auch auf die Semantik als kombinatorisches System eignen Rechts im Rahmen einer konzeptuellen Struktur überträgt; lexikalische
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Einheiten funktionieren gewissermaßen als verbindendes Element, Interface, zwischen syntaktischer, phonologischer und semantischer Kombinatorik. Bedeutung wird komplex ausgefasst und enthält neben einer konzeptuellen auch eine räumliche Komponente („spatial structure"), die über das räumliche, das haptische und das visuelle System an die Welt der physikalischen Objekte anschließt. Dieser Ansatz erfordert einige Diskussion und Klärung, er liegt weit jenseits Chomskyanischer Orthodoxie: But the conviction has grown on me that the dominant view of Universal Grammar as a a highly complex specification of all possible grammars whether in terms of parameters or ranked constraints is untenable. It does not allow enough room for the range of idiosyncrasy in language, as evidenced for instance by the variety of constructions in English. The present framework tentatively offers the possibility of seeing Universal Grammar as a much more limited (though hardly trivial) set of „attractor" structures that, through inheritance hierarchies, guide the course of the child's generalizations over the evidence. (Jackendoff 2002:426) Im 19. Jahrhundert finden sich neben Ansätzen, die den Strukturalismus antizipieren (z.B. v.d. Gabelentz) auch dezidiert funktionale. Philipp Wegener beispielsweise analysierte in den „Grundfragen des Sprachlebens" (1885) Sprechen als zweckhaft und hörerbezogen, als bestimmt durch die Anforderungen kommunikativer Hörersteuerung und Gewährleistung von Verstehen auf der Hörerseite. Über die Gedankenmitteilung hinaus werden Zwecke wie die Beeinflussung der Hörenden - durch Erregung ihrer Sympathie - verfolgt und schlagen sich in den sprachlichen Mitteln nieder. Schon früh bildeten sich auch im Strukturalismus funktionale Varianten heraus, als Beispiel kann die Theorie von André Martinet gelten, der den traditionellen Begriff der (syntaktischen) Funktion aufgreift und auf die Erfahrung bezieht; sein Funktionskonzept stützt sich auf das Verhältnis einer Form zu ihrer Umgebung bei der Erfüllung ihrer Aufgabe. Ich gebe ein längeres Zitat, um die Vorgehensweise dieses funktionalen Strukturalismus klar zu machen: What, in language, corresponds to the relationships between the various elements of experience is what has traditionally been called .function' when we say, for instance, that this or that word functions as a subject or an object (...) The study of function, as previously defined, is, in my opinion, the central problem of syntax, and the first task of the general syntactician consists in uncovering and listing all possible ways of expressing the function of a linguistic segment. There seem to be three different types, all attested in the sentence Yesterday the President spoke in the auditoriumTYie first type is to be found in yesterday, for simplicity's sake we shall assume that yesterday is a single moneme like its French, Spanish and German equivalents; this moneme corresponds to a given element of the experience which is being communicated, the one that might be defined as .the day before this day', but it also implies that that segment of time is the one in which the related event is to be placed. (...) in yesterdaywe have a
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single moneme whose linguistically unanalysable meaning implies a given function; since yesterday can be placed in other positions than the initial one, after spoke for instance, it cannot be assumed that its function is implied by its position in the utterance. Units of this type I suggest to designate as AUTONOMOUS MONEMES. The second type of function marking is to be found in the following stretch, namely the President spoke Here the function of the President is the well-known subject function; the same phrase could be used with other functions, as in I saw the Presidentor I spoke with the President, and consequently we cannot assume that President with or without the carries both its meaning and the indication of its function, which was what we found in the case of yesterday, the is no indicator of function, since replacing it by α as in α President spoke will not change the function of President The only circumstance that enables us to identify it as a subject is its position before spoke, the President is thus to be labeled negatively as a NON-AUTONOMOUS PHRASE. The third type of function marking is the most obvious one, the one we find in in the auditoriumwhere in can be defined as a FUNCTIONAL MONEME; in the auditoriumis an autonomous phrase with the same type of distributional latitudes as yesterday Functional monemes may be .words' such as in, i.e. forms which may be found separated from those whose function they mark by other forms such as them inthe auditorium or they may be involved in inflexions, as is the case with the functional moneme .dative' in Latin. All this leaves us with spoke, which is the nucleus of a PREDICATIVE PHRASE which includes further the non-autonomous subject the President The predicative phrase should be defined as what cannot eliminated without destroying the utterance as such. (Martinet 1960:3-5) Kommunikativ-funktionale Aspekte berücksichtigte vor allem der Prager Strukturalismus mit seiner Thema-Rhema-Unterscheidung und der funktionalen Phonologie von Trubetzkoy, ihr assoziiert war Bühler, der u.a. in seiner Sprachtheorie von 1934 den Handlungs- und Werkzeugcharakter von Sprache herausgearbeitet hat. Sein Organonmodell enthält als zentrale Dimensionen die Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellfunktion sprachlicher Zeichen. Die Zeichenauffassung ist in ihrer Statik zwar nicht geeignet, den Handlungscharakter sprachlicher Ausdrücke zu repräsentieren. Weiterführend indes ist Bühlers Sicht der Sprache als „Werkzeug", als „geformtes Gerät": Die Sprache ist dem Werkzeug verwandt; auch sie gehört zu den Geräten des Lebens, ist ein Organon wie das dingliche Gerät, das leibesfremde materielle Zwischending; die Sprache ist wie das Werkzeug ein geformter Mittler Nun sind es nicht die materiellen Dinge, die auf den sprachlichen Mittler reagieren, sondern es sind die lebenden Wesen, mit denen wir verkehren." (Bühler 19652: XXI) Bühler zeigt, wie auf der Basis einer handlungsorientierten, psychologisch fundierten Konzeption sprachliche Mittel zu analysieren sind. Innovativ war seine Analyse der Ausdrücke des „Zeigfelds" in der Opposition zu Ausdrücken
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des „Symbolfelds". Mit deiktischen Ausdrücken wie ich, hier, jetzt wird der Hörer in seiner Orientierungstätigkeit vom 'Nullpunkt', der „Origo" des Zeigfelds, aus auf Raum- und Zeitpunkte orientiert. Was für das Zeigfeld die „Situation", ist für Ausdrücke des „Symbolfelds" (etwa: Substantiv-, Verb-, Adjektivstämme) der sprachliche „Kontext", d.h. syntaktische und lexikalische Beziehungen, Leerstellen von Wortklassen, Reihenfolge etc., die gerade auch situationsentbunden (in dem, was Bühler „Sprachwerk" nennt) zum Tragen kommen. Die Kontexthilfen kompensieren die prinzipielle Offenheit sprachlicher Fassungen von Gegenständen und Sachverhalten" (Bühler 19652:172). Bühler wurde erst Ende der sechziger Jahre von der Pragmatik wiederentdeckt, in der Zwischenzeit finden sich funktionale Überlegungen in Deutschland in der Sprachinhaltsforschung (unter dem Terminus: 'Leistung')· Aus dieser Richtung zu nennen ist vor allem das Werk „Die deutsche Sprache" von Brinkmann (19712), aus dem funktional aufgeklärten Strukturalismus die Grammatiken von Weinrich (1983, 1993). Ein strukturell-funktionales Grammatikmodell hat Givón (1994, 1990, 1993, 1995,2001) entwickelt. Givòn geht zunächst von den empirisch aufzufindenden Formen und den Strukturen, die sie bilden, aus. Wie ein Biologe die taxonomische Arbeit etwa an verschiedenen Typen von Skeletten als Vorstufe zu einem Verständnis ihrer Funktion im lebenden Organismus betreibe, so habe der Linguist sprachliche Strukturen zu typologisieren und die in ihnen „kodierten" Funktionen zu untersuchen (Givón 1984: 30). Die wichtigsten sprachlichen Funktionsbereiche bilden eine Hierarchie: (a) Bedeutung als Gegenstand der lexikalischen Semantik kommt dem Wortschatz einer Sprache zu, in dem das genetische Wissen einer Kultur gespeichert ist. (b) Information als Gegenstand der propositionalen Semantik ergibt sich erst, wenn lexikalische Einheiten in Propositionen eingebettet werden, die syntaktisch in Form von Sätzen kodiert werden (Givón 1984:3If.). (c) Funktion (im Sinne von 'Diskursfunktion') erhalten diese Propositionen durch Einbettung in einen spezifischen Kontext, untersucht von der Diskurspragmatik. Das Studium der Syntax erstreckt sich auf die Kodierungsmechanismen in den Bereichen (b) und (c). Die strukturellen Möglichkeiten - angesetzt werden Wortstellung, Rexion, Intonation und allgemeine Anwendungsbeschränkungen - bilden diskrete Einheiten. Dagegen sind die zu kodierenden Funktionsbereiche durch Multidimensionalität und Skalarität gekennzeichnet, so dass es sprachintern sowie in verschiedenen Sprachen zu unterschiedlichen Verteilungen der Kodierungspunkte in funktionalen Domänen kommen kann (Givón 1983:37ff.). Givón hält Struktur für ein „second-order construct" (Givón 1984:36), ausgebildet zur Kodierung der unabhängig zu gewinnenden Funktionen von Sprache. Der Aufbau der Grammatik sollte so sein, dass Funktionsbestimmungen gegeben werden (a), die dann mit den einzelsprachlichen und universellen Realisie-
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rungsformen ins Verhältnis gesetzt werden (b). Tatsächlich aber ist der Aufbau in den meisten Kapiteln wie in der von Givón herangezogenen medi-zinischen Analogie (strukturorientierte Anatomie vor funktionsorientierter Phy-siologie). Grammatische Größen (wie das Pronomen, die Wortstellung etc.) werden traditionell bestimmt und in einem zweitem Schritt mit funktionalen Bestimmungen versehen. Die Funktionsangaben beziehen sich auf unterschiedliche semantischfunktionale Aspekte: Referenz, Erwartungen und Hintergrund-Informationen, Sequenzierung von Handlungen, thematische Orga-nisation, Wissen im Diskurs. An anderer Stelle setzt Givón unmittelbar funktional an (z.B. 2001: chapter 10, 15,16). So stehen funktionaler und formaler Angang unvermittelt nebeneinander. Unter der Voraussetzung Givóns einer diskreten Natur der Formseite (zur Kritik im Rahmen des funktionalen Strukturalismus bereits Martinet 1960, 1963) ist eine funktionale Unvollständigkeit zu erwarten. Die für Givóns Ansatz erforderliche unabhängige Bestimmung von Form und Funktion erweist sich praktisch als undurchführbar. Auf der Seite der Form ist zu beachten, dass Givóns Syntax typologisch vorgeht. Wie aber läßt sich z.B. eine Kategorie wie das Adjektiv unabhängig von einzelsprachlichen Merkmalen wie Flexion, Stellung, etc. fassen, wenn nicht funktional? 2 Die semiotische Grundkonzeption zwingt dazu, die Inhaltsseite des Zeichens in einen funktionalen und einen semantischen Teil aufzuspalten, wobei alles, was durch Kombinatorik oder Kontexteinbettung entsteht, funktional ist, während die Lexikoneinheiten (Wörter) die Grundbausteine der Kodierung darstellen und mit Begriff, Gegenstand, Vorstellung etc. verbunden sind. Ein elaboriertes Modell einer „functional grammar" hat der früh verstorbene Simon C. Dik (1978, 1989,1998) vorgelegt. Seine funktionale Sprachauffassung grenzt er gegen ein „formales Paradigma" ab, für das er exemplarisch Chomskys Theorie als autonom konzipierte Syntax heranzieht. An ihr orientieren sich seine Relevanzkriterien und Parameter-Einstellungen. Setzt etwa Chomsky die Kompetenz als psychologisches Explanandum an, so stellt Dik ihr die kommunikative Kompetenz zur Teilnahme an sprachlicher Interaktion gegenüber, behält damit aber die Art der Abstraktion bei. Entsprechend wird einer kontextunabhängigen Sprachbeschreibung der Einbezug von „points of contact" der Verwendungssituation gegenübergestellt, womit er an die Pragmatik von Montague oder Lewis erinnert. Entscheidend ist aber, was als Gegenstand gilt: „the grammatical organization of connected discourse" (Dik 1989,12). „Pragmatic adequacy" erreicht diese Grammatik, sofern ihr gelingt „to reveal those properties of linguistic expressions which are relevant to the manner in which they are used..."(Dik 1989,12). Strukturverändemde Operationen (Transformationen), Filter, abstrakte semantische Prädikate etc. werden daher abgelehnt. Der Aufbau ist durch die Annahme bestimmt, dass alle lexikalischen Einheiten 2
Vgl. dazu die methodische Herangehensweise von Givón 2001, 81ff. (Adjektiv), 87ff. (Adverb), 69ff. (Verb).
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als Prädikate aufzufassen sind. Diese werden nicht in unabhängig erzeugte syntaktische Strukturen eingesetzt, sondern bilden selbst Strukturen, aus denen Prädikationen aufgebaut werden können. (a) Das Lexikon stellt elementare Einheiten (z.B. Prädikatsrahmen („predicate frames"), Terme und Formationsregeln („formation rules") bereit; (b) Durch Term-Insertion entstehen nukleare Prädikationen, denen semantisch Sachverhalte entsprechen; (c) Diese Prädikationen werden durch Operatoren (z.B. temporale) und Satelliten verschiedener Level (z.B. „Instrument", später „Ort") schrittweise weiter spezifiziert, je nach Skopoi, es ergeben sich entsprechend erweiterte Prädikationen („core/embedded/extended predication"), jeweils wiederum verstanden als Prädikate über Variablen; (d) Bezogen auf die realisierten Sachverhalte werden den Termen syntaktische oder präsentative (als „points of view") Funktionen wie Subjekt und Objekt zugeordnet; (e) Nach der Zuordung syntaktischer Funktionen wird die propositionale Struktur durch Operatoren und Satelliten erweitert, die propositionale Einstellungen und Modalisierungen manifestieren, bis schließlich auf der Vollsatzebene illokutive Operatoren und Satelliten die Handlungsrolle spezifizieren und den Konstituenten der Prädikationen je nach „informational status" pragmatische Funktionen („topic", „focus") zugewiesen werden; (f) Form, Abfolge und Prosodie der Konstituenten werden schließlich durch die „expression rules" an der Oberfläche realisiert. Die Grammatik erscheint als Erzeugungsmodell (wie es z.B. in der Psycholinguistik oder Computerlinguistik üblich ist). Der Ansatz ist als lexikalistisch zu charakterisieren. Die elementaren Prädikatsmuster bezeichnen bereits Sachverhaltstypen. Funktionale Aspekte kommen dadurch ins Spiel, dass • die Sachverhalte für die einzusetzenden Terme semantische Funktionen wie Agens, Ziel etc. bereitstellen; • die Sachverhalte unter unterschiedlichen Perspektiven präsentiert werden können, die davon abhängen, welche Terme die syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt zugewiesen bekommen (Peter schlägt Hans versus Hans wird von Peter geschlagen)·, • Teile der Prädikation in verschiedener Weise an der Informationsverteilung mitwirken können, ihnen also entsprechende pragmatische Funktionen wie „theme", "topic", „focus" und „tail" zuzuordnen sind. Wir haben einen Formaufbau aus elementaren Lexikoneinheiten, denen auf dem Weg zur Bildung vollständiger Prädikationen die o.a. Funktionen zugeordnet werden. Prinzipiell sind damit weitere 'Interpretationen' des Konstruktionsaufbaus möglich, z.B. nach Art der Montague-Grammatik. Die Bildung elementarer Kategorien ist durch Grundannahmen geleitet, wie sie sich auch in den Valenzgrammatiken finden. Die funktionale Rekonstruktion beinhaltet ein Sprechermodell im Sinne von Searles Sprechakttheorie bzw. des sprachphilosophischen
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Intentionalismus. Im Rahmen der Functional Grammar sind viele wichtige typologische Studien entstanden.3 Die „Grammatik der deutschen Sprache" von Zifonun&Hoffmann&Strecker (1997) basiert auf einem funktionalen und semantischen Konzept. Sie sieht im Zugang über die kommunikative Funktion oder die semantisch bestimmte Kombinatorik (im Sinne der Kategorialen Grammatik) keine sich ausschließenden, sondern komplementäre Alternativen: Einerseits sei auszugehen von den elementaren Funktionen, für die sprachliche Mittel ausgebildet sind (etwa der Funktion, Sachverhalte oder Gegenstände zu entwerfen, zu thematisieren oder thematisch fortzuführen); andererseits sei auszugehen von konkreten Formen und Mitteln (Laute, Wortformen, Wortstellung, Intonation) und dem formalen Aufbau sprachlicher Einheiten. Ansatz ist hier jeweils eine spezifische Formausprägung oder ein spezifisches Mittel, das in seiner Formstruktur zu analysieren und soweit möglich in einen funktionalen Erklärungszusammenhang einzuordnen ist. Die Grammatiktradion hat die Formbetrachtung vielfach mit semantischen Überlegungen verbunden. Dies wird mit dem Versuch einer funktionalsemantischen und funktional-pragmatischen Analyse des Aufbaus sprachlicher Ausdrücke aufgegriffen. Die Grammatik setzt an bei elementaren Funktionseinheiten wie Diktum, Proposition, Prädikat, Argument, Modifikation und ihren Ausdrucksformen, aber auch unmittelbar bei Funktionen wie Thematisierung, Vergabe des Rederechts oder Kontrastierung; sie behandelt auch die Rolle sprachlicher Formen und Mittel im situationsgebundenen Diskurs wie im situationsabgelösten Text. Das Grundprinzip ist: (1) Das Ensemble sprachlicher Formen und Mittel ist in seiner Ausprägung und Struktur zu erklären durch die kommunikativen Aufgaben und Zwecke im Handlungszusammenhang. Die materielle Substanz und Oberflächengestalt unterliegen Bedingungen eigener Art. Die funktionale Struktur einer Äußerungseinheit zeigt sich auch darin, in welcher Weise ihre Teile zusammenwirken bei der Lösung ihrer spezifischen Aufgaben. Eine starke Annahme dazu liefert die logische Semantik mit dem 'Frege-PrinzipV'Kompositionalitätsprinzip': (2) Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus den Bedeutungen seiner Teile auf der Basis ihrer syntaktischen Beziehungen. In formbezogen-kompositionaler Perspektive werden Wörter und Wortgruppen gemäß einer hierarchischen Ordnung schrittweise miteinander zu größeren semantischen Einheiten .verrechnet'. In einer funktionalen Syntax ist zu zeigen, welche pragmatische Qualität - über die ihrer Teile hinaus - eine solche Komposition hat. Insofern ist das zweite Prinzip dem ersten untergeordnet. Das Kompositionalitätsprinzip hat uneingeschränkte Gültigkeit nur für relativ 3
Zur aktuellen Diskussion: http://www.functionalgrammar.com/
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autonome Bedeutungs- und Funktionsträger. Für Wörter und Wortgruppen also, die einen eigenständigen, von anderen Teilen unabhängigen Beitrag zum formalen und funktionalen Aufbau liefern. Die Verrechnung folgt morphologischer Abstimmung wie linearer Abfolge. Was nicht in dieser Weise wirksam wird, fällt zunächst durch das Raster kompositionaler Verrechnung. Manche Mittel wie etwa die Intonation (Akzent, Tonmuster) oder die Interpunktion setzen operativ eine Komposition schon voraus: ein Satzzeichen oder ein fallendes bzw. steigendes Tonmuster etwa fertig komponierte (und kommunikativ funktionsfähige) Einheiten. Sie funktionieren ,postkompositional' bzw. holistisch. Die Bestimmung von Illokutionen etwa ist keine Komposition im Sinne sukzessiver Zusammenfügung, sondern ein .antikompositionales Verfahren' der Bildung von ZweckMittel-Konfigurationen. Sie setzt u.a. ein genaues Verständnis der Ausgangssituation voraus, des Wissens der Beteiligten, der sprachlich ausgeprägten Mittel, mit denen die Ausgangssituation zu verändern ist.
2. Der funktional-pragmatische Zugang zur Syntax Ausgangspunkt ist die pragmatische Wende in der Sprachtheorie, ausgelöst durch Entwicklungen der Sprachphilosophie (Wittgenstein, Austin) und der Sprachpsychologie (Ammann, Wegener, Bühler) sowie durch inhaltsfunktionale Überlegungen in der traditionellen Grammatik (Paul, Brinkmann), die oft auf W.v. Humboldt zurückgehen, jedenfalls außerhalb einer cartesianischen Traditionslinie stehen. Die pragmatische Sprachtheorie begnügt sich nicht mit einer Ergänzung klassischer Zeichenmodelle um eine Benutzerdimension (wie in der verbreiteten Konzeption nach Charles Morris), sondern stellt gegenüber dem (auf symbolische Ausdrücke beschränkten) Zeichencharakter den Handlungsaspekt der Sprache zentral. Sprache erscheint als Form komplexen Handelns, deren Zweck die Verständigung ist. Diese Sicht erfordert eine Entfaltung des Handlungsprozesses, seiner Stadien und seiner Vor- und Nachgeschichte einschließlich der mentalen Dimension. Stellt man Grammatik in einen Sprecher-un^Hörer-Zusammenhang, dann läßt sie sich als Gesamtheit von Konstruktionetoestimmen, die S beim sprachlichen Handeln (in Vorauskonstruktionen) planen und verbalisieren und H bei der Rezeption umsetzen. (...) Der S-H-Zusammenhang leistet dabei eine spezifische Kooperation zur Herstellung und Sicherung grammatischer Formen für ihre kommunikativen Zwecke. Im Konstruieren und Mit-Konstruieren greifen S und H auf gemeinsame Strukturen wie Präsuppositionen und Wissensstrukturen zu und verarbeiten auch ihr grammatisches Wissen als gemeinsames: Ζ. B. aktualisiert S syntaktische Strukturen aus dem grammatischen Wissen, H komplettiert sie daraus. (Rehbein 2001:938)
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Der Austausch bedarf - wie Bühler ausgeführt hat - des ergänzenden, konstruierenden Mitdenkens. Das Medium Sprache dient der Organisation und Übermittlung von Wissen, im Medium werden die Handelnden gesteuert. Prototypisch ist der Diskurs: kopräsente Personen organisieren in einer Sprechsituation ihren Austausch, orientieren sich im gemeinsamen Wahrnehmungsraum wie im Diskursraum und synchronisieren ihre Orientierungen. Sie können aber auch die Sprechsituation mit ihrer Zeitlichkeit und Räumlichkeit überschreiten, indem sie Texte produzieren, die für die Übeibrückung räumlicher oder zeitlicher Distanzen eingerichtet sind. Die sprachlichen Mittel sind sensitiv für die kommunikativen Bedingungen, ob also etwa auf präsente Hörer oder ein absentes disperses Publikum gezeigt wird, auf Verbalisierungen im Vorgängerdiskurs oder im textuellen Rahmen. Sprachliche Einheiten sind Mittel zu bestimmten Zwecken,· sie lassen sich auf spezifische Momente im sprachlichen Handeln beziehen. Sie können wie etwa die Intonation mitwirken an der Kennzeichnung der Illokution einer Äußerung, sie können aber auch wie die symbolische Prozedur, die mit einem Adjektiv realisiert wird, beitragen zur genaueren Eingrenzung eines gemeinten Gegenstands. Zugleich ist die Funktionalität von ihrer Rolle im einzelsprachlichen System bestimmt. Was wir sprachlich zu verstehen geben, sind strukturierte Wissenseinheiten, abstrahiert von ganzheitlichen Wahrnehmungen, diffusen Stimmungen oder flüchtigen Eindrücken. Der Zweck ist, die Kommunikation in der Zeit voranzutreiben, um etwas dadurch zu ändern, dass sich im Wissen des Hörers etwas ändert. Das aber setzt voraus, dass die Wissenskategorien des Hörers unmittelbar angesprochen werden und seine Verarbeitung punktgenau gesteuert wird. Wir sagen nicht einfach, was ist (im Sinne puren Sachverhaltstransfers), sondern auch, wie sich das zu dem verhält, was er oder sie schon weiß, und wie es zu gewichten ist. Wissen wird immer schon als bewertetes übermittelt (Rehbein 2001). Es werden Anschlüsse an das schon Gesagte, Verweise auf das zu Sagende, Bezüge zum Bekannten hergestellt. Und es wird im Diskurs die Position der Äußerung im Verhältnis zu Begleitäußerungen oder Folgeäußerungen reflektiert. Komplexe Aufgaben dieser Art erfüllt die Äußerung im Aufbau und Zusammenwirken ihrer Teile und in ihrer zeitlich-linearen Abfolge. Würde sie einer dieser Aufgaben nach der anderen realisieren, käme sie kaum an ein Ende. Die sprachlichen Mittel realisieren jeweils bestimmte Funktionen im Sprachaufbau und direkt oder indirekt auch in der sprachlichen Kommunikation. Was immer gesagt werden soll, muss materialisiert werden und eine sprachliche Form annehmen, in der es als kommunikativ-funktional verstanden werden kann. Es hat eine Form, insofern es Funktion hat. Das Wissen wird in einer spezifischen Sprachform artikuliert, und zwar als lautliche oder schriftliche Geste mit Gestaltqualität. Diese Form ist bestimmt durch das Medium und unterliegt seinen Voraussetzungen und Entwicklungen mit ihrer Eigendynamik (systeminterner Ausgleich, Reanalyse, Optimierung sind hier nur als Stichwörter
Einleitung
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der Diskussion zu nennen). Hörer müssen prinzipiell das, was sie wahrnehmen, nicht nur zerlegen (Parsing), sie müssen es auch in seiner Gestaltqualität erkennen und als komplexe funktionale Einheit rekonstruieren, deren Bestandteile und aufgeprägte Eigenschaften einen spezifischen Beitrag leisten. Zu beachten ist die Rekonstruktion durch • die simultane Realisierung von Mitteln (Fusion, Aufprägung, Kontamination etc.) und • die Notwendigkeit, funktional Zusammengehöriges in zeitlichem Nacheinander oder unterbrochen durch andere Einheiten (diskontinuierlich) zu realisieren; die Serialisierung als Umsetzung in die Linearstruktur kann ihrerseits funktional geladen sein. Eine Ordnung der elementaren Mittel unter funktionalem Aspekt bietet das Konzept von Feldern und Prozeduren. Ehlich (1991) hat es im Anschluss an Bühler systematisch entwickelt. Grundlage der Unterscheidungen sind die unterschiedlichen Zwecke der Prozeduren beim Verständigungshandeln zwischen S und H (S= Sprecherin), H= Hörer(in): (a) S nennt/charakterisiert einen Gegenstand oder Sachverhalt auf der Grundlage von Objektkenntnis oder geteiltem sprachlichen Wissen: symbolische Prozedur (b) S orientiert H auf ein Element des gemeinsamen Verweisraums: deiktische Prozedur (c) Der Sprecher (S) steuert den Hörer (H) in der Form eines direkten Eingriffs in sein aktuelles Handeln und Wissen: expeditive Prozedur (d) S strukturiert die Verarbeitung sprachlicher Handlungselemente durch H: operative Prozedur (e) S übermittelt H eine auf die eigenen Einstellungen bezogene Nuancierung gegenüber einem Gegenstand oder Sachverhalt bzw. seinen Eigenschaften: expressive Prozedur. Ehlich folgend wird der etymologisch rekonstruierbare Feldübergang durch das Präfix „para-" gekennzeichnet; so sind historisch beinahe alle deutschen Präpositionen vom Symbolfeld ins operative Feld gewechselt, also paraoperativ. Die Felder haben eine Binnenstruktur, die von der Forschung im Detail aufzuweisen ist. So kann das Symbolfeld durch die Unterscheidung einer symbolisch-charakterisierenden von einer symbolisch-identifizierenden Prozedur gegliedert werden; erstere ist, was Begriffswörter wie Gattungsnamen oder Verben leisten, letztere bezeichnet die Funktionsweise von Eigennamen, die Gegenstandskenntnis repräsentieren (Hoffmann 1999). Einige Prozeduren können „selbstsuffizient" (Ehlich), d.h. nicht-kompositional, eingesetzt werden. Dies ist allerdings nur in Verbindung mit einer spezifischen Intonation möglich.
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Ludger Hoffmann
Feld
Prozedur
Sprachliche Mittel (Deutsch)
Symbolfeld
symbolisch
Substantiv-, Verb-, Adjektivstämme, einige Adverbien
Zeigfeld
deiktisch
origobasierte sprecher-/hörer (gruppen)- bezogene Ausdrücke: ich, du, wir, ihr; best, lokale/temporale Adverbien: hier, da, dort, jetzt; Tempora: Präsens, Präteritum
Lenkfeld
expeditiv
Interjektion; Imperativ-/Vokativendung; Tonhöhenverlauf in Tonmustern
Operationsfeld
operativ
Anapher; Artikel; Relativum: Konjunktor; Subjunktor; Präposition; einige Flexionsendungen (z.B. Infinitiv, Plural); Serialisierung; Akzentuierung
Malfeld
expressiv
Exklamative Tonmodulation; Imitation
Die inhärente Funktion der Mittel bestimmt auch den Bereich, in dem sie eine kombinatorische Funktionalität entfalten. In der funktionalen Syntax wird jede Art funktional bestimmter Kombinatorik sprachlicher Mittel untersucht. Was formal verbunden wird, bildet eine Funktionseinheit mit einem spezifischen Zweck.
3. Zu den Beiträgen Dieser Band enthält Texte, die den skizzierten pragmatischen Ansatz in der Syntax profilieren und fortentwickeln. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine sprecher-und hörerbezogene Perspektive einnehmen und einzelne Ausdrücke-inFunktion, syntaktische Phänomene oder die Kombinatorik von Äußerungen als Momente des Verständigungshandelns betrachten. Sie realisieren dies in konkreter Analyse, gestützt auf empirische Daten aus authentischen Diskursen und Texten. Damit wird die Beschränkung auf selbsterfundene oder nur literarische Beispiele überwunden und die Forschung zur Grammatik der gesprochenen Sprache (Bibliographie: Hoffmann 1998) fortentwickelt. Im Beitrag von Ludger Hoffmann wird ein syntaktisches Modell vorgestellt, das den Formaufbau konsequent funktional rekonstruiert. Hinter dem Formaufbau - so die Grundannahme - steht nicht ein einziges Prinzip (z.B. die Abhängigkeit), sondern es sind verschiedene syntaktische Prozeduren anzusetzen, die dafür
Einleitung
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sorgen, dass komplexe Formeinheiten differenzierte Funktionen erfüllen können. Mit den dargestellten Prozeduren ist eine weitreichende Beschreibung der Kemsätze möglich. Funktional-pragmatische Untersuchungen zum verbalen Bereich bieten die Aufsätze von Bredel & Lohnstein, Redder und Thielmann. Ursula Bredel und Horst Lohnstein setzen der traditionellen Klassifikation des verbalen Flexionssystems in Tempus- und Modus-Kategorien eine Analyse entgegen, die diese Kategorien aus den Eigenschaften der beiden Flexive -3 und -t ableitet. Basis sind flexionsmorphologische Neubestimmungen des Verbparadigmas und der Positionen der beiden Elemente, die zu einer Neubestimmung insbesondere der präteritalen sowie der konjunktivischen Formen führen. Gezeigt wird, in welcher Weise die Wissenssysteme von Sprecher und Hörer bei Indikativund Konjunktivformen beteiligt sind und welche Konsequenzen sich für die typischen Konjunktivgebräuche (Indirektheit etc.) ergeben. Angelika Redder analysiert funktional-pragmatisch ein bisher kaum erschlossenes - weil für die üblichen satzgrammatischen wie pragmatischen Systematisierungsformen sperriges - Feld: autonome Partizipialkonstruktionen und repetitiv organisierte Partizipialketten. Sie macht deutlich, dass es sich um Ausdrucksformen handelt, mit denen ein sprachliches Handeln auf einer Zwischenstufe zwischen Prozeduren und Sprechhandlungen realisiert wird und führt dafür die Kategorie „Partikulares sprachliches Handeln" in die Pragmatik ein. Das elementare Verb sein hat grammatisch einen unklaren Status (Hauptverb? Hilfsverb? Kopulaverb?) und wurde semantisch vielfach als polysem behandelt. Winfried Thielmann argumentiert für eine einheitliche Analyse als Prädikat, das Wissensstrukturen ausweist, und bezieht Nominalsatzstruktur und Zustandspassiv ein. Er zeigt, wie dem epistemischen Verb eine einheitliche Grundbedeutung i.S. der Funktionalen Pragmatik zugeordent werden kann, und illustriert diese an Textbeispielen. Rainer von Kügelgen untersucht handlungstheoretisch wie sprachpsychologisch die grammatisch schwer einzuordnenden Parenthesen, die er als einheitliches Phänomen begreift. Empirisch fundierte Untersuchungen zu Verwendung und Grundbedeutung einzelner Ausdrücke bzw. grammatischer Wörter (sog. Funktionswörter) können den Mehrwert pragmatischer Untersuchungen demonstrieren. Die vergleichende Analyse deutscher und tschechischer Präpositionen als (para-)operativer Prozeduren durch Petr Bednarsky weist die jeweils sprachspezifische Funktionsweise auf und gibt zugleich eine ausgezeichnete Basis für den Unterricht des Deutschen als Fremdsprache ab, in dem Präpositionen notorisch sehr problematisch sind. Kristin Bührig setzt sich mit einer spezifischen, operativ geprägten Phrase auseinander. Sie zeigt an narrativen und argumentativen Fällen, wie mit auf jeden Fall eine operative Prozedur realisiert wird, die den Hörer zu einer
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Restrukturierung seiner sprachlich-mentalen Tätigkeiten gemäß der sprecherseitigen Verbalisierung von Wissen anleitet. Frederike Eggs analysiert auf breiter empirischer Basis die funktionale Leistung und Grundbedeutung der besonders argumentativ relevanten Ausdrücke sowieso, eh, ohnedies und ohnehin und kategorisiert sie grammatisch. Die Arbeiten von Ehlich und Kovtun thematisieren den Bereich der Determination. Grundsätzlich angelegt und kontrastiv ist die (auch für Nicht-Hebraisten lesbare) Arbeit von Konrad Ehlich, die die Determination und ihre Rolle im Wissensmanagement am Beispiel des Hebräischen behandelt. Er zeigt, wie im Hebräischen Nominalphrasen „rigoros" durch ein monofunktionales Element determiniert werden können und welche Konsequenzen dies für den Aufbau des hebräischen Systems wie für die typologische Einordnung dieser Sprache hat. Gegenüber der definiten ist die indefinite Determination in der Forschung vernachlässigt worden. Oksana Kovtun stellt den Funktionen, die der indefinite Artikel im Deutschen hat, das Spektrum indefinit determinierender Ausdrucksformen in den Sprachen Russisch und Ukrainisch gegenüber, die als artikellos gelten. Damit gibt sie neue Impulse auch für die Didaktik des Deutschen als Fremdsprache, in der das deutsche Artikelsystem besonders Lernern mit slawischem oder türkischem Sprachhintergrund erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
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Einleitung
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Ludger Hoffmann
Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren1 1. Einleitung Syntax gilt als Kern der Grammatik, als Zentrum formorientierter Sprachanalyse. Sinn und Gegenstandsbereich werden allerdings kaum diskutiert. Zu beantworten sind insbesondere diese Fragen: (Fl) Wie verhält sich Syntax zu den Zwecken von Sprache? (F2) Was ist ihre maximale, was ihre minimale Beschreibungseinheit? (F3) Wenn Syntax Kombinatorik ist, was sind die kombinatorischen Einheiten? (F4) Welche Arten von Sprachmitteln sind nach Form und Funktion zu unterscheiden und welche gehen wie in die Kombinatorik ein? (F5) Welcher Art sind die Beziehungen zwischen den Sprachmitteln? (F6) Welchen Zwecken dienen die Kombinationen der Sprachmittel? (F7) Wie verhält sich der grammatische Aufbau zur Struktur des Wissens? (F8) Wie interagieren Sprachproduktion und Wissensveränderung, Sprachverarbeitung und Wissensverarbeitung? (F9) Wie verhalten sich Syntax und Lexikon zueinander, was ist aktuell zu kombinieren, was ist aus dem Sprachwissen/Sprachgedächtnis abzurufen? (FIO) Wie ist der Syntaxerwerb zu erklären? Was ist gegeben, was wird erworben,was wird gelernt? Einen Konsens in diesen Fragen gibt es nicht, Vieles wird ausgeblendet. Zwischen Syntax und Lexik werden die Lasten ebenso oft umverteilt wie zwischen Lernen und Erwerben. Wer Syntax für sehr komplex und die Erwerbszeit von 4-5 Jahren für kurz hält, postuliert eine angeborene Ausgangsbasis, aus der sich alle Sprachen mit ihren Möglichkeiten und Grenzen entfalten können. Andere suchen nach tieferen Mechanismen, die auch andere kognitive Fertigkeiten hervorbringen oder verzichten auf jede Art mentaler Fundierung. Syntax wird formal autonom, funktionsbezogen, semantikabhängig oder parallel zur Semantik betrieben. Unterschiedlichen Voreinstellungen, die nicht widerlegbar sind, entsprechen unterschiedliche Datenzugänge und Datenumfänge, Erklärungsansprüche und Kategorisierungen. Als maximale Einheit hat die Tradition den Satz als gegliederte Verbalisierung eines Gedankens oder Ausdruck mitfinitemVerb betrachtet, ohne ihn theoretisch recht zu fassen. Für die Textlinguistik ist der Text als Kommunikat maximal, wobei die Zwischenebene Satz - bereits von de Saussure als nicht der „langue" 1
Für die Diskussionen anlässlich von Vorträgen in Dortmund (Internationale Pragmatik-Konferenz 1999), an den Universitäten Hamburg und Wiirzburg sowie am IDS in Mannheim bin ich dankbar.
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zugehörig ausgegrenzt - manchmal für überflüssig erklärt wurde (Weinrich 1993). Die Vorstellung eines kompositional-hierarchischen Aufbaus hat die komplexeste Wortgruppe, die um das Hauptverb oder ein satzeinleitendes Element herum aufgebaut ist, zur maximalen Einheit werden lassen (Verb + Komplemente oder Komplementiererphrase (CP)). Syntax charakterisiert dann Phrasen oder verbzentrierte Wortgruppen, deren minimale Elemente - wie schon im 19. Jahrhundert - Wortformen sind; den Aufbau der Wortformen klärt die Morphologie. Gegenstand der Syntax ist auch im (i.w.S.) funktionalen Ansatz von Van Valin/LaPolla (1997:1) „the arrangement of words", unter Autonomiepostulat sind es Verkettungen abstrakter Merkmalsbündel, funktional müssen es Handlungseinheiten, prozedurale Kombinationen sein. Die methodische Rigorosität neuzeitlicher Syntax hat zu Vorannahmen geführt, die problematisch erscheinen: (Al)
(A2)
(A3)
Eine Äußerungseinheit als Gegenstand der Syntax ist aus gleichartigen Sprachmitteln aufgebaut, etwa Wortformen und Phrasen oder Merkmalsbündeln, die später phonetisch und semantisch interpretiert werden. Die Beziehungen zwischen den Elementen einer Äußerung sind von derselben Art (z.B. Teil-Ganzes, Abhängigkeit) und Stelligkeit (z.B. Annahme von Binarität). Die Beziehungen wie der Aufbau der Äußerung sind rein formal bestimmt. Werden Bedeutungen oder Funktionen einbezogen, so bilden sie ein unabhängiges, erst sekundär auf den Formaufbau beziehbares Kombinationssystem (interpretative Komponente, logische Form etc.). Alternativ wird der syntaktischen eine eigene semantische Kombinatorik parallelgeschaltet.
Ausgeblendet ist die unterschiedliche Art der Sprachmittel. Zum einen das Nebeneinander von Phrasen und Einzelwörtern - die dann etwa mit Null-Erweiterungen zu Phrasen deklariert werden -, zum anderen die dynamische Realisierung in der Zeit und die nicht-kompositionale Intonation. Alternative Zusatzannahmen sind daher: (A4.1) Die Kombinatorik ist prinzipiell unabhängig und analytisch zu trennen von den autonomen Mitteln lineare Abfolge und Intonation. (A4.2) Hierarchie und Stellung sollen einander entsprechen, etwa als Prinzip der Projektivität (terminaler Elemente auf die Oberflächenfolge, evtl. transformationell bereinigt), während die Intonation als Mittel autonom ist. In der Gleichförmigkeit des Aufbaus - Elemente gleicher Art gehen Beziehungen gleichen Typs ein - steckt offenbar ein gesuchtes Generalisierungsmoment. Wenn aber das, was wir Artikel, Adjektiv und Nomen nennen, funktional unterschiedlich ist, sollten Artikel und Nomen sich formal in anderer Weise
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und zu anderen Zwecken verbinden lassen als Adjektiv und Nomen. Flache Strukturen verdecken die Unterschiede. Warum muss der Zwang akzeptiertweiden, für jedes Satzelement zu entscheiden, ob es Regens oder Dependens ist oder Element einer Teil-Ganzes-Beziehung? Inwiefern ist eine 'Partikel' Teil eines Satzes oder ein Substantiv Regens eines Artikels oder umgekehrt? Welche Abhängigkeiten bestehen in einer Koordination? Warum muss angenommen werden, dass die lineare Abfolge der syntaktischen Integration bzw. hierarchischen Zugehörigkeit entspricht? Dies führt zu Konstrukten wie Spuren an der Ursprungsstelle, Transformationen, Beschränkungen (z.B. „head constraint"), die wiederum Ausnahmen oder Verletzungen haben, die erklärungsbedürftig sind. Tatsächlich können die Menschen gegen Ende der Äußerung noch wissen, was sie zuvorgesagt haben und dies lokal einbeziehen. Eine sprachpsychologische Theorie sequentieller Äußerungsverarbeitung könnte solchem Mentalismus auf die Sprünge helfen. Ansätze dazu gibt es. Was nicht dem propositionalen Aufbau dient, nicht kompositional und nicht phrasal ist, wird syntaktisch öfter ausgegrenzt. So z.B. die sog. Abtönungsartikeln oder die Parenthesen. So das, was zur Adressatenorientierung und kommunikativen Einbettung beiträgt. Es wird - 'kurzschlüssig' - angenommen: (A5)
Zweckhaft ist erst der Formaufbau einer Äußerung als Ganzes. Die Teile sind nicht in dieser Weise funktional, die Syntax ist autonom.
Dies gilt auch für einige Ansätze, die sich als interaktionsbezogen oder funktional verstehen, aber sich von der Syntax fernhalten. Der formale Aufbau zeigt seinen Sinn darin, dass er einem spezifischen Verständnis dient, funktional dafür ist. Hat es Sinn auf eine Baumgruppe zu zeigen und zu fragen: »Verstehst Du, was diese Baumgruppe sagt?« Im allgemeinen nicht; aber könnte man nicht mit der Anordnung von Bäum einen Sinn ausdrücken, könnte das nicht eine Geheimsprache sein? >Sätze< wird man dann die Baumgruppen nennen, die man versteht, aber auch andere, die man nicht versteht, wenn man annimmt, daß der Pflanzer sie verstanden habe. (Wittgenstein, Philosophische Grammatik, 39)
2. Prinzipien einer funktionalen Syntax Für eine funktionale und pragmatische Syntax schlage ich folgende Prinzipien vor: (PI)
Gegenstand der Syntax ist die Frage, in welcher Weise die Struktur von Äußerungen als Kombinatorik von Sprachmitteln ihren Beitrag zum Verständigungshandeln zwischen Sprechern und Hörern bestimmt. Das Verständigungshandeln koordiniert Handlungs- und Wissensräume der Beteiligten. Es ist erst als wechselseitiger Austausch angemessen ver-
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(P2)
(P3)
(P4)
(P5)
(P6)
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standen, nicht als intentionaler, gerichteter Kommunikationsversuch eines Handelnden. Solche Symmetrie erst vermag Gedanken zur Sprache zu bringen. Bedeutung und Funktionalität einer Äußerung sind durch die an ihr beteiligten Sprachmittel mit ihren Funktionen und ihr prozedurales Zusammenwirken (Synergetik) in Funktionseinheiten bestimmt. Die Komplexität im Aufbau nonverbalen Handelns gilt auch für das sprachliche Handeln. Die Äußerungsstruktur ist mehrdimensional und nicht strikt hierarchisch aufgebaut. Der Aufbau resultiert nicht in einem ausgezeichneten Element (Satz, Satzknoten, CP Knoten, V-Knoten etc.), sondern in einer komplexen Handlung. Der Kern sprachlicher Funktionen ist universal. Er erlaubt als Tertium Comparationis den Vergleich von Sprachen. Jede Funktion realisiert sich in einer spezifischen Form, die der Sprachgemeinschaft Verstehen und Wissensverarbeitung erlaubt. Die funktionsspezifische Nutzung des Formenpotenzials kann für die Typologisierung von Sprachen genutzt werden. Die Formen unterliegen eigenen Gesetzmäßigkeiten, die nicht aus ihrer Funktion abzuleiten sind. Wortformen als Teil des Repertoires sind prozedural komplex, d.h. in ihnen sind Prozeduren verknüpft. Die einer Form eingeschriebene Funktion ist ihr historisch-gesellschaftlich ausgeprägter Zweck. Das Verstehen des Sinns einer Äußerung beruht auf dem Verstehen aller mit ihr gegebenen funktionalen Beziehungen, also der Kombinatorik, der empraktischen Verbindungen zur situativen Konstellation, an der das Handeln ansetzt, der laufenden Wissensprozessierung, der Folie des aktuellen Diskurses/Textes.
3. Syntaktische Prozeduren 3.1 Allgemeine Charakteristik, Konstitution der Basiseinheiten Sprachliche Mittel wie Ausdrucksgestalt, Tonverlauf, zeitliche Abfolge in der Realisierung lassen sich nicht nur nach ihrer Form ordnen, sondern auch nach ihrer Funktionalität. Ihre Funktion liegt in der Art ihrer Sprecher-HörerKoordination. Basis ist die Prozessierung von Wissen (Π). ausgehend vom Sprecherwissen flls), rezipiert durch die aktiv teilhabenden Hörer und verarbeitet in ihrem Wissen (Π Η ). Zentrales, aber nicht einziges Moment in diesem Wissensprozess ist der propositionale Gehalt ρ - der entworfene Sachverhalt einer Äußerung. Die Verarbeitung des propositionalen Gehalts im Wissen verändert dessen Zustand und Verknüpfungen; sie kann einen Bezug auf die Realität (P) herstellen, an der auch der Sprecher teilhat2 und die mehr oder
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minder gemeinsam zugänglich ist. Die Verständigung wäre ohne gemeinsames Wissen, das bearbeitet werden kann, nicht möglich. Eine Wissensstruktur ist kein planer propositionaler Gehalt, sondern ein bewertetes Wissen W von Gegenständen g - zu notieren B:W(g), wobei W eine Menge prädikativer Wissenselemente ist.3 Die atomaren Prozeduren (Basisprozeduren) der Sprache haben, wie Bühler ausgeführt hat, Feldcharakter. Ehlich 1991 folgend unterscheidet die Pragmatik: • die deiktische, zeigend den Hörer (H) in einem „Verweisraum" (Ehlich) orientierende Prozedur des Zeigfelds (ich, da, jetzt, dann) • die operative, die Verarbeitung des verbalisierten Wissens durch H bestimmende Prozedur des Operationsfelds (z.B. Konjunktoren wie und, Anaphern wie sie) • die symbolische, charakterisierende, für H die Verbindung zur Wirklichkeit herstellende Prozedur des Symbolfelds (Substantiv-, Verb-, Adjektivstämme wie Kind-, schnell-, sing-) • die expeditive, unmittelbar bei H (Wissen/Handeln) eingreifende, nicht propositionale Prozedur des Lenkfelds (z.B. Interjektionen, Imperativendung, Vokativ) • die expressive, H nuancierte Bewertungen bzw. Einstufungen (im allgemeinen Sinne) übermittelnde Prozedur des Malfelds (z.B. imitierende Intonationsmodulation). Eine atomare deiktische Prozedur wie da leistet situativ die Synchronisation von Wahrnehmungen. Verweisraum ist der Wahrnehmungsraum. Solche Verweisräume sind konstituiert durch Bewegung. Das elementare sinnliche Wahrnehmen (aisthesis) bildet - folgen wir Aristoteles (Metaphysik, Erstes Buch, Anfang 980a) - die erste Stufe des Wissens (eidénai). Ein differenzierter Wissensaufbau, wie er im Medium Sprache typisch ist, setzt Kombinationen mit symbolischen Ausdrücken voraus, die sprachabhängig kategorisieren, vgl. ihr neues Kleid ist blaugrau. Die Verbindung kategorisierenden Weltwissens mit Gegenstandswissen können operative Mittel leisten, z.B. Determinative, die den Wissensstatus auf Hörerseite markieren. Die sprachlichen Mittel bringen ihre atomare Funktionalität in die Kombinationen, die sie eingehen, und tragen somit syntaktisch zum Wissensaufbau bei. Das entstehende Wissen übersteigt nicht selten die verbundenen Wissenelemente. Die Kombinatorik läßt sich nicht auf einen Grundtyp - etwa bloße Konstitution (Teil - Ganzes) oder Dependenz - reduzieren. Es sind unterschiedliche Arten 2
Ein Realitätszugang wird präformiert. Ein aufkommender Gedanke passiert einen Realitätsfilter im orbitofrontalen Cortex dann, wenn er sich auf die Aktualität bezieht, während Erinnertes unterdrückt wird - ein Filter, der konfabulierenden Personen fehlt (Schnider 2002). Sprachlich wird der vollständige Gedanke mit einem zeitlichen/modalen Rahmen (Wissensmodalität) versehen (vgl. 3.3.).
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Diese Ausführungen beziehen sich auf das sprachtheoretische Modell der Funktionalen Pragmatik, skizziert in Rehbein 1998:93.
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
syntaktischer Prozeduren anzunehmen, die auf sich gestellt oder synergetisch die Äußerungsbedeutung schaffen. Den Vorbereich einer solchen Prozedur bilden die an die beteiligten sprachlichen Mittel gebundenen, einfachen oder komplexen Funktionen, den Nachbereich die Funktion der prozedural entstehenden, syntaktisch konstituierten Einheit.
Vorbereich F (χ,y) /Form-/ ^ FunktionsV einheit χ )
Nachbereich
Syntaktische Prozedur
ΓForm-/ Λ /Form-/Funktionseinheit z\ FunktionsV einheit y J V J
Die Verbindung von χ und y resultiert in einer komplexeren Einheit z. Diese Einheit ζ kann vom Typ χ oder y sein4 (Integration, dazu 3.2.), aber es kann auch z*x,y gelten (Synthese, 3.3.; Koordination, 3.4.). Soweit Ausdrücke kompositional verbunden werden, kann man sagen, dass ζ als Resultat der Operation F ein syntaktisches Objekt ist, das χ und y unmittelbar enthält. Weiter gilt, dass ζ Objekte u,v enthält, die in χ oder y enthalten sind. Damit ist die Bildung von Formeinheiten erfasst. Es ist möglich, aber nicht erforderlich, parallel zum funktionalen Aufbau aus lexikalischen Elementen einen formalen Aufbau mithilfe einer Teil-GanzesRelation im Sinne herkömmlicher Phrasenstruktur zu etablieren. Dies ergäbe eine Parallelarchitektur wie sie Ray Jackendoff 2002 in seiner Abkehr vom „Syntaxzentrismus" vorschlägt. Wir haben in der Kombinatorik mit zwei Seiten zu rechnen, einer formalen und einer funktionalen, die zu analytischen Zwecken getrennt betrachtet werden und je eigene Gesetzmäßigkeiten haben können: Erfordernisse der Oberflächenstruktur (etwa lautliche Regularitäten, Silbenstruktur etc.) wie kommunikative Notwendigkeiten.5 Bestimmte Mittel können prozedural komplex sein, es können also mehrere Funktionen einer Form eingeschrieben und mit ihr ins Spiel gebracht werden; so gibt es im Türkischen ein Suffix, das zugleich den Akkusativ und die Definitheit markiert. Da eine Funktion auf mehrere Einheiten angewandt werden kann, ist Binarität 4
In der minimalistischen Theorie der Phrasenstruktur sind die Verkettungen ("merge") nur von dieser Art, dazu etwa Grewendorf 2 0 0 2 : 1 2 4 f f .
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Manchmal ist zu lesen, in funktionalen Ansätzen solle die Form aus der Funktion unmittelbar abgeleitet werden. Das ist absurd. Belegstellen dafür werden denn auch nie genannt.
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im Aufbau nicht vorausgesetzt. Eine Prozedur kann eine andere voraussetzen, etwa die Koordination, wir sprechen von einer Prozedur zweiter Stufe. Bestimmte Mittel können ihren inhärenten Zweck nur kombinatorisch erreichen, ihre Funktion ist prinzipiell eine syntaktische, dies gilt für die operativen Mittel wie das Determinativ, aber etwa auch für die expressive Exklamativintonation. Die Basis der Äußerungskombinatorik bilden das Feld der symbolischen Ausdrücke aus Substantiv-, Verb-, Adjektivstämmen, das sich mit operativen Mitteln (Numerus, Verbmodus, lineare Abfolge etc.) verbindet, und das Zeigfeld. Die Synergie kann indiziert werden durch morphologische Prozesse, Position in der linearen Abfolge (z.B. Adjazenz: a wird unmittelbar vor b realisiert), eine gemeinsame Intonation, einen verknüpfenden Ausdruck (Konjunktor). Das Wort als Form zeichnet sich durch eine Doppelfunktionalität aus. Zum einen hat es eine inhärente Funktion im Verständigungshandeln, zum anderen eine kombinatorische Funktionalität für Äußerungszusammenhänge. Die inhärente Funktion geht aus vom Stamm und verbindet sich mit weiteren Formelementen. Sie bestimmt die kombinatorische Funktionalität mit. Inhärent ist etwa die Funktion als Zeigwort oder als symbolischer Ausdruck. Das Wort erfüllt zugleich in der Kombination mit anderen oder nur durch das Vorkommen in einer Äußerung einen spezifischen Zweck, der erst in der Wissenverarbeitung manifest wird.6 In flektierenden (Affixe eng anbindenden, oft verschmelzenden) oder agglutinierenden (suffixisolierenden) Sprachen ist Bi- oder Multiprozeduralität aufgrund der Kombination von Formeinheiten typisch für das Symbolfeld. Eine solche Kombination - etwa die Anfügung eines Imperativ- oder Vokativmorphems an einen Symbolfeldausdruck - kann mit Ehlich (1999:63) als „Applikation"7 bezeichnet werden. Die Applikation ist ein formaler Anschluss eines dazu ausgebildeten (meist gebunden, manchmal auch frei vorkommenden) Morphems an ein Stammmorphem. Sie erzeugt eine feste, multiprozedurale Einheit, die kommunikativ verwendbar ist. Ein Lexem ist in flektierenden bzw. agglutinierenden Sprachen nur in einer seiner Wortformen zu gebrauchen. In einer „Koppelung" (Redder 1990; Rehbein 1995) werden die Elemente „amalgamiert", so dass eine einheitliche prozedurale Kategorisierung erfolgt. Das Wort geht in seinem prozeduralen Gehalt in die Kombinatorik ein, nicht in seiner Oberflächenform als Graphemkette oder Lautgestalt, die wir hier - wie in der Grammatik üblich - stellvertretend notieren. Ob Kombinationen in der Domäne Wort mit entsprechenden Kombinationen in der Domäne Satz identisch sind, bleibt zu untersuchen. 6 7
Zur Typologie des Wortkonzeptes Dixon&Aikhenvald 2002 .Applikation' ist auch ein Terminus in der Kategorialgrammatik (Formationsregeln als Regeln funktionaler Applikation), analog in der applikativ-generativen Sprachtheorie von Schaumjan, oder als Bezeichnung einer Verbflexion, die eine spezifische Tiefen-Objektrolle markiert (so in Bantusprachen).
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Oberhalb der Feldebene werden Wörter nach Wortarten unterschieden, wobei entweder eine der Funktionalitäten oder formale Eigenschaften kriteriell werden; es kann aber auch ein Bündel funktionaler, kombinatorischer und morphologischer Merkmale herangezogen werden (vgl. Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997: 2168). Dass Symbolfeldausdrücke syntaktisch bereits so stark auf Gegenstandsart, Prozess, Eigenschaft vorgeprägt sind, dass sie vorab als Substantiv, Verb, Adjektiv klassifiziert werden können, gilt nicht für alle Sprachen. Nicht überall gibt es, was wir als Adjektiv bezeichnen; Eigenschaften können z.B. auch durch Verben, die dann kategorial nicht nur dynamisch konzeptualisiert sind, ausgedrückt werden. Symbolische Basis und kombinatorische Entfaltung sind an einigen nordamerikanischen Sprachen gut zu sehen: (1) inikw'fire, burn' [Nootka] w inik -ihl 'fire in the house, burn in the house' inikw-ihl-minih 'fires in the house, burn plurally in the house' inikw-ihl-minih-?is 'little fires in the house, burn plurally slightly in the house' (Sapir 1921, adaptiert von Mithun 1999:60) Die Äußerungsrolle eines Symbolfeldausdrucks ergibt sich hier erst in seinem Gebrauchszusammenhang. Der Symbolfeldausdruck ist in einem Wissensnetz verankert, so dass ein Begriff seinen Gegenbegriff, Oberbegriff, Unterbegriff, Nachbarbegriff mit aufruft. Blume evoziert, was es an typischen Blumen in der Sprache gibt (Rose, Nelke, Tulpe etc.), kategorisiert sich in das Feld der Pflanzen, steht für Übertragungen bereit (von der Blume des Weins bis zur Blume des Bösen).
Syntaktische Prozeduren können mehrfach angewendet oder als Batterie hintereinandergeschaltet eingesetzt werden.8 Der Mehrfachanwendung entspricht, was formale Ansätze als 'Rekursion' im Rahmen eines Algorithmus bzw. eines Erzeugungssystems beschreiben, wobei es dort vom Verfahren her gesehen keine Grenze gibt; aus funktionaler Sicht kommt das Verfahren zu einem Ende, wenn der Zweck erfüllt ist. Funktionen erhalten im Rahmen des materiellen Potenzials eines Mediums ihre Formen. Die elementare Konstitution liegt faktischer Kommunikation voraus. Sie kann nur gelingen, wenn andere (sprachliche, nichtsprachliche) Mittel den Übergang zu einer Gebrauchsgeschichte nachvollziehbar machen, die im Sprachwissen einer Gruppe verankert wird. Eine Konstitution bezeichnet die Verankerung einer Form-Funktions-Einheit im Gebrauchsrepertoire und Sprachwissen einer Sprachgemeinschaft. Wenn etwas (gemäß phonologischphonotaktischen Bedingungen) als Ausdruckssubstrat in einer Sprache L gelten kann, so ist ihm z.B. recht flexibel eine Funktion als Eigenname zuzuweisen und damit eine Gebrauchsgeschichte zu etablieren, die im Fall von Flur-, Orts8
Ehlich&Rehbein 1977 beschreiben „Batterien sprachlicher Handlungen", die eine Sequenzposition repetitiv besetzen.
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Ludger Hoffmann
und Gewässernamen sehr lang werden, sogar über die Geschichte von L hinausreichen kann. Die elementare Konstitution ist für die Ausdruckssubstrate einer Sprache L definiert und ordnet ihnen eine Funktion zu. Eine Konstitution der ersten Stufe ist das, was z.B. hier zur Form einer lokaldeiktischen Prozedur im Nahbereich qualifiziert. Konstitution begründet Gebrauch und wird durch ihn verfestigt. Die Gebrauchsgeschichte mit veränderlichen Bedürfnissen und einem dynamischen Sprachsystem führt zu Formenwandel oder Funktionswandel. Der Funktionswandel setzt allerdings oft die genuine Funktion als Stammfunktion nicht ganz außer Kraft. Auch die Form hat eine spezifisches Beharrungsvermögen und wird öfter mit einer anderen Funktion verbunden als ganz aufgegeben. Was geäußert wird, ist komplex und kombiniert oder modifiziert Mittel, um spezifische kommunikative Zwecke zu erreichen. Komplex sind bereits die elementaren Formen (Ausdruckssubstrat + Tonalität), die Verbindung bringt die Abfolge als Mittel ins Spiel, die in ihrer Funktionalität die mentale Verarbeitung unterstützen kann. Serialisierung und Intonation sind koprozedural, sie werden stets gemeinsam mit anderen Prozeduren des Ausdrucks realisiert und nutzen sie als Substrat. Sie arbeiten nicht kompositional, sondern holistisch. Ihre Charakteristik ergibt sich in der Regel nicht als eineindeutige Zuordnung einer Position oder Folge oder Tonkontur zu einer Funktion, sondern aus dem Zusammenspiel mit anderen Mitteln. In Interaktion mit Ausdrücken gehen sie ein in den Funktionskomplex der Gewichtung (4.2.), mit dem die Äußerung eine Vordergrund-HintergrundStruktur erhält. Funktionsübergänge können als Konstitution zweiter Stufe begriffen werden. Eine „Feldtransposition" hin zu einer „para-deiktischen/operativen... Prozedur" (Ehlich) kann mit dem Wechsel der kombinatorischen Möglichkeiten (Wortarttransposition/Konversion) und dem Erhalt der genuinen Funktionalität verbunden sein: Feldtransposition: gleich [Symbolfeld/symbol. Prozedur] => gleich [Zeigfeld/paradeiktische Prozedur] Eine syntaktische Konversion liegt vor, wenn ein Funktionsübergang im Rahmen der Kombinatorik einer Äußerung erfordert ist. So kann ein (erweitertes) Prädikat die Prädikation und das Gegenstück zur Subjektion konstituieren, eine propositionale Einheit nicht nur die Satzbasis bilden (Wer zahlt?), sondern auch der Gegenstandskonstitution (Wer zahlt, bestimmt die Musik) dienen etc. Dies ist so zu notieren: wie in CProposition, &rädi/fetion>.9 Die syntaktischen Prozeduren, die im Folgenden dargestellt werden, sind auf der 9
In Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997: 994ff. ist dies als „Umkategorisierong" beschrieben.
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obersten Ebene nach der Art ihrer Verbindungsleistung klassifiziert und nach ihrer spezifischen Funktionalität subklassifiziert. Zentral sind integrative Prozeduren als Verbindungen, bei denen ein Mittel die Funktionalität des anderen unterstützt (z.B. Determination), und synthetische Prozeduren, mit denen funktional unterschiedlich gerichtete Mittel in einer höherstufigen Funktionseinheit (z.B. Proposition als Verbindung von Subjektion und Prädikation) aufgehen. 3.2. Integration Eine grundlegende Prozedur des syntaktisch funktionalen Aufbaus von Äußerungen ist die Integration. Sprachmittel verbinden sich zu einer Funktionseinheit, in der die Funktion des einen auf die Funktion des anderen Mittels hingeordnet ist und diese Funktion unterstützt, ausbaut oder ausdifferenziert. In der Integration erscheint eine Funktion auf mehrere Träger verteilt. Sie lässt einen bzw. den ursprünglichen Träger prägend bleiben. Die Funktion des Ganzen ergibt sich aus der dominant gesetzten Funktion eines Teils, der Basis der Konstruktion. In Phrasen ist es der Kopf, der die Funktion der ganzen Einheit prägt und die Basis bildet. Es kann auch eine Proposition als Basis integrativ erweitert werden. Die Funktion des integrierten Mittels besteht darin, in der Funktion der Einheit aufzugehen und das Gemeinte zu konturieren oder adressatenspezifisch zugänglicher zu machen. Die Sprachen haben Mittel ausgebildet, deren primärer Zweck die Integration ist, etwa die Wortarten Adjektiv, Determinativ, Adverb. Andere haben ihren Zweck in der Realisierung eines Kopfes, etwa das Substantiv, das Verb oder die Adposition. Der Kopf als funktionale Basis der Phrase muss verbalisiert - oder wenigstens im Gehalt mental präsent sein -, wenn die Funktion der Einheit realisiert werden soll. Mit dem Kopf allein ist der Zweck der Funktionseinheit oft nicht zu erreichen. So kann die Hintereinander- oder Parallelschaltung integrativer Prozeduren erforderlich sein. Häufig verbinden sich Prozeduren desselben Felds, etwa symbolische zu einer Nominalphrase (kleine+Haie). Es können aber auch Prozeduren anderer Funktionalität kollaborativ integriert werden (der+ Mann+da). Phrasen enthalten Integrate, sie sind weiter auszubauen durch funktional anders gerichtete Installationen, insbesondere in der Form von Implementierungen (3.5.). Implementierte Ausdrücke teilen formale Kennzeichen der Integrate, können aber eigene haben (intonatorische Dissoziation in der Phrase, verzögerte, ausgelagerte Realisierung etc.).
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Ludger Hoffmann
Phrase Funktionseinheit C
K°pf
3
ii
Integrate
1
Phrase
—
Installierte Funktionseinheiten
η y ' ï ι Τ 1 :
Çjjewinner^
i
der 13. Hockey-WM der
]\ \ \
ermittelt am ersten März
Für Phrasen als Formeinheiten gelten sprachspezifische Bedingungen wie • die Adjazenz der Ausdrücke als Nacheinander in Realisierung und Wissensprozessierung; im Deutschen besteht - von Verbalphrasen/Verbgruppen10 abgesehen - die Möglichkeit gemeinsamen Erscheinens im Vorfeld, vor dem flektierten Verb; allerdings können dort auch Teile einer Phrase erscheinen (von der Wurst kaufte er 200 Gramm) • Zusammenschluss unter einer intonatorischen Kontur mit Hauptakzent, evtl. Grenzpausen • die formale Abstimmung des Integrate (z.B. Genus (gen), Numerus (num), Kasus (kas)) in integratmarkierenden Sprachen11 mit dem Kopf (Rektion, Kongruenz) oder mit einem anderen Intégrât (z.B. Festlegung der Flexionsklasse (flex) des Adjektivs durch das Determinativ im Deutschen oder Isländischen): 10
In Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997 ist das, was hier Verbalphrase heißt, als (einstellige) Verbgruppe des Typs V I bezeichnet, zu den Gründen ebd.: 84.
11
Zur Unterscheidung „head-marking" vs. „dependent-marking language": Niçois 1986. Die dichotomische Konzeption solcher Parameter in der Chomsky-Syntax erscheint sehr vereinfacht.
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
gen, num, kas
(2)
Γ der
~
Τ schön-e
Ball
ιI flex: schwach 4|
Im Deutschen regiert das Genus des Substantivs die Wahl der Genuskategorie von Adjektiv und Artikel, der Kasus wird als (im Satzrahmen zugewiesener) Kasus der gesamten Phrase (über den Kopf) weitergegeben, während für den Numerus eine funktional/semantisch begründete Abstimmung erfolgt. Im Schwedischen wird mit einem Adjektiv neben dem nominalen Artikelsuffix ein Integratartikel realisiert: det röda hu-s e t 'das rote Haus+def.artsuffix'.
• die formale Anpassung des Kopfes in kopfmarkierenden Sprachen:
Γ (3)
Zhon Zhon
poss
ì
kitab-é Buch-Possessor
(Farsi, η. Payne 1997:31) 'Zohns Buch'
Es gibt kompositionale wie holistische Formen der Integration. Für die Phrasen im Deutschen gibt Tabelle 1 (unten) eine Übersicht. Es folgt ein Beispiel, in dem die formale Seite der Integration wie die korrespondierende Wissensverarbeitung angedeutet ist:
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Ludger Hoffmann
Tonmuster (Fo)
Realisierungsabfolge 1
3
' K
gen, num, kas
¥
(4) das operative Prozedur χ ist in Π η zugänglich
dunkle synéoûscfie !Prozedur Eigenschaft (χ): Quel·®: Farbe -> entspr. Brauweise
flex bayerische symßoL Prozedur Eigenschaft (x): Provenienz: Bayern
x:
Substanzquantum Β gemäß Π
Integration
Integration
Integration
Das im Wissen Π zugängliche Quantum Bier als Element der Realität P, für das gilt: es stammt aus Bayern und ist aufgrund der Brauweise dunkel gefärbt.
Je nach Funktionsbereich sind spezifische Arten der Integration zu unterscheiden. Differenzierte Aufgaben wie Prädikation - Charakterisieren szenischer Dynamik - und Einführen neuer Redegegenstände sind auf Integrationen angewiesen. Dabei kann im Blick auf die Verfahren die semantisch wichtige Unterscheidung zwischen „essentiellem" und „referentiellem" Gebrauch (Donellan 1966) zunächst vernachlässigt werden: Bei essentiellem Gebrauch wird ein Gegenstand nur gesetzt, „entworfen", bei referentiellem Gebrauch wird mit dem Ausdruck auf einen Gegenstand der Welt, ein Ding im P-Bereich, mit seinen realen Eigenschaften Bezug genommen, wobei Fehlbezüge möglich sind (z.B. wenn im Jahr 2001 vom deutschen Bundeskanzler Kohl die Rede wäre, würde die gemeinte Person verfehlt).12
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
Intégrât (einfach)
Intégrât (komplex)
—
-
N= sonst. Substantiv (*EN)
Adj, Det, Ν
ADJP, DP, NP, PP,S
Adjektivphrase (ADJP)/Adkopulaphrase (ADKP)
Adj/Adk
Adj, Adv, Inp
ADJP, ADVP
Determinativphrase (DP)
Det
Prä-Det
--
--
AdverbPhrase (ADVP)
Adv
Adj, Adv, Inp
FP
--
Protermphrase (PROP) I
Proterm (= Anapher/ Persondeixis)
Protermphrase (PROP) II
Proterm Anapher/ Persondeixis)
(Quasi-) Deixis
PP,S
Adjunktorphrase (AJKP)
Ajk
Adj, Adv, N, Anapher, Deixis
ADJP, ADVP, NP, PP, PROP
Präpositionalphrase (PP)
Präp
Anapher, Deixis, Ν
ADVP, NP
Verbalphrase (VP) (Verbgruppe VI)
VV
Adv
ADVP, NP, PP,S
Verbalkomplex (VK)
Vflek
V, Adj, Adv, Präp, Sub
V (V(V(V))), PP
Elemente Phrasentyp
Kopf
Nominalphrase (NP) I
N= Eigenname (EN)
Nominalphrase (NP) II
Installât (einf./kompl.) Adj, ADJP, NP, PP,S Adj, ADJP, NP, PP,S
PP,S
—
PP,S
--
--
Tabelle 1: Wortgruppen und Phrasen des Deutschen im Überblick Adj= Adjektiv (schön), Ajk= Adjunktor (als. wie), Adv= Adverb (gern), Adk= Adkopula (pleite, schuld), Det= Determinativ (der, ein, mein, dieser), Inp= Intensitätspartikel (sehr, total), N= Nomen: Substantive einschl. Nominalisierungen (Haus, Singen, Angestellte), Prä-Det= Prädeterminativ (all), S= Satz, V= Verb (geh-, mög-), Vflek= flektiertes (finîtes) Verb (geh-st, wart-e), VV= Vollverb (lieben, vertrauen, schlafen)
12
Dazu eingehender: Strecker in Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997: 764ff.
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Ludger Hoffmann
Der Kopf bezeichnet die sprachliche Markierungsgrenze, der oft auch eine Grenze des Gewussten entspricht. Jedenfalls muss das nominale Prädikat so gewählt sein, dass der Weg zum Gegenstand nicht zu weit ist. Eine symbolische Basisprozedur setzt an bei einer allgemeinen Kategorisierung, die im Sprachwissen verankert ist. Gegenstände werden uns zugänglich durch das, was sie mit anderen gemeinsam haben, mit denen sie unter ein und dasselbe Prädikat fallen. Sie können prädikativ ohne Existenzbasis entworfen werden. Dazu stehen passende Konzepte natürlicher oder künstlicher Arten bereit, versprachlicht als Substantive; in ihnen hat die Sprache ihre bevorzugte Zugangsweise ausgeprägt, in ihnen ist Sprachwissen über mögliche Redegegenstände angelegt. Dies Wissen erlaubt Metaphorik, die Übertragung auf andere Gegenstandsbereiche in aktiver Wissensverarbeitung. Das Ergebnis kann wiederum fest (geronnene Metapher) oder auch weiter übertragen werden. Es sind die Basisausdrücke (i.S. der Prototypensemantik) des Symbolfelds, die primär verwendet werden: Kind, Löwe, Rose, Mercedes, PC etc. Sie bilden eine breite Schicht im Symbolfeld, beherrscht von nahezu allen Sprachmächtigen. Ihr Fundament sind „sortale" (Strawson) Prädikate, mit denen Gegenstände hinsichtlich längerfristiger Eigenschaften zu erfassen sind. Dabei ist wichtig der Raum, den sie in Folgen von Zeitintervallen besetzen, der sie von anderen als diskret abhebt und zugleich zählbar macht. Temporal beschränkte Eigenschaften nutzen Substantive wie Examenskandidatin, Ankömmling, Passant, Leserin. Länger- oder kürzerfristige
Eigenschaften, wie sie Adjektive verbalisieren, können die Gegenstandskonstitution im Verbund mit einem Basisnomen unterstützen (vgl. 3.2.2.: Restriktion). Eine Hilfe anderer Art bietet die gegenstandsbezogene Determination: sie adressiert hörerseitiges Gegenstandswissen, dessen Zusammenspiel mit der Charakteristik das Aufsuchen oder Konstituieren des Gegenstands befördert (vgl. 3.2.3.). Nur Eigennamen, persondeiktische Ausdrücke und Anaphern erlauben einzügige Gegenstandsidentifikation. Die Versprachlichung komplexer Ereignisse oder Szenen erfordert ausgebaute Prädikationen, um die Mitspieler einzubeziehen und mit dem Subjekt als Ausgangspunkt der Betrachtung zu verknüpfen. Dazu wird die minimale Prädikation des Vollverbs schrittweise expliziert (vgl. 3.2.1.) Die Notation hält fest, dass die Gruppe Funktionalität und Kategorisierung vom Kopf Basis bezieht und Formänderungen (A\ B') ausgelöst werden können. Durch Integration kann eine Phrase (X'= XP) gebildet werden.
Integration:
INT: A y , B x -> [A'Y B'x]x.
Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
3.2.1.
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Explikation
Mit der Explikation als Typ der Integration wird die genuine Funktion eines sprachlichen Mittels kombinatorisch und inkrementell entfaltet, so dass ein Aggregat entsteht, das ein komplexes Gemeintes erfassen lässt. Ein solches Aggregat verfügt über ein Zentrum, aber auch über eigenständige, mit dem Zentrum verbundene, zusammenwirkende Teile. Typische Anwendungsfalle sind die Ausdrücke der Prädikation und der Proposition. Im Fall von Verben wie rascheln, regnen, schlafen kann ein Ereignis mit einer Prädikation bereits komplett in einem Zug erfasst werden; die Prädikation wird mit einem (z.T. bloß formalen, nicht auf einen konkreten Gegenstand bezogenen) Subjekt synthetisch verbunden (es regnet, Paula schläft), es wird der Stamm verändert (kam), ihnen eine Flexionsendung appliziert (schlaf-e, wein-st, lach-t-en) oder sie werden mit einem Hilfs- oder Modalverb verbunden (hat ge-lach-t, konnte lachen). So entsteht im Deutschen der Ausdruck einer minimalen Prädikation13. Die meisten Konstellationen und Abläufe sind komplex zu konzeptualisieren und zu versprachlichen durch die Integration von Ausdrücken bzw. Phrasen in einen verbalen Prädikatsausdruck (entdeckend-ein Elementarteilchen, sorgfältig+arbeiten), in vielen Sprachen auch in einen nominalen (altgriech. ergon oneidos .Arbeit (ist) Schande). Wie andere syntaktische Prozeduren erlaubt die Explikation eine weitere Ausdifferenzierung. Sofern ein Argument eingebaut wird, also das Intégrât eine eigenständige, abgeschlossene Funktionalität aufweist, einen Gegenstandsbezug, auf dessen Basis Mitspieler/Partizipanten der Konstellation bzw. des Ablaufs eingebracht werden, sprechen wir von Kollusion bzw. kollusiver Explikation. Beispiele: jemandem+vertrauen; über etwas+berichten; einen Brief+zerreißen. Funktional nicht eigenständige, nur integrativ zu nutzende Einheiten, die auf Prädikationen mit Kolludenten/Mitspielern oder Propositionen operieren, realisieren den Subtyp der Spezifikation/spezifizierenden Explikation. Beispiele sind schnelle fahren, gewählte sprechen, gern+[Briefe schreiben]; heute·*· [Fußball spielen]. Eine Kollustration entfaltet eine bestimmte Dimension eines Charakteristikums durch weitere, perspektivreichere Ausleuchtung, so beim Ausbau zum Verbalkomplex: will+gewinnen, wird+verlieren. Die Ausleuchtung kann z.B. einen größeren Abschnitt des Gesamtprozesses, ein Vorstadium (Bedürfnisabfrage, Prüfung des Könnens und des geforderten, Entschlussbildung), die Erstreckung oder das Ergebnis des Handelns umfassen (Ziehharmonikaeffekt). Prädikationen realisieren ein Charakteristikum, das einen Gegenstand zum Ausgangspunkt, Fixpunkt einer prä-/postprozessualen Konstellation oder eines 13
Strecker unterscheidet in Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997: 667ff. „minimales" und „maximales" (alle Argumente außer dem Subjektargument einschließendes) Prädikat" (= Prädikation).
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Ludger Hoffmann
Ereignisses macht; sie basieren auf dem Sprachwissen, dem dort bereit stehenden Repertoire an generellen Konzepten zum Erfassen der Welt. Prädikationen konstituieren in synthetischer Verbindung mit einer Subjektion Gedanken; sie können aber auch in funktionaler Verschiebung (Vergegenständlichung einer Handlung etc.) ihrerseits eine Gegenstandsposition besetzen (als Subjekt oder integriertes Komplement). Gedanken sind gegliederte Einheiten, ihr Ausdruck ist komponiert. Durch eine Explikation des mit dem Verb gegebenen elementaren Charakteristikums wird eine komplexe Prädikation aufgebaut, es entsteht in der Form eine Verbalphrase. Da solche szenischen Konstellationen rekurrent versprachlicht werden, sind die Ausbaumöglichkeiten eines Verbs grammatikalisiert, dies aber unterschiedlich strikt. Das ist der Kern der insbesondere auf Tesnière zurückgehenden Valenztheorie, die in viele grammatische Ansätze eingegangen ist und eine eigene Tradition ausgebildet hat. Sie ist eine Theorie des Satzaufbaus, in der dem Subjekt keine Sonderstellung zugewiesen ist und analog zur Prädikatenlogik alle Argumente als gleichrangig gelten. Die Fragen nach obligatorischem Ausbau und nach der Bestimmung und Unterscheidung von obligatorischen bzw. fakultativen Ergänzungen/Komplementen versus Angaben/Supplementen werden bis heute kontrovers diskutiert, ebenso der Status der Valenzbeziehung selbst, in der Verschiedenes zusammenfällt (Jacobs 1994). Eine kontextfreie Valenzbestimmung ist nicht möglich. Lexikographisch ist die Angabe der Verbkomplemente allerdings erwünscht. Was wirklich obligatorisch ist, ist Teil einer Fügung. Vor allem aber sind Valenzbeziehungen bilateral zu betrachten. Die konkrete Auswahl eines Komplements hängt von der zu verbalisierenden Szene und von Parametern des aktuellen Sprecher-/Hörerwissens ab. Wie dies zu modellieren ist, hat Storrer (1992, 1996) überzeugend vorgefühlt: Die Verbalisierung einer Situation erfolgt im ersten Schritt über die Auswahl von Situationsrollen (Filter wie: Ist die Rollenbelegung den Rezipienten bekannt? Ist sie relevant? Ist sie durch „Gesetzeswissen" vorhersagbar? etc.). Im zweiten Schritt wird dann ein geeignetes Verb gewählt, dessen „Perspektive" gemäß der Konzeptualisierung „fixiert" ist. Ereignisse Verlagen dynamische Perspektivierung, wie sie Verben bieten; statische Konstellationen können auch nominal - Nominal-/Adjektivphrase (+Kopulaverb) - gefasst werden. Die Verbbedeutung beinhaltet schon für sich mindestens im Ansatz die symbolisch-begriffliche Repräsentanz eines prozessualen Moments, so wie sie im Sprachwissen für diesen Zweck ausgeprägt ist. Mit dem Verb ist bereits die erste Explikation einer Szene als Prozess oder Moment eines Prozesses gegeben, zugleich aber kommt die sprachliche Vorprägung ins Spiel, nämlich wie mit diesem Verb und im Verbverbund was zu prädizieren ist. Dies kann nicht je neu konstituiert werden, die Bindung ans gemeinschaftliche sprachliche Wissen garantiert erst die Möglichkeit einer Verifikation an der Welt des Faktischen (P). Ein Ausbau ist also weniger unter
Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
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dem Aspekt grammatischer Notwendigkeit - was muss realisiert werden/darf nicht fehlen, soll der Satz wohlgeformt sein -, sondern vielmehr im Blick auf die Erfordernisse kommunikativer Zwecke zu sehen. Diese Zwecke haben sich schon in spezifischen prädikativen Kombinationen niedergeschlagen (wie sie Valenzwörterbücher zu fassen und lernbar zu machen suchen). (5) So nahm er dem Prozeß die Spannung. Er hörte sitzend zu, sagte stehend: Ich beschloß, kaufte, übte, fuhr, wartete, fand, trat ein, saß, schoß fünfmal. (G. Grass, Im Krebsgang, 47) Etwas wird zweckgemäß versprachlicht, geleitet durch die positiven Möglichkeiten des Aufbaus einer Prädikation, die die relevanten Momente, die Scheitelpunkte eines Ereignisses oder Zustande zu erfassen gestattet. Wird ein Ereignis oder Zustand versprachlicht, so werden einzelne Momente dieser Totalität abstrahiert, in salienten Eigenschaften charakterisiert, in einen Zusammenhang mit anderen gestellt und situiert. Hier liegt der Unterschied sprachlicher Gliederung in Propositionen zu Bildern. Eine Szene, ein Ereignis wird so ausgehend vom Subjekt als Gegenstand, von dem etwas - mit Weltbezug oder im Entwurf gesagt wird, entfaltet durch die Angabe der Mitspieler/Partizipanten, auf die es ankommt, und in einem Rahmen, der eine sprachspezifische Vorstellung auszubilden erlaubt. Dabei kommen dann Verbbedeutung, das mit dem Verb gegebene Charakteristikum, und die Bedeutung der Integrate zusammen zur funktionalen Einheit der Prädikation. Der integrative Prozess ist erst mit der Bildung dieser Einheit abgeschlossen. Bereits entworfene Gegenstände werden integrativ einer weiteren Wissensbearbeitung unterzogen: 'Käse* als Handelsgut, als Produkt, als Gegenstand der Lebensmittelchemie oder der Ernährungskunde, als Abschluss eines guten Essens oder als etwas, was man auf der Zunge schmeckt - das sind unterschiedliche kombinatorische Verarbeitungsergebnisse im Wissen. Die Integration expliziert in den folgenden Beispielen durch die Wahl eines Komplements jeweils ein anderes Ereignis, sie gibt der Grundbedeutung von schneiden 'vollständiges oder partielles Auflösen der Einheit eines Gegenstands mit einem zu gerader Auftrennung geeigneten Instrument oder Verfahren' einen jeweils etwas anderen Sinn: (6) Sie schneidet die Haare. (> Die Haare sind gekürzt.) (7) Sie schneidet den Käse. (> Der Käse wird in Scheiben/Würfel zerlegt.) (8) Sie schneidet die Salami. (> Die Wurst ist zerteilt.) (9) Sie schneidet die Kurve. (> Der Weg durch die Kurve wird verkürzt.) (10) Sie schneidet Gregor. (> Gregor wird nicht beachtet.) Haare, Rasenhalme oder Zweige haben eine Dimension, auf die sich die Auflösung erstrecken kann. Fraglicher - weil untypischer - ist dies für Kräne, Klaviere, Bücher, Autos, Wassertropfen. Die Übertragung in (10) bezieht sich auf die
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Ludger Hoffmann
Auflösung einer gemeinsamen Praxis, indem getrennte Handlungslinien verfolgt werden. Die Explikation eines Sachverhalts ist bestimmt durch den Verbund von Verb- und Objektkonzepten, die integrierten Objekte mit ihren Eigenschaften (Oberfläche, Gestalt, Konsistenz etc.). Das Sprachwissen legt das Potenzial des Sagbaren fest und prägt den Zugriff auf die Dinge. Es sind die repetitiven Handlungen und Ereignisse, die in spezifischer Weise abstrahiert und einzelsprachlich ausgeprägt sind bis hin zu festen Fügungen. Sie können in der Verbalisierung (als „Rekurssituationen" i.S. von Storrer 1982) umgesetzt werden. Das sprachliche Netz hat Fixpunkte nur bei den Eigennamen für häufig wiederkehrende Gegenstände, ansonsten greift es über Prädikate und damit generalisierend zu, bedarf also jeweils im Äußerungszusammenhang und im symbolischen Umfeld eingrenzender Anwendung auf den Bereich des möglichen Gemeinten; die Unspezifik des prädikativen Netzes, seine Lücken bei fehlenden Basissubstantiven erfordern Inferenzen, „Apperzeption" (Bühler), konstruktiven Nachvollzug des Gesagten. Andererseits braucht es genau diese Sprachstruktur, um Neues, Künftiges, Fiktives vermitteln und verstehen zu können. Der Grundbestand dessen, was expliziert werden kann, ist im Situationsbezug des verbalen Rahmens angelegt und wird bei einem Verbgebrauch mitgedacht, auch wo er nicht versprachlicht ist. Der harte Kern an Explikaten wird versprachlicht, um die situativen Mitspieler einzubeziehen, sofern sie nicht schon im aktuellen Wissen präsent sind. Dies wird in der Valenzforschung als „Weglasstest" genutzt: (11) Paula besucht Peter/die Schule/mich - ?Paula besucht. (12) Der Kandidat wohnt in Berlin - ?Der Kandidat wohnt. Das sprachliche Wissen lässt Folgerungen auf die mit einem Prädikat aufgerufenen Szenen zu und weckt spezifische Erwartungen, auch wo Standardelemente nicht verbalisiert sind. Größere Verbnähe oder Zentralität in der zu versprachlichenden Szene wird in der Grammatikforschung als Komplement/Ergänzung des Verbs konzeptualisiert; was über die Subklasse des Verbs hinaus zur Explikation vieler/der meisten Prädikate einzusetzen ist, gilt als Supplement/freie Angabe.14 Will man über den Weglasstest hinaus entscheiden, was zum engeren explikativen Verbund gehört und Komplement ist, kann man sich fragen, ob der Komplementkandidat auch dann mitverstanden wird, wenn er nicht versprachlicht wurde (= Folgerungstest; vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997:1046ff.); die Verbszene besteht aus der minimalen Prädikation und ihren Partizipanten: (13) Hans isst => Hans isst [etwas>kk]. (14) Hans schenkt ein Buch => Hans schenkt [jemandemdtt]. ein Buch. 14
Einzelheiten und Klärungsversuche bietet Zifonun in Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997: 1028ff. Für einen lexikographischen Zugang vgl. das Valenzwörterbuch von Schumacher 1986.
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
(15) Hans fáhrt morgen => Hans fáhrt morgen [irgendwohinAdv]. Unser Wissen enthält: was als essbar in Frage kommt, seien es Kartoffeln oder Heuschrecken; wem etwas geschenkt zu werden pflegt (handlungsfähigen Personen) oder wohin man fahren kann (was mit Fahrzeugen erreichbar ist). Der Dativus (in)commodi fallt ebenso heraus wie bestimmte Präpositionalphrasen bei Vorgangsverben etc. (16) ?Hans kauft ein Buch Hans kauft [jemandem/für jemand(en)] ein Buch. (17) ?Das Gras wächst => Das Gras wächst [unter der Bedingung B]. Wenn ein Charakteristikum sprachlich ausgebaut wird, um die mit ihm gegebenen Sachverhaltsdimensionen zu entfalten, bedarf es einer Ordnung, die Transparenz gewährleistet. Grammatisch wird diese Ordnung im Deutschen durch Kasus, die Selektion von Prä-/Postpositionen, Nebensatz- und Infinitivkonstruktionen sowie die Stellung hergestellt. Der Kasus wird einer Nominalphrase zugewiesen und im Deutschen am Kopf, ggf. auch an Determinativen und Adjektiven realisiert. In Sprachen wie Somali oder Nubisch erhält die Phrase genau einen Kasusmarkieier in Endposition (Nubisch mug 'Hund* mug-ka 'Hund+akk', ftutg uus-ka 'Hund+böse+akk'15). fem.sg -inf
(18) du kannst
ihr
einl0
Anapher
Thematische JortfiUirunß
/
£
-dat -akk
• Buchl0
schenklen
Í ΈχρύΙςαϋοη: 06je!(t
Γ
TXpRHgtion: p (Subjekt)
Zentrale Explikate
Kasus/Form/ Phrasentyp
Beispiele
Sein (Träger)
Essiv (Eigenschaft/ Ort/ Identität von S)
nom/unflektierte Grundform/AD VP/PP
Bäcker sein, groß sein, dort sein, auf dem Tisch sein, in Hambure leben
Haben (Possessor)
Als separates Objekt gedachter, Ρ zukom- mender Gegenstand (autonom/ Partitiv Teil von RCx.vi
akk
Geld haben. Freunde/ Verwandte haben, eine Idee haben, ein schiefes Maul haben
Werden (Faktitiv/ Patiens)
Resultat (eines Übergangs) + Kausativ /Agens
nom + PP
stark werden durch Rohkost, Arzt werden, von Alf verprügelt werden
Verändern (Agens, Kraft)
Objekt + Instrument akk + PP + + Modus ADJP/ADVP
Erfahren (Experiens)
Objekt + Instrument/ Origo
akk/Satz + PP
etwas mit einem Fernglas sehen, im Bauch fühlen, dass...
Wissen (Cogitans)
Objekt + Quelle
akk/Satz/PP + PP
etwas kennen, von jemand, wissen, dass...
Einsetzen/ Ersetzen (Agens)
Objekt + Substitut + Instrument
akk + PP + PP
Figo durch Zidane ersetzen, Meier durch Beschluss zum Bundesrichter ernennen
Zuwenden (Agens)
Rezipiens + Aktion
dat + PP/IK/S akk + PP
jmd. helfen (bei der Arbeit/etw. zu tun, dass er etwas erreicht); sie bei χ unterstützen
Transferieren (Agens)
Objekt + Rezipiens + Kondition
akk + dat + PP
jemand, etwas fUr 3 Cent verkaufen
Sich von A in Richtung R bewegen (Agens)
Initium (Ausgangspunkt/Jage) + Via (Weg) + Destination (Ziel)
PP + PP + PP
von Bonn über Köln nach Dortmund fahren, vom Baum auf den Boden fallen
Konsumieren (Agens)
Objekt
akk
die Pille nehmen, Wein trinken
Bewerten (Agens)
Objekt + Evaluativ
akk + ADJP/PP/ AJKP
das Bild schön finden, jemanden als Dilettant einschätzen
Entwickeln (Evolvens)
Objekt + Valeur akk + PP/ADVP (Wert) + Parameter + PP
sich im Langlauf um 2 Sek. verbessern
Kooperieren (Agens)
Komitativ + Objekt
PP + akk
mit ihrem Freund ein Buch schreiben
Interagieren (Agens)
Contraagens + Modus + Thema
PP + ADVP/ ADJP + PP
mit jmd. heftig Uber Politik diskutieren
Mitteilen (Agens)
Objekt + Rezipiens
akk/Satz + dat
jmd. etwas .sagen, jmd. vorwerfen, dass...
Bäume ausreißen, Fenster vorsichtig öffnen, Polster mit Messern beschädigen, jmd. ausrauben
Tabelle 2: Ereignis- und Handlungsschemata am Beispiel des Deutschen
42
Ludger Hoffmann
Unterschiedlich große Bezugsbereiche (Skopoi) sind möglich:
i
0-Form
(32) das Paket [sorgfältig [verschnüren]]
i
0-Form
sorgfältig [das Paket verschnüren]
Adverbialia sind nicht ganz frei in Prädikationen einzubauen: (33) Sie besucht ihre Mutter [sorgfáltig/anders/geradeheraus/sehr/teilweise]. Im Fall des Prädikatsaufbaus durch einen Uber dem Prädikat operierenden Spezfikator lässt sich auf die elementare Einheit zurückschließen, weil sie ihren Zweck auch bei geringerer Präzision schon erfüllen kann. Auch verkürzt bleibt es dieselbe Szene mit denselben Mitspielern - es wird aber eben nicht gesagt, was zu sagen ist. Bestimmte Adverbialia beziehen sich nicht nur auf das verbale Prädikat, sondern sind - je nach Skopus - auch auf ein Explikat oder das Subjekt zu beziehen: (34) Sie hat das Essen heiß serviert => a. Sie hat das Essen serviert. => b. Das Essen war heiß. (35) Der Mann betrat durstig die Kneipe => a. Der Mann betrat die Kneipe => b. Der Mann war durstig. Die Folgerung auf einen Parallelsatz mit indefinitem Element macht als prädikatstypische bei Spezifikationen keinen rechten Sinn; alles wird auf eine bestimmte Weise gemacht. Eine spezifizierende Explikation lässt sich stets parenthetisch installieren, und zwar in der Form der Delimitation (intonatorische/interpunktive Abgrenzung und damit separate Verarbeitung (vgl. 3.5.)): (36) Sie hat das Paket - sorgfältig - verschnürt. (37) ??Sie hat - das Paket - sorgfältig verschnürt. (38) Sie hat das Paket - auf dem Postamt - sorgfältig verschnürt. (39) Sie hat - zu schnell - Mannheim verlassen. (40) ??Sie hat zu schnell - Mannheim - verlassen. (41) ??Sie hat lange - in Mannheim - gewohnt.
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
Wann, wo oder warum verkauft wurde, das sind Spezifikationen, die zur Proposition hinzukommen und den Gedanken bzw. die Szene weiter konturieren. So kann ein Charakteristikum oder ein Sachverhaltsentwurf auf einer spezifischen Dimension präzisiert werden, etwa eine Handlung hinsichtlich ihrer Ausführungsweise, ein Sachverhalt hinsichtlich Ort oder Zeit. Viele Funktionseinheiten können durch ein einfaches, phrasales oder satzförmiges Adverbial ausgebaut und damit explikativ spezifiziert18 werden: (42) Sie arbeitet [jetzt/dort/wenn sie will/wo der Pfeffer wächst/wobei sie Tee trinkt...] Eine propositionale Explikation spezifiziert einen Gedanken auf einer Dimension. Sie operiert auf einer Proposition ρ: ρ ist zu situieren am Ort o, im Zeitinvall t, hat die Frequenz f, den Grund g etc. Sie setzt eine Synthese voraus. Zeitexplikationen operieren stets auf den - elementareren - Ortsexplikationen. Frequenzexplikationen können auch über bestimmten Zeitexplikationen operieren (Dreimal machte sie im Herbst Urlaub). Man kann diese Explikationen in einen Obersatz formulieren: (43) Sie schrieb in Hamburg einen Roman => Sie schrieb einen Roman. (44) Es war in Hamburg, wo sie einen Roman schrieb. (45) Es war in Hamburg der Fall, dass sie einen Roman schrieb. (46) Sie arbeitet gern => *Es ist gern, dass sie arbeitet. (47) Gestern regnete es in Kalifornien dreimal.
p4
Den Aufbau, ausgehend vom VollverD ais minimalem Prädikat, bis hin zum maximalen Prädikat und zur erweiterten Proposition können wir wie folgt darstellen: 18
Zu Spezifikationen vgl. auch Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997: Kap.D.
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Ludger Hoffmann
1. lesen "Erwartung: etwas Uesen
gern lesen
minimales Prädikat erweitertes Prädikat 2.2 Partizipant XpCCusion
'·
Romane lesen
tRßcfycACuss
gern [Romane lesen]
nukleares Prädikat 3.
maximales Prädikat , 4.
[sie] [gern Romane lesen]
Subjekt
Syntüese
Proposition 5.
[sie gern Romane lesen] in der Wanne
Spezifikator Spezifikation Ζ (präd.) (pràdiÇationaO
Spezifikator Spezifikation 3 (prop.) (prepositional):
erweiterte Proposition
OH, Zeit, Çrund....
Stufen der Explikation
Ausdrücke mit skalierbarem Bedeutungsgehalt lassen sich hinsichtlich ihrer Intensität spezifizieren; so können Intensitätspartikeln wie sehr, total, ungemein, einigermaßen mit (einigen) Adjektiven, Adkopulae, Adverbien, Verben integrativ verbunden werden. Explikationen dieses Typs sind sehr gemein, total gut, sehr schön, sehr leiden, ganz oft. Wie Adjektive funktionieren Intensitätspartikeln als prädikative Explikationen und operieren auf Symbolfeldausdrücken vom Eigenschaftstyp, nicht auf Substantiven. Auch der Verbalkomplex (das Verbal) - im Deutschen eine Einheit mit einem strukturellen (flektiertes Verb) und einem inhaltlichen Zentrum (Vollverb) - ist als Explikation aufzufassen. Er wird typischerweise gebildet durch die Integration eines Symbolfeldausdrucks in eine flektierte verbale Einheit als Kopf. Dies sind inbesondere die sog. Hilfsverben sein, haben, werden und die Modalverben können, sollen, dürfen, müssen, mögen/möchte, wollen, peripher
Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
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noch {nicht) brauchen. Die infiniten Teile können im Vorfeld erscheinen, dem flektierten Verb vorangehen. Verbalkomplexe sind z.B.: (48) hat gesagt, hat zu warten, wird gespielt haben, kann gestohlen worden sein... Die getrennte Realisierung (ist...gesagt worden) erzeugt die für das Deutsche charakteristische Satzklammer, die eine spezifische Verarbeitung des propositionalen Kerns bedingt. Soweit der Aufbau des Verbalkomplexes prozedural aus symbolischen Kernen zu rekonstruieren ist, bietet sich ein Verständnis als Kombination an, bei der beide Elemente ein starkes Eigengewicht haben. Die Literatur weist deutschen Modalverben oft eine Valenz zu, da sie den reinen Infinitiv (soll reden) oder ein Akkusativkomplement (will [was][von jemandem]) regierten, allerdings sei dies wie im Fall der Hilfsverben nur eine „strukturelle Valenz" (Eroms 2000:145). Redder 1992 analysiert die verschiedenen Typen des Prädikationsausdrucks und nimmt den symbolischen Gehalt der Verben - gerade auch der Hilfsverben - ernst. Sie betrachtet das Finitum als Kopf des Verbalkomplexes, der durch eine „Konstituente in ihrer kategorialen Neutralisationsform" (142) als Komplement erweitert sei. Neutral sei diese Form, da sie als flexionsloses Adjektiv, Substantiv im Nominativ bzw. casus rectus, als 'infinites* verbales Element (Partizip II, Infinitiv) erscheine. Einer Bestimmung als analytische Konstruktion bzw. einer Eingliederung in ein analog zu „synthetischen" Sprachen (wie Latein) angesetztes Tempussystem setzt Redder die Annahme entgegen, das Deutsche basiere die Prädikation ontologisch auf die Systeme SEIN, WERDEN und HABEN und differenziert vier „Prädikationstypen" (mit den traditionell sog. „Vollverben", „Hilfsverben", „Modalverben", „Kopulaverben").19 Damit würden Futur, Passiv etc. als Paradigmenformen für das Deutsche entfallen. Dies schließt an die Auffassung von Grimm u.a., an, das Deutsche verfüge nur über zwei - deiktisch basierte Tempora (Präsens, Präteritum) oder nur eines, wenn das Präsens als Atemporalis gelte. Mit werden z.B. verbinden sich infinitivisch-verbale Ausdrücke wie nominale: (49) Paula wird groß/wachsen/erzogen/Schülerin Die von Redder 1999 für werden aufgewiesene Grundbedeutung eines mental erfassten prozessualen „Qualitätswechsels" - „Umschlagen von Möglichkeit in Wirklichkeit" (304) - für ein symbolisches Charakteristikum geht in die jeweilige Komposition ein; in der Konstruktion mit dem auf eine Zustandsfolge bezogenen (Zifonun 1992) Partizip Π ergibt sich eine Bedeutung, die dem Passiv synthetischer Sprachen nahe kommt und an einem betroffenen Subjekt ein prozessual erreichtes Handlungsresultat (mit/ohne Nennung des Verursachers) verankert. Die Subjekte sind „dem Umschlagen einer Handlungsmöglichkeit in ein Handlungsergebnis ausgesetzt" (Redder 1999:315). Die Basis wird im verbalen Verbund zu einem 19
Zu ähnlichen Ergebnisse kommt Langacker 1991:83ff. im Rahmen der cognitive grammar.
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Ludger Hoffmann
komplexen Prädikat erweitert, die Dynamik des Ereignisses bzw. der Handlung selbst wird von mehreren Seiten her beleuchtet und differenziert erfasst, es handelt sich um eine kollustrative Explikation, eine Entfaltung im Bereich des Prozessualen selbst
Inf
(50) Das wird A
f
Partii
Partii I?
gelungen
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gelobt.
tpCoCCustrative Έρφί.
'KpCCustrative KpCCustrative Έχρί Sußjefäion ι
wurden
Trädi^ation> Sußjefyion «Prädifot,
!Prädi%ation> Sie ist zuständig für Kinder.
3.2.2.1. Restriktion des Gegenstandsbereichs Da Prädikate generell sind, bedarf es der Restriktion, die eine dynamische Wissensverarbeitung auslöst, wie der Determination, die vorhandenes Wissen aktualisiert, um das Gemeinte zu verdeutlichen. Die nominale Restriktion beschränkt den Gegenstandsbereich. Sie unterstützt die Konstitution des Gegenstands, die oft nur mehrzügig möglich ist. Reicht aufgrund der Zugänglichkeit des Gegenstands ein Ausdruck (Anapher, Persondeixis, Eigenname), wird kein restriktiver Ausdruck verwendet. Insbesondere Nominalphrasen enthalten restriktive Erweiterungen. Ein Gegenstand wird im ersten Angang symbolisch schon umrissen, als physischer Gegenstand einer bestimmten Art, Struktur, Gestalt oder als bloßes Konzept - so die symbolische Grundbedeutung von Substantiven. Etwa durch ein Substantiv als Kopf einer Nominalphrase. Das im Substantiv versprachlichte Prädikat leistet bereits die erste und elementare Restriktion der Menge möglicher Gegenstände, die durch andere Ausdrücke in Form eines Ausschlussverfahrens fortgesetzt werden kann, bis im Hörerwissen eine Identifikation oder Konstruktion des gemeinten Gegenstands möglich ist. Man kann
48
Ludger Hoffmann
sich das in logischer Analyse so vorstellen, dass das nominale Prädikat auf einer Variable operiert (Haus (x)) und ein weiteres Prädikat (blau (x)) den Gegenstandsbereich zusätzlich charakterisiert und so einschränkt. Allerdings kennt die natürliche Sprachen keine Variablen, sondern setzt immer schon mit einem Prädikat - also symbolisch, beim Sprachwissen - an, vgl. ein rotes Ding, ein quadratisches Etwas. Semantisch sind sich Explikation und Restriktion als integrative Prozeduren sehr ähnlich, kommunikativ - in der zweckorientierten Prozessierung des Rezipientenwissens - funktionieren sie spiegelverkehrt. Bei der Explikation wird eine Szene, ein Ereignis, eine Konstellation (vor dem inneren Auge der Rezipienten) gegliedert aufgebaut, und an einem zugänglichen Träger (Subjekt, Proposition) festgemacht. Eine Verkaufsszene kann unterschiedlich entwickelt werden (ein Huhn verkaufen, jemandem ein Fahrrad verkaufen, dem Kunden für 30000 Euro eine Spezialanfertigung verkaufen), das verbindende Prädikat bleibt das Verkaufen. Ein Gegenstand wird soweit entworfen, bis er im Wissen aufgefunden oder verortet werden kann in Abgrenzung zu anderen und - im Fall eines faktischen Bezugs - in der Welt wahrzunehmen ist; zusätzliche Prädikate kommen über Installationen ins Spiel (3.5.). Formal wird die Verbindung für diesen Zweck ausgebildeter Wortformen (Adjektive) in der deutschen NP durch Stellung und die Korrespondenz von Genus, Numerus und Kasus gekennzeichnet. Unflektierte (nominativische) Erweiterungsnomina erscheinen adjazent zum zugehörigen Kopf, den sie restringieren. Ansonsten erhalten attributive Nominalphrasen vom Kopf den Genitiv zugewiesen, solche Genitiv-Nominalphrasen sind funktional als restriktiv zu werten. In einer Adjektivphrase (Kopf ist ein Adjektiv) bleibt der Restriktorausdruck unmarkiert bzw. erscheint in der Grundform; in anderen Sprachen werden die Bezüge oft nur durch Serialisierung deutlich (that tough little old fellow).
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
gen nom
nom
ί
akk. se. neutr
(54) Stallmeister Richards sucht für Prinz Philips bestes
ii
k
Τ
%fstril(tion
Hestrìfgion
Pferd
Restriktion
i
0
akk sg mask
ΙΓ^ I
gen
*
einen klassisch gebildeten Studenten der Landwirtschaft. ¡Restriktion \
^ $gstrif$on
Xtstrtftwn 7
Welche Eigenschaft in die Gesamtcharakteristik der Phrase eingeht, kann nicht vorab bzw. kontextunabhängig bestimmt werden (traditionell als genitivus auctoris/definitivus/subjectivus/objectivus etc.), sondern nur aus dem Zusammenspiel von Semantik der Äußerung und Semantik des symbolischen Ausdrucks im Kopf der NP.20 Ein Verbalnomen wie Beschreibung bringt die Möglichkeit der Explikation durch ein Akkusativkomplement (den Täter beschreiben) mit, aber auch die Möglichkeit, es als Prädikation mit einer Subjektion zu kombinieren {der Täter beschreibt), so dass eine synthetische Prozedur zugrunde liegt: (55) Die Beschreibung des Täters war unpräzise.
t
Geh nach Hause! 3.2.3. Determination Die Determination ist wissensbezogen, operiert im Π-Bereich. Sie unterstützt die Verarbeitung des versprachlichten Wissens auf Adressatenseite, indem sie es in vorhandenem Wissen verankert oder ins Wissen einführt. Der Aufwand in der Wissensverarbeitung wird geringer, wenn der Gegenstand oder Sachverhalt bereits mit bestimmten Eigenschaften bekannt ist. Das Gesagte ist mit dem Gewussten abzugleichen und neue Prädikate können das Wissen erweitern, indem im „deklarativen" Teil Gedanken abgelegt und Gegenstände mit zuvor unbekannten Eigenschaften verbunden werden. Oder der Sprecher antizipiert den Aufbau neuer Wissensbestände und lässt den Adressaten nicht erst lange suchen. Schließlich kann verdeutlicht werden, dass und inwiefern Wissen als mit Adressaten oder einem Kollektiv, zu dem Sprecher oder Hörer zu zählen sind, geteilt gilt. Determinative Prozeduren sind Teil der allgemeinen Wissensorganisation, die von einer Äußerung geleistet wird. Grundlegend ist die Dissoziation zu versprachlichenden Wissens in Neues/Novum und Gewusstes/Bekanntes/Notum (vgl. 4.1. zum Funktionskomplex der Wissensorganisation).
Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
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з.2.3.1. Gegenstandsdetermination Zunächst wird der Fall der Gegenstandsdetermination25 behandelt. Am besten erforscht ist der definite Artikel in den Artikelsprachen; universell scheinen genuine Demonstrativa/Deiktika dafür funktionalisiert worden zu sein. Sie bilden den Standardfall, in dem wir uns auf bekannte Gegenstände und Gegenstandsarten beziehen, die als in irgendeiner Form existent unterstellen. Da ist etwas, von dem wir Kenntnis haben und die Kenntnis manifestiert sich darin, dass es Prädikate gibt, mit denen dieses Etwas zu fassen ist. Wir gehen in der Wissensverarbeitung zurück auf den Punkt, an dem das Wissen eingeführt wurde oder als gesellschaftlich Eingeführtes überliefert worden ist. Das kann als phorische Prozedur oder mit dem Terminus Referenz im eigenüichen Sinne erfasst werden.26 Definite Determination ist gewissermaßen komplementär zu den restriktiven Prozeduren. Je zugänglicher der Gegenstand, desto unspezifischer kann die Charakterisierung sein, oft reicht ein Substantiv. Kann die Aufgabe mit Minimalaufwand erfüllt werden, sind die Restriktor-Positionen (im Deutschen vor dem Kopf: Adjektivposition, adjazent: invariantes Nomen; danach: komplexere Nominal- bzw. Präpositionalphrase, Relativsatz) frei für Zusatzprädikationen über den Gegenstand (—» 3.5.). Wird der Zugang deiktisch oder phorisch hergestellt, ist eine Determination nicht möglich, vergegenständlichende, symbolhafte Nominalisierungen ausgenommen (das Ich, das Es). Eigennamen setzen wissensorganisatorisch die Kenntnis der Namensrelation wie die Gegenstandskenntnis schon voraus (vgl. Hoffmann 1999), benötigen also im Prinzip keine eigene Determination mit den dafür ausgeprägten Mitteln der Sprachen. Dem Hörer zugängliche und daher in der Wissensverarbeitung aktualisierbare Gegenstände werden im Deutschen - wie in den sog. Artikelsprachen, zu denen и.a. Latein, Türkisch und die meisten slavischen Sprachen nicht gehören primär mit dem definiten Artikel gekennzeichnet. Mit der Verwendung werden also Identifizierbarkeit und Existenz (Welt, Kenntnis) präsupponiert. Die Basis bilden unterschiedliche Wissensbestände: • länger- oder kurzfristig (in der Aktualitätsspanne) memorierbares, deklaratives Fakten- und Episodenwissen, in dem der Gegenstand G situiert ist: (77) Ein Anruf aus der Hauptstadt Bayerns! (78) Ich hab mir den neuen Grass gekauft. So finden wir umgangssprachlich (ausgehend vom Süddeutschen, wo dies obligatorisch ist) auch bei Vornamen den definiten Artikel. Ferner bei Fluss-, 25 26
Vgl. dazu auch die Beiträge von Ehlich und Kovtun (in diesem Band), die Hebräisch bzw. Ukrainisch und Russisch behandeln. Einen sprachvergleichenden Überblick gibt Himmelmann 2001. Der über das Englische ausgebildete Terminus reference/Referenz wird in der Frege/RussellTradition oft allgemein als Bezugsrelation oder verstanden. Vgl. aber lat. referre 'zurücktragen', widerhallen, wiederherstellen, auf ein X zurückfuhren, (wiederholend) überliefern, berichten, vorbringen, buchen'. Einen guten Überblick gibt Evans 1982.
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Ludger Hoffmann
Berg-, Waldnamen, wohl aufgrund ihrer ursprünglich bedeutsamen kommunikativen Rolle.27 • Sprachwissen über feste Bezeichnungen für Unikate der Realität: (79) Die Sonne scheint. • Sprachwissen über Arten von Gegenständen, das sich erfahrungsabhängig mit Beständen des Weltwissens verbunden hat: (80) Der Löwe lebt in Afrika. • Sprachwissen als begriffliches Wissen über abstrakte Objekte, die im Deutschen gegenständlich konzipiert und damit determinieibar sind (anders z.B. das Englische): (81) Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Liebe ist seltsam. Love ist strange. Im Deutschen kann man Konzept und abstrakten Gegenstand (+/-definiter Artikel) auseinanderhalten, im Englischen nicht. Die Möglichkeit der Abstraktion ist sehr weitgehend ((die) Mode, (die) Industrie, (die) Politik, evtl. auch (die) Welt), ihre Grenzen findet sie in Substantiven wie Problem, Idee, Monat, Tag, Konflikt, ferner im klar prädikativen (nicht identifikativen) Gebrauch; das Englische determiniert hier Konkreta: (82) Er ist Schriftsteller. Er ist der Schriftsteller. He is a poet. • Sprachwissen, gekoppelt an institutionelle Zusammenhänge und Funktionen: (83) Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik. (84) Die Verwaltung liefert die Vorlagen. • Diskurs-ZTextwissen (Diskursgedächtnis, Textgedächtnis): (85) Es meldete sich eine Studentin aus Oxford. Die Studentin wollte... • Perzipierbarkeit in der Sprechsituation als naheliegendes, salientes Ding: (86) ((Einer der Welpen jault)) Was hat der Hund? Wenn in Sprachen der Defaultfall das Reden über bekannte Gegenstände ist, wird die Etablierung des Neuen markiert; so haben manche Sprachen nur einen Indefinitartikel, der meist auf ein älteres Zahlwort (Kardinalzahl Ί ' ) zurückzuführen ist. Der indefinite Artikel markiert im Kern den hörerseitigen Aufbau eines Wissenselements im Rückgriff auf sprachliches, durch Prädikate aktualisiertes Wissen. Dies ist unabhängig davon, ob es real (P) oder dem Sprecher bekannt 27
Dazu und zum Artikelschwund bei Städte- und Ländernamen Wunderlich&Reis 1924:317
(II)
Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
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ist (IIs) (vgl. Kovtun, in diesem Band). Es kann ein Individuum (ein Student aus Rom) oder ein χ der Art A sein, ohne dass alle Individuen der Gattung gemeint sind (ein Löwenmännchen). Generizität ist in den Sprachen kaum eindeutig formal gekennzeichnet. Der generische Gebrauch bezieht sich auf Arten; dies sind keine Mengen, da das Extensionalitätsaxiom nicht gilt. Biologische Arten haben Ursprung, Geschichte und Ende, Übergänge in Nachfolgearten, sind raum-zeitlich fassbare Entitäten, die sprachlich (und in der Evolutionsbiologie von Niles Eldredge 1995) als Individuen eines bestimmten Typs gelten können. Analog dazu sind auch Arten von Artefakten zu behandeln. Mit generischem Gebrauch wird auf alle Individuen, für die das Artzugehörigkeitsprädikat Px gilt, und damit auf das sprachliche Wissen - an das 'enzyklopädisches Wissen' angedockt ist - zugegriffen. Damit besteht auch für diesen Bereich eine spezifische Zugänglichkeit im Hörerwissen, die sich von der durch Definitheit im nicht-generischen Fall markierten allerdings unterscheidet. Bei indefinitem Artikel wird ein Exemplar stellvertretend für alle, die unter Px fallen, herausgegriffen - auf ein solches Exemplar können singuläre Prädikate ('einmaliges Ereignis') (wurde 1900 erfunden, ist ausgestorben) nicht angewendet werden. Das gilt entsprechend auch für reine Plurale. (87) *Ein/Der Grünwal ist ausgestorben. [möglich aber die taxonomische Lesart: 'eine Unterart des Grünwals...'] (88) Die/?Dinosaurier sind ausgestorben. (89) Der Grünwal/die Grünwale ist/sind ausgestorben. In singulären Aussagen wird die Art denotiert. Definite generische Aussagen quantifizieren über Artangehörige: Sie haben die Eigenschaft P. (90) Der Löwe/die Löwen haben (typischerweise) einen Schwanz. Mit indefiniten NPs in genetischen Aussagen wird ein beliebiges χ der Art herausgegriffen und für dieses χ gilt dann, dass es die Eigenschaft C hat. (91) Ein Löwenmännchen hat (typischerweise) eine Mähne. In der Wissensverarbeitung greifen Angabe des Wissenszugriffs und inhaltliche Charakterisierung eng ineinander. Man kann dies etwa so illustrieren: • Suche im Bereich dessen, was du kennst, ein χ für das gilt: Px und Qx und...Zx • Eröffne eine Wissensstelle für ein Individuum, für das gilt: Px und Qx und ... Zx. Im ersten Fall wird die Suche im Bereich des Bekannten von den nominalen Prädikaten, zentral der im Kopf angegebenen Gegenstandsart, ferner den Restriktoren, geleitet. Im zweiten Fall wird das Neue vom vorhandenen Wissen getrennt eingeführt und mit den gegebenen Charakteristika verbunden. In einem späteren Abgleich kann es sich als gleichwohl identisch mit Bekanntem erweisen. Der deutsche bestimmte Artikel wird auf die deiktische indogerm. fo-Form zurückgeführt. Am Anfang stand wohl die Deixis im Wahrnehmungsraum
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Ludger Hoffmann
neben dem charakterisierenden Substantiv, am Ende steht der operative, wissensbezogene Gebrauch als reguläres Phrasenelement, das dann im Deutschen auch Aufgaben der ganzen Einheit (z.B. Kasusmarkierung) übernimmt. Die NP könnte als Erweiterung des Kopfnomens um vorangestellte Symbolfeldausdrücke formiert worden sein; im Urgermanischen werden Bestimmtheits- und Unbestimmtheitsform des Adjektivs unterschieden, das unbestimmte erscheint im Gotischen nach „demonstrativen" Formen wie sa. Den Übergang kann man sich zunächst als adjazente Abfolge mit parallel geschalteter Funktionalität ( [D] + [Adj" + N] ), dann schrittweiser formal adaptierter Integration zu einer Funktionseinheit vorstellen. Im Ergebnis haben wir eine Verzahnung, die in der Abfolge als Klammer erscheint, morphologisch greift das Determinativ auf die Adjektivflexion zu, es übernimmt flexivische Markierung vom Nomen, das entsprechende Verluste zeigt. Die Nominalphrase hat zwar ein Nomen als funktionales Zentrum, die Kopfeigenschaften sind aber nur beim Genus stabil, sonst ergibt sich ein Zweckverband mit typologisch interessanten Eigenschaften, so setzt die N-Kasusmarkierung ein Determinativ voraus, vgl.: (92) *An Golde hängt doch alles. (93) Am Golde/An dem Gold/An diesem Gold/An Gold hängt doch alles, (aus: Eisenberg 1999:143) Wir haben also auch in der Nominalphrase die Andeutung einer Klammerstruktur, wobei der nominale Kopf ein Nachfeld aufweist, in dem vorzugsweise schwerere Attribute wie Nominal-/Präpositionalphrasen oder Relativsätze erscheinen. Dies nun ist mit dem Kopfparameter der Chomsky-Syntax (Kopf vorn oder hinten, tertium non datur) - zuletzt dazu Baker 2001 - schwer in Einklang zu bringen, wenn nicht allein das Determinativ zum Kopf erklärt wird (DP-Analyse), wogegen durchaus Gründe sprechen. Der nominale Kopf erscheint zentriert, so dass sich ergibt: Det Ν mit zwei Zentren unterschiedlicher Funktionalität, wie wir dies auch im Verbalkomplex finden (flektiertes Verb Vollverb) mit der typischen Klammerbildung. Die Determination wirkt also auf ein Kopf-Nomen bzw. ein Nominal (X + Ν + Y), das mit der Gegenstandskonstitution, die im Symbolfeld verankert ist (allenfalls restriktiv kann eine Deixis einbezogen werden), funktional bereits zu einem ersten Abschluss gekommen ist; morphologisch wird im Deutschen die Vernetzung deutlich:
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
num: pl gen: fem kas: nom/akk flex: schwach Í (94) die
Ì drei besten
Spracht. Wissen: Gegenstand χ im Operationsbereich ist im gemeinsamen Wissen aktuell oder kontinuierlich zugänglich.
J . wissenschaftlichen
Theorien
Intermediäres Wissen: Gemeinte Gegenstände x: Es handelt sich um genau drei voneinander unterscheidbare Gegenstände, charakterisiert als Theorien, die im Handlungsfeld oder mit Methoden der Wissenschaften entwickelt sind, soweit sie auf einer Bewertungsskala für wiss. Theorien einen Wert im obersten positiven Bereich erhalten (A)
^-Determination
i
Die mit der Charakteristik A zu erfassenden Gegenstände werden als im gemeinsamen Wissen zugänglich beansprucht
Auf der determinierten Nominalphrase wirken installierte prädikative Einheiten: (95) das alte Haus, in dem übrigens der Kondensator erfunden wurde,... 1 !Restrif$ion^
Determinative können über die direkte Kennzeichnung der Definitheit hinaus prozedural die Gegenstandskonstitution unterstützen. Einzelne dieser Funktionen können in anderen Sprachen von Adjektiven wahrgenommen werden. Artikel kennzeichnen den Wissensstatus unmittelbar. Andere Determinative kennzeichnen den Wissensstatus vermittelt. Beispielsweise über eine Zugehörigkeit des Gegenstands zum Sprecher, zur Sprechergruppe, zum Adressaten, zur Adressatengruppe oder zu einem anderen, vorgängig verbalisierten Objekt. Diachron sind solche Possessive Determinative wie dt. mein/dein und sein in der Regel auf die Genitivformen der Sprecher- bzw. Adressatendeixis bzw. auf die
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Ludger Hoffmann
Genitivform der Anapher zurückzuführen. Es gibt Sprachen mit einer Ausdifferenzierung von Artikel (+/-definit) und Possessiv und damit der Prozeduren: (96) il mio libro - un mio libro (Ital.) 'mein Buch - ein Buch von mir' Quantifizierende Determinative setzen eine mit dem Kopfnomen und Restriktoren charakterisierte Menge als Denotatbereich voraus, die ganz, partiell oder gar nicht selegiert wird (alle Spieler/einige Spieler/kein Spieler). Der Denotatbereich ist häufig schon vorgegeben und bildet den Zugangsweg, kann aber auch aktuell konstituiert sein. Insofern ist die Frage der Definitheit jeweils am konkreten Fall zu klären: (97) Die Bayern haben heute gespielt. Kein/Alle/Manche Spieler (aus der BayernMannschaft) konnte(n) überzeugen. (98) Manche (aus der Klasse der) Säugetiere leben im Meer. (99) Wir haben manches/einige/viele Bierchen gezischt. Das Determinativ all- wirkt ähnlich wie Kardinalzahlausdrücke (+Plural) und bestimmte Koordinationsformen als Erweiterung des symbolisch gegebenen Gegenstandsbereichs, als ampliatio im Sinne mittelalterlicher Logik und damit Gegenstück zur Restriktion, das den Restriktionsbereich ausschöpft. Den anderen Pol bildet der Ausdruck kein, der eine Zugangsblockade etabliert; im Wissen ist kein χ aktualisierbar, so dass Gx unter das Satzprädikat Px fallt: (100) Kein Geistlicher hat ihn begleitet. (Goethe, Werke 6, 124) Das deiktische Determinativ (dies, der) ist définit, die operative Prozedur ist einer deiktischen assoziiert, die einen Gegenstand, der die nominale Charakteristik erfüllt, in einem Verweisraum (Text-, Diskursraum; Wahnehmungsraum, Vorstellungsraum) aufsuchen lässt. Das W-Determinativ/interrogatives Determinativ (welches N) orientiert im prozeduralen Verbund auf offenbar dem Hörer, nicht aber dem Sprecher Bekanntes, markiert also ein zu behebendes Wissensdefizit. In manchen Sprachen sind Determination und Flexion verbunden. Beispielsweise wird im Türkischen, das keinen definiten Artikel kennt, das indefinite Objekt mit der endungslosen Grundform (Absolutiv) konstruiert; das definite (einschl. des mit Eigennamen bezeichneten) mit dem Akkusativsuffix gebildet. Im Ungarischen ist die Verbkonjugation für Definitheit sensitiv. Der Wissenszugang kann auch durch spezifische Konstruktionen indirekt unterstützt werden, d.h. die Sprache behandelt die Möglichkeit eines symbolischen Zugangs als Äquivalent zur definiten Determination und kombiniert zwei Prozeduren in einer Form. Das gilt etwa für das pränominale Genitivattribut im Deutschen, das biprozedural funktioniert (anders im Jiddischen: Yitskhoks a briv 'Isaak+gen ein Brief') und durch einen Eigennamen, einen Funktionalausdruck (des Kanzlers Beschluss: 'der Beschluss der Person, die zur fraglichen Zeit tals Kanzler amtiert'), bestimmte Quantifikativa (niemandes Besitz) oder (veraltend) einen generischen Ausdruck (des Haifischs Flossen) konstituiert werden kann; in jedem Fall wild die determinative Leistung über einen spezifischen
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
Wissenszugang (beim Namen etwa ein anderer als beim genetischen Gebrauch) erbracht. Bei der postnominalen Entsprechung sind die Prozeduren separiert: gen
(101) Fermats I
gen
Vermächtnis
das Vermächtnis
üjestrifjtwn ^ =Mensch< zu']
Zeit und Raum stehen - nicht erst wenn wir an die Zeit, Raum, Materie/Energie relationierende Einsteinsche Physik denken - in engem Zusammenhang. Sprachen 34
Vgl. Comrie 1985:50f.
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Ludger Hoffmann
erscheinen raumfundiert und spezifizieren Zeit als Finitheit. Viele Zeitausdrücke sind ursprünglich räumlich, Zeit stellen Menschen sich primär räumlich vor (Zeitstrahl, Gerichtetheit). Wir verankern (lokalisieren) in bestimmten Wissensräumen, im Wahrnehmungsraum, Vorstellungsraum etc., wenn wir eigenständige Gedanken transferieren. Der Gedanke muss im Satz - als Moment eines Verständigungshandelns adressatenförmige Gestalt annehmen, für das Adressatenwissen geformt und gewichtet sein. Dem Satz ist in der Form das kommunikative Potenzial eingeschrieben. Daraus entsteht das Kommunikat. Der Gedanke ist im Kommunikat gewichtet (vgl. 4.2.), er ist so formuliert, dass die Wissensstruktur als (i.a.S.) bewertete sichtbar gemacht werden kann. Neue, im Wissen zu etablierende, relevante, kontrastierende Information wird durch die Äußerung in den Vordergrund gerückt, Präsentes, Zugängliches, weniger Relevantes ist im Hintergrund. Der Hörer-Fokus wird gelenkt durch Sprachmittel wie Intonation (Akzent), lineare Abfolge, lexikalische Mittel wie sogar, nicht, aber etc.
Die funktionale Prägung der Äußerungsform ist als Äußerungsmodus35 zu fassen. Der Sinn eines Satzes umfasst seine zweckhafte kommunikative Gerichtetheit, basierend auf der durch seine spezifische Form ausgelösten Erkenntnisbewegung im Wissen. Die kommunikative Bewegung geht dem Adressaten, die gedankliche der Sache nach. Was wir als „Nebensatz" oder „Klausel" (clause) auffassen, im Deutschen mit Verbendstellung, Subjunktor (dass, weil) an der ersten Klammerposition und ohne Vorfeld, kann keine eigene Illokution realisieren. Dies gilt für integrierte Klauseln, nicht unbedingt für installierte (3.5.) und nicht für eigenständige Äußerungsformen, etwa Exklamative wie dass du mir ia die Aufgaben machst!
Wir sehen die Satzform bestimmt durch synthetische wie integrative Prozeduren in sprachspezifischer Ausprägung36. V o m Satzbegriff kann nur in einem grammatischen System gesprochen werden. (...) Die Sprache muß von der Mannigfaltigkeit eines Stellwerks sein, das die Handlungen veranlaßt, die ihren Sätzen entsprechen. (L. Wittgenstein, The Big Typescript, 53. 67)
Sie ist aber nicht die einzige Form, in der kommunziert bzw. ein Äußerungsmodus realisiert werden kann (vgl. Einmal waschen und legen bitte! (Hörbeleg); einen
Kaffee bitte!37). Diese Formen bringen Handlungskonzepte zum Ausdruck, wobei der direktive Modus eine geeignete Intonation (Akzent, fallendes Grenztonmuster) voraussetzt. 35 36
37
Zum Modus von Äußerungen detailliert: Rehbein 1999. Ehlich 1999 bestimmt die Satzform als Domäne sprachenspezifischer Prozedurenintegrationen. Man könnte die Synthese auch als doppelseitige Integration betrachten, in der erst in der Verbindung mit der Prädikation etwas den Status einer Subjektion erhält und umgekehrt. Zu Ellipsen: Hoffmann 1999a
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Der Gedanke muss im Satz - als Moment eines Verständigungshandelns adressatenförmige Gestalt annehmen, für das Adressatenwissen geformt und gewichtet sein. Dem Satz ist in der Form das kommunikative Potenzial eingeschrieben. Daraus entsteht das Kommunikat. Der Gedanke ist im Kommunikat gewichtet (vgl. 4.2.), er ist so formuliert, dass die Wissensstruktur als (i.a.S.) bewertete sichtbar gemacht werden kann. Neue, im Wissen zu etablierende, relevante, kontrastierende Information wird durch die Äußerung in den Vordergrund gerückt, Präsentes, Zugängliches, weniger Relevantes ist im Hintergrund. Der Hörer-Fokus wird gelenkt durch Sprachmittel wie Intonation (Akzent), lineare Abfolge, lexikalische Mittel wie sogar, nicht, aber etc. Die funktionale Prägung der Äußerungsform ist als Äußerungsmodus38 zu fassen: Der Sinn eines Satzes umfasst seine zweckhafte kommunikative Gerichtetheit, basierend auf der durch seine spezifische Form ausgelösten Erkenntnisbewegung im Wissen. Die kommunikative Bewegung geht dem Adressaten, die gedankliche der Sache nach. Was wir als „Nebensatz" oder „Klausel" (clause) auffassen, im Deutschen mit Verbendstellung, Subjunktor (dass, weil) an der ersten Klammerposition und ohne Vorfeld, kann keine eigene Illokution realisieren. Dies gilt für integrierte Klauseln, nicht unbedingt für installierte (3.5.) und nicht für eigenständige Äußerungsformen, etwa Exklamative wie dass du mir Ja die Aufgaben machst! Wir sehen die Satzform bestimmt durch synthetische wie integrative Prozeduren in sprachspezifischer Ausprägung39. V o m S a t z b e g r i f f k a n n nur in e i n e m g r a m m a t i s c h e n S y s t e m g e s p r o c h e n w e r d e n . (...) D i e S p r a c h e m u ß von der M a n n i g f a l t i g k e i t eines S t e l l w e r k s sein, das d i e H a n d l u n g e n veranlaßt, die ihren Sätzen entsprechen. (L. Wittgenstein, T h e Big Typescript, 53. 67)
Sie ist aber nicht die einzige Form, in der kommunziert bzw. ein Äußerungsmodus realisiert werden kann (vgl. Einmal waschen und legen bitte! (Hörbeleg); einen Kaffee bitte!40). Diese Formen bringen Handlungskonzepte zum Ausdruck, wobei der direktive Modus eine geeignete Intonation (Akzent, fallendes Grenztonmuster) voraussetzt. Wir illustrieren das Gesagte an einem Beispiel (vgl. die Abbildung S.87): (150) Ich faulenze. Der Sprecher wird als Gegenstand durch die (funktional suffiziente) Sprecherdeixis bestimmt, der syntaktisch kein Kasus zugewiesen wird - also hat sie den Nominativ. Durch die Akzentuierung ist die Prädikation in den Vordergrund 38 39
40
Zum Modus von Äußerungen detailliert: Rehbein 1999. Ehlich 1999 bestimmt die Satzform als Domäne sprachenspezifischer Prozedurenintegrationen. Man könnte die Synthese auch als doppelseitige Integration betrachten, in der erst in der Verbindung mit der Prädikation etwas den Status einer Subjektion erhält und umgekehrt. Zu Ellipsen: Hoffmann 1999a
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Ludger Hoffmann
gestellt. Der Anschluss der Verbendung an die Verbform läuft der Synthese parallel, die Sprecherdeixis an der Subjektstelle regiert die Besetzung des Personund des Numerusmorphems. Umgekehrt lässt ein Verb nicht jede Synthese zu (*Singen schläft nicht). Der Verbstamm als Element des Symbolfelds hat (bes. in Sprachen, die Adjektive zum Ausdruck von Eigenschaften haben) prozessorientierten, dynamischen Charakter, erfasst also wenigstens ein Element eines Prozesses (Handlung, Ereignis). Suchen z.B. bezeichnet eine orientierende Bewegung in mehreren Stadien, ohne einen Abschlusspunkt - so bei finden - zu bezeichnen, liegen eine stadienüberdauemde, nicht grenzmarkierte Positionierung eines Dings/Sachverhalts, die konkret/abstrakt lokal fundiert ist (Der Brief liegt auf dem Boden, das/die Entscheidung liegt bei der Behörde). Die Verbendung ist komplex konfiguriert41. Sie enthält im Deutschen eine Stelle für ein Tempusmorphem, die hier leer bleibt. Dies ist kategorial als Präsens, die unmarkierte zeitliche Grundform, funktional als deiktische Vergegenwärtigung (Geltung für das Sprechzeitintervall + x) zu interpretieren, während ein Morphem -t- bzw. Ablaut (k-a-m) das Präteritum markieren würde. Die zeitliche Komponente macht das Verb finit. Dies wird in vielen Sprachen am Verb gemacht, das für diese Sprachen auch als „Finitum" bezeichnet wird. Auch Nomina können Finitheitsmarkierungen tragen, im Japanischen etwa durch ein dreistufiges Präfixsystem: gen-lzen-lrai- (Rickmeyer 1995:276). In der folgenden Abbildung sind der Äußerung die funktionalen Dimensionen illustrativ zugeordnet, zunächst ist der propositionale Aufbau als Synthese dargestellt, damit verbinden sich die Funktionskomplexe Wissensorganisation (Neues/Gewusstes), Thematische Organisation (Thema/Rhema) und Gewichtung (Vordergrund/Hintergrund)(vgl. dazu Kap. 4). Neu ist hier nicht der im Wissen der Sprachteilhaber niedergelegte Gehalt des Prädikats, sondern seine Zuordnung zum subjizierten Sprecher. Dem so eingerichteten Kommunikat ist ein bestimmter Äußerungsmodus, der ebenfalls einen Funktionskomplex darstellt, unterlegt; ihm entspricht auf der Formseite im Deutschen ein Komplex aus Ausdrücken, Abfolge und Intonation. Dieser Modus erlaubt auf der Basis einer spezifischen situativen Konstellation (Zweck: Wissenstransfer) und eines entsprechenden Wissens eine illokutive Interpretation (Assertion), mit der der Rahmen einer Musteranalyse eröffnet ist (z.B. Zweitposition im Handlungsmuster FrageAntwort, nach der Frage: Was machst du?).
41
Eine funktionale Analyse des Verbaufbaus bietet Redder 1992. Zum Tempus: Bredel/Lohnstein (in diesem Band).
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
1. person/diskursiv
ei
faulenz-
ich
finitüeit (Jin) innere SuBjek tion Konfiguration
:?räii&t
Finitum «PrâiiÇat, ¥rädi%ation> Synthese
I propositionaler Ausdruck
Thema! Τορίζ Hintergrund
Akzentuierung Tonmuster
¡(fiema
Subj^j
Vordergrund
•Präd èelQmnt
neu
neu
ßefennt
Kommunikat Äußerungsmodus: Deklarativ KONSTELLATON MUSTERWISSEN [Zweck: Wissenstransfer] (Tllokution: A s s e r t i o n ^
In den sog. „pro-drop- bzw. null-subject-Sprachen" (Italienisch, Griechisch, Latein etc.) finden wir eine kombinatorische Synthese in der Verbform. Innere und äußere Subjektion fallen zusammen, wenn eine symbolische Verbalisierung nicht erfolgt. So kann eine Verbform mit Personmarkierung die Synthese realisieren (vgl. lat. audi-o). Hier bildet das Prädikat tatsächlich die Satzaussage. Beispiele aus dem Altgriechischen, Türkischen und dem nordwestamerikanischen
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Ludger Hoffmann
Baibareño: 'Wir sprechen1
'Wir
λέγομεν
ημείς
(151)lég
- o - men
wir sprechen' λέγομεν
heméis
VS-Präs TV SG-Deixis
Τ
lég-o-men
SG-Deixis VS-Präs IV SG-Deixis gewichtet thematisiert
(Präd+fin Sußji jQion
Tradition
•Präd+fin KiematisUrung^
Synthese
Subjet tum
Îrâdi!(ation
Synthese Kßana
Topilc Minterßrund Vordergrund
λέγομεν ημείς
Legende: VS-Präs Präsens-Verbstamm TV Themavokal SG Sprechergruppe
(152) Çok
iyi-yim (Türk.)
Adv
Adj-Sprecherdeixis
*«r
f
1 •—η Eradication
I
Synthese
(153) siy-kutiy-it
(Barbareño Chumash)
Anapher-VS-Sprecherdeixis
I ^
^
I
Subjection (Prädi^ation Subjection I Synthese , |
'Sehr gut (bin) ich' 'Mir geht es sehr gut'
'sie-sehen-mich' (vgl. Mithun 1999:207)
In den polysynthetischen Sprachen bildet der Bereich des Wortes die Domäne für synthetische und integrative Prozeduren.42 Im Barbareño (153) wird am Verb
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Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
das Subjekt als Präfix und das Objekt als Suffix markiert, so dass sich ohne nominale Form schon ein kompletter Satz ergibt. Neben der satzfundierenden Finitheitssynthese findet sich die elementarere propositionale Synthese, die keine Verzeitlichung aufweist, vielmehr in den Rahmen eines Satzes eingebunden bzw. in eine anderen Funktionseinheit integriert ist. Ein Beispiel sind Infinitivkonstruktionen: Sie lässt [ dich sitzen]. Die Finitheitskomponente wird in manchen Sprachen separat ausgedrückt, etwa im Chinesischen (vgl. Beispiel in 3.2.3.1. oben) oder im Bambara (n. Payne 1997: 238): (154)
a Anapher I Sbj ι I
na Futur I fin I Syntfiese
taa 'gehen' I Tmd
Propositionale Synthese, Finitheitssynthese (Verbal, extraverbal)
SYN: G , C , (FIN) -> [G'm , C ' ^ , (FIN')]PA G = gegenstandsbezogener Ausdruck C = Ausdruck der Prädikation PA= Propositionaler Ausdruck FIN= Ausdruck der Finitheit
3.4. Koordination Durch die Koordination, werden zwei Einheiten mit sich überschneidendem Funktionspotenzial unter einer einheitlichen Funktion kombiniert, bilden einen Funktionszusammenhang. Dies ist eine komplexe Prozedur, ihr liegen wenigstens zwei Prozeduren zugrunde, die mittels Konjunktor, Juxtaposition, Intonation in eine koprozedurale Funktion überführt sind. Sie leistet zum einen eine Verknüpfung äquivalenter Einheiten, zum anderen sorgt sie für die funktionale Einbindung in die entsprechende Stelle der Äußerungsstruktur. Die resultierende Funktion kann von den zusammengeschlossenen Teilen 42
vgl. z.B. Mithun 1999 zu nativen nordamerikanischen Sprachen.
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gemeinsam realisiert werden, etwa als Kollektiv von Personen (Hanna und Mark tragen das Klavier die Treppe rauf), als koordinativ konstituierte Handlungs- bzw. Ereignissequenz (Sie kam, er ging) oder Eigenschaftenkomplex (Er war klein, aber frech). Die Funktion kann auch auf die beteiligten Elemente distribuiert sein (Hanna und Mark haben das Buch gelesen.).43 Elementar dürfte die Erweiterung eines Gegenstandsbereichs (x -» χ und y) sein. Schließlich kann das mit Konjunkt A aufgebaute Wissen durch Konjunkt Β bearbeitet werden, so im folgenden Beispiel die durch „erster" ausgelöste Annahme, es habe mehrere Besuche bei einem Therapeuten gegeben. nom, sg, mask
dat
(155) Mein erster und einziger Besuch bei einem Therapeuten [A1, // A3F //, A2, A4]
j
INS:
B r , [A1, A2]F1
|
IMP:
B R , [Α1, χ , A2]F1
Imple-
[A1, // A2f //, A3]
[A1, // [B]R//, A2]F1
[ A 1 , [B'] RA
, A2]F1
S
Komplexbildungen
Eine Komplexbildung ist die Bündelung verschiedener sprachlicher Mittel unterschiedlicher Art mit je eigener Funktionalität in der Äußerung zu einem funktional geschlossenen Ganzen. Die Mittel realisieren einen Zweck für die gesamte Äußerung, sie arbeiten kooperativ und symmetrisch, also nicht nach Art integrativer Prozeduren. Der Funktionskomplex ist formal vielschichtig, seine Funktion lässt sich nicht aus der Funktion eines der Teile herleiten, sie wird auch nicht jedenfalls nicht gänzlich - kompositional erzeugt, sondern kommt nur dem prozeduralen Ensemble insgesamt zu. Beispiele sind etwa der Äußerungsmodus (vgl. Rehbein 1999), die Bewertung des Gesagten, die Gewichtung, die thematische Organisation oder die Wissensorganisation in der Äußerung. Es folgen skizzenhafte Darstellungen zu drei Funktionskomplexen. 4.1. Wissensorganisation Was gesagt wird, bedarf der Einbindung ins Wissen der Adressaten. Es wird so gesagt, dass die Passung auf der Grundlage von Annahmen über dieses Wissen
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gelingen kann, also neues Wissen aufgebaut und verankert und auf Vorwissen ökonomisch zurückgegriffen werden kann. Dazu wird eine Dissoziation des Adressatenwissens in Gewusstes/Notum versus Nicht-Gewusstes/Novum vorgenommen. Spezifische Ausdrucksmittel in den Sprachen sind für diese Unterscheidung sensitiv. Das gilt für die integrativen Prozeduren der Determination (3.2.3.), zu denen Mittel gehören wie der definite Artikel, der einen auf Adressatenseite bereits bestehenden Wissenszugang zum Gemeinten markiert. In anderen Sprachen ist der Bereich der Definitheit nicht auf der Mittelseite ausgeprägt, wohl aber erfährt die Indefinitheit differenzierenden Ausdruck (vgl. Kovtun, in diesem Band). Öfter leisten Possessivkonstruktionen wie die türk. IzafetKonstruktion, Genitivkonstruktionen, ein unbestimmter Akkusativ oder die konstruktive Verbindung mit einer spezifischen Wortstellung die Wissensorganisation einer Äußerung. Universell ist die Verfügbarkeit von Eigennamen, die eine feste Beziehung Ausdruck-Individuum als Kenntnis beanspruchen und so den unmittelbaren Wissenszugang wie den Abruf des über eine Person, einen Ort etc. Gewussten erlauben (Hoffmann 1999). Ebenso universell ist die Frage, die eine spezifische Wissenszerlegung zum Ausdruck bringt. Dabei kann das Interrogativum die Leerstelle im Sprecherwissen kennzeichnen, der ein Gewusstes und in der Antwort zu Versprachlichendes auf Hörerseite entsprechen soll. Zu den Mitteln der Frage gehören sprachvergleichend betrachtet auch Wortstellung und Intonation. Hier kann aus Raumgründen nicht näher auf die Wissensorganisation eingegangen werden (vgl. dazu auch Ehlich, in diesem Band). 4.2. Thematische Organisation45 Mit diesem Komplex wird die Anschlussfähigkeit einer Äußerung im Rahmen von Text und Diskurs hergestellt und die inhaltliche Kohärenz des Gesagten gesichert. Thema, Topik und Rhema sind diskursiv-textuelle, nicht satz- oder äußerungs-bezogene Kategorien. Das Thema ist der kommunikativ konstituierte Gegenstand oder Sachverhalt, über den in einem Diskurs oder Text (-abschnitt) fortlaufend etwas gesagt wird. Es ist propositional im Wissen verankert. Thema können reale oder fiktive Dinge sein, Vergegenständlichungen auch von Handlungen (z.B. als offene Prädikation: Jemandem helfen, ist gut, das sollten alle
machen - Thema: [Helfen (x, jemandem)]). Das Thema muss den Handelnden in seiner Kontinuität präsent und somit bekannt sein. Sein sprachlicher Ausdruck ist in der Regel définit (def. Artikel+Nomen, Name, Anapher). Seine Zugänglichkeit ist kommunikativ bedingt. Nicht erforderlich ist eine Welt-Kenntnis des entsprechenden Dings. Zugänglich wird etwas durch Thematisierung in den entspre-chenden Formen: 45
Ausführlicher zu den sprachlichen Details: Zifonun & Hoffmann & Strecker 1997: 518ff.
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(173) [Der Aufsatz], der ist nun fertig; was [das Buch] angeht, so habe ich...; [as for Mary], I think we should meet her; [ein König] hatte drei Töchter, [er.]..; es hatte [ein König] drei Töchter, [er]; gestern passierte [ein Unfall], [der]... ). Das Diskurs-Thema erwächst aus dem, was aus Sprechersicht für den Hörer generell im Wissen neu ist (Novum) oder lokal einen neuen bzw. wieder aufgenommenen Redegegenstand bildet. Unter dem Topik verstehen wir den Startpunkt einer thematischen Kette im Diskurs oder Text. Sprachlich ist das Topik in der Regel indefinit und hervorgehoben (Teil einer Hervorhebungsdomäne), es wird in vielen Sprachen vor Satzbeginn oder am Satzanfang realisiert. Das Topik kann zum Rhema eines anderen Themas gehören.4* Äußerung 1
Äußerung 2
Das durch einen thematischen Zusammenhang konstituierte propositionale Wissen wird in das Hörerwissen ΠΗ übernommen und dort verankert. Wir sprechen vom thematischen Wissen Π τκ · Es muss sich mit vorhandenem Wissen vernetzen und bewerten lassen. Typologisch ist es deklaratives (explizites) Wissen. Das Wissen der Aktanten ist elementar als dreistellige Beziehung - Aktant, Thema des Wissens (Θ), über Θ Gewusstes (Ehlich/Rehbein (1977:45) - zu bestimmen. Die propositionalen Gehalte der Äußerungen bearbeiten - modifizieren, stabilisieren etc. - dies Wissen . Das Rhema ist das, was lokal - in einem Satz oder einer Äußerung - über das jeweilige Topik bzw. Thema gesagt wird, ein einstelliges Prädikat zum Thema oder zum Topik. Es kann andere Themen oder auch ein Topik in sich enthalten. Einen Gegenstand/Sachverhalt, von dem fortlaufend die Rede sein soll, kann man in vielen Sprachen vor oder nach dem Satz thematisieren. Das Introfeld und das Retrofeld sind für spezifische, auf die Satzverarbeitung bezogene Funktionen reserviert (vgl. Überblick zu den Feldern in 4.2.). Die Besetzung des Introfelds wird in der Literatur als „left dislocation", 46
Topik ist ein schillernder Begriff und kann auch a) satzbezogen das logische Subjekt als Satzgegenstand gegeiiber dem maximalen Prädikat meinen, b) ein 'links herausgestelltes' Satzelement c) den Gegenbegriff zum ide. Subjektkonzept in Sprachen wie Tagalog, wo es als Element des Hintergrunds erscheint; Fragen danach wären Was ist mit x? „ What about χ?" (Gundel). Gegenstück ist das .comment*.
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„Linksanbindung" (Zifonun&Hoffmann&Strecker 1997), „Linksversetzung" (Altmann 1981) bezeichnet, die Besetzung des Retrofelds u.a. als „Rechtsanbindung" oder „Rechtsversetzung". Aus pragmatischer Sicht haben wir es zu tun mit Verfahren der Hörersteuerung, die dem „kommunikativen Apparat" (Rehbein) zuzurechnen sind. Die Besetzung des Introfelds erlaubt vorgreifende Lenkung und Thematisierung (oft als Rethematisierung). Die Lenkung erfolgt durch Vokativ, Imperativ oder Interjektion (expeditive Prozeduren).47 Die Rezipienten werden im Gespräch unmittelbar eingebunden und ihre Aufmerksamkeit auf das zu Äußernde gerichtet. (174) Piet, ich muss dir was sagen. (175) Jà sa_mal was studiert der eigentlich! (Kraft 1999:249) (176) Na, komm, jetzt sag s wenigstens! (Redder, Schulstunden, 114) Schließlich finden sich hier vorangestellte Prädikatsausdrücke, infinite Konstruktionen oder satzförmige Einheiten, die gesprächsstrukturierende Funktion haben, etwa indem sie auf der Bewertungsebene des zu etablierenden Wissens operien (öfter nur formal, um Planungszeit zu gewinnen) oder die Formulierung kennzeichnen: (177)... als habe mir der Besucher zwingend vorgeschrieben, ihm alle meine Aufmerksamkeit zu schenken. Gut, man darf sich keinen Gast ohne dessen Schattenseiten vorstellen, doch diese schmerzhafte Belästigung raubte mir nicht nur mein körperliches Wohlbefinden, sie verletzte auch meine Würde. (T. Spengler, Wenn Männer sich verheben, 26) (178) Um es kurz zu machen/zusammengefasst/... Die Thematisierung wird im Introfeld durch eine Nominalphrase, einen Nebensatz oder eine Formel ( Was χ angeht...) geleistet. Die Grenze zum Satz ist intonatorisch oder graphisch (Komma, Gedankenstrich) markiert. Das Topik wird im Vorfeld (in W-Fragesätzen postfinit) anadeiktisch wieder aufgegriffen. (179) [Die Wahrnehmung einer Grenze zwischen Begriff und Gefühl]+Th, [das]Th ^
Tfiematisierurtg
^
ist das Thema von Antun Tonci Cénic. (taz hamburg 25.9.98,23 (+Th=Topik-Ausdruck; Th= Thema-Ausdruck))
47
Da lenkende Prozeduren satzintern allenfalls insertiert vorkommen, ist die Versetzungmetapher für sie nicht angemessen.
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(180) Cla Und ist irgendwas noch passiertt Cle [ne Freundin]+Th-> [die]Th is noch [umgekippti (Treinies/Rest/Müller/Brcuker 2002,4 (Anmeldelisten für Studierende)) (181) S1 Entschuldigen Sie bitte · [die Grindelhochhäuser]+Th, wo sind [die]Thi A [Grindelhochhäuser]Th, da müssen Sie hier runter... (Hermann&Hoffmann 1996,1 (Wegauskünfte I)) Mündlich finden sich strukturelle Verschränkungen, insbesondere durch Einbau einer Matrixkonstruktion, die die Anadeixis ebenfalls um eine Position verzögern: (182) Also [Konzertgehen]+TI) glaube ich nicht, daß [das]Th in unserer Altersstufe viel betrieben wird. (Anderson 1980 zit.n. Lötscher 1999:146) Eine Thematisierung muss einen Gegenstand/Sachverhalt als solchen hinreichend und vollständig zugänglich machen, der unter die zu realisierenden Charakteristika fällt: (183) »Schnell, das fährt der Porsche. (184) *Wo, da gibt es Kirschen. (185) »Niemanden, den hat er besucht. (186) »Jemand, den hat er besucht.
[kein Gegenstand] [kein Gegenstand] [kein Gegenstand] [kein Gegenstand définit zu etablieren]
(187) »Sich, den hat er gekämmt. (188) [Kinder betreuen]+Th, [das]Th mag sie. [keine eigenständige Einführung] (189) »Betreuen, das mag sie Kinder. [Dissoziierte Einführung] (190) [Arbeiten]+Th, [das]Th kann sie gut/ drei Stunden. (191) [Drei Stunden/gut arbeiten]+Th, [das]Th kann sie. (192) [Fußball spielen]+Th, [das]Th können sie nicht. (193) [Fußball]+Th, [das]Th können sie nicht spielen. (194) »Spielen, das können sie nicht Fußball. [Dissoziierte Einführung] Man kann zwar aussagen, dass unter eine Prädikation kein χ fällt, aber ein solches χ nicht als Gegenstand im Diskursgedächtnis etablieren. Manchmal wird die Konstruktion von Autoren verwendet, um einen besonders komplexen Ausdruck außerhalb der Satzfelder zu verbalisieren. Die nachholende Thematisierung nutzt das Retrofeld nach der Komplettierung des Satzes (ggf. einschließlich Nachfeld) und stellt einen im Satzrahmen kataphorisch oder katadeiktisch antizipierten Gegenstand der Äußerung klar. (195) [Das]Tli habe er von Jugend auf gelernt: [allerlei Göttern Quartier zu machen]^. (G. Grass, Das Treffen in Telgte, 13)
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(196) Cla Wo stehen [die]Th denn sonst immer-», [die Listen]+Thi (Treinies&Rest&Müller&Breuker 2002,2 (Anmeldelisten für Studierende)) Lokal wird erst die Art der Teilhabe am propositionalen Aufbau verdeutlicht, dann dem Adressatenbedürfnis genügt, den Gegenstandsbezug in seinem Wissen zu verankern. Das Retrofeld ist intonatorisch abgesetzt. Es operiert retrograd auf dem zuvor verbalisierten propositionalen Gehalt. Das Retrofeld bietet weitere Möglichkeiten für die Gesprächsorganisation: (197) Ich sagte: „Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, worum es geht - Sie müssen über die Situation im Bilde sein. Wenn Sie bleiben wollen, gut." (W. Satterthwait, Eskapaden, 118) (198) Aber die Tabletten kriegen Sie von uns ab sofort, gell? (Redder&Ehlich, Gesprochene Sprache, 286) Der freie Thematisierungsausdruck erscheint als eigenständige Äußerungseinheit und ist formal deutlich abgesetzt (Grenztonmuster und Pause bzw. Komma/Gedankenstrich;) die Verbindung wird meist anaphorisch hergestellt, wie es für eigenständige kommunikative Einheiten typisch ist, seltener deiktisch: (199) [Gabrièle d' Estrées]+Th, er wußte wohl, daß [sie]Th praktischen Ratschlägen, nicht aber ihrem Herzen gefolgt war. (H. Mann, Die Vollendung des Königs Henri Quatre, 69) (200) „[Die Sturmflut]+Th", half ihm Iven, „ich hätte nicht gedacht, dass sich [dafur]T11 noch jemand interessiert." (Paluch&Habeck, Hauke Haiens Tod, 36) Eine Thematisierung ist auch im Vorfeld möglich, in der Mündlichkeit verbindet sie sich mit einer intonatorischen Zäsur (progredientes Tonmuster und Pause): (201) [Ulrike]+Th hatte uns bekanntgemacht. [Sie]Th war jünger als ich, die künftige Erbin von Dr. Hermann... (E. Schmitter, Frau Sartoris, 21) (202) [Haien]+Th war alles andere als ein barmherziger Mensch. Trina Jans hatte [er]Th schon als Junge geärgert... (Paluch&Habeck, Hauke Haiens Tod, 187) Schließlich kann auch im hinteren Teil des Mittelfelds, an einer rhematischen Position, thematisiert werden; dies geschieht in der Regel mit einer indefiniten, durch Akzent hervorgehobenen Nominalphrase. Im folgenden Beispiel ist die thematische Fortführung nicht verbalisiert, sie geschieht implizit (Analepse): (203) S Gibt [n neuen Film mit Jack Nicholson]+Th. ((3,2s)) D [ ]Th Hab ich gesehen... (Hermann 1996 (Kinoerzählungen), 1) Ebenfalls im Mittelfeld finden sich Thematisierungen in Verbindung mit einem Existenzausdruck (Es war einmal ein...; es gibt ein...). In der Themafortführung wird das konstante Thema vorzugsweise mit einer
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Anapher, aber auch mit einer definiten Nominalphrase oder einer Anadeixis versprachlicht. Die Anadeixis der lässt nach dem nächstgelegenen Punkt im Verweisraum von Text oder Rede suchen, an den sich thematisch anknüpfen lässt: (204) Als Iven nach der Sturmflut ohne Geld und ohne Job bei [dem Slowaken]Th auftauchte, hatte [der]Th schon den Nachtklub am Laufen. (Paluch&Habeck, Hauke Haiens Tod, 24) Eine gewisse Parallelität zeigt der implementierte (appositive) Relativsatz, der das mit einer NP bzw. einem Eigennamen, einer Deixis oder Anapher Gesagte als Topik nimmt und durch ein anadeiktisches Relativum thematisch fortführt: (205) Er legte sich vor das Bett und deckte sich mit [ihrem Fellmantel]+Th zu, [der]Th dumpf nach Blut roch. (Paluch&Habeck, Hauke Haiens Tod, 32) Auf diese Weise wird in eine Proposition eine zusätzliche Thema-Rhema-Einheit eingelagert. Dies kann zur Etablierung eines Neben-/Subthemas, aber auch zur narrativen Verdichtung genutzt werden, so dass der thematische Hauptstrang weiter im Zentrum der Handlungsverkettung bleibt und ausreichend gewichtet ist. Alternativ kann auch eine satzförmige Parenthese - allerdings mit Anapher - installiert werden. Die Anapher verlängert bestehende Orientierungen in Parallelverarbeitung der Vorgängeräußerung. Zunächst wird, sofern Genus und Numerus korrespondieren, die Subjektposition des übergeordneten Satzes versuchsweise übernommen, dann weitere Folgepositionen, bis das zur Prädikation Passende gefunden ist.· (206) Auf der Dorfstraße fuhren [sie]Thl+2 am [Postlaster]+Th3 voibei, [der]Th3 halb auf dem Bürgersteig parkte. [Wienke]Th2 drehte sich nach [ihm]Th3 um. ,,[Das]Th3 ist Stens Laster", sagte [sie]Th2. (Paluch&Habeck, Hauke Haiens Tod, 88) In einer nominalen Fortführung sind rekurrente {Peter...Peter; ein Kind...das Kind) oder changierende (eine Amsel...der Vogel) nominale Prädikate zu finden, bei letzteren ist die Abfolge eines spezifischer kennzeichnenden vor einem unspezifischeren Ausdruck typisch. Das Beispiel zeigt, wie in die changierende Nominalphrase weitere Prädikate installiert werden können: (207) Diese mittelalterliche Weltsicht (...) findet [Chuck Palahniuk]Th mehr oder weniger ungebrochen in der Gegenwart wieder, es ist kein Wunder, dass in den Romanen [des 41-jährigen amerikanischen Schriftstellers]Th Selbsthilfegruppen eine wichtige Rolle spielen. (taz 20.3.2003, literataz I) 4.3. Kommunikative
Gewichtung
Mit einem spezifischen Ensemble sprachlicher Mittel, die dabei zusammenwirken, kann das Gesagte in differenzierter Weise gewichtet werden.48
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Wer gewichtet, setzt etwas anderes voraus, das eine Folie für die Gewichtung bildet. Kommunikative Gewichtung leistet eine Ausdifferenzierung des Gesagten in Vordergrund und Hintergrund, mit der das vermittelte Wissen bewertet wird. Der Hintergrund kann die Umgebung eines in den Vordergrund gerückten Satzes oder einer Äußerung sein, meist aber hat ein Satz selbst eine VordergrundHintergrund-Strukturierung. Unter dem Vordergrund verstehen wir den Teil des Gesagten, der für den Adressaten durch spezifische Mittel als gewichtet markiert ist. Dies ist der Gewichtungspunkt (kurz: Punkt) der Äußerung. Was nicht zum Vordergrund gehört, wird dem Hintergrund zugeordnet. Mit Akten des Gewichtens lenken Sprecher/Autor aufgrund vorgängiger Bewertung die Adressaten auf Elemente des Gesagten, die in ihrem Wissen einen spezifischen Stellenwert erhalten sollen. Denn eine Wissensstruktur ist stets ein bewertetes Wissen B:W(g). So wird die Wissensverarbeitung der Rezipienten vorstrukturieit und die Aufnahme ins Gedächtnis unterstützt. Auf der Formseite entspricht der Gewichtung die Bildung einer Hervorhebungsdomäne mit den dafür ausgebildeten sprachlichen Prozeduren. Diese Prozeduren bilden zum Ausdruck der Gewichtung einen Funktionskomplex (z.B. lineare Abfolge + Intonation/Akzent). Die Gewichtung erstreckt sich auf funktionale Einheiten wie die Phrase, den Ausdruck der Prädikation oder der Subjektion, den Satz oder eine Satzfolge. Funktional divergente Ausdruckskomplexe, die in unterschiedlicher Weise oder an unterschiedlicher Stelle zum Aufbau beitragen, bilden satzintern keine Hervoriiebungsdomäne: /A./ Nur Funktionseinheiten können in den Vordergrund gesetzt werden. Die Gewichtung kann lokal oder kompositioneil sein: sie kann genau den durch das Mittel markierten Ausdruck als Funktionseinheit umfassen (lokale Gewichtung) oder ausgehend davon einen weiteren Teil der Nachbarschaft einschließen, die über diesen Exponenten als markiert gilt (kompositionelle Gewichtung). (208) Ζ ...stand der Wagen Mitte auf der Straße/ R Wagen Ζ (F.20.47; Gericht; R(ichter), Z(euge)) Formal betrachtet kann die Hervorhebungsdomäne eine einzelne Silbe, eine Wortform, eine Phrase, aber auch einen Satz oder eine Satzfolge umfassen. Gewichtend wirken insbesondere die folgenden operativen Prozeduren: (a) Akzentuierung als Mittel der Intonation: Sie kann eingesetzt werden, um den Trägerausdruck mit oder ohne einen Teil seiner Umgebung als Hervorhebungsdomäne zu markieren; ferner können Pausierungen im Zusammenspiel mit folgenden hervorgehobenen Wortgruppen Relevanzbereiche markieren, schließlich wird erhöhte Lautstärke häufig in Verbindung mit reduziertem Tempo 48
Mehr und Geneaueres zur Gewichtung: Hoffmann 2002.
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Ludger Hoffmann
eingesetzt, um eine Einheit als gewichtet kennzeichnen - wir gehen hier darauf nicht näher ein; in der Schriftlichkeit liefern Attribute wie Unterstreichung oder Sperrung eine (begrenzte) Kompensation; (b) Lineare Abfolge: Eine andere als die erwartete Abfolge oder die Realisierung in einem spezifischen Feld (Satzanfang, hin zum Satzende) oder die Nachbarschaft zu hervorhebenden Ausdrücken können eine Hervorhebungsdomäne schaffen; (c) Lexikalische Einheiten: selbständige oder gebundene Ausdrücke erzeugen eine Hervorhebungsdomäne in ihrer (unmittelbaren oder auf sie bezogenen) Umgebung (Grad- und Negationspartikeln, aber auch einige Subjunktoren und Konjunktoren). Diese operativen Prozeduren bilden im Zusammenspiel mit symbolischen Prozeduren - mit den propositionalen Elementen, die gewichtet werden - einen Komplex, ein Operon als Gruppe aus funktional und strukturell zusammenhängender Einheiten. Wir gehen aus vom Mittel der Akzentuierung und behandeln dann kurz die Realisierungsfolge im Deutschen. Für Phrasen als Funktionseinheiten - ausgenommen die Verbalphrase - gilt: /B./ Schließt ein Nomen als Intégrât eine Phrase, wird es als Exponent hervorgehoben, sonst der Kopf der Phrase. (209) Er hat also dem Uhu (...) dahin gebaut. (Sperlbaum, Proben dt. Umgangssprache, 155 (retranskr.)) (210) ; ; : : ; ; : Erscheint nach dem Kopf ein Relativsatz oder eine installierte (appositive) Nominal-/ Präpositionalphrase, so bilden sie eine eigene intonatorische oder graphische Einheit (Pause, Progredienz; paariges Komma, Gedankenstriche), die selbst Hervorhebungsdomäne sein kann, aber nicht in die Domäne der aufnehmenden Phrase einbezogen ist. Bei Koordination wird stets das zweite oder letzte Konjunkt hervorgehoben und dient als Exponent. Für Rezipienten bleibt zu entscheiden, ob die ganze Koordination oder nur diese letzte Phrase die Hervorhebungsdomäne bildet. Komplexer kann der Ausdruck der Prädikation sein, die Verbalphrase. Funktional gesehen handelt es sich typischerweise um eine Gewichtung des Rhemas, dem Thema oder Topik in Subjekt-Position gegenüber stehen. Was als Exponent gewählt wird, zeigen einige Beispiele: (211) Och, wir chaben uns nicht sehr viele Gedanken darüber gemacht». ( WDR II (Ansichtssachen) 116; M(oderatorin); I(nterviewte)) (212) Okay, dann ich (Hagemann/Häußler, Interview „Bunte" 2002,3) (213) Okay, dann du claut unserer Analyse die typische Bunteleserin>. (Hagemann/Häußler, Interview „Bunte" 2002,1) (214) Dann e cirgendwas bei uns gewinnen> heute hier. (Hagemann/Häußler, Interview „Bunte" 2002,1)
Funktionale Syntax: Prinzipien und Prozeduren
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(215) Ja, an Autobushaltestellen man ··· (Sperlbaum, Proben dt. Umgangssprache, 127 (retranskr.)) (216) ...und äh hatten uns da jetzt η festen Standort gesucht, wo wir . (Sperlbaum, Proben dt. Umgangssprache, 65 (retranskr.)) (217) A: Was haben die Kinder gemacht? Β1 : Die Kinder vor zwei Tagen . B2: Die Kinder zwei Stunden . B3: Die Kinder chaben zwei Stunden am Computer verbracht>. B4: Die Kinder chaben auf dem Spielplatz gespielt>. B5: Die Kinder Fall B4 ist auffällig, weil Lokaladverbialia in der Regel als propositionsbezogen gelten, den Ort eines Ereignisses angeben. Gleichwohl kann dieses hier als Exponent gewertet werden ('spielen' und 'auf dem Spielplatz' bilden eine Einheit- etwa abgegrenzt gegen 'zu Hause spielen'); eine Akzentuierung von gespielt würde das Vollverb isoliert oder den Verbalkomplex hervorheben. Wenn die Prädikation gewichtet erscheint, so muss sie als Abstraktion einer offenen Proposition gelten ('x hat auf dem Spielplatz gespielt'), eine in der logischen Semantik für die Negation durchaus geläufige Analyse.49 B1 und B2 zeigen, dass dies im temporalen bzw. durativen Bereich meist nicht möglich ist, die entsprechende Phrase also nicht als Exponent der Hervorhebungsdomäne Prädikationsausdruck in Betracht kommt. Auch eine propositionsbezogene Kausalangabe wie in (B5) bildet eine eigene Hervorhebungsdomäne. Zeit- und Grundangaben sind am weitesten entfernt von einem Gegenstandskonzept, das für die Gewichtung relevant scheint. Orte hingegen können als Gegenstände konzeptualisiert werden, sie können einen Eigennamen erhalten etc. Anders nur, wenn etwa die Angabe der Dauer ein Moment der Verbbedeutung expliziert: (218) Die Sitzung chat wieder mal ein Buch geschrieben». Es gilt für strukurell einfache Sätze (mit einstelligem Verb, ohne substantivisches Explikat) eine Besonderheit: /F./ Ist der Subjektausdruck im Vorfeld hervorgehoben, so wird der Satzrest nicht akzentuiert. Sonst wird der Subjektausdruck intonatorisch in den Satzrest integriert (das Vollverb bzw. der letzte Vollverbteil wird Exponent). (221) A: Was ist passiert? B: « D e r Papst> ist gestorben>. C: Iangagelangagelangagelanguelangagelangue (basiskonfigurierend)
In der phonologischen/graphematischen Repräsentation schlägt sich diese Bindungsdifferenz jedoch nicht nieder. Beide Wortformen würden als [V-t] artikuliert bzw. als geschrieben. Die Präs/Prät-Distinktivität muss daher durch Zweisilbigkeit hergestellt werden.14 Für die 1. und die 2. Ps Sg kommt es wegen der im Plural phonologisch/prosodisch motivierten, in der 3. Ps Sg morphologisch motivierten Herstellung von Zweisilbigkeit zu einem paradigmatischen Ausgleich (vgl. Eisenberg 1997, 1998:180).15 13
Es versteht sich, dass es sich bei mehrsilbigen Verben nicht um die Herstellung von Zweisilbigkeit handelt, sondern um die Hinzufügung einer weiteren Silbe zu den Stammsilben.
14
Wir halten diese Zusatzannahme aus drei Gründen für gerechtfertigt: (1) Da sich präteritale und präsentische Indikative dieselben Kontexte teilen, ist eine absolute formale Distinktivität zwingend. Wird diese nicht vom morphologischen System transparent gemacht, wird epenthetisiert. Die starken Verben nehmen das -3 im Indikativ 2 grundsätzlich nicht. Wäre -s im Indikativ 2 basiskonfigurierend, so müsste es hier zumindest stehen können. In umgangssprachlichen Registern kann das -3 der erst- und zweitpersonigen Formen bei den schwachen Verben entfallen (ich hatt' Hunger, du hatt'st Hunger), nicht aber das (einzig funktional motivierte) -s der drittpersonigen Form (*er hatt' Hunger).
15
Sowohl in Fabricius-Hansen (1999) als auch in Bredel/Lohnstein (2000) wird eine weitere für die Verbflexion relevante Dimension angenommen, die zur Erfassung der Modalität notwendig ist. Dieser sog. Welt-Parameter wird in unserer Analyse nur indirekt benutzt, da die Eigenschaften der Konjunktive aus anderen Wirkzusammenhängen deduziert werden.
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Ursula Bredel & Horst Lohnstein
Betrachtet man Tabelle (7), so zeigt sich, dass die Formen des Indikativs durch die Abwesenheit von basiskonfigurierendem -3 charakterisiert sind, während bei den Konjunktiven die Anwesenheit des basiskonfigurierenden -3 konstitutiv ist. Die 1/2-Formen ergeben sich analog zur An-/Abwesenheit von -3 durch die An-/Abwesenheit von basiskonfigurierendem t. Um diese Systematik zu erfassen, werden wir im Folgenden nicht mehr von Morphemen oder Affixen sprechen, sondern den begriff des Markers verwenden. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass auch die Abwesenheit bestimmter Elemente positiv spezifiziert werden kann, ohne dass auf das Konzept des Nullmorphems zurückgegriffen werden müsste. Tabelle (10) fasst den morphologischen Kernbestand der basiskonfigurierenden Marker der synthetischen Verbformen zusammen:
*t
t
3
Indikativ 1
Indikativ 2
3
Konjunktiv 1
Konjunktiv 2
3. Zur Funktion von -9 und -t Die morphologische Komposition der synthetischen Verbformen wird auch durch eine kompositioneile Funktionsbestimmung gestützt. Zur Argumentation dieses Zusammenhangs werden wir die Funktionsbestimmungen, die sich aus den elementaren, wortformkonfigurierenden Funktionen der Marker -3 und -t ergeben zu einer kompositionellen Analyse ihrer basiskonfigurierenden Funktion heranziehen. In Bezug auf die wortformkonfigurierend gebundenen Einheiten gilt, dass sie - unter Rückgriff auf die elementaren deiktischen Koordinaten der Sprecher-Hörer-Konstellation - traditionell gesprochen Person und Numerus kennzeichnen; sie werden in der Prädikationsstruktur interpretiert. Basiskonfigurierend gebundene Einheiten dienen - vorläufig gesprochen - der Modus-/Tempuskennzeichnung und werden in Bezug auf die Proposition interpretiert. Da -3 und -t in der Wortformkonfiguration komplementär verteilt sind, lässt sich die Funktionsbestimmeung für beide Marker isoliert und unabhängigvoneinander gewinnen. In allen möglichen Basiskonfigurationen (vgl. Tab 7) treten diese elementaren Funktionen in eine systematische Interaktion, so dass aus den positiven/negativen Spezifikationen die komplexen Funktionen kompositioneil bestimmt werden können.
Die Verankerung von Sprecher und Hörer im verbalen Paradigma
131
3.1 Verbmorphologie und Deixis Wie in Fabricius-Hansen (1999) und Bredel/Lohnstein (2001) ausgeführt wird, steuern die flexivischen Marker des Deutschen die prädikative und propositionale Interpretation von Sätzen relativ zu verschiedenen Dimensionen des deiktischen Systems. Die nun folgenden Abschnitte erörtern daher zunächst die Struktur eines solchen Systems und die verschiedenen Verweisräume, relativ zu denen deiktische Interpretationen stattfinden können. Dabei wird die Funktion von -3 und -t auf die verschiedenen Komponenten des deiktischen Systems bezogen, wobei speziell am Indikativ 1 die wesentlichen Eigenschaften dieser beiden Elemente aufgezeigt werden. Die daran anschließenden Abschnitte behandeln dann diese beiden Marker sowohl hinsichtlich ihrer je spezifischen Charakteristik als auch in Bezug auf ihre Bedeutungskomposition bei gemeinsamem Auftreten.
3.1.1. Die Struktur des deiktischen Koordinatensystems In der klassischen auf Bühler (1934) zurückgehenden Form besteht ein deiktisches Koordinatensystem aus einer „Origo" (einem Ursprungspunkt), von dem verschiedene Koordinaten-Achsen ausgehen. So ist u. a. eine Person-, eine Zeitund eine Ortskoordinate zu unterscheiden, die ihr Zentrum in der Ich-Jetzt-HierOrigo haben. Daneben ist die Menge derjenigen Objekte zu spezifizieren, die als deiktisch erreichbare Objekte in den Diskurs eingeführt werden können. (11) deutet die zugrunde liegende Konfiguration an.16
^ ^ Person
deskriptive Diskurs-Objekte
Zeit
Zunächst gilt, dass S und H eine gemeinsame Perspektive auf die deiktischen 16
Dies ist jedenfalls bei allen Diskursen der Fall, die in mündlichen Gesprächen realisiert sind. Von marginalen Fällen wie Tonbandaufnahmen, Flaschenpost usw. wollen wir hier absehen.
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Ursula Bredel & Horst Lohnstein
Objekte des Verweisraums einnehmen. Das gilt uneingeschränkt für die Zeitkoordinaten von S und H, die identisch spezifiziert sind, sowie für die Ortskoordinaten.17 Demgegenüber ist die Personkoordinate sprecher-hörerseitig spezifiziert: Sprecher und Hörer sind physisch dissoziiert, so dass die PersonKoordinate insofern variiert, als sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer die jeweils eigene Person in der Origo spezifiziert ist, während die RaumZeitkoordinaten identisch spezifiziert sind. Wie im Weiteren gezeigt wird, ist die personale Dissoziation von S und H, wie sie in der Personmarkierung auch grammatisch niedergelegt ist, für die Bedeutungskonstitution des Konjunktivs relevant.
3.1.2 Der Verweisraum Das Konzept des Verweisraums wurde von Bühler (1934) eingeführt und u. a. von Ehlich (1979, 1987) weiter spezifiziert." Bühler geht davon aus, dass neben dem Zeigfeld des Hier-und-Jetzt, das - wie oben dargestellt - die PersonZeit-Ortskoordinaten des aktuellen Diskurses sättigt, ein weiteres Zeigfeld zu veranschlagen ist, in dem die deiktischen Koordinaten verschoben sind. Bühler spricht im ersten Fall von der Demonstratio ad oculos, im zweiten von der Deixis am Phantasma. Diese beiden Formen der Deixis werden hier durch einen faktischen und einen epistemischen Verweisraum modelliert. Dabei zielt der Ausdruck des Verweisraums auf eine mentale Konzeptualisierung von S und H. Der faktische Verweisraum ist eine konzeptuelle Repräsentation dessen, was prinzipiell im Hier-und-Jetzt erreichbar ist; die deiktischen Prozeduren werden entsprechend ad oculos vollzogen. Der epistemische Verweisraum ist eine konzeptuelle Repräsentation dessen, was im Wissen von S und H erreichbar ist; die deiktischen Prozeduren vollziehen sich am Phantasma. Mit der Unterscheidung zwischen epistemischem und faktischem Verweisraum sowie der Differenz zwischen gemeinsamen Raum-Zeit- und separierten Personkoordinaten von S und H relativ zum Verweisraum sind die wesentlichen Funktionen von -s und -t eingeführt. Wir werden im Folgenden zeigen, wie sich die Funktion der basiskonfigurierenden Einheiten -3 und -t aus den Elementarfunktionen der wortformkonfigurierenden „Person/Numerus"-Marker -3 und -t systematisch ableiten lassen.
17
Auch von den Bedingungen, die bei Fernkommunikation (wie etwa Telefongesprächen usw.) vorliegen, abstrahieren wir hier.
18
Zur Struktur und den Eigenschaften von Verweisräumen vgl. u.a. die von Bühler (1934) erörterten Felder. Ein Verweisraum kann im wesentlichen mit dem Zeigfeld identifiziert werden, wird hier jedoch weiter differenziert.
Die Verankerung von Sprecher und Hörer im verbalen Paradigma
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3.2. -d und -t und ihre deiktische Interpretation Ein wesentliches in der Verbalmorphologie des Deutschen verankertes Element ist die Markierung deiktischer Positionen für den Sprecher und den Hörer sowie die Markierung für deskriptive Diskursobjekte. Im Indikativ 1 drückt sich dies regelhaft in der Personmarkierung aus. Klassifiziert werden die entsprechenden grammatischen Markierungen dann auch traditionell als Personenkategorien (erste, zweite, dritte Person), wobei die erste standardmäßig den Sprecher, die zweite den Hörer und die dritte den Anderen bezeichnet. Mit Plank (1984) gehen wir von einer hierarchischen, asymmetrischen Relation zwischen erster und zweiter Person einerseits und dritter Person andererseits aus: Die „dritte Person", der Andere, ist negativ spezifiziert. Sie kommt bei einem Bezug auf ein Nicht-Ich/Nicht-Du zum Einsatz. Im Gegensatz zu erst- und zweitpersonigen Ausdrücken, mit denen stets deiktische Prozeduren vollzogen werden, können mit „drittpersonigen" Ausdrücken sowohl deiktische als auch phorische Prozeduren vollzogen werden (vgl. der vs. er); die „drittpersonige" Verbmarkierung (-t) ist neben einer Spezifizierung des phorisch oder deiktisch spezifizierten Anderen ebenso für sprachinterne Zwecke, die Herstellung von grammatischer Kongruenz funktional.19 Für uns interessant ist der Fall der deiktischen Bezugnahme „drittpersonigei" Ausdrücke. Wie bereits Blatz (1896) gemutmaßt hat, ist die -t-Markierung das Resultat einer Klitisierung der to-Deixis an den Verbstamm; das -t der dritten Person Singular verweist demnach ursprünglich auf deiktische Ferne des Zeigobjekts von S und H.20 Der phorische und der grammatisch-funktionale Gebrauch der drittpersonigen Verbmarkierung ist Resultat einer Grammatikalisierung, in der die Opposition von Ich/Du und der/die/das Andere organisiert wird. Betrachtet man -3 und -t, verstanden als Markierungen von Ich und NichtIch/Nicht-Du in ihrer wortformkonfigurierenden Eigenschaft im Indikativ 1, und bildet man die mit diesen beiden Elementen verbundenen Funktionen auf der Person-Koordinate des deiktischen Systems ab, so führt dies zunächst zu der Darstellung in (12). (12)
PersonKoordinate:
Origo #
deskriptive #
Ich
Du
(Sprecher)
(Hörer)
DiskursObjekte
19
Zur kategorialen Unterscheidung zwischen „erst-/zweitpersonigen" und „drittpersonigen" Prädikaten vgl. auch Redder (1992).
20
Vermutlich ist auch die hörerdeiktische t-Markierung (du komms-t/ihr komm-t) Resultat einer Klitisierung. Wir hätten dann den historischen Befund, dass ganz im Sinne von Plank (1984) die flexionsmorphologische Differenzierung mit einer Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich beginnt.
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Ursula Bredel & Horst Lohnstein
Die Origo dieser Koordinate wird durch den Sprecher spezifiziert, auf den i.d.R. mit der ersten Person Singular Bezug genommen wird. Davon unterscheidet die Verbalflexion des Deutschen zwei andere Koordinaten-Elemente: den Hörer (oder Adressaten), sowie die nicht notwendigerweise personalen deskriptiven Diskursobjekte, die durch referentielle oder phorische Prozeduren in den Diskurs eingeführt werden können. Für die Fixierung der Diskurssituation sind Sprecher und Hörer konstitutiv. Mittels Symbolfeldausdrücken können deskriptive Diskursobjekte eingebracht werden; sie werden flexionsmorphologisch entsprechend spezifiziert. Der Sprecher kann in einer Prädikationsstruktur eine isolierte Perspektive einnehmen. Dies ist dann der Fall, wenn die erste Person (mit -9) markiert ist, so dass sich der Sprecher in einer exklusiven Position befindet. Die beiden anderen Positionen (Hörer und Diskursobjekte) sind damit aus der Prädikation ausgeklammert. (13) zeigt, zu welcher Konfiguration der Person-Koordinate die Markierung mit -3 für die erste Person führt. Zugleich verdeutlicht die Grafik, dass die t-Markierung die origofernen Koordinatenelemente auszeichnet: (13) -3-Markierung/-t-Markierung: 9 _ Origo Person-Koordinate: Ich (Sprecher)
Du (Hörer)
deskriptive DiskursObjekte
Die wesentlichen Eigenschaften von wortformkonfigurierendem -s und -t sind in (14) zusammengefasst: (14)(i) -9 isoliert auf der Person-Koordinate den Sprecher, indem der Hörer und die Diskursobjekte dispensiert werden; -a bringt sprecherseitige Dissoziation zum Ausdruck. (ii) -t fasst den Adressaten und die deskriptiven Diskursobjekte als vom Sprecher ferne Objekte zusammen, -t bringt sprecherseitige Origoferne zum Ausdruck. Für diese, bei der Wortformkonfiguration im Indikativ 1 zu beobachtenden Funktionen wollen wir zeigen, dass sie in gleicher Weise auch für die Basiskonfiguration gelten und dass daraus die Funktionen des Indikativs 2, sowie der Konjunktive hergeleitet werden können.
Die Verankerung von Sprecher und Hörer im verbalen Paradigma
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3.2.1. Zar Funktion von -t Das wortformkonfigurierende -t im Indikativ 1, das in herkömmlichen Analysen als Markierung der „dritten Person" analysiert wird, wird hier als Markierung für diejenigen Diskurs-Objekte aufgefasst, die nicht der Sprecher sind. Das wortformkonfigurierende -t markiert damit Entferntheit zwischen dem Sprecher und dem prädizierten Anderen (vgl. Abb. (13)). Ohne auf den systematischen Zusammenhang zwischen der „drittpersonigen" t-Markierung im Indikativ 1 und der präteritalen t-Markierung hinzuweisen, spricht Redder (1999) in Bezug auf Präsens- und Präteritumsmarkierungen von ,,Mittel[n] zum Vollzug von zeigenden Prozeduren, die in systematisch abgeleiteten „Verweisräumen" [...] funktional sind." (A. a. O.: 319) Die Autorin unterscheidet zwischen „temporaler Fernedeixis" für das präteritale Morphem -t und temporaler Nähedeixis für das Präsensmorphem (Φ).21 Wie aus der wortformkonfigurierenden -t-Markierung im Indikativ 1 ableitbar, trifft zwar zu, dass mit dem Flexiv -t „Ferne" angezeigt wird; diese „Ferne" ist jedoch nur im Indikativ 2 (und dort auch nicht durchgängig, vgl. das fiktionale Präteritum bei Hamburger 1957) als „temporale Ferne" zu veranschlagen. Im Konjunktiv 2, der ebenfalls die -t- Markierung aufweist, ist die „Ferne" eben um die zeitliche Relation gekürzt, was - wie angedeutet - in der Tradition zu erheblichen Umdeutungen der konjunktivischen -t- Markierung geführt hat. Unter Einbezug indikativischer und konjunktivischer Formen modelliert Thieroff (1992) das verbale Paradigma, das er in zwei Gruppen einteilt, die sich durch die Kategorisierung „Distanz" mit den Kategorien „Entfemtheit" (t-maikiert) - „Nicht-Entferntheit" (*-t- markiert) voneinander unterscheiden, ohne dass der Autor zunächst auf das Konzept der Temporalität zurückgreift. In seiner Unterscheidung zwischen konjunktivischen und indikativischen Präteritalformen fällt Thieroff allerdings hinter seinen Vorschlag, eine abstrakte Kategorisierung „Distanz" anzusetzen, zurück, wenn er schreibt, dass „die Entferntheit, je nachdem, ob sie mit dem Indikativ oder dem Konjunktiv auftritt, [...] verschiedene „Arten" von Entferntheit signalisiert, nämlich in Verbindung mit dem Indikativ primär eine zeitliche Entferntheit [...], in Verbindung mit dem Konjunktiv eine modale Entferntheit." (Thieroff 1992: 285) Das Problem der uneinheitlichen Erfassung der Kategorien „Entferntheit" im Indikativ und im Konjunktiv entsteht hier dadurch, dass auch Thieroff - in Anlehnung an die Tradition - an der Konzeption des präteritalen -t als vom Indikativ abgeleiteten Tempusmarker festhält; der Konjunktiv muss dann notwendig abweichend dazu interpretiert werden. 21
Wie bereits angesprochen werden wir im Folgenden nicht von einem Präsensmorphem sprechen, sondern davon, dass eine Markierung, die nicht an der Oberfläche erscheint, kraft ihres Fehlens differenzierende Funktion hat. Diese Auffassung setzt ein dichotomes System voraus, was in Bezug auf die Verbalfunktion auch tatsächlich angenommen werden muss.
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Ursula Bredel & Horst Lohnstein
Um der beschriebenen flexionsmorphologischen Kompositionalität des verbalen Paradigmas gerecht zu werden, muss die Bedeutung der morphologischen Einheit -t (und mithin die *-t-Markierung) u. E. von Beginn an abstrakter gefasst werden. Wir werden im Folgenden das Konzept des Verweisraums, wie es von Redder für die Temporalanalyse produktiv gemacht wird, aufgreifen. Dabei gehen wir von der oben getroffenen Unterscheidung zwischen epistemischem und faktischem Verweisraum aus. Die Gemeinsamkeit zwischen den Verbformen mit basiskonfigurierendem -t besteht dann darin, dass die entsprechende Proposition im fernen, epistemischen Verweisraum verankert sind. Diejenigen Verbformen die das -t in der Basiskonfiguration nicht aufweisen, sind demgegenüber im nahen, faktischen Verweisraum verankert. Mit der t-Markierung wird demnach eine deiktische Prozedur am Phantasma vollzogen; *t-markierte Verbformen entfalten ihre prozdurale Qualität ad oculos. Die temporale Lesart des t-markierten Indikativs 2 stellt sich in dieser Interpretation als ein Spezialfall möglicher epistemischer Qualitäten dar, keinesfalls aber ist „Vergangenheit" das konstituierende Merkmal für den Indikativ 2. Es kommt ebenso die fiktionale Lesart in Betracht, wie sie Hamburger (1957) für literarische Texte diagnostiziert. 3.2.2
Zur Funktion von -3
Wie -t tritt auch -3 im Indikativ 1 als wortformkonfigurierendes Element auf. Es kennzeichnet in dieser Verwendung den Sprecher und wird in herkömmlichen Analysen als „Personmorphem" der 1. Person analysiert. Wie in Schaubild (13) dargestellt, klammert der Sprecher mit der erstpersonigen Prädikation im Indikativ 1 das Andere, insbesondere aber den Hörer aus, indem er sich selbst isoliert. Mit der morphologischen Unterscheidung zwischen hörerdeiktischen (-st) und sprecherdeiktischen Prädikaten (-3) wird die physische Dissoziation zwischen S und H im Diskurs markiert. Eben diese Dissoziation zwischen S und H, die im Indikativ 1 in der Prädikationsstruktur interpretiert wird, wird im Konjunktiv auf die Proposition übertragen. Die für den Konjunktiv charakteristische basiskonfigurierende -sMarkierung dispensiert den Hörer aus der gemeinsamen Perspektive auf den jeweiligen Verweisraum, so dass für -»-markierte Formen eine dissoziierte Perspektive von S und H anzusetzen ist. Die Konsequenzen für die Interpretation der konjunktivischen Konstruktionen werden insbesondere bei der Bewertbarkeit der ausgedrückten Proposition sichtbar: Indikative, also Verbformen mit basiskonfigurierender *-a-Markierung, machen propositionale Einheiten über die Etablierung einer gemeinsamen Perspektive im entsprechenden Verweisraum für S und H bewertbar. Die Propositionen werden vermittels der gemeinsamen Perspektive von S und H als „wahr" (i. S. v. überprüfbar von S und H) auf Ρ (die Wirklichkeit) projiziert. Verbformen mit basiskonfigurierender -a-Markierung (Konjunktive) suspen-
Die Verankerung von Sprecher und Hörer im verbalen Paradigma
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dieren den Hörer aus der gemeinsamen Origo des entsprechenden Verweisraums und heben damit die gemeinsame Bewertbarkeit der propositionalen Einheiten auf. Diese werden entsprechend nicht auf Ρ projiziert, sondern den Fakten (im Fall des Konjunktivs 1) bzw. der Episteme (im Fall des Konjunktivs 2) trotz/wider besseren Sehens/Wissens hinzugefügt. 3.2.3 Die Kombinatorik von -9 und -t in den Verbformen des Deutschen Unter (7) wurden die Ergebnisse der flexionsmorphologischen Rekonstruktion in Bezug auf die wortformkonfigurierend und basiskonfigurierend gebundenen morphologischen Einheiten -3 und -t im verbalen Paradigma in einem Vierfelderschema zusammengestellt; eine Auswertung des flexionsmorphologischen Befundes in Bezug auf die basiskonfigurierenden morphologischen Einheiten -3 und -t zeigt, dass diese auf die vier synthetischen Verbformen so verteilt sind, dass alle möglichen Kombinationen auch tatsächlich realisiert sind und dass keine Kombination für mehr als eine Kategorie gilt, so dass wir die eineindeutige kombinatorische Zuordnung basiskonfigurierender Elemente in (15) erhalten: (15) (i) Indikativ 1 (ii) Konjunktiv 1 (iii) Indikativ 2 (iv) Konjunktiv 2
(*-3, *-t) ( -a, *-t) (*-3, -t) ( -3, -t)
Die Unterscheidung zwischen epistemischem und faktischem Verweisraum (-tMarkierung) einerseits sowie zwischen einer gemeinsamen und einer separierten Perspektive zwischen Sprecher und Hörer andererseits (-s-Markierung) ergibt die Kombinatorik in (16), die den vier flexionsmorpho-logischen Kategorien folgendermaßen zugeordnet sind: (16) (i) (ii) (iii) (iv)
II gemeinsame Origo bzgl. des faktischen Verweisraums (-» P) Kl dissoziierte Origo bzgl. des faktischen Verweisraums (-> Π) 12 gemeinsame Origo bzgl. des epistemischen Verweisraums (—> P) K2 dissoziierte Origo bzgl. des epistemischen Verweisraums (—» Π)
Diese Beobachtungen und Zuordnungen fassen wir nun zu den beiden Hypothesen Hl und H2 zusammen, deren Geltung wir im Weiteren anhand einer funktionalen Analyse der unterschiedenen Flexionskategorien zeigen wollen. Wenn sich aus diesen Charakterisierungen die verschiedenen Funktionen in den jeweiligen Verwendungsweisen der Verbformen ableiten lassen, so ist sowohl die Analyse als auch die Zuordnung zwischen Flexionsmorphologie und Funktion wohlmotiviert.
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Hl: Indikativ und Konjunktiv unterscheiden sich darin, dass beim Indikativ Sprecher und Hörer eine gemeinsame Perspektive auf die Propositon haben, während beim Konjunktiv der Hörer aus dieser gemeinsamen Perspektive dispensiert ist. H2: Präsens und Präteritum unterscheiden sich darin, dass die Proposition beim Präsens im faktischen, beim Präteritum im epistemischen Verweisraum verankert wild. Speziell wird mit Hl und H2 behauptet, dass für die Distribution von -3 und -t (17) gilt. (17)
gemeinsame Perspektive von S+H
dissoziierte Perspektive von S+H 9
faktischer Verweisraum ad oculos *t
faktischer Verweisraum am Phantasma t
Indikativ 1
Indikativ 2
Konjunktiv 1
Konjunktiv 2
3.3 Die Flexionskategorien im Einzelnen Die folgenden vier Abschnitte behandeln jeweils die im Deutschen unterschiedenen Flexionskategorien aus (15) im Einzelnen. 3.3.1 Indikativ 1 Der Indikativ 1 zeichnet sich dadurch aus, dass keine basiskonfigurierenden Markierungen auftreten; vielmehr sind -9 und -t wortformkonfigurierend gebunden. Für die Struktur der Prädikation ergeben sich also die Effekte, die in (12) und (13) dargestellt sind.
Die Verankerung von Sprecher und Hörer im verbalen Paradigma
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Das Nicht-Vorliegen overter basiskonfigurierender Einheiten heißt, dass der Indikativ 1 hinsichtlich seiner Basiskonfiguration sowohl *-> als auch *-tmarkiert ist. Sprecher und Hörer nehmen eine gemeinsame Perspektive hinsichtlich der Bewertung der Proposition ein und zwar bezogen auf den faktischen Verweisraum; die Abwesenheit der entsprechenden Marker deutet darauf hin, dass die Gemeinsamkeit von S und H im für S und H präsenten Wahrnehmungsraum sprachlich als Standardkonstellation gilt. Der sowohl morphologischen als auch szenischen Unmarkiertheit des Indikativ 1 entspricht seine relativ unrestringierte Verwendung. Das trifft auch auf die verschiedenen Satzmodi zu. So sind mit dem Indikativ 1 Deklarativsätze wie (18)(i), Entscheidungs-Interrogativsätze wie (18)(ii) sowie Ergänzungs-Interrogativsätze wie (18)(iii) möglich. Die Bewertung dieser satzmodal spezifizierten Propositionen kann im Prinzip von S und H ad oculos vorgenommen werden; d.h. für Sprecher und Hörer ist es prinzipiell möglich, die Wahrheit der Proposition bzw. der zugehörigen Antworten direkt zu überprüfen. (18) (i) Peter ist in Paris. (ii) Ist Peter in Paris? (iii) Wer ist in Paris? Um die Wahrheit von (18)(i) zu bewerten, kann eine Überprüfung der Gegebenheiten ad oculos durchgeführt werden. Gleiches gilt für die hörerseitig zu treffende Entscheidung bzgl. der Frage in (18)(ii). Dabei ist das Zutreffen bzw. Nicht-Zutreffen der als Deklarativsatz zu spezifizierenden Antwort ebenfalls einer ad-ocw/os-Überprüfung zugänglich, was ebenfalls für die Füllung der sprecherseitigen Kenntnislücke in dem Fragesatz (18)(iii) gilt. Der Indikativ 1 scheint damit zumindest die zwei folgenden hörerseitigen Instruktionen auszulösen. (19) (i) Beziehe die satzmodal spezifizierte Proposition ρ auf den faktischen Verweisraum. (ii) Bewerte die satzmodal spezifizierte Proposition ρ relativ zu einer gemeinsamen Sprecher-Hörer-Origo. Die mit den verschiedenen Satzmodalitäten markierte Proposition ρ wird über die Wirksamkeit dieser Verfahren auf den Wirklichkeitsbereich Ρ projiziert. Der direkte Bezug zwischen der sprachlich verankerten Proposition ρ und dem faktischen Verweisraum wird damit wesentlich durch die Möglichkeit der demonstratio ad oculos hergestellt. 3.3.2
Indikativ 2
Beim Indikativ 2 liegen die Verhältnisse anders. Aufgrund der -t-Markierung findet eine Verschiebung auf den epistemischen Verweisraum statt, so dass eine demonstratio ad oculos prinzipiell nicht mehr möglich ist. Die Proposition lässt sich nur noch relativ zu epistemisch verfügbaren Gegebenheiten bewerten.
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Da keine -s-Markierung auftritt, fallen Sprecher- und Hörer-Origo zusammen, so dass sich eine gemeinsame Perspektive auf den epistemischen Verweisraum ergibt. Es gilt auch hierbei - analog zum Indikativ 1 - , dass die Wahrheit von Deklarativen wie in (20)(i) bewertbar ist und Fragen wie in (20)(ii) und (20)(iii) bildbar sind. (20) (i) Peter war in Paris. (ii) War Peter in Paris? (iii) Wer war in Paris? Der Unterschied zum Indikativ 1 besteht jedoch darin, dass eine Bewertung der satzmodal markierten Proposition ρ ad oculos nicht möglich ist, sondern nur vermittels epistemisch verankerter Bewertungsprozeduren vorgenommen werden kann. Die Bewertung einer mit dem Indikativ 2 markierten Proposition vermittelt also die beiden folgenden hörerseitigen Instruktionen: (21) (i) Beziehe die satzmodal spezifizierte Proposition ρ auf den epistemischen Verweisraum. (ii) Bewerte die satzmodal spezifizierte Proposition ρ relativ zu einer gemeinsamen Sprecher-Hörer-Perspektive. Die mit den jeweiligen Satzmodi spezifizierte Proposition kann also - im Gegensatz zu der direkten, wahrnehmungsgesteuerten Projektion, die der Indikativ 1 ermöglicht - nur via epistemischer Interpretation auf Ρ projiziert werden. Der Bezug zwischen der Proposition ρ und Ρ kann daher nur indirekt hergestellt werden. 3.3.3
Konjunktiv 1
Beim Konjunktiv 1 tritt keine -t-Markierung auf, so dass die Proposition im faktischen Verweisraum verankert wird. Aufgrund der *-a-Markierung ist die Sprecher-Origo isoliert und die Hörer-Origo dispensiert, so dass der Hörer eine bewertende Position dazu beziehen kann. Indem also der Sprecher den Hörer aus der gemeinsamen Origo ausschließt, die Proposition aber zugleich auf den faktischen Verweisraum bezogen ist, vermag der Sprecher den mit der Proposition ausgedrückten Sachverhalt in diesem Verweisraum als (prospektiv zu realisierendes) Faktum zu installieren. Entsprechend erhält man den Heischesatz (22)(i), die Setzung in (22)(ii) und auch die setzende Aufforderung in (22)(iii). (22) (i) Man nehme ein Pfund Mehl. (ii) η sei eine Primzahl. (iii) Er trage das Essen auf. Keiner der Sätze in (22) ist diskutierbar, anfechtbar oder hinsichtlich seiner Wahrheit bewertbar, da die Origo des Hörers aufgrund der -»-Markierung dispensiert
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ist. Die Projektion auf Ρ ist gekappt. Da weiterhin aufgrund der *t-Markierung der faktische Verweisraum anvisiert ist, erhalten selbständige Konjunktiv 1-Sätze ihre sprecherseitig setzende Interpretation. Dies liefert zugleich den Grund dafür, dass mit dem Konjunktiv 1 markierte Propositionen weder wahrheitswert- noch fragesatzfähig sind, wie die Daten in (23) zeigen. (23) (i) Paul stelle sich auf den Stuhl. (ii) *Stelle sich Paul auf den Stuhl? (iii) *Wer stelle sich auf den Stuhl?
*Das ist nicht wahr. (Entscheidungsfrage) (Ergänzungsfrage)
(23)(i) ist hinsichtlich seiner Wahrheit prinzipiell nicht anfechtbar und damit nicht wahrheitswertfähig. Weder die scheinbare Entscheidungsfrage in (23)(ii) noch die scheinbare Ergänzungsfrage in (23)(iii) sind grammatisch wohlgeformte Fragekonstruktionen. (23)(iii) ist zwar als Echo-Frage möglich, erfordert damit aber notwendigerweise einen Gewichtungs-Akzent auf dem W-Pronomen.22 Weist das W-Pronomen diesen Akzent nicht auf, so ist keine Echo-Frage-Interpretation möglich und (23)(iii) wird damit zu einer grammatisch nicht wohlgeformten Wortkette. Propositionen, die mit dem Konjunktiv 1 markiert sind, müssen daher über die folgenden Instruktionen hörerseitig interpretiert werden. (24) (i) Beziehe die satzmodal spezifizierte Proposition ρ auf den faktischen Verweisraum. (ii) Bewerte die satzmodal spezifizierte Proposition ρ nicht relativ zu einer gemeinsamen Sprecher-Hörer-Perspektive, sondern als vom Sprecher gesetzt. 3.3.4
Konjunktiv 2
Beim Konjunktiv 2 treten sowohl -3 als auch -t basiskonfigurierend auf, so dass einerseits die Hörer-Origo dispensiert ist und andererseits der defaultVerweisraum auf den epistemischen Verweisraum verschoben wird. Mit selbständigen Sätzen im Konjunktiv 2 können u.a. die beiden in (25)(i) dargestellten Funktionen erreicht werden.23 (25) (i) Etablierung eines neuen kontrafaktischen Diskurses. (ii) Bewertung einer Proposition ρ relativ zu kontrafaktischen Bedingungen (konditionale Konjunktiv 2-Verwendung). Beispiele für (25)(i) liefern Sätze, die von Kindern häufig zur imaginativen Inszenierung nicht real bestehender Spielsituationen verwendet werden (26). 22
Vgl. Reis (1991).
23
Dies jedenfalls dann, wenn keine weiteren modusmodifizierenden Elemente wie Modalpartikeln, bestimmte Intonationskonturen usw. auftreten.
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(26) Ich wäre der Königssohn, und Du wärest die Prinzessin. Dort oben im Schloss würden wir wohnen... Beispiele für (25)(ii) liefern die Sätze in (27), wobei sich zugleich zeigt, dass sich mit dem Konjunktiv 2 neben Deklarativ- auch die beiden Formen von Interrogativsätzen bilden lassen. (27) (i) Peter wäre in Paris. (... wenn Mona noch dort wohnen würde.) (ii) Wäre Peter in Paris? (Ja, wenn Mona noch dort wohnen würde.) (iii) Wo wäre Peter? (In Paris, wenn Mona noch dort wohnen würde.) Konjunktiv 2-Sätze können nicht relativ zum Wirklichkeitsbereich Ρ bewertet werden, Diese Eigenschaft ergibt sich - analog zum Konjunktiv 1 - aus der Markierung mit -a Da die -t-Markierung zur Etablierung eines epistemischen Verweisraums führt, verankert der Sprecher den mit der Proposition ausgedrückten Sachverhalt in diesem Verweisraum. Während also der Konjunktiv 1 eine Setzung im faktischen Verweisraum vornimmt, nimmt der Konjunktiv 2 eine Setzung im epistemischen Verweisraum vor. Der ausgedrückte Sachverhalt wird damit als gewusster (bzw. vorgestellter) gesetzt. Damit lässt sich nun aus der Komposition von -3- und -t-Markierung ableiten, wie ein Diskurs über kontrafaktisch imaginierte Szenarien wie in (26) mit dem Konjunktiv 2 induziert werden kann. Der Effekt bei den konditionalen Konjunktiven in (27) ergibt sich auf die gleiche Weise, wobei hier die Möglichkeit besteht, mittels impliziter Bedingungen einen Abweichungsgrad von den aktuell bestehenden Gegebenheiten anzugeben.24 Diese funktionalen Effekte wurden hier aus der Komposition der Eigenschaften der -3- und -t-Markierung abgeleitet. Zugleich lassen sich damit aber auch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Konjunktive sowie der Indikative unter- und voneinander über die Eigenschaftsliste in (17) erfassen. Für die hörerseitige Interpretation lassen sich damit die beiden folgenden Instruktionen für Propositionen, die mit dem Konjunktiv 2 markiert sind, formulieren. (28) (i) Beziehe die satzmodal spezifizierte Proposition ρ auf den epistemischen Verweisraum. (ii) Bewerte die satzmodal spezifizierte Proposition ρ nicht relativ zu einer gemeinsamen Sprecher-Hörer-Perspektive, sondern als vom Sprecher gesetzt. 3.3.5
Zusammenfassung
Die soeben dargestellten Einzelanalysen haben gezeigt, dass auf der Grundlage der funktionalen Bestimmungen für die beiden Flexionselemente -3 und -t in 24
Zu einer genaueren Analyse konditionaler Konjunktiv 2-Konstruktionen vgl. Lohnstein (2000:95ff)·
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(17) die funktionalen Eigenschaften der vier verbalen Flexionskategorien des Deutschen kompositionell und kohärent abgeleitet werden können. Dabei hat sich gezeigt, dass die traditionell verwendeten Termini Tempus und Modus im Rahmen unserer Theorie keinen systematischen Status als primitive grammatische Kategorien haben, sondern, dass sich beide Konzepte aus der jeweiligen Spezifik und der Interaktion der in (17) genannten Elementar-Funktionen von -3 und -t ableiten lassen. Die Festlegung der Sprecher-Hörer-Perspektive, die mit -s bzw. *-3 markiert ist, sowie die Wahl des jeweiligen Verweisraums, die mit -t bzw. *-t markiert ist, stellt die Grafik in (29) überblicksartig zusammen.
(29)
Π
*t-markierte Kategorien t-markierte Kategorien * 3-markierte Kategorien
4. Typische „Kontexte" für Konjunktiv 1- und Konjunktiv 2Formen und ihre Interpretation Eines der Probleme der bisherigen Bestimmungen der Funktionen des Konjunktivs ist die Spezifizierung seiner Bedeutungen in Abhängigkeit von den Kontexten,
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in denen er erscheint. So wird in den meisten Grammatiken - unter Absehung von der flexionsmorphologischen Kompositionalität - eine Kernfunktion des Konjunktivs ermittelt (etwa: Irrealität, Potenzialität beim K2; die indirekte Rede beim Kl). Andere Verwendungen („volitiv", „optativ", „Heischemodus", „Höflichkeitskonjunktiv" etc.) werden dann additiv als weitere Leistungen des Konjunktivs aufgeführt. Mit der vorliegenden, aus dem Flexionssystem kompositional abgeleiteten Bestimmung von Kl und K2 lassen sich Probleme dieser Art vermeiden. Wir werden im Folgenden an drei Verwendungskontexten (indirekte Rede, Wunschsätze, Höflichkeitskontexte) skizzieren, wie verschiedene Konjunktivverwendungen auf der Grundlage der vorgelegten Analyse einheitlich erfasst werden könnten. 4.1 Die indirekte Rede Die indirekte Rede gilt als die typische Domäne des Konjunktivs; so typisch, dass insbesondere der Konjunktiv 1 häufig als Modus der Indirektheit gilt.25 Wir wollen im Folgenden zeigen, dass die Affinität des Konjunktivs, und zwar sowohl des Kl als auch des K2, in Indirektheitskontexten zu stehen, eine Folge seiner grundlegenden Funktion ist, den Hörer aus dem Verweisraum zu suspendieren und so nicht auf Ρ projizierbare Propositionen zu etablieren. Es gilt umgekehrt aber nicht, dass die „Indirektheit" ein konstitutives Bestimmungsmoment des Konjunktivs ist. Für unsere Argumentation übernehmen wir zunächst die Definition des „Indirektheitskontextes", wie sie von Zifonun & Hoffmann & Strecker (1997:1753) vorgeschlagen wird. Diese hat den Vorteil, dass nicht nur auf den Sonderfall der indirekten Rede, sondern auf verba dicendi sowie generell auf Einstellungsprädikate Bezug genommen wird: INDIREKTHEITSKONTEXTE sind Kontexte, also Verwendungszusammenhänge, in denen der Sprecher ein Stück propositionalen Wissens nicht unmittelbar als für ihn selbst zum Sprechzeitpunkt aktuelles Wissen anspricht, sondern es wiedergibt, indem er sich auf eine andere Quelle rückbezieht. Diese andere Quelle ist
(a) der Sprecher selbst oder ein anderer Sprecher, und zwar zu einem anderen Sprechzeitpunkt als dem gerade aktualen Sprechzeitpunkt oder in einer nur gedachten Äußerungssituation, (b) eine Person oder ein als denkfähig betrachtetes Wesen, zu dessen Einstellungen, Gedanken und Gefühlen der Sprecher - wie auch immer - Zugang hat. Für den (idealen) Indirektheitskontext26 gilt „der aktuale Sprecherkontext mit dem aktualen Sprecher S1 als Bezugspunkt/Verankerungsort aller deiktischen 25
Zu einer Kritik an der Fixierung der Eigenschaft der Indirektheit an den Konjunktiv 1 vgl. Eisenberg (1999)
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Bezüge [...] Somit ist die indirekte Redewiedergabe gegenüber der Originaläußerung potentiell deiktisch umgesetzt/verschoben [...]" (Zifonun & Hoffmann & Strecker 1997: 1761) Zusätzlich „lautet die Verbindlichkeitsqualität für (wiedergegebene) Aussagesätze: Ich, Sprecher S2, sage, dass S1 (der Sprecher der Originaläußerung) sagt, dass p, aber ich lasse offen, ob ich sage, dass p." (Ebd. 1762). Das heißt: „In Indirektheitskontexten wird die Verbindlichkeitsqualität bezüglich einer Proposition ρ vom aktualen Sprecher weg verlagert." (Ebd. 1763) Wenn die „Verlagerung der Veibindlichkeitsqualität bezüglich der Proposition p" eine Leistung der Indirektheitskontexte ist, dann müsste der Konjunktiv, wenn er „Indirektheit" markiert, in allen „indirekten" Kontexten stehen können. Wie Eisenberg gezeigt hat, ist dies jedoch nicht der Fall. Der Konjunktiv kann nur bei nicht-faktiven Verben stehen, also bei solchen Verben, bei denen der Sprecher die darauf abgebildete Proposition nicht für wahr halten muss (etwa bei glauben, hoffen, befiirchten). Somit ist der Konjunktiv nicht Indikator für Indirektheit, sondern Indikator für die fehlende „Verbindlichkeitsqualität bezüglich einer Proposition p". Wird „fehlende Verbindlichkeitsqualität" redefiniert als „nicht auf Ρ bezogen", so ist Indirektheit die optimale Domäne für den Konjunktiv (und zwar Kl und K2). Denn eben das soll mit Indirektheit ausgedrückt werden. In diesem Sinne wurde die Leistung des Konjunktivs hier analysiert. Im Gegensatz zu den Analysen von Eisenberg (1999) und Thieroff (1992), die Nicht-Faktivität als Eigenschaft von Kl-Formen und Kontrafaktivität als Eigenschaft von K2Formen bestimmen wird hier der fehlende Bezug auf Ρ als ein Effekt der mit den Konjunktivformen verknüpften mentalen Operationen von S und H interpretiert: Aufgrund der Dispensierung des Hörers aus der gemeinsamen Perspektive auf den Verweisraum wird eine nicht-bewertbare und somit nicht auf Ρ projizierbare Proposition etabliert, die nicht-faktiv ist, wenn als Verweisraum die Situation beansprucht wird und die kontrafaktisch ist, wenn als Verweisraum das sprecherhörerseitige Wissen angesprochen ist. Indirektheitskontexte sind deshalb eine ideale Domäne für den Konjunktiv (1 und 2), weil der semantische Effekt (Etablierung nicht unmittelbar verifizierbaren Wissens) optimal auf die kommunikativen Anforderungen der Indirektheit passt. Nicht aber ist mit Indirektheit eine definierende Eigenschaft des Konjunktivs angegeben. Die „Verlagerung" vom aktualen Sprecher weg wird nicht durch den Konjunktiv geleistet, sondern von der propositionalen Konstruktion selbst, in der der Originalsprecher eingeführt sein muss, auf dessen Einstellungssystem sich die indirekt ausgedrückte Proposition bezieht.27 Bislang wurde ununterscheidbar vom Konjunktiv 1 und Konjunktiv 2 gesprochen: Beide können sich aufgrund der genannten Eigenschaften in „Indirektheitskontexten" optimal entfalten. Wie aufgrund der vorliegenden Analysen zu 26
Zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung von direkter und indirekter Rede vgl. Plank (1986); Günthner (1997); Bredel (1999).
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erwarten, sind sie auch hinsichtlich ihrer temporalen Bedeutung nicht verschieden.28 Nichtsdestotrotz sehen Normierungsbestrebungen vor, den Konjunktiv 1 als privilegierte Form für die indirekten Redewiedergabe auszuweisen.29 Häufig werden dafür „Stil"-Gründe geltend gemacht. Dass der Konjunktiv 2 in Indirektheitskontexten überhaupt steht (wo doch der Konjunktiv 1 die bessere Alternative sei), wird häufig auf die „Formgleichheit" von Konjunktiv 1-Formen mit den Indikativformen zurückgeführt. Suggeriert wird damit, die Sprachbenutzer müssten aufgrund des Formsynkretismus von einer „besseren" auf eine „schlechtere" Alternative ausweichen. Was aber macht den Kl geeigneter für „Indirektheitskontexte"? Unseren Überlegungen zur Bedeutung der Konjunktive zufolge, nach denen der Kl auf Fakten Bezug nimmt, der K2 auf das Wissen, ist durchaus Jäger (1971) zuzustimmen, der bemerkt, der Sprecher nehme, „wenn er in der indirekten Rede den KonjII verwendet, gegenüber dem Inhalt der referierten Aussage eine skeptische Haltung ein." (Zitiert nach Eisenberg 1999:121) Denn die Bezugnahme des K2 auf das Wissen und die dadurch ausgelöste Präsupposition (nicht-p ist der Fall) bleibt auch in „Indirektheitskontexten" gegenwärtig. 4.2 Wäre er doch hier! - Wunschsätze Während der Heischemodus auf ein „Erfüllungswissen"30 orientiert ist (p soll (zukünftig) in Ρ gelten), ist der Wunschsatz auf eine aktuelle Defizienz des Sprechers gerichtet, deren Überführung in Suffizienz (Erfüllung) nicht notwendig erwartet wird: S wünscht sich, dass die Wirklichkeit (zum Zeitpunkt der Äußerung) eine andere ist, als er sie vorfindet. Das Potenzial, mit Optativen Konstruktionen Wünsche auszudrücken, wurde und wird in der Literatur als eine Leistung des K2 erfasst Wie an der Kontrastierung zwischen uneingebetteten K2-Konstruktionen des Typs Ich wäre der König von Frankreich und Wäre ich doch der König von Frankreich! jedoch leicht zu sehen ist, beruht die optative Lesart nicht allein auf einer angemessenen Interpretation des K2, sondern auf der Interaktion von mindestens drei miteinander interagierenden grammatischen Strukturen: dem Konjunktiv2, der Verberststellung sowie der Modalpartikel (doch, bloß, nur). 27
Zwar können Konstruktionen realisiert und interpretiert werden, bei denen die Quelle des ausgedrückten Wissens nicht in die syntaktische Konstruktion integriert ist, in der die indirekte Konstruktion erscheint. Diese Fremdquelle ist dann aber kotextuell oder kontextuell rekonstruierbar. Ist sie es nicht, ist die entsprechende Konstruktion von Hörer oder Leser nicht mehr als indirekte Verwendung interpretierbar.
28
Vgl. hierzu Zifonun & Hoffmann &Strecker (1997:1778) sowie Thieroff (1992).
29
„Folgende Grundregel ist anzusetzen: Wenn der Sprecher/Schreiber sich für den Konjunktiv in der indirekten Rede entscheidet, dann wählt er normalerweise den Konjunktiv I." (DUDEN 1984:§ 285) „Die indirekte Rede sollte im Konjunktiv I stehen." (DUDEN 1985:355)
30
Vgl. Zifonun & Hoffmann &Strecker (1997:665)
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Uneingebettete K2-Konstruktionen des Typs Ich wäre der König (geäußert in Spielsituationen) können als „als-ob"-Konstruktionen interpretiert werden; mit Äußerungen dieser Art wird eine Bühne errichtet, auf der die Handelnden wider besseren Wissens (kontrafaktisch) so tun, als sei die Wirklichkeit eine andere als die vorgefundene.31 In diesem Sinne sind die in den propositionalen Konstruktionen dieses Typs ausgedrückten Sachverhalte für die Zeit, in der sie von den Handelnden vereinbart sind, ,reaT. Die Vorstellung Π' gilt in P. Möglich wird die Etablierung von P', die kontrafaktisch gelten soll, eben dadurch, dass die Perspektive des Hörers auf den epistemischen Verweisraum, und damit die Überprüfung des propositional Ausgedrückten auf Ρ dispensiert ist. Dies ist zunächst die Leistung, die der Konjunktiv 2 erbringt. Optative Konstruktionen des Typs Wäre ich doch ein König! werden nicht so interpretiert, dass das (kontrafaktisch) Vorgestellte real gemacht wird, sondern - nach den Wünschen des Sprechers - statt der aktuellen oder antizipierten Wirklichkeit real sein soll (ΓΓ soll in Ρ gelten). Diese Interpretation wird jedoch nicht durch den Konjunktiv, sondern durch die Verberststellung sowie die modale Partikel erzeugt: Sätze mit Verberststellung nicht-imperativer Verbformen sind i.d.R. Entscheidungsfragesätze.32 Wie für Fragen generell, so gilt auch für Entscheidungsfragen, dass der Sprecher eine Defizienz zum Ausdruck bringt. Diese Defizienz äußert sich in der Entscheidungsfrage als ein spezifisches Nicht-Wissen: Der Sprecher weiß nicht, ob ein bestimmter Sachverhalt zutrifft oder nicht. Mit Entscheidungsfragesätzen wird der Antwortraum, das Wissen von H, demnach bipartitioniert (Lohnstein 2000); die Entscheidungsfrage Ist Hans in Paris? etwa zerlegt den Antwortraum in zwei alternative Propositionen Hans ist in Paris / Hans ist nicht in Paris). Dabei verweist der Begriff des Antwortraums auf eine hörerseitig zu vollziehende Tätigkeit: Die Nachgeschichte der vom Sprecher vorgelegten Bipartitionierung des Antwortraums besteht darin, dass der Hörer eine (die richtige) Alternative auswählt und damit die mit der Bipartionierung induzierte Alternativenwahl reduziert. Mit dieser Reduktion der Alternativen durch den Hörer ist eine sprecherseitige Suffizienz erreicht. Er weiß nun, ob ein bestimmter Sachverhalt besteht oder nicht. Nun sind aber Optative, obwohl sie die für Entscheidungsfragesätze typische Verberststellung aufweisen, keine Fragen. Das heißt, dass sich die in der Wortstellung angezeigte Bipartitionierung und damit die hörerseitige Nachgeschichte nicht entfalten kann. Die Neutralisierung der Bipartitionierung wird durch die Modalpartikel doch, bloß, nur erreicht.33 31
Wie Knobloch (1998) nachgewiesen hat, beginnt der Erwerb des Konjunktivs eben mit diesen uneingebetteten Konstruktionen.
32
Zu einer Studie Uber die strukturellen und funktionalen Eigenschaften der Satzmodi vgl. Lohnstein (2000).
33
Wir gehen hier von den unbetonten Verwendungen der Modalpartikeln aus.
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Mit doch, bloß, nur liegen - vereinfacht ausgedrückt - Modalpartikeln vor, die im Diskurswissen gegebene Alternativen einschränken, indem sie eine der möglichen Alternativen selegieren.34 Eben diese Funktion, eine der möglichen Alternativen zu selegieren, wird auch im Optativ aktiviert: Die Bipartitionierung, die mit der Entscheidungsfrage (bzw. der Verberststellung) initiiert wurde, wird nicht vom Hörer, sondern in der Konstruktion selbst aufgehoben; mit der entsprechenden Modalpartikel wird eine der ausgedrückten Alternativen selegiert. Demnach wird also ein mit der Verberststellung einhergehender Effekt - die Bipartitionierung des Antwortraums und damit die hörerseitige Nachgeschichte - neutralisiert. Nicht neutralisiert ist der Effekt der sprecherseitigen Defizienzanzeige; durch die Neutralisierung der Bipartitionierung aber gibt es keine Suffizienzerwartung mehr. Die ausgedrückte Defizienz wird als Defizienz kommuniziert. Und eben dies ist die Ausgangssituation des Wünschens. Mit dem Optativ drückt der Sprecher aus, dass eine Defizienz vorliegt (das ist die Leistung der Interaktion von Verbspitzen-Stellung, der Modalpartikel und gegebenenfalls der Intonation/Interpunktion). Gegenstand der Defizienz ist das Nichterfülltsein des in der Konjunktivkonstruktion ausgedrückten Sachverhaltes (das Nichterfülltsein trifft durch die vom K2 ausgelöste Presupposition real zu). Das Erfülltsein-Sollen des ausgedrückten Sachverhaltes wird im Optativ kontrafaktisch etabliert: Der Sprecher wünscht sich Π' in P. 4.3 Der Konjunktiv und die Höflichkeit Während die indirekte Rede und das Wunschpotenzial meist dem Konjunktiv als charakterisierende Eigenschaften zugeschrieben werden, gilt das für die Höflichkeitskonjunktive nicht. Typischerweise wird die Höflichkeit als eine der möglichen Domänen des K2 aufgeführt, ohne dass der Zusammenhang zu den bis dahin gegebenen Bestimmungen hergestellt würde. In manchen Grammatiken wird dieser Verwendungskontext gar nicht angesprochen.35 Mit der folgenden Rekonstruktion soll gezeigt werden, wie die „Höflichkeit" des Konjunktivs in Übereinstimmung mit der hier vorgeschlagenen Bedeutung des K2 erfasst werden kann. Höflichkeitskonjunktive werden im Kontext von symbolischem oder realem Geben und Nehmen relevant. Sie werden dort gebraucht, wo beim Sprecher eine Defizienz vorliegt, die durch eine Handlung des Hörers in Suffizienz überführt werden soll. Wird unter Höflichkeit eine Form des sprachlichen Handelns verstanden, in der „die Belange des Adressaten [...] in einer Weise berücksichtigt 34
Dabei gehen bloß und nur einerseits und doch andererseits verschieden vor. Skizzenhaft gesprochen: Mit bloß und nur wird eine der durch die Semantik der Konstruktion etablierten Alternativen selegiert; mit doch selegiert der Sprecher eine spezifische Alternative im hörerseitigen Wissen, indem er andere mögliche Wissenselemente bezüglich des ausgedrückten Sachverhaltes abdeckt.
35
Vgl. etwa Eisenberg (1999) oder DUDEN (1984).
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sind, die das Erreichen des Handlungszweckes besonders befördert" (Zifonun & Hoffmann & Strecker 1997:934), so wird höfliches Handeln in solchen Situationen erforderlich, in denen ein Handlungszweck nicht ohne ein Eingreifen in die „Belange des Adressaten" erreicht werden kann. Eben dies ist im Kontext von hörerseitigem Geben und sprecherseitigem Nehmen in besonderer Weise der Fall; denn für das Erreichen des Handlungszweckes ist ein vom Sprecher initiiertes Handeln des Hörers erforderlich; der Sprecher greift in die Integritätszone des Hörers ein. Warum ist der Konjunktiv ein Mittel, mit dem der Eingriff in die Integritätszone des Hörers „abgetönt" werden kann? Zifonun & Hoffmann & Strecker zufolge „soll es [in diesen Fällen; gemeint sind die Höflichkeitskonjunktive, U.B. & H.L.] nur so erscheinen, als wäre das Gesagte nicht faktisch. Vielmehr wird hier gleichsam über eine Abschwächung des Faktizitätsanspruches eine Abmilderung der mit der Äußerung verbundenen interaktionsbezogenen Verbindlichkeiten erreicht." (Zifonun & Hoffmann & Strecker 1997:1753) Wir werden im Folgenden auf der Grundlage unserer analytischen Rekonstruktion des Konjunktivs als Mittel der Suspendierung der hörerseitigen Teilhabe am Verweisraum eine alternative Interpretation für den Konjunktiv in Höflichkeitskontexten vorschlagen, die an der Interpretation der „Abmilderung der [...] interaktionsbezogenen Verbindlichkeiten" ansetzt, diese „Abmilderung" aber als spezifische mentale Operationen von S und H erfasst, die durch den Konjunktiv ausgelöst werden. (30) (i) (ü) (iü) (iü)
Gib mir das Salz! Gibst du mir das Salz? Kannst du mir das Salz geben? Könntest du mit das Salz geben?
(31) (i) (ü) (iü) (iii)
Schicken Sie mir ein Exemplar/ Schicken Sie mir ein Exemplar? Ist es möglich, mir ein Exemplar zu schicken? Wäre es möglich, mir ein Exemplar zu schicken?
Die vorliegenden Beispiele in (30) und (31) zeigen eine für unsere Zwecke zusammengestellte Skala von Aufforderungshandlungen mit zunehmender „Höflichkeit". Äußerungen wie in (i) werden in aller Regel als „unhöflich" aufgefasst; es erfolgt ein direkter Eingriff in das Handlungsfeld von H. Die „indirekten Aufforderungen" in Fällen wie (ii), bei denen der Sprecher mittels einer Entscheidungsfrage einen bipartitionierten Antwortraum etabliert, offeriert dem Hörer eine Alternative; eine Verneinung der Frage und damit eine Zurückweisung der Aufforderung ist von S bereits eingeräumt. Äußerungen wie in (ii) gelten damit gegenüber solchen in (i) als „höflicher"; als noch „höflicher" im Vergleich zu (ii) gelten „indirekte Aufforderungen", wie sie in (iii) und (iv) exemplarisch
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konstruiert sind. Mit ihnen wird nicht direkt auf die erwünschte Handlung von H referiert; vielmehr wird - wie Searle (1969) gezeigt hat - eine der in den Einleitungsregeln des Aufforderns formulierte Bedingung (das Können des Hörers), erfragt. Mit der durch die Frage induzierten Verneinung weist der Hörer nicht das sprecherseitige Bedürfnis zurück; er kommuniziert im Falle einer Zurückweisung die Nicht-Erfüllung als Nicht-Erfüllbarkeit, wobei die Gründe für die Nicht-Erfüllbarkeit beim Hörer liegen. Der Sprecher räumt dem Hörer demnach mit (iii) und (iv) die Möglichkeit ein, im Falle einer Zurückweisung nicht selbst als „unhöflich" zu gelten. Ein Konzept der Höflichkeit, das lediglich den Schutz der Integritätszone des Hörers beschreibt, erweist sich in diesem Sinne als zu einfach: Denn auch die Integritätszone des Sprechers wird mit „höflichen" Äußerungen geschützt. Dem Hörer wird mit Äußerungen wie denen in (iii) und (iv) die Möglichkeit gegeben, bei Zurückweisung das Image des Sprechers unbeschädigt zu lassen, indem nicht der sprecherseitige Wunsch in Frage gestellt, sondern die Möglichkeit seiner Realisierung verneint wird. Was aber macht die Äußerungen in (iv) „höflichei" als (iii)? M. a. W.: Was leistet der Konjunktiv? Da Aufforderungen Eingriffe in den Handlungsraum von H darstellen, ist der Verlust der Integrität von S und H dann am geringsten, wenn H die von S gewünschte Handlung ausführt, ohne dass eine Aufforderung erfolgt. „Zuvor-kommende" Menschen gelten daher als besonders „höflich". Searle formuliert dies im zweiten Teil seiner Einleitungsregel: „Es ist sowohl für S als auch für H nicht offensichtlich, dass H bei normalem Verlauf der Ereignisse A aus eigenem Antrieb tun wird." (Searle 1969: 100). Nur unter diesen Bedingungen ist eine Aufforderungshandlung sinnvoll - und notwendig. Und eben dies macht der Konjunktiv explizit: Indem der Sprecher den Hörer aus der gemeinsamen Perspektive auf den Verweisraum suspendiert, rekurriert er auf die für das Auffordern charakteristische Ausgangskonstellation: Der Hörer kennt das Bedürfnis von S nicht (und hätte so die Handlung nicht aus eigenem Antrieb ausgeführt). 36 Damit wird nicht nur die Aufforderungshandlung als berechtigte ausgewiesen; zugleich ist der Hörer vor dem Urteil geschützt, nicht „zuvorkommend" gewesen zu sein; denn mit dem Konjunktiv wird angezeigt, dass er über das Bedürfnis des Sprechers nichts wissen konnte. Eben dies macht den Konjunktiv in Kontexten wie den vorliegenden „höflich". Die Funktionsweise des Konjunktivs in Höflichkeitskontexten lässt sich an Ankündigungshandlungen wie etwa Wir kämen dann zu Tagesordnungspunkt 2 präzisieren. Geäußert werden solche Ankündigungshandlungen in Situationen, in denen der oder die Hörer nicht auf die Folgehandlung (die Diskussion des TOP 2) fokussiert ist/sind und sich (noch) nicht entsprechend des kommenden Ereignisses verhalten (kann/können).37 36
Da auf das Kenntnissystem von H zugegriffen wird, ist der Kl in solchen Konstruktionen ausgeschlossen.
37
Zum Handlungsmuster Ankündigen vgl. Rehbein (1978).
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Der Konjunktiv nimmt auf diese Ausgangskonstellation der Hörerschaft Bezug. Mit der Suspendierung des hörerseitigen Wissens in bezug auf die Proposition (die Diskussion des TOP 2), die durch den Konjunktiv erreicht wird, konstruiert der Sprecher die Ankündigung eben unter konstitutivem Einbezug der Nicht-Fokussiertheit der Hörerschaft auf das kommende Ereignis. Damit teilt er den Zuhörern mit, dass das angekündigte Ereignis für sie nicht antizipierbar war. Die Höflichkeit des Sprechers besteht hier also in einer Entlastung der Hörerschaft: Denn hätten die Zuhörer gewusst, dass TOP 2 nun verhandelt werden soll, dann hätte ihr Verhalten als unhöflich gegolten. Weil sie das Ereignis aber nicht antizipieren konnten (so der Konjunktiv), ist ihr vormaliges Verhalten entschuldigt. Fassen wir zusammen: Der Höflichkeitskonjunktiv nimmt auf die Vorgeschichte von Sprechhandlungen Bezug. Über die Suspendierung des Hörers aus der Perspektive auf den etablierten Verweisraum legt der Sprecher die hörerseitige Ausgangskonstellation auf ein Nicht-Wissen fest. Die Sprechhandlung soll ihn unvorbereitet treffen. Der Sprecher macht damit deutlich, dass keine spezifischen hörerseitigen Antizipationen zu erwarten waren. Die „Höflichkeit" des Konjunktivs besteht darin, dass der Sprecher dem Hörer zu erkennen gibt, dass nichtzuvorkommendes Verhalten des Hörers deshalb kein unhöfliches Verhalten ist, weil der Hörer von den sprecherseitig an ihn gestellten Anforderungen nichts wissen konnte. Kurz: Der Höflichkeitskonjunktiv gibt dem Hörer zu erkennen, dass er selbst nicht unhöflich war.38
5.
Schlussbemerkung
In den vorgehenden Kapiteln haben wir der herkömmlichen Klassifikation des verbalen Flexionssystems in Tempus- und Mo¿«í-Kategorien, wie es in den traditionellen Grammatiken des Deutschen üblich ist, eine Analyse entgegengestellt, die diese beiden Kategorien aus den elementaren (und abstrakten) Eigenschaften der beiden Flexive -3 und - t abzuleiten gestattet. Dazu haben wir die Singularformen des Verbparadigmas zunächst hinsichtlich ihrer wortform- und basiskonfigurierenden Mittel unterschieden. Als Resultat dieser Analyse ergab sich in Übereinstimmung mit den empirischen Befunden und als kohärente Klassenbildung, dass im Indikativ 1 die beiden Flexive -a und - t wortformkonfigurierende Markierungen sind, die in der Prädikationsstruktur ausgewertet werden. 38
Von herkömmlichen Interpretationen der Konjunktivbedeutung nur schwer fassbare Konstruktionen wie Da wären -wir!, geäußert in der Situation des gemeinsamen Ankommens, wären in eben diesem Sinne zu rekonstruieren: Der Sprecher dispensiert (mit der Verwendung des Konjunktivs) das Wissen des Hörers, um eine Information einzubringen, die als bekannt vorausgesetzt werden kann. Durch den Konjunktiv können Sprecher und Hörer (wider besseren Wissens) so tun, als fUge der Sprecher neues Wissen hinzu.
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In den anderen Paradigmen (Indikativ 2, Konjunktiv 1 & 2) sind diese beiden Elemente hingegen als basiskonfigurierende Flexive aufzufassen, die hinsichtlich der Bewertung der gesamten Proposition funktional wirksam werden. Dabei dient sowohl das positive wie negative Auftreten der beiden Elemente zur Spezifikation von a) gemeinsamer Sprecher-Hörer-Perspektive vs. sprecherisolierter Perspektive (*-3 vs. -s) und b) epistemischer (Deixis am Phantasma) vs. faktischer Auswertung der Proposition (demonstratio ad oculos) (-t vs. *-t). Die wesentlichen Grundfunktionen von -a und -t lassen sich bereits an dem Form-Funktions-Zusammenhang beim Indikativ 1 feststellen: Die wortformkonfigurierende a-Markierung isoliert den Sprecher, während die ebenfalls wortformkonfigurierende t-Markierung die vom Sprecher „fernen" deiktischen Objekte auszeichnet. Hinsichtlich der Basiskonfiguration weist der Indikativ entsprechend eine *-a- ,*-t-Markierung auf, was dazu führt, dass die Proposition im faktischen Verweisraum verankert wird und für S und H gleichermaßen zugänglich ist. Die folgende Grafik illustriert holzschnittartig die einschlägigen prozeduralen Effekte für die Verweisraum- und die Perspektivenwahl. Dabei markiert die eckige Klammerung von Sprecher und Hörer eine gemeinsame Perspektive; ,F' bzw. ,E' stehen für den faktischen bzw. den epistemischen Verweisraum. (32) Sprecher
E
Sprecher Ν.
Hörer
F
Hörer
^ F
Sprecher
E
Sprecher
• E
Hörer
F
Hörer
E
F
Die besonderen Effekte, die die Kompositionalität aus Verweisraumwahl und Hörerdispensierung ergeben, schlagen sich in den verschiedenen Konjunktivverwendungen auf unterschiedliche Weise nieder, die in der Tradition häufig additiv nebeneinander gestellt werden (Irrealis, Optativ, Volitiv etc.), unter der hier vorgelegten Analyse hingegen systematsich aufeinander bezogen werden können. An drei Beispielen haben wir gezeigt, wie die Leistung des Konjunktivs in verschiedenen Verwendungskontexten einheitlich wirksam wird und dennoch die unterschiedlichen Effekte abgeleitet werden können. Wenn die hier vorgelegte Analyse richtig ist, müssen sich auch andere „Kontexte" des Konjunktivs und des Indikativs aus den Elementarfunktionen
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von -3 und - t ableiten lassen, so dass auch dort die sprecher-hörerseitige deiktische Verankerung, die im Verbalsystem des Deutschen in der beschriebenen Form niedergelegt ist, zur Interpretation der entsprechenden Konstruktionen beiträgt.
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Angelika Redder Partizipiale Ketten und autonome Partizipialkonstruktionen: Formen partikularen sprachlichen Handelns für Ekkehard König 1. Die doppelte Herausforderung Der Titel enthält zwei bislang uneingeführte Kategorien: .partizipiale Kette' und .partikulares sprachliches Handeln'. Mit diesen beiden Kategorien soll eine doppelte sprachanalytische Herausforderung aufgegriffen werden. Deren eine Dimension ist formaler, die andere funktionaler Art. Zum Gegenstand gemacht wird ein sprachliches Phänomen, für das im grammatischen Formenrepertoire des Deutschen wie auch im Repertoire der Einheiten sprachlichen Handelns eine gewisse Beschreibungslücke auszumachen ist. Grob gesagt geht es um weder attributiv noch adverbial integrierte „Partizipialkonstruktionen", sondern eigenständige, repetitiv genutzte Formen im Grenzbereich zum „Zusatz" (Zifonun et al. 1997, Kap. G 3), ja jenseits davon. Genauerhin weist dieser Gegenstand ein erstaunliches syntaktisches Spektrum auf, welches systematisch zu bestimmen ist. Zur Illustration sei vorab ein markanter empirischer Beleg dokumentiert. Er entstammt einem Fernsehbericht aus dem sogenannten Krisengebiet Mazedonien im Frühjahr 2001 und schildert die tägliche, angespannte Situation für die Bewohner der von UCK-Albanern umlagerten Stadt Tetovo: (Β 1) ... Alltag ... : rasch die wichtigsten Lebensmittel gekauft, noch einmal die Moschee besucht und dann abgewartet, wie die Nacht verläuft. [Hörbeleg in den „Tagesthemen", 19.3.2001, gesprochen von der Korrespondentin vor Ort] Es ist deutlich, daß hier drei gleichartige, syntaktisch autonome Partizipialkonstruktionen einen eigenen Teil des Korrespondentenberichts ausmachen. Ich komme darauf zurück. Es sollen also sprachliche Ausdrucksformen diskutiert werden, die formal auffallen und eine besondere Rezeptions weise aktivieren. Ihr struktureller Kern oder Kopf besteht aus einem Partizip - sei dies ein Partizip II (traditionell: „Partizip Perfekt", „Infinitum im 3. Status" lt. Bech 19832, „Infinit II" lt. Brinkmann 19712, „Infinitum III" lt. Klein 1999), oder sei es ein Partizip I („Partizip Präsens", „Infinitum im 1. Status" lt. Bech, „Infinitum II" lt. Klein). Folgende Analyseprobleme im Umfeld solcher Formen sind bekannt. Die Partizipien selbst stellen seit je her wegen ihrer Mittelstellung zwischen Nomen und Verb eine kategoriale Herausforderung dar (zuletzt Lenz 1993, Rapp 1997). Eisenberg (1994) spricht demgemäß wieder vom „Mittelwort" und behandelt in seiner zweibändigen Grammatik (1998/99) nur das Partizip II als
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Angelika Redder
Verbalkategorie, das Partizip I demgegenüber als Adjektiv. In der lexikalistischen Diskussion gelten Partizipien zuweilen als „Stoff für ein Lehrstück" der Wechselwirkung zwischen Lexikon, Syntax und Semantik (Wunderlich 1987, 365 zur wortsyntaktischen Ableitung von Partizipien bei Toman 1986). Für Satzgrammatiken bergen Partizipialkonstruktionen strukturexterne wie auch strukturinterne Probleme. Intern fehlt ihnen nämlich stets das finite Verb bzw. das Finitum im Sinne der Zeitlichkeitsmarkierung (Klein 1994) und im allgemeinen auch der Subjektausdruck. Brinkmann charakterisiert solche Formen deshalb als „rollenfrei" (19712, 282). Im Falle fehlender Satzgliedfunktion und also strukturexterner Problematik gesteht er ihnen ausdrücklich eine funktionale Vollwertigkeit als „wirkliche Aussagen" zu, unterscheidet sie strikt von „aussparender Ausdrucksweise" oder Formen der „Reduktion", etwa in Tagebüchern (ebd.).1 So übersteigt seine leistungsbezogene Argumentation schon früh die Satzzentrierung der Grammatik, während in aktueller Diskussion bei entsprechenden syntaktischen Gegebenheiten etwa Behr (1994) mit der Rede von „selbständigen Partizipialsätzen" eine satzzentrierte funktionale Argumentation erkennbar werden läßt. Damit veibleibt sie stärker im Kontext der traditionelleren Sichtweise, welche bei abnehmender - zuweilen „verselbständigter" (Admoni 19824, 251) - syntaktischer Eingebundenheit „(halb-)freie", „(halb-)autonome" oder „absolute" bzw. mit Behaghel (1924) „isolierte" Formen unterscheidet. Die Textgrammatik von Weinrich (1993), in der auf jeglichen Satzbegriff verzichtet wird und insofern eine kritische Überwindung der Aporien zu erwarten wäre, bleibt hinsichtlich der Partizipialkonstruktionen auffallend blaß. Der zumeist satzsyntaktischen Unterscheidung mangelt also bislang eine sprachsystematische Erklärung. Zudem kann nicht immer ein semantischer Bezug oder ein Bezugsausdruck für die Konstruktion identifiziert werden; deshalb schlagen auch appositive Interpretationen fehl, und es ist im Sinne von Schindler (1990) strukturdeskriptiv von „Zusätzen" die Rede, so etwa in der IdS-Grammatik bei Zifonun (1997). Unter Gebrauchsaspekten wird die Partizipialkonstruktion meist mit der Besonderheit literarischer Sprache assoziiert und im Alltag eher formellen Kontexten, vor allem der Verwaltung, zugerechnet. Frühe empirische Analysen unternimmt Rath (1971). Die historische Zunahme von Partizipialkonstruktionen als typische Verdichtungen der amtlichen, institutionellen Sprache nach lateinischem Muster verzeichnet von Polenz (Bd. 1, 1994), wobei er primär - wie auch Rath - satzgrammatisch integrierte, meist adverbiale Partizipialkonstruktionen im Auge hat oder aber appositiv nachgestellte Partizipialattribute.2 Empirische Beobachtungen zum gegenwärtigen Sprachgebrauch entsprechen dem Verdichtungsargument nicht umstandslos, wie sich zeigen wird. Denn partizipiale Ketten und autonome Partizipialkonstruktionen scheinen beim Reden 1
2
Eine treffliche Kritik am satzgrammatischen Konzept der Ellipse lieferte bereits Bilhler (1934); Hoffmann (1999) geht dem aus funktional-pragmatischer Sicht weiter nach und schlägt eine Reanalyse vor. Die hier zu betrachtenden Phänomene fallen jedoch auch nicht unter seinen reformulierten Begriff. Die Umwertung in den Schulgrammatiken des 19. Jahrhunderts beschreibt Erhard (1994).
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oder beim Schreiben heute einem bestimmten Stil zuzugehören, der nicht einfach bürokratisch verstaubt oder aus der Mode ist. Ja, in ihrer Durchsichtigkeit scheinen diese Ausdrucksformen einer partikularisierten oder gar fragmentarisierten Wirklichkeitswahrnehmung zu entsprechen, wie sie die Nachkriegs-Modeme kennzeichnet. Insofern sind die Formen zu einer zeitgemäßen Komplexitätsbearbeitung im sprachlichen Handeln geeignet. Ich will die linguistische Diskussion anhand von empirischen Beispielen führen und verfolge dabei das Ziel, sprachpsychologische Diskurs- bzw. Textanalyse und Grammatikanalyse miteinander zu verbinden. Dem Forschungsstand zu Partizipialkonstruktionen ist gemeinsam, daß er sich auch bei empirischer Basierung, wie bemerkenswerterweise in der IdSGrammatik, vornehmlich auf vereinzelte Vorkommen dieser Form bezieht. Lediglich Sentenzen wie „Gesagt - getan." oder „Geliebt, gelebt, gerauft, gesoffen und alles dann vom Arzt erhoffen" (W. Gerhardt (FDP) am 6.1.02 in Stuttgart) werden zuweilen angeführt. Einzig Behr & Quintin (1996) führen mehrgliedrige Zeitungsbelege von „verblosen Sätzen" an, die auch mehrere Partizipialkonstruktionen umfassen; diese Form wird als eine unter anderen des fraglichen, letztlich doch wieder satzsyntaktisch kategorisierten Phänomens betrachtet. Mich interessiert nun primär nicht die einfache Verwendung einer Partizipialkonstruktion. Vielmehr geht es mir zentral um ihre wiederholte, repetitive Nutzung, d.h. um Mehrfachanwendungen der Form. Solche repetierten Formen nenne ich partizipiale Kette. Die Ausdrucksform der partizipialen Kette, oben in (Bl) illustriert, wurde bislang nicht als Besonderheit behandelt.3 Ich möchte genau bei dieser Möglichkeit einer rekursiven Nutzung der partizipialen Strukturform ohne satzsyntaktische Matrix meinen analytischen Ausgang nehmen. Es soll sodann das Spektrum formal-funktionaler Eigenständigkeit weiterverfolgt werden bis hin zu den autonome Partizipialkonstruktion genannten Einzelvorkommen, um zugleich die Grenze hin zum Umschlag in formale und funktionale Integriertheit systematisieren zu können. Dort wird ein Anschluß an die gegenwärtige KonverbDiskussion (Haspelmath & König 1995) möglich. Solche Phänomene erfordern eine Sprachtheorie, die grundsätzlich das Wechselverhältnis von Form und Funktion zu analysieren erlaubt und nicht die eine gegen die andere Dimension isoliert. Eine solche Theorie liegt mit der funktionalpragmatischen Sprachanalyse vor, die seit den siebziger Jahren kontinuierlich ausgebaut wurde. Sie unterhält einen Handlungsbegriff von Sprache. Formen von Sprache sind demgemäß als Einheiten des sprachlichen Handelns und jeweils von der interaktiven Funktion her zu bestimmen. Hinsichtlich der sprachlichen Handlungseinheiten wird mit den fraglichen partizipialen Aus3
Das gilt auch filr die Arbeit von Behr, in der immerhin eine zweifache Nutzung dokumentiert ist, nämlich in ihrem Beispiel (14): >Ob in der Provinz oder in Großstädten - Uberall nur Klagen: „Keine Prospekte, keine Ware, keine Nachricht." Der Händler verprellt, der Sammler verhätschelt. Filr den „Collector's Club" nämlich gibt Swatch sich jede Mühe. (Die Zeit, 12.2.1993, 75)< (Behr 1994, 239)
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drucksformen eine neue Zwischenstufe erkennbar, diejenige partikularen lichen Handelns.
2.
sprach-
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2.1 Ein homileisches Beispiel4 Ich beginne die empirische Analyse mit einem nicht-literarischen, diskursiven Hörbeleg. (B 2)
Plötzlich merk ich, daß ich Abflugzeit und Ankunftszeit des Riegers verwechselt hab; nur noch 50 Minuten! Ich also Papiere zusammengeschmissen, Koffer geschnappt, losgestürzt zum Taxistand, rein und abgedüst zum Flughafen: gerade noch knapp vor Toresschluß. [Hörbeleg im homileischen Diskurs]
Man erkennt in (B2) unschwer eine Struktur wieder, die zuweilen im Alltag zu hören ist: ein knappes, effektvolles alltägliches Erzählen. Die Verbalisierungen geben gleichsam das Tempo der Geschehnisse und die Schlag-auf-Schlag-Struktur der Abfolge von „Einzelszenen" wieder. Bis auf die erzählerische Einleitung der Komplikation zu Beginn - formuliert in Form einer Hypotaxe, die mit dem Semikolon schließt - weisen die Äußerungen keine Satzform mehr auf, ihnen fehlt insbesondere das im Deutschen erwartbare finite Verb bzw. Finitum. Stattdessen werden sechs Einzeldaten formuliert und gelistet. Auffallend sind vor allem die vier infiniten Verbformen nach dem Ausruf, genauer: die auf „Ich also" folgenden Formen des Partizips II: zusammengeschmissen, geschnappt, losgestürzt, abgedüst. Rein kann mit Eichinger (1989) als abgetrennte (im Sinne von GB als „gestrandete") räumliche Partikel eines Bewegungsverbs verstanden werden oder aber als eigenständiger, richtungsdeiktisch geprägter Ausdruck (,r-' von ,her' + 'in') für eine Raumrelation; deren bloße Nennung verdeutlicht, daß es auf die Handlung selbst nun überhaupt nicht mehr ankommt - auch ab statt abgedüst hätte völlig genügt. Ich will mich im folgenden auf die partizipialen Äußerungsformen konzentrieren. Lediglich in § 3.3 werden bei der Betrachtung alternativer Realisierungsformen partikularen sprachlichen Handelns kurz Äußerungen wie „Rein" oder „Ab zum Flughafen" diskutiert. Wir haben mit den vier unterschiedlich breit ausgeführten Partizipialkonstruktionen in (B2) eine rekursive, genauer: eine vierfache Anwendung des Strukturtyps vor uns. Insofern handelt es sich um eine Äußerungsfolge, die ich - in Anlehnung an den Terminus der „Verkettung von Sprechhandlungen" partizipiale Kette nenne. Ist die homileische Erzählung durch die Äußerungsform der partizipialen 4
„Homileisch" bezeichnet gemäß Ehlich & Rehbein (1979a) ein sprachliches Handeln außerhalb institutioneller Bedingungen; der Terminus ist aus griech. ,homilein' = .redend einhergehen' abgeleitet.
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Kette „defizitär"? Verliert der Diskurs durch die vielen Einzeldaten seinen Zusammenhang und seine Funktion? Ich meine, nein. Ich denke, daß der Zusammenhang sogar verdichtet und die Handlungsfunktion so pointiert wird. Es wird ein bestimmtes Wissen des Hörers in Anspruch genommen - ein Wissen über Standardabläufe beim Antritt einer Reise und bei der Nutzung des Transportmittels Flugzeug. Ein solches Wissen wird in der Psychologie z.B. als „script" rekonstruiert, d.h. als Abfolge nach Art eines Filmdrehbuchs.s Das Skript verbürgt einen gewissen propositionalen Konnex. Versprachlicht sind lediglich die Besonderungen des Reiseantritts, vor allem die Besonderungen im Handeln. Und dies geschieht mittels Partizip II nun hier gerade nicht im Modus des Handlungsvollzugs - abstrakt würde dazu der Infinitiv taugen; konkret, in der Sprechsituation situiert, würde dies eine finite Form desjenigen Verbs leisten, das die betreffende Handlung benennt. Stattdessen wird in (B2) durch die spezifische infinite Form jeweils ein perfektiver bzw. resultativer Aspekt geltend gemacht. Das heißt: Die qua Verbstamm benannte Handlung wird in ihrem bezweckten Ergebnis bzw. Resultat kommuniziert, an das sich die Nachgeschichte anschließt.6 Diese Ausdrucksqualität verleiht den valenziell gebundenen Argumenten als weiteren propositionalen Elementen insgesamt den Status von Elementen einer Handlungs-Situation, genauer: den Status von Elementen einer Konstellation. Eine Konstellation ist handlungstheoretisch zu bestimmen als eine repetitive Struktur in der Wirklichkeit, an der standardisierte Handlungswege ansetzen können (Rehbein 1977). Verbalisiert werden mithin in (B2) lediglich Konstellationsmomente. Ihre Reihenfolge erscheint gleichwohl nicht beliebig, sondern die Konstellationsmomente bilden Etappen auf einen Fluchtpunkt hin.7 Diese Charakteristik der verketteten Konstellationen möchte ich als quasi-final bezeichnen. 2.2 Propositionale und illokutive Dimension In ihrer propositionalen Dimension entfaltet die partizipiale Kette mithin eine Abfolge von Konstellationsmomenten. Bezieht man bei (B2) die im Casus rectus vorangestellte Sprecherdeixis ,ich' dependentiell gesondert mit ein (Eroms 2000), so ergibt sich: Der propositionale Gehalt der partizipialen Kette besteht in vier Konstellationsmomenten, die Schlag auf Schlag dem Erzähler-Ich als Aktanten topologisch und rhythmisch gegenüberstehen. Wie genau und wann, bleibt unausgesprochen. Konstellativität relativ zum Sprecher wird kommuniziert, sonst nichts. Eine demgegenüber situierte Alternative könnte lauten: 5 6
7
Schemer (2000) präsentiert die verschiedenen kognitionswissenschaftlichen Kategorien für die Textlinguistik im Überblick. Den resultativen Aspekt des Partizips II betont erneut Leiss (1992). Klein (1999) bindet den Begriff an die Semantik bzw. Aktionsart des Verbstamms, indem er z.B. .gelacht', .geblüht', .geschlafen' als nicht-resultativ charakterisiert und das Gemeinte als „Nachzeiteigenschaften" des Lexems bestimmt - hiermit faktisch eine Analogie zur handlungstheoretischen Argumentation mit der Kategorie „Nachgeschichte" (Redder 1992,1995) herstellend. Ich danke Jochen Rehbein für seinen Hinweis darauf.
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(Β 2')
[...] nur noch 50 Minuten! Ich schmeiß also die Papiere zusammen, schnapp den Koffer, stürze zum Taxistand - und wir düsen ab zum Flughafen: [...]
Durch das Präsens der Veiben in (B2') werden dem Hörer Handlungsausführungen als solche kommunikativ nahegebracht; meist wird von einem „szenischen Präsens" gesprochen (z.B. Quasthoff 1980). Jedenfalls ist durch die temporale Flexionsmorphologie eine Situierung im Sprechzeitraum hergestellt. Sie wird gestützt durch personale Flexion. Die jeweiligen sprecherdeiktischen Morpheme in (B21) fokussieren den Sprecher als Aktanten immer wieder neu. Die Äußerungen bilden Einheiten der Größenordnung .Sprechhandlung' und weisen im besonderen die illokutive Qualität von Assertionen auf. Es liegt in (B2') also eine Assertionsverkettung vor - nicht minder prägnant und Schlag-auf-Schlag als im Hörbeleg (B2), aber eben bezogen auf situierte praktische Handlungsvollzüge des Ich. Die Form der partizipialen Kette in (B2) beläßt die Äußerungen demgegenüber bei einer Benennung der in Handlungsresultaten wirklichen Konstellationsmomente. Sie werden nicht prädikativ situiert, denn es erfolgt keine verbspezifische Bezugnahme auf die Sprechsituation, insbesondere nicht auf die temporale Dimension der „Origo" (Bühler 1934, § 7), wie sie im Deutschen gewöhnlich morphologisch am finiten Verb geschieht. Auch die morphologische Personaldeixis als Kennzeichen „diskursiver Prädikation" (Redder 1992) bleibt ausgespart.8 Die wortförmige Sprecherdeixis, die in (B2) den Partizipien vorangestellt ist - auf das „also" komme ich später (§ 2.4) -, fungiert strukturell als perspektivisches Relat, als „point of departure for the presentation of the state of affairs" (Dik 19813, 87) für die Kette der Konstellationsmomente. Mit Hoffmanns Vorschlag für eine funktionale Satzbestimmung (1996) könnte man argumentieren9, daß „Gegenstandskonzept bzw. Subjektion" und „Charakteristikum bzw. Prädikation" in Äußerungen wie (B2) präsent sind, die mentale „Synthese" aber nicht so erfolgt, daß eine Satzförmigkeit entsteht. Demnach wären zwar Elemente für den propositionalen Gehalt eines „Kommunikats" vorhanden, dennoch kein „geäußerter Satz" (vgl. Figur 1 in Hoffmann 1996, 196). Wird gleichwohl ein propositionaler Akt vollzogen? Ich meine nicht. Denn ein propositionaler Akt stellt eine bestimmte Ausarbeitungsstufe einer Äußerung dar, eine inhaltliche Form also, die zum Vollzug einer der drei Dimensionen einer Sprechhandlung taugt. Insbesondere gehört dazu eine situierte Prädikation. Allgemeiner jedoch gehört zum ,Akt' eine Qualifizierung als kommunikativ 8
9
'Prädikation' wird als eine funktionale und wortartenunabhängige, .Prädikat' als eine formale Kategorie aufgefaßt, die lediglich in indogermanischen Sprachen als an das Verb gekoppelt erscheint. Im Sinne traditioneller flexionsmorphologischer Auffassung und der Biihlerschen Origo-Dimensionen beziehe ich die personale Flexionsdimension in das Prädikatskonzept mit ein, statt sie lediglich unter dem Aspekt der Kongruenz bzw. Doppelmarkierung gemäß der modernen Kategorie des .Agreement' ins Auge zu fassen. Letzteres dürfte lediglich für die phorischen Prädikatsbezüge, d.h. für die sogenannte „3. Person", sinnvoll sein. Hiermit beziehe ich mich zugleich auf seine Kommentare zu diesem Artikel, wofür ich sehr danke.
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Neues, ein ,habar' im Sinne der arabischen Grammatikterminologie, welche neben dem Verbalssatz systematisch den Nominalsatz einbegreift und damit zwei gleichberechtigte satzsyntaktische Formen bestimmt (Ehlich 2001). Das habar läßt komplementär zum .mubtada' (dem Bekannten) den Gehalt im Rahmen der sprachlich differenzierbaren Wirklichkeitsqualitäten, kurz: im Rahmen der Ρ-Π-ρ-Differenzierung, zur Geltung kommen (Ehlich & Rehbein 1986, Redder 1992). Diese im weiten Sinne prädizierende Wirklichkeitsdifferenzierungen muß also nicht, wie Klein (1994) bezogen auf Finitheit argumentiert, in einer Zeitqualifizierung bestehen. Dies würde beispielsweise schon Äußerungen mit Verben im Konjunktiv ausschließen, sofern man hierfür keine Temporalität annimmt (vgl. Redder 1992,134; anders Bredel & Lohnstein 2001). In Sprachen, die systematisch nominale Prädizierungen zulassen, erfolgt die Wirklichkeitsqualifizierung formal mittels Position oder besonderer nominaler Formung. Das deutsche Partizip II leistet keine eigene Ρ-Π-ρ-Differenzierung, sondern drückt einen bestimmten Aspekt von Ρ als solchen - nämlich ein Handlungsergebnis oder Prozeßresultat als Konstellationsmoment - aus. Des weiteren fehlt dem Partizip II eine formale Relationierung zum Subjekt bzw. zur Subjektion, z.B. mittels Kongruenzmarkierung oder Agreement. Insofern unterbleibt in der Partizipialkonstruktion eine kommunikative Zubereitung im Hinblick auf das, was eine Synthese im Sinne von Hoffmann kennzeichnen könnte; ja die Synthese selbst wird sprachlich nicht vollzogen. Vor diesem Hintergrund argumentiere ich, daß die partizipiale Kette zwar einen propositionalen Gehalt hat, aber keinen propositionalen Akt realisiert. Vielmehr handelt es sich um propositionale Elemente, die formuliert werden. Die durch partizipiale Ketten realisierten propositionalen Elemente haben eine große Nähe zu der mentalen Größe, die Ehlich (1997, 3.1) als 'elementare propositionale Basis (epB)' eingeführt hat. Partizipiale Ketten sind in der prozeduralen Ableitungssukzession jedoch nicht auf unterster Stufe im Sinne der reinen epB fixiert. Insofern handelt es sich nicht um eine .Exothese' (Ehlich & Rehbein 1972, Hohenstein 1999) der epB. Vielmehr ist das Partizip eine biprozedurale Form aus Symbolfeldausdruck (Verbstamm) und operativer Prozedur (partizipiale Morphologie) und also die partizipiale Kette durchaus Ausdruck einer Formulierung - allerdings einer solchen, die bereits auf zweiter Stufe der Ableitungssukzession angesiedelt sein kann. Brinkmann (1971, 282) charakterisiert eine derartige partizipiale Kommunikationsform als Ausdruck eines „Bedürfnis(ses), aus dem System einer Sprache auszubrechen", indem eben „rollenfrei" geredet wird. Ich werte diese systematische Ausdrucksmöglichkeit weniger als Sprengung von Fesseln denn als sprachsystematische Freiheit, auf einige verbale Bearbeitungen hörerbezogener Tätigkeiten zu verzichten und stattdessen den Hörer möglichst unmittelbar an der sprecherseitigen mentalen Widerspiegelung von Wirklichkeitselementen partizipieren zu lassen. Welche weiteren Ableitungsstufen auszumachen sind, welche weiteren Prozeduren über der Partizipialkonstruktion operieren können, werde ich anhand der empirischen
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Angelika Redder
Beispiele im weiteren auszuführen versuchen und in § 3 strukturell systematisieren. Dort wird auch die intonatorische bzw. interpungierende Formung diskutiert. Die verketteten Partizipialkonstruktionen realisieren auch keinen illokutiven Akt. Nach meiner Auffassung - und so argumentiert auch Hoffmann - weisen weder die sogenannten Nebensätze (Redder 1990,197ff) noch partizipiale KettenElemente10 eine Illokution auf. Analytisches Kriterium ist, daß diese beiden Äußerungsformen an und für sich keine zweckbestimmte Position in einem Handlungsmuster einnehmen, auf die hin systematisch eine ebenso zweckbezogene hörerseitige mentale und interaktionale Handlung zu erwarten ist. Demgemäß folgt derartigen Einzeläußerungen auch kein systematischer turn-Wechsel. Nebensätze sind vielmehr durch spezifische operative Prozeduren, z.B. subordinierende Konjunktionen oder, im Deutschen systematisch, durch die Endstellung des Finitums, in ihrer eigenen Entfaltung zum illokutiven Akt sistiert (Redder 1990, 3.2.4.4). Ich möchte diese Prozeduren deshalb als „Illokutionsstopper" bezeichnen (2001). Statt selbst einen illokutiven Akt zu bilden, sind Nebensätze in eine Gesamthandlung mit illokutiver Kraft integriert, welche als hypotaktische Einheit ein besonderes prozedurales Integral im Sinne von Ehlich (1992) und als Ganzes eine Sprechhandlung realisiert. Die partizipiale Kette ist demgegenüber, wie beispielhaft illustriert, nicht prozedural in einen sog. Matrixsatz integriert. Sie zeichnet sich aber selbst durch Koordiniertheit aus, indem eine Rekursion der Strukturform .Partizipialkonstruktion' zur Kette führt. Die Elemente der Kette, d.h. die einzelne Partizipialkonstruktion, haben keine illokutive Kraft. Die Illokution wird auch nicht durch eine bestimmte Operation gestoppt, sondern gar nicht erst entfaltet. Erst in der verketteten Gesamtheit konstituiert sich ein diskursiv oder textuell funktionales Ensemble von Äußerungen. Die partizipiale Kette ist somit ein Phänomen einer Diskurs- oder Text-Syntax, nicht einer Satzsyntax; und die partizipiale Kette stellt in sich keinen illokutiven Akt dar, sondern eine Einheit anderer Größenordnung.
2.3 Partikulares sprachliches Handeln In (B2) wird also keine Verkettung von Assertionen geäußert wie in (B2'). Die vier partizipial verbalisierten Konstellationsmomente in (B2) sind weder zu propositionalen Akten noch zu illokutiven Akten ausgebaut. Die einzelne Verbalisierung schlägt gleichsam kurz vor ihrer Konkretisierung in sprachlichen Akten um in eine abstrakte Skizzierung partikularen Erlebens. Wenn die partizipiale Kette keine Verkettung von Sprechhandlungen darstellt, was dann? Ich argumentiere, von der Analyse des empirischen Beispiels (B2) ausgehend, folgendermaßen: Mit der partizipialen Kette und ihren Einzelelementen stehen im Deutschen Ausdrucksformen zur Verfügung, die systematisch ein sprachliches Handeln auf einer Zwischenstufe zwischen den Prozeduren und den 10
Gleiches gilt für andere Formen partikularen sprachlichen Handelns; s.u.
Partizipiale Ketten
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Sprechhandlungen ermöglichen. Mit anderen Worten: Ein Sprecher macht mit den Elementen einer partizipialen Kette eine Äußerung, die konstitutiv auf einer Zwischenstufe des sprachlichen Handelns angesiedelt ist. Zugleich weist diese Ausdrucksform deutlich eine eigene Funktion und eine komplexe, insbesondere repetitive Strukturmöglichkeit auf, eben als partizipiale Kette. Insofern kommt solchen Äußerungen eine eigene Qualität zu. Wie ist diese Qualität zu bestimmen? Im Vorschlag von Zifonun et al. (1997, Kap. B) wird hinsichtlich „selbständiger Einheiten" eine Differenz zwischen Kommunikation und Interaktion in Anspruch genommen, indem kommunikative Minimaleinheiten (KM) und interaktive Einheiten geschieden werden. Diese Terminologie halte ich für nicht wirklich klar. Erstens ist Kommunikation, vor allem die sprachliche Kommunikation, eine besondere Form der menschlichen Interaktion, insofern selbst auch von interaktiver Qualität. Zweitens könnte diese Gegenüberstellung suggerieren, daß interaktive Einheiten keine kommunikative Qualität haben. Und das widerspricht beispielsweise den handlungstheoretischen Analysen zu Interjektionen, welche in der IdS-Grammatik einerseits komplementär zu KM als interaktive Einheiten klassifiziert und andererseits, auf der Basis von Kap. Β 1, mit Ehlich (1986) funktional als expeditive (lenkende) Prozeduren bestimmt werden, deren kommunikative Qualität gerade ein Ergebnis dieser Analyse ist. Ich schlage stattdessen eine Bestimmung der Zwischenstufe innerhalb der Systematik von Einheiten des sprachlichen Handelns vor, wie sie durch die funktional-pragmatische Sprachanalyse seit längerem geboten wird. Hier unterscheidet man bislang folgende Einheiten (vgl. Redder 1998, Graphik S. 67): - Prozeduren als kleinste Einheiten sprachlichen Handelns; sie lassen sich funktional nach den sprachlichen Feldern im Sinne von Bühler (1934) differenzieren. Die Prozeduren des Lenkfeldes und partiell die des Zeigfeldes können selbstsuffizient oder suffizient (z.B. im Fall des biprozeduralen Imperativs) in der Kommunikation eingesetzt werden. - Sprechhandlungen als Einheiten sprachlichen Handelns mittlerer Größenordnung, konstituiert aus dem gleichzeitigen Vollzug dreier Akte, nämlich gemäß Searle - Äußerungs-, propositionalem und illokutivem Akt. - Diskurs oder Text als größte Einheiten sprachlichen Handelns; genauer: Diskurs unter der Bedingung der Kopräsenz von Sprecher und Hörer in der gemeinsamen Sprechsituation, Text bei mangelnder Kopräsenz und systematisch zerdehnter Sprechsituation. Diskurs und Text sind jeweils durch ein zweckbezogenes Ensemble von Sprechhandlungen konstituiert. Die Elemente der partizipialen Kette sind nun als Realisierungsformen einer Einheit sprachlichen Handelns sui generis in einer unteren Zwischenstufe anzusetzen. Ich schlage für diese Einheit den Namen partikulares sprachliches Handeln vor. Das partikulare sprachliche Handeln (kurz: das partikulare Handeln) ist komplexer als prozedurale Einheiten, aber nicht zu einer Sprechhandlung mit ihren Aktdimensionen ausgeführt.
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Dieser Terminus soll die Eigenqualität, die über ein quantitatives TeilGanzes-Verhältnis von Einheiten des sprachlichen Handelns hinausgeht, verdeutlichen. Das Attribut .partikular' ist durch die empirische Rekonstruktion des partikularen Wahrnehmens oder Erlebens von Konstellationsmomenten motiviert, welches hierin seine sprachliche Umsetzung findet. Damit soll zugleich ein elementarer Strukturtyp des Aktantenwissens assoziiert werden, nämlich das 'partikulare Erlebniswissen' (Ehlich & Rehbein 1977). Die mentale Verankerung der Unmittelbarkeit von Konstellationsmomenten dürfte eine bestimmte Form dieses partikularen Erlebniswissens ausmachen. Eine irgendwie geartete Defizienz ist damit nicht impliziert, wohl aber eine mentale Unmittelbarkeit und Durchsichtigkeit oder Einfachheit. Diese Einfachheit ist kommunikativ in der Nähe zur elementaren propositionalen Basis epB begründet. Eine epB besteht stets aus Elementen des Symbolfeldes. Insofern ist das partikulare sprachliche Handeln in seiner prozeduralen Zusammensetzung zugleich deutlich von (selbst-)suffizienten Prozeduren unterschieden. Genaueres diskutiere ich in § 3.2. Graphisch sind die Einheiten des sprachlichen Handelns nunmehr systematisch darstellbar:
î
î
partikulares
sprachliches
Handeln
PROZEDUREN expeditives/ deiktisches/ Lenk-Feld Zeigfeld ^
' '^
C
operatives Feld
Mal-Feld
s p r a c h l i c h e H a n d l u n g s e i n h e i t c n größerer K o m p l e x i t ä t , e i g e n s t ä n d i g
3
Sprachfeld
Symbol-Feld
unselbständige Konstituenten von Handlungen
prozedurale Selbstsuffizienz möglich
Die einzelne Partizipialkonstruktion, d.h. das einzelne Element einer partizipialen Kette, stellt eine Realisierungsform des partikularen sprachlichen
Partizipiale Ketten
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Handelns dar. Die partizipiale Kette realisiert mithin eine besondere Verkettung von partikularem sprachlichem Handeln. Diese Realisierungsform ist durch oberflächliche Repetition, durch Rekursivität der gleichen Strukturform gekennzeichnet und wird deshalb als Kette bezeichnet. Diese Verkettung bildet funktional ein Ensemble, das einer bestimmten Diskursart zugehört. Empirische Untersuchungen legen es nahe, die pragmatische Funktion partizipialer Ketten in Diskursen von narrativer Qualität zu sehen. Rufen wir uns dazu noch einmal das Beispiel (B2) vom beinahe verpaßten Abflug in Erinnerung. Die partizipiale Kette setzt Konstellationsmomente sprachlich um und realisiert so eine besondere Verkettung von partikularem Handeln. Dennoch versteht der Hörer das Gesamte als eine Erzählung im weiten Sinne und die partizipiale Kette als eine bestimmte Phase davon. Für diese diskursive Gesamtbestimmung macht er wiederum von einem verallgemeinerten Wissen Gebrauch, diesmal von Wissen über sprachliches Handeln. Kognitionspsychologisch würde auch dafür u.a. der Skript-Begriff geltend gemacht; funktional-pragmatisch liegt die Inanspruchnahme von Musterwissen vor (Ehlich & Rehbein 1977). Eine Erzählung dient dem Mitvollzug, dem sympathein durch den Hörer, d.h. sie dient seiner kommunikativ vermittelten Partizipation am Geschehen, häufig im gleichen Modus, wie es durch den Erzähler erfahren wurde (als Leid oder Sieg, als Witz oder Streß etc.). Die partizipiale Kette, wie sie in (B2) vorliegt, läßt die Qualität des gesamten Ensembles der Äußerungen nicht völlig unberührt. Vielmehr modifiziert sich die Handlungscharakteristik m.E. von einer Erzählung hin zur Schilderung. Eine Schilderung ist gemäß Rehbein (1989) dadurch gekennzeichnet, daß sprecherseitige Einschätzungen, allgemeiner: daß mentale Dimensionen wie Eindrücke in die Verbalisierung eingehen. Dies geschieht in (B2) nicht in irgendeiner expliziten Weise, sondern bezogen auf die mentale Widerspiegelung der Wirklichkeitsentwicklung gleichsam ikonisch." Es wird das Erleben einer raschen Folge von Konstellationen sprachlich nachvollziehbar gemacht, deren Resultat nahezu automatisch die Entfaltung der nächsten anstößt - wie ein Dominospiel. In den verketteten Einzeläußerungen wird dies Erleben zugleich als Erleben spezifischer Art wiedergegeben: Die praktischen Handlungen des Zusammenschmeißens, Kofferschnappens etc. laufen nämlich in der erlebten Situation für den Aktanten nahezu ohne Bewußtsein - sprich: hochgradig routiniert - ab, und das heißt auch: ohne Origobezugnahme oder Ρ-Π-ρ-Qualifizierung. Lediglich im erfolgreichen Ergebnis werden sie für den eigenen Handlungsplan und seine praktische Kontrolle relevant bzw. registriert. Genau diese Erfahrung, diese Form des partikularen Erlebens ist durch ein partikulares sprachliches 11
Ikonizität dürfte im Rahmen der semiotischen Argumentation von Keller (1995) die Form der komplexen Zeicheneinheit in ihrer genuinen Ausbildung charakterisieren; indem sie historisch zu einer standardisierten Äußerungsform des Deutschen wird, müßte gemäß Keller heute ein Transfer vom ikonischen zum symbolischen Wissen über solche Zeicheneinheiten vorliegen. Im Sinne von Janney (1999) dürfte von einer „verbalen Geste" gesprochen werden können.
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Handeln in Form von Partizipialkonstruktionen angemessen versprachlicht und steigert den Effekt der hörerseitigen Partizipation. Das partikulare sprachliche Handeln in partizipialer Form ist daher funktional als Wiedergabe konstellativen Erlebens zu bestimmen. Verkettet resultiert daraus eine spezifische Art der Schilderung, ein konstellatives Schildern. Es stellt eine Phase in einer Diskursart dar, die im weiten Sinne narrative Qualität hat. Betrachten wir neben dem Beispiel (B2) aus dem homileischen Diskurs nun weitere diskursive sowie textuelle Beispiele für partizipiale Ketten und präzisieren daran zugleich die bisherigen Bestimmungen. 2.4 Partizipiale Ketten in nicht-homileischen Diskursen Ein prominenter Diskurs öffentlicher Institutionen ist die Berichterstattung im Medium Fernsehen (Schmitz 1990, Holly 1997). In diesen Zusammenhang gehört das eingangs bereits illustrierte Beispiel aus einem Korrespondentenbericht über Tetovo: (Β 1) ... Alltag ... : rasch die wichtigsten Lebensmittel gekauft, noch einmal die Moschee besucht und dann abgewartet, wie die Nacht verläuft. [Hörbeleg in den „Tagesthemen", 19.3.2001, gesprochen von der Korrespondentin vor Ort] Leider konnte der genaue Wortlaut vor der partizipialen Kette nicht protokolliert werden, da dies authentische Beispiel gänzlich unerwartet auftrat.12 Auffällig war aber, daß die Sprecherin von Beginn des sogenannten Korrespondentenberichts an schon intonatorisch eine eher erzählende denn berichtende Diskursart verfolgte. Den Zuschauern sollte die Situation der Einwohner von Tetovo, ihr besonderer Alltag, nahegebracht werden. Die Kamera blieb dabei vergleichsweise weitwinklig. Relativ zum Ende des Diskurses äußerte die Korrespondentin die dreigliedrige partizipiale Kette. Die jeweiligen Verbstämme benennen Handlungen der einfachen Bedürfnisbefriedigung. Ihr Vollzug erfolgt allerdings angesichts einer ungewissen Wirklichkeitsentwicklung. So bleiben die Handlungsabläufe zwar vergleichsweise alltäglich, ihre erfolgreichen Resultate verlieren aber an Selbstverständlichkeit und treten als vereinzelte in den Bereich der Aufmerksamkeit. Realisierte Handlungszwecke erscheinen nicht mehr weiträumig und in Zusammenhängen gesichert, sondern bei Gelegenheit. Diese Partikularisierung des alltäglichen Handelns unter Krisenbedingungen wird durch die partizipiale Kette von der Korrespondentin trefflich wiedergegeben. Dem Hörer bzw. Zuschauer tritt die Konstellation „vor Ort" sprachlich vermittelt und doch gleichsam distanzlos vor Augen. Im Sinne von Chafe (1992) erfolgt 12
Hierin liegt insgesamt ein methodisches Problem, denn schildernde Äußerungen stellen im Bereich der Mündlichkeit ohnehin keine leicht kalkulierbaren Diskursphasen dar.
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die Verbalisierang „immediate", trotz „displacement" - mit medienpolitisch wohlkalkuliertem Effekt scheinbarer Unmittelbarkeit. Die Verkettung partikularen sprachlichen Handelns in Form einer partizipialen Kette bildet auch innerhalb dieses narrativ gehaltenen Korrespondentenberichts ein Ensemle von schildernder Qualität. Im Unterschied zu (B2) fehlt eine Aktantennennung, formal also ein Subjektausdruck. Die Konstellationsmomente sind nicht von einem Erfahrungsträger her perspektiviert. Gleichwohl kann man sie aufgrund der ergebnishaft benannten Handlungen und wegen dieser Entpersonalisierang als Konkretisierungen des Stichworts „Alltag" verstehen. Im besonderen ist die Schilderung in (Bl) diskursartspezifisch ausgeprägt: Die Ausdrücke „rasch"13, „noch einmal", „und dann" verleihen der Verkettung eine Sukzession, wie sie für narrative Diskurse typisch ist. Das partikulare sprachliche Handeln fügt sich so kategorial für den Hörer leichter unter das gleiche Wissen über den Diskurstyp ein wie die übrigen Äußerungen des Konespondentenberichts; es bildet allerdings eine Phase besonderer diskursiver Art, eben die der Schilderung in spezifischer Realisierungsform. Im Sinne von Rehbein (1999) ist durch die drei sukzessierenden Ausdrucksmittel „Konnektivität" des Äußerangsensembles gesichert. Sie stellen prozedurale Ausdrucksmittel dar, die über den einfachen partizipialen Kettenelementen operieren, sie diskursiv einbetten und zugleich auf eine höhere prozedurale Ableitungsstufe führen als die Kette in (B2). Dennoch wird lediglich ein Ensemble von partikularem Handeln, nicht von Sprechhandlungen realisiert. Dies Ensemble hat als solches gleichwohl eine eigenständige diskursive Funktion. In (B2) ist lediglich die partizipiale Kette als ganze diskursiv konnektiert, nämlich durch ,also': (B 2)
; nur noch 50 Minuten! Ich also Papiere zusammengeschmissen, Koffer geschnappt, losgestürzt zum Taxistand, rein und abgedüst zum Flughafen: gerade noch knapp vor Toresschluß. Der paraoperative Ausdruck ,also* bindet bisheriges Diskurswissen zusammen und dethematisiert es zum Zweck der Fokussierung auf neues, nunmehr verbindliches Wissen. Diese operative Prozedur entspricht genau dem diskursiven Umschlagpunkt vom Höhepunkt der Komplikation im Ausruf „nur noch 50 Minuten!" zur Auflösung. (Die Koda wird abschließend in phraseologischer Realisierungsform verbalisiert: „gerade noch knapp vor Toresschluß".) Eine ausdrückliche Einbettung in einen Handlungszusammenhang fehlt demgegenüber folgendem Werbetext, der gegenwärtig in Münchner U-Bahnen zu lesen ist: (B 3) Stressiger Tag. An Zigaretten gedacht. Nicotinell® Kaugummi gekaut. (Werbetext) Der Text ist schlagwortartig strukturiert und ohne jegliche Abbildung. Er 13
Im Unterscheid zu .schnell' benennt ,rasch' nicht eine Bewegungsweise, sondern einen Bewegungsaufwand relativ zum Aufwand anderer Abwicklungen in der Vor- und Nachgeschichte.
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besteht insgesamt nur aus drei Äußerungen partikularen sprachlichen Handelns in zwei verschiedenen Realisierungsformen. Die partizipiale Kette ist hier zweigliedrig. Ist ein derartiges konstellatives Schildern geradezu eine Manier, die vielleicht durch die Fragmentarisierung der Wahrnehmung einzelner Aktanten forciert wird? Man müßte dem empirisch weiter nachgehen. Jedenfalls ist ein Leser assoziativ herausgefordert. Das Ensemble partikularen Handelns in (B3) stellt einen Versuch der empraktischen Einbettung im Sinne von Bühler (1934) dar. Der in der U-Bahn sitzende Leser befindet sich unterwegs innerhalb eines irgendwie gearteten praktischen Handlungszusammenhangs. Die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um eine Praxis an einem Werktag handelt, darf bezogen auf dieses Verkehrssystem in Deutschland recht hoch veranschlagt werden - egal, ob der Tag beginnt oder zu Ende geht. Jedenfalls ist die Assoziation, die mit der Qualifizierung „stressiger Tag" aufgerufen wird, vergleichsweise leicht auf die Konstellation des U-Bahn-fahrenden Lesers oder zumindest die eines anonymen Fahrgastes zu beziehen. Die partizipiale Kette schildert sodann Konstellationsmomente, die der Leser umstandslos als Folge der nominalen Konstellationsqualifizierung verstehen kann. Ob er, wie werbepsychologisch bezweckt, anschließend - als Raucher - sich diese konstellativen Folgen selbst antizipativ zu eigen macht und ein entsprechendes Handeln ins Auge faßt, oder ob er sie als lebensnahe Schilderungen zur Kenntnis nimmt, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls kennt er nun ein Mittel gegen die streßbedingte Rauchsucht. Und er kennt es sprachlich "wie unmittelbar aus dem Leben gegriffen". Das graphische Layout, die reine Schrift, weiß auf blau, fügt sich in eine „stream-of-consciousness"-Schreibweise ein. Angesichts anregenderer visueller Gestaltungsmöglichkeiten darf bezweifelt werden, ob breite Rezipientenschichten mit dieser Form der Werbung erreicht werden oder nur sprachsensible Kunden. Ich verzichte hier auf die Diskussion weiterer Belege partizipialer Ketten in nicht-homileischen Zusammenhängen, insbesondere in literarischen Texten. Dies wird in einem größeren Zusammenhang geschehen (Redder demn.). Stattdessen möchte ich mich nun der syntaktischen Diskussion zuwenden.
3.
Funktional-pragmatische
Strukturdiskussion
3.1 Diskurssyntax der partizipialen Kette Fassen wir die bisherigen empirischen Ergebnisse zusammen. Partizipiale Ketten bilden eine besondere Realisierungsform von partikularem sprachlichen Handeln. Die Besonderheit liegt einerseits darin, daß eine Partizipialkonstruktion strukturell prägend ist, zum anderen darin, daß diese Strukturform als solche repetitiv genutzt und also verkettet ist. Diese partizipiale Kette konstituiert wiederum ein Ensemble sprachlichen Handelns, also eine funktionale Gesamtheit. Der Zweck dieses Ensembles ist - ganz dem Erzählen im weiten Sinne gemäß - auf das rezipientenseitige Mit- oder Nach-Erleben etappenartiger Konstellationsmo-
Partizipiale Ketten
169
mente gerichtet, denen eine quasi-finale Drift eigen ist. Daraus resultiert insgesamt eine spezifische Diskurs- oder Textart, nämlich die konstellative Schilderung. Sie kann als eine Besonderung des Diskurs- oder Texttyps Erzählen gelten. Diese Bestimmungen lassen sich unter dem Aspekt handlungssystematischer Konstituenz formulieren. Wir haben mit der partizipialen Kette eine Äußerungsform vor uns, die in ihren Einzelelementen eine Handlungseinheit zwischen Prozedur und Sprechhandlung realisiert, die gleichwohl in der Verkettung eine eigene Einheit innerhalb eines diskursiven oder textuellen Ensembles darstellt. Daraus läßt sich ein allgemeinerer Schluß ziehen: Die größten Handlungseinheiten Diskurs und Text können phasenweise nur aus zwischengeordneten Einheiten des partikularen Handelns konstituiert sein und bestehen keineswegs notwendig aus Sprechhandlungen. Betrachten wir nun die gesamten Strukturformen, der partizipiale Ketten zugehören bzw. in die sie eingebettet sind, diskurssyntaktisch genauer. Gemessen an den Phasen einer Narration i.w.S. kann das Ausmaß deijenigen Äußerungen, die speziell das Ensemble einer partizipialen Kette einbetten14, stark differieren. Zuweilen genügt allein eine narrative Orientierung, eventuell ergänzt um eine Komplikationseinleitung (vgl. B2). Wie der empraktisch eingebettete Werbeversuch (B3) zeigt, kann jedoch auch die Orientierung in Form partikularen Handelns realisiert sein, so daß sprachlich der gesamte Diskurs oder Text nur aus einem Ensemble partikularen Handelns besteht. Allerdings dürfte es sich bei derartig empraktischen Formen um einen systematisch selteneren Fall handeln.15 Es stellt sich daher die Frage: Sind im systematischen Normalfall für die partizipialen Kette, also für die Verkettungseinheit und nicht für das Einzelelement, syntaktische Einbettungsformen auszumachen? Aus satzsyntaktischer Sicht sind folgende Negativbefunde festzuhalten. Die partizipiale Kette ist nicht in einen Matrixsatz eingebettet. Wir haben keine Subordination anzunehmen. Anhand der Beispiele kann des weiteren festgestellt werden, daß die partizipiale Kette auch ohne sonstige „TrägerstruktuT" funktioniert, wie Hoffmann (1998) die „syntaktisch übergeordnete Einheit" relativ zu den vergleichsweise eigenständigen Parenthesen charakterisiert. Also muß für die partizipiale Kette nicht notwendig eine Prozedurenkombination vom Typ seiner Installation vorausgesetzt werden. Das Ensemble aus verkettetem partikularem Handeln in der Realisierungsform einer partizipialen Kette ist nicht sentenziai eingebettet, sondern es ist diskursiv bzw. textuell eingebettet. Insofern ist das Ensemble der partizipialen Kette im Rahmen einer Diskurs- bzw. Textsyntax zu behandeln. Das bedeutet, daß eine syntaktische Einbettung als Konnexion des Ensembles an die Äußerungen der restlichen Diskurs- oder Textphasen des narrativen Typs geschieht. Diese 14 15
Ich benutze den Begriff der Einbettung hier rein beschreibend im Sinne der Zugehörigkeit zu einer größeren Einheit. In den Printmedien ist demgegenüber die Realisierung eines vorangestellten Abstrakts aus partikularem Handeln bei anschließender narrativer Ausführung in Sprechhandlungen sehr viel häufiger. Einen eigenen Form-Funktionsbereich von Sprache stellen Schlagzeilen dar, so daß sie hier nicht angeführt werden.
170
Angelika Redder
Konnexion erfolgt m.E. auf einer höheren Stufe, als sie mit dem Koordinationstyp der „Verkettung/ Sequenzierung sprachlicher Handlungen" für kommunikative Minimaleinheiten bei Hoffmann (1997, § H2, S. 2378) in die Betrachtung einbezogen wird. Denn es geht hier um die Konnexion eines verketteten Ganzen, welches eine Phase des übergeordneten Diskurses oder Textes realisiert. Der diskursive bzw. textuelle Konnex kann einzig auf der Basis des Wissens um Diskurs- oder Texttyp funktionieren. Wollte man die satzsyntaktischen Kategorien übertragen, wäre von diskursiver bzw. textueller Juxtaposition zu sprechen. Die Konnektivität kann aber auch explizit zum Ausdruck kommen, beispielsweise durch geeignete operative Ausdrucksmittel. Zu ihnen gehört 'also', wie es etwa im homileischen (B2) genutzt wird. Der Ausdruck hat paraoperative Qualität, da er sich funktionaletymologisch aus der Aspektdeixis 'so' ableiten läßt (Redder 1989, Bührig 1995). Die durch 'also' bewirkte Defokussierung des Vorigen zugunsten einer konzentrierenden Fokussierung des Folgenden als dem kommunikativ Verbindlichen stellt diskurssyntaktisch eine hervorragende Konnektierung der markanten Erzählphase an die etablierte Gesamtstruktur dar. Eine Alternative könnte darin bestehen, eine intonatorische Zäsur nach Art eines „verbalisierten Doppelpunktes" an der Konnektierungsstelle zu piazieren; das mediale (Bl) wurde so verschriftet. Bei (B2) wäre dies hinter der Personaldeixis 'ich' und anstelle von 'also' möglich gewesen. Allerdings ist eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Protagonisten der Narration generell nicht notwendig, sondern stellt lediglich eine optionale Unterstützung der diskursiven bzw. textuellen Konnektivität dar, wie die übrigen Beispiele zeigen. Wenn in Grammatiken des Deutschen von „autonomen" oder „freien" Partizipialkonstruktionen die Rede ist, wird mithin aus satzsyntaktischer Sicht argumentiert; es sind dann unterschiedslos Phänomene von diskursiver bzw. textueller Juxtaposition gemeint oder auch solche der Installation (s. u. § 4). Wir haben für die partizipiale Kette die diskursive oder textuelle Juxtaposition analytisch herauszuarbeiten versucht. Diese Argumentationsweise hat eine gewisse Nähe zu derjenigen in der kognitiven Grammatik. So hat etwa Longacre (1985) den Typ der weder koordinierten noch subordinierten Konnexion zwischen grammatischen Einheiten als .chaining' charakterisiert; Givón (1990) behandelt in seiner Syntax .clause chains' innerhalb von .paragraph chains' und subsumiert Partizipialkonstruktionen unter solcherart .independent clauses'. Allerdings werden dabei primär adverbiale Verwendungen betrachtet, die wir unten als installierte Formen diskutieren (§ 4.4). Gleichwohl kann der Schritt der kognitiven Grammatik in Richtung auf eine Vermittlung von discourse und clause und die partielle Ablösung - so Givón kritisch gegenüber Longacre (1990, 864) - vom Begriff sentence durch clause mit dem Anliegen der funktional-pragmatischen Grammatik verglichen werden.16 Hier wird mit den Kategorien für Einheiten des sprachlichen Handelns der Versuch unternommen, konsequenter handlungstheoretisch vorzugehen und zugleich Form und Funktion analytisch getrennt
Partizipiale Ketten
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zu halten, um genau vor diesem Hintergrund die Wechselverhältnisse schärfer fassen zu können. Die von Givón betonte Unabhängigkeit (independence), besser: Eigenständigkeit der Kette als Ganzes ergibt sich demnach dadurch, daß die Kette pragmatisch im Diskurs oder Text eine eigene Phase darstellt, die unter dem Aspekt der Konnektivität als diskursive oder textuelle Juxtaposition bestimmt wurde. Um eine knappe Benennungsmöglichkeit für derartig pragmatisch eigenständige Ketten zu haben, schlage ich den Terminus autonome partizipiale Kette bzw. allgemeiner .autonome Kette partikularen sprachlichen Handelns' vor; der Autonomiebegriff ist hier freilich pragmatisch und diskurs- bzw. textsyntaktisch begründet und nicht satzsyntaktisch, wie in der üblichen Rede von „autonomen Partizipialkonstruktionen", die zudem eher Einzelelemente betrifft. 3.2
Prozedurale Struktur der Kette und der partizipialen Kettenelemente Die empirisch betrachteten autonomen Ketten partikularen Handelns sind nicht unbedingt in ihrer internen Konnektiertheit (oder chain-Charakteristik) durchsichtig. Es liegt keineswegs immer eine explizite Koordination zwischen den Kettenelementen vor, beispielsweise mittels Konjunktionen. Auch die Drift auf einen Fluchtpunkt hin - die genannte Quasi-Finalität - ist i.a. nur auf der Basis von Sachwissen zu verstehen. Generativ-syntaktisch handelt es sich bei der partizipialen Kette um die Wiederholung bzw. Rekursion identischer syntaktischer Strukturformen. Bei Ketten partikularen Handelns, die neben Partizipialkonstruktionen noch andere Realisierungsformen einschließen, betrifft die Rekursion die Struktur partikularen Handelns als eines solchen. Der interne Konnex der Kettenelemente geht bei näherer Betrachtung aber über eine strukturelle Rekursivität hinaus. Ein wenig am Rande der gewohnten grammatischen Formelemente lassen sich sprachliche Mittel erkennen, die den Zusammenhang stützen. Es ist das Verdienst vor allem der „Konstanzer Schule" mit Vertretern wie Auer & CouperKuhlen (1994), Selting (1995), Uhmann (1997), Intonationsformen empirisch detailliert und schließlich im Zusammenhang mit grammatischen Strukturen in die Diskussion gebracht zu haben.17 Für eine Einzelsprachgrammatik hat erstmals Hoffmann solche besonderen Formelemente in Kap. C der IdS-Grammatik (1997) systematischer diskutiert, nämlich Prosodie und Rhythmus im Mündlichen, Interpunktion im Schriftlichen. Im Hörbeleg (B2) stellt die Interpunktion - im Sinne der „halbinterpretativen Arbeitstranskription" mit literarischer Umschrift (vgl. Redder 2001a) - partiell 16
17
Es ist hier nicht der Ort, die Kategorie .clause' = .Teilsatz' einer kritischen Diskussion zu unterziehen. Ihre enge Assoziation mit subordinate clauses im Sinne des Nebensatzes, der im Deutschen bekanntlich klar formal markiert ist, und allgemeiner die Nähe zum Konzept von Hypotaxe und Parataxe oder eben Ganzsatz und Teilsatz Iäßt sie als zumindest für das Deutsche nicht sehr glückliche Kategorie erscheinen. Dazu ist jedoch eine breitere Diskussion erforderlich, die auch Grammatikalisierungsfragen aufrollt. Vgl. zuletzt Auer, Couper-Kuhlen, Müller (1999).
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eine interpretative Transkription der mündlichen Intonationsstruktur im weiten Sinne dar; ich wiederhole diese Darstellungsform: (B 2) Plötzlich merk ich, daß ich Abflugzeit und Ankunftszeit des Fliegers verwechselt hab; nur noch 50 Minuten! Ich also Papiere zusammengeschmissen, Koffer geschnappt, losgestürzt zum Taxistand - rein und abgedüst zum Flughafen: gerade noch knapp vor Toresschluß. Die erzählerische Komplikationseinführung erfolgt als Satz, der mit einem Semikolon beim Komplikationshöhepunkt mündet, welcher (nicht-sentential) ausgerufen wird. Dannach folgt die Kette partikularer Handlungen. Zunächst sind drei partizipiale Kettenelemente mit Komma verbunden, dann werden per Gedankenstrich zwei koordinierte Elemente und schließlich eines per Doppelpunkt verknüpft. Man hätte sich auch eine Artikulation vorstellen können, welche die Komplikation nicht derart in sich strukturiert, sondern als eine gemeinsame Voraussetzungsstruktur für das folgende Handeln wiedergäbe, so daß ein Doppelpunkt hinter dem Ausruf verbleibender Zeit die angemessene Verschriftung gewesen wäre. Auch das durch Gedankenstrich verschriftete Luftholen angesichts des Taxis erfolgt nicht notwendigerweise so, sondern hätte entfallen können, so daß alle partikular geäußerten Konstellationsmomente bis zum Erreichen des Flughafens gleichermaßen mit Kommata wiederzugeben gewesen wären. Eine weitere Alternative bestünde grundsätzlich auch darin, alle Einzelkonstellationen prosodisch für sich zu artikulieren, was in der Transkription entsprechend durch Punktierung erschiene, wie im Werbebeispiel (B3). Dabei dürfte es sich aber um besondere Fälle der Verkettung, etwa solche bei empraktischer Eingebettetheit, handeln. Im Werbespruch (B3) zeigt sich die Eigenständigkeit sukzessive durch eine Zeilenzuordnung mit internem Umbruch, im mündlichen Beispiel (B2) durch einen rhythmischen Hiat nach dem Ausrufezeichen. Die Korpusvoraussetzungen für partizipiale Ketten sind derzeit noch nicht so, daß hier Detailanalysen oder gar eine Systematik der Prosodie bzw. Intonation i.w.S. der Gesamtform und der Verkettungsstruktur geleistet werden könnte. Beispielsweise stellt sich mir die Frage, ob die von Uhmann (1997, § 4.2.5) für Parenthesen, Appositionen und side sequences dargelegte Geschwindigkeitsstruktur in modifizierter Weise bei partizipialen Ketten auftritt; mir scheint das bislang nicht so, was die Qualität der diskursiven bzw. textuellen Juxtaposition auf höherer Stufe als der satzsyntaktischen Autonomiebetrachtung bestätigen würde. Dennoch habe ich den deutlichen Eindruck, daß eine spezifische Kombinatorik aus prosodischen Mitteln - im Falle der Mündlichkeit - die Konnexion, ja sogar die oben (§ 2.4) diskutierte Etappenstruktur auf einen Fluchtpunkt hin wiedergibt. Derzeit kann ich lediglich die Existenz derartiger Mittel konstatieren und anhand der Interpunktionen illustrieren. Bei systematischeren prosodischen Auswertungen soll insbesondere ein Vergleich mit den von Selting (2001) konstatierten Konturen „(echte) Treppe aufwärts" vorgenommen werden, die sie im Berlinischen unter anderem in
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Sachverhaltsdarstellungen, aber auch in „Listen" innerhalb biographischen Erzählens ausmacht. Mit dieser Kategorie greift sie die turnkonstruktionsbezogene Argumentation von Jefferson (1990) auf und nicht etwa die zwecksbezogen analysierte einfache Diskursart gemäß Ehlich (1989). Unsere „partizipialen Ketten" stellen aufgrund der inhärenten Drift bzw. Quasi-Finalität (§ 2.4) nicht die Diskursart der Liste dar, zuweilen aber das, was Selting etwa in ihrem Beispiel (4) als Kombination aus „Liste" (als Sonderfall der „Aufzählung", hier 492,493) und Element der „Gestaltschließung" (496) auffaßt: (B 4)
492 M: [äh] j e î S P A R T 493 und Î AUSjegebm 494 I: teilweise uffn KOPP gehau:n. (.) 495 s[o, wa,] _ _ 496 M: [uff η ] Î KOPPjehau:n. [aus: Selting 2001, 85] Allgemein gesagt, liegen verkettungsintern intonatorisch-rhythmische Strukturkonnektierungen vor. Derart suprasegmentale prosodische Mittel - und ihre reduzierten schriftlichen Relate in Form der Interpunktion - stellen funktionalpragmatisch Ausdrucksmittel des operativen Feldes von Sprache dar. Die Kette ist mithin als solche, in ihrer konnektierten Binnenstruktur, operativ bearbeitet. Relativ zum diskursiven Gesamtzusammenhang ist zugleich eine intonatorische Eigenheit artikuliert - d.h. die Kette wird zudem operativ als pragmatisch autonome Einheit mit interner Charakteristik abgeschlossen. In Kap. G3 behandelt Zifonun (1997), wie eingangs gesagt, nur einfach auftretende Partizipialkonstruktionen und argumentiert im Sinne der Tests von Schindler (1990), daß es sich im Deutschen im Falle von Partizip II überwiegend um 'Zusätze' handelt. Prosodische bzw. interpunktorische Merkmale werden eher beiläufig erwähnt. Für Sprachen, in denen Partizipialkonstruktionen oder, in neuerer Terminologie, converbs/Konverben (Haspelmath & König 1995) einen zentralen Bereich der Grammatik bilden, sind derartige prosodische bzw. graphische Strukturierungsmittel durchaus diskutiert und im Zusammenhang mit Fokuselementen gesehen, beispielsweise für die Konverben im Russischen, so daß „detached" und „nondetached converbs" unterschieden werden (König 1995 nach Rappaport 1984). Gleichwohl liegen m.E. in unseren Beispielen nicht einfach Fälle von Reihungen „narrativer Konverben" im Sinne von Nedjalkov (1995) vor, denn sie entbehren einer Ankopplung an Strukturen mit finitem Verb;18 eine formal auszumachende „Matrix-Struktur" liegt nicht vor.19 Stattdessen erfolgt eine Einbettung in einen Text allein vermöge des übergeordneten Äußerungszwecks, der sich eben nicht syntaktisch niederschlägt. Insofern 18
19
In (B4) fehlt im Transkriptionsausschnitt jeglicher Subjektausdruck, während (B2) das Subjekt des Vortextes explizit auch in der Partizipialkonstruktion aufweist, so daß sie mit Kortmann (1991) als absolute Konstruktion gälte; (B3) enthält insgesamt kein syntaktisches Subjekt. E. Skribnik weist mich (mündl.) darauf hin, daß derartige Formen ohnehin nur in nichtfolkloristischen Texten vorkämen, in denen durch die Konverben zugleich die relationalen Zeitverhältnisse aufgerufen wurden.
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differieren unsere autonomen Ketten-Belege im Deutschen20 m.E. auch von den Serialisierungsstrukturen, die Bisang (1995) für Konverb-Sprachen relativ zu Verb-Serialisierungs-Sprachen diskutiert. Wie ist die Syntax der einzelnen Kettenelemente prozedural zu rekonstruieren? In § 2.2 wurde bereits argumentiert, daß die Strukturform der Partizipialkonstruktion eine große Nähe zur elementaren propositionalen Basis epB aufweist. Das heißt, nur wenige prozedurale Bearbeitungen erfolgen bei der Äußerungsformulierung. Die minimale Syntax eines partizipialen Kettenelementes weist folgende prozedurale Ableitungsstruktur auf: - Die epB besteht im Deutschen beim Element einer partizipialen Kette mindestens aus einem Verbstamm. Sprachsystematisch handelt es sich dabei um einen Symbolfeldausdruck der sogenannten Verb-Klasse, welche sich ontologisch charakterisieren läßt.21 Das letzte Kettenelement in (B4) - „getroffen" - ist beispielsweise prozedural aus der epB ,treff-' abgeleitet. - Die minimale prozedurale Bearbeitung zur syntaktischen Form einer Partizipialkonstruktion besteht darin, daß über der symbolischen epB eine spezifische operative Prozedur arbeitet. Ihre Spezifik besteht darin, das symbolisch Benannte an dem Endpunkt der Geschichte zu lokalisieren, welcher für dessen Entfaltung wesentlich ist, womit das Benannte in seiner Zweck- oder Resultatcharakteristik kommunikativ zur Geltung kommt. Im Deutschen bilden bestimmte Morpheme (v.a. ,ge-...-t') oder ggf. Ablautungen geeignete Mittel zum Vollzug derartiger operativer Prozeduren. - Die Zubereitung für eine eigene Äußerungseinheit, insbesondere für eine Realisierungsform des partikularen sprachlichen Handelns, erfolgt schließlich durch eine weitere spezifische operative Prozedur. Dazu dienen mündlich intonatorische/prosodische oder schriftlich interpungierende Mittel. Das Konnexionspotential als Kettenelement und damit für strukturelle Rekursion, wird insbesondere mittels progredienter und rhythmisch auf Repetition angelegter Intonationskontur realisiert; möglicherweise reflektiert das einzelne operative Mittel die Position des Elementes in der Kette im Sinne der Driftkontur. Die Kombination aus symbolisch minimaler elementarer propositionaler Basis und spezifischer operativer Prozedur darüber führt für verbale Symbolfeldausdrücke zu einer standardisierten biprozeduralen Form, die Partizip II genannt wird. Traditionell wird diese Form lediglich als Wortform und nicht als Äußerungseinheit aufgrund eines Verbalisierungsplans betrachtet. Dies geschieht aber, wenn die mentale Größe der epB als prozedurale Ableitungsbasis rekonstruiert 20 21
König (1995) vermutet demgegenüber, daß Sprachen, die - wie das Deutsche - primär „contextual converbs" im Sinne von Nedjalkov nutzen, kein chaining, keine Reihung von Konverben in Erzählungen aufweisen. Grob charakterisiert, werden in dieser symbolischen Sub-Klasse namens 'Verb' Einheiten der außersprachlichen, sprachlichen oder mentalen Wirklichkeit unter dem Aspekt ihrer Entfaltung und also Veränderung von Wirklichkeit benannt (vgl. Ballmer & Brennenstuhl 1986); insbesondere sind dies Handlungen oder Prozesse, aber auch deren markante Zustandsentfaltungen (.stehen' etc.) oder pragmatische Negationen von Veränderung (.bleiben' etc.).
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Partizipiale Ketten
und die über der Prozedurenkombination arbeitende operative Prozedur in die Ableitungssukzession einbezogen wird, so daß eine einfache Realisierungsform des partikularen sprachlichen Handelns bestimmt ist. Die prozedurale Ableitung der Kettenelemente erweist sich als Teil einer Äußerungssyntax. In einer bottom-up verlaufenden, jedoch an dependentielle Stemmata erinnernden Darstellung (vgl. Ehlich 1997) sieht die Ableitungsstruktur z.B. für das „schwache" Verb .schnapp-' als einfache epB folgendermaßen aus: .geschnappt'
spez. operative Prozedur [prosodisch bzw. graphisch]
>
»
spez. operative Prozedur [morphologisch]
,ge-
epB der Verb-Klasse
.schnapp-'
-t'
Die epB des partikularen sprachlichen Handelns kann aber auch aus zwei oder mehr symbolischen Ausdrücken bestehen. Außer dem für Partizipialkonstruktionen obligatorischen Symbolfeldausdruck der Verb-Klasse gehören die anderen symbolischen Mittel dann der Sub-Klasse .Nomen' zu. Ein Beispiel wäre 'Koffer' + 'schnapp-' als epB. Traditionellerweise wäre das eine Basis für eine valenziell entfaltete Partizipialkonstruktion. Diese Form haben die Kettenelemente durchaus häufig, wie es scheint. Es ist hier nicht der Ort, das Verhältnis von möglicher verbhaltiger epB und dem Konzept der Valenz bzw. des „Satzbauplans" (vgl. Engelen 1975) zu diskutieren - und damit das Verhältnis einer sprachpsychologischen Funktionalpragmatischen Grammatik und einer Valenzgrammatik mit Anleihen bei der Sprachinhaltsforschung. Ebensowenig kann hier die innere Struktur der mentalen Einheit epB mit der tiefenstrukturellen Theorie von Thetarollen in einen Bezug gesetzt werden. Wohl aber läßt sich sagen, daß auch bei einer prozeduralen Ableitung die für die Äußerungssyntax des Deutschen unerläßliche Determination und die Kasusmarkierung der nominalen Anteile erst durch jeweilige operative prozedurale Bearbeitungen der epB erfolgen, also auf höherer Ableitungsstufe. Weitere Expansionen der Äußerung über die epB hinaus - etwa durch Richtungsangaben - sind in der Ableitungssukzession ebenfalls prozedural darstellbar.
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3.3 Andere Realisierungsformen partikularen sprachlichen Handelns Bei der Diskussion des Hörbelegs vom knappen Abflug (B2) (§ 2.1) wurde bereits auf andere als partizipiale Realisierungsformen von partikularem sprachlichen Handeln hingewiesen, da sie innerhalb der Ketten vorkamen. In (B2) war dies die Äußerung „rein" und die quasi-empirische Altemativäußerung „ab zum Flughafen". Die epB besteht hierbei je aus einem Symbolfeldausdruck einer anderen Sub-Klasse, nämlich einer (lokale) Relationen benennenden: ,in' und ,ab'.22 Eine prozedurale Ableitung kann verdeutlichen, daß die Relationsbenennung ,rein' mit der Richtungsdeixis ,her' kombiniert ist und schließlich prozedural fusioniert, so daß nur das ,r-'verbleibt und eine Diphthongierung erfolgt. Diese relationale Richtungsbenennung erweist sich syntaktisch als viertes Kettenelement (s.o. § 3.2), bildet also in der Kette eine eigene, wenngleich intonatorisch konnektierte Einheit partikularen Handelns. Problemlos finden sich allerdings autonome Ketten aus anderen Realisierungsformen partikularen sprachlichen Handelns als solchen der partizipialen Kette; und sie können pragmatisch ebenfalls zum Zweck konstellativen Schilderns dienen. Eine Familienerinnerung daran, wie sich ein Kind verbrüht: (B 5) ... Ich seh nur noch, wie sie an der Decke mit der kochendheißen Kaffekanne zieht. Ich: Kleider vom Leib, meterdick Vaseline drauf und, Kind unterm Arm, los zum Arzt. Per Doppelpunkt an den Protagonisten, nämlich die aktuelle Sprecherin (Sprecherdeixis ,ich') angekoppelt, folgen drei verkettete Formen partikularen Handelns und eine wiederum darein installierte („Kind unterm Arm"). Charakteristisch für alle diese Kettenelemente ist, daß sie eine Konstellation zum Ausdruck bringen, die durch Relationen geprägt ist. Traditionell gesprochen, bestehen die Kettenelemente vor allem aus Präpositionalphrasen. Die epB enthält nämlich stets einen relationalen Symbolfeldausdruck, insbesondere sogenannte Lokalpräpositionen: ,Kleid-' + ,νοη' + ,Leib-'; .Vaseline-' + ,auf; ,Kind-' + .unter' + ,Arm'; ,los' + (,zul + ,Arzt-'). Die Konstellationsmomente sind mithin auf Verhältnisse von Wirklichkeitselementen konzentriert. Die Konkretion des jeweiligen Verhältnisses im Sinne einer Verhältnissetzung geschieht mittels der operativen Kasusmorpheme. Die Formulierung, d.h. die abschließende Zubereitung der Prozedurenkombinationen für eine Äußerungsform im unteren Zwischenbereich sprachlicher Handlungseinheiten, sowie die koordinative Öffnung für eine - quasi-finale - Verkettung erfolgen wiederum operativ mittels Prosodie bzw. Interpunktion. 22
Im Unterschied zu Grießhaber (1999) betrachte ich „relationierende Prozeduren", wie er (Lokal-)Präpositionen nennt, nicht als genuin dem operativen Feld zugehörig, sondern dem Symbolfeld. Allerdings sind m.E. Feldtranspositionen rekonstruierbar, die zu para-operativer Funktion führen, und zwar vor allem zwecks Umkategorisierung von Substantiven auf höhere begriffliche Abstraktionsstufen.
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In der durch 'von' ausgerückten Relation, im Fusionsrest der Richtungsdeixis ,her' in „drauf sowie durch den für eine standardisierte Kombination mit einer expeditiven Prozedur (,!') geeigneten Symbolfeldausdruck ,los', der über einer Präpositionalphrase mit ,zu' operiert, ist zugleich ein Reflex von Bewegung trotz Erschrockenheit enthalten. Zudem stützt die Schlag-auf-Schlag-Verkettung der einzelnen Instanzen partikularen Handelns das rasche, pointierte Wahrnehmen und rettende Verhalten relativ zur unerwarteten Unglückssituation. In diesem Rückgriff auf Routinen ist (B5) mit (B2) parallel. Eine andere Realisierungsform konstellativen Schilderns mag beispielsweise so lauten: (B 6) Für die Ferien träume ich derzeit nur von einem: endlich ausschlafen, in Ruhe frühstücken und Zeitung lesen, lange Spaziergänge machen, schwimmen, Freunde besuchen. Die epB der einzelnen Kettenelemente ist hierbei durch einen Symbolfeldausdruck der Verb-Klasse geprägt, der allerdings operativ nicht in der Entwicklungsgeschichte lokalisiert wird, sondern als solcher, rein benennend, zur Geltung gebracht wird. Dies leistet das operative Infinitivmorphem ,-en'. Eine quasi-finale Drift erhält die Kette dadurch, daß sie an Etappen eines Tagesablaufs orientiert ist; relativ zum dramatischen (B5) dürfte die Prosodie hier gedehnter sein, tendenziell vielleicht gar „ins Unendliche" driften und der Langsamkeit des literarischen (B4) vergleichbar sein.23 Wir können also festhalten, daß mindestens folgende Realisierungsformen partikularen sprachlichen Handelns im Deutschen auszumachen sind: Partizipialkonstruktionen, präpositionale Konstruktionen, Infinitivkonstruktionen. Die prozedurale Gemeinsamkeit der Strukturen besteht darin, daß ein beliebiges Element einer vom Sprecher wahrgenommenen Konstellation als symbolische epB fungiert und zu Äußerungszwecken eine operative Bearbeitung erfährt. Die alternativen Strukturen werden darüber hinaus operativ zu Verkettungen tauglich gemacht, die auf einen Fluchtpunkt hin organisiert sind, und bilden so ein autonomes funktionales Ensemble schildernder Art. Eine eingehendere Diskussion zu den verschiedenen Realisierungsformen partikularen Handelns erfolgt in Redder (demn.).
4 Installierte und integrierte partizipiale Ketten: von der Diskurs'/Textsyntax zur Satzsyntax Ich habe bisher die Pragmatik (§ 2) und Syntax (§ 3) der autonomen partizipialen Kette - und allgemeiner autonomer Ketten partikularen sprachlichen Handelns anhand empirischer Belege herauszuarbeiten versucht. Nun will ich in § 4 sukzessive kleinräumigere Einbettungen partikularen sprachlichen Handelns be23
Ich denke, daß auch die vielzitierte Verwendung von Infinitiven in Kochrezepten als Realisierungsformen partikularen sprachlichen Handelns zu rekonstruieren ist.
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trachten. Dabei wird insbesondere die Grenze zwischen Diskurs-/Textsyntax und Satzsyntax ausgelotet. Im Sinne von Hoffmanns Parenthese-Diskussion (1998) gerät damit die syntaktische Struktureinbettung der Installation in den Blick und schließlich diejenige, die mit Ehlichs prozeduraler Satzrekonstruktion (1999) eine Integration darstellt. In diesem Sinne geht es im folgenden um installierte und integrierte partizipiale Ketten. Wieder werde ich mich also auf partizipiale Realisierungsformen partikularen Handelns konzentrieren, jedoch alternative Formen nicht ausblenden. Aus traditionell satzsyntaktischer Sicht wird somit der Phänomenbereich tangiert, der unter den Stichwörtern „Zusatz" (Schindler 1990) und „adverbial participles" (König & van der Auwera 1990) oder „converbs" etc. (zur Terminologie s. Haspelmath 1995) aktuell eine rege Diskussion erfahrt. Mit der Installation partizipialer Ketten scheint sich die Qualität der Konstellationen zu ändern, die zum Ausdruck gebracht werden. In den beiden folgenden Beispielen (B7) und (B8) ist die Verbalisierung von Konstellationsmomenten stärker auf die Wirklichkeit selbst als auf das Erleben gerichtet, wie dies in (Bl) bis (B6) der Fall war. Wir werden dann des weiteren - in ästhetischer Ausgestaltung - Konstellationen des Wahrnehmens und schließlich Konstellationen der sprachlichen Aneignung von Wirklichkeit belegt finden. Das konstellative Schildern tritt so in je andere Handlungszwecke ein. 4.1
Im Grenzbereich zu Installierungen
4.1.1 Konstellationen der Wirklichkeit,
bürokratisch
Beispiel (B7) entstammt einem von Hoffmann transkribierten juristischen Diskurs, genauer: einer Befragung des Angeklagten vor Gericht. (B7)
(s 1)
R
Sie sind dann also von den Polizeibeamten . angetroffen worden, (s 2) also halb auf dem Beifahrersitz sitzend, zum Lenkrad hin gebeucht, Schlüssel irgendwo im Fahrzeuch, (s 3) A Jà (s 4) R Wie ging's dann weiter? (Hoffmann 1994, 37/11-38/157); segmentierte Fassung; A = Angeklagter; R = Richter, R artikuliert westfälisch Der Richter schreitet mit der satzförmig konstatierenden Äußerung (s 1) diskursiv voran („dann") in eine bezeugte Phase der sogenannten Sachverhaltsfeststellung, die ex post und also notwendig rekonstruktiv zu erfolgen hat. Sodann entfaltet er mit (s 2) verbal ein Bild der Wirklichkeit - ein Bild, wie es sich den Polizeibeamten laut früherer Aussage des Angeklagten seinerzeit darbot, wie es sich der Richter und alle Rezipienten dieser Äußerungen vorstellen können und wie es der Angeklagte in seiner Erinnerung aufgerufen zu haben vorgibt. Die
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sprachlich abgebildete Wirklichkeit ist gleichsam durch wenige verbale Striche skizziert - durch partikulares sprachliches Handeln, das konstellative Momente kommuniziert. Die dreigliedrige Kette partikularen Handelns (s 2) besteht aus einer präpositionalen Realisierungsform („Schlüssel irgendwo im Fahrzeuch") und zwei partizipialen, die von den bisher diskutierten prozedural leicht differieren. Einmal liegt wieder ein Partizip II vor: „gebeucht", zunächst aber ein Partizip I (Partizip Präsens): fitzend". Durch das operative Mittel '-end' wird ein kurativer" Aspekt geltend gemacht. Das im Verbstamm als epB benannte Verb erhält dadurch die Ablaufcharakteristik der Geschichte einer Handlung (statt deren Ergebnisses) und somit Vollzugsqualität, jedoch un-situiert in der Sprechsituation, morphosyntaktisch gesprochen: in-finit. So bringt der Richter die beiden Konstellationsmomente durchaus zueinander in eine Ablaufrelation, ohne von einer rein konstellativen Wiedergabe abzuweichen. Die gemischt partizipiale Kette ist diskursiv mittels operativem .also' konnektiert. Im Unterschied zu den autonomen Ketten tritt hier allerdings eine weitere Anbindung hinzu: Die Intonationskontur ist progredient, d.h. auf Fortführung hin angelegt - das zweifach korrigierte Transkript setzt sie in einem Komma um. Dadurch gewinnt die Kette den Charakter einer nachklappenden Anlagerung, entfaltet aber dennoch im Ensemble eine eigene, nämlich konstellativ schildernde Funktion. Daß diese Schilderung den angetroffenen Angeklagten, diskursiv also den Hörer („Sie"), detailliert mit Attributen versieht und die Konstatierung so tendenziös auflädt, ist mehr inhaltlich als syntaktisch erkennbar. Nach Bestätigung dieses Wirklichkeitsbildes durch den Angeklagten (s 3) fährt der Richter mit (s4) in der Befragung fort; sie ist von der Kette illokutiv wie auch intonatorisch separiert, abgesehen vom zwischenzeitlichen turn-Wechsel. Wir kommen mit (B7, s2) nach meiner Auffassung an die Grenze zwischen Diskurssyntax und Satzsyntax. Die Kette wird tendenziell, zur Sachverhaltskonstatierung hin, installiert im Sinne von Hoffmann. Der Richter setzt dies partikulare Handeln sehr begrenzt, ja pointiert ein und provoziert durch den Fluchtpunkt der Konstellationsmomente geradezu eine Kategorisierungsentscheidung und schließlich Urteilsbildung. Juristisch ist die wirkliche Konstellation wesentlich, da es um „Alkohol am Steuer" und also darum geht, ob der Angeklagte, bevor er im Auto einschlief, am Steuer gesessen und demnach das Auto gefahren hatte, oder nicht.
4.1.2 Konstellationen der Wirklichkeit, ästhetisch Das konstellativ zusammengesetzte Wirklichkeits-Bild, das im folgenden literarischen Beispiel (B8) sprachlich zwischen Sprecher bzw. Autor und Hörer bzw. Leser gemeinsam gemacht wird, ist sachlich dem vorigen vergleichbar, im gesamten stilistischen Zugriff gleichwohl von anderer Qualität; und es wird für einen anderen textuellen Zweck als den eines Entscheidungsdiskurses genutzt, wie es in (B7) der Fall ist. Trotz der sprachlichen Parallelität könnte man
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geradezu vom Gegenteil einer weitreichenden Entscheidungs- und Kategorisierungsentbindung des Wahrnehmenden ausgehen, die zur Sprache kommt. (B 8)
Vorübergehend an dem offenen Fenster zur ebenen Erde erhielt ich einen kurzen Einblick in das Zimmer der Familie, ich nahm den Vater, die Mutter, den Säugling und den Sohn wahr, in folgender Verteilung und gegenseitigen Beziehung: die Mutter sitzend auf dem Rand des Bettes in der Tiefe des Zimmers, halb ins Dunkel gehüllt, mit entblößter Brust und an der Brust den Säugling; der Vater am Tisch in der Mitte des Raumes stehend, die Hände zu Fäusten geballt, vor sich auf die Tischplatte gestützt, das Licht des Fensters voll auf ihn fallend und das vorgestreckte Gesicht mit dem weit aufgerissenen Mund beleuchtend", und ihm gegenüber, nicht sitzend, sondern in der Kniebeuge hockend, der Sohn, das Kinn auf die Tischkante gepreßt, die Schultern bis zu den Ohren hinaufgezogen, in den Mund des Vaters hineinstarrend. Dann erreichte ich die Treppe ... Weiss, P. (1960) Der Schatten des Körpers des Kutschers, 14) Der Autor Peter Weiss mutet mit dieser Textpassage - ja mit dem ganzen Text „Im Schatten des Körpers des Kutschers"24 - dem Leser und der Leserin sprachlich und ästhetisch einiges zu. Er sagt nicht nur, daß er „Einblicke" in „das Zimmer der Familie" erhält, sondern er verbalisiert das ausschnitthaft Erblickte nach dem Doppelpunkt auch en détail - „in folgender Verteilung und gegenseitigen Beziehung". Der Rezipient erhält eine geradezu technokratische Registratur des Tableaus, das sich dem Wahrnehmenden bietet. Auch die Konstellation, in der dem Protagonisten solche Einblicke möglich sind, wird eingangs mitgeteilt („Vorübergehend ..."). Ich werde sie in § 4.2 diskutieren. Sprachliche Mittel für die Registratur des Tableaus sind überwiegend Formulierungen mit Partizip I und Partizip II (kursiv hervorgehoben). Nach dem Doppelpunkt haben wir vier, je durch Semikolon markierte mehrgliedrige Ketten vorliegen, die im ersten Fall auch das Konjunkt zweier präpositionaler Realisierungsformen einschließen. Im Unterschied zu den bisherigen Beispielen erscheinen diese Ketten syntaktisch lose angebunden, indem sie innerhalb der Kommunikation des Erblickten jeweils unmittelbar hinter dem inhaltlichen Bezugswort - durchgehend im Nominativ stehenden Substantiven - geäußert werden. Die textuelle Liste, die aus diesen Substantiven besteht („die Mutter, der Vater, das Licht des Fensters, der Sohn"), wird so Punkt für Punkt konstellativ ausgezogen. Mit einer substantivischen Liste und nicht etwa Sätzen als „Trägerstruktui" im Sinne von Hoffmann liegen hier wiederum Grenzfälle zwischen installierter bzw. inserierter und autonomer Kette vor. Die Tendenz verläuft m.E. wegen der nominativischen Form der Bezugsausdrücke eher hin zur autonomen Kette. 24
Der Text erschien zuerst 1959 in der Zeitschrift „Akzente" und bildete die erste deutsche Publikation von Peter Weiss.
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Im Unterschied zu subjekthaltigen autonomen Ketten wie in den Alltagsbeispielen (B2: Abflugstreß) und (B5: verbrühtes Kind) werden die benannten Akteure allerdings nicht als aktiv Handelnde, als Aktanten relativ zum konstellativen Ergebnis ihres Tuns zur Geltung gebracht, sondern mittels Doppelpunkt an eine sinnliche Wahrnehmung des Ich-Erzählers („ich nahm...wahr") beziehungsweise an deren geometrisch ordnende Bearbeitung rückgebunden, und zwar als bloße Fixpunkte. Zudem vermittelt die Qualität der Handlungen und Prozesse, die partizipial im Ergebnis oder in ihrer andauernden Geschichte kommuniziert werden, eine weitgehende Bewegungslosigkeit, ja Starre. Es ist sprachlich eine mehrgliedrige Konstellation zwischen den Familienmitgliedern im beleuchteten Raum sozusagen „eingefroren". Der Fluchtpunkt der Kettenelemente ergibt sich in diesem Falle nicht aus einer handlungspraktischen Drift, sondern aus einem Fluchtpunkt der Wahrnehmung, konkret: aus der Zentralperspektive der Malerei. Das, was in der berühmten Laokoon-Passage von Lessing dem Medium Bild zugewiesen wird, ist in (B8) mittels Sprache realisiert. Deren wesentliche Zeitlichkeit ist eskamotiert. Die Banalität und Alltäglichkeit des eingefrorenen Sprach-Bildes behindert allerdings beim Rezipienten den qualitativen Sprung in die vorgestellte Nachgeschichte, die der Darstellung eines „fruchtbaren Augenblicks" im bildlichen Medium zu eigen wäre. Peter Weiss macht ein derartiges partikulares Handeln in einer bestimmten persönlichen und literargeschichtlichen Konstellation zu einem stilistisch prägenden Verfahren.25 Der Text steht - nach biographischen Selbstverständigungen - am Beginn seiner Entscheidung, nicht als Maler, sondern als Schriftsteller weiterzuarbeiten. Und zugleich exekutiert der Exulant Peter Weiss hier das, was er in einem Interview einmal formuliert hat: Er eignet sich nach dem Faschismus die deutsche Sprache, seine Muttersprache, als „Laborsprache" neu an. So bildet der Text zugleich ein Exempel für einen Typ, der als „experimentelle Literatur" bezeichnet wird. Das partikulare sprachliche Handeln mittels partizipialer Ketten, die sprachliche Wiedergabe von Konstellationen bzw. Konstellationsmomenten, trägt einen nicht unerheblichen Anteil zu derartigen Experimenten bei. Sprache wird so zur fragmentierten, zuweilen collageartigen Phänographie genutzt. Das partikulare sprachliche Handeln leistet einen Anteil an einer Deskription im strengen Sinne - im Dienste einer besonderen Wahrnehmungslehre oder Ästhetik, die sukzessive zur widerständigen Ästhetik ausgebaut wird (Redder 2000, 2000a). In Redder (demn.) wird eine breitere Analyse von literarischen Stilentwicklungen mittels partikularen sprachlichen Handelns in der Gegenwartsliteratur 25
Möglicherweise gibt es eine zweite Motivation für den Autor. So könnte man anhand seines soeben erstmals, und zwar in deutscher Übersetzung, erschienenen Romans „Die Situation" (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000) im Vergleich mit dem schwedischen Original von 1956 einmal der Frage nachgehen, ob der Autor auf das Ausdrucksmittel des Partizips, das auch dort extensiv genutzt wird (vor allem eingangs im Atelier eines Malers), durch seine späte Zweisprachigkeit aufmerksam geworden ist, denn die skandinavischen Sprachen machen bekanntlicher intensiver von dieser Verbform Gebrauch als das Deutsche.
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geführt. Dabei werden auch literarische Vorläufer in Betracht gezogen, insbesondere Passagen aus Kleist. Sie weisen auch aus syntaktischer Sicht interessante Besonderheiten auf, indem kunstvolle Mehrfach-Installierungen einzelner Partizipialkonstruktionen erfolgen. 4.2 Integrierung partizipialer Ketten und die Konverb-Diskussion Ich komme nun auf den Anfang von (B8) aus „Dem Schatten des Körpers ..." zurück. (B 8a) Vorübergehend an dem offenen Fenster zur ebenen Erde erhielt ich einen kurzen Einblick in das Zimmer der Familie, ich nahm den Vater, die Mutter, den Säugling und den Sohn wahr, in folgender Verteilung und gegenseitigen Beziehung: [...] Die Kommunikation der Wahrnehmungsbedingung geschieht - relativ zur Versprachlichung des erblickten Tableaus im Grenzbereich zwischen Autonomie und Installierung (§ 4.1.2) - syntaktisch deutlicher eingebunden. Satzgrammatisch gesprochen, besetzt die Partizipialkonstruktion das Vorfeld des ersten Satzes. Orthographisch wäre - im Sinne eines „verkürzten Adverbialsatzes" - demgemäß ein Komma vor „erhielt" zu erwarten. Eine Vorfeldbesetzung stellt ein operatives Mittel von topologischer Art dar. Es wird innerhalb einer Satzsyntax wirksam. Und es erlaubt eine Satzfunktion, die gemeinhin als adverbial bezeichnet wird (vgl. Kortmann 1995). Somit ist dieses operative Mittel geeignet, über der prozedural abgeleiteten einzelnen Partizipialkonstruktion zu arbeiten und sie in eine sententiale Struktur zu integrieren. Ehlich (1992, 1999) bestimmt allgemein den Satz funktionalpragmatisch als eine Prozedurenintegration·, die syntaktische Struktur des Satzes könnte man demgemäß als Integral von Prozeduren bezeichnen. Die mathematische Metaphorik des Terminus eignet sich gut, um den qualitativen Umschlag zu assoziieren, den einzelne Prozeduren und Kombinationen von Prozeduren in der Ableitungsstruktur des Satzes erfahren. Hoffmann (1996) ist neben der sprachpsychologischen Rekonstruktion - stärker auf die einzelnen Arten der Integration von Konstituenten in einem Satz orientiert. Mit seiner Argumentation könnte man, wenn ich das richtig sehe, für (B8a) genauer von einer spezifikativen Integration der Partizipialkonstruktion sprechen. Wir haben also mit (B8a) eine (spezifikativ) integrierte Partizipialkonstruktion belegt. Allgemeiner gesprochen, handelt es sich um eine integrierte Realisierungsform partikularen sprachlichen Handelns. Die semantische Relation, die zwischen dem integrierten Konstellationsmoment und dem übrigen sententialen propositionalen Gehalt besteht, wird gewöhnlich durch Kategorien wie Kausalität, Finalität, Konditionalität etc. erfaßt und vor allem in der kognitiven Semantik und Grammatikalisierungsforschung breit diskutiert. In (B8a) würde man wohl von einer Temporalrelation (der Gleichzeitigkeit à la .während') oder - bei Unterstellung von Zielgerichtetheit von einer „indem"-Relation oder Modalrelation ausgehen. Im Unterschied zu
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subordinierten Sätzen, also Nebensätzen, die im Deutschen überwiegend durch einen semantisch spezifizierten „Komplementierer" eingeleitet sind, besteht die Besonderheit der partizipialen Realisierungsform partikularen sprachlichen Handelns nach meiner Auffassung aber gerade darin, daß die Relation eben offen bleibt, daß die reine Konstellativität zum Ausdruck kommt. Der propositionale Gehalt der satzförmigen Äußerung wird durch die integrierte Partizipialkonstruktion lediglich an diese Konstellation rückgekoppelt - nichts weiter. Ein Nebensatz an dieser Stelle würde die Beiläufigkeit der anschließend verbal wahrnehmbar gemachten Konstellation zerstören. Auch partizipiale Ketten können integriert werden. In einer anderen Passage des Weiss-Textes finden wir einen solchen Fall ebenfalls in unmittelbarer Nähe zu anderen syntaktischen Einbettungsformen partizipialer Konstruktionen. (B 9)
Und hier im Abtritt geraten die Reste der Zeitungen mit ihren meist viele Jahren alten Nachrichten noch einmal an einen Lesenden; vorgebeugt sitzend, die Füße auf dem Absatz vor dem Kasten gestützt, vertieft man sich in kleine, durcheinandergewürfelte Bruchstücke der Zeit, in Ereignisse ohne Anfang und ohne Ende, oft auch in der Längsrichtung oder in der Quere geteilt; man folgt der Rede des einen und setzt dann mit der Rede eines anderen fort, man liest ... und gleichartige Ereignisse findet man immer wieder mit neuen Einzelheiten ausgestattet, oder auch stößt man auf das gleiche, nur hier mit gewissen Altertümlichkeiten und dort mit irgend einer Neuerung versehen. (Weiss, P. (1960) Der Schatten des Körpers des Kutschers, 11)
Die kursivierten Formulierungen stellen eine zweigliedrige partizipiale Kette dar. Wie die einfache Form in (B8a) ist diese Kette in das Vorfeld des folgenden Satzes integriert. Die Qualität als eigene Handlungseinheit wird diesmal angemessen durch ein Komma verschriftet. Der integrierten partizipialen Kette folgen in (B9) zwei installierte Partizipialkonstruktionen, einmal installiert in eine andere Realisierungsform partikularen Handelns („in Ereignisse ohne Anfang und Ende, oft auch in der Längsrichtung oder in der Quere geteilt"), einmal nachklappend an eine satzförmige Äußerung („oder auch stößt man auf das gleiche, nur hier mit gewissen Altertümlichkeiten und dort mit irgendeiner Neuerung versehen"). Während derartige Installierungen in der strukturellen Satzsyntax als Zusätze (Schindler 1990, Zifonun et al. 1997) gelten, finden adverbial integrierte Partizipialkonstruktionen oder integrierte partizipiale Ketten wie in (B8a) und (B9) unter sprachtypologischer Perspektive in der neueren KonverbDiskussion Beachtung. Werfen wir deshalb noch einmal einen kurzen satzsyntaktischen Blick auf die grammatische Diskussion. In § 3.2 hatten wir sie schon im Zusammenhang der intonatorischen Konnexion und bezogen auf .narrative converbs' aufgegriffen.
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Konverben gelten als verbale Ausdrucksmittel, die entweder subordinierend oder ko-subordinierend (Foley 1986) fungieren. Sie rücken damit als nichtsententiale Formen relativ zu sententialen, durch Subjunktionen oder Complementizer eingeleiteten Formen (d.h. Nebensätzen, subordinate clauses) in eine konstituentengrammatisch interessante Zwischenposition ein. Das Konzept der Subordination zwingt in eine gesamte Ableitungsstruktur, das der Kosubordination drückt in seiner Paradoxalität die nicht-glatte Verrechenbarkeit aus, dem als Extrem der Eigenständigkeit innerhalb der Ableitung das der „absolutes" (Kortmann 1991) zur Seite steht. Die präsentische Partizipialkonstruktion in (B8a) („Vorübergehend an dem offenen Fenster zur ebenen Erde erhielt ich Einblick ...") bildet ein Beispiel für ein Konverb im Deutschen, das mittels Topologie und konsequenter Inversion in die Satzkonstituenz eingebunden ist, ohne an der Oberfläche einen Komplementierer aufzuweisen. Dementsprechend erkennt König (1995) die Semantik der Einbindung als „vage", aber nicht „polysem"; sie kläre sich auch nur bedingt über den propositionalen Gehalt der Matrixstruktur - im Beispiel (B8a) sind, wie angedeutet, temporale oder modale bzw. instrumentale, aber auch kausale Interpretationen möglich. Genau in dieser Vagheit, weniger wertend: in dieser hermeneutischen Offenheit liegt die Wirkung. Sprachen unterscheiden sich nun darin, ob das Konverb eine semantische Kategorisierung der Relation zwischen Matrix und eingebetteter Struktur vornimmt oder nicht. Das Türkische, das reich von Konverben Gebrauch macht, scheint durchaus solche Kategorisierungen qua Suffixdifferenz vorzunehmen (Johanson 1995), so daß gemäß den empirischen Analysen von Rehbein (1999) bestimmte „Aspekte einer Konstellation" differenziert werden können. Im Unterschied dazu drücken die Partizipien im Deutschen die Konstellativität als solche aus - lediglich geschieden nach der sogenannten Perfektivität durch Partizip II versus Partizip I, d.h. handlungstheoretisch: geschieden nach der Lokalisierung im Ablauf einer Handlung (oder eines Prozesses), welche sich immer in Vorgeschichte - Geschichte - Nachgeschichte gliedert. Im Deutschen und in vielen Sprache werden bezogen auf die Geschichte besonders Verlauf und Resultat=Endpunkt durch eigene grammatische Ausdrucksformen kommunikativ relevant gemacht. Die Funktion des bloßen Konstellationsausdrucks erstreckt sich nicht nur auf die leicht als Konverben zu rekonstruierenden integrierten Partizipialkonstruktionen, sondern ebenso auf die tendenziell installierten Formen oder sogenannten Zusätze, wie Peter Weiss sie im Textausschnitt (B8) für den Anblick selbst nutzt. Ihre nachgestellte Position - hier nach Substantiven im Nominativ, d.h. in der reinen Form der Benennung26 - vermittelt gewissermaßen eine präzise konstellative Identifizierung der Erblickten.27 Indem die Figuren lediglich 26
Ich halte die Rede von Subjekten in solchen Konstruktionen für problematisch, da diese syntaktische Funktion satzgrammatisch an finite Verben gekoppelt ist, während hier gerade keine Finitheit vorliegt. Mit Hoffmann (1996) könnte man allenfalls von einer .Subjektion' sprechen.
Partizipiale Ketten
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noch einmal benannt werden, statt - im Akkusativ - als Gegenstände des Erblickens zu erscheinen, erfolgt trotz der Konnexion mittels Doppelpunkt eine Loslösung von der Wahrnehmung und eine eigene Strukturierung des Wahrzunehmenden als eines solchen. Die jeweils identifizierten Konstellationsmomente sind nicht pro Figur per Interpunktion abgesetzt, d.h. die Partizipialkonstruktionen treten nicht als Nachträge zu den Substantiven in Erscheinung. Vielmehr bilden sie eng adjungierte registratorische Ausführungen der Listenelemente. Die autonomen partizipialen Ketten, die in § 2 und § 3 diskutiert wurden, sind in ihrer Binnenstruktur den installierten und integrierten Formen gleich, in der Einbettung different. Sie ließen sich satzsyntaktisch weder als Zusätze noch als Konverben einordnen, während dies in den Beispielen von § 4 durch die Prozeduren der Integration voll und durch solche der Installation tendenziell der Fall ist.
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In dieser Form ähnelt sie verwaltungsmäßigen Registraturen, bei denen Personendaten häufig in Partizipialkonstruktionen geronnen auftreten: „NN, geboren..., verheiratet..., geschieden...".
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Angelika Redder
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Angelika Redder
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Winfried Thielmann
Zur Funktionalität des Seinsverbs im Deutschen Die .Polyfunktionalität'1 des Seinsverbs ist wohlbekannt. Ich möchte im folgenden eine Bestimmung zu entwickeln versuchen, die es erlaubt, sowohl syntaktische als auch .logische' Verwendungsweisen des Seinsverbs aus einer allen diesen Verwendungsweisen gemeinsamen Grundfunktion zu erklären. Hierzu mache ich sowohl von funktional-syntaktischen Überlegungen im Sinne von Redder (1992), Rehbein (1992) und Hoffmann (1996) als auch von den Sprachaufbau selbst betreffenden Reflexionen im Sinne von Ehlich (1982) Gebrauch. Im einzelnen werde ich mit an Benveniste (1971) anschließenden Überlegungen zur Nominalsatzproblematik beginnen, um dann, anhand eines Textes aus der Aristotelischen Physik, zu einer Bestimmung der Leistung des Seinsverbs beim sprachlichen Handeln zu gelangen, die daraufhin knapp an einigen traditionellen Fragestellungen überprüft wird. Den Schluss bilden Vorschläge zu einer auf den Ergebnissen der Analyse basierten möglichen .Rettung' von durch die Sprachlogik disqualifizierten Seinsdiskursen.
1. Nominalsätze In seinem grundlegenden Kapitel über Nominalsätze (1971,131ff) unterscheidet Benveniste Sprachen, in denen Seinsverb und Nominalsätze koexistieren (z.B. Altgriechisch, Lateinisch) und solche, die elementare Prädikationen nur durch Nominalsätze realisieren können (Ungarisch)2 The nominal sentence comprises several varieties which a complete description would have to distinguish carefully. The situation of the nominal sentence is different, depending on whether the language being considered has a verb „to be" or not and, consequently, whether the nominal sentence represents a possible expression or a necessary expression. (Benveniste 1971, 135f)
Mit der ihm eigenen Scharfsicht fährt er etwas später fort: According to our interpretation, omnis homo-mortalis
becomes symmetrical with
1
Einen ausführlichen Überblick über die einschlägigen Grammatiken und Wörterbücher gibt Weber (1988). Für eine kritische Problematisierune aus logischer Perspektive sei exemplarisch auf Stegmüllers Heidegger-Analyse (1989 , 188ff) sowie auf Ecos diesbezüglichen Durchgang durch die Geschichte der Philosophie verwiesen (1999, 12ff).
2
Ein dritter Typ wird an anderer Stelle beschrieben (Benveniste 1971, 62f). In Ewe, einer afrikanischen Sprache, stehen für die Elementarprädikation fünf verschiedene Verben zur Verfügung. So werden zum Beispiel die Äquivalenzrelation („er ist Bauer") und die räumliche Prädikation („er ist hier") durch zwei verschiedene Verben realisiert, wobei das Verb nyé, das die Äquivalenzrelation ausdrückt, transitiv ist.
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Winfried Thielmann
omnis homo-moritur and is not the „form with zero copula" of omnis homo mortalis est. There is indeed an opposition between omnis homo mortalis and omnis homo mortalis est, but it is of nature and not of degree. (Benveniste 1971, 137).
Es ist daher nicht überraschend, dass eine Analyse von Texten von Pindar, Herodot und Homer den Nominalsatz als ein in Konkurrenz zur Prädikation mit Seinsverb stehendes sprachliches Mittel erweist, das eine spezifische Funktionalität besitzt: In being suited to absolute assertions, the nominal sentence has the value of argument, of proof, of reference. It is introduced into discourse in order to influence and convince, not to inform. It is a truth offered as such, outside time, person, and circumstances. That is why the nominal sentence is so well suited to those statements in which, actually, it tends to be confined, maxims or proverbs, after having once had more flexibility. (Benveniste 1971, 143)3
Der Grund für diese Tatsache ist darin zu sehen, wie Ehlich (1982) auch anhand des Nominalsatzes im Hebräischen ausführlich dargelegt hat, dass sprachliche Mittel, die in einer bestimmten Sprache keine strukturbildende Funktion haben, für andere Zwecke in Anspruch genommen werden können. Wo die Prädikation mit Seinsverb die Regel ist, kann der Nominalsatz als funktional différentes Mittel hinzutreten. Ich möchte diese Befunde im folgenden kurz am Deutschen demonstrieren. Abgesehen von Sentenzen („Viel Leid, viel Ehr"), Tagebucheinträgen4, und Zeitungsschlagzeilen, wo man der Erfordernisse der Gattung halber von .Ellipsen' sprechen könnte, ist der Nominalsatz auch im modernen Deutsch genuin produktiv, wie die folgenden Beispiele zeigen (Hervorhebungen von mir): (1)
(2)
(3)
Ganz und gar nicht unirdisch und ein überaus wirkliches Ereignis ist ihre Stimme: kraftvoll, temperamentvoll, mit großer divenhafter Autorität. Hervorragend auch ihre Begleitmusiker mit Violine und Akkordeon, Baßgitarre, portugiesischer und klassischer Gitarre. (Bonner Generalanzeiger, 24.4.98) Im weiteren Verlauf trifft man schließlich noch auf ein ganzes Arsenal exotischer Perkussionsinstrumente (...). Ganz anders hingegen Teil 2, „The Dreamy Draw", der mit entspannter Piano/Drums/Glocken-Barmusik beginnt und später zu einem ausgewachsenen 20-minütigen Kabuki-Soundtrack mutiert. (SZ, 13.9.00) „Da kommt auch der Paule!" sagte einer. „Und seine Haifische wieder dabei!" meinte ein anderer. (Fallada 1990, 160)
3
Dieses , Bekanntheitskriterium' bei der Verwendung absoluter Konstruktionen wird von Holland (1986) auch auf das Diskurswissen selbst ausgedeht. Holland plädiert am Beispiel der Konstruktion „legati missi auxilium orantes" (Livius 21.6.2) gegen ein „participium conjunctum" als verknappte hypotaktische Konstruktion und für eine „VordersatzNachsatz" Struktur im Sinne einer Thema-Rhema-Organisation (171ff).
4
„Feuchtwanger sehr behaglich und sympathisch." (Thomas Mann 1993, 23)
Zur Funktionalität des Seinsverbs im Deutschen
(4)
(5)
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(...) ein Knecht hob 1 Arm; (vorn=dran also vermutlich 1 Faust) : sofort rieselte 1 Kette darausinsichzusammen. / Und die Luft zwischen Uns & Ihm trübgrau aus Niesei, trübgelb aus Kaff; (...) (Schmidt 1987,11) Oberhalb Todtnau beutelt sie der Schneesturm. Philosophenwetter Erkenntniswetter! Gestöber im Gestöber gründend. (Grass 1985, 330)
Unter syntaktischen Gesichtspunkten lässt sich zunächst sagen, dass die für das Deutsche so wichtige V2-Position nicht besetzt ist. Bei seiner funktionalpragmatischen Rekonstruktion der Topologie des deutschen Deklarativsatzes bestimmt Rehbein die Leistung dieser Position folgendermaßen: Zentral für den Deklarativsatz ist die Ausfüllung der V2-Stellung, durch die die Verankerung des Wissens als Wissen im Hörer vollzogen wird. Anders gesagt: Die V2-Stellung kennzeichnet eine hinsichtlich des Wissens neue Integration ins Wissen des Hörers, denn der Sprecher bewertet das Wissen neu. Damit ist die Füllung der V2-Stellung zugleich die Realisierung des Deklarativ-Modus (...). (Rehbein 1992, 529) Diese Verankerung im Hörerwissen geschieht durch die lexikalische Komponente (Symbolfeldkomponente nach Bühler 1934) des Verbs sowie allgemein durch Modus-bzw. Tempusinfixe und „Personalendungen".5 Da es sich bei den oben angeführten Beispielen um Sätze mit Symbolfeldausdrücken als Subjekt handelt, ist ihre funktionale Differenz im wesentlichen von der Absenz der Symbolfeldkomponente des erforderlichen deskriptiven Prädikats her zu bestimmen, mithin von der Absenz der Symbolfeldkomponente einer flektierten Form von sein. Im folgenden möchte ich die Leistung der Symbolfeldkomponente von sein bestimmen, ein Unterfangen, das auch allgemein die Reflexion auf die Leistung von Symbolfeldausdrücken beim sprachlichen Handeln erfordert. Der Weg, den ich hierzu einschlage, ist etwas ungewöhnlich: Ich möchte anhand einer Stelle aus der Aristotelischen Physik eine vorsprachliche Grundverhaltungsweise des Menschen demonstrieren, die meines Erachtens ein Handlungsuniversal darstellt, und von dort her die Leistung der Symbolfeldkomponente von sein sowie von bestimmten Symbolfeldausdrücken bestimmen. Auf dieser Basis kann dann die Diskussion der obigen Nominalsatzbeispiele wieder aufgegeriffen werden (3.4.).
5
Ich fasse hierbei gemäß Redder (1992), wo auch eine Charakterisierung des Feld- und Prozedurbegriffes vorgenommen wird, die auf Sprecher oder Hörer verweisenden sowie die das Präteritum anzeigenden Morpheme als personal- bzw. temporaldeiktische Prozeduren, die Numerus-Suffixe der „dritten Person" sowie die modalen Infixe als operative Prozeduren auf. Personaldeiktisch ausgewiesene Prädikate stehen demzufolge nach Redder als diskursive Prädikate in Opposition zu deskriptiven Prädikaten („dritte Person").
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Winfried Thielmann
2. Ein Vorschlag zur Bestimmung der Leistung von sein sowie zum Verständnis der Genese dingbegrifflicher Wissensstrukturen Ich nehme für die folgenden Überlegungen6 zu dem Beginn des siebten Kapitels der Aristotelischen Physik als Textgrundlage die lateinische Ausgabe, den „Aristoteles Latinus" (1990), wobei ich bei Schlüsselbegriffen auf das Griechische zurückgehe (in der Übersetzung in Klammern kursiv). Außerdem liegen mir die Übersetzung des griechischen Textes und der Kommentar von Hans Wagner vor (Aristoteles 19834). Der folgende Text ist der Beginn der Aristotelischen Prinzipienforschung. Aristoteles hat zunächst nach dem Grundmoment alles Natürlichen gefragt, und dieses als Veränderung („werden") bestimmt (liberi .2. 185al2). Nun unternimmt er den aus moderner Sicht überraschenden Schritt, die Prinzipien von Veränderung am Sprechen selbst zu ermitteln, ein Verfahren, das auf der impliziten Annahme der Identität von Sprechen und Wirklichkeit beruht. [7] Sic igitur nos dicimus primum de omni eo quod fit aggredientes ; est enim secundum naturam communia primum dicere, sic circa unumquodque proprie speculari. Dicimus enim fieri ex alio aliud et altero alteram, aut Simplicia dicentes aut composita. Dico autem hoc sie : est enim alieubi fieri hominem musicum, est autem non musicum aliquod fieri musicum aut non musicum hominem hominem musicum. Simplex quidem igitur dico quod fìt, hominem et non musicum, et quod fit simplex, musicum ; compositum autem et quod fît et factum est, cum non musicum hominem dicamus fieri aut musicum aut musicum hominem. Horum autem hoc quidem non solum dicitur hoc aliquid fieri sed etiam ex hoc, ut ex non musico musicus, hoc autem non dicitur in omnibus, ut ex homine factus sit musicus, sed homo factus est musicus. Eorum autem que fiunt sicut Simplicia dicimus fieri, aliud quidem permanens fit aliud vero non permanens ; homo quidem enim permanet musicus factus homo et est, sed non musicum et inmusicum neque simpliciter neque compositum permanet. (liber 1,7 189b30ff)
[7] Wir sprechen daher zunächst über das Werden (génesis); denn es liegt in der Natur der Sache, zunächst das Allgemeine (koinós) zu besprechen, so dass man dann das Einzelne studieren kann. Wir sagen nämlich, dass aus dem einen etwas anderes werde, oder dass etwas etwas anderes werde, wobei wir entweder Einfaches Chaplous) oder Zusammengesetztes (synkeimenos) aussprechen. Ich meine aber dieses so: es gibt nämlich folgendes: 'ein Mensch wird gebildet'. Aber es gibt auch: 'ein Ungebildetes wird ein Gebildetes', oder: 'ein ungebildeter Mensch wird ein gebildeter Mensch'. 'Einfach' nenne ich nun das, was wird: 'Mensch' und 'Ungebildetes', sowie das, was Einfaches wird: 'gebildet'. 'Zusammengesetzt' aber nenne ich - sowohl das, was wird, als auch das, was geworden ist wenn wir 6
Eine dem folgenden verwandte Argumentation habe ich bereits in Thielmann (1999) skizziert.
Zur Funktionalität des Seinsverbs im Deutschen
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sagen, der ungebildete Mensch werde gebildet, oder: 'der ungebildete Mensch werde ein gebildeter Mensch'. In diesen Fällen wird aber nicht nur dieses gesagt: 'etwas wird etwas', sondern auch: 'aus etwas wird etwas'. So zum Beispiel: 'Aus dem Ungebildeten wird ein Gebildeter'. Aber dies wird nicht in allen Fällen gesagt, wie zum Beispiel: 'Aus einem Menschen wurde ein Gebildeter', sondern hier sagt man: 'ein Mensch wurde ein Gebildeter'. Von den Dingen aber, die werden in dem Sinne, dass wir sagen, dass einfache Dinge werden, wird das eine als Bleibendes (hypoméno), das andere aber als Nichtbleibendes: denn der Mensch bleibt gebildeter Mensch und ist, aber das nicht Gebildete oder Ungebildete bleibt weder als Einfaches noch als Zusammengesetztes. (Übersetzung W.T.)
Aristoteles sucht die Prinzipien von Veränderung auf, indem er den Sprachgebrauch von „werden" analysiert.7 Hierzu macht er sich traditionsbegründend seine Beispiele selbst, d.h. er produziert, sein Sprachwissen befragend, handlungsentbundene Rede. Anhand weniger Beispiele kann sofort die Erkenntnis eingefahren werden, dass beim Sprechen von „werden" ein bestimmtes Element sich durchhält („bleibt") „Mensch"; ein anderes hingegen nicht, nämlich die Ausgangsbestimmtheit „ungebildet". Aristoteles entwickelt anschließend (liber 1,7 190a31ff) die Prinzipien von Veränderung folgendermaßen: „Werden" hat ein Zugrundeliegendes, das sich im „werden" durchhält, während an diesem Zugrundeliegenden Bestimmtheiten wechseln, die durch eine Gegensatzrelation polarisiert sind (ungebildet gebildet). Bei dem Zugrundeliegenden handelt es sich um solche Ausdrücke, die nie als Prädikat fungieren können (ousiai). Aristoteles gibt hierfür keine Erläuterung, aber der Sachverhalt ist auch so eindeutig: Zwar lässt sich vom Menschen prädizieren, dass er vernunftbegabt ist, nicht aber von Sokrates, dass er ein Mensch ist, weil Sokrates bereits als Mensch angeschaut ist und der Satz hiermit hinfällig wird. Aristoteles ermittelt also die Prinzipien von Veränderung dadurch, dass er Sprache und Wirklichkeit nicht unterscheidend die „werden"-Aussage auf „bleibende" und „nicht bleibende" Ausdrücke hin befragt. Die „bleibenden" Ausdrücke bilden eine spezifische Ausdrucksklasse Substantive. Es ist nun meine These, dass das aristotelische Verfahren, an der als ein Stück sich verändernder Wirklichkeit aufgefassten werden-Aussage die Prinzipien von Veränderung durch Isolierung eines Bleibenden aufzuweisen, eine Grundverhaltungsweise des Menschen an der Wirklichkeit darstellt, durch deren Analyse ein handlungstheoretisch basiertes Verständnis der Leistung von sein sowie von Dingbegriffe repräsentierenden Symboldfeldausdrücken gewonnen werden kann. Die Handelnden isolieren in der sich verändernden außersprachlichen Wirklichkeit Bleibendes. Die Isolierung von Bleibendem erfolgt aufgrund von Bedürfnissen der Handelnden; d.h. Bleibendes wird auf Aspekte hin isoliert, die es für die jeweiligen Bedürfnisse als funktional erweisen (=Bestimmtheiten). Dieses Handeln lässt sich fassen als Orientierungshandeln einerseits (der Baum als 7
Ich gehe hier nicht auf die Pragmatik von „werden" ein, sondern verweise auf die diesbezüglichen Untersuchungen von Redder (1995,1999).
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Wegmaike) und Herstellungshandeln andererseits (der Baum als Holz). Bleibendes ist also entweder schon auf seine Bestimmtheiten, d.h. auf eine spezifische Bedürfniskonstellation hin im Handlungsraum8 verortet, oder es kann aufgrund einer neuen Bedürfniskonstellation in den Handlungsraum eintreten (der Baum als Schattenspender). Die Bedürfniskonstellation der Handelnden bestimmt, auf welche Bestimmtheiten hin Bleibendes überhaupt isoliert werden kann. Selbst wenn die außersprachliche Wirklichkeit beispielsweise statisch wäre, würde sie sich aufgrund der evolvierenden Bedürfhiskonstellation der Handelnden prinzipiell unendlichfach in den Handlungsraum abbilden. Zwischen der Veränderung der außersprachlichen Wirklichkeit und der Bedürfniskonstellation der Handelnden besteht eine ständige Wechselwirkung, so dass sich auch die Bestimmtheiten ändern, auf welche hin Bleibendes isoliert wird (der Baum, der eben noch Schutz vor dem Regenguss gewährte, kann im nächsten Moment als Brennholz in den Blick kommen; die angeschlagene Teekanne kann als möglicher Blumentopf beiseitegestellt werden etc.). Daher kann es auch geschehen, dass ein vorher als bleibend Ausgemachtes ins Undifferenzierte versinkt, während ein anderes neu isoliert wird. Die Handelnden nehmen also in der sich ständig ändernden außersprachlichen Wirklichkeit eine Selektion auf die jeweils handlungsrelevanten Elemente hin vor. Eine weitere Selektion des jeweils Zweckmäßigen ist dadurch gegeben, dass die Grundbedürfnisse der Handelnden limitiert sind und wiederkehren, und daher bestimmte Handlungen immer wieder ausgeführt werden müssen (cf. Ehlich/ Rehbein 1979; 244): Das, was überhaupt als Bleibendes isoliert werden kann, sowie die ihm zugehörigen Bestimmtheiten, auf welche hin es isoliert wird, sind limitiert durch die zwar selbst evolvierende, aber zumindest den Grundbedürfnissen nach begrenzte und zum Teil periodisch wiederkehrende9 Bedürfniskonstellation. Aus der Perspektive der Handelnden bedeutet dies, dass das Bleibende und die Bestimmtheiten, auf welche hin seine Isolierung erfolgt, eine vergleichsweise konstante Zuordnung erlauben. Das Speichern und damit das Verfiigbarhalten dieser Zuordnung als Wissen erlauben eine sicherere Bewältigung der sich wandelnden außersprachlichen Wirklichkeit, indem diese Zuordnung als Handlungsroutine verfügbar ist, die ihrerseits die Grundverhaltungsweisen des Planens, Abwartens und Bewertens ermöglicht. Durch diese Handlungsroutine kann nämlich Veränderung selbst in das Handeln miteinbezogen werden, indem Bleibendes planend auf die Möglichkeit der Einbettung in einen 8
Unter „Handlungsraum" verstehe ich im Rahmen dieser Elementarbetrachtung einen tangiblen Wirklichkeitsausschnitt, wie er sich den Handelnden unter ihrer aktuellen Bedürfniskonstellation präsentiert. Diese Konzeption ist derjenigen von Rehbein (1977) systematisch vorgelagert, aber durchaus mit ihr verträglich: Nimmt die Analyse ihren Ausgangspunkt vom bereits institutionalisierten Handeln, wird der Handlungsraum zum Rahmen instituioneller Relevanz, der sowohl ein „Handlungsfeld" (potentielle und faktische Handlungsmöglichkeiten der Aktanten) als auch einen Rahmen für mentale Handlungen konstituiert. (cf. a.a.O., 12ff).
9
„Periodisch wiederkehrend" meint hier nicht .wiederkehrend innerhalb gleicher Zeitabstände', sondern .durch das (kollektive) Erinnerungsvermögen als .wieder da' registrierbar'.
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funktionalen Zusammenhang hin isoliert werden kann (z.B. die unreife Frucht am Baum), sowie sich ohne das Zutun der Handelnden vollziehende Abläufe an einem bereits isolierten Bleibenden als Bestimmtheitsänderung selbst wissensfähig werden. Letzteres bedeutet für die Handelnden, dass ein Bleibendes auf sein Eintreten in einen funktionalen Zusammenhang hin isoliert werden kann oder dass sein Heraustreten aus einem funktionalen Zusammenhang bemerkbar wird (z.B. das Faulen der Kartoffeln im Keller). Die Handelnden polarisieren also die Bestimmtheiten, aufgrund welcher sie Veränderung begreifen.'0 Die Handlungsroutine der Zuordnung von Bleibendem und der Bestimmtheiten, auf welche hin die Isolierung erfolgt, ist der Ort des Dingbegriffs. Es ist wichtig einzusehen, dass diese Handlungsroutine zunächst nicht sprachlich gebunden ist, dass es also möglich ist, vorsprachliche dingbegriffliche Wissenstrukturen anzunehmen. Auch hierbei liegt die Wirklichkeit immer schon als gesellschaftlich gestaltete vor. Auch der Säugling, der sich vorsprachlich Wirklichkeit erschließt, bildet dingbegriffliche Wissenstrukturen aus, auf Basis derer er handeln kann (die Flasche ergreifen und in den Mund stecken usw.). Was die Flasche zur Flasche macht, zum Ding, ist ihre Funktionalität, die als dingbegriffliches Wissen (wie rudimentär auch immer) verfügbar ist. Der Säugling weiß, wie er sich aus der Flasche Milch verschaffen kann; die Mutter weiß auch, wo die Flasche aufbewahrt wird, wie man sie sterilisiert, befüllt usw. Dass die Wirklichkeit immer schon gesellschaftlich gestaltet ist, bedeutet nicht, dass sie als vom Menschen beeinflusste immer schon .herumliegt', sondern dass sie als gesellschaftlich ausgelegte und gestaltete, d.h. auf gesellschaftlich ausgearbeitete Zweckgefiige hin aneigbare bzw. nutzbare wissensmäßig für die Aktanten gegeben ist." Die Leistung von Sprache besteht darin, dass sie Wirklichkeit unabhängig von der spezifischen Wahrnehmungssituation verfügbar macht (Rehbein 1977, 109). Dingbegriffe, d.h. diejenigen Wissensstrukturen, in denen die Funktionalität von Bleibendem gefasst ist, werden hierbei durch Symbolfeldausdrücke benannt. Der einen Dingbegriff benennende Symbolfeldausdruck benennt kein Wirklichkeitselement, sondern das Wissen um die Funktionalität von Wirklichkeitselementen, d.h. dingbegriffliche Wissensstrukturen.'2 Die Einheit von Bleibendem und Bestimmtheiten als Resultat der Selektion der Wirklichkeit auf das jeweils Zweckmäßige hin ist Wissen, das assertiert 10
Die Sprechweise „Bleibendes" ist durch die Faktizität des Handelns selbst gerechtfertigt in einer Welt, in der jeden Moment „Automobile aus der Erde wachsen können" (Wittgenstein 19893, 174), könnte der komplexe Handlungszusammenhang des Autofahrens wohl nicht verläßlich etabliert werden. „Bleibendes" ist mithin ein Ausdruck, der sowohl den Begriff der „Objektidentität" als auch denjenigen der elementaren Kategorisierung mit umfasst, wonach zwei unterschiedliche Bleibende z.B. auf ein erwartbares Essbedürfnis hin im Handlungsraum verortet werden können. Der Humesche Zweifel an der Objektidentität (I960 1 0 ,200ff) ist dem Cartesischen verwandt: tief in der Verlässlichkeit der Welt wurzelnd, ist nur auf Basis handelnd erlangten Wissens artikulierbar und tut mithin dem Handeln keinen Eintrag (s. hierzu auch Wittgenstein 19893).
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werden kann. Aufgrund der Linearität von Sprache muss diese Einheit analytisch entfaltet werden. Dies geschieht im Satz. Die folgende Skizze soll diese Zusammenhänge zwischen Ausdruck, Begriff und Satz noch einmal verdeutlichen. Bleibendes
Bestimmtheit ngbegriff (durch Symbolfeldausdruck repräsentierbar)
assertionsfähige Wissensstruktur
Im Satz können mithin die den Dingbegriff sowie die den Begriff der Bestimmtheit benennenden Symbolfeldausdrücke erscheinen, so z.B. im .Urteil' („Gras ist grün."), bei der Kindererziehung oder bei der Explikation eines Dingbegriffes im Fremdsprachenunterricht. Diese der Linearität von Sprache geschuldete Erscheinungsweise des Satzes gibt des öfteren zu dem Irrtum Anlass, dass der den Dingbegriff bezeichnende Ausdruck auf einen Weltausschnitt referiere. Die Verhältnisse liegen jedoch anders: Im Satz wird lediglich eine der vielen einen Dingbegriff konstituierenden Wissenstrukturen analytisch entfaltet. Der den Dingbegriff benennende Ausdruck ,meint' aber prinzipiell die komplexe Wissenstruktur des gesamten Dingbegriffs, von der im Sprachverkehr, aufgrund der empraktischen Einbindung der Rede (Bühler 1934, 155f), von den Hörern nur die relevanten Teile aktualisiert zu werden brauchen.13 Wie der Satz nun einzelsprachlich realisiert wird, ist eine Frage des Sprachaufbaus (siehe hierzu die aufschlussreichen Bemerkungen von Benveniste, insbe11
So kann gesellschaftliches Problemlösungsverhalten (cf. Ehlich/Rehbein 1986, 8ff) eine .unberührte' Natur fingieren, die von Umweltschutzern und Tourismusbranche gleichermaßen als Bestand verortet ist. Wie ich in Thielmann (1999) darzulegen versuchte, ist auch Naturwissenschaft nicht .reine' Wissenschaft von der Wirklichkeit, sondern ein spezifischer von gesellschaftlichen Erfordernissen determinierter Aneignungszusammenhang. Durch das gesellschaftliche Problemlösungsverhalten ist auch immer schon bestimmt, .wie* und .als was' die Dinge in den Blick treten. Gould (1998) notiert in seinem Aufsatz über das Aufkommen des Aquariums im viktorianischen Zeitalter (76ff), dass die Möglichkeit, Fische durchs Glas zu betrachten, sich auch auf die zeitgenössischen Darstellungen von Fischen auswirkte: Während Fische in früheren naturkundlichen Darstellungen sich in der Regel als Girlande um eine indifferente Strandszene wanden, werden sie nach dem Aufkommen des Aquariums als im Wasser schwimmend präsentiert. Die naturwissenschaftliche Erkenntnis des selbsterhaltenden Systems, die die Unterhaltung des Aquariums ermöglichte, schlug als Zierfischperspektive auch auf die Illustrationen durch. Die scheinbar voraussetzungslose und selbstverständliche Konzeptualisierung des Fisches als .Fisch im Wasser' ist mithin Resultat gesellschaftlichen Problemlösungsverhaltens.
12
Diese Betrachtungsweise wird durch das im Zusammenhang der Sprechhandlung der Begründung (Ehlich/Rehbein 1986) und der Frage (Ehlich 1990) vorgetragene Sprachmodell ermöglicht, das die Ebene der außersprachlichen Wirklichkeit, die mentalen Sphären von Sprecher und Hörer sowie die Ebene des sprachlichen Ausdrucks systematisiert.
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sondere 1971,134ff). Wichtig erscheint mir, dass auch Sprachen, bei denen der Nominalsatz die einzige Alternative darstellt, die Dualität von Dingbegriff benennendem Ausdruck und Bestimmtheit aufweisen. Hier erkennt der Hörer aufgrund der realisierten Satzform, dass ihm u.a. eine Wissensstruktur kommuniziert wird und integriert den verbalisierten Zusammenhang in sein Wissen, wobei er die (logische) Qualität des Zusammenhangs aufgrund seines eigenen begrifflichen Wissens determinieren muss.14 Bei Sprachen, die über ein Seinsverb verfügen, werden die Dingbegriff und Bestimmtheit benennenden Ausdrücke durch das Seinsverb verbunden, durch die „Kopula". Auch hier muss der Hörer die logische Qualität des Zusammenhangs selbst auf Basis seines begrifflichen Wissens rekonstruieren, aber die Tatsache, dass ein wissensmäßiger Zusammenhang besteht, wird ihm durch das Seinsverb kommuniziert. Das Seinsverb - und dies ist meine These - weist einen Zusammenhang als wissensmäßig aus: Sein ist das epistemische Verb, dessen .Bedeutung' sich in der Ausweisung einer Struktur als wissensmäßige erschöpft. Da ich diese Bestimmung des Seinsverbs lediglich im Zusammenhang einer handlungstheoretischen Analyse dingbegrifflicher Wissenstrukturen gewonnen habe, möchte ich ihre Leistungsfähigkeit im folgenden anhand einiger traditioneller Problemkreise überprüfen.
3.
Sein als epistemisches Verb - Überprüfung der Leistungsfähigkeit der Hypothese
3.1 „Polysemie" des Seins verbs, Problem der Namen Nach Stegmüller (19897, 188ff) dient das Seinsverb u. a. zur Kenzeichnung von Identität „Schiller ist der Verfasser des Wallenstein." Element-Klasse-Beziehung „Schiller ist ein Dichter." Relation zwischen Teilklasse und diese umschließender Gesamtklasse „Der Löwe ist ein Wüstentier." Existenzbehauptung „Gott ist. "I5 Hier wird dem Seinsverb eine semantische Last aufgebürdet, die es meiner 13
So z.B. bei einem von einem anderen Zimmer aus vernommenen Abspülmalheur: „War das ein Weinglas?" „Ja, schon, aber nur eins von den billigen." Von den komplexen Wissensstrukturen, die den Dingbegriff „Weinglas" konstituieren, wird hier nur „Weingläser sind teuer" aktualisiert.
14 15
Siehe hierzu auch Hoffmann (1996, 203f). Siehe hierzu auch die ähnlichen Bemerkungen von Lyons (1971, 327), der sein als bedeutungsleeres „Quasi-Verb" ansieht, das als „locus" für die Markierung von Tempus, Modus und Aspekt dienen soll. Aufgrund der im wesentlichen generativen Perspektive entgehen ihm die von Benveniste (1973) hervorgehobenen Unterschiede in der Leistung von Nominalsätzen bzw. Elementarprädikationen in mit Seinsverb ausgestatteten Sprachen.
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Ansicht nach weder tragen kann noch je getragen hat. In den ersten drei Fällen zur Existenzbehauptung in 3.2. werden mit Hilfe des Seinsverbs Wissensstrukturen assertiert, deren logische Qualität sich jedoch nicht vom Seinsverb her erschließen lässt (das ja nicht variiert), sondern die vom Hörer auf Basis seines Wissens je rekonstruiert werden müssen. So ist z.B. zum Verständnis von „Schiller ist ein Dichter" das Wissen nötig, dass es viele Dichter gibt, und in der Tat muss der Hörer sein eigenes Wissen dahingehend bereichern, dass Schiller zu den Dichtern gehört. Nur hilft ihm dabei das Seinsverb nicht, da dieses den Zusammenhang lediglich als Wissensstruktur ausweist. Die - wie ich meine - irrtümliche Bestimmung eines sprachlichen Mittels durch Übertragung von Kontextmerkmalen verdankt sich dem Erbe einer Sprachlogik, die sich trotz des Höhepunktes begrifflicher Arbeit bei Hegel zur Gänze auf die Ausdrucksebene von Sprache zurückgezogen hat. Oft beruhen diese Schwierigkeiten auch darauf, dass die Komplexität gesellschaftlicher Problemlösungen von den Aktanten nicht mehr durchschaut wird. So wird von der Tatsache, dass bei der Verbalisierung des Kalküls einer mathematischen Gleichung der Ausdruck ist verwendet wird, darauf geschlossen, dass hierbei .Identität* ausgedrückt werde und mithin Gleichungen Tautologien darstellten.16 Der Ausdruck ist wird aber hierbei - wie auch im Alltagsdeutsch - lediglich zur Kennzeichnung der Wissensstruktur selbst gebraucht. Bei „Dreihundertzweiundsiebzig durch drei ist einhundertvierundzwanzig" muss der Hörer „dreihundertzweiundsiebzig durch drei" sowie „einhundertvierundzwanzig" als wissensmäßigen Zusammenhang in sein Wissen integrieren können, was ihm nur gelingt, wenn er bereits weiß, dass der Kalkül der mathematischen Gleichung auf der numerischen Identität der beiden Gleichungsseiten beruht. Mithin teilt ihm „372 : 3 = 124" mit, dass 372 durch 3 teilbar ist, „372 = 372" hingegen nichts. Dies wird auch verdeutlicht durch Freges aufschlußreiche Bemerkungen zum „morbus mathematicorum recens", der darin besteht, die Ausdrücke 1+4 und 2+3 nicht als verschiedene Namen für dieselbe Zahl aufzufassen (19903, 124ff). Die Komplexität der zur widerspruchsfreien Handhabung der mathematischen Zeichensprache erforderlichen Abmachungen zeigt sich an einem weiteren Beispiel Freges: Der in der Gleichung 2=V4 ausgedrückte Sachverhalt darf nach Frege nicht als „zwei ist eine Quadratwurzel aus vier" gelesen werden, da hierbei mit „ist" als Kopula der Gegenstand ,zwei' unter den Begriff „Quadratwurzel aus vier" subsumiert würde, obwohl der Wurzelausdruck einen Eigennamen darstellt. Mithin ist das Gleichheitszeichen nach Frege in diesem Fall als Identitätszeichen zu lesen (ebd., 144f). Auch hier ist klar ersichtlich, dass die Schwierigkeit nicht auf einer Polysemie des Seinsverbs beruht, sondern auf den logischen Relationen zwischen den Objekten. Dass es sich nicht um eine Prädikation (Subsumption), sondern um eine Identität (des durch die Namen bezeichneten 16
Diese und verwandte Fragestellungen werden in Luyten (1986) ausführlich diskutiert.
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Gegenstandes) handeln muss, ist aus der Tatsache ersichtlich, das links und rechts vom Gleichheitszeichen Namenszeichen verwendet werden. Allgemein lässt sich daher folgendes sagen: Ob eine Prädikation (z.B. Element-Klasse-Relation) oder eine Verabredung über Namen (Neuadressierung im Wissen)17 vorliegt, ist je vom Hörer zu rekonstruieren, da das Seinsverb ihm darüber nichts mitteilt. Eine Polysemie besteht nicht. Kombinatorische Beschränkungen an der syntaktischen Oberfläche, z.B. dass Eigennamen nicht prädikativ verwendet weiden können (z.B. Frege 1967,174f), sind in der Natur der Sache begründet: Eigennamen benennen Wissensadressen. So liegt bei dem im Rahmen des einander Vorstellens geäußerten Satz „Das ist Herr Meier." keine Prädikation vor, sondern die Verabredung einer Sprechweise: Durch die deiktische Prozedur erreicht der Sprecher, dass der Hörer seine Aufmerksamkeit auf das komplexe Verweisobjekt fokussiert; durch die flektierte Form von sein wird das Verweisobjekt als Teil einer Wissenstruktur ausgewiesen, die durch den Eigennamen komplettiert wird. Der Hörer, der den Eigennamen als solchen erkennt, weist ihn der Wissensadresse zu, die er dem Verweisobjekt einräumt. 3.2 Sein als Verb der Existenz Hier darf man, meine ich, getrost philosophischen Sprachgebrauch vermuten. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Sprechweise „Gott ist1 unsinnig ist, sondern dass sie auf Vereinbarungen beruht, die obwohl auf der Funktionalität von sein basierend alltagssprachlich nicht gegeben sind.18 Für den Ausdruck der Existenz steht im Deutschen die Formulierung es gibt zur Verfügung (im Südwesten es hat).19 Der philosophische Sprachgebrauch baut auf der Epistemizität von sein auf: In dem Satz „X ist." wird die Wissens17
Ich lehne mich hier an Hoffmanns Eigennamenbegriff an (1996, 207), wonach ein „Gegenstand im gemeinsamen Wissen mit einer .Adresse' gespeichert [ist], die Uber Eigennamen abrufbar ist: Karlchen, die Alpen".
18
„(...) im Deutschen wird sein als reines Verb der Existenz kaum noch verwendet." (Weber 1988,511).
19
In der erst kürzlich beschriebenen australischen Sprache Bardi (Aklif 1999) werden Elementarprädikationen durch Nominalsätze realisiert, während zum Ausdruck der Existenz immer der Dativ eines 'wir-Pronomens' erforderlich ist: Niimana
jarda
aarli
Ardiyooloon
Viele
uns
Fisch
Ardiyooloon
~ In Ardiyooloon [Küstenregion im Nordwesten Australiens] gibt es viele Fische. Ich danke Frau Aklif für den freundlichen Hinweis, dass Nominalsätze in dieser Sprache nicht nur auf den Bereich der Elementarprädikation beschränkt sind, sondern auch Ortsbewegung ("Ich gehe nach...") in der Regel durch den Dativ des 'Aktantenpronomens' sowie den mit Direktivsuffix versehenen Ortsnamen ausgedrückt wird.
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mäßigkeit des durch den Ausdruck X benannten Begriffs prädiziert. Der Hörer wird dazu aufgefordert, die Wissensstrukturen des Begriffs in seinen Präsuppositionsbestand zu integrieren. Dies ist meines Erachtens die mentale Seite des logischen Existenzbegriffes, der von Frege als einer von den „Begriffen zweiter Stufe" gedacht wird, „in die (...) Begriffe erster Stufe fallen" (19903, 164). Die prinzipielle Verwendbarkeit des Seinsverbs als Prädikat scheint m. E. dagegen zu sprechen, dass sich seine Funktionalität in der „Lexikalisierung der Synthese" (Hoffmann 1996, 204), also der satzkonstituierenden operativen Prozedur (ebd., 199f) erschöpfen könnte, wie Hoffmann dies für die Kopula annimmt. 3.3 Die Leistung von sein beim Sprachaufbau Ich möchte mich hier auf Bemerkungen zum „Zustandspassiv" beschränken. Nach Redders funktional-pragmatischer Bestimmung des Zustandspassivs (1995) handelt es sich hierbei um eine analytische Form, bei der sein zu operativen Zwecken, das heißt zur Bearbeitung von Sprache selbst, genutzt wird. Da die Symbolfeldqualität von sein beim „Zustandspassiv" teilweise erhalten bleibt, spricht sie von einem para-operativen Einsatz des Verbs: Die Form kommuniziert eine durch eine Handlung erzielte veränderte Wirklichkeitskonstellation, die Möglichkeiten für Anschlusshandlungen eröffnet. Hierzu ein Beispiel aus einem Labordiskurs: F: ^ Jetzt hört man nichts mehr, 209> Jetzt ist die VakuumA: F: pumpe belüftet. 2I0> A: So, 21 " jetzt stelle ich hier das Ölbad dreht die
F: A: runter Hebebühne herunter
(Chen (1995:67)) In der Analyse von Chen: An dem (...) Phänomen, daß das Geräusch des Lufteindringens nicht mehr zu hören ist (s208), schätzt Frank ein, daß die Apparatur vollständig belüftet ist (s209). So basiert die Zu-P-Äußerung (s209) auf einer Einschätzung: ,jetzt ist die Vakuumpumpe belüftet". Dabei handelt es sich beim Partizip II 'belüftet' um eine schon vollzogene Handlung. Daran, daß direkt darauf Alex mit den Ausdrücken 'so' und 'jetzt' (s210, 211) auf die nächste Handlungsplanung Ubergeht, läßt sich erkennen, daß die ZuP-Äußerung am Ende der letzten Handlungsplanung verwendet wird. (Chen 1995, 67f)
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Die Bestimmung von sein als epistemisches Verb ist mit diesen sprechhandlungstheoretischen Befunden verträglich: Der Abschluss einer Handlungsphase wird als ein Wissen um eine neue Wirklichkeitskonstellation (Partizip II) kommuniziert, das in den Präsuppositionsbestand des Hörers eingeht und die Basis für die Planung von Anschlusshandlungen bildet. Dabei wird das Seinsveib zugleich als epistemisches Verb und als operatives Mittel zur Bildung einer analytischen Verbform in Anspruch genommen. 3.4 Zur Opposition Nominalsatz - Satz mit Seinsverb im Deutschen Der Nominalsatz im Deutschen erhält seine spezifische Funktionalität daher, dass der Hörer/Leser die Tatsache, dass ihm ein wissensmäßiger Zusammenhang kommuniziert wird, selbst rekonstruieren muss. Durch die hierzu erforderliche mentale Arbeit rückt die durch den Nominalsatz kommunizierte Wissensstruktur in den Fokus der Hörer/Leseraufmerksamkeit. Ich betrachte die eingangs zitierten Beispiele noch einmal im einzelnen: (1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Ganz und gar nicht unirdisch und ein überaus wirkliches Ereignis ist ihre Stimme: kraftvoll, temperamentvoll, mit großer divenhafter Autorität. Hervorragend auch ihre Begleitmusiker mit Violine und Akkordeon, Baßgitarre, portugiesischer und klassischer Gitarre. (Bonner Generalanzeiger, 24.4.98) Im weiteren Verlauf trifft man schließlich noch auf ein ganzes Arsenal exotischer Perkussionsinstrumente (...). Ganz anders hingegen Teil 2, „The Dreamy Draw", der mit entspannter Piano/Drums/Glocken-Barmusik beginnt und später zu einem ausgewachsenen 20-minütigen Kabuki-Soundtrack mutiert. (SZ, 13.9.00) „Da kommt auch der Paule!" sagte einer. „Und seine Haifische wieder dabei!" meinte ein anderer. (Fallada 1990,160) (...) ein Knecht hob 1 Arm; (vorn=dran also vermutlich 1 Faust) : sofort rieselte 1 Kette darausinsichzusammen. / (Und die Luft zwischen Uns & Ihm trübgrau aus Niesei, trübgelb aus Kaff; (...) (Schmidt 1987,11) Oberhalb Todtnau beutelt sie der Schneesturm. Philosophenwetter Erkenntniswetter! Gestöber im Gestöber gründend. (Grass 1985, 330)
Der in (1) und (2) angekündigte Perspektivenwechsel wird durch die Nominalsätze besonders in den Fokus der Leseraufmerksamkeit gerückt. Es dürfte sich hierbei um eine für diese Zwecke routinisierte Wendung handeln, da sie nur mit dem
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Prädikat eröffnet werden kann (vgl. „Teil 2 hingegen ganz anders..."). In der fiktiven Sprechsituation von (3) sind die Sprecher auf die Ankunft eines Kollegen mit zwei illegitimen Mitarbeitern („Haifischen") fokussiert. Das Offensichtliche wird also nicht zu informativen Zwecken, sondern als Missfallensbekundung verbalisiert, und durch die Nominalsatzstruktur hervorgehoben. In (4), wo Schreibstil und Schreibweise das „Scanning" eines Weltausschnittes nachvollziehen, wird mit „und" eine neue Beobachtung angeschlossen, die über die phorische Prozedur („ihm") noch mit der vorherigen verknüpft ist. Durch die Verbalisierung als Nominalsatz erhält sie ihr eigenes Gewicht. In (5) wird der sentenziose Charakter durch die Nominalsatzstruktur ironisch gesteigert. Eine mehr als ansatzweise Bestimmung der Funktionalität von Nominalsätzen im Deutschen kann hier nicht geleistet werden. Mir scheint, dass durch Nominalsätze vorzugsweise Wissensstrukturen kommuniziert werden, die der Sprecher/Autor aus verschiedenen Erwägungen heraus (Ankündigung eines Perspektivenwechsels, Intensivierung des illokutiven Aktes) besonders betonen möchte; dies müsste aber durch eine eigene Untersuchung geklärt werden.
4. Sein
bei Heidegger
Zum Schluss möchte ich überprüfen, ob die These, dass sein Zusammenhänge als wissensmäßig ausweist, also ein rein epistemisches Verb ist, beim Verständnis von Texten weiterhelfen kann, die von diesem sprachlichen Mittel einen unüblichen und daher vielfach kritisierten Gebrauch machen, wie z.B. Heideggers „Sein und Zeit" 20. Hierzu ist vorab eine kurze Betrachtung derjenigen Formen von sein erforderlich, die für die zunächst an den scholastischen Unterscheidungen orientierte deutsche philosophische Tradition nutzbar gemacht worden sind. In der scholastischen Tradition werden folgende Unterscheidungen gemacht: i) (1) (2)
ii) (3)
(4) 20
ens (Pl. entia) Melissus autem ens infinitum inquit esse. (Aristoteles latinus 1990 fase, prim., 5) Melissus autem quod est infinitum dicit esse. (Aristoteles latinus 1990 fase, sec., 11) esse (in substantivischer Verwendung) dieimus enim quod sicut albedo dat esse album formaliter sic magnitudo quae est extensio dat esse extensum et magnum (Buridanus 1509; fol.llr.) utrum tempus habet esse (gängige quaestio, vgl. Maier 1955) Ich verweise hierzu noch einmal exemplarisch auf StegmUllers Heidegger-Kritik (1989 7 , 188ff) sowie auf Wittgensteins bekannten Aphorismus 116 (1989 5 , 300) seiner „Philosophischen Untersuchungen".
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Nach Peirce (1867,103; ähnlich: 1886,403) benennt der Terminus ens „whatever can be named or talked about". Dies wird auch aus der Parallelstelle zu (1) ersichtlich, wo ens noch mit quod est umschrieben ist. Esse tritt entweder mit näherer Bestimmung (3) oder absolut auf (4). Ens ist mithin ein Terminus, der entweder einen einzelnen Gegenstand oder alle Gegenstände ungeschieden nach ihrem Wirklichkeitsbereich (außersprachlich mental sprachlich) und ohne jegliches Charakteristikum nennt. Esse könnte hingegen entweder als eine spezifische Weise des Sichdurchhaltens (esse album, vgl. (3)) oder als .Existenz' aufgefasst werden (4).2' Die deutschen Unterscheidungen spiegeln die scholastischen wieder: ein Seiendes/das Seiende/Seiendes für (i); Sein für (ii). Unter Zugrundelegung der Resultate der obigen Analysen benennt22 ein Seiendes/das Seiende/Seiende ein oder mehrere Wissensfähige oder Wissensfähiges schlechthin. Das Sein wäre dann die generelle, total unspezifische Wissensfähigkeit schlechthin. Wie geht Heidegger mit diesen sprachlichen Mitteln um? Ich beginne mit einem Satz aus der Einleitung von „Sein und Zeit", in dem die Problemstellung ausgesprochen wird: Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. (Heidegger 198616, 12) Abgesehen von dem Ausdruck Dasein, der zunächst mit .Mensch' gleichgesetzt werden kann (198616, 11), enthält der Satz die .Kopula' ist sowie zweimal das substantivierte Partizip I Seiendes. Da der Ausdruck Seiendes in dieser absoluten Form vorkommt, ohne jegliche Spezifikation, möchte ich ihn im Anschluss an die obigen Analysen als Wissensfähiges (im Sinne von .etwas, das ins Wissen eingehen kann') deuten. Damit wäre also gesagt, dass der Mensch als ein Wissensfähiges nicht lediglich unter anderem Wissensfähigen vorkommt. Dies würde bedeuten, dass der Mensch von sich auf andere Weise wissen kann als er von demjenigen weiß, von dem er sich unterscheidet. Durch das „nur" erhält der Satz außerdem ein kritisches Element: Der Mensch tendiert dazu, von sich so zu wissen, wie er von dem weiß, von dem er sich unterscheidet. Mit anderen Worten: Der Mensch tendiert dazu, sich so zu begreifen, wie er das begreift, was er wissensmäßig, d.h. auf seine Bedürfnisse hin, isoliert hat. Der Mensch begreift sich zu seinem Schaden in dingbegrifflichen Wissensstrukturen. Wenn diese Deutung sich bewähren soll, müsste gezeigt werden können, dass 21
Es ist erstaunlich, dass Eco (1999, Uff), der sich auch für das Deutsche als nicht sehr informiert erweist, bereits gegen diese scholastische Unterscheidung im Sinne von entia non sunt multiplicanda polemisiert. Wo der Unterschied zwischen ens und esse nicht begriffen wird, läßt sich freilich jegliche Philosophie abschießen, die diese oder ähnliche Unterscheidungen nutzt.
22
Ich bin mir hinsichtlich der Feldzugehörigkeit von sein noch im Unklaren. Sollten weitere Analysen den Ausdruck als nicht dem Symbolfeld zugehörig erweisen, läge bei den Formen ein Seiendes/das Seiende/Seiende und das Sein eine Feldtransposition im Sinne von Ehlich (1987) vor.
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es Heidegger darum geht, ein Wissen vom Menschen zu formulieren, das nicht dingbegrifflich gefasst ist. Heidegger nimmt dies in der Tat vor, indem er zunächst das Verhältnis zwischen Mensch und Dingen (Zeug) fasst, um dann zu einer allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mensch und Wirklichkeit zu gelangen. Ich kann wegen der gebotenen Kürze nur die zentralen Textstellen anfuhren. Ein Zeug „ist" strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft „etwas, um zu...". Die verschiedenen Weisen des „Um-zu" wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. In der Struktur „Um-zu" liegt eine Verweisung von etwas auf etwas. (...) Zeug ist in seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer. Diese „Dinge" zeigen sich nie zunächst für sich, um dann als Summe von Realem ein Zimmer auszufüllen. Das Nächstbegegnende, obzwar nicht thematisch erfaßte, ist das Zimmer, und dieses wiederum nicht als das .¿wischen den vier Wänden" in einem geometrischen räumlichen Sinne sondern als Wohnzeug. Aus ihm heraus zeigt sich die „Einrichtung", in dieser das jeweilige „einzelne" Zeug. Vor diesem ist je schon eine Zeugganzheit entdeckt. (...) Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit. (Heidegger 198616, 69). Heidegger formuliert hier die Möglichkeit für die Ausbildung dingbegrifflicher Wissenstrukturen überhaupt: Die Dinge sind immer schon von dem sie einbindenden Zweckgefüge her verstanden, bevor sie übeihaupt als einzelne „begegnen", d.h. individuell im Rahmen ihrer Zweckhaftigkeit (um...zu) wahrgenommen werden. Der Mensch gibt also nicht irgendeiner von ihm erst sinnvoll aufzugliedernden Mannigfaltigkeit Bedeutung, wie dies zum Erscheinungszeitpunkt von „Sein und Zeit" noch gängige erkenntnistheoretische Münze war23, sondern die Wirklichkeit ist ihm überhaupt nur als bereits sinnvoll erschlossene zugänglich. Dieser Sachverhalt führt Heidegger auf die Formulierung seines Weltbegriffs, der aufgrund dieser innigen Beziehung zwischen Mensch und Wirklichkeit zugleich ein Begriff vom Menschen ist: Dasein (...) läßt je immer schon, sofern es ist, Seiendes als Zuhandenes begegnen. Worin das Dasein sich vorgängig versteht im Modus des Sichverweisens, das ist das Woraufhin des vorgängigen Begegnenlassens von Seiendem. Das Worin des sich verweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt. Und die Struktur dessen, woraufhin das Dasein sich verweist, ist das, was die Weltlichkeit der Welt ausmacht. (Heidegger 198616, 86) Das Zweckgefüge, im Rahmen dessen der Mensch sich immer schon begriffen hat bzw. orientiert ist, ist auch dasjenige, in Bezug auf welches die Dinge als 23
So z.B. in Rickerts einflussreichem Werk „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" (1929 5 ), wo die Wirklichkeit noch als statische „Mannigfaltigkeit" aufgefasst ist (40ff.).
Zur Funktionalität des Seinsverbs im Deutschen
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Dinge in sein Wissen eingehen („Zuhandenheit" als „Seinsart der Bewandtnis", d.h. Zweckhaftigkeit als Weise der Epistemizität). Die Wirklichkeit ist also ihre vorgängige Auslegung durch den Menschen auf Zweckgefüge hin. Diese These von der stetigen Gleichurspriinglichkeit von Mensch und Wirklichkeit steht in schärfstem Gegensatz zu dingbegrifflich gedachten Ausstattungsmodulen erkenntnistheoretischer Prägung. Hiermit ist meines Erachtens gezeigt, dass die Auffassung von sein als epistemisches Verb sich auch bei der Interpretation eines Textes bewährt, der von diesem sprachlichen Mittel einen unüblichen Gebrauch macht.
5. Zusammenfassung Ausgehend von der Nominalsatzproblematik wurde der Nominalsatz im Deutschen als ein zur Prädikation mit sein konkuirentes und funktional différentes sprachliches Mittel bestimmt. Eine an diese Differenzen anknüpfende handlungstheoretische Analyse der Genese dingbegrifflicher Wissensstrukturen führte auf die Bestimmung von sein als epistemisches Verb, die anhand einschlägiger traditioneller Fragestellungen auf ihre Leistungsfähigkeit Uberprüft wurde. Die Ergebnisse im einzelnen: Sein ist das epistemische Verb, dessen einzige Funktion darin besteht, Zusammenhänge als Wissensstrukturen auszuweisen. Im Rahmen einer handlungsbezogenen Sprachbetrachtung erweist sich der Dingbegriff als komplexe Wissensstruktur, die der mentalen Sphäre der handelnden Menschen zugehört. Er wird durch einen sprachlichen Ausdruck beim sprachlichen Handeln repräsentiert. Die vollständige Explikation einer solchen Wissenstruktur findet beim sprachlichen Handeln in der Regel nicht statt, weswegen die Gefahr besteht, dass die sprachlichen Ausdrücke, die den Begriff als mentale Einheit repräsentieren, direkt als Namen für Wirklichkeitsausschnitte aufgefasst werden können. Es konnte gezeigt werden, dass die traditionell angenommene „Polysemie" des Seinsverbs auf einem Missverständnis begrifflicher Operationen beruht. Ferner konnte am Beispiel des „Zustandspassivs" im Deutschen demonstriert werden, dass die These von sein als epistemisches Verb mit spechhandlungstheoretischen Befunden verträglich ist. Die Nominalsatzproblematik wurde für das Deutsche dahingehend vorläufig beantwortet, dass die durch den Nominalsatz ausgedrückte Wissensstruktur als Wissensstruktur durch den Hörer rekonstruiert werden muss und damit in den Fokus der Höreraufmerksamkeit rückt, was den Nominalsatz als .rhetorisches Mittel' für bestimmte Text- bzw. Diskurszusammenhänge interessant macht. Einschlägige Passagen von „Sein und Zeit" konnten ferner im Lichte der epistemischen Bedeutung von sein konsistent interpretiert werden.
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Winfried Thielmann
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Rainer v. Kiigelgen
Parenthesen - handlungstheoretisch betrachtet1 Parenthesen werden von der Literaturwissenschaft meist rhetorisch-stilistisch, d.h. auf der Grundlage eines mehr oder weniger elaborieiten Sprachgefühls und von der Sprachwissenschaft meist formal oberflächen-grammatisch abgehandelt2. In Abgrenzung von den Baukastenmodellen der traditionellen Syntax hat Hoffmann 1998 eine Zuschreibung bestimmter Funktionen zu den verschiedenen von ihm analysierten Formen der Parenthese vorgenommen. Dabei kommt er implizit zu dem Ergebnis, dass ein einheitlicher Parenthesenbegriff nicht sinnvoll ist. Hoffmann beschreibt die gemeinsame Eigenschaft von Parenthesen als eine .Installation' des Einschubs in einer .Trägerstruktur' nach unterschiedlichen syntaktisch geprägten Verfahren. Dadurch gelangt er zu einer Subklassifikation der Parenthesen nach von ihm so genannten .Prozeduren' der .Delimitation', .Migration' und .Insertion' . Den so systematisierten Formen der Einschübe ordnet Hoffmann unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwendungen in Text und Diskurs kommunikativ-inhaltliche Funktionen zu:
Installation
Delimitation Adverbialphrase Partikel
Randbereich
Migration
Insertion
Phrase Nebensatz
Schaltsatz A p p o s i t i v e s Vollsatz Adjektiv Interjektion Apposition Anredephrase Appositiver prädikative Relativsatz Phrase
Kernbereich
Implementation
Übergangsbereich
Nachbarbereich
Figur 1: Prozeduren der Installation und Bereich der Parenthese (nach Hoffmannl998)
1
Diese Arbeit ist die Uberarbeitete Fassung eines Vortrags auf der 5. Internationalen Konferenz Funktionale Pragmatik, November 1999 in Dortmund. Für Kritik und Anregungen danke ich besonders Ludger Hoffmann, Jochen Rehbein, Kristin BUhrig, Jutta Fienemann, Angelika Redder, Konrad Ehlich und Wilhelm Grießhaber.
2
Der Erkenntniswert generativer Ansätze (Raabe 1975, Tappe 1981) ist mir - trotz aller Bemühungen gegen die dieser Richtung eigene Unlesbarkeit - unklar geblieben. Es sei denn, man interpretiert die Aporie, dass S als der oberste Knoten, einerseits die Gesamtoberfläche herstellen soll, andererseits die Parenthese gar nicht enthält, als Hinweis darauf, dass ein Modell zur Erklärung von Syntax nicht ohne mentale Prozesse auskommen kann.
Parenthesen
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Auch das Hoffmannsche Vorgehen und seine Ergebnisse lassen jedoch aus zweierlei Gründen noch bestimmte Fragen offen. Zum einen handelt es sich bei den zentralen Analysetermini (.Installation*, ,Trägerstruktur', .Delimitation', .Migration' und .Insertion') um Formbegriffe, die der Beschreibung komplexer Vorgänge3 an einer syntaktisch geprägten Oberfläche verpflichtet sind. Es stellt sich die Frage, ob solcherart Formbegriffe ausreichen, um das anstehende Phänomen präzise zu erfassen. Bei einem anderen Phänomen, dem Satz, hat man mit den Begriffen der, Synthese' (Hoffmann) bzw. der, Prozedurenintegration' (Ehlich) von Analysebegriffen Abstand genommen, die eine syntaktische Oberfläche beschreiben würden4. Hier konzentriert man sich auf die Benennung der Funktion, obwohl der Satz und seine Teile unzweifelhaft durch formalsyntaktische Mittel als Einheit ausgewiesen sind. Um die spezifische Leistung der Parenthese funktional zu erfassen, scheint die Eignung syntaktisch geprägter Begriffe vor diesem Hintergrund fragwürdig, denn die syntaktische Einbindung der Parenthesen - falls man überhaupt von ihr sprechen kann - weist eine nahezu paradoxe Vielfalt und Gegensätzlichkeit auf und ist - so die Behauptung - für die Erfassung ihrer Funktion nicht zentral. Zum anderen ist die Systematisierung der Verwendungen eines Phänomens aus funktional-pragmatischer Sicht nicht mehr aber auch nicht weniger als eine Vorbedingung der Analyse. Verwendungen machen zwar, in jeweils konkreter Weise, Gebrauch von dem spezifischen Zweck-Form-Zusammenhang des sprachlichen Mittels, dennoch verhält sich das Mittel der Parenthese zum Inhalt und kommunikativen Zweck des in der Parenthese Ausgesagten grundsätzlich neutral, wie dies ähnlich bei anderen Mitteln der Äußerungskonstruktion, etwa beim Nebensatz der Fall ist. Von der Funktion einer Form zu sprechen und diese Funktion zentral zu stellen muss nicht wie bei einem Symbolfeldausdruck heißen, den propositionalen Kern herauszuarbeiten oder den kommunikativen Zweck einer Form zu analysieren wie bei einem Handlungsmuster. Die Funktion einer Form kann, wie dies bei operativen Ausdrücken der Fall ist, in der durch
3
Hoffmann fasst diese Vorgänge, obwohl sie in unterschiedlichem Maße komplex sind und untereinander Teilmengenverhältnisse eingehen (so sind z.B. alle .Prozeduren' der Installation delimitiert, die migrierten darüberhinaus verschoben), begrifflich als .Prozeduren' zusammen. Ich verwende demgegenüber den Prozedurenbegriff im Ehlich'schen Sinne als kleinste sprachliche Handlungseinheit.
4
Syntaktische Verfahren verstehe ich so, dass mit ihnen die Herstellung komplexer Funktionen keinen weiteren Aufwand des Hörers braucht, sondern eben im syntaktischen Verfahren in eine Standardproblemlösung überführt und damit deproblematisiert ist. Demgegenüber erfordert die Integration einer Gesamtäusserung in einen Handlungszusammenhang .eigenen' Aufwand, der sich der Erfassung der mentalen Vorgänge widmet. Ginge das sprachliche Produkt in seiner Gesamtheit in Syntax auf, wäre es schon längst gelungen, den Aufbau der Gesamtproposition und -illokution in ähnliche Modelle zu überführen wie sie für syntaktische Teileinheiten vorliegen. Nicht zuletzt ist das Scheitern der algebraisch ausgerichteten generativen Ansätze (auch der tiefenstrukturell angereicherten) an der Erfassung der Funktion der sprachlichen Oberfläche ein Beleg für den qualitativen Unterschied zwischen syntaktisch erfassbaren sprachlichenTeilhandlungen und der Funktion der Gesamtäußerung.
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Rainer ν. Kügelgen
diese Form bestimmten Verarbeitung des Gesagten im Kopf des Hörers bestehen. Diese Verarbeitung hat dann mit dem Inhalt und dem kommunikativen Zweck des Gesagten gar nichts zu tun. Ich glaube, dass der Form der Parenthese eine solche Funktion (nämlich die Verarbeitung des Gesagten, d.h. das Zustandekommen der Gesamtillokution und -proposition in spezifischer Weise zu beeinflussen) zukommt und dass die von Hoffmann untersuchten Beziehungen zwischen bestimmten formal-syntaktischen Ausprägungen der Parenthesen einerseits und bestimmten inhaltlich-kommunikativen Zwecken5 andererseits erst in zweiter Linie eine - durchaus nicht einheitliche - Rolle spielen. Eine sorgfältige Systematisierung von Verwendungen enthält darüber hinaus immer auch Gegenbeispiele, die die Aussagen über die Verwendungszwecke insgesamt wieder annullieren, weil unklar bleibt, auf Grund welcher Eigenschaften ein- und dasselbe Mittel gegenläufige Verwendungen erlaubt. An der zentralen Frage handlungstheoretischer Sprachanalyse führt also kein Weg vorbei: Wie sind in dem zu untersuchenden sprachlichen Phänomen Handlungszwecke in Formen überführt? Anders ausgedrückt: Welche repetitiven Probleme handelnden Eingreifens in die Psyche des Hörers werden durch die zu untersuchende sprachliche Form ihrer standardisierten Lösung zugeführt? Welches sind die Qualitäten des Mittels selbst, von denen auch in gegenläufigen Verwendungen gemeinsamer Gebrauch gemacht wird? Dazu möchte ich folgende Thesen vorstellen: Mit Parenthesen werden im Prozess der Verbalisierung die Planausführung, die Hörerplanbildung und die Mitkonstruktion an je spezifischer Stelle sistiert und, unter einem eigenen Ansatz, nach Maßgabe des in der Parenthese Ausgeführten wieder aufgegriffen. Dadurch kommt es zu einem parenthesenspezifischen Aufbau der Gesamtäußerung im Wissen des Hörers und die besonderen Leistungen dieses Aufbaus verwirklichen den Zweck der sprachlichen Form der Parenthese. Der Vorgang betrifft die sprachliche Handlung als Ganze, also den propositionalen, den illokutiven und den Äußerungsakt. Mit diesem Operieren von Wissensbeständen und Illokutionen aufeinander ist neben Sub- und Koordination ein dritter, eigenständiger Typ des Aufbaus einer Gesamtäußerung und des
5
A l s eine solche kommunikativ-inhaltliche Bestimmung verstehe ich z.B. Hoffmanns Zusammenfassung: „Delimitiert wird primär zum Zweck des Depotenzierens und Marginalisierens bei gleichzeitiger Verdichtung des in der Umgebung, im Trägersatz, Gesagten. Das so aus dem primären Wissensaufbau Ausgegliederte kann allerdings sekundär eine spezifische Wirksamkeit auf einer eigenen kommunikativ-informatorischen Linie entfalten („Gesagt ist gesagt")." (1998, 324) Zum Einen wird damit die Analyse der Funktion des Delimitierten lediglich an die Frage weitergereicht, welches die Bedingungen für das Einschlägig-werden der .sekundären Wirksamkeit' sind. Wichtiger scheint mir aber der folgende Einwand: Wenn etwas Depotenziertes .sekundär eine spezifische Wirksamkeit (...) entfaltet' ist es m. E. nicht depotenziert, sondern herausgestellt und da eine Gesamtwirkung nicht in .primär' und .sekundär' aufgespalten werden kann, wenn sie Gesamtwirkung bleiben soll, wird durch diese ambige Bestimmung die Analyse gleichzeitig weitgehend relativiert. Diese Relativierung scheint nicht zufällig für die gewählte Methode, weil diese sich an den notgedrungen widersprüchlichen inhaltlich-kommunikativen Funktionen eines Mittels orientiert, das seine Spezifik beim Aufbau dieser Funktionen in Konstruktion und Hörer-Mitkonstruktion entfaltet.
Parenthesen
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Zustandekommens ihrer Wirkung mit entsprechend einzigartigen Leistungen gegeben. Sub- und Koordination kann man, weil bei ihnen die Konnektivität an der sprachlichen Oberfläche durch linear-syntaktische Verfahren und Konnektoren explizit ausgewiesen ist, als serielle Verfahren zusammenfassen und der parenthetischen Prozessierung des Äußerungsaufbaus gegenüberstellen. Drei Aspekte der parenthetischen Prozessierung sollen näher vorgestellt werden: 1. die Höreradressierung, 2. die Verortung im Rahmen des Handlungsprozesses und 3. der Aufbau von Proposition und Illokution.
1. Zur Höreradressierung Bekanntlich sind Parenthesen mit den Mitteln der Prosodie, d.h. durch Pause, Intonation, Tempo, Lautstärke und meist auch gestisch-mimisch aus der seriellen Prozessierung herausgehoben bzw. dem Hörer angekündigt6. Der Leser eines schriftlichen Textes muss diese Mittel aus paarigen Kommas, Gedankenstrichen oder Klammern restituieren. Zusammen mit der allerdings nicht durchgängig gegebenen, also optionalen syntaktischen Ausgrenzung und der sehr heterogenen inneren Ausgestaltung - vom nur durch Pause und Intonation herausgehobenen operativen Ausdruck ,auch' (B8, Fußnote 10) über mehr oder weniger radikal verschobene Phrasen (Kleist-Beispiel, s.u.) bis hin zum eingelagerten vollständigen Satz (B2, B4 - B7, S. 12f) - wird durch diese formalen Mittel ein zwar vielfältiger aber doch einheitlicher Phänomenbereich an der sprachlichen Oberfläche konstituiert. Dieser einheitliche Phänomenbereich der Parenthese ist in sich in der von Hoffmann analysierten Weise nach Art eines Teilmengenverhältnisses untergliedert: Ganz offensichtlich sind alle Einschübe delimitiert und weisen die migrierten und inserierten lediglich zusätzliche Merkmale auf. Dass mit zusätzlichen formalen Merkmalen zusätzliche oder variierte Funktionen einhergehen, sehe ich solange nicht als zwingenden Grund, dies einheitliche Parenthesenkonzept aufzulösen, wie die Grundfunktion erhalten bleibt. Ohne den Nachweis, dass diese Mittel Ausdruck einer gemeinsamen Funktion beim Prozessieren des sprachlichen Handelns sind, spräche allerdings vieles dafür, mit Hoffmann das Konzept der Parenthese als voranalytisch in die verschiedenen Varianten der Installation aufzulösen. Gemeinsam ist diesen Mitteln des Herausgehobenseins aus dem Syntagma7 jedoch, dass mit ihnen gleichzeitig ein Neuansatz in der Höreradressierung bewirkt wird. Der Neuansatz ist schon dadurch gegeben, dass etwas gesagt wird, das, durch deutliche Mittel ausgedrückt, aus dem Seriellen abgehoben wird und in keiner, oder einer gelockerten oder suspendierten syntaktischen
6
Es scheint Vieles dafür zu sprechen, dass es etwa eine signifikante Dehnung, eine Stauung bzw. ein gewisses intonatives Verweilen auf dem der Parenthese oft unmittelbar vorangehenden Bezugsausdruck gibt, doch können hierzu noch keine Detailuntersuchungen vorgelegt werden.
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Rainer ν. ΚUgelgen
Bindung zum Vorherigen steht. Indem mit der Parenthese etwas Angefangenes nicht syntaktisch fortgesetzt wird, fängt, für den Hörer markiert, noch innerhalb des Alten etwas Neues an. Dieser Neuansatz richtet sich an den Hörer und ist insofern ein Neuansatz in der Höreradressierung. Die Optionalität der syntaktischen Bindungen - sie können ohne Änderung der Gesamtproposition und -Illokution geändert bis aufgegeben werden - spiegelt sich in der Verschiebbarkeit der Parenthesen im Syntagma. Die Verschiebbarkeit ist in Figur 2 an einem besonders herausfordernden Beispiel dargestellt: Es handelt sich um den dritten Satz aus Kleists „Zweikampf'. Die Dichte, Lückenlosigkeit und Tiefe, die diesen Text in schon fast schmerzhafter Weise auszeichnet, erfährt bei der einleitenden Beschreibung der Handlungskonstellation eine weitere Steigerung. Spezifisches Mittel der genannten Texteigenschaften sind die , absoluten Konstruktionen', fast vollständig aus der Syntax gelöste Strukturen, die ihrerseits zusammengesetzt sind aus jeweils einer Präpositionalphrase als Kern (kursiv hervorgehoben) und einem ,Rest', der in unterschiedlicher Weise der Präzisierung des Kerns dient. Sie enthalten keine finiten Elemente und sind keine eigenständigen syntaktischen Einheiten, sondern können in traditioneller Terminologie als attributive oder adverbiale Bestimmungen in parenthetischer Stellung beschrieben werden. In der folgenden Darstellung des dritten Satzes findet sich linksbündig der Teil des Satzgefüges, der durch operative Prozeduren der Syntax zu einer Einheit verbunden ist. Diesen Teil der Gesamtkonstruktion bezeichne ich im Folgenden auch als .Syntagma'. Das Syntagma besteht aus zwei Hauptsätzen mit jeweils einem Nebensatz. Haupt- und Nebensätze sind unterschiedlich stark dissoziiert. Folgt man den Hinweisen der Zeichensetzung, dann bestehen der erste Hauptsatz und der ,wo'-Nebensatz (ein appositiver, nicht restriktiver Nebensatz8 aus vier Teilen, der in letzteren eingelagerte, ebenfalls nicht restriktive ,die'-Relativsatz aus zwei und der dem zweiten, eingliedrigen Hauptsatz vorgeschaltete .nachdem'-Nebensatz aus sieben Teilen - insgesamt achtzehn Teile. In die komplexe Konstruktion dieses Syntagmas sind, rechts herausgestellt, die acht absoluten Konstruktionen einzugliedern. Durch die Eingliederung wird das
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Die Pause ist als Leerstelle sozusagen neutral, es geschieht j a nichts Explizites und dies Nichtgeschehen ist der .Inhalt' der Pause. Eine .reine' Pause ohne verbale Umgebung ist nicht vorstellbar, ist keine Pause - also bezieht die Pause ihre Spezifik aus dem, worin sie gemacht wird. Bei der Intonation liegen die Verhältnisse mt der Progredienz ähnlich: es kommt eben nicht die Intonation, die kommen würde, wenn das Syntagma weiter vervollständigt würde - es handelt sich um eine spezifische Nichtkennzeichnung des Gesagten, die alles Mögliche bedeuten kann. Als Gemeinsames dieser Mittel bleibt die deutliche Abhebung des Folgenden vom Vorgehenden als Nichtfortsetzung übrig - als Nichtfortsetzung übrigens auch in dem Sinne, dass das Vorhergehende vom Folgenden nicht repariert wird.
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Eissenhauer 1999, 288 argumentiert, dass sich mit ,wo' eingeleitete Nebensätze von Relativsätzen dadurch unterscheiden, dass sie nicht wie diese „einem zuvor verbalisierten Wissenselement ein weiteres Wissen in Form der Proposition des Relativsatzes anbinden", sondern „hörerseitig eine Suche im mentalen Bereich des Hörers" initiieren. Einen eigenständigen Terminus schlägt Eissenhauer nicht vor.
Parenthesen
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Syntagma zu einer Trägerstruktur ersten Grades. Betrachtet man die zwei Haupt- und drei Nebensätze unter Vernachlässigung ihrer inneren Partitionierung als Einheiten, so wäre das Syntagma durch die absoluten Konstruktionen folgendermaßen in Teilstücke zerlegt: der erste Hauptsatz in zwei, der , wo'Nebensatz in drei, der ,die' -Relativsatz in zwei, und der , nachdem'-Nebensatz in vier Teile. Den zweiten Hauptsatz einbegriffen ergeben sich so insgesamt zwölf syntaktische Blöcke. Die behauptete Optionalität der syntaktischen Bindungen der Parenthese zeigt sich nun darin, dass sich etwa die absolute Konstruktion „in den Armen seiner bestürzten Gemahlin" innerhalb des ,wo'-Nebensatzes an den markierten vier verschiedenen Positionen einfügen lässt: „wo (1) er (2) nur noch (3) die Kraft (4) hatte", ohne dass sich die Proposition der Gesamtkonstruktion ändern würde. Wegen der fehlenden syntaktischen Anleitung wird der Hörer für die funktionale Verortung des in der Parenthese Gesagten ganz besonders in Anspruch genommen, und diese Inanspruchnahme stellt die andere Seite des Neuansatzes in der Adressierung dar. Der Neuansatz in der Höreradressierung wird fruchtbar gemacht, indem er das Operieren des propositionalen Gehalts und der Illokution der Parenthese9 auf der syntaktischen Einheit ermöglicht, in deren Rahmen sie stattfindet. Durch den Neuansatz in der Höreradressierung und das Herausgenommensein aus dem Syntagma aber in den Grenzen des Syntagmas gewinnen Parenthesen einen Metacharakter, der sich ganz besonders für Zwecke des Explizitmachens und Herausstreichens anbietet. Besonders in der mündlichen Kommunikation wird diese Eigenschaft oft dafür benutzt, um an der Illokution des Syntagmas zu arbeiten, wie die Beispiele (B1 - B8) zeigen. Ich gehe später noch genauer auf die Beispiele ein.
9
Dass Parenthesen propositionale Gehalte haben, habe ich versucht, am Extrembeispiel des parenthetischen ,auch* (Fußnote 12, B8) nachzuweisen. Hierher gehört auch der Hinweis (Abschnitt 3, S. IS), dass Interjektionen (die keine Propositionen enthalten oder bei denen die Proposition keine zentrale Rolle spielt) nicht zum Phänomenbereich gehören, weil sie anders wirken als Parenthesen, nämlich expeditiv. Wie steht es nun mit der Illokution? Kann es zur Erzeugung einer Gesamtillokution aus Elementen kommen, die selbst illokutionsfrei sind? Ich glaube, dass die Elemente des Gesagten zur Erzeugung der Gesamtillokution ebenso komplex zusammenspielen wie es bei der Gesamtproposition im Verhältnis zu den propositionalen Gehalten der einzelnen Symbolfeldausdrücke der Fall ist. Es wäre sicherlich nicht besonders weiterführend, vom Begriff der Illokution auf einen wie .Wirkung' o.ä. auszuweichen. Stattdessen könnte man zwischen illokutionären Wirkungen eines Äußerungsteils und der Gesamtillokution der Gesamtäußerung unterscheiden. Dass Parenthesen illokutionäre Kraft haben, kann m.E. nicht ernsthaft bezweifelt werden.
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Rainer ν. Kügelgen
Herr Friedrich von Trota, sein Kämmerer, brachte ihn
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in das Schloß,
über diesen Vorfall äußerst betroffen, mit Hülfe einiger andern Ritter,
wo er nur noch,
in den Armen seiner bestürzten Gemahlin,
die Kraft hatte, einer Versammlung von Reichsvasallen, die
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schleunigst. zusammenberufen worden war.
auf Veranstaltung der letztern,
als Thronerben, die Mutter aber, als Vormünderln und Regentin •ι» « anerkannt hatten:
wegen Minderjährigkeit desselben,
legte er sich nieder und starb. Figur 2: Absolute Konstruktionen (in Kasten) in Originalversion (schwarzer Pfeil) und mit Verschiebungsmöglichkeiten (graue Pfeile)
Parenthesen
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Der Neuansatz in der Höreradressierung birgt darüberhinaus konnektives Potential, wie am Beispiel der folgenden (vgl. Figur 3, unten) Verwandlung einer parenthetischen Prozessierung in serielle Prozessierungen ex negativo verdeutlicht werden kann: Die Gehalte der absoluten Konstruktionen stehen im parenthetischen Original in einer Beziehung zum Syntagma, die sich inhaltlich nicht von der der seriellen Konstruktionen (Bearbeitungen 1 und 2) unterscheidet. Jedoch stellt sich die Beziehung zwischen diesen Gehalten und dem Syntagma im Original und in den Bearbeitungen sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer ganz anders her. Grundsätzlich kann ein um Verständnis bemühter Hörer in einer seriellen Prozessierung seine Mitkonstruktion entsprechend den syntaktischen Anweisungen betreiben. Mit der Parenthese wird dem Hörer durch den Neuansatz in seiner Adressierung deutlich gemacht, dass er aus dem .Durchziehen' einer begonnenen syntaktischen Konstruktion herausgehen soll und er seine Aufmerksamkeit einer nach der Adressierung einsetzenden Konstruktion zuwenden muss. In dieser parenthetischen Konstruktion muss er nun selbständig, ausdrücklich und bewusst eine eigene (Teil-) Proposition und Illokution auf eine andere verrechnen. Diese andere Herstellung der Gesamtproposition wird im Kleist'schen Original geschickt genutzt. Die Bearbeitungen zeigen nämlich, dass syntaktische Verfahren in ein rezeptives Fiasko fuhren: Als Standardproblemlösungen versprechen sie dem Hörer nämlich einerseits, ihm einen bewussten Aufwand für die Verarbeitung des Gesagten weitgehend abzunehmen, sind aber andererseits zu schwach, der Fülle der zusätzlichen Ausführungen die erforderliche Systematik und Hierarchie aufzuprägen. Im diskutierten Fall fördert gerade das Herausgehen aus der Syntax die Rezipierbarkeit der hochkomplexen Gesamtäußerung. Fasst man die Rezeption einer komplexen Äußerung als Problem auf, so wird deutlich, dass eine in Syntax abgebundene Standardproblemlösung, die auf einfachere Sachverhalte zugeschnitten ist, hier nicht ausreicht, also reproblematisiert weiden muss und diese Reproblematisierung bedeutet eine Auflösung bzw. Rücksetzung der Syntax; sie erfordert ein mehr bewusstes, nicht standardisiertes Zuwenden an das schwierige Stück Text im Einzelnen. Diese Zuwendung erlaubt die parenthetische Prozessierung - darin liegt ihr konnektives Potential. Es ist also nur oberflächlich paradox, wenn sich das parenthetische Verfahren als angemessenstes entpuppt, um bei aller Komplexität noch Stringenz zu wahren. In der Tiefe aber korrespondiert die mit der parenthetischen Prozessierung dem Hörer abgedungene besondere Aktivierung seiner mitkonstruierenden Kräfte und seine wiederholte Neuadressierung exakt den Anforderungen der dargebotenen Gehalte.
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Original: Trägerstruktur mit eingelagerten (absoluten Konstruktionen): Herr Friedrich von Trota, sein Kämmerer, brachte ihn, (Uber diesen Vorfall äußerst betroffen), (mit Hülfe einiger andern Ritter), in das Schloß, wo er nur noch, (in den Armen seiner bestürzten Gemahlin), die Kraft hatte, einer Versammlung von Reichsvasallen, die schleunigst, (auf Veran- staltung der letz- tern), zusammenberufen worden war, die kaiserliche Legitimationsakte vorzulesen; und nachdem, (nicht ohne lebhaften Widerstand), indem, (in Folge des Gesetzes), die Krone an seinen Halbbruder, den Grafen Jakob den Rot- bart, fiel, die Vasallen seinen letzten bestimmten Willen erfüllt, und (unter dem Vorbehalt, die Genehmigung des Kaisers einzuholen), den Grafen Phi lipp als Thronerben, die Mutter aber, (wegen Minderjährigkeit desselben), als Vormünderin und Regentin anerkannt hatten: legte er sich nieder und starb.
Bearbeitung 1: Syntaktische Einbindung der absoluten Konstruktionen als {Attribute oder Adverbiale}: Herr Friedrich von Trota, sein {über diesen Vorfall äußerst betroffener]} Kämmerer, brachte ihn {mit Hülfe einiger andern Ritter} in das Schloß, wo er {in den Armen seiner bestürzten Gemahlin} nur noch die Kraft hatte, einer Versammlung von Reichsvasallen, die {auf Veranstaltung der letztem} schleunigst zusammenberufen worden war, die kaiserliche Legitimationsakte vorzulesen; und nachdem die Vasallen seinen letz- ten bestimmten Willen {nicht ohne leb haften Widerstand}, indem die Krone {in Folge des Gesetzes} an seinen Halbbruder, den Grafen Jakob den Rotbart, fiel, erfüllt, und den Grafen Philipp {unter dem Vorbehalt, die Genehmigung des Kaisers einzuholen}, als Thronerben, die Mutter aber {wegen Minderjährigkeit desselben} als Vormünderin und Regentin aner kannt hatten: legte er sich nieder und starb.
Bearbeitung 2: Trägerkonstruktion und ehemalige absolute Konstruktionen in [Satzform eingebunden durch Sub- oder Koordination mit Zusätzen]: Herr Friedrich von Trota, sein Kämmerer, [der Uber diesen Vorfall äußerst betroffen war] .brachte ihn, [wobei einige andern Ritter halfen], in das Schloß, wo er nur noch, [während er in den Armen seiner bestürzten Gemahlin lag], die Kraft hatte, einer Versammlung von Reichsvasallen, die, [was auf Veranstaltung der letztern geschah], schleunigst zusammenberufen worden war, die kaiserliche Legitimationsakte vorzulesen; und nachdem die Vasallen seinen letzten bestimmten Willen erfüllt [hatten, sie dies aber nicht ohne lebhaften Widerstand taten], indem, [wie es in Folge des Gesetzes vorgeschrieben war], die Krone an seinen Halbbruder, den Grafen Jakob den Rotbart, fiel, und den Grafen Philipp als Thronerben [anerkannt hatten, sie aber auch dies nur unter dem Vorbehalt taten], die Genehmigung des Kaisers einzuholen, [sie schließlich] die Mutter aber, [was wegen Minderjährigkeit desselben erfolgte], als VormUnderin und Regentin anerkannt hatten: legte er sich nieder und starb.
Figur 3: Transformation parenthetischer in serielle Prozessierung
Parenthesen
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2. Verortung im Rahmen des Handlungsprozesses Wenn man über Parenthesen spricht, spricht man über die sprachliche Oberfläche. Dennoch ist es unmöglich, ihnen einen notwendigen Ort im Rahmen des Syntagmas zuzuweisen. Wie die Verschiebeproben (Figur 2) zeigen, können Parenthesen ohne Änderung der Gesamtaussage innerhalb der Grenzen der syntaktischen Einheit, auf die sie sich beziehen, fast beliebig positioniert weiden. Andererseits unterscheidet sie dieser ihr Verbleib im Rahmen eines Teilsatzes oder einer Phrase aber von Vor- oder Nachschaltungen, die also auch nicht zum Phänomenbereich gehören. Wenn einerseits unabweisbar Bindungen zwischen dem Syntagma und der Parenthese festzuhalten sind, dafür aber an der sprachlichen Oberfläche syntaktische Mittel nicht eindeutig, nicht durchgängig und nicht in erster Linieverantwortlich gemacht werden können10, welcher Art sind dann diese Bindungen? Eine Verortung der Parenthese innerhalb des Modells der .Stadien und Phasen des Handlungsprozesses' nach Rehbein 1977 kann hier grundlegende Einsichten vermitteln: Bei einer sprachlichen Handlung gliedert sich der Handlungsprozess in eine .Vorgeschichte' (mit den Stadien des , Handlungskontextes', der , Einschätzung', .Motivation4 und .Zielsetzung'), in die eigentliche Verbalisierung und in die .Nachgeschichte' (mit dem Stadium der .Folgen'). Die Verbalisierung ist gegliedert in die Stadien des .Planens', des ,Ausführens' und des .Resultats'. Planen und Ausführen ihrerseits weisen bestimmte Phasen auf: Das Planen die .Präphase Γ bzw. die .Fokusausbildung', die ,Präphase II', bzw. das .Handlungslayout' oder , Schema der Handlung' und schließlich den , kompletten Plan', der mit der .Vororganisation der Handlung' bereits in das Stadium des Ausführens übergeht. Das Ausführen ist nach den Phasen des .Ausführungsentschlusses', der ,hic-et-nunc-Festlegung (Start)' und der .Durchführung' mit .Vorzone' und .Punkt der Handlung' gegliedert. (Rehbein 1977, 173f, 182). Für unsere Fragestellung zentral ist der Begriff des, Plans'. Wenn es möglich ist, ein Syntagma unmittelbar nach der Setzung seines Rahmens durch die
10
Da Appositionen und nicht restriktive Relativsätze ohne Spielraum in ihre Trägerkonstruktion syntaktisch eingebunden sind, fallen auch sie aus dem Phänomenbereich der Parenthese heraus. Dasgleiche gilt ffir .wie*-Nebensätze, die syntaktisch an die übergeordnete Struktur angeschlossen sind, indem sie etwa, wie im folgenden Beispiel Unwissen Uber einen Aspekt am Verb des übergeordneten Satzes ausfüllen: „Sie wollte nicht begreifen, wie das geschehen konnte." Parenthetische ,wie'-Sätze, wie sie von einer Reihe von Autoren (z.B. Tappe 1981 oder Pittner 1995) diskutiert werden, haben m. E. eine den Schaltsätzen ähnliche zirkuläre Struktur gemeinsam, indem sie die Gesamtaussage zur Füllung einer Wissenslücke in Anspruch nehmen, die im ,wie'-Satz mit ,wie' und verba dicendi bezeichnet wird: „Der Minister hat, wie gestern verlautete, von der ganzen Sache nichts gewußt." (zit. n. Pittner 1995,99) Syntaktisch gesehen hängt der ,wie'-Satz in der Luft, da er nicht an etwas im Hauptsatz Verbalisiertes angeschlossen ist, sondern sich komplettierend auf ein Nichtwissen des Lesers bezieht (vgl. auch Eissenhauer 1999, lOlff). Allgemein kann gesagt werden, dass bei der Verwendung von Nebensätzen als Parenthesen die Verbindung zum übergeordneten Finitum gekappt ist.
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Konjunktion .nachdem' (Figur 4), wieder zu verlassen, um eine komplexe Parenthese zu verbalisieren und wenn dann die Wiederaufnahme des Syntagmas ohne unüberwindliche Schwierigkeiten klappt, muss es über die Lücke im Syntagma hinweg weit ausgreifende Mittel geben, die das ermöglichen. Mit der Kategorie des Plans ist ein solches Mittel benannt worden, das sich dadurch als einschlägig für die Erzeugung von Konnektivität erweist. Der Plan in seiner für den Sprecher noch sprachlich zu realisierenden Gestalt und für den Hörer in seiner darüberhinaus noch zu vervollständigenden Mitkonstruktion ist dasjenige Element, das für die Einbindung der Parenthese (optional unterstützt durch syntaktische Bindungen) wesentlich verantwortlich ist. Insofern ist der Plan hier ein operatives Mittel und das ganze Verfahren ein Beleg für die Realität des Mentalen im sprachlichen Handeln. Am Material wird in der Darstellung von Figur 4 deutlich, dass die Bindungen der Parenthese z.B. keineswegs immer auf den Pause und Intonation vorangehenden Ausdruck zielen. Vielmehr stellen sich die Bindungen im Rezeptionsprozess sukzessive her. Zunächst ist nur ein gemeinsamer Plan bindendes Element, schließlich mit der voll ausgeführten Äußerung zeigt sich gewissermaßen retrograd, dass die Parenthese auf einen propositionalen und illokutiven Teilkomplex des Syntagmas bezogen ist. Zu dem Zeitpunkt, an dem das Syntagma verlassen wird, ist der Plan seiner Komplettierung bereits vorhanden, aber die syntaktische Realisierung dieser Komplettierung steht wie gesagt noch aus. Der Plan wird sistiert im Sinne von .durchgehalten', die syntaktische Realisierung wird sistiert im Sinne von .angehalten'. Dass parenthetische Konstruktionen .klappen', kann geradezu als Beleg und Verdeutlichung dessen herhalten, dass sich bei der Realisierung der Syntax gleichzeitig eine mentale Prozessierung beim Hörer abspielt. Auch in der seriellen Prozessierung sind also mentale Vorgänge wesentlich beteiligt: Syntax selber ist kein mechanisches Herunterprozessieren sondern eine aktive mentale (Mit-) Konstruktionsleistung, die komplementär bei Sprecher und Hörer abläuft. Zur Prozessierung der Syntax ist u.a. die Planbildung erforderlich. Der Plan der Konstruktion wird sukzessive umgesetzt, d.h. zu nicht unwesentlichen Teilen erst im Verlauf der verbalisierenden Umsetzung selbst erzeugt und liegt erst mit der fertigen Äußerung endgültig vor. Kleist selbst hat 1805 diesen Vorgang unter Akzentuierung der Sprecherseite in seinem berühmten Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" mit Eindringlichkeit und Prägnanz beschrieben: Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, dass die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. (Kleist, 1805, S. 94)
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ABSOLUTE KONSTRUKTIONEN AUSBAUTEN OER AK AK 2. GRADES
SYNTAGMA
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legte er sich nieder und starb.
Legende eckige Kasten: syntaktische Einheiten runde Kisten: AK 1-8 kursiv: Prfiposltlonalphrasen fett: nominale/verbale Bezugsausdrücke der AK im Syntagma Pfeile: ordnen den AK den Teil des Syntagmas zu, auf dem sie propositional/lllokutiv - z.T. in Verschachtelung - operleren.
Figur 4: Syntagma und absolute Konstruktionen im dritten Satz aus Kleists „Zweikämpf"
Und etwas weiter unten heißt es: Ein solches Reden ist ein wahrhaft lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihre Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemiitsakten für
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eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse, (ebd. S. 97) Ergänzt man zu den beschriebenen Leistungen der Planung, der Konstruktion und der Verbalisierung die komplementären Vorgänge auf der Seite des Hörers, so sind diese fast zweihundert Jahre alten Ausführungen dazu angetan, das langsame Voranschreiten der Wissenschaft mit Bescheidenheit zur Kenntnis zu nehmen. Im Beispiel des, nachdem'-Nebensatzes aus Figur 4 wird durch ,und nachdem ' etwa das Schema eines Nebensatzes festgelegt und im Hörer mitkonstruierend aufgerufen. Der Hörer kann also erwarten, dass ihm ein Thema, ein Rhema und eine Zukommensrelation des Rhemas zum Thema - und zwar in dieser Reihenfolge - genannt werden wird. Weiter ist durch die Komponente ,nach-' (ein operativ funktionalisierter Symbolfeldausdruck) und die zeigende Komponente ,-dem' von .nachdem' das Folgende als Vorgeschichte von etwas qualifiziert, das durch, und' als wesentliche kategorielle Vervollständigung des Vorhergehenden bereits angekündigt ist. In etwa diesem Stadium wird nun die weitere Ausführung des Planes sistiert. Sistieren - das heißt nun weder, dass der Plan gebrochen oder unterbrochen noch gar, dass er aufgegeben wird; es bedeutet, dass der Plan .gehalten' wird. Ein .anhaltender Beifall ' etwa ist ein Beifall, der einerseits als Beifall längere Zeit andauert, der aber andererseits die Darbietung, auf die er sich bezieht, in ihrem gegenwärtig erreichten Stadium festhält. Im Konzept des , Haltens' sind stets beide Elemente vorhanden, die des Stoppens und die des Dauerns, es ist ein ambivalentes, ein dialektisches Konzept. Elemente des An- bzw. Aufhaltens gehen in den Vorgang genauso ein, wie Elemente des Durch- und Aushaltens. In diesem Sinne verwende ich das Konzept unter dem Terminus des Sistierens. Die Sistierung unterscheidet die Parenthese von der Reparatur, bei der der Plan revidiert, ein Teil des Geäußerten getilgt und durch Wohlgeformteres ersetzt wird. Mit dem Sistieren kommt es zu keiner Tilgung sondern zu einem längeren, mehr mentale Aktivität des Hörers auf sich versammelnden Verharren und Inkraftbleiben des realisierten Planstadiums, das sich bei einer Reihe von Parenthesen als eigentlicher Zweck des Verfahrens herausstellt: (Bl) Ohne ihn, sagte Mobutu einmal, wäre Zaire nichts, (taz 9. 9. 1997, 3, zit. n. Hoffmann 1998, 301) Hoffmann analysiert das Beispiel wie folgt: ,Als besonders komplex erweist sich der Schaltsatz. [Das Beispiel] zeigt, dass er nicht in die Funktionalstruktur des Trägersatzes einbezogen, delimitiert und migrationsfähig ist. Er erweist sich aber als implementiert, insofern der Trägersatz die Position des Akkusativkomplements im Verhältnis zum Einschluss besetzt, also in den Einschluss sekundär funktional integriert ist." (a.a.O., 318).
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Diese Analyse der spezifischen Zirkularität des Schaltsatzes ist scharfsinnig und prägnant, bleibt aber gleichwohl formal-syntaktisch. Die Beschreibung des Schaltsatzes als, sekundäre funktionale Integration des Trägersatzes in den Einschluss in der Position des Akkusativkomplements' scheint mir aber insofern zu kurz gegriffen, als sie über die Funktion ja gerade gar keine Angabe macht. Sieht man den Satz unter dem Gesichtspunkt des Sistierens, zielt also auf das Zustandekommen der Gesamtäußerung im Hörerwissen ab, so liegt der Schwerpunkt darauf, dass der diskutierte Schaltsatz die Pointe durch Verzögerung und Konfrontation sichert. Das Mittel des Einschubs wird zu dem Zweck eingesetzt, stilistisch das Skandalon herauszuarbeiten: Zuerst wird im Auftakt das .Ohne ihn' nach Art einer Fermate anhaltend im Hörerwissen verankert, sodann wird durch Konfrontation mit der durch den Einschub hinausgezögerten Komplettierung ,wäre Zaire nichts", die absurde Relation des Auftakts offenbart, um die Gesamtaussage schlagartig als Größenwahnsinn vorzuführen. Die inhaltlich-kommunikative Funktion des Satzes macht in dieser Sicht Gebrauch vom operativen Mittel des Sistierens, dessen Funktion sich im Mentalen herstellt als Steuerung der Hörermitkonstruktion im Sinne eines zunächst verschleppten und dann schlagartigen Zustandekommens der Gesamtproposition im Hörerwissen. Doch ist der Vorgang nun auch nach der anderen Seite zu betrachten, nämlich nach der des Einschubs. Als jenes gesuchte, gemeinsame und vermittelnde Element von Syntagma und Parenthese, das nicht syntaktischer Art sein kann, wäre das Sprecher und Hörer gemeinsame , Handlungswissen', d.h. das Wissen um die Stadien und Phasen des Handlungsprozesses auszumachen. Das Handlungswissen ist ein Wissen mit Eigenschaften nicht expliziter Zugänglichkeit und dennoch fortgesetzter Wirksamkeit bei der Organisation sprachlicher Handlungen, wie es uns vergleichbar vom .Musterwissen' im Sinne von Ehlich und Rehbein 1977 bekannt ist. In bestimmter Weise ist demnach die gesuchte Prozedur, die für die Einbindung der Parenthese ins Syntagma verantwortlich ist, als operativer Gebrauch vom Wissen um die Stadien und Phasen des Handlungsprozesses zu beschreiben. In den Beispielen aus mündlicher Rede (B2,3,5,6) finden sich Ausdrücke („das, derda, so, das, das"), von denen wir wissen, dass sie als deiktische auf Außersprachliches fokussieren. Dieses Außersprachliche ist entweder das im weiteren Verlauf der sprachlichen Handlung noch Auszuführende, das sich gegenwärtig noch im Planstadium befindet oder ein im bisher Gesagten zur Unzufriedenheit des Sprechers niedergelegtes Wissen, zu dem in der Parenthese Modifikationen und Ergänzungen vorgenommen werden. Fokussiert wird also auf ein Zu-Sagendes, das sich gegenwärtig noch im Planstadium befindet, d.h. der Fokus - eine Phase der Planbildung - wird operativ zur Einbindung der Parenthese genutzt. Serielle und parenthetische Prozessierung stehen beide gleichermaßen im Dienst erfolgreichen sprachlichen Handelns. Serielles Handeln kann an tendenziell
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beliebiger Stelle seiner Überführung vom mentalen Status in den verbalisierten als ausführungsbedürftig im Sinne einer Parenthese erkannt werden, d.h. immer dann, wenn es notwendig scheint, auf Ausgeführtem und noch Auszuführendem eine weitergehende Proposition und Illokution operieren zu lassen. Im ,und nachdem'-Beispiel aus Figur 4 hätten Syntagma und absolute Konstruktion das oben beschriebene Schema als gemeinsame Bezugsgröße; beide stehen also bereits unter demselben Fokus. Wenn nun die absolute Konstruktion mit ihrer komplexen Proposition durchgeführt ist, so wird die gesamte inhaltliche Hervorbringung und Vervollständigung des Syntagmas mit einer Explizierung der Handlungsgründe der Vasallen versehen, die sie illokutiv weit über die Qualität eines aktionalen Geschehens hinaus anreichert bzw. variiert. Eine solche, inhaltsschwere Verwendung der parenthetischen Prozessierung ist kennzeichnend für einen schriftlichen Text und übrigens hochgradig spezifisch stilbildend für Kleists .späte* Prosa. Die Betrachtung der Parenthese im Rahmen der Stadien und Phasen des Handlungsprozesses kann aber noch zur Erklärung einer weiteren Eigenschaft beitragen: Es ist nämlich der sistierte Plan - und kein anderer - , der im Wissen und unter der Illokution des in der Parenthese Ausgeführten wiederaufgegriffen und zu Ende geführt wird. Es kommt also zu keiner Verdoppelung des Plans und damit auch zu keiner Aufspaltung der Nachgeschichte in die Verfolgung verschiedener Handlungslinien. Durch das Arbeiten der Parenthese auf dem Syntagma ist demnach gleichzeitig klargestellt, warum und dass Parenthesen keine eigene Nachgeschichte haben. Diese Eigenschaft wird in der Bearbeitung 3, (Figur 5) abermals ex negativo verdeutlicht. Wenn man die absoluten Konstruktionen des Beispielsatzes in den Rang eigenständiger Sätze erhebt und sie in Form einer Verkettung dem Syntagma nachordnet, vervielfachen sich die selbständigen Handlungsstränge mit ihren zu erwartenden Nachgeschichten. Die jeweiligen Handlungsstränge werden aber nicht verfolgt sondern abgebrochen. Da man in einem Text davon ausgeht, dass das Folgende die Nachgeschichte des Vorangehenden ist, entsteht durch die Transformation parenthetischer in verkettete Prozessierung im VorgeschichteGeschichte-Nachgeschichte-Verhältnis eine Inkonsistenz bis hin zur Zerwirrnis. Gleichzeitig bestätigt sich, was weiter oben ausgeführt wurde, nämlich dass die parenthetische Prozessierung mit ihrer Eigenschaft keine eigene Nachgeschichte zu haben (sondern lediglich die gemeinsame Nachgeschichte zu beeinflussen) von Kleist als Lösung des Problems eingesetzt wird, bei aller Komplexität noch Stringenz zu wahren und gleichzeitig die Illokution des Syntagmas weit über die Qualität eines aktionalen Geschehens hinaus anzureichern bzw zu variieren.
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Original: Trägerstruktur mit eingelagerten (absoluten Konstruktionen) Herr Friedrich von Trota, sein Kämmerer, brachte ihn, (über diesen Vorfall äußerst betroffen), (mit Hülfe einiger andern Ritter), in das Schloß, wo er nur noch, (in den Armen seiner bestürzten Gemahlin), die Kraft hatte, einer Versammlung von Reichsvasallen, die schleunigst, (auf Veranstaltung der letztern), zusammenberufen worden war, die kaiserliche Legitimationsakte vorzulesen; und nachdem, (nicht ohne lebhaften Widerstand), indem, (in Folge des Gesetzes), die Krone an seinen Halbbruder, den Grafen Jakob den Rotbart, fiel, die Vasallen seinen letzten bestimmten Willen erfüllt, und (unter dem Vorbehalt, die Genehmigung des Kaisers einzuholen), den Grafen Philipp als Thronerben, die Mutter aber, (wegen Minderjährigkeit desselben), als Vormünderin und Regentin anerkannt hatten: legte er sich nieder und starb.
Bearbeitung 3: Trägerkonstruktion in Verkettung mit in Satzform überführten ehemaligen absoluten Konstruktionen [mit Zusätzen]: Herr Friedrich von Trota, sein Kämmerer, brachte ihn in das Schloß, wo er nur noch die Kraft hatte, einer Versammlung von Reichsvasallen, die schleunigst zusammenberufen worden war, die kaiserliche Legitimationsakte vorzulesen; und nachdem die Vasallen seinen letzten bestimmten Willen erfüllt und den Grafen Philipp als Thronerben, die Mutter aber als Vormünderin und Regentin anerkannt hatten: legte er sich nieder und starb. [Herr Friedrich von Trota war] Uber diesen Vorfall äußerst betroffen. [Er brachte ihn] mit Hülfe einiger andern Ritter [in das Schloß.] [Der Herzog verlas die Legitimationsakte] in den Armen seiner bestürzten Gemahlin. [Die Versammlung von Reichsvasallen war] auf Veranstaltung der letztern [zusammenberufen worden]. [Die Vasallen erfüllten den letzten Willen des Herzogs] nicht ohne lebhaften Widerstand. [Der Widerstand begründete sich] indem die Krone an seinen Halbbruder, den Grafen Jakob den Rotbart, fiel. [Sie fiel] in Folge des Gesetzes [an ihn]. [Die Vasallen erkannten] unter dem Vorbehalt, die Genehmigung des Kaisers einzuholen, [den Grafen Philipp als Thronerben an]. Wegen Minderjährigkeit desselben [erkannten sie] aber die Mutter als Vormünderin und Regentin [an].
Figur 5: Transformation parenthetischer in verkettete Prozessierung
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3. Aufbau von Proposition und Illokution Oben wurde gezeigt, wie das in der Parenthese Ausgeführte im Nachfolgenden nicht als eigenständiger Handlungsstrang aufgegriffen und fortgeführt wird. Gleichzeitig ist die Nachgeschichte der Gesamtäußerung mit Parenthese eindeutig eine andere als sie es ohne Parenthese wäre. Insofern hat die Parenthese eine illokutionäre Kraft, denn ohne diese könnte sie die Illokution des Syntagmas nicht beeinflussen. Dass ein Satz eine Illokution hat und nicht zwei, kann nicht so verstanden werden, dass diese Illokution nicht aufgebaut wird und dass dieser Aufbauprozess nicht analysiert werden kann. Das Operieren der Parenthese auf dem Syntagma stellt sich daher als ein Operieren von Propositionen und Illokutionen aufeinander dar. Diese Spezifik des Operierens der Parenthese gestattet eine weitere Präzisierung des Phänomenbereichs: Da Interjektionen expeditiv auf den Hörer wirken und nicht über propositional vermittelte Illokutionen, können sie nicht als eine Art , Mini-Parenthesen' betrachtet werden. Bevor ich das genannte Aufeinander-Operieren näher bestimme, möchte ich in aller Kürze ein paar Beispiele dazu vorstellen. (B2) Raffael: Ja, ich mein halt auch, dass es mehr so Methodik ist, dass er mal von diesem ähm Mast wegkommt, mit/ in den er sich praktisch so verheddert hat und dass er jetzt meintwegen - das is ja η einfacheres Beispiel · meiner Meinung nach - und dass er praktisch ihn mal also sein Gedankenexperiment zu Ende führen lassen kann · und denn ... (Auszug Unterrichtstranskription: Zur Analyse der Illokution der Regiefrage, v. Kügelgen, Deutsch, FOS 12 93.3, 040394, ca. 37 min, Audio, v.Kü, 1:40, Fläche 64 - 69) In (B2) versucht der Schüler in der Parenthese ("das is ja η einfacheres Beispiel • meiner Meinung nach") zu erklären, wieso Salviati (der Protagonist aus Galileis .Discorsi') in seiner Widerlegung der ptolemäischen Argumente für das Stillstehen der Erde das Problem der vom Mast eines fahrenden Schiffes fallenden Kugel vorerst ruhen lässt und zum Problem der Bewegung einer Kugel auf einer schiefen und dann einer waagerechten Ebene übergeht. Die Klassifizierung „einfacheres Beispiel" befasst sich also mit dem Zweck der Methode dieses Analogieverfahrens zweiter Stufe und arbeitet damit - auch wenn die Aussage nach einem gewissen Zögern durch "· meiner Meinung nach" depotenziert wird - direkter an der Aufgabenstellung der Stunde als die übrige Ausführung. Im Beispiel wird also die Eigenschaft der Parenthese, am Plan eines propositionalen Gehaltes ansetzen und zu ihm Stellung nehmen zu können, durchaus fruchtbar gemacht. (B3) Carsten: Und das ist ein, denk ich, ein ganz entscheidender Unterschied, ob ich ihn nun fragen würde, äh: .Meinst du nicht auch, die Kugel würde bei' - (daderda) die ganzen Fakten aufzählen - .runterrollen?', oder ob ich ihn frage: ,Was passiert mit der Kugel?' (ebd. Fläche 242 - 246)
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In (B3) fasst der Schüler mit der Parenthese („(daderda) die ganzen Fakten aufzählen") vorgängige Wissensbestände zusammen und kann sie in seine Darlegung einbeziehen, ohne mit ihrer erneuten expliziten Anführung im Syntagma abermals die entsprechende Nachgeschichte aufrufen und damit seinen Gedankengang unnötig unterbrechen zu müssen. Dadurch gelingt es ihm, die Alternative, auf die es ihm in seinem Beitrag ankommt, an der sprachlichen Oberfläche in eine pointierte Formulierung zu fassen. (B4)... auf dem dortigen Observatorium zeigt man noch heute einen Uberaus künstlichen Einschachtelungsbecher von Holz, den er [der Kurfürst, L.H.] selbst in seinen Freistunden - er hatte deren täglich 24 - geschnitzelt hat. (Heine, Werke. Reisebilder I Ideen. Das Buch LeGrande, 95; zit. nach Hoffmann 1998, 304) In (B4) etwa ist die Parenthese das zentrale Mittel des Heineschen Spiels mit oszillierenden Illokutionen: Mit der Parenthese wird die eingeleitete Textform des Berichts schlagartig ironisch gebrochen, so dass der Leser nicht mehr weiss, welches Muster prozessiert wird. Diese Unsicherheit breitet sich retrograd über die gesamte Passage aus, die dadurch insgesamt doppelbödig erscheint: (B41) Er (der Kurfürst Jan Wilhelm) soll ein braver Herr gewesen sein, und sehr kunstliebend und selbst sehr geschickt. Er stiftete die Gemäldegalerie in Düsseldorf, und auf dem dortigen Observatorium zeigt man noch heute einen überaus künstlichen Einschachtelungsbecher von Holz, den er selbst in seinen Freistunden - er hatte deren täglich 24 - geschnitzelt hat. (ebd.) In dem Beispiel (B5) (B5) BS: Versucht man, in einem ersten Zugriff zu bestimmen, was den vorgeschalteten Imperativ von einem - sag ich jetzt mal so - .normal' gebrauchten Imperativ unterscheidet, · · dann ist das allgemeine Merkmal die spezifische Zweckbestimmtheit dieser Formen. (Auszug aus der Transkription eines Vortrages im Rahmen eines deutschsprachigen Kleinsymposiums zur Funktionalen Pragmatik 1993. BS ist wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Forschungsinstituts: (EBK/27/ Aud29-/171293/HH/AD/ DSYM /26min /nn, m. fr. Genehmigung © Ch. Hohenstein 1999, Fläche 14 - 18, vermerkt ist .Leseintonation' mit Ausnahme der Parenthese, dort findet sich der Vermerk ,frei in gelesenen Text eingefügt'.) wird die Wendung .normal gebrauchter Imperativ ' mit der Parenthese „sag ich jetzt mal so" in Antizipation möglicher Kritik als unterminologisch illokutiv tiefer gehängt. In (B6) (B6) BS: Und zwar - und das finde ich ganz wichtig - mehr nebenbei, mehr im Vorbeigehen, ((1,2s)) nämlich (d/) ohne dass diese Absicht allzu sehr in den Vordergrund tritt. (ebd., Fläche 31 -34)
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werden die Hörer in der Parenthese „und das finde ich ganz wichtig" umgekehrt aufgefordert, das beschriebene Phänomen (Die Beiläufigkeit eines vorgeschalteten Imperativs zur Erzeugung günstiger Rezeptionsbedingungen) illokutiv aufzuwerten. In (B7) (B7) Bleiben Sie auch heute dabei—» das is meine Eingangsfrage, um gleich auf den Punkt zu kommen-» dass Sie das Fahrzeuch damals nicht selbst gefahren habeni (Hoffmann, Eine Verhandlung vor dem Amtsgericht, 26, zit. nach Hoffmann 1998, 321) legt der Sprecher dem Hörer einen Sachverhalt zur Bestätigung vor, den er in der Parenthese "das is meine Eingangsfrage, um gleich auf den Punkt zu kommen" gleichzeitig als entscheidungsrelevant kennzeichnet. Die Parenthese wird/soll keine eigene Nachgeschichte haben, hat aber Auswirkungen (Relevanz) auf die Illokution des einbettenden Syntagmas. Parenthetische Prozessierung ist sicherlich die eleganteste und ökonomischste Möglichkeit diese beiden Anforderungen miteinander zu verbinden. Für eine Darstellung der Beziehungen zwischen Syntagma und Parenthesen, wie sie mit Figur 4 versucht wurde, sind nach dem bisher Gesagten verschiedene Aspekte zu berücksichtigen: Aufeinander zu beziehen sind - unter weitgehender Auflösung syntaktischer Bindungen - ganze Propositionen und Illokutionen. Gleichzeitig hat diese Beziehung als propositionale, also als auf versprachlichtem Wissen basierte, aber auch eine Korrespondenz auf der Äußerungsebene. Parenthesen haben eine propositionale Nähe zu bestimmten Bezugsausdrücken im Syntagma (in der Figur fett gedruckt). Erst bei der Überführung in eine serielle Konstruktion wird aber - wie gezeigt - aus dieser propositionalen Nähe auch eine syntaktische Verbindung als Attribut, Adverbial oder Nebensatz. Man findet in der Literatur jedoch immer wieder textzentrierte, von einem verdinglichten Sprachverständnis geprägte Analyseverfahren, die zur Bestimmung der Leistungen von Parenthesen diese zunächst in serielle Konstruktionen transformieren und ihre Erkenntnisse dann an diesen Konstruktionen gewinnen. Indem die Besonderheiten des Konstruktionsverfahrens, die im Aufbau von Proposition und Illokution bei Sprecher und Hörer liegen und das Resultat der Gesamtäußerung in eins geworfen werden, werden aber gerade die tragenden Unterschiede verwischt. Weiter findet das Operieren, wie die Verschiebeproben zeigen, sehr wohl in syntaktisch definierten Grenzen, nämlich dem Satz- bzw. Nebensatz- oder Phrasenstrukturrahmen statt und auch der Ort des Einschubs ist von Belang, d.h. es ist zu berücksichtigen, dass und inwieweit das Syntagma zum Zeitpunkt des Einschubs noch im Entstehen begriffen ist. Im Kleis'sehen Beispielsatz werden, wie Figur 4 zeigt, durch die Sub- und Koordinationsverhältnisse des Syntagmas zum Teil komplex verschachtelte Beziehungen von Inklusion und Exklusion erzeugt. Die Figur bildet die syntaktischen und die propositionalen Beziehungen ab und soll gleichzeitig verdeutli-
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chen, wie die Gesamtkonstruktion aus einem Ensemble von parenthetischer und serieller Prozessierung besteht. Durch dieses, anders nicht zu habende, Ensemble wird eine Versprachlichung des Ganzen gewährt, bei der das Voranschreiten in der Handlung mit der Angabe der Hintergründe verwoben ist oder umgekehrt: bei der die Motive und Gefühle gleichzeitig auf dem Hintergrund der sie auslösenden Handlungen entfaltet werden. Wir können nun auch genauer beschreiben, was den Unterschied der möglichen Verschiebungsvarianten ausmacht: Es wird deutlich, dass die Funktion der parenthetischen Prozessierung nicht in einem inhaltlich-kommunikativ festzumachenden Resultat besteht, demgegenüber sie sich durchaus neutral verhält, sondern dass sie im Zustandekommen der Gesamtäußerung im Bewusstsein des Hörers liegt. Durch die unterschiedlichen Positionierungen der Parenthesen im Rahmen des Syntagmas kommt es zu Modifikationen der Mitkonstruktion. Die Positionierungen bewirken, wie schon gesagt, die Sistierung der Planausführung in einem gewissen Stadium. Dadurch entfaltet einerseits der bereits umgesetzte Plananteil in der Art einer Fermate besondere Wirkung, andererseits legt die Positionierung fest, ab welchem Vollständigkeitsstadium der Planausführung und Hörerplanbildung das noch Auszuführende im Wissen und unter der Illokution des in der Parenthese Gesagten (mit-) zu konstruieren ist. In der Praxis vor allem der mündlichen Kommunikation ist auf Grund des verstärkten Eingriffs der Parenthese in die Psyche des Hörers der Einfluss der Art und Weise des Zustandekommens der Gesamtäußerung auf die Qualität, ja, das Erreichen des Resultats überhaupt als noch größer anzusetzen. Alle seriellen Prozessierungen unterscheiden sich von den parenthetischen dadurch, dass es bei ihnen gar nicht erst zu einem eigenständigen Operieren vom einen auf dem anderen kommt. Parenthesen setzen in gewisser Weise die Planungstätigkeit des Hörers zum Subjekt des Ge- oder Misslingens seiner Mitkonstruktion, während der Plan in der seriellen Prozessierung nach den Vorgaben, die in der syntaktischen Konstruktion selbst enthalten sind, abgearbeitet wird. Parenthesen haben ihren Ansatzpunkt nicht in der Konstellation der Handlung, sondern im Plan der Verbalisierung, der an bestimmter Stelle seiner Ausführung sistiert wird, um einer eigenständigen Proposition und Illokution das Operieren auf seiner weiteren Ausführung zu ermöglichen. Bei Parenthesen kommt es dadurch zum Phänomen einer gewissen Schleifenbildung in der Verbalisierung des propositionalen Gehalts, die sich in Termini des handlungstheoretischen Wissensmodells nach Ehlich & Rehbein 1986 gesprochen folgendermaßen beschreiben lässt: Im Zuge einer seriellen Prozessierung erfahren bestimmte Elemente der Wirklichkeit Ρ ihre Widerspiegelung im Wissen Π des Sprechers, werden in Sprache überführt und treten in die Psyche des Hörers ein. Bei einer Parenthese erfährt dieser Vorgang folgende Abwandlung: Bei der Überführung der im Wissen widergespiegelten Elemente der Wirklichkeit in Sprache, d.h. bei der
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Entstehung des propositionalen Gehalts ρ der Sprechhandlung wird an bestimmter Stelle innegehalten und - bevor noch ρ in die Psyche des Hörers eintreten kann, in Gestalt der Parenthese der analoge Vorgang (Überführung von Ρ/Π in p) wiederholt. Allerdings tritt nun an die Stelle von Ρ ein mehr oder minder ausgearbeitetes" Element der Versprachlichung von p, ein p-Fragment. Von welcher Beschaffenheit ist dieses p-Fragment? M.E. handelt es sich dabei im wesentlichen um eine mentale Größe, denn als Fragment hat es noch keine vollständige sprachliche Gestalt, ist aber bereits geplant. Wenn man der Verbalisierung einen eigenen Status mit eigener Dynamik und eigenen Problemen einräumt und sie nicht zu einer mechanischen ein-zu-eins-Umsetzung mental vollständig präexistenter Elemente verkürzt, so bedeutet dies, dass folgendes passieren kann: Im Durchführungsstadium der Verbalisierung kann deutlich werden, dass der Plan so nicht vollständig zufriedenstellend umgesetzt werden kann, sondern einer parenthetischen Modifikation oder zusätzlichen Ausführung bedarf. Dafür ist einerseits der Umstand verantwortlich zu machen, dass der Plan selbst erst im Zuge seiner Ausführung hervorgebracht wird, dass also die Stadien und Phasen des Handlungsprozesses nicht Strukturen einer Oberflächensukzession sondern analytische Kategorien sind. Andererseits steht der Sprecher beim Verbalisieren ja in Interaktion, prozessiert gewissermaßen zweigleisig die eigene Äußerung und antizipiert bzw. rezipiert im Monitoren die Mitkonstruktion des Hörers. Als Ergebnis dieser Vorgänge wird in der Parenthese zu dem als ausführungsbedürftig erkannten p-Fragment abermaliges Wissen des Sprechers eigenständig verbalisiert, im mentalen Bereich des Hörers verarbeitet und auf die nun wieder aufgegriffene Vervollständigung der Verbalisierung der seriellen Konstruktion angewendet. Diesen Vorgang einer parenthetisch modifizierten Ρ-Π-ρ Abfolge, die in die .normale' Ρ-ΓΙ-ρ-Abfolge inkludiert ist, versuche ich mit dem Ausdruck der .Schleifenbildung' zu veranschaulichen. Die Diskussion der Beispiele12 befindet sich, abschließend festgestellt, in Übereinstimmung mit der bekannten These, dass Propositionen und Illokutionen selbständiger Einheiten nur analytisch, nicht aber in der Verbalisierung voneinander zu trennen sind. Für das Gebiet der Illokution muss daher von einer vergleichbaren Schleifenbildung ausgegangen werden, wie für das Gebiet der Proposition, bloß dass hier noch keine entsprechende Modellbildung vorliegt. Wir können zusammenfassen, dass die Illokution des Syntagmas mit der Parenthese erneuert, aktiviert, abgeschwächt, qualitativ modifiziert oder verändert werden kann. Es ist weiter davon auszugehen, dass Parenthesen in ähnlicher Weise, wie sie auf die Illokution wirken, die Inskription der Gesamtäußerung in bestimmte sprachliche Handlungsmuster beeinflussen (vgl. Β 4, S. 15).
11
Als Minimum dieser Ausarbeitung ist die Positionierung unmittelbar nach der Setzung des Satzrahmens etwa durch die Konjunktionen „und nachdem" (S. 9, 11) anzusehen, als Maximum dürfte der .pseudo-syntaktische' Anschluss der Parenthese an einen ihrer Bezugsausdriicke im Syntagma gelten. Überschreitungen des Phänomenbereichs sind mit Vor- und Nachschaltungen gegeben.
Parenthesen
229
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12
Mit diesem Modell können wir auch ein Beispiel erklären, das auf den ersten Blick die These zu falsifizieren scheint, Parenthesen arbeiteten grundsätzlich propositional und illokutiv auf Propositionen und Illokutionen: (B8) Denn nicht zuletzt liegt es - auch - daran, wie wir Sachen anpacken, wie wir mit unserem Leben umgehen, (zit. nach Pittner 1995, 87) Die Verwendung von 'auch' ist zweifelsfrei parenthetisch und ebenso zweifelsfrei hat 'auch' als operativer Ausdruck keinen propositionalen Gehalt. Die folgende Gegenüberstellung von ( B 8 ) mit der nicht parenthetischen Version (B8') belegt das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen der Verdoppelungsschleife als Unterschied der Versionen: (B8') Denn nicht zuletzt liegt es auch daran, wie wir Sachen anpacken, wie wir mit unserem Leben umgehen. Während in der Bearbeitung (B8 1 ) eine Eigenverantwortlichkeit ,für unser Leben' nur als eingeschränkte, als einer von mehreren, allerdings ungenannt bleibenden Faktoren angesprochen wird, basiert das Original die Einschränkung auf der zunächst allgemeingültig hingestellten These grundsätzlicher Eigenverantwortlichkeit. Indem auf der These die eingeschränkte These operiert, kommt es also auch hier zu einem Arbeiten von Propositionen und Illokutionen aufeinander, bei dem aber wegen der Verdoppelung eines identischen propositionalen Gehalts nur der abweichende Operator ,auch' verbalisiert werden muss.
230
Rainer v. Kiigelgen
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231
Petr Bednarsky
Deutsche und tschechische Präpositionen im Vergleich anhand von an und nd Der Beitrag behandelt die Präpositionen an und na, die auf eine gemeinsame Partikel ana (vgl. Grimm 1854, Kopecny/Saur/Polák 1973) zurückgehen. Dieser Ausdruck wurde im Laufe der Sprachgeschichte im Deutschen und im Tschechischen den jeweils anders wirkenden Prinzipien in den einzelnen Sprachen ausgesetzt; dementsprechend wird durch an und na auch die Relation zwischen zwei sprachlichen Entitäten unterschiedlich realisiert. Mit anderen Worten: Der Ausdruck ana erschien im Deutschen als Präposition an und im Tschechischen als Präposition na mit anderen, sprachspezifischen Charakteristika, die es festzustellen gilt. Der vorliegende Aufsatz ist in vier Abschnitte gegliedert. Zuerst sollen in §1 Überlegungen zum Aufbau von Sprachen angestellt werden. Danach erfolgen im Abschnitt 2 Ausführungen über das Kontrastieren von Sprachen. Aufbauend auf diesem allgemeinen Teil werden in § 3 die Präpositional- und Kasussysteme des Deutschen und des Tschechischen behandelt. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse wird im Abschnitt 4 gegeben.
1. Zum Aufbau von Sprachen Jede Sprache weist eine Eigenart auf, die sich im Aufbau niederschlägt. Diese Eigenart jeder einzelnen Sprache nannte Wilhelm von Humboldt .Energeia', die als schaffendes Prinzip der Sprache zu verstehen ist. Die Formen einer Sprache sind Produkte des in dieser Sprache enthaltenen Formungswillens (vgl. Koller 1988,244). In den grammatischen Formen wirken also für die Sprache charakteristische mentale Formungsprozesse, die sie auf ihre eigene Art und Weise strukturieren bzw. ordnen2. Nun ist aber die Energeia bzw. ihre Wirkung sehr schwierig in Begriffe zu fassen. Humboldt selbst war sich dieser Schwierigkeit bewusst3. Das Problem, die Energeia als Formungsprinzip explizit in Begriffe zu fassen, verkompliziert sich noch dadurch, dass z.B. das Deutsche sowie das Tschechische fusionierende, agglutinierende, inkorporierende und isolierende Tendenzen und Elemente in ihrem Sprachbau aufweisen4. Gleichwohl zeigt 1
Herrn Prof. Dr. Ludger Hoffmann und Herrn Prof. Dr. Jochen Rehbein danke ich für die Präzisierungen und Anmerkungen beim Verfassen dieses Beitrags.
2
Nach Rehbein (1995a) sollten unter Energeia im Sinne Humboldts die mit den Sprachen jeweils verbundenen Handlungen, psychischen Aktivitäten und Denkformen verstanden werden.
232
Petr Bednarsky
schon die Intuition5, dass der Sprachbau des Deutschen einen anderen Charakter als der des Tschechischen hat. Ein Zugang ergibt sich, wenn die Sprache in ihrem Gebrauch analysiert wird. Nutzt ein Sprecher S die Sprache, um beim Hörer H etwas zu bewirken, setzt er die Sprache zweckmäßig ein. Dabei bedient sich der Sprecher der jeweils unterschiedlichen sprachlichen Formungsprinzipien, die zur Bildung von unterschiedlichen sprachlichen Mitteln geführt haben und unterschiedlich organisiert werden, um einen ,sprachinternen Zweck' (vgl. Ehlich 1982,4) zu realisieren. Der sprachinteme Zweck (weiter nur ,Sprachzweck') ist somit die Organisationsform der jeweiligen Sprache. SorealisierenPräpositionen als jeweils spezifische Sprachmittel des Deutschen und des Tschechischen den Sprachzweck der Innersatz-Relationen (siehe Ehlich 1982, 16). Sie realisieren den internen sprachlichen Zweck, zwei sprachliche Entitäten miteinander in Bezug zu setzen. Dabei erfolgt das In-Bezug-Setzen jeweils sprachspezifisch auf Grund des wirkenden Formungsprinzips der Energeia. Somit haben die Präpositionen in den beiden Sprachen jeweils einen anderen Status. Durch die Analyse der Sprache in ihrem Gebrauch und eine kontrastive Analyse der Sprachen im Gebrauch lässt sich zeigen, wie und mit welchen sprachlichen Mitteln die Energeia/ das Formungsprinzip den Sprachzweck jeweils unterschiedlich formt. Darüber hinaus ermöglicht das Entdecken des Formungsprinzips ein Bewusstmachen des sonst intuitiv empfundenen Vorwaltens des Formungsprinzips in der jeweiligen Sprache (vgl. Ineichen 19912, 47).
3
„Die Schwierigkeit gerade der wichtigsten und feinsten Sprachuntersuchungen liegt sehr häufig darin, daß etwas aus dem Gesamteindruck der Sprache Fließendes zwar durch das klarste und überzeugendste Gefühl wahrgenommen wird, dennoch aber die Versuche scheitern, es in genügender Vollständigkeit einzeln darzulegen und in bestimmte Begriffe zu begrenzen. Mit dieser Form hat man auch hier zu kämpfen" (Humboldt 1992, 39). „Die charakteristische Form der Sprachen hängt an jedem einzelnen ihrer kleinsten Elemente; jedes wird durch sie, wie unmerklich es im einzelnen sei, auf irgendeine Weise bestimmt. Dagegen ist es kaum möglich, Punkte aufzufinden, von denen sich behaupten ließe, daß sie an ihnen, einzeln genommen, entscheidend haftete. Wenn man daher irgendeine gegebene Sprache durchgeht, so findet man vieles, das man sich, dem Wesen ihrer Form unbeschadet, auch wohl anders denken könnte, und wird, um diese reich geschieden zu erblicken, zu dem Gesamteindruck zurückgewiesen" (Humboldt 1992, 39).
4
Vgl. z.B. Wurzel (19%) oder Skaliòka (1979a/b)
5
Weil in der Literatur ständig von Sprachtypen gesprochen wird, scheint es mir, dass die Autoren von ihrer intuitiven Kenntnis dieser Sprachen ausgehen (Sgall 1999) und somit de facto die These von Humboldt bestätigen: „Die Sprachen können hierin noch am wenigsten unrichtig mit den menschlichen Gesichtsbildungen verglichen werden. Die Individualität steht unableugbar da, Ähnlichkeiten werden erkannt, aber kein Messen und kein Beschreiben der Teile, im einzelnen und in ihrem Zusammenhange, vermag die Eigentümlichkeit in einen Begriff zusammenzufassen." (Humboldt 1992,39-40).
233
Deutsche und tschechische Präpositionen
2. Das kontrastive Verfahren Im Abschnitt 1 wurde für die Präpositionen der Sprachzweck Innersatz-Relationen angeführt. Der Sprachzweck stellt das notwendige Tertium comparationis für die Kontrastierung von an und na dar. Nun sind an und na nicht die einzigen sprachlichen Mittel, die die Innersatz-Relationen realisieren. Als weitere Sprachmittel sind Kasus, Wortstellung und Intonation zu nennen (Ehlich 1982, 17), wovon für den Vergleich von an und na das Sprachmittel Kasus primär ist. Dagegen spielen die Wortstellung und Intonation für die Kontrastierung von an und na keine entscheidende Rolle und können vernachlässigt werden. Schematisch lässt sich die Kontrastierung von Sprachen (und somit auch die Kontrastierung von an und na) in Anlehnung an Rehbein (1995a) wie folgt darstellen:
OFLI
OFL2
(STKO) ; n r — " ·
PROLI
PROL2
'
- V (Vz w J
Abbildung 1: Kontrastierung sprachlicher Handlungssysteme nach Rehbein (1995a, 267) OF LI L2 — —
• •
•
PRO ZW STKO 9· 1
: sprachliche Oberfläche - sprachliche Form : Sprache 1 - Muttersprache, Quellsprache : Sprache 2 - Fremdsprache, Zielsprache : Richtung der Kontrastierung : (zu rekonstruierende) Richtung der Kontrastierung : Prozedur : Zweck : Standardkonstellation : Konsultationsverhältnis (bei der Kontrastierung der Prozeduren)
234
Petr Bednarsky
Die Abbildung veranschaulicht zwei sprachliche Oberflächen, OFL1 und OFL2, die verglichen werden sollen. Der Vergleich erfolgt aber keinesfalls als direkter Bezug zwischen OFL1 und OFL2. Vielmehr müssen die den sprachlichen For-men zugrundeliegenden Handlungen, insbesondere die Prozeduren6, ermittelt werden. Diese sind wiederum Ergebnisse des Sprachzwecks, der sich in den jeweiligen, sprach-spezifischen Standardkonstellationen (sprachlich-kommunikativen Bedürfnissen) niederschlägt. Im Folgenden werden die den sprachlichen Formen an und na zugrunde liegenden Prozeduren verglichen. Im theoretischen Rahmen der Funktionalen Pragmatik7 realisieren Präpositionen den mentalen Prozess (die Prozedur) einer Relationierung zweier sprachlicher Entitäten. Sie werden dem operativen Feld zugeordnet. Ausdrücke der Sprache, die im operativen Feld wirksam sind, dienen dazu, die Sprache als Sprache zu verarbeiten8, d.h. den propositionalen Gehalt zu prozessieren. Mit den operativen Prozeduren trägt der Sprecher dazu bei, „daß der Hörer etwa die angebotene Information mit in die Interaktion einbeziehen kann."(Ehlich 1986, 35). Von den Ausdrücken, die im operativen Feld wirken, sind vor allem Ausdrücke zu unterscheiden, die vorwiegend im nennenden Feld wirken, wie z.B. Substantive, Verben, Adjektive oder Adverbien. Nun können aber die Ausdrücke aus einem Sprachfeld im Laufe der Sprachgeschichte in ein anderes Sprachfeld wechseln in der Terminologie der Funktionalen Pragmatik erfolgt eine .Feldtransposition', d.h. ein Ausdruck eines bestimmten Feldes wird in einem anderen Feld für die Zwecke dieses Feldes eingesetzt. Die Prozedur, die durch Transposition einer anderen entstanden ist, wird mit dem Präfix ,para-' markiert. Im Falle der Präpositionen handelt es sich um paraoperative Prozeduren, d.h. um operative Prozeduren, denen entweder eine nennende (wie bei an, auf, neben,...) oder eine ursprünglich deiktische (wie bei zu) Prozedur zugrunde liegt. Nach der Analyse von Grießhaber (1999a/b) heißt die paraoperative Prozedur, die zwei sprachliche Entitäten/Objekte miteinander in Bezug setzt, eine relationierende Prozedur. Schematisch lässt sich die relationierende Prozedur in Anlehnung an Grießhaber (1999a, 89) folgendermaßen modifiziert darstellen:
Prozeduren sind mentale Tätigkeiten, in die der Sprecher den Hörer einbezieht und die auf den sprachlichen Feldern arbeiten (vgl. Ehlich 1986, 1991). 7
Eine Einführung in die Funktionale Pragmatik siehe z.B. bei Rehbein (1988) oder Ehlich (1991).
8
Es handelt sich außer Präpositionen um Ausdrücke wie Konjunktionen (Redder 1990) und um einige Verweiswörter (Rehbein 1995b).
Deutsche und tschechische Präpositionen
235
Abbildung 2: Das Beziehungssystem
Die beiden zu relationierenden Entitäten sind R (das zu Relationierende) und Β (das zu Beziehende). Die Relation entsteht, indem das R mittels des Β spezifiziert wird.9 Dies geschieht durch den Kasus, die Präposition und nicht zuletzt durch das Verb. An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass die Präposition einen Bezug zwischen zwei abstrakten sprachlichen Entitäten herstellt und keineswegs zwischen z.B. zwei lokalen Objekten. Aus diesem Grunde wurden auch R und Β möglichst abstrakt definiert. Die lokale, temporale, usw. Interpretation ergibt sich auf Grund der nennenden Prozeduren, die im konkreten Fall R und Β bilden. Im Fall von an und na wurden die betreffenden Standardkonstellationen in beiden Sprachen zum gleichen Zweck ausgebildet, zur Relationierung sprachlicher Objekte/Entitäten.
3. Kontrastierung von an und na Die Kontrastierung erfolgt im Sinne der Abbildung 1, d.h. es sind die einzelnen mentalen Prozesse - die Prozeduren zu erarbeiten, deren sprachlicher Zweck und zugleich das Tertium comparationis die Relationierung zweier sprachlicher Entitäten ist. Da die Ausdrücke an und na eine Entstehungsgeschichte im Deutschen und im Tschechischen durchgemacht haben, ist als erster Schritt eine sprachhistorische Analyse durchzuführen. Der Entwicklungsprozess beider Ausdrücke bis hin zum heutigen Gebrauch lässt sich mit dem Verfahren der funktionalen Etymologie verfolgen10. Bei Grimm (1854, 284) heißt es im Eintrag zu an": „uralte partikel, ... dem gr. ava und sl. na, wahrscheinlich auch skr. anu, welches post, secundum, nach, also nähe, an bedeutet, gleich zu stellen, wie ana bei uns allmählich den auslaut, legte es bei den Slaven den anlaut ab,..." 9
D.h. die Relationierung erfolgt in Richtung R -> B.
10
Das Verfahren der funktional-etymologischen und anschließend der funktionalen Analyse lässt sich als Rekonstruktion der Handlungsqualität des Ausdruck auffassen. Sie stellt ein empirisch-reflektiertes Vorgehen dar, das die Kontinuität der Entwicklung einzelner Prozeduren aufzeigt. Ausführlich zum funktional-etymologischen Verfahren siehe Ehlich (1994).
11
Vgl. auch die Einträge und Ausführungen zu an bei Schutzeichel (1969, 6) oder Campe (1807, 123). Die Abkürzungen bedeuten: gr. = griechisch; sl. =slawisch; skr. = sanskritisch.
236
Petr Bednarsky
Unter dem Lemma na findet man im etymologischen Wörterbuch des Tschechischen von Jungmann (1990, 529)12 zu na3·. „praep. (primit. DG., cf. graec. ava = auf, an, in, cf. goth. ana, germ, an, nahe, nach, cf. angl. on, upon, cf. graec. ανω = wzhôru, na), znamená wdbec potah wyse...Hnutj do wySe w powrchnost atd. ... Bezprostredné spogenj, nástroge, posfredku, an, auf. ... Hnutj w mjsto, smër konánj po öem, auf. ..." („praep. (primit. DG., cf. graec. ava = auf, an, in, cf. goth. ana, germ, an, nahe, nach, cf. engl, on, upon, cf. graec. ανω = empor, hinauf, na), bedeutet überhaupt Richtung nach oben ... Bewegung nach oben, an die Oberfläche usw. ... Unmittelbare Verbindung mit einem Instrument, Mittel, an, auf.... Bewegung an einen Ort, Richtung der Handlung nach (zu - P.B.) etw., auf. ...") Die Präposition na ist in allen slawischen Sprachen vertreten. Kopeön^/ Saur/Polák (1973, 123) führen aus14: „NejbliiSi jsou paralely baltské: lit. nuö „von-herab/von-weg"... Dále srov. r. ava (s apokopou αν, ba arkkyper. i ov) vedle vëtSinou adv. ανω, jez odpovídá si. na pri apokopë první slabiky; pod. av. ana: stpers. ana „über-hin, entlang", dále gót. ana, sthn. an(a) ν nasem zhruba v^znamu." („Die baltischen Parallelen liegen am nächsten: lit. nuö „von-herab/von-weg"... Weiter vgl. gr. ava (mit der Apokope an, auch arkkyper. ov) neben dem adv. ανω, das dem sl. na bei Apokope der ersten Silbe entspricht; av. ana: altpers. ana „über-hin, entlang", weiter got. ana, althd. an(a) etwa in unserer Bedeutung.") Die zugrunde liegende nennende Prozedur von an ist dank des adverbialen Ursprungs relativ gut nachvollziehbar. Dagegen lässt sich die nennende Prozedur, die dem tschechischen Ausdruck zugrunde liegen sollte, nur Uber eine Rekonstruktion erschließen. Der Ausdruck na bedeutet zwar bei Grimm ganz allgemein Nähe15, bei Kopecny/ Saur/Polák (1973) hat na als Grundbedeutung bereits supra, oben. Aus diesen beiden Verwendungen lässt sich auf ein Konzept der Nähe in Richtung nach oben, bzw. ganz allgemein an die Oberfläche, die miteinbezogen wird (also nicht nur zur Oberfläche, sondern die Oberfläche inklusive) schließen. Dem entspricht auch der Eintrag bei Jungmann (1990) Richtung in die Höhe, an die Oberfläche und weiter eine unmittelbare Verbindung zweier Gegenstände. So kann die nennende Prozedur als „Richtung an die Oberfläche eines Gegenstandes, wobei eine Verbindung/ein Kontakt mit diesem Gegenstand angestrebt wird" rekonstruiert werden. Diese sehr vage Formulierung der nennenden Prozedur lässt sich auf die wenig ausgeprägte nennende Prozedur von na im Tschechischen zurückführen. Der Grund dafür liegt in unterschiedlichen 12
Vgl. auch andere wie z.B. Gebauer (1970 2 ,429).
13
Die Abkürzungen bedeuten: praep. = Präposition; primit. = ursprünglich; DG. = dessen Grammatik; cf. = confer.; graec. = griechisch; goth., gót. = gotisch, germ. = germanisch; angl., engl. = englisch.
14
Die Abkürzungen bedeuten: lit. = litauisch; gr., f . = griechisch; arkkyp. = arkadozyprisch; adv. = Adverb; sl. = slawisch; av. = avestisch; stpers., altpers. = altpersisch; gót., got. = gotisch; sthn., althd. = althochdeutsch.
15
Vgl. den Eintrag bei Grimm (1854,283).
Deutsche und tschechische Präpositionen
237
etymologischen Entwicklungen in beiden Sprachen, deren Ursprung sprachtypologisch bedingt ist und im Folgenden kurz skizziert wird. Nach Cruz (1973) haben die germanischen Sprachen eine Sonderentwicklung im Vergleich zu anderen indoeuropäischen Sprachen durchgemacht. Während in den anderen indoeuropäischen Sprachen (d.h. auch im Tschechischen P.B.] die „freien Partikeln" abgeschwächt wurden und mit den Verben verschmolzen, d.h. Derivationsprozessen unterzogen wurden, haben die germanischen Sprachen bei den ursprünglich abgeschwächten freien Partikeln einen Prozess der Bildung neuer Adverbien in Gang gesetzt16. Diese These von Cruz (1973) scheint durch Überlegungen von Skaliöka (1979a) bestätigt zu werden, nach dessen Auffassung das rekonstruierte Indogermanische zwischen den flektierenden und den agglutinierenden Sprachen anzusiedeln ist. Die Flexion gewann im Laufe der Zeit die Oberhand, denn alle indogermanischen Sprachen sind entweder flektierend oder haben ein flektierendes Stadium durchschritten (ebd., 144). Während sich die westlichen indogermanischen Sprachen (die Kentumsprachen), unter ihnen auch das Deutsche, in Richtung auf einen isolierenden Typ hin entwickelten, tendierten die östlichen indogermanischen Sprachen (die Satemsprachen), unter ihnen auch das Tschechische, zur Agglutination (ebd., 161). Die slawischen Sprachen (außer dem Bulgarischen) festigten nach Skaliöka (1979b) aber zunächst den flektierenden Sprachtyp und nahmen erst allmählich Elemente der Agglutination auf. So wurde z.B. das tschechische Deklinationssystem vereinfacht und ausgeglichen - es kam zur Reduktion von 24 Deklinationsmustern auf zehn im heutigen Tschechisch17. Trotz der agglutinierenden Tendenzen blieb das Tschechische allerdings eine hauptsächlich flektierende Sprache18. Diese Erwägungen stützen die These von der Entwicklung zum isolierenden Typ des Deutschen19, das einen adverbialen Charakter der Ausdrücke an, auf, bei, nach, zu, usw., die als trennbare Präfixe oder als Präpositionen verwendet werden können, aufweist. Der flektierende Typ des Tschechischen mit seinen agglutinierenden Tendenzen unterstützt demgegenüber den funktionalstrukturellen Charakter der Präfixe und der Präpositionen20. Auf Grund dieser an Cruz und Skaliöka angelehnten Überlegungen darf die vorsichtige Behauptung 16
Der Ursprung von an aus rein lokalem Adverb ist bei Behaghel (1924, 29) belegt: „Aus rein lokalen Adverbien aba, after, ana, ..." Dagegen hat na den Status einer „uralten Partikel" vgl. Grimm (1854, 283) beibehalten.
17 18
Vgl. Sgall (1983). Der Zusammenhang zwischen agglutinierend und flektierend wird deutlicher, wenn man flektierend durch „fusionierend" ersetzt, wie z.B. Wurzel (1996, 493) vorschlägt.
19
Diese These wird von Admoni (1990) unterstützt, indem er behauptet: „Die wichtigste Entwicklung in der Struktur des althochdeutschen Satzes, die übrigens auch in den anderen germanischen Sprachen mehr oder weniger zu spüren ist und vielleicht noch vor der Bildung des Althochdeutschen anzusetzen ist, ist der Zug zur lexikalen Realisierung seiner Hauptglieder im Elementarsatz." (Admoni 1990, 23). Aus diesem Grund scheint es mir berechtigt anzunehmen, dass die Tendenz zur Bildung lexikalischer Einheiten im Satz auch auf die „lexikalische" Bildung von Präpositionen eingewirkt haben müsste.
238
Petr Bednarsky
aufgestellt werden, dass es einen funktionellen Unterschied der Präpositionen und der trennbaren Präfixe im Deutschen und im Tschechischen gibt. Im Deutschen haben die Präpositionen und die trennbaren Präfixe einen stark adverbialen Charakter21, so dass deren nennende Prozedur prägend ist. Die tschechischen Präpositionen weisen de facto den alten indoeuropäischen Zustand auf - diese Tatsache fallt gerade bei dem Ausdruck ana auf, der an und na zugrundeliegt, wo die Bildung der relationierenden Prozedur zu jeweils anderen Konzepten führt. Während bei an die nennende Komponente durch die isolierenden Tendenzen im Deutschen „aufgewertet" wurde und somit „Nähe" darstellte, lässt sich bei na keine ähnliche nennende Prozedur wie „Nähe" bei an mehr nachvollziehen. Die nennende Komponente scheint dermaßen abgeschwächt, dass bereits die nennende Prozedur rekonstruiert werden musste. Die Konsequenz ist, dass na fusionierende Tendenzen mit dem Nomen und mit dem Kasus aufweist. Somit unterscheiden sich die beiden Präpositionen nicht nur in der Bedeutung, sondern auch in dem Status. In dem unterschiedlichen Status kommen also die sprachtypologischen Unterschiede (Deutsch eher isolierend, Tschechisch fusionierend-flexivisch) zum Vorschein. 3.1. Relationierende Prozeduren von an und na Die funktional-etymologische Analyse hat das zugrundeliegende Adverb an, ana ergeben, dessen nennende Prozedur22 Nähe ist. Funktional-etymologisch lässt sich bereits ansatzweise die relationierende Prozedur ermitteln, die durch eine funktionale Analyse des heutigen Gebrauchs von an präzisiert wird. Es geht darum, wie Nähe als Relation zwei sprachliche Entitäten miteinander in Bezug setzt. Die relationierende Leistung von an 3 lässt sich als .Vereinen' beider Entitäten formulieren. Unter Vereinen ist eine mentale Operation zu verstehen, in der R und Β als getrennte Entitäten, die im Prozess des VerbundenWerdens begriffen sind, aufgefasst werden. Somit entsteht durch an ein Spannungsfeld in der Relationierung: Einerseits werden die beiden Entitäten als getrennt konzipiert, andererseits streben sie eine Einheit an. Diese mentale Tätigkeit des Vereinens, d.h. die relationierende Prozedur von an, wird in Abhängigkeit von der synsematischen Umgebung unterschiedlich interpretiert. Sie bekommt nach Dativ oder Akkusativ einen statischen respektive einen dynamischen Charakter. Weiterhin wird die relationierende Prozedur von an - das Vereinen - in Abhängigkeit von den nennenden Prozeduren des R, Β und des Verbs lokal, 20
Über den genetischen Zusammenhang der grundsätzlich untrennbaren verbalen Präfixe und Präpositionen im Tschechischen siehe Petr (1986, 514).
21
Zum adverbialen Charakter der trennbaren Präfixe vgl. z.B. Simefiková (1995) oder Fleischer/Barz (1995 2 ).
22
Traditionell lässt sich hier von lexikalischer Bedeutung sprechen.
23
Basierend auf der funktional-etymologischen Analyse und auf der Analyse von Beispielen aus meinem Korpus von 35 Texten aus Kultur, Politik und Wirtschaft.
Deutsche und tschechische Präpositionen
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temporal, kausal, modal, usw. interpretiert. Es wird also davon ausgegangen, dass dierclationierendeProzedur eine mentale Tätigkeit ist, die den verschiedenen Gebrauchsweisen von an zugrunde liegt. So leistet an in den Beispielen wie 1) die Klinke an der Tür, 2) Ich sitze am Tisch, 3) Mangel an Brot, 4) Ding an sich, immer das gleiche das Vereinen von R und B. Wie weit dieses Vereinen reicht, d.h. wie das Vereinen zu interpretieren ist, hängt von den nennenden Prozeduren des R, B, und des Verbs ab bei 1) Kontakt, bei 2) potentieller Kontakt, bei 3) und 4) ist das Vereinen eben abstrakt als Spannungsfeld zwischen getrennt und vereint zu verstehen. In diesem Zusammenhang sind die Ansichten von Sekiguchi (1994,48) zu an interessant: Um von a n im allgemeinen zu sprechen, liegt eigentlich auch ein solches a n in a n im „Ding an sich" vor, das nach Kant für Menschen nicht erfahrbar ist. Dieses „Ding an sich" ist jedoch keineswegs „in jeder Hinsicht" unerfahrbar. Wenn das der Fall wäre, sollte man von Ding in sich oder von Ding hinter sich sprechen. Wenn man schon an sich sagt, muß man in irgendeinem Sinn, sei es auch metaphysisch, an die Oberfläche des Dinges dringen und „an" dieser Oberfläche irgendeine Bewußtseinstätigkeit ausüben können, auch wenn es sich dabei nicht um eine Erkenntnis im herkömmlichen Sinne handelt. Im deutschen Sprachgebrauch, wo schon immer anstatt von Ding in sich scheinbar sinnwidrig von Ding an sich gesprochen worden ist, ist offenbar stets eine phänomenologische Interpretation der Wirklichkeit am Werk gewesen, die sich im Unterbewußten offenbart hat. ... Im Sprachgefühl der Deutschen für a n ist stets das Bewußtsein tätig, das danach strebt, die beiden phänomenologisch zu vereinen. (Sekiguchi 1994, 48)
Die funktional-etymologische Analyse von na kann sich nicht auf eine relativ eindeutige nennende Prozedur eines Adverbs stützen. Vielmehr war bereits eine Rekonstruktion der nennenden Prozedur erforderlich, die jedoch nicht losgelöst von den Belegen für die Präposition als relationierende Prozedur betrachtet werden kann. Die relationierende Leistung von na lässt sich als .Adressierung'24 formulieren. Unter Adressierung ist eine mentale Tätigkeit zu verstehen, mit der die Entität Β aus allen möglichen Entitäten als diejenige für R bestimmt wird, d.h. durch die Verwendung von na wird ein „Filter" implementiert, durch den das Β in den „Interessenbereich" des R tritt. Noch anders lässt sich formulieren: Durch na wird eine „Selektion" des Β für das R gestartet. Nun muss betont werden, dass Β durch die Kasus (Akkusativ oder Lokativ) gleichzeitig modifiziert wird, d.h. der Ausdruck na relationiert R mit dem durch den Kasus modifizierten B25. Diese Tatsache stellt einen prinzipiellen Unterschied gegenüber dem Deutschen dar, denn die Kasus sind keine Interpretationen der relationierenden Prozedur der Adressierung, sondern deren Bestandteil. Die traditionellen „Bedeutungen" 24
Auf Grund der funktional-etymologischen Analyse von Beispielen aus meinem Korpus von 35 Texten aus Kultur, Politik und Wirtschaft.
25
Über den Unterschied zwischen den Kasus/den Kasussystemen im Deutschen und Tschechischen siehe § 3.2.
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wie lokal, temporal, kausal, usw. sind analog wie bei an-Interpretationen der zugrunde liegenden Prozedur des Adressierens. Werden die beiden relationierenden Prozeduren kontrastiert, so fällt auf, dass es sich bei an (Vereinen) um eine mentale Tätigkeit mit einem prozessualen Charakter handelt, während bei na die mentale Tätigkeit der Relationierung (Adressierung) als ein Setzen des Β als Adresse für R aufgefasst wird. Mit anderen Worten: Die mentale Tätigkeit der Relationierung hat im Deutschen einen prozessualen/kontinuierlichen (das Vereinen) und im Tschechischen einen statischen/punktuellen (das Setzen) Charakter26. Nun sind die Präpositionen an und na nicht die einzigen Sprachmittel, die den Sprachzweck der Innersatz-Relationen in den beiden Sprachen realisieren (siehe § 2). Sie bilden die Relationen zusammen mit den Kasus und zwar mit Dativ und Akkusativ (an) und mit Akkusativ und Lokativ (na). Analog zum unterschiedlichen Status von an und na weisen auch die Kasus Unterschiede in ihrer Wirkung auf. Aus diesem Grund ist es nötig, auf die Spezifika der einzelnen Kasus bzw. der Kasussysteme einzugehen27. 3 . 2 . Die Kasussysteme des Deutschen und Tschechischen im Vergleich Das Tschechische hat sieben Kasus - Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Vokativ28, Lokativ und Instrumental. Nach Skalicka weist das Tschechische folgendes Kasussystem auf (vgl. Skalicka 1950, 150):
ohne synt. Bezug adverbale Kasus
adnominaler Kasus adverbialer Kasus lokaler Kasus
Vokativ I. Nominativ II. Akkusativ III. Dativ Genitiv Instrumental Lokativ
wohin Lokalisierung wo
Abbildung 3: Das tschechische Kasussystem
26
Es handelt sich nicht um eine statische oder dynamische Interpretation einer Relation wie z.B. Ich bin in der Schule und Ich gehe in die Schule. Es geht darum, dass die beiden Prozeduren jeweils eine unterschiedliche, sprachtypologisch bedingte Art und Weise haben, R und Β miteinander zu relationieren.
27
Dabei soll es sich nicht um ausführliche Beschreibungen der Kasussysteme des Deutschen und des Tschechischen handeln. Es geht eher darum, die unterschiedliche Interaktion der Präpositionen mit den Kasus darzustellen.
28
Den Vokativ zähle ich der Einheitlichkeit wegen zu den anderen Kasus. Ich bin mir dessen bewusst, dass eine präzise Erfassung des kasuellen Status des Vokativs eine Diskussion erfordern würde, die aber für diese Arbeit nicht von Belang ist.
Deutsche und tschechische Präpositionen
241
Die Idee dieses Systems ist, dass inflektierendenSprachen wie dem Tschechischen die syntaktischen Relationen (die .adverbalen'29 bzw. der adnominale Kasus) primär durch Kasusendungen zum Ausdruck gebracht werden. Nun weist das Tschechische den Lokativ und den Instrumental auf, die auch durch Kasusendungen ausgedrückt werden. Das ist ein wichtiger Analysepunkt, denn die sogenannte , Adverbialisierung' der syntaktischen Kasus30 (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ) betrifft analog auch die Kasusendungen der syntaktischen Kasus. Die Konsequenz ist, dass durch die Kasusendungen zusätzliche Bedeutungen an das Nomen herangetragen werden31. Da im Tschechischen eine Relation zwischen zwei sprachlichen Entitäten prinzipiell durch Präpositionen und Kasus (Kasusendungen32) hergestellt wird, kommt es bei der Ausgestaltung einer Relation auf die Kombination von Präposition und Kasus an. So kann die Präposition im Tschechischen keinesfalls autonom eine komplexe Relation ausdrücken, wie dies im Deutschen möglich ist33. Über den Zusammenhang von Präpositionen und Kasus im Tschechischen bestehen unterschiedliche theoretische Auffassungen. So wird z.B. die Präposition als Erweiterung der Kasus im Sinne von Zentrum und Peripherie verstanden (vgl. Svoboda 1989) oder als Teil der Kasus (vgl. Karlík/Nekula/Rusínová 1995 oder Cechová 1996) aufgefasst. Nach Karlík/Nekula/Rusínová (1995) bilden die Präpositionen zusammen mit den Kasus syntaktische und nichtsyntaktische Bedeutungen von Nomina. Während es morphologische Kasus prinzipiell nur in flektierenden und agglutinierenden Sprachen gibt, scheinen Präpositionen keinen typologischen Beschränkungen unterworfen zu sein (vgl. Cermák 1996, 30). Präpositionen und Kasus interagieren im Tschechischen dank der gleichen funktionellen Aufgabe, Innersatz-Relationen zu bilden. Somit 29
Der Begriff , ad verbal' wird bei Skalicfka (1950) zur Bezeichnung der syntaktischen Funktionen des Subjekts, des Akkusativobjekts und des Dativobjekts benutzt.
30
Skaliëka (1950) spricht in Zusammenhang mit .Adverbialisierung' von einer „Induzierung" der adverbialen Bedeutung in den syntaktischen Kasus.
31
Das Kasussystem des Tschechischen ist alles andere als ein homogenes System. Es gibt Fälle (z.B. bei unbelebten Maskulina oder bei Neutra), wo der Nominativ mit dem Akkusativ formal übereinstimmt. Es ist aber meines Erachtens wichtig, dass die Auffassung „Kasus wirkt direkt am Nomen", die auch aus dem flektierenden Sprachtyp des Tschechischen resultiert, erhalten bleibt - hier spielt eine entscheidende Rolle das Sprachbewusstsein, das sich mit der Humboldtschen Energeia beschreiben lässt. Dass Kasus im Tschechischen prinzipiell durch Kasusendungen zum Ausdruck gebracht werden, wird bei Lamprecht/Slosar/Bauer (1986, 130) explizit behauptet.
32
Nach Koïensty (vgl. Kofensty 1994,84) sind morphologische Kategorien im Tschechischen (also auch Kasus/Kasusendungen) keine bloßen Markierer syntaktischer Relationen, sondern sie bilden zusammen mit den Nomina eine Einheit höheren Grades, d.h. die Bedeutung des Nomens wird dem Kasus entsprechend modifiziert.
33
Vgl. Grießhaber (1999a).
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Petr Bednarsky
sind die Wahl der Präpositionen und die Wahl der Kasus zwei eigenständige Operationen, die sich zu dem Zweck verbinden, eine bestimmte Art von Relationierung auszudrücken. Diese These entspräche auch der Auffassung von Belicová (1982), wonach die Kasus mit den Präpositionen harmonieren müssen. Das deutsche Kasussystem lässt sich in Anlehnung an die Darstellung des tschechischen Kasussystems bei Skalicka (1950) folgendermaßen beschreiben: adverbale Kasus
I. Nominativ II. Akkusativ III. Dativ
adnominaler Kasus
1 wohin 1 Lokalisierung wo
Genitiv
Abbildung 4: Das deutsche Kasussystem
Das Deutsche hat keine rein adverbialen Kasus, die durch Kasusendungen an den Nomina zum Ausdruck gebracht würden. Die Adverbialisierung der syntaktischen Funktionen erfolgt deswegen „außerhalb" der Nomina34, d.h. mittels Präpositionen, Artikeln und Kasusmarkierungen an Adjektiven. Als wichtige Konsequenz ist für das Deutsche - im Gegensatz zum Tschechischen - festzustellen, dass der Kasus im Deutschen „außerhalb" des Nomens wirkt35. Damit sind die Voraussetzungen für die Auffassung geschaffen, dass Kasus außerhalb der Nomina wirken bzw. Kasus das Nomen „von außen" modifizieren. Diese Auffassung der Kasus im Deutschen wird auch durch die Tatsache unterstützt, dass das Deutsche im Vergleich zum Tschechischen einen weitaus stärkeren analytischen Aufbau und deshalb einen Schwund nominaler Deklinationsendungen aufweist. Sind die Kasus einmal nach außen verlagert, können weitere Relationsmittel modifizierend eingesetzt werden - die Präpositionen. Somit werden die Kasus im Deutschen Teil der relationierenden Prozedur der Präposition.
34
Daran ändert meiner Meinung nach auch die Tatsache nichts, dass Personalpronomina ihre spezielle Formen (z.B. ihm, ihn) haben. Es sind meines Erachtens Reste der Flexion, die auch z.B. im Englischen (him, his) -in einer durchaus nicht flektierenden Sprache- erhalten blieben.
35
Die Kasusendungen des Genitivs bei den Maskulina und Neutra im Singular und die Dativendung im Plural sind Markierungen der rein syntaktischen Kasus. Es wird hier keine „adverbiale Bedeutung induziert", um in der Terminologie SkaliCkas zu bleiben. Da die Kasusendungen am Nomen kein vollständiges Flexionsparadigma bilden, sind sie als Reste der Flexion aufzufassen. In diesem Zusammenhang vgl. den Abschnitt Uber den Kasusverfall im Deutschen bei Wegener (1995, 154-163).
243
Deutsche und tschechische Präpositionen
3.3. Kontrastierung von an und na anhand eines Beispiels (Bl) 5.Beide Regierungen werden Möglichkeiten technischer Verbesserungen im Reiseverkehr prüfen, einschließlich einer zügigen Abfertigung an den Grenzübergangsstellen sowie der Eröffnung weiterer Grenzübergänge. S.Obê vlády budou zkoumat moznosti technickych zlepseni ν cestovnim ruchu, vcetnë plynulého odbavování na hranicnich prechodech, jakoz i otevrení dalsich hranicnich prechodû. (Aus: Benz (1996) Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, S. 267) Im Blick auf an und na lässt sich der Textabschnitt aus dem oben genannten Vertrag folgendermaßen analysieren. Das zu Relationierende (R), das zu Beziehende (B), und an/na werden in einer Matrix dargestellt: R
an/na
Β
Einer zügigen Abfertigung
an
den Grenzübergangsstellen
Plynulého odbavování
na
hranicnich prechodech
Fließend Abfertigung
na
Grenzübergang
Gen.Sg.
Lok.Pl.
Matrix 1 Die Abfertigung erfolgt beim Passieren der Grenze im Bereich der Grenzübergänge. Diese Tatsache wird im Tschechischen und im Deutschen unterschiedlich zum Ausdruck gebracht. Im Tschechischen erscheint Β mit dem Kasus Lokativ als Positionierung einer Handlung36. Gleichzeitig erfolgt eine Relationsherstellung durch na, indem Β als Adresse für R bestimmt wird. Die Versprachlichung über die Kombination 36
Es gibt bisher keine im theoretischen Rahmen der Funktionalen Pragmatik formulierte Kasustheorie. Auf der anderen Seite existieren bereits Ansätze in Willems (1997), Eroms (1998), die genutzt werden können, um die Interaktion mit den relationierenden Prozeduren von art und na darzustellen. Im Sinne dieser Darstellungen kann die These aufgestellt werden, dass mit dem Lokativ als adverbialem Kasus (im Skaliëkas Sinne) der Sprecher dem Hörer eine Positionierung der Handlung signalisiert. Durch den Lokativ wird Β zur Position für R.
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Petr Bednarsky
na + Lokativ (Adressierung + Positionierung einer Handlung), die unter Berücksichtigung der nennenden Prozeduren von R plynulého odbavování und Β hranicních prechodech eine Interpretation bekommt, die sich als „die Grenzübergangsstelle (R) ist der Ort, an dem die Abfertigung stattfindet" interpretieren lässt. Im Deutschen signalisiert der Dativ „nur", dass es sich um ein bestehendes Verhältnis (vgl. Willems 1997) zwischen R und Β handelt. Die eigentliche Relationierung erfolgt durch an, das ein Vereinen des R mit Β bewirkt. Dabei stellt sich die Frage, wie weit das Vereinen trägt, d.h., wie die nennenden Prozeduren von R und Β das Vereinen des R mit Β prägen bzw. modifizieren. In diesem Beispiel lässt sich der Bezug zwischen R einer zügigen Abfertigung und Β den Grenzübergangsstellen interpretieren in dem Sinne, dass die Abfertigung „so nah wie möglich", d.h. bereits „im Rahmen" der Grenzübergangsstellen erfolgt.
4. Zusammenfassung Im Deutschen (siehe Abbildung 5) ist die Präposition der .Hauptakteur' der Relationierung. Die Kasus sind Teil der Relationierung, d.h. sie operieren zwischen R und B. R (hier: Abfertigung) und Β (hier: Grenzübergangsstellen) werden als sprachliche Entitäten aufgefasst, die von der jeweiligen Präposition in den durch die nennende Prozedur charakterisierten Bezug gestellt werden. So lässt sich formulieren: Im Deutschen werden die Kasus zu grammatischen Kasus und die Präpositionen werden als paraoperative Sprachmittel eingesetzt; die nennende Prozedur wird zum Zweck der Relationierung umfunktioniert. Dabei werden die grammatischen/syntaktischen Kasus durch die Präpositionen zu adverbialen/ konkreten Kasus. Das Zusammenspiel zwischen Präposition und Kasus besteht darin, dass bei den adverbialen Kasus durch den Dativ eine statische, durch den Akkusativ eine dynamische Variante der Relation gewählt wird. Somit stellen die Kasus (statisch, dynamisch) zusammen mit den nennenden Prozeduren des R, Β und des Verbs (lokal, temporal, kausal, usw.) eine Interpretation der relationierenden Prozedur an bereit. Die Konsequenz ist, dass der Bezug zwischen R und Β praktisch mittels der Präposition an allein37 realisiert wird.
37
Grießhaber (1999a) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Präpositionen im Deutschen komplexe Relationen zum Ausdruck bringen.
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Deutsche und tschechische Präpositionen
den
Abfertigung
R
rei. Prozedur
Präp.+
Grenzübergangsstellen
Β
Kasus
Abbildung 5: Präpositionen und Kasus im Deutschen
Im Tschechischen (siehe Abbildung 6) beruht die Relation zwischen R und Β auf den Kasus und auf der entsprechenden Präposition. Die einzelnen Kasusendungen (hier: -ech) signalisieren einzelne Kasus (hier: Lokativ), die auf Grund ihrer Bedeutung das Nomen (hier: pfechody = Übergangstellen) modifizieren. Das durch den Kasus modifizierte Nomen wird durch die jeweilige Präposition weiter spezifiziert, d.h. Β wird mit R (hier: odbaveni = Abfertigung) auf bestimmte Weise relationiert. Für das Tschechische ist festzuhalten (siehe Abbildung 6), dass Kasus und Präpositionen gleichermaßen an der Relationierung beteiligt sind. Die Kasus haben die Aufgabe, die nennenden Prozeduren der zu relationierenden Nomina für die Relation zu spezifizieren, d.h. die Kasus öffnen bzw. modifizieren in jeweils spezifischer Weise die nennende Prozedur des Nomens für die Relation. So partizipiert der Kasus im Tschechischen direkt an der Ausgestaltung der Relation. Zahl und Funktionen der Kasus einer flektierenden Sprache reichen aber nicht aus, deren mannigfaltige Bezüge zum Ausdruck zu bringen. Deswegen müssen die Kasus mit weiteren relationierenden Elementen interagieren: mit den Präpositionen. Somit besteht prinzipiell jede Verbindung mit einer Präposition im Tschechischen aus der operativen Funktion des Kasus und der relationierenden Funktion der Präposition. Aus diesem Grund erscheint die Präposition im Tschechischen als Kasusmodifikator.
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Petr Bednarsky
prechod ech
odbavováni
Lokativ
rei. Prozedur
Präposition
Β
Kasus
(odbavováni = Abfertigung; prechod-y » Übergänge Nom. Pl.) Abbildung 6: Präpositionen und Kasus im Tschechischen
Für den Sprachvergleich ergibt sich Folgendes: Der Sprachzweck der InnersatzRelation zwischen R und Β bildet das notwendige Tertium comparationis. Die Sprachmittel an und na realisieren diesen Sprachzweck, der sich aus den kommunikativen Bedürfnissen in den Sprachen ergibt. In den beiden Sprachen wirkt ein Formungsprinzip, das die Sprachmittel an und na dem Sprachzweck InnersatzRelation entsprechend jeweils sprachspezifisch ausgestaltet. Im Deutschen zeigt sich das isolierende, analytische Verfahren als die Tendenz, die operativen von den nennenden Ausdrücken zu trennen. Die Ausdrücke des operativen Feldes im Tschechischen (Präpositionen und Kasus) weisen dagegen die Neigung auf, mit B, d.h. mit dessen nennender Prozedur zu fusionieren. Somit wird der flektierende/fusionierende, synthetische Charakter des Tschechischen deutlich, auf Grund dessen die Ausdrücke des operativen an die des nennenden Feldes gebunden werden.
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Deutsche und tschechische Präpositionen
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Kristin Bührig
Zur Strukturierung von Diskurs und Hörerwissen: auf jeden Fall im alltäglichen Erzählen und in der Hochschulkommunikation1 1. Einleitung Obwohl der komplexe Ausdruck aufjeden Fall sowohl in mündlicher als auch in schriftlicher Kommunikation relativ häufig zum Einsatz kommt, findet er in der Forschungsdebatte kaum Beachtung. Allein in den spärlich gesäten Untersuchungen zu jedenfalls ist er z.B. in Fußnoten zu finden oder auch in Wörterbucheinträgen, in denen eine synonyme Bedeutung beider Ausdrücke konstatiert wird. Der folgende Beitrag enthält exemplarische Analysen zu aufjeden Fall, die anhand von Diskursausschnitten aus dem alltäglichen Erzählen und der Hochschulkommunikation vorgenommen werden. Die Argumentation orientiert sich zunächst an den Forschungsergebnissen zu jedenfalls. Diesem Ausdruck wird die Funktion attestiert, das Ende einer Abschweifung bzw. die Rückkehr zu dem eigentlichen Thema zu markieren (vgl. z.B. Thim-Mabrey 1985, Pérennec 1990, Dalmas 1995) sowie den Inhalt der betreffenden Äußerung gegenüber etwas vorherig Gesagtem um so fester zu behaupten (vgl. z.B. Weydt 1979). Treffen diese Ausführung zu, ließe sich der Ausdruck jedenfalls zu den Ausdrucksmitteln zählen, die dem Funktionskomplex der .kommunikativen Gewichtung' (vgl. Hoffmann 1995) angehören. Mit diesen Beobachtungen rückt der Zusammenhang zwischen sprachlicher Interaktion bzw. der Strukturierung von Diskursen und der Verarbeitung von Wissen in den Blick, der seit einiger Zeit Einzug in die Grammatikforschung hält. Daher seien, bevor es konkret um auf jeden Fall geht, einige Überlegungen zum Verhältnis von Interaktion und Grammatik sowie Anhaltspunkte zum terminologischen Umfeld der Untersuchung von Ausdrücken, die in diesen Bereich gehören, angeführt. 1.1. Grammatik und Interaktion: Diskursmarker Mit einer Überschreitung der Satzgrenze bzw. der Grenzen erdachter Beispielsätze werden auch Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Grammatik und Interaktion behandelt.2 Sprachliche Einheiten wie z.B. .Äußerung' oder ,Satz* ziehen das Forschungsinteresse auf sich, wobei u.a. den Rändern beider Einheiten eine besondere 1
Ftlr anregende Diskussionen und hilfreiche Anmerkungen danke ich an dieser Stelle Claudia Böttger, Jutta Fienemann und Ludger Hoffmann.
2
Für einen bibliographischen Überblick vgl. z.B. Hoffmann 1998.
250
Kristin Billing
Aufmerksamkeit gilt. So wird z.B. das Satzkonzept im Hinblick auf den .möglichen Satz' (als eine Form der Herstellung von Turnkonstruktionseinheiten) mit neuem Interesse betrachtet (vgl. z.B. Richardson 1981, Schegloff 1979, 1996, Sacks, Schegloff & Jefferson 1974, Selting 1995). In diesem Zusammenhang erfreut sich ein weiterer Phänomenbereich wachsender Beliebtheit, der Ausdrücke beinhaltet, die ihren Aufgabenbereich in der Strukturierung und Organisierung von Gesprächen haben, die sog. .discourse markers'3 bzw. .Diskursmarker'. Mit .Diskursmarkern' ist nicht eine Klasse von Ausdrücken gemeint. Vielmehr wird mit dem Begriff .Diskursmarker' eher ein Funktionsbereich grammatisch optionaler Elemente bezeichnet, die in der Regel im Vor-Vorfeld bzw. Vorfeld einer Äußerung4 positioniert werden und einen reduzierten semantischen Gehalt sowie häufig eine phonologische Kürzung aufweisen. Ihre Funktion liegt, so Fraser 1996, darin, die Beziehung einer Äußerung zum vorangehenden Diskurs zu signalisieren, indem sie den Hörer instruieren, wie die Äußerung, die einen Diskursmarker enthält, zu interpretieren ist. Die Forschung geht davon aus, daß Adverbien, Phrasen, Inteijektionen, koordinierende und subordinierende Konjunktionen als Diskursmarker eingesetzt werden können. So sei es möglich, daß ein und derselbe Ausdruck z.B. einmal als Diskursmarker, ein anderes Mal als Konjunktion fungiere.5 Aus dieser Beobachtung resultiert zum einen die Auffassung, daß es sich bei Diskursmarkern und beispielsweise gleichlautenden Adverbien um jeweils homophone Formen handelt und die pragmatische Bedeutung des Diskursmarkers von der semantischen Bedeutung des Adverbs klar abgegrenzt sei.6 Die entgegengesetzte Meinung geht demgegenüber davon aus, daß sich Diskursmarker in einem Prozeß der Grammatikalisierung7 aus ihren Quellausdrücken entwickeln, wobei synchron auch beide Verwendungsformen zu beobachten seien.8 Ein Verdienst der Untersuchung betreffender Ausdrücke und ihrer diskursiven Funktion ist auch darin zu sehen, daß die Erforschung von Kohärenz nicht auf 3
4
Diesen Terminus prägt Schiffrin 1987. Andere Bezeichnungen, die sich in der Literatur finden lassen, lauten z.B. .pragmatic marker' (Fraser 1996, Brinton 1996), .discourse particle' (Schourup 1985, Abraham 1991), .pragmatic particle' (Östmann 1981), .pragmatic expression' (Erman 1987), .discourse connectives' (Blakemore 1987, 1988). Für einen neueren Überblick über die terminologische Vielfalt vgl. z.B. Jucker & Ziv 1998, Lenk 1998, GUnthner 2000. Für einen neueren Überblick über die existierende Terminologie zu topologischen Fragen vgl. z.B. Rehbein 1992, Auer 1997, Zifonun et alii 1997.
5 6
Vgl. z.B. die Arbeiten von Göhl & GUnthner 1999 zu weil, GUnthner 2000 zu obwohl. Vgl. z.B. Fräsers Arbeit zu now 1990.
7
Zu einer Kritik am Begriff der „Grammatikalisierung", die das sprachlichen Wissen von Aktanten und eine Routinisierung sprachlicher Formen in den Vordergrund rUckt, vgl. Redder 1992. Vgl. z.B. Stenström 1998, Göhl & GUnthner 1999, GUnthner 2000.
8
auf jeden Fall
251
zwei adjazente Äußerungen beschränkt wird. So unterscheidet z.B. Lenk 1998 Kohärenz auf lokaler und globaler Ebene: ,Jjocal coherence are those relations between segments in discourse that appear immediately adjacent to each other, whereas global coherence relations are the relations between segments in discourse that appear further apart, with other stretches of discourse inbetween."9 Der Gebrauch von Diskursmaricern ist, so Lenk, in der Regel interaktiv motiviert: „The speaker wants to guide the hearer's understanding and indicates the connections between discourse segments so that the hearer's final interpretation will be as close as possible to her intentions".10 Globale Kohärenz werde beispielsweise dann signalisiert, wenn der Sprecher nach einer Abschweifung auf ein ursprüngliches Thema zurückkomme. Im Englischen bietet sich dafür u.a. der Ausdruck anyway an, der äußerungseinleitend verwendet wird. Für das Deutsche ist von Thim-Mabrey 1985, Pérennec 1990 und Dalmas 1995 in ähnlicher Form u.a. der Ausdruck jedenfalls untersucht worden (s.o.), allerdings lediglich anhand von Beispielen aus journalistischen oder literarischen Texten. Gemeinsam ist den genannten Arbeiten, daß sie sich vorrangig mit der Frage beschäftigen, wie die sprachliche Interaktion in Gesprächen konstituiert, geregelt und gesichert wird. Hiermit ist nur ein Bereich sprachlichen Handelns angesprochen, der sich mit Ehlich 1987 als .formale Kooperation' bestimmen läßt. Sprachliches Handeln mit seinen Formen dient aber nicht nur der Aufrechterhaltung von Gesprächen, sondern läßt sich auch als .materiale Kooperation* bestimmen: Das Verständigungshandeln zwischen Sprecher und Hörer folgt einem Zweck, in dem die Bedürfnisse der Gesprächspartnerinnen umgesetzt weiden." Sprachliches Handeln nimmt damit notwendigerweise sowohl Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit als auch auf den mentalen Bereich der Interaktanten. Die Vermittlung zwischen beiden Größen leisten sprachliche Formen, indem Wissen mittels Sprache und durch Zugriff auf die Psyche des Hörers einer zweckgemäßen Weiterverarbeitung zur Verfügung gestellt wird.12 Mit der Frage, wie sprachliche Einheiten in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, gewinnt die diskursive Struktur, die von den Zwecken sprachlichen Handelns und konstitutiven Tätigkeiten von Sprecher und Hörer bestimmt ist, im Hinblick auf den syntaktischen Aufbau einer einzelnen Äußerung an Bedeutung. Daher sollen im folgenden einige Überlegungen hinsichtlich der Rolle von auf jeden Fall beim Aufbau einer Äußerung vorgestellt werden. 9
Vgl. a.a.O.: 27, Fußnote 19.
10
Vgl. a.a.O.: 49.
11
Zu diesen Grundgedanken einer handlungstheoretischen Sprachwissenschaft vgl. Rehbein 1977, Ehlich & Rehbein 1979.
12
Im Rahmen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse ist diese Sprachauffassung in einem komplexen Grundmodell niedergelegt, innerhalb dessen die außersprachliche Wirklichkeit mit , P \ das Wissen und die Psyche von Sprecher und Hörer mit ,P' und das verbalisierte Wissen mit ,p' konzeptuell und terminologisch von einander unterschieden werden (vgl. Ehlich & Rehbein 1986).
252
Kristin Buhng
1.2. Auf jeden Fall im Rahmen einer Äußerung Mit Zifonun, Hoffmann & Strecker (1997) ließe sich der Ausdruck auf jeden Fall als ,Diktumserweiterung'13, als Resultat einer .aufbauenden Operation'14 verstehen. Das Autorenteam beschäftigt sich zwar nicht mit auf jeden Fall, ordnet jedoch die konstruktions verwandten Ausdrucksmittel in jedem Fall und auf alle Fälle in die Kategorie der Diktumserweiterungen (vgl. a.a.O.: 863) und, mit Blick auf die Auswirkung auf die Bedeutung des Diktums, in die Gruppe der ,Modalfunktionen' (vgl. a.a.O.: 793) ein, die auf dem einer Proposition zugedachten Wissensstatus operieren, sofern dieser Status als repräsentatives Wissen angegeben ist. Mit dem Einsatz von Modalfunktionen kann zweierlei erreicht werden: Zum einen kann die Möglichkeit der Existenz oder des Eintretens eines Sachverhaltes zum Ausdruck gebracht werden. Zum andern kann der Grad an Wahrscheinlichkeit, daß ein Sachverhalt eintritt oder besteht, angegeben werden (vgl. a.a.O.: 861/ 862). In jedem Fall und auf alle Fälle gehören, so Zifonun, Hoffmann & Strecker zu den Modalfiinktionen, die etwas als „eher wahrscheinlich" angeben (vgl. a.a.O.: 863). Auf der syntaktischen Ebene haben die Diktumserweiterungen den Status von .Supplementen' (vgl. a.a.O.: 792). Auf alle Fälle und in jedem Fall haben den Status von .Adverbialsupplementen' bzw. .Satzadverbialia' (vgl. a.a.O.: 1124), die zusammen mit einem Satz einen neuen Satz ergeben. Nimmt man die semantische Bestimmung von in jedem Fall und auf alle Fälle mit der syntaktischen zusammen, ergibt sich eine Klassifizierung als ,rein assertive Adverbialia' (vgl. a.a.O.: 1126), die zur Gruppe der ,modalen Satzadverbialia' (vgl. ebd.) gehören. So weisen die Autorinnen darauf hin, daß die Modaloperationen den modalen Satzadverbialia entsprechen (vgl. a.a.O.:
13
Zifonun, Hoffmann & Strecker (1997) betrachten eine .kommunikative Minimaleinheit' als Einheit des sprachlichen Ausdrucks und als formales Gebilde. Ihre Struktur werde im wesentlichen von dem bestimmt, was mit ihnen zum Ausdruck zu bringen ist. Um innerhalb einer grammatischen Analyse auch Strukturen erfassen zu können, die den kommunikativen Funktionen geschuldet sind, nehmen die Autorinnen und Autoren eine semantische Grundeinheit, das .Diktum' als Pendant zur Ausdruckseinheit an, der nicht das Ausdrucksmittel zu Grunde liegt, sondern seine Leistung, d.h. seine Bedeutung: „Unter einem Diktum verstehen wir die Bedeutung einer kommunikativen Minimaleinheit, das, was mit ihr in einer spezifischen Interpretation gesagt werden kann." (vgl. a.a.O.: 597). Dikta können in mehr oder weniger ausgebauter Form vorliegen. Die Operationen, die für den Ausbau eines Diktums genutzt werden, sind semantischer Natur und definieren sich über die Gleichartigkeit ihrer semantischen Funktion (vgl. a.a.O.: 790). Um die verschiedenen Operationen, die einen Ausbau von Dikta ermöglichen, zusammenfassend ansprechen zu können, werden diese insgesamt als .Diktumserweiterungen' bezeichnet (vgl. a.a.O.: 791).
14
.Aufbauende Operationen' werden von Zifonun, Hoffman & Strecker (1997) als isolierbare Teilakte kommunikativer Handlungen verstanden. Ihnen ist gemeinsam, daß sie dazu dienen, Dikta differenzierter zu gestalten, als dies allein mit elementaren Propositionen und Modusindikatoren möglich wäre (vgl. a.a.O.: 790).
auf jeden Fall
253
1125). Die Wirkung von rein assertiven Adverbialia fuhren sie darauf zurück, daß diese Ausdrücke, wie z.B. auch gewiß, bestimmt und gewißlich, wahrheitsfunktional gesehen, den Wahrheitswert der Äußerung nicht verändern, in der sie verwendet werden. Rein assertive Adverbialia vermitteln keine Information, die über das hinausgeht, was der Restsatz ausdrückt, auf den gefolgert werden kann. Hiermit sei ihre Verwendung eigentlich redundant. Ihre Verwendung löst jedoch eine konventionalisierte Implikatur aus, die den Geltungsanspruch für eine ausgedrückte Proposition noch zusätzlich unterstreicht (vgl. a.a.O.: 1127). Auf jeden Fall kann nicht nur als Supplement verwendet werden, sondern auch zur Realisierung einer Äußerung, z.B. als Kommentar zu einer vorherigen Äußerung oder in Beantwortung einer Frage. Darüber hinaus ist auf jeden Fall innerhalb einer Äußerung in verschiedenen Positionen verwendbar, z.B. zu Anfang einer Äußerung oder in ihrem Mittelfeld. Hat der Ausdruck in diesen unterschiedlichen Positionen bzw. Verwendungen die gleiche Funktion? Als Supplement betrachtet rückt zudem der Blick in der Beschäftigung mit auf jeden Fall auf das vom Sprecher Gesagte, das im Sinne einer Proposition als Einheit und als Produkt der Sprechtätigkeit und einer gedanklichen Tätigkeit betrachtet wird. Welche Bedeutung jedoch einem Supplement für eine sprachliche Einheit im interaktiven Zusammenhang zukommt, ist nur dann vollständig zu erfassen, wenn Sprecher und Hörer gleichermaßen als Aktanten und das Gesagte als Wissen betrachtet werden, das in einer bestimmten Sprechsituation verbalisiert wird.15 Als Bestandteil einer Äußerung bzw. als eigenständige Äußerung soll auf jeden Fall anhand von Ausschnitten aus dem alltäglichen Erzählen und der Hochschulkommunikation mit Blick auf die interaktiven Bedingungen seiner Verwendung und auf seine Form etwas eingehender betrachtet werden.
2 .Auf
jeden Fall im alltäglichen Erzählen
Das als erstes präsentierte Beispiel stammt aus einem Gespräch zwischen drei jungen Frauen, die sich über ihre bisherigen Berufs- und Lehrerfahrungen austauschen.16 Die Sprecherin Ulrike (Ul) erzählt auf Anfrage von Julia (Segment 1) von dem Mißerfolg und der in ihren Augen ungerechten Bewertung einer Lehrprobe, die die Rechtschreibung deutscher Straßennamen zum Gegenstand hatte.
15
Zu einem handlungstheoretischen Sprach- bzw. Wissensmodell vgl. die Ausführungen in Ehlich & Rehbein 1986 bzw. Rehbein 1999.
16
An dieser Stelle sei Jutta Fienemann von Herzen gedankt, die mir die Tonbandaufnahme dieses Gespräches, aus dem auch B3 stammt, noch vor der Veröffentlichung ihrer Dissertation überließ. Für eine detaillierte Untersuchung des Erzählens in diesem Gespräch siehe Fienemann 1998.
254
Kristin Biihrig
Bl: Lehrprobe (UL): Ulrike/(JU): Julia/(CH): Christa (Ol) (JU) Und [ähm] · · wie lief das mit den, mit [den] · · · Leuten? [gedehnt [zögerlich (...)
(04) (JU) Ham die dich da total fertig gemacht? (05) (JU) Diese drei, (die) da? (06) (UL)Nee, (07) (UL)die die haben mir hinter/ die haben gesagt, die Schiller hätten das, was ich denen beibringen wollte, net kapiert. (08) (JU) Aha! (09) (UL)· · Dabei war die Anwendungs... (10) (JU) Wie wollen sie das denn kontrollieren? (11) (UL)· · S war kontrolliert in der Stunde. (12) (UL)Die Schüler hatten s kapiert. (13) (UL)((l,ls)) Ich hätte die Regeln zu kompliziert erklärt. (14) (UL)· Zu verkopft. (15) (UL)· Zuuu · · was weiß ich? (16) (UL)((ls)) S ging um Groß- und / äh · um Schreibung von Straßennamen. (17) (JU) ·Ηήί (...) (37) (UL) Auf jeden Fall gibt s da drei Regeln, ne? (38) (JU) Hift (39)(UL)Odervi£i. (40) (JU) HÄ (41) (Chr) Echt? (42) (Chr) Ja w/wie... (43) (Chr) Damit habe ich mich noch nie befaßt! (44) (UL)Jaa (45) (Chr) Sag mal schnell! (46) (UL) ((Lacht)) (47) (Chr) Nur mal so η Beispiel! (48) (JU) Es gibt zum Beispiel eine Regel, wenn man BiirgermeisterBecker-Straße, da wird alles mit Bindestrich. (...)
(82) (UL) Und ,Jägerstraße" schreibt man zusammen, jà. (83) (JU) ΗΛ (84) (CH) HÄ (85) (UL) Weil man s der .Jäger", [da is ja das „ger" schon drin.] [schneller (86) (CH) Hm'hni (87) (CH) Hiñhrtí (88) (JU) Hm (89) (UL) Oder · was weiß ich? (90) (JU) · · Hifi
auf jeden Fall
255
(91) (UL) [Äh] · · „Häuserstraße" [oder]... [gedehnt [leise (92) (JU) ((ls)) ((Schmunzelt ls)) (93) (UL) Is ja egal, ne? (94) (JU) ((Lacht)) ((lacht ls)) (95) (UL) ((Lacht ls)) (96) (UL) [Auf je]den Fall: ich mit Stadtplan gearbeitet, mit [lachend Kopien, mit Gruppenarbeit, mit pipapo. (97) (CH) Jajá (98) (CH)[Oder, oder]... [schneller (99) (CH) Ηή (100) (UL) Mit · · irgendwelchen · · mit, mit (eigenen zurecht geschnittenen) Straßenschildern, die die dann zusammenkleben mußten. (101) (CH) Hm In dem vorliegenden Einschub, dessen Ende ab Segment 82 präsentiert ist, versucht Ulrike auf die Bitte von Christa hin (Segment 45) gemeinsam mit Julia (JU) anhand von Beispielen einige Regeln der Rechtschreibung zu rekonstruieren. Eine letzte Regel, die in diesem Einschub genannt wird, betrifft das Zusammenschreiben zusammengesetzter Straßennamen, die anhand des Namens „Jägerstraße" von Ulrike rekonstruiert wird (Segmente 82 bis 85). Ulrike sucht im Anschluß noch nach weiteren Beispielen, bricht diese Suche jedoch in Segment 91 ab und beendet diese Sequenz in Segment 93 mit „ls ja egal, ne?". In Segment 96 „Auf jeden Fall: Ich mit Stadtplan gearbeitet, mit Kopien, mit Gruppenarbeit, mit pipapo." kehrt sie dann zu der Wiedergabe des Verlaufs der betreffenden Unterrichtsstunde zurück. Ist der dokumentierte Einschub nun als eine .Abschweifung' von einem vorherigen Thema zu verstehen, deren Ende, mit auf jeden Fall'7 angezeigt wird? Untersuchungen zum Erzählen machen deutlich, daß die Wiedergabe früherer Geschehnisse und Erlebnisse nicht durchgängig und stringent an ihrem realen, chronologischen Ablauf orientiert ist. Vielmehr werden von der erzählenden Person vielfach Detaillierungen zu einer vergangenen Situation oder Bewertungen des Geschehens eingebaut, die im Rahmen einer jeweilig aktuellen Sprechsituation erfolgen." Wie Fienemann 1998 zeigt, kommt es auf diese Weise zu einer für das .Erzählen' charakteristischen Bewegung zwischen einer ehemaligen, vorgestellten Situation, dem .Erzählraum' und der jeweils aktuellen Sprechsituation, dem .Sprechzeitraum', die Sprecher und Hörer vor spezifische Orientierungsanforderungen stellen. Den Mitvollzug dieser Bewegung signalisieren die Hörer in 17
Aus PlatzgrUnden beschränke ich mich in den vorliegenden Ausführungen auf die Verwendung des Ausdrucks auf jeden Fall in Segment 96. Ulrike verwendet auf jeden Fall auch in Segment 37. Eine Berücksichtigung dieser Verwendung würde die Argumentation von dem Punkt ablenken, den ich im Hinblick auf das .Erzählen' herauszuarbeiten versuchen möchte.
18
Vgl. z.B. Quasthoff 1980, Rehbein 1980, Hausendorf & Quasthoff 1996, Fienemann 1998.
256
Kristin Bilhrig
der Regel durch konvergente Hörersignale; sprecherseitige Äußerungen von Bewertungsresultaten werden häufig durch hörerseitige bewertende Äußerungen und Kommentare, die in die gleiche Richtung wie die des Sprechers gehen, unterstützt. In Β1 helfen die Hörerinnen mit ihrem eigenen Wissen über die Straßennamen aus, so daß sich aus der Detaillierung eines Elements der erzählten Geschichte eine Sequenz verselbständigt In der Rekonstruktion der Regeln, die mit zahlreichen Beispielen durchsetzt ist, macht Ulrike jedoch auch klar, wie anschaulich sie erklären kann. Dem steht das Urteil der Prüfenden gegenüber, daß Ulrikes Erklären der Regeln in der Lehrprobe „zu kompliziert" (Segment 13) bzw. „zu verkopft" (Segment 14) gewesen sei. Ein weiterer Widerspruch zu diesem Urteil ist in dem didaktischen Vorgehen Ulrikes zu sehen, das sie in den Segmenten 96 und 100 wiedergibt. In Segment 96 „Auf jeden Fall: ich mit Stadtplan gearbeitet, mit Kopien, mit Gruppenarbeit, mit pipapo." verdeutlich sie diesen Widerspruch reliefartig, indem sie mit dem infiniten Partizip „gearbeitet" das Wissen über ihre Vorgehensweise sprachlich vom Resultat19 her organisiert. Das Rekonstruieren der Rechtschreibregeln in der aktuellen Sprechsituation und das Verbalisieren von Wissen über die vergangene Prüfungssituation, also die Wiedergabe und die Rückkehr zum Erzählen werden von Ulrike mit auf jeden Fall und dem Partizip „gearbeitet" zu einem Zusammenspiel verwoben, in dem die Ungerechtigkeit in der Benotung, das .Skandalon'20, das Ulrikes Leidensgeschichte zugrunde liegt, sprachlich eine dramatische Realisierung erfährt.
3 .Auf
jeden Fall im wissenschaftlichen Vortrag
Auch in der Hochschulkommunikation findet sich die Ausdrücke auf jeden Fall. B2 stammt aus einem Vortrag, den eine Wissenschaftlerin (REF) im Rahmen eines sprachwissenschaftlichen Workshops an einer deutschen Universität zum Leseverstehen in der Fremdsprache Englisch hält. B2 Vortrag: Leseverstehen ( 10) (REF) ((1,1s)) Und dann wird der · · Text wiederum rezipiert. (11) (REF) Wobei nich genau · · zu sagen ist, wo eigentlich. (12) (REF) ((ls)) [Ähm] ((ls)) an welcher/ · [also in welchen Zeilen], [gedehnt
[schneller
19
Zur sprachlichen Organisierung von Wissen mit Hilfe von Partizipien vgl. Redder 1993.
20
Mit dem .Skandalon' benennt Rehbein (1980) ein Prinzip, das das Erzählenswerte unterschiedlicher Typen von Geschichten beinhaltet und die Versprachlichung von Wissen im Erzählen steuert (vgl. a.a.O.: 530 et passim). In dieser Arbeit unterscheidet er auch verschiedene Erzähltypen und Erzählverfahren, wie z.B. das .Reliefieren*.
257
auf jeden Fall
(13) (REI7)
(14) (REF) (15) (REF) (16) (REF)
· · [Das ist] · in Partiturfläche vierhundertvierundzwanzig, [langsamer da liest sie dann erneut. ((ls)) Und nimmt · in vierhunderfünfundzwanzig die Hand so an die Wange. · · · Das is möglicherweise schon · · ein Hinweis darauf, daß es negativ ((ls)) ähm · evaluiert wird. · · Auf jeden Fall ((1,1s)) ((schnalzt kurz)) kommt es dann · · Ende von vierhunderfünfundzwanzig dazu, daß sie zurückblättert.
In dem präsentierten Vortragsausschnitt führt die Referentin das Auditorium durch die Transkription einer Videoaufnahme, die das Lesen eines Textes aus einem psychologischen Lehrbuch sowie von der Probandin geäußerte Überlegungen im Sinne eines .Denkprotokolls' dokumentiert. Während die Vortragende in ihren Äußerungen zu Anfang des Ausschnitts (Segmente 10-14) die Tätigkeiten der Versuchsperson beschreibt, wertet sie in Segment 15 die zuvor in Segment 14 beschriebene Handbewegung der Versuchsperson als ein eventuelles Anzeichen für ein Verstehensproblem. Nach einer kurzen Pause geht sie in Segment 16 wieder zum Beschreiben über und leitet diese Äußerung, die eine weitere nonverbale Aktion der Versuchsperson zum Inhalt hat, mit „auf jeden Fall" ein. Läßt sich nun auch für dies zweite Diskurs fragment eine interaktive Notwendigkeit rekonstruieren, die die Referentin dazu veranlaßt, ihre Äußerung in Segment 16 mit „auf jeden Fall" zu beginnen? Wenn wir vor diesem Hintergrund Segment 15 nochmals betrachten, wird deutlich, daß die Referentin ihre Interpretation der Handbewegung der Versuchsperson mit „möglicherweise" als einen .Vorschlag' kommuniziert,Vorschläge'21 weisen eine ,Nachgeschichte'22 auf, in deren Ablauf der Hörer eine Bewertung des Vorschlags anhand seines eigenen Wissens vornimmt. Je nachdem, ob der Vorschlag vom Hörer positiv oder negativ bewertet wird, übernimmt er nachfolgend die vom Sprecher vorgeschlagene Tätigkeit in seine zukünftige Handlungslinie oder er lehnt den Vorschlag ab.23
21
Zur Struktur des .Vorschlagens' vgl. Rehbein 1977: 316-322.
22
In Anlehnung an Überlegungen von Ehlich 1972 entwirft Rehbein 1977 eine Handlungstheorie von Sprache, die nicht nur das Produkt von Äußerungen berücksichtigt, sondern dem Prozeßcharakter sprachlichen Handelns Rechnung trägt. Während unter der .Vorgeschichte' einer sprachlichen Handlung z.B. Planungsprozesse gefaßt sind, umfaßt die .Nachgeschichte' die Folgen einer sprachlichen Handlung, die systematisch zum Vollzug eines .Handlungsmusters' gehören (vgl. a.a.O.: 181-184).
23
Diese Schritte sind als eine .Tiefenstruktur' zu verstehen, die im Sinne eines .sprachlichen Handlungsmusters' als gesellschaftlich ausgearbeitete Form einer Handlungsalternative vorliegt (zum Konzept .sprachlicher Handlungsmuster' vgl. Ehlich & Rehbein 1979, 1986). Selbstverständlich kann es auch zu .Störungen' in der Realisierung des .Vorschlagens' kommen, etwa dann, wenn der Hörer den Sprecher gar nicht um einen Vorschlag gebeten hatten, diesen nicht versteht etc.
258
Kristin Biihrig
Im vorliegenden Transkriptionsausschnitt hat der Vorschlag der Referentin keine zukünftige Handlungsalternative eines anderen Gesprächsteilnehmers zum Gegenstand. Vielmehr läßt sich eine kognitive Ausrichtung24 des Vorschlags erkennen, die sich m.E. als Resultat für eine Funktionalisierung des .Vorschlagens' für die Wissenschaftskommunikation ergibt. Wie Ehlich (1993, 1995) und Graefen (1997) betonen, ist die Wissenschaftskommunikation durch eine eristische Struktur gekennzeichnet, so daß Ergebnisse der wissenschaftlichen Betrachtung in der Regel unter Berücksichtung eines potentiellen Widerspruchs eines Hörers bzw. eines Lesers verbalisiert werden (vgl. z.B. Sökeland 1981, Franke 1986, Paek 1993). Indem die Referentin eine Interpretation des Handelns der Versuchsperson vorschlägt, bietet sie dem Auditorium diese Interpretation gleichzeitig zur Bewertung an. Aufgrund des institutionellen Charakters der Sprechsituation und den damit verbundenen Regeln des Sprecherwechsels reagieren die Zuhörerinnen und Zuhörer zwar nicht sofort interaktional, dies geschieht in der nachfolgenden Diskussion, sie führen ihre Bewertungstätigkeit jedoch vermutlich bereits mental durch. Im Zuge des Bewertens konzentriert das Auditorium seine mentalen Tätigkeiten daher nicht allein auf das Verstehen dessen, was die Referentin vorträgt, sondern führt eine eigenständige Wissensabfrage aus, die Kapazitäten vom aktiven Zuhören abzieht. Nach ihrem Vorschlag in Segment 16 liefert die Referentin ein weiteres Wissenselement, das wiederum aus der Beobachtung der im Transkript dokumentierten nonverbalen Aktionen der Versuchsperson stammt. Die Probandin blättert zurück, eine Tätigkeit, die die Referentin mit „kommt es dann dazu" als ein Resultat eines Vorgangs, der von ihr angenommenen Evaluation der Versuchsperson, beschreibt. Im Zusammenhang betrachtet, liefert die Referentin in Segment 16 demnach ein Wissen, das ihren Vorschlag inhaltlich stützt. Daher besteht die Notwendigkeit, die mentalen Tätigkeiten des Auditoriums, das ihren Vorschlag positiv aufnehmen soll, auf dieses Wissen auszurichten. Der Ausdruck auf jeden Fall wird nun m.E. von der Referentin zu genau diesem Zweck eingesetzt.
4. Zu Form und Funktion von auf jeden
Fall
In den zwei bislang präsentierten Diskursausschnitten zeigt der Einsatz von auf jeden Fall vergleichbare interaktive Bedingungen. Mit aufjeden Fall greift der Sprecher auf die mentalen Tätigkeiten des Hörers zu, nachdem dieser nicht allein auf Rezeptionstätigkeiten, auf die Mitkonstruktion der sprecherseitigen Äußerungen im Sinne eines ,Hörerplans,2i konzentriert war: In B1 ist in den turn der ursprünglich erzählenden Person im Zuge der interaktiven Bewegung 24
Zur kognitiven Ausrichtung des ,Begründens' vgl. Ehlich & Rehbein 1986.
auf jeden Fall
259
zwischen Erzähl- und Sprechzeitraum eine diskursive Beteiligung der ursprünglichen Zuhörerinnen eingebettet. Um ihr Erzählen fortsetzen zu können, dirigiert die Erzählerin Ulrike die Aktivitäten der anderen am Diskurs beteiligten Personen auf die Rezeption. In B2 ergibt sich diese Notwendigkeit aus dem von der Referentin kommunizierten Vorschlag, zu dem sie retrograd noch Wissen versprachlicht, das für eine positive Bewertung auf Seiten des Auditoriums relevant ist. Eine weitere Parallele des Einsatzes von auf jeden Fall in den angeführten Beispielen ist in der Positionierung des Ausdrucks an den Beginn der jeweiligen Äußerung, vor dem finiten Verb26 zu sehen. Dieser Position am Anfangsrahmen der jeweiligen Äußerung kommt im gesprochenen Deutsch, wie Rehbein 1992 zeigt, eine besondere Rolle in der Gliederung des Hörerwissens zu. Berücksichtigt man vor diesem Hintergrund die Position von auf jeden Fall innerhalb der bisher präsentierten Diskursausschnitte als ein kommunikatives Mittel, stellt sich zunächst die Frage, welchen Anteil der Ausdruck selber und welchen Anteil die Wortstellung an der bisher rekonstruierten Leistung hat. Dies um so mehr, als sich auf jeden Fall auch im sog. „Mittelfeld" (B3) von Äußerungen findet und darüber hinaus eigenständig zur Realisierung von Äußerungen eingesetzt werden (B4) kann. Im folgenden sollen erst diese Diskursausschnitte hinsichtlich der kommunikativen Leistung von auf jeden Fall betrachtet werden, bevor die Positionierung vor dem finiten Verb des Hauptsatzes behandelt wird. (B3) Lehrprobe Ulrike gibt die Reaktionen einer Freundin, die ihr bei den Vorbereitungen für die Prüfung geholfen hatte, auf die schlechte Benotung der Lehrprobe wieder: (151) (UL) (152) (CH) (153) (UL) (154) (JU) (155) (UL)
Und dann die Helli, die mir/ das · war ne Deutschlehrerin, die das mit mir · · zusammen durchgesehen hatte Hm und gesagt hat „Das läuft auf jeden Fall so. Das is bombensicher.". Hm [Und] „· Komm!"
[zögerlich (156) (CH) (157) (UL) (158) (UL)
Hmhm ((Holt tief Luft 1,1s)) Die hört „drei bis vier". »[Und die schreit los]!
[geflüstert 25
Das Konzept des ,Hörerplans' entwirft Rehbein 1976, 1977 korrespondierend zur Rekonstruktion der sprecherseitigen Planungsprozesse, um die sprachlich-mentalen Tätigkeiten des Hörers im Rezeptionsprozeß erfassen zu können, vgl. hierzu auch Ehlich & Rehbein 1986 sowie Redder 1990.
26
In Β1 fehlt allerdings der finite Verbteil, s.o.
260
Kristin Biihrig
( 159) (UL)
Die · [einen Schrei] !
(160) (JU)
((1,5s)) ((lacht auf))
[schmunzelnd
B3 beinhaltet eine Redewiedergabe (Segment 153), mit der die Erzählerin Ulrike eine in der Vergangenheit an sie adressierte Äußerung wiedergibt, die von einer befreundeten Lehrerin stammt. Mit der betreffenden Äußerung hatte die Lehrerin versucht, Ulrike angesichts ihrer bevorstehenden Lehrprobe zu beruhigen, indem sie den Verlauf der betreffenden Unterrichtsstunde aufgrund Ulrikes Planung als erfolgversprechend bewertet. In dieser Redewiedergabe ist auf jeden Fall hinter dem finiten Verb verwendet und gehört zur Prädikation von Wissen über ein zukünftiges Ereignis. Auf jeden Fall kann jedoch auch eigenständig zur Realisierung einer Äußerung eingesetzt werden, wie das folgende Beispiel zeigt. (B4) Hochschulkommunikation:
Termine
Zwei Kollegen an einer Universität, die Mitarbeiterin FRI und der Professor WIE besprechen die in der nächsten Zukunft anstehenden Termine. (64) (FRI) (65) (66) (67) (68)
(WIE) (FRI) (WIE) (FRI)
(69) (FRI) (70) (FRI)
Nächste Woche is ja auch noch die Geburtstagsfeier für den Kollegen Meier. Hm Da sollte man dann ja wohl auch hingehen, oder? •Auf jeden Fall! [Auf jeden Fall]! [lachend (Lacht 1,8s)) [Okay] [schmunzelnd
In B4 verbalisiert WIE nach einer kurzen Pause auf die Frage von FRI über die Pflicht, eine anstehende Geburtstagsfeier zu besuchen, mit „· Auf jeden Fall!" (Segment 67) eine Einschätzung, die ein Vorliegen dieser Pflicht unterstreicht. Lassen sich auch für diese Diskursausschnitte ähnliche Bedingungen wie in den ersten beiden Beispielen rekonstruieren, die zur Verwendung von auf jeden Fall seitens des Sprechers führen? Die Notwendigkeit, Ulrike zu beruhigen, resultiert aus ihren Zweifeln darüber, eine Unterrichtsstunde konzipiert zu haben, mit der sie die Prüfer überzeugen kann. Situationen des Zweifeins sind durch einen kontinuierlichen Prozeß des zweifelnden Aktanten gekennzeichnet, nach Belegen für ein Nichtzutreffen des Wahrgenommenen oder Erfahrenen bzw. nach Handlungswiderständen für eine zukünftige Handlung im eigenen Wissen zu suchen. Diesen Prozeß zu beenden, ist der Zweck der beruhigenden Äußerung der Lehrerin, die Ulrike
auf jeden Fall
261
wiedergibt „und gesagt hat „Das läuft auf jeden Fall so. Das is bombensicher"." (Segment 153). Damit das Beruhigen seine Wirkung entfalten kann, bedarf es jedoch zunächst einer Intervention in die (ehemalig hörerseitigen) mentalen Tätigkeiten Ulrikes, an der aufjeden Fall beteiligt ist. Auch in B4 ist die Äußerung, die WIE mit „· Auf jeden Fall!" (Segment 67) realisiert, als ein Intervenieren in die mentalen Prozesse von FRI zu verstehen. FRI verleiht ihrer Äußerung mit dem augmentierten27 „oder" einen Interrogativmodus. Obwohl FRI ihren Kollegen auf ein Wissen orientieren will, das er in seiner zukünftigen Terminplanung berücksichtigen soll, setzt sie sich selbst mit der Verwendung des Interrogativmodus in die Rolle einer Person, die eine Bewertung der Zukommensrelation dieses Wissens zum Wissensthema („man") nicht ausführen kann und diese mentale Operation an den Hörer überträgt.28 Ihre Äußerung gewinnt damit den Charakter einer höflich realisierten Empfehlung, deren Annahme sie WIE überläßt. In seiner Entgegnung kombiniert WIE den Ausdruck auf jeden Fall mit dem Exklamativmodus und hält FRI damit zu einer neuen Bewertung der von ihr verbalisierten Zukommensrelation an, für die sie ihr Vorwissen, speziell über den institutionellen Stellenwert von Geburtstagen von Kollegen, nutzen soll. 4.1. Zur Form und zur prozeduralen Qualität von auf jeden Fall Die bislang diskutierten Beispiele zeigen, daß dem Wissen, das im Rahmen einer Äußerung versprachlicht wird, innerhalb derer auch der Ausdruck auf jeden Fall zur Anwendung kommt, gegenüber einem vorgehenden Teil eines Diskurses eine besondere Relevanz aufweist. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich eine Parallele zu den Beobachtungen aus der Forschungsliteratur zu dem Ausdruck jedenfalls, der sich aufgrund seiner bisherigen Beschreibung als ein Mittel zur kommunikativen Gewichtung verstehen läßt (s.o). Eine Hervorhebung verbalisierten Wissens kann, so Hoffmann 1995, durch Intonation, Wortstellung sowie durch lexikalische Mittel realisiert werden. Die genannten Mittel konkurrieren nicht miteinander, sondern wirken zusammen, um eine Hervorhebungsdomäne zu errichten, die einzelne Wörter, Phrasen oder auch ganze Äußerungen umfassen kann. Die Funktion der Hervorhebung liegt darin, die Informationsstruktur einer betreffenden Äußerung zu konturieren, die die hörerseitige Verarbeitung des Wissens steuert (vgl. Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997: 231f.). Bei dem Versuch die spezifische Leistung von aufjeden Fall in den rekonstruierten Konstellationen seiner Verwendung und mit Blick auf die Informationskonturierung zu erfassen, lohnt es sich, als einen ersten Schritt die morphologische Struktur dieses komplexen Ausdrucks eingehender zu betrachten. Als Bestandteile umfaßt er auf, jeden und Fall, drei Sprachelemente, die auch für sich Verwendung finden können und dann der Realisierung eigenständiger Proze27
Zu Sprechhandlungsaugmenten vgl. Rehbein (1979), Kraft (1999).
28
Zur diskursanalytischen Untersuchung des Modus von Äußerungen siehe Rehbein 1999.
262
Kristin Bilhrig
duren dienen. Jeden birgt darüber hinaus in sich bereits eine zusammengesetzte Struktur, die sich mit je, dem deiktischen Element d plus einer Kasus-, Genusund Numerusendung -en angeben läßt. Als .festes Syntagma' (vgl. Rothkegel 1973) hat auf jeden Fall den Charakter einer Präpositionalphrase, in der die integrierte Nominalphrase jeder Fall der Präposition auf appliziert wird, die ihrerseits als Kopf dieser Funktionseinheit fungiert.29 Um die spezifische .operative'30 Qualität dieser Prozedurenintegration zu bestimmen, bedarf es zunächst einer Betrachtung ihrer Bestandteile. Eine Rekonstruktion der Verwendungsgeschichte31 zeigt, daß die nennende Prozedur Fall dazu eingesetzt wird, eine mentale Konfigurierung von Wirklichkeitselementen zu benennen. Diese Konfiguration ist das Resultat einer mentalen Tätigkeit, die das Wissen über Sachverhaltselemente im Hinblick auf ihre Typik (nach jeweils unterschiedlicher Instanz) anordnet. Eine solche Verwendung des Ausdrucks Fall geschieht zunächst nach dem Vorbild der französischen Kanzleisprache und unter dem Einfluß des Lateinischen in textorganisierender Funktion. In Kombination mit jeder, das den Hörer zu einer Versammlung (Assemblage) seines Vorwissens anweist, dient jeder Fall der Evozierung einer .wissensgeleiteten Vorstellungstätigkeit' des Hörers32, die dem Zweck folgt, sich ggf. auch mögliche Konstellationen als konfigurierte Ausprägungen der Wirklichkeit zu vergegenwärtigen. Mit der Konfiguration der Nominalphrase erfährt die relationierende Prozedur33, die mit auf realisiert wird, insofern einen Ausbau, als der Hörer dazu aufgefordert wird, sein Vorwissen als Basis für die Verarbeitung des nachfolgenden Wissens „akzessibel"34 zu machen. Als lokale Präposition (ohne die Konfiguration) relationiert auf, so Grießhaber (1999), zwei Größen, ein zu lokalisierendes 29
Zur ,Konfiguration' als einer Form der Prozedurenintegration, die dem Aufbau von Funktionseinheiten dient, siehe Hoffmann (2003) (in diesem Band).
30
Mit .operativ' wird die Qualität er sprachlichen Prozedur benannt, die mit auf jeden Fall insgesamt realisiert wird. Das Konzept der .Prozedur' führt Ehlich 1991 in Anlehnung an Bühlers Argumentation zu zeigenden Ausdrücken (vgl. Bühler 1934) aus. Ehlich unterscheidet fünf unterschiedliche Typen von Prozeduren: Mittels der .nennenden Prozedur' bewirkt der Sprecher die Aktualisierung von Wissenspartikeln im Hörer. Mit .deiktischen Prozeduren' fokussiert der Sprecher die Aufmerksamkeit des Hörers auf außersprachliche Sachverhalte. Mit Hilfe der .expeditiven Prozedur', wie sie z.B. durch Interjektionen realisiert werden (vgl. Ehlich 1986), greift der Sprecher direkt in die ablaufenden Hörertätigkeiten ein. .Malende Prozeduren' dienen der Kommunikation einer affektiven Befindlichkeit (vgl. vor allem Redder 1994), um eine vergleichbare Befindlichkeit beim Hörer zu erzeugen. Mittels der .operativen Prozedur' bearbeitet der Sprecher verbalisiertes bzw. zu verbalisierendes Wissen p, etwa durch Konjunktionen, Präpositionen oder Verfahren der Determination.
31
Eine Herleitung der folgenden Ausführungen zur Verwendungsgeschichte und zur prozeduralen Qualität der Ausdrucksbestandteile ist aufgrund Platzmangels nicht möglich, sie findet sich in Bührig (in Vorbereitung).
32
Zum .wissensgeleiteten Vorstellen' vgl. Ehlich 1984.
33
Zur Bestimmung der .lokal relationierenden Prozedur' vgl. Grießhaber 1999.
auf jeden Fall
263
Objekt und ein Bezugsobjekt miteinander. Die Ausformung der Beziehung, die mittels der Präposition etabliert wird, geschehe durch das Verb: „Insofern sind die Verben systematisch an dem mittels Präpositionen vermittelten Bezugssystem zwischen LO und BO beteiligt." (vgl. a.a.O.: 90). Im Zug der Konfiguration ist nun eine Größe, das hörerseitige Wissen, das mit jeden Fall angesprochen wird, bereits als Bezugsobjekt und als akzessible Basis benannt. Die Rolle des zu lokalisierenden Objekts wird, vermittelt über das Verb, von dem in der betreffenden Äußerung verbalisierten Wissen eingenommen, das durch den Ausdruck auf mit dem jeweils als akzessible Basis kategorisiertem Wissen relationiert wird. Auf diesem Weg kommt es zu einer Verbindung zwischen hörerseitigem Vorwissen und dem vom Sprecher mit dem Verb in der aktuellen Sprechsituation verankerten Wissen, die die nachfolgende Verarbeitung des Wissens steuert. Die derart hergestellte Verbindung zwischen hörerseitigem Vorwissen und vom Sprecher verbalisierten Wissen kann als Bestandteil der ,Gesamtprädikation'35 eingesetzt werden, so etwa in B3, in der die befreundete Lehrerin die Sprecherin Ulrike mit „Das läuft auf jeden Fall so." angesichts ihrer bevorstehenden Lehrprobe beruhigt. Auch in B4, in dem WIE mit „· Auf jeden Fall!" eine eigenständige Äußerung in Form einer .Analepse' (vgl. Hoffmann 1999) realisiert, ist der Ausdruck Bestandteil der Gesamtprädikation, bei der die Zukommensrelation des Rhemas zu einem Thema von FRI in einer Frage gegenüber WIE zum Zwecke einer Überprüfung kommuniziert wird. 4.2. Zur Positionierung von auf jeden Fall vor dem finiten Verb des Hauptsatzes Mit aufjeden Fall greift der Sprecher, treffen die bisherigen Ausführungen zu, in spezifischer Weise auf die Psyche des Hörer zu, um dessen Vorwissen für die Verarbeitung einer jeweils aktuellen Äußerung als Basis zugänglich zu machen. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie sich eine Positionierung von aufjeden Fall an den Anfang einer Äußerung, die sich in den ersten beiden Beispielen36 findet, auswirkt. Die Anfangsposition einer Äußerung ist in der mündlichen Kommunikation oftmals durch eine Pause mit einer Zäsurierung versehen, mit der für den Hörer die (Neu-) Etablierung eines Wissens angekündigt wird. Dem Platz vor dem finiten Verb, dem Vorfeld kommt damit sowohl für die nachfolgende Äußerung als auch für den Diskurs eine funktional ausgezeichneter Stellenwert zu, etwa bei der Thematisierung, der Gewichtung und der Diskursorganisation (für einen Überblick vgl. Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997). Häufig finden sich im 34
Zur Rekonstruktion der prozeduralen Leistung von auf siehe Bednarsky 2002, der auch einen Vergleich mit dem tschechischen na durchführt.
35
Zur Differenzierung der Prädikation innerhalb einer funktional-grammatischen Betrachtung des deutschen Verbsystems vgl. Redder 1992. In Blfehlt allerdings der finite Verbteil, s.o.
36
264
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Vorfeld Ausdrücke, mit denen etwas aus dem gemeinsamen Wissen zwischen Sprecher und Hörer „aufgegriffen" wird (vgl. Rehbein 1992: 530). Im Vorfeld kann jedoch auch eine neue Diskursreferenz etabliert werden, dann kommt es zur Errichtung eines neuen Symbolfeldes, das für Sprecher und Hörer als .Ausgangspunkt' (vgl. ebd.) der Äußerung fungiert. Durch die Besetzung der Position vor dem finiten Verb mit auf jeden Fall werden in B2 jedoch Verb und aufgreifende Ausdrücke umgruppiert: „· · Auf jeden Fall ((1,1s)) ((schnalzt kurz)) kommt es dann · · Ende von vierhunderfünfundzwanzig dazu, daß sie zurückblättert." (Segment 16). Das phorische „es"37 steht hinter dem finiten Verb, so daß es in der Linearstruktur der Äußerung zunächst zu einer Verankerung des rhematischen Wissens in der Sprechsituation kommt (finîtes Verb), bevor mittels „es" das Thema der Äußerung kataphorisch versprachlicht wird. In die Position des Ausgangspunktes der Äußerung rückt stattdessen auf jeden Fall, mit dessen Hilfe die Sprecherin Ulrike die Zuhörerinnen zur Ausbildung eines Vorstellungsraums zum Zweck einer Wissensabfrage anweist. Auf diese Weise kommt es zu einer Koordination von Sprechzeitpunkt und psychischen Tätigkeiten von Sprecher und Hörer. Jedoch stehen der mit auf jeden Fall etablierte Vorstellungsraum und das nachfolgend verbalisierte Wissen nicht unvermittelt nebeneinander. Vielmehr sorgt das au/für den Aufbau einer Relation zwischen dem Vorstellungsraum und dem nachfolgend verbalisierten Wissen, innerhalb derer die mentalen Tätigkeiten von Sprecher und Hörer im Sinne einer ,akzessiblen Basis' gekennzeichnet werden, von der aus die Verarbeitung der weiteren Äußerung vorgenommen wird. Hierdurch kommt es zu einem direkten Anschluß des mit dem Veib kommunizieren Wissens an die Bewertungstätigkeiten des Auditoriums. Im folgenden Beispiel (B5), in dem das Vorfeld der Äußerung in Segment 54 durch einen Relativsatz expandiert ist, kommt es im Zuge der Gegenstandskonstitution zu einer Inanspruchnahme des hörerseitigen Wissens. (B5) Vortrag: Leseverstehen Im Rahmen ihres Vortrags informiert REF das Auditorium Uber ihre Vorgehensweise, insbesondere Uber die Entscheidungen fUr bereits in der Forschung existierende Kategorien, die sie fUr die Untersuchung der sie interessierenden Phänomene des Leseverstehens anzuwenden gedenkt. (52) (REF) (53) (REF)
Und da war also · eine ganze Menge von kleinen bis zu großen Mißverständnissen zu beobachten. Und es ist nun die Frage, wie das halt zu kategorisieren und [zu] ·
(54) (REF)
• sortieren ist. · · · Und ei[ne] Möglichkeit, [die sich auf jeden Fall] · · zu-
[zögerlich
37
Zur Funktionalität des Ausdrucks es in wissenschaftlichen Texten siehe Graefen 1995.
auf jeden Fall
265 [zögerlich [schneller und leiser nächst mal · aufdrängt, ist die Unterscheidung · · in „deklarative" und „prozedurale Inkongruenzen".
In dem eingeschobenen Relativsatz in Segment 54 „· · · Und eine Möglichkeit, die sich auf jeden Fall · · zunächst mal · aufdrängt" wirkt auf jeden Fall auf dem Ausdruck „zunächst", der sich zusammen mit „mal" vor dem finiten Verb findet. Sowohl an den Pausen als auch an der Ausdrucksgruppe zunächst mal wird erkenntlich, daß REF ein Wissen verbalisiert, das auf einer aktuell vorgenommenen Einschätzung basiert. In der sprachlich-mentalen Verarbeitung dieses Wissens weist sie die Hörer dazu an, ihr eigenes Wissen zur Grundlage eines Mitvollzugs dieser Einschätzung zu machen, ein Bestreben, dessen hö-rerseitige Umsetzung sie bereits mit der Matrixkonstruktion in der vorhergehenden Äußerung eingeleitet hatte (Segment 53 „Und es ist nun die Frage, wie das halt zu kategorisieren und zu · · sortieren ist."). In Β1 positioniert die Erzählerin Ulrike auf jeden Fall im Vorvorfeld ihrer Äußerung, mit der sie fortfährt, eine vergangene Ereignisfolge im Zuge ihres Erzählens wiederzugeben (Segment 96 „Auf jeden Fall: Ich mit Stadtplan gearbeitet, mit Kopien, mit Gruppenarbeit, mit pipapo."). Ist neben dem Vorfeld auch das Vorvorfeld38 besetzt, wird, so Rehbein 1992, vor der gesamten Äußerung beim Hörer eine Umorientierung gegenüber dem übrigen Kontext gegeben.39 Während an dieser Umorientierung häufig hauptsatzeinleitende oder nebenordnende Konjunktionen beteiligt sind, entfaltet Ulrike mit auf jeden Fall in B1 einen Vorstellungsraum, der die gesamte folgende Äußerung überspannt. Anders als in den vorangegangen Beispielen, in denen mit auf jeden Fall das Hörerwissen als Basis für das vom Sprecher in der Prädikation verbalisierten Wissens akzessibel gemacht wird, nimmt auf jeden Fall in B1 den gesamten propositionalen Gehalt in seinen Skopus. Hiermit überbrückt Ulrike den zeitlichen Abstand zu ihrem vorherigen Erzählen, da durch die positionsbedingte Ausweitung des Skopus von auf jeden Fall retrograd dasjenige Diskurswissen der Gesprächspartnerinnen zur Basis der Mitkonstruktion gemacht wird, an das sie in der Verarbeitung des in der nachfolgenden Äußerung verbalisierten Wissens anknüpfen können. Von einer Umorientierung ließe sich mit Bezug auf dieses Beispiel insofern sprechen, als mit ich die Sprecherin gegenüber den Regeln zur Rechtschreibung der Straßennamen ein anderes Thema zum Aus38
Rehbein spricht allerdings nicht von „Vorvorfeld", sondern von „Satzanfangsrahmen (SAR)".vgl. a.a.O.: 526.
39
Auch Auer (1997) mißt der Vorvorfeld-Position eine maßgebliche interaktive Bedeutung zu: zum einen bietet sie die Möglichkeit, das Rederecht zu ergreifen oder zu erhalten, ohne die Struktur des Folgesatzes bereits vollständig planen zu müsse. Die Zäsur, die die Vorvorfeld-Position zwangsläufig zwischen größeren syntaktischen Einheiten herstelle, könne aber auch interaktive Funktion haben, wenn z.B. eine dyspräferierte Folgeaktivität verzögert werden soll. Allgemein Ubernehme die Vor- Vorfeldposition die Funktion einer Rahmung, während sich die Kemaussage in diese Rahmung einpaßt (vgl. a.a.O.: 65).
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Kristin Bilhrig
gangspunkt ihrer Äußerungen macht. Die hörerseitige Anweisung, die Ulrike mit auf jeden Fall im Vorvorfeld verbalisiert, nimmt aufgrund der Kombination mit einem progredienten Tonmuster und der kleinen, wahrnehmbaren Zäsur (beides notiert im Doppelpunkt) den Charakter einer prozeduralen Synchronisierung an, die durch die Verselbständigung der Höreraktivitäten im Verlauf des Erzählens und die Notwendigkeit, an dem Wissen über die bisher wie-dergegebene Ereignisfolge anknüpfen zu können, bedingt ist.
5. Schlußbetrachtung Mit dem .Erzählen' und dem .Halten von Vorträgen' liegen Großformen sprachlichen Handelns vor, die ein Sprecher in der Regeln mit Hilfe der Verkettung von Sprechhandlungen realisiert. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Hörer in einer passiven Gesprächsrolle verharrt. Vielmehr ist mit Bezug auf die Forschung und in Anbetracht der im vorliegenden Beitrag präsentierten Diskursausschnitte davon auszugehen, daß der Hörer in der rezeptiven Verarbeitung des von Sprecher verbalisierten Wissens, unter Nutzung seines eigenen Wissens mentale Aktivitäten unternimmt, die auch interaktional umgesetzt werden, womit, wie in Β1 deutlich wurde, auch ein (temporärer) Wechsel in die Sprecherrolle einher gehen kann. Als Funktionseinheit innerhalb einer Äußerung dient auf jeden Fall dem Sprecher einer Intervention in diese Tätigkeiten des Hörers, indem das hörerseitige Wissen als Basis für die Verarbeitung des weiteren vom Sprecher zu verbalisierenden Wissens zugänglich gemacht wird. Mit der Ausdrucksintegration von auf jeden Fall wird eine operative Prozedur realisiert, die den Hörer zu einer Restrukturierung seiner sprachlich-mentalen Tätigkeiten gemäß der sprecherseitigen Verbalisierung von Wissen anleitet. In Abhängigkeit von seiner Positionierung nimmt aufjeden Fall Zugriff auf unterschiedliche Wissensteile, die der Hörer im Rezeptionsprozeß zu verarbeiten hat. Dies kann das Wissen einer gesamten Äußerung betreffen, aber auch das Wissen, das der Gegenstandskonstitution oder der Prädikation dient. Berücksichtigt man neben formalen Aspekten auch den materialen Charakter sprachlicher Kommunikation, öffnet sich der Blick für die spezifische Funktionalität von auf jeden Fall für bestimmte Formen sprachlichen Handelns, in denen die Aktivitäten des Hörers in die Realisierung von Zwecken eingebunden sind. So deutet sich an, daß auf jeden Fall nicht zufällig im .Erzählen' und in argumentativen Zusammenhängen wie der Hochschulkommunikation bzw. nach Vorschlägen oder als hörerseitiger Kommentar nach deliberierenden Äußerungen zu finden ist, auch wenn diese Annahme sicherlich einer weiteren Überprüfung bedarf.
auf jeden Fall
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Frederike Eggs „Weiß sowieso jeder" Eine funktional-grammatische Analyse der Ausdrücke sowieso, eh, ohnedies und ohnehin 1. Einleitung In diesem Beitrag soll die funktionale Leistung der Ausdrücke sowieso, eh, ohnedies und ohnehin bestimmt werden. Obwohl insbesondere sowieso und ohnehin außerordentlich häufig verwendet werden, und zwar nicht nur in der gesprochenen, sondern auch in der geschriebenen Sprache, hat sich die Forschung mit ihnen bislang nur wenig befasst. Die Auskünfte der Grammatiken sind vergleichsweise kümmerlich1. Einzig in der „Grammatik der deutschen Sprache" (Zifonun et al. 1997, 1127, 1209, 1541) werden sie wenigstens kurz erwähnt und als Konnektivpartikeln bzw. eh als Abtönungspartikel klassifiziert, da es im Gegensatz zu den anderen dreien nicht vorfeldfähig ist. Bei Engel (1988) finden sie sich im Index und werden zu den Rangierpartikeln gerechnet. Etwas ergiebiger sind da die Angaben in den Wörterbüchern (vgl. etwa Grimm & Grimm 1889 bzw. 1905, Kluge 199923, Paul 1992® oder auch König et al. 1990), wobei hier allerdings vielfach der eine Ausdruck mit einem oder zweien derrestlichendrei umschrieben wird. Auch in den wenigen Untersuchungen zum Thema werden die vier Ausdrücke häufig als funktionsäquivalent, wenn nicht sogar als synonym dargestellt, so etwa bei Weydt (1983,172,180f.): Davon abgesehen, dass sie zu verschiedenen Registern des Deutschen gehörten, seien die drei Partikeln sowieso, ohnehin und eh „semantisch konvergent". Auch Thurmair (1989, 135) bezeichnet eh und sowieso als synonym, eine These, die sich in dieser Absolutheit nicht aufrecht erhalten lassen wird. Es wird sich vielmehr zeigen, dass sich die vier Ausdrücke sowieso, eh, ohnedies und ohnehin gerade auch aufgrund ihrer morphologischen Struktur in wichtigen Anwendungsbedingungen unterscheiden. Die Frage nach der Wortartenzugehörigkeit von sowieso, eh, ohnedies und ohnehin soll hier nicht systematisch behandelt werden, da gerade die Gruppe der Partikeln nur vage umrissen ist und je nach Grammatik jeweils unterschiedliche Kriterien zur Bestimmung ihrer verschiedenen Unterarten herangezogen bzw. überhaupt ganz verschiedene Arten von Partikeln unterschieden werden. Vielleicht kann ja auch der hier eingeschlagene umgekehrte Weg, erst eine detaillierte Beschreibung der funktionalen Leistung der vier Ausdrücke einschließlich einer genauen Kontextanalyse, helfen, auch die Kriterien für die in Frage kommenden 1
Die vier Ausdrücke werden weder im Duden (1998 6 ), noch bei Eisenberg (1999), Erben (1972), Heidolph et al. (1981), Heibig & Buscha (1998 1 ') und auch nicht bei Weinrich (1993) behandelt.
Funktional-grammatische Analyse der Ausdrücke sowieso, eh, ohnedies und ohnehin
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Wortarten genauer zu fassen. Nur so viel: Alle vorgeschlagenen Klassifikationen - außer den eben angeführten wären hier noch Abtönungs- bzw. Modalpartikeln bei Heibig (1988), Meibauer (1994) und Thurmair (1989), Partikeln mit abtönungsähnlicher Funktion bei Hentschel & Weydt (1983) sowie Konjunktionaladverbien bei König et al. (1990) zu nennen - tragen der Tatsache Rechnung, dass sowieso, eh, ohnedies und ohnehin aufgrund ihres Satzgliedwertes nicht zu den Konjunktionen gerechnet werden können, ihr Funktionspotential aber dennoch auf der Ebene der Text- bzw. Diskursgliederung entfalten, da sie den Satz, in dessen Vor- oder Mittelfeld sie auftreten2, in Beziehung setzen zu einem oder mehreren anderen Sätzen. Ihre Aufgabe besteht also darin, Verknüpfungen zwischen Sätzen herzustellen. Insofern scheint mir die in der „Grammatik der deutschen Sprache" neu eingeführte Kategorie der Konnektivpartikeln durchaus angemessen zu sein. Ich werde mich diesem Vorschlag anschließen, mit dem Unterschied, dass ich auch den Ausdruck eh als Konnektivpartikel klassifizieren werde: Erstens trifft das von den Autoren zur Bestimmung von Abtönungspartikeln angeführte Kriterium (vgl. Zifonun et al. 1997, 1122) auf eh gerade nicht zu: vgl. „Du bist aber blass." und „*Es ist der Fall, dass du aber blass bist." für „echte" Abtönungspartikeln gegenüber „(Lass ihn in Ruhe.) Er ist eh schon nervös." und „Es ist der Fall, dass er eh schon nervös ist" für eh; zweitens ist es meines Erachtens wenig plausibel, ihn allein aufgrund seiner fehlenden Vorfeldfähigkeit einer anderen Kategorie als die drei anderen zuzuordnen, wenn er in Mittelfeldposition wirklich das gleiche wie sie leistet.
2.
sowieso
Betrachten wir zunächst das folgende Beispiel. Der Ausdruck sowieso befindet sich hier in einem begründenden weil-Satz: (1) Frankfurter Rundschau (FR) · Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit (C.-B.) FR: Sie bezeichnen sich selbst gerne als deutschen Franzosen oder als französischen Deutschen, haben aber nur die deutsche Staatsangehörigkeit. Werden Sie die doppelte Staatsangehörigkeit beantragen? C.-B.: Ich hätte sie 1968 und davor sicher beantragt. Aber jetzt mit 53 Jahren ist es mir völlig egal. Natürlich könnte ich die doppelte haben, das würde meiner realen Situation entsprechen. Aber ich bin S3, ich muß nicht für die Anerkennung in der Gesellschaft kämpfen wie ein junger Türke oder ein junger Kroate in Deutschland. Ob ich irgendwann die französische noch beantrage, weiß ich nicht. Für mich spielt das jetzt keine Rolle mehr. 2
Ich werde im Folgenden vom sowieso-, eh-, ohnedies- oder ohnehin-Satz sprechen, und zwar unabhängig davon, ob es sich hierbei um einen Haupt- oder um einen Nebensatz handelt.
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FR: Warum ist Ihnen das egal? C.-B.: Weil ich durch mein politisches Handeln s o w i e s o eine doppelte Identität habe. Ich kandidiere in Frankreich für die Europawahlen. [...] Meine politische Tätigkeit definiert sich nicht über meine Staatsangehörigkeit, sondern über mein europäisches Engagement. Ich habe in mir die doppelte Staatsangehörigkeit integriert. (Frankfurter Rundschau, 14.1.1999) In dem sowieso-Satz nennt Daniel Cohn-Bendit ein Faktum, das die zuvor erörterte Handlungsalternative, die Frage, ob er zusätzlich zur deutschen die französische Staatsangehörigkeit beantragen werde oder nicht, als nebensächlich kennzeichnet. Die Frage als solche stelle sich für ihn gar nicht, da er durch sein politisches Handeln, insbesondere durch seine Kandidatur für die Europawahlen als Deutscher in Frankreich, bereits eine doppelte deutsch-französische bzw. französisch-deutsche Identität habe. Auch in dem folgenden Beispiel bezieht sich der Sprecher mit sowieso auf eine theoretisch bestehende Handlungsalternative zwischen den Handlungen H+ (entlassen) und H- (nicht entlassen), nur ist es in diesem Fall nicht er selbst, der die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten hat, sondern eine andere Person, die damalige Umweltministerin Angela Merkel; doch auch hier wird im sowieso-Satz ein Sachverhalt genannt, der die Relevanz dieser theoretisch zu fällenden Entscheidung erheblich beeinträchtigt, ja sie sogar als vollkommen bedeutungslos hinstellt. Für Lersner steht fest: er geht, und zwar unabhängig davon, ob Frau Merkel ihn entlässt oder nicht: (2) SPIEGEL: Nach 22 Jahren verabschieden Sie sich in den Ruhestand. Wieviele Umweltminister haben versucht, Sie vorzeitig lozuwerden? Lersner: Es ist nicht so einfach, einen Berufsbeamten loszuwerden. Deutliche Worte sind zwischen mir und allen sieben für Umwelt zuständigen Ministem gefallen und zwar bis zum Schluß. Angela Merkel braucht mich aber nicht zu entlassen, weil ich nun s o w i e s o verschwinde. (Der Spiegel 29/1995) In beiden Beispielen bezieht sich der Sprecher mit dem sowieso-Satz also auf eine strittige Frage (die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen, ja oder nein? bzw. Lersner entlassen, ja oder nein?), wobei er allerdings weder für die eine noch für die andere Möglichkeit argumentiert, sondern vielmehr ein Faktum nennt, das so stark ist, dass es der Diskussion gewissermaßen die Grundlage entzieht: Wenn jemand fest dazu entschlossen ist, in den Ruhestand zu gehen, ist es überflüssig, darüber nachzudenken, ob man ihn entlässt oder nicht. Eben dieser kontextuelle Sinneffekt ist es, der die Ironie des folgenden Beispiels ausmacht. Jeden Morgen muss die Haushälterin Anna sich über etwas streiten, das für sie vollkommen belanglos ist. Die Tatsache nämlich, dass sie Toast grundsätzlich für angelsächsischen Blödsinn hält, lässt die Frage, ob eine bestimmte Scheibe nun die richtige oder die falsche Bräunungsstufe hat, aus
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ihrer Sicht als ganz und gar bedeutungslos erscheinen und qualifiziert jede Auseinandersetzung darüber als geradezu lächerlich: (3) Kopfschüttelnd schob er als erstes den Kognak beiseite. Ich wußte, daß er gem Kognak trank, und sagte gekränkt: „Aber es scheint eine gute Marke zu sein". „Die Marke ist vorzüglich", sagte er, „Aber der beste Kognak ist keiner mehr, wenn er eisgekühlt ist". „Mein Gott", sagte ich, „gehört Kognak denn nicht in den Eisschrank?". Er blickte mich über seine Brille hinweg an, als wäre ich soeben der Sodomie überführt worden. Er ist auf seine Weise auch ein Ästhet, er bringt es fertig, den Toast morgens dreimal, viermal in die Küche zurückzuschicken, bis Anna genau die richtige Bräunungsstufe herausbringt, ein stiller Kampf, der jeden Morgen neu beginnt, denn Anna hält Toast sowieso für „ angelsächsischen Blödsinn". (H. Boll, Ansichten eines Clowns, 141f.) Mit dem im sowieso-Satz genannten Sachverhalt wird also ein Argument voigebracht, das die Voraussetzungen betrifft, unter denen eine Auseinandersetzung über die jeweils strittige Frage überhaupt erst sinnvoll wäre. Die Auswirkungen, die sich hieraus für ein konkretes Gespräch ergeben können, zeigt folgendes Beispiel: Nach einem Schlaganfall ist Sigrids in Hamburg lebende Mutter zu einem Pflegefall geworden. In zwei oder drei Wochen wird sie aus dem Krankenhaus entlassen, und es stellt sich die Frage, wo sie dann untergebracht werden soll. In Hamburg oder besser in Düren, wo Sigrid mit ihrem Mann Peter lebt? Sigrid und Peter favorisieren eine Unterbringung bei sich in der Nähe in einem Reha-Zentrum in Düren, damit sie im Notfall nicht erst 400 km fahren müssen. Ihr Freund Reiner versteht sie allerdings zunächst falsch, meint, sie würden darüber nachdenken, die Mutter zu sich nach Hause zu nehmen und fängt an, die Vor- und Nachteile dieser Lösung zu erwägen. Da diese Überlegungen für Sigrid aber keinerlei Bedeutung haben, unterbricht sie Reiner und sagt, dass es für sie sowieso nicht in Frage komme, ihre Mutter bei sich zu Hause aufzunehmen. Mit diesem Argument wird jede weitere Erörterung der Frage „Ist eine Unterbringung von Sigrids Mutter bei euch zu Hause nicht nur für sie, sondern auch für euch günstiger, ja oder nein?" hinfällig und im konkreten Gespräch auch tatsächlich unterbunden: (4) Probleme mit Sigrids Mutter Sigrid: is linksseitich gelähmti [...] hat=n Katheter [...] Reiner: da wird sisch nimmer viel ändern ja Peter: der Arzt hat gesagt schwerer Schlaganfall [...] Reiner: des heißt also die Betreuung wär hie"r * Sigrid: optimal-l Reiner: wär hier günstiger wie in Hamburgi Peter. wär effizienter-l Reiner: wobei ihr/ Sigrid: hier unten optimaler^ Reiner: sicher eh für sie" optimaler * wahrscheinlich aber ob=s für eu"sch eh
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Sigrid: Reiner: Sigrid: Reiner: Sigrid: Peter:
idealer war also eh dahingestellt net generell * eh al$o zu u"ns nach Hau"se sowieso nichtl also * net von wegen en Pflegefall zu uns nach Hause nehmen Reiner / net isch sag des/ deswe"gen deswe/ wir haben gesacht Krankenhaus und wenn das Krankenhaus dann * dann kommt der Rehabereich drani (Gärtner 1993,368 bzw. 246f. (vereinfacht))3
Reiners Überlegungen sind insofern irrelevant, als sie unter falschen Voraussetzungen angestellt worden sind. Der im sowieso-Satz verbalisierte Sachverhalt, der Sigrid von Anfang an bekannt war, ist für Reiner neu. Mit einer sowiesoÄußerung operiert der Sprecher somit auf dem Wissen des Hörers und greift berichtigend in dessen unzutreffende Vorannahmen ein. An dieser Stelle treten auch häufig Hörerreaktionen wie ah so oder ach so auf (vgl. Thurmair 1989, 138), mit denen der Hörer zum Ausdruck bringt, dass er das vom Sprecher im sowieso-Satz verbalisierte, für ihn neue Faktum in sein Wissen übernommen und damit die geforderte Wissenskorrektur vollzogen hat4. Aber auch ein ausbleibender Widerspruch des Hörers, die Tatsache, dass er nicht weiter auf der strittigen Frage insistiert, kann als Indiz für die Übernahme des neuen Wissenselements ins Wissen des Hörers gewertet werden: (5) WANDEL Also, meine Damen ich bitte nochmals, die Störung zu entschuldigen ... ich habe in kurzer Zeit wieder die Ehre... O, bitte bitte ... Da Frau Theren ihn be gleiten will. FRAU THEREN ... O, ich muß sowieso ins Vorzimmer ... Sehen Sie... Sehen Sie ... Sehen Sie ... Nimmt die Pakete zur Hand, die sie mitgebracht hat da muß ich noch herrichten, Herr von Wandel [...] Mit Wandel ab. (A. Schnitzler, Das Märchen, 199) Auch hier bezieht sich die Sprecherin Frau Theren mit der sowieio-Äußerung auf die wie sich herausstellt, falschen sVoraussetzungen, unter denen Herr von Wandel sein „o bitte, bitte, (ich möchte nicht, dass Sie sich irgendwelche Umstände machen und mich zur Tür begleiten)" geäußert hat. Und auch hier stellt der im sowieso-SaXz genannte Umstand ein so starkes Argument dar, dass 3
4 bezeichnet eine fallende Intonation, Î eine steigende, * eine kurze Pause, " die Akzentuierung der jeweiligen Silbe, mit = werden Verschleifungen, mit / Abbruche und mit Unterstreichungen werden simultane Äußerungen gekennzeichnet.
4
Zu einer genaueren Analyse von ach so siehe Bredel (2000): während der expeditive Ausdruck ach auf die vom Hörer bearbeitete Divergenz bezogen ist, fokussiert so auf dasjenige vom Sprecher verbalisierte Wissenselement, das diesen Verstehensdefekt behoben hat; der Gesamtausdruck ach so ist somit geeignet, das Nun-Verstehen einer zuvor nichtverstandenen Äußerung zum Ausdruck zu bringen; ach so erzählt damit gleichsam die Geschichte der hörerseitigen Wissensprozessierung (ebd., 411, 414ff.).
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sich die Frage, ob er möchte oder nicht, dass sie sich seinetwegen Umstände macht, gar nicht mehr stellt: Sie macht sich ja gar keine Umstände, da sie sowieso gerade ins Vorzimmer gehen und mit den Vorbereitungen für das abendliche Beisammensein beginnen wollte. Die strittige Frage „Soll Frau Theren sich seinetwegen Umstände machen, ja oder nein?", die nur unter der Voraussetzung, dass sie sich Umstände macht, sinnvoll ist, wird also auch hier durch den im sowieso-Salz genannten Sachverhalt als irrelevant qualifiziert, und so lässt sich denn Herr von Wandel nun, da seine Annahmen und Erwartungen derart berichtigt worden sind5, auch bereitwillig hinausbegleiten. Da jowejo-Äußerungen die Relevanz vorhergehender Diskussionen einschränken bzw. sie wie in (4) und (5) auch als vollkommen irrelevant qualifizieren und dadurch ganz suspendieren können, eignen sie sich dazu, ein Thema oder einen bestimmten Aspekt eines Themas zum Abschluss zu bringen. In (4) etwa dient das von Sigrid vorgebrachte sowieso-Argument auch dazu, das Thema „Unterbringung der pflegebedürftigen Mutter bei Sigrid und Peter zu Hause" endgültig abzuschließen. Damit macht das sow'eso-Argument hier gleichzeitig den Weg für ein neues Thema frei: Nach der sowieso-Äußerung beginnt Sigrid mit Peters Unterstützung Reiner auseinanderzusetzen, weshalb sie ihre Mutter am liebsten in einer Reha-Klinik in ihrer Nähe wissen würde. Mit sowiesoÄußerungen ist also häufig ein Themen- oder wenigstens ein Perspektivenwechsel verbunden6: (6) „Früher waren 400 Stück Großvieh bei den Bauern hier im Ort", sagt Manfred Emmel, „heute gibt's überhaupt keins mehr." Früher waren auch die Schweine fetter. „Die Leute haben gemessen, wer die fettesten Schweine hatte." Und wer hatte? „Vier Zentner, zwölf Zentimeter Speck der Opa hatte immer die besten." Heutzutage sind die Schweine nach einem Jahr mit 100 Kilo schlachtreif, und „für das Rindfleisch brauchen sie heute Papiere, als wollten sie heiraten", schildert Emmel. Aber die Leute essen s o w i e s o nicht mehr so viel Fleisch. Für den Metzger sicher ein Problem, oder? „Ich kann das verstehen", sagt Manfred Emmel. „Gesunde, ausgewogene Ernährung muß sein wir essen selbst nicht jeden Tag Fleisch." Weil der Tierverzehr um „mindestens zehn bis fünfzehn Prozent" zurückgegangen ist, hat sich die Metzgerei stark umgestellt. Käse, Geflügel, Heißtheke sind unerläßlich, selbst Quark und Joghurt stehen im 1990 renovierten, hell gekachelten Laden. (Frankfurter Rundschau, 5.1.1999) 5
Thurmair (1989, 137f.) bezeichnet es als eine „Korrekturanweisung", die der Sprecher dem Hörer mit einer sowieso-Äußerung gebe. Ganz ähnlich heißt es auch bei Eder (1975, 46): der Sprecher schiebe „zur Verhinderung vermeintlicher oder tatsächlicher falscher Schlußfolgerungen des Gesprächspartners korrigierende Sätze" ein, mit denen die „Erwartungen und Schlüsse des Partners" zurechtgerückt würden.
6
Dass sowieso-Äußerungen häufig ein bestimmtes Thema bzw. einen Aspekt eines Themas abschließen und demzufolge nicht rede- oder themeneinleitend gebraucht werden können, betont auch Thurmair (1989, 134ff.).
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In diesem Beispiel stellt der im sowieso-SaXz verbalisierte Sachverhalt die vorhergehenden Überlegungen zwar nicht als irrelevant, aber doch als vergleichsweise unbedeutend hin; auf jeden Fall ist es in Anbetracht der Tatsache, dass der Fleischkonsum der Verbraucher stark zurückgegangen ist, müßig, weiter darüber zu lamentieren, dass früher alles ganz anders war (die Schweine fetter und die Bestimmungen lascher), und so werden denn nun, nach dem im sowieso-Satz vorgebrachten Argument, die Konsequenzen erläutert, die die Metzgerei Emmel aus dieser grundlegenden Veränderung gezogen hat. Halten wir fest: Die textverknüpfende Funktion der Konnektivpartikel sowieso besteht darin, dass sie den Satz, in dem sie erscheint, in Beziehung setzt zu einer umstrittenen Frage, die im vorangehenden Text oder Diskurs aufgeworfen worden ist. Dabei wird die Frage ρ oder -ip, auf die sich die Konnektivpartikel sowieso bezieht, jedoch nicht immer explizit zum Ausdruck gebracht, wie beispielsweise in (1) mit der von der Journalistin gestellten Entscheidungsfrage „Werden Sie die doppelte Staatsangehörigkeit beantragen?". In den meisten Fällen ist vielmehr nur eine Seite der Alternative verbalisiert, die andere muss vom Hörer rekonstruiert werden. Im folgenden Beispiel etwa, in dem es genauso wie in (1) und (2) um eine Handlungsalternative geht, die in dem Ausführen bzw. dem Unterlassen einer Handlung besteht, unterstellt der Journalist Andre Agassi, über die Frage ρ oder —φ nachgedacht zu haben, d.h. darüber, ob er sagen muss, wie es zu seinem unerwarteten Abstieg in der Weltrangliste gekommen ist (p), oder ob er zu diesem Thema auch schweigen kann (—.p); verbalisiert ist nur der -ip-Fall: (7) Andre Agassi: Er war mal Nummer eins und ist später aus dem Computer fast rausgefallen, und wie das gekommen ist, muß er gar nicht sagen, es weiß s o w i e s o jeder. Er war mit Brooke Shields zusammen, der berühmten Schauspielerin, und sie rauschten im Privatflugzeug um die Welt. Es gab Schampus und belegte Brote, Andre wurde immer dicker, aber das machte nichts, solange Brooke sein Bäuchlein liebkoste. Ende 1997 stand er auf Platz 122, Ende 1998 auf Platz sechs, so ein Comeback hat niemand zuvor geschafft, und vielleicht hatte es auch damit zu tun, daß er sich von Brooke befreite. Andre saß also allein vorm Fernseher, schaute irgendein Turnier an irgendeinem Ort und dachte sich: Was die da können, kann ich im Schlaf. Er bestellte den Langustenservice ab und rief seinen Fitneßtrainer an. (Süddeutsche Zeitung, 4.6.1999) Wie das folgende Beispiel zeigt, muss es sich darüber hinaus nicht zwingend um eine Alternative der Form ρ oder -ip handeln; man kann sich mit einem sowieso-Argument durchaus auch auf eine Frage der Form p, q oder r beziehen. In diesem Fall haben wir es nicht mit einer Wahl zwischen zwei kontradiktorischen Möglichkeiten ρ oder - φ zu tun (d.h. mit einer Alternative im engen Sinne), sondern mit einer Wahl zwischen mehreren, ganz verschiedenen Möglichkeiten (d.h. mit einer Alternative bzw. Alternativen im weiteren Sinne):
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(8) Α, Β und C überlegen, was sie am Abend gemeinsam mit D unternehmen könnten. A möchte ins Kino gehen, Β hingegen lieber ins Theater. C wiederum plädiert dafür, essen zu gehen. Sie fragen D, was er von den Vorschlägen hält: Sollen wir heute abend ins Kino (p) oder ins Theater (q) gehen, oder sollen wir lieber essen (r) gehen? Daraufhin D: Ich habe sowieso keine Lust, heute abend wegzugehen (s). Auch hier qualifiziert das im sowieso-Satz vorgebrachte Argument die vorhergehende Frage als nicht relevant, da die Bedingungen, unter denen es sich überhaupt lohnt, darüber zu diskutieren, ob nun p, q oder r, wenigstens für Sprecher D gar nicht gegeben sind. Die Erörterung, ob A, B, C und D am Abend zusammen ins Kino, ins Theater oder ins Restaurant gehen, ist ohne Bedeutung, da D überhaupt nicht ausgehen will, und eben dieser Sachverhalt wird in den Vorschlägen von Α, Β und C präsupponiert7. Mit der iowieso-Äußerung greift D also auch in diesem Beispiel korrigierend in die falschen Vorannahmen von A, Β und C ein. Und auch hier bezieht sich der Sprecher mit der sowieio-Äußerung auf eine Alternative im engeren Sinne, nur ist diese im Falle der ρ oder q (oder r)-Frage auf die Ebene der Präsupposition verlagert: So bringt Ds Äußerung in (8) zum Ausdruck, dass die von Α, Β und C präsupponierte Alternative zwischen Ρ (ausgehen) und —iP (nicht ausgehen) nicht gegeben ist. Der in (8) illustrierte Fall der ρ oder q (oder r)-Frage kann folglich ohne weiteres von dem bisher beschriebenen und als prototypisch angenommenen Fall der ρ oder -ip-Frage abgeleitet werden. Er stellt keinen zweiten und ganz anderen, sondern nur einen Sonderfall des ρ oder -ip-Falles dar. Die Leistung der Konnektivpartikel sowieso kann somit folgendermaßen umschrieben werden: Die Alternative zwischen ρ oder -ip (bzw. Ρ oder -iP) stellt sich gar nicht bzw. die Frage ρ oder -ip (bzw. die Frage ρ oder q (oder r)) muss gar nicht weiter diskutiert werden, da es einen Sachverhalt s gibt, der die Basis, auf der überhaupt es nur sinnvoll ist, sich diese Frage zu stellen, derart modifiziert, dass sie in ihrer Relevanz erheblich eingeschränkt wird8. 7
Der Begriff .Präsupposition' wird hier in einem weiten Sinne verstanden. Er umfasst nicht nur das, was gemeinhin unter semantischer Präsupposition verstanden wird (d.h. derjenige Sachverhalt, der auch bei Negation und Frage als wahr unterstellt wird), sondern auch das Phänomen der .Gattungspräsupposition': In diesem Sinne präsupponiert die Äußerung „wir gehen heute abend ins Kino, ins Theater oder ins Restaurant" den Sachverhalt „wir gehen heute abend aus", da ,Ins-Kino-Gehen' und ,Ins-Theater-Gehen' genauso wie .EssenGehen' Arten von .Ausgehen' sind. Eine Präsupposition im engen Sinne, eine semantische Präsupposition also, liegt hier nicht vor, da die Voraussetzung „wir gehen heute abend aus" in „es trifft nicht zu, dass wir heute abend ins Kino, ins Theater oder essen gehen", bei totaler Negation also, gerade nicht mehr besteht. Wird hingegen nur jeweils einer der drei Fälle negiert, so bleibt auch sie erhalten.
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Je nach Kontext und Beispiel kann diese Einschränkung der Relevanz verschiedene Sinneffekte haben: Die strittige Frage kann unter dem im sowieso-Satz genannten Gesichtspunkt als unbedeutend, belanglos oder nebensächlich qualifiziert werden, so dass es müßig oder hinfällig wird, sie weiterhin zu erörtern; sie kann aber auch als vollkommen irrelevant markiert und dadurch vollständig suspendiert werden. Die Analyse der inneren Struktur des Ausdrucks sowieso liefert ein weiteres Argument für die hier aufgestellte These, dass die Grundbedeutung von sowieso in der Relevanzeinschränkung einer sich aus dem vorhergehenden Text oder Diskurs ergebenden strittigen Frage liegt. Aus Sicht der funktionalen Pragmatik handelt es sich bei dem Ausdruck sowieso um einen para-operativen Ausdruck9. Wie alle dem Operationsfeld angehörenden Ausdrücke kann er als ein Mittel charakterisiert werden, das der sprachlichen Prozessierung selbst, der formalen Organisation von Sprache durch Sprache dient. Allerdings enthält er zwei Ausdrücke, die genuin aus einem anderen Feld stammen, und zwar aus dem Zeigfeld: Er setzt sich zusammen aus der Aspektdeixis so, dem Adjunktor wie und der Aspektdeixis so, also aus zwei deiktischen und einem operativen Ausdruck. In der Verwendung als Bestandteil der Konnektivpartikel sowieso ist die Deixis so für einen anderen Handlungszweck funktionalisiert worden, nämlich den der Organisation des sprachlichen Geschehens; so ist vom Zeigfeld ins operative Feld transponiert worden. Für Ausdrücke, die eine solche Feldtransposition erfahren haben, die nicht originär, sondern nur in einer sekundären Verwendungsweise einem bestimmten Feld zugehören, hat Ehlich (1987,293) das Präfix „para-" eingeführt. Die Konnektivpartikel sowieso ist somit ein Mittel zum Vollzug einer para-operativen Prozedur. Die Bedeutung einer solchen funktional-etymologischen Rekonstruktion liegt darin, dass der Zusammenhang zum Ursprungsfeld in der Regel nicht verloren geht; die These ist also, dass die Konnektivpartikel sowieso nicht nur operative, sondern auch deiktische Qualität hat. Es ist folglich davon auszugehen, dass die verweisende Kraft der beiden sos in sowieso im Zuge ihrer Funktionalisierung für das operative Feld keineswegs bzw. wenigstens nicht vollständig verblasst ist. Worauf verweisen aber nun die beiden Deixeis so bzw. so, die im Ausdruck sowieso mittels wie miteinander verglichen werden? Offensichtlich sind dies die beiden Seiten der Alternative, die im vorangehenden Text oder Diskurs 8
Im Folgenden wird nicht mehr eigens zwischen ρ und - i p bzw. Ρ und - i P differenziert, vielmehr ist mit ρ oder ->p von nun an immer beides gemeint.
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Ehlich (1991) hat das von Bühler (1934/1999 3 ) in seiner „Sprachtheorie" entwickelte Zweifelderkonzept aus „Zeig"- und „Symbolfeld" um das „Lenkfeld" (Interjektionen, Imperativendungen u.a.), das „Malfeld" (Exklamativakzent etc.) und das „operative bzw. Operationsfeld" (Topologie, Präpositionen, Konjunktoren, Subjunktoren, Anaphern, Determinative etc.) erweitert. Auf elementarster Handlungsebene entsprechen den Feldern „Prozeduren", also die „deiktische", die „charakterisierende", die „lenkende", die „expressive" und die „operative Prozedur".
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aufgeworfene Frage ρ oder p, die durch die Konnektìvpartikel sowieso anadeiktisch neufokussiert wird. Und in eben dieser Neufokussierung, dieser Reorientierung des Adressaten auf bereits verbalisierte (bzw. im Wissen des Hörers zu rekonstruierende) Elemente besteht die residual-deiktische Qualität der Konnektìvpartikel sowieso. Diese Qualität kann im Allgemeinen auch wieder rekonkretisiert werden. Die Beispiele (1) bis (3) etwa ließen sich folgendermaßen paraphrasieren: (Γ) Für mich spielt das jetzt keine Rolle mehr, weil ich durch mein politisches Handeln s o, d.h. mit doppelter Staatsbürgerschaft wie so, d.h. ohne doppelte Staatsbürgerschaft eine doppelte Identität habe. (2') Angela Merkel braucht mich aber nicht zu entlassen, weil ich nun s o, d.h. in dem Fall, dass sie mich entlässt, wie so, d.h. in dem Fall, dass sie mich nicht entlässt, in den Ruhestand gehe und verschwinde. (3') Anna hält Toast s o, d.h. mit der richtigen Bräunungsstufe wie so, d.h. ohne die richtige Bräunungsstufe, für angelsächsischen Blödsinn. Wirft man einen Blick in die Sprachgeschichte, so stellt man fest, dass die seit dem 18. Jahrhundert gebräuchliche Konnektìvpartikel sowieso (vgl. Kluge 199923, 772) in der Tat aus einer derartigen Vergleichskonstruktion entstanden ist und anfangs auch nicht zusammengeschrieben wurde: (9) Seh' ich ja, daß das Gras wirklich an dem Baume niedergetreten ist, gehe hinüber und finde an dem Baum im Grase die Spur, daß hier ein Mensch gelegen hat und noch ganz frisch, ohne Widerrede erst in der letzten Nacht. Und daß ich mich wirklich nicht täusche, liegen da drei vollwichtige neue Spitzkugeln im Grase, eingewickelt in dies Papier. Da! Ohne Zweifel war's ein Wilddieb, und nun will ich meiner Alten doch sagen, daß sie diesmal Menschen und keine Geister gesehen hat, und auf der Hut müssen wir sein, so wie so. Sehen Sie! So was passirt im Walde. Damit wog der Jäger die ziemlich schweren, sonderbar geformten, nur für eine eigens eingerichtete Büchse passenden Kugeln. (Gutzkow, K., Die Ritter vom Geiste (1850/51) 2. Buch, 3. Kap., 429) Die Zugehörigkeit von so zum sprachlichen Zweckbereich des Zeigfelds und damit die deiktische Qualität von „so wie so" ist hier noch ganz deutlich: Während das erste so auf die Möglichkeit „Wir haben Wilddiebe gesehen, also Menschen" verweist, zeigt das zweite so auf die gegenteilige Möglichkeit „Wir haben keine Menschen, sondern Geister gesehen". Auch hier wird aber im so wie so-Satz ein Faktum genannt, das die Frage, welche dieser beiden Möglichkeiten denn nun zutrifft, in ihrer Relevanz erheblich einschränkt, denn „ob es nun Wilddiebe oder Geister waren, auf der Hut sein müssen wir in beiden Fällen". Auch synchron wird der Ausdruck sowieso mitunter noch derart rekonkretisiert in seiner ursprünglichen Form verwendet10:
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(10) Die Hoger lächelt: „Das hab' ich von meiner Mutter, einer ziemlich renitenten Person. Stimmt schon, meinen Mund hab' ich noch nie gehalten." Und die aufwallenden Emotionen seltenst unterdrückt: „Da könnte ich mich etwas stärker bremsen." Trotzdem sollten Frauen ihre Meinung mehr und intensiver äußern: „Weil sie die Welt anders sehen und wahrnehmen." Was sie wirklich „nicht leiden kann" ist Feigheit: „Vor allem die vor dem Freund." Ehrlich müsse man miteinander umgehen, sich nicht fürchten, den Menschen durch Offenheit zu verlieren, sonst seien Vertrauensbruch und Misstrauen programmiert. „Die Verluste kommen so wie so. Man hält sie nicht durch Unehrlichkeit auf. Im Gegenteil." (Mannheimer Morgen, 2.10.1999) Mit „so wie so" werden auch hier wieder zwei anadeiktische Prozeduren vollzogen: Das erste so rückt den p-Fall „Frauen sollten zu ihrem Partner immer ehrlich und offen sein" in den Fokus der Höreraufmerksamkeit, wohingegen das zweite den Hörer auf den sich daraus ergebenden -ip-Fall „Frauen sollten zu ihrem Partner manchmal besser nicht ehrlich und offen sein" orientiert. Worin genau besteht aber nun die Leistung von wie? In Vergleichen, in denen zwei Größen hinsichtlich einer ihnen gemeinsamen Eigenschaft miteinander verglichen werden, basieren dierelevantenmentalen Operationen immer sowohl auf den Ähnlichkeiten als auch auf den Unterschieden, die der Sprecher zwischen den beiden miteinander verglichenen Größen wahrnimmt. Der Adjunktor wie steht hier in einem komplementären Verhältnis zum Adjunktor als. Während wie das akzentuiert, was die beiden voneinander verschiedenen Elemente gemeinsam haben, hebt als das hervor, was sie trotz der Tatsache, dass sie gemeinsame Eigenschaften aufweisen, darunter die Vergleichskategorie, unterscheidet: wie umfasst das Identische im Andersartigen, als hingegen das Andersartige im Identischen. Für die innere Struktur der Konnektivpartikel sowieso und den mit ihr realisierten Vergleich ergibt sich dementsprechend Folgendes: wie bringt zum Ausdruck, dass die beiden in der Tat sehr verschiedenen Vergleichsgrößen, die beiden Seiten der Alternative ρ und —ip, identisch sind, und zwar in Bezug auf den im sowieso-Satz genannten Umstand, der in diesem Vergleich somit das Übereinstimmende hinsichtlich des tertium comparationis repräsentiert. Unter den im sowieso-Satz genannten Bedingungen ist es also gleich, ob man sich für ρ oder -ip entscheidet, das eine ist wie das andere; ρ und - φ sind gegenüber dem im sowieso-Satz vorgebrachten Argument nicht nur gleich gültig, sondern auch gleichgültig, also nicht relevant, egal. Der sich hier ergebende Sinneffekt von gleich erklärt, weshalb und wie die Konnektivpartikel sowieso das leistet, was sie leistet, nämlich eine umstrittene Frage in ihrer Relevanz einschränken". Die obige Funktionsbeschreibung der 10
Es gibt noch zwei weitere komplexe Ausdrücke mit so, die in bestimmten Kontexten etwas Ähnliches wie die Konnektivpartikel sowieso leisten können, und zwar so und so und so oder so:
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Konnektivpartikel sowieso kann nunmehr wie folgt ergänzt werden: Die Konnektivpartikel sowieso dient dazu, auf eine vorgängig formulierte bzw. im Wissen des Hörers zurekonstruierendeAlternative zu verweisen, auf die Frage ρ oder -p-Option wählen und die doppelte Staatsbürgerschaft nicht beantragen wird. Auch in (2) stellt der im sowieso-Satz genannte Sachverhalt s unter Berücksichtigung des obigen Prinzips ein Argument für -ip und gegen ρ dar: Unter dem Gesichtspunkt, dass es vollkommen überflüssig ist, Lersner zu entlassen, da er sowieso in den Ruhestand geht, liegt es nahe, sich für die Möglichkeit zu entscheiden, die im Unterlassen der Handlung besteht und dementsprechend bequemer und weniger aufwendig ist als die andere, und ihn nicht zu entlassen. Natürlich könnte Angela Merkel Lersner aber auch trotzdem entlassen, zum Beispiel um ihre Macht und Führungsposition zu demonstrieren; sie hätte dann aber andere, stärkere Gründe, die das obige Handlungsprinzip außer Kraft setzen würden. 13
Auf der Folie von Diskontinuität wird mit der Abtönungspartikel doch etwas nachdrücklich aktualisiert und dem Hörer zur sofortigen Bearbeitung aufgegeben, was aus Sicht des Sprechers selbstverständlich und unmittelbar einsichtig ist (vgl. Zifonun et al. 1997,2414).
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In den Fällen, in denen der im sowieso-Satz verbalisierte Sachverhalt s als Argument gegen ρ und damit für - φ eingesetzt wird, liegt der sowieso-Äußerung immer eine Argumentationsstruktur „Nein, da sowieso s (was ein Argument für -ip ist)" zu Grunde, was die Umformungen von (2) und (11) ganz deutlich demonstrieren: (24) A: Soll Frau Merkel Herrn Lersner entlassen? B: Nein. Er geht doch sowieso in den Ruhestand. (11") Tochter: Darf ich aufs Gymnasium gehen? Vater Nein. Du heiratest doch sowieso. Das im sowieso-Satz verbalisierte Faktum kann nun aber auch umgekehrt als Argument für ρ und damit gegen - φ eingesetzt werden: (12) A: Wollen wir heute nachmittag eine Fahrradtour machen? B: Oh ja, gerne. Ich wollte sowieso mal wieder ein bisschen Sport treiben. Auch hier bezieht sich Sprecher Β mit sowieso auf eine Handlungsalternative, und zwar auf die durch die Entscheidungsfrage von A gegebene Alternative zwischen ρ (Fahrradtour machen) und -ip (keine Fahrradtour machen), und liefert A im sowieso-Satz ein Wissen, das Β bereits bekannt war, für A hingegen neu ist. Β nutzt hier den im sowieso-Satz genannten Sachverhalt s als stützendes Argument für den mit dem Responsiv ja zum Ausdruck gebrachten positiven Bescheid. Die Frage, ob A und Β am Nachmittag eine Fahrradtour machen oder nicht, muss nämlich insofern nicht weiter erörtert werden, als Β sich schon längst für eine (Gattungs-)Präsupposition von p, nämlich „Sport treiben" entschieden hat, nur noch nicht für eine bestimmte Art. Zwischen ρ und s liegt hier somit eine Hyponymie-Relation vor, so dass auf ρ gefolgert werden kann: Da die in s genannte Gattung Sport-Treiben (G) zutrifft, kann auch irgendeine Art wie zum Beispiel Radfahren (A, ) zutreffen. Hinter Bs Äußerung steht folgende Argumentation: „Du schlägst Al vor, und da ich mich bereits für G entschieden habe, habe ich „im Grunde genommen" auch nichts gegen Al und antworte mit ja auf deine Entscheidungsfrage „im Grunde genommen", weil ich mich genauso gut für Schwimmen (A2) oder Joggen (A3) oder irgendeine andere Art (Ax) von Sport hätte entscheiden können." Bs Äußerung in (12) lässt sich folgendermaßen formalisieren: „Ja, da sowieso s (was ein Argument für ρ ist)". Die Hyponymie-Relation in (12) zwischen den in s und ρ genannten Prädikaten ist kein Zufall; der im sowieso-Satz verbalisierte Sachverhalt s lässt sich nämlich grundsätzlich nur dann als Argument für ρ einsetzen, wenn hier eine Form von Gattungspräsupposition verbalisiert wird: (12') A: Wollen wir heute nachmittag eine Fahrradtour machen? B: Oh ja, gerne. Ich wollte sowieso mal wieder eine Fahrradtour machen.
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Frederike Eggs
A: Wollen wir heute nachmittag eine Fahrradtour machen? B: Oh ja, gerne. Ich wollte sowieso mal wieder was mit dir unternehmen.
So ist in (12') das in ρ genannte Prädikat ,Heute-Nachmittag-Mit-Dir-EineFahrradtour-Machen' eine Art der in s genannten Gattung ,Eine-FahrradtourMachen', ebenso wie es in (12") eine Art von ,Etwas-Mit-Dir-Unternehmen' ist. Hierin besteht ein entscheidender Unterschied zu den „Nein, da sowieso s (was ein Argument für -.p ist)"-Fällen; wie oben gezeigt wurde, wird hier aufgrund von Implikationsbeziehungen, die durch alltagsweltliche Annahmen gestützt werden, von s auf -ip gefolgert und nicht aufgrund von begriffslogischen Relationen wie im „Ja, da sowieso s"-Kontext. Die anhand der Konnektivpartikelverwendung aufgezeigte Grundbedeutung des para-operativen Ausdrucks sowieso lässt sich auch mit einer anderen Verwendung von sowieso in Einklang bringen. Hierzu folgende Beispiele: (13) MM: Wie verbringen Sie die Tage bis Hockenheim, vielleicht bei der Familie? SCHUMACHER: Sowieso. Es gibt keine Termine vorher, bis auf das Fußball-Benefizspiel am Mittwoch in Mannheim. (Mannheimer Morgen, 27.7.1998) (14) »Alles Banane?« fragte mich ein blonder Requisiteur, der bereits AnanasScheiben in sein Glas geschaufelt hatte und nun Appleton-Rum darübergoß. »Sowieso«, antwortete ich (R. Gernhardt, Kippfigur, 383). Der para-operative Ausdruck sowieso fungiert hier als eine Art besonders starkes ja: Er schließt ein Handlungsmuster durch eine im Muster erwartbare Reaktion ab, bildet folglich eine selbstständige kommunikative Minimaleinheit. Dies spricht dafür, sowieso hier als Responsiv zu werten. Ganz in diesem Sinne wird es auch bei Meibauer (1994, 224), der es allerdings nur kurz erwähnt, als Antwortpartikel klassifiziert. Thurmair (1989, 135) rechnet sowieso in dieser Verwendung zu den Gliederungspartikeln: Es komme allein als Reaktion vor und bedeute so viel wie .selbstredend', ,klar'. Gegenüber einem einfachen ja liegt die Besonderheit von sowieso also darin, dass es den Selbstverständlichkeitscharakter, die Erwartbarkeit der positiven Antwort unterstreicht, sozusagen: „Das versteht sich doch von selbst, dass ich ,ja' sage." Bezogen auf die angenommene Grundbedeutung ergibt sich: „Die Frage, ob ich 'ja' sagen werde oder nicht, stellt sich gar nicht. Sie ist nicht relevant, da von vornherein klar war, dass ich ,ja' sagen würde". Die strittige Frage, auf die der Sprecher sich mit dem Responsiv sowieso bezieht, ist hier die durch die Form der Entscheidungsfrage gegebene Alternative, ob er mit ja (p) oder nein (-ip) antworten wird. In dieser Verwendung wird der Ausdruck sowieso auch anders akzentuiert, nämlich vorne auf dem ersten so(sówieso). In der Konnektivpartikelverwendung
Funktional-grammatische Analyse der Ausdrücke sowieso, eh, ohnedies und ohnehin
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hingegen kann sowohl das erste als auch das zweite so akzentuiert werden, wobei der Akzent allerdings in der Regel hinten auf dem zweiten so (sowiesö) liegt. Auch in (15) handelt es sich um eine Verwendung von sowieso als Responsiv. Da es sich um einen Text handelt, ist das Entscheidungsfrage-Antwort-Muster hier nur anders inszeniert; der Titanic-Journalist reagiert hier mit sowieso auf die Frage: „Haben die Täter mit ihren .Ausländer raus'-Rufen die Bewohner der Unterkünfte vielleicht nur zum Verlassen des Heimes aufgefordert?": (15)Die in Berlin verlegte Zeitschrift «Titanic», Flaggschiff der deutschen Satireproduktion, kanzelt in der September-Ausgabe das ihrer Ansicht nach zu milde Urteil zum Anschlag auf das Wienächtler Durchgangsheim vom 9. Juli in deftiger Form ab. [...] Die deutschen Satiriker beziehen sich in der Kurzform «Briefe an die Leser» auf einen Bericht in der «Schwäbischen Zeitung», demnach die Täter straflos bleiben, weil «Anschuldigungen, wonach die Jugendlichen bei ihrer Tat ausländerfeindliche Parolen brüllten, Hessen sich, so die Behörden, nicht mehr überprüfen. Es sei denkbar, dass die Täter mit .Ausländer raus'-Rufen die Bewohner der Unterkünfte nur zum Verlassen des Heimes aufgefordert hätten.» Auf diese in Wahrheit nicht ganz zutreffende Information pointieren die Berliner Zeitungsmacher in gewohnter Härte: «Sowieso. Wie ja auch A. Hitler mit seinen launigen Juden-Raus-Bonmots die Juden nur zum Verlassen der Welt aufgefordert hat, und dafür ist er ja schliesslich auch nicht in den Knast gekommen. In dubio pro neo.» (St. Galler Tagblatt, 25.9.1999) Wie lässt sich aber nun erklären, dass der Ausdruck sowieso in den Bedeutungsbereich des ,ja' und nicht des ,nein* gelangt ist? Schließlich kann bei der Konnektivpartikelverwendung von sowieso das im sowieso-Satz vorgebrachte Argument sowohl zur Stützung eines positiven als auch zur Stützung eines negativen Bescheids gebraucht werden, wie die Beispiele (12), (12') und (12") bzw. (2') und (11") gezeigt haben. Ein Lösungsansatz ergibt sich, wenn man das folgende Beispiel betrachtet, das eine Art Verbindungsstück zwischen der in (12) illustrierten Konnektivpartikelverwendung im „Ja, da sowieso s"-Kontext und der Responsivverwendung von sowieso darstellt: (16) A: Wollen wir heute nachmittag eine Fahrradtour machen? B: Oh ja, gerne. Ich wollte heute nachmittag sowieso eine Fahrradtour machen (und wusste nur noch nicht, mit wem). Während in (12) von s auf ρ gefolgert werden konnte, so dass der im sowieso-Satz genannte Sachverhalt s als Argument für ρ und damit gegen —ip Verwendung fand, wird im vorliegenden Beispiel ρ einfach bestätigt und als zutreffend gesetzt. Die Erörterung ρ oder -ip ist hier insofern nicht relevant, als ρ für Sprecher Β schon längst feststand, s und ρ fallen hier zusammen, so dass sich für (16) die Struktur „Ja, da sowieso p" ergibt. Eben hieran lässt sich der
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Übergang zur Responsiwerwendung festmachen, denn auch bei dieser Verwendung von sowieso, die sich mit „Ja, da sowieso ja" umschreiben lässt, fallen s und ρ zusammen. Nun sind Fälle wie (16) aber nicht nur eine Art Vorstufe zur Verwendung von sowieso als Responsiv; bezeichnend ist, dass der analoge Fall bei einem negativen Bescheid, d.h. bei „Nein, da sowieso -ip", offenbar ausgeschlossen ist: (17)
A: Wollen wir heute nachmittag eine Fahrradtour machen? ?? B: Nein. Ich wollte heute nachmittag sowieso keine Fahrradtour machen.
Die Konnektivpartikelverwendung im „Ja, da sowieso p"-Kontext in (16), wo ρ nicht über einen weiteren Sachverhalt s erschlossen, sondern einfach bestätigt und als zutreffend gesetzt wird, markiert aber nicht nur den Übergang zu den Responsivbeispielen in (13) bis (15); auf ihr basiert auch noch eine weitere Verwendung von sowieso, die durch die folgenden Beispiele veranschaulicht werden mag. Auch hier besteht eine Tendenz zur Betonung des ersten so: (18)20.15 22.10 Uhr RTL. Tierärztin Christine II. Uschi Glas als Universalgenie: Sie darf mitreden und mitschreiben an ihren Rollen, und mitdenken will sie sowieso, und so entstehen dann jene Werke, in welchen das Kommerzfernsehen ganz bei sich ist. Frau Doktor Glas (wenn sich Sascha Hehn promoviert, wird es Uschi schon auch schaffen) kämpft gegen böse Tierfanger, wehrt Fritz Weppers sexuelle Avancen ab und operiert eine Ratte. (Der Spiegel 1/1995) (19) Wir alle hier in Wien wissen, Inländer können alles besser nur einen richtigen Kartoffelsalat machen, das können sie, auch wenn sie Erdäpfelsalat dazu sagen, nicht. Türken können das und Franken, die Bayern sowieso. (Die Zeit, 13.1.1995) Der para-operative Ausdruck sowieso befindet sich hier immer im jeweils letzten Konjunkt einer Koordination mit dem additiven Konjunktor und. Dabei geht es entweder darum, einem bestimmten Gegenstand verschiedene Prädikate zuzuschreiben wie in (18), oder umgekehrt ein und dasselbe Prädikat verschiedenen Gegenständen wie in (19). Die Funktion von sowieso besteht darin, die Selbstverständlichkeit zu unterstreichen, mit der Gegenstand und Prädikat einander im letzten Konjunkt zukommen. Dadurch werden die in den vorangehenden Konjunkten verbalisierten Zukommensrelationen zugleich abgeschwächt: So könnte man sich in (19) theoretisch noch darüber streiten, ob auch die Türken und die Franken einen guten Kartoffelsalat machen können; bei den Bayern hingegen ist das unumstritten. Genauso wie bei der Responsiwerwendung kann somit auch hier mit ,das versteht sich doch von selbst, dass p' paraphrasiert werden. Bezug auf eine strittige Frage nimmt die Partikel auch bei dieser Verwendung, nur ist dieser Argumentationsschritt hier ausgespart: In (18) bezieht sich der Textproduzent mit sowieso auf die Frage, ob Uschi Glas an ihren Rollen
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mitdenken wollte (p) oder nicht (-ip), in (22) auf die Frage, ob die Bayern einen guten Kartoffelsalat machen können (p) oder nicht (—ip). Dabei drückt sowieso ganz im Sinne der für sowieso angenommenen Grundbedeutung aus, dass eben diese Frage sich gar nicht stellt, da ρ von vornherein feststand. Eine Übersicht zu den verschiedenen sowieso- Verwendungen gibt das folgende Schaubild:
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3. eh Erste Belege für den Gebrauch von eh im Sinne von sowieso bzw. ohnehin finden sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Allerdings tritt eh in dieser Funktion anfangs nur im Österreichischen und Süddeutschen auf (vgl. Kluge 199923, 205 bzw. Paul 1992®, 193): (20) PEPPI Er muß solid werden, Er muß sich bessern. KNIERIEM Nein, das thu ich nicht. Es ist nicht der Müh werthwegen der kurzen Zeit. In ein Jahr kommt der Komet, nachher geht eh die Welt z'grund. (J.Nestroy, Der böse Geist Lumpazivagabundus (1833), 3. Akt, 7. Szene, 178f.) Mittlerweile wird es aber auch im Standarddeutschen gebraucht (vgl. Hentschel 1986, 53 oder Heibig 1988, 127). Allerdings hat sich diese Entwicklung wohl erst in den letzten dreißig Jahren vollzogen. Schon Schlieben-Lange (1979), die Ende der 70er Jahre mehrere bairische Partikeln darunter eh untersucht hat, betont bereits einleitend, dass sein Gebrauch keineswegs auf diese Mundart beschränkt sei (vgl. ebd., 307). Sie bezeichnet die Verwendung von eh als „ausgesprochen charakteristisch für den universitären Sprachgebrauch Ende der 60er Jahre" (1979, 315). Auch Paul (1992®, 193) bringt die Ausbreitung von eh auch auf den norddeutschen Sprachraum mit seinem Status als studentisches Modewort der 70er und 80er Jahre in Verbindung, und Weydt (1983, 172) gibt an, es Anfang der 80er Jahre in Berlin in erster Linie in links-intellektuellen Kreisen gehört zu haben. Demgegenüber wird es noch bei Wahrig (1986/1991, 378) als bairisch bzw. österreichisch qualifiziert, und auch König et al. (1990,74) meinen, dass es vor allem im Süddeutschen und Österreichischen verwendet werde. Ob die hier zur Diskussion stehende eh- Verwendung auch heute noch eher süddeutsch ist, könnte nur mittels einer umfassenden empirischen Untersuchung beantwortet werden. Ebenso kann die Frage, ob es noch immer charakteristisch für bestimmte Soziolekte ist, hier nicht endgültig geklärt werden. Meine eigenen Recherchen legen die Schlussfolgerung nahe, dass diese eA-Verwendung im Standarddeutschen typisch für einen lockeren, jugendlich-forschen Stil ist und somit in erster Linie ein Phänomen der gesprochenen Sprache darstellt14. Die folgenden fünf Beispiele mögen dokumentieren, dass sein Gebrauch auf jeden Fall nicht auf den süddeutschen (Sprach-)Raum beschränkt ist: Bei dem ersten handelt es sich um einen Auszug aus einem Beitrag, den ein 17jähriger Schüler aus dem niedersächsischen Faßberg an die „CickZack-Sprechstunde" (die Seite für Jugendliche) der Celleschen Zeitung geschickt hat; das zweite stammt aus einem Interview mit dem Chefredakteur der in Hamburg verlegten Frauenzeitschriften petra und Für Sie; das dritte ist ein Zitat eines Mecklenburgers aus dem auf Usedom gelegenen Seebad Bansin, im vierten Beispiel kommentiert ein brandenburgischer Spiegelleser in einem Leserbrief einen Artikel aus Heft
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Nr. 19 über die neuen Popstars des Klassikmaiktes. Im fünñen Beispiel schließlich findet es sich in der Äußerung des damals 27jährigen Jesaja, der als Benediktinermönch in der Abtei Königsmünster in Meschede im Sauerland lebt; es handelt sich hier um einen Fall von fîngiert-artifîzieller direkter Rede: (21) Gerade hatte ich das Vergnügen, ein Berufsinformationszentrum zu besuchen. Diese Institution soll jungen Menschen bei der Berufs- und Studienwahl helfen oder bereits Entschiedenen Informationen über ihren künftigen Beruf geben. Dem Unentschlossenen stehen massig Medien zur Verfügung, die ihn im unüberschaubaren Angebot von Ausbildungs- und Studienberufen noch verlorener als zuvor fühlen lassen. So forstet sich der Schüler emsig durch die Auswahl nur um festzustellen, dass er für jeden Beruf ungeeignet ist oder aufgrund von Überangebot beziehungsweise Stellenabbau überzählig ist. Da scheint es mäßig zu sein, sich danach zu orientieren, wo die Zukunftschancen liegen oder viel zu verdienen ist das kann langfristig eh niemand sagen. Warum da nicht einfach die andere Variante wählen nämlich genau den Beruf aussuchen, der einem Spaß macht. Sune Schütte, 17 Jahre, Faßberg (Cellesche Zeitung, 2.5.2001) (22) Die gestandene petra (Jahreszeiten, monatlich) hat ein Lifting durchlaufen, im Mai soll Amica (Milchstraße, monatlich) erscheinen. Alle wenden sich an Frauen zwischen 16 und 34. Und? Bieten die Verlage den Frauen Neues, nie Dagewesenes? Wer das erwartet, hat die Spielregeln nicht begriffen. „Es geht nicht um persönliche Vorlieben, sondern um Erfolg am Markt", erklärt Andreas Millies, Chefredakteur von petra und Für Sie. Und ergänzt: „Es gibt Dinge, die gehören da einfach nicht rein. Wenn eine Frau politisch interessiert ist, kauft sie sich die ZEIT, den Spiegel oder die Woche. Das kann ich ihr eh nicht bieten." Andreas Petzold, Chefredakteur von Allegra, bestätigt: „Sie können keine Frauenzeitschrift bringen, die auf die wesentlichen basics verzichtet." (Die Zeit, 31.3.1995) (23) Nur wenn es gelingt, das ganze Jahr über Lohn und Brot zu garantieren, sind die Arbeitsplätze im Tourismus für Einheimische attraktiv. Solange 14
Bei einem Großteil der mir vorliegenden Beispiele der geschriebenen Sprache handelt es sich entweder um Fälle von direkter Redewiedergabe oder indirekter Redewiedergabe mit Konjunktiv (de dicto) oder um eine Art fingiert-artifizielle direkte Rede, wie sie bei der Verschriftlichung von Interviews häufig vorkommt, was die These stützt, dass die Konnektivpartikel eh vor allem in der gesprochenen Sprache verwendet wird. Auf der CD-Rom „Die Zeit 1995+1996" finden sich insgesamt 76 Belege für diese Verwendung von eh, darunter 28 Beispiele mit direkter Rede, was immerhin 36,8 % bzw. zusammen mit den weiteren 5 Fällen indirekter bzw. fíngiert-artifizieller direkter Rede sogar 43,4 % ausmachen. Unter den verbleibenden Belegen wiederum gibt es viele Leserbriefe, Glossen oder Ähnliches, also Texte, die in der Regel eher kolloquial formuliert sind und die spontane gesprochene Sprache imitieren. Darüber hinaus sind es auffallend häufig jüngere Sprecher, die eh in diesem Sinne gebrauchen. Überhaupt scheint mir diese Verwendung von eh im gesprochenen Standarddeutschen unter den Unter-35jährigen ganz selbstverständlich geworden zu sein.
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aber die Promenaden im Herbst und Winter menschenleer bleiben, ist die Überzeugungsarbeit der Gemeinden umsonst. „Ich lass' im Winter doch nicht offen", entrüstet sich der Besitzer einer kleinen Pension in Bansin, „kommt ja eh niemand." Wer sollte auch in den nordöstlichsten Zipfel der Republik fahren, wenn dort fast alle Quartiere geschlossen sind? (Die Zeit, 30.6.1995) (24) Dank für diesen Artikel, Sie haben ja so recht. Aber warum erst jetzt diese Aufregung, wo eh schon alles den Bach runtergegangen ist? Groß Glienicke (Brandenburg) Prof. Wolfgang Peuker (Der Spiegel 21/1995) (25) SPIEGEL: Wie reagieren Ihre Kommilitonen, wenn sie herausfinden: Der ist Mönch? Jesaja: Die Reaktionen gehen von neutralem Schweigen bis zu schroffer Ablehnung, massivem Nichtverstehen auch bei denen, die es akzeptieren. Viele Leute wollen nicht mit Mönchen reden, weil sie sagen: Ach, die reden eh nur über Zölibat, Gehorsam, Papst oder Pille oder ähnliche Geschichten. Ist man durch diesen Wust von Vorurteilen erst mal durch, dann ist vieles möglich. (Der Spiegel 16/1995) In (21) bis (25) könnte eh durch sowieso ersetzt werden. Umgekehrt ließe sich auch sowieso in (1) bis (12) und (16) durch eh substituieren, ohne dass die jeweilige Äußerung inakzeptabel würde. Heißt das, dass eh und sowieso (davon abgesehen, dass sie zu verschiedenen Registern des Deutschen gehören) tatsächlich synonym bzw. semantisch konvergent sind, wie mehrfach behauptet worden ist, und dass die einzigen Unterschiede zwischen ihnen diastratischer bzw. diatopischer Natur sind (vgl. etwa Weydt 1983; Thurmair 1989)? Oder lassen sich doch auch funktionale Unterschiede zwischen beiden Partikeln aufdecken? Vor dem Hintergrund der vorgestellten Analyse der Konnektivpartikel sowieso lässt sich gut nachvollziehen, wieso ausgerechnet der adverbiale Komparativ eher bzw. seine verkürzte Form eh in diesen Bedeutungsbereich gelangen konnte (vgl. Paul 19929,193f.): Unter 2. wurde gezeigt, dass das im sowieso-Satz vorgebrachte Argument einer Auseinandersetzung um eine bestimmte strittige Frage gewissermaßen das Fundament entreißt, und zwar dadurch, dass es sich auf die Voraussetzungen bezieht, unter denen eine Diskussion dieser Frage überhaupt nur sinnvoll ist, und diese derart modifiziert, dass die Frage ρ oder ρ als nicht (mehr) relevant erscheint. Das im sowieso-Satz genannte Faktum, das jede weitere Erörterung der Frage ρ oder - φ überflüssig macht, stand also von vornherein fest. An eben diesem temporalen Bedeutungsaspekt lässt sich die besondere Leistung der Konnektivpartikel eh festmachen: Auch der seit dem 8. Jahrhundert belegte adverbiale Komparativ eher bzw. eh auf den ebenfalls die im 15. Jahrhundert entstandene temporale Konjunktion ehe bzw. eh zurückgeht (vgl. Kluge 199923,205), die ihrerseits so viel wie 'bevor' bedeutet wurde ursprünglich rein zeitlich im Sinne von .früher, zuvor' gebraucht15. Vermittelt über Situationen,
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in denen man sinngemäß sagen konnte: „(Das brauchst du mir nicht zu erzählen), ich weiß eh, daß sie mir schon lange grollen" (d.h. ,νοη vornherein') ist dann laut Eder (1975,48ff.) der neue eA-Gebrauch entstanden. Ganz ähnlich beschreibt auch Hentschel (1986) die Bedeutungsverschiebung vom komparativen Adverb eh(er) zur Partikel eh. Diese Entwicklung lasse sich mit der Paraphrase ,das Gesagte galt schon eher (i.e. ehe es im Gespräch thematisiert wurde') leicht nachvollziehbar machen. Das, was schon .eher* galt, gilt natürlich weiterhin und unabhängig vom spezifischen Kontext; es gilt mit anderen Worten „eh", (ebd., 53) Die Konnektivpartikel eh zeigt also an, dass mit dem im eA-Satz verbalisierten Sachverhalt etwas Vergangenes als aktuell Gewusstes aufgegriffen wird, etwas, das für den Sprecher bereits feststand, bevor die jeweiligen Erwägungen, die nun durch das im eA-Satz genannte Faktum in ihrer Relevanz eingeschränkt werden, im aktuellen Text oder Diskurs angestellt wurden. Man bezieht sich mit eh folglich auf eine übergangene und somit zugleich vergangene Voraussetzung. In Fällen wie (24) oder auch (26), in denen eh zusammen mit der Gradpartikel schon auftritt, ist die Herkunft der Konnektivpartikel eh vom Adverb eher und damit ihr temporales Bedeutungsmoment noch ganz deutlich: (26) Es geht los, das Fieber steigt, die 36. Bundesliga-Saison wird angepfiffen, endlich. 34 spannende Spieltage liegen vor uns. Oder auch nicht. Denn wer Meister wird, wer absteigt, wer die Uefa-Cup-Plätze belegt, das ist doch eh schon klar. Das schlaue Fachblatt kicker hat nämlich eine Tabelle erstellt, die die Vereine nach allerlei Kriterien bewertet. Meister wird, na, wer wohl, richtig, der FC Bayern München, der zum Auftakt nach Wolfsburg muß. Und daran, daß es die Münchner packen, zweifeln nur wenige. Elf der 18 Kapitäne haben sie ganz oben auf ihrer Liste. (Frankfurter Rundschau, 14.8.1998) Die hier im vorangestellten w-Satz verbalisierte Frage, wer die 36. BundesligaSaison gewinnen wird, die im eh-Satz mittels das anadeiktisch refokussiert wird, ist insofern nicht relevant, als sie schon längst entschieden ist. Genauso wie mit einem sowieso-Argument bezieht sich der Sprecher also auch mit einem eA-Argument auf eine umstrittene, noch offene Frage, die im vorhergehenden Text oder Diskurs thematisiert worden ist. Und auch im Falle von eh erscheint diese Frage unter dem im eA-Satz genannten Gesichtspunkt als nicht relevant, und es ergeben sich je nach Kontext verschiedene Sinneffekte, die in (21), (24) und (26) sogar explizit verbalisiert sind: So schreibt Sune Schütte in Beispiel (21) selbst, dass es in Anbetracht der Tatsache, dass langfristig eh niemand sagen könne, wie sich der Arbeitsmarkt entwickeln 15
Daneben finden sich schon früh erste Ansätze für den modalen Gebrauch von eher im Sinne von lieber oder besser, so konnte eher bereits im Mhd. ausdrücken, dass der Eintritt eines Ereignisses mit mehr Wahrscheinlichkeit (demzufolge früher) zu erwarten ist als der eines anderen (vgl. Paul 19929, 194).
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werde, „müßig" sei, sich bei seiner Berufswahl nach Zukunftschancen oder Verdienstmöglichkeiten zu orientieren. Die Frage, ob man bei einem bestimmten Beruf gute oder schlechte Zukunftschancen und Verdienstmöglichkeiten hat, wird hier durch das eA-Argument als nicht relevantes Auswahlkriterium qualifiziert. Der Leserbriefschreiber aus (24) stimmt dem Tenor des Artikels über den „Niedergang der klassischen Schallplattenkultur" (Der Spiegel 19/1995) zwar zu, merkt aber an, dass es zu einem Zeitpunkt, wo eh schon alles den Bach runtergegangen ist, relativ zwecklos sei, sich über diese Entwicklung aufzuregen. Dieser Sinneffekt „Wenn etwas nicht mehr relevant ist, dann ist es überflüssig, sich darüber aufzuregen" wird auch in (26) ausgenutzt; nur handelt es sich in diesem Fall nicht um eine negative, sondern um eine positive Aufgeregtheit: Der Journalist verwendet hier das ¿Λ-Argument dazu, um seine eingangs aufgestellte Behauptung, die bevorstehende Bundesligasaison sei keineswegs mehr spannend, zu rechtfertigen. In dieser Hinsicht inhaltlicher Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen es sinnvoll ist, eine sich aus dem vorhergehenden Text oder Diskurs ergebende Frage zu diskutieren, die durch das im sowieso- bzw. «Α-Satz genannte Faktum als nichtrelevantmarkiert wird sind das sowieso-Argument und das eA-Argument also durchaus vergleichbar. Während aber bei der Verwendung von sowieso die beiden Standpunkte, die man in dieser Frage vertreten könnte, im sowieso-S&tz durch die residual-deiktische Qualität der beiden sos noch einmal aufgenommen (und durch wie als gleichermaßen unbedeutend qualifiziert werden), bringt die Partikel eh nur zum Ausdruck, dass der im eA-Satz genannte Sachverhalt schon vorher Gültigkeit hatte; die unmittelbar vorher angestellten Überlegungen hingegen werden im eA-Satz selbst sprachlich in keiner Weise mehr berücksichtigt. Die Leistung der Konnektivpartikel eh lässt sich folgendermaßen beschreiben: Mit der Konnektivpartikel eh bringt ein Sprecher zum Ausdruck, dass der mit dem eA-Satz bezeichnete Sachverhalt von vornherein feststand, und zwar angeachtet der soeben verbalisierten Überlegungen, wodurch diese in ihrer Relevanz eingeschränkt werden. Halten wir fest: Wenn sowieso und eh auch in denselben Argumentationszusammenhängen Verwendung finden und hier auch durchaus austauschbar sind, so ist der jeweilige Zugriff auf das vom Hörer zu verarbeitende Wissen doch sehr verschieden: sowieso setzt bei der strittigen Frage selbst an, greift beide Seiten der Alternative ρ oder - φ auf, wägt sie gegeneinander ab, mit dem Ergebnis, dass im Hinblick auf s die eine genauso wenig relevant ist wie die andere; mit eh hingegen wird auf den zeitlichen Ablauf des entsprechenden Argumentationszusammenhanges Bezug genommen: Die strittige Frage wird in diesem Fall nur insoweit mit einbezogen, als sie den Referenzpunkt auf einer Zeitachse darstellt, von dem aus gesehen es ein Vorher gibt, einen zweiten, früheren Referenzpunkt, an dem s bereits verbindlich feststand.
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Damit ist sowieso in gewisser Hinsicht etwas kooperativer als eh, insofern als der Sprecher mit ihm wenigstens minimal Bezug nimmt auf die von seinem Gesprächspartner zuvor verbalisierten Gedanken; bei der Verwendung von eh hingegen werden diese wenigstens sprachlich völlig außer Acht gelassen.
4.
ohnedies
Auch für eine Funktionsbestimmung der Konnektivpartikel ohnedies ist es hilfreich, ihre Form einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, denn auch hier lässt sich genauso wie bei sowieso und eh ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Form und Funktion aufdecken. Eigentlich ist der Ausdruck ohnedies eine Präpositionalphrase: Er setzt sich zusammen aus der Präposition ohne und der durch Rektion an die Präposition gebundenen Objektdeixis dies·, wir haben es hier folglich mit der Kombination zweier Prozeduren zu tun: einer operativen und einer deiktischen, die allerdings in ihrem Zusammenwirken für das Operationsfeld funktionalisiert worden sind, so dass der Ausdruck ohnedies insgesamt als para-operativ zu charakterisieren ist. Wie das folgende Beispiel zeigt, ist dieser systematische Zusammenhang auch im Falle von ohnedies zugleich von diachroner Relevanz; die zusammengerückte Form ohnedies ist Grimm & Grimm (1889, 1215) zufolge aus der adverbial gebrauchten Präpositionalphrase ohne dies bzw. ohne das entstanden: (27) Unter währendem diesem meinem Umbschwäiffen haben mich hin und wieder in den Wäldern unterschiedliche Baursleut angetroffen / sie seynd aber allezeit vor mir geflohen / nicht weiß ich / wars die Ursach / daß sie ohne das durch den Krieg scheu gemacht / verjagt / und niemals recht beständig zu Hauß waren [...]. (Grimmelshausen, Simplicissimus (1669) 2. Buch, XVII. Kapitel, 142) Als Bestandteil der Konnektivpartikel ohnedies hat die Objektdeixis dies allerdings eine andere Qualität, als wenn sie als eigenständiger Ausdruck verwendet wird. Der wesentliche Unterschied zwischen der zusammengerückten und als Konnektivpartikel grammatikalisierten Form ohnedies und ihrer ursprünglichen Form ohne dies besteht nämlich darin, dass letztere, d.h. die „echte" Präpositionalphrase, auch im Skopus einer Gradpartikel hier der Gradpartikel auch stehen kann, was für Konnektivpartikeln ausgeschlossen ist (vgl. auch ohne dies oda· sogar ohne dies gegenüber *auch ohnedies oder * sogar ohnedies): (28) Wächst die US-Wirtschaft mit sagenhaften sieben Prozent im Jahr? Der mittlerweile längste Wirtschaftsboom der amerikanischen Nachkriegsgeschichte beschleunigt sich jedenfalls weiter. Wenn die Regierung in vier Wochen erstmals Konjunkturschätzungen mit statistischen Korrekturen veröffentlicht, rechnen Experten mit noch nie dagewesenen Zahlen, die sowohl die Zinspolitik des Federal Reserve Board als auch den Dollarkurs
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nachhaltig beeinflussen könnten. Auch ohne dies fühlt sich Präsident Clinton in der Rolle des Musterschülers innerhalb der führenden Industrienationen sichtlich wohl. Schließlich korrigierte das US-Handelsministerium vergangene Woche zum zweitenmal die Wachstums-schätzung für das erste Quartal nach oben. (Süddeutsche Zeitung, 30.6.1997) Operativ wirken Präpositionen relationierend16: Mit ihnen wird eine erste Größe die das Bezugsobjekt der Präposition darstellt in eine durch die jeweilige Präposition semantisch spezifizierte Beziehung zu einer zweiten Größe gesetzt (vgl. Zifonun et al. 1997,44). Bezugsobjekt der Präposition ohne in ohnedies ist die Objektdeixis dies, die auf einen im vorangehenden Text oder Diskurs verbalisierten Sachverhalt zeigt und diesen aufs Neue fokussiert. Im Falle von ohnedies werden also zwei Sachverhalte zueinander in Beziehung gesetzt: der durch dies anadeiktisch refokussierte Sachverhalt sowie der im ohnedies-Satz selbst bezeichnete Sachverhalt. Dabei drückt die Semantik von ohne aus, dass der im ohnedies-Satz genannte Sachverhalt ohne, d.h. alleine, abgesehen von dem mittels dies refokussierten gilt, wodurch dieser in seiner Relevanz eingeschränkt wird. Ein Beispiel aus einer Unterredung zwischen Dr. Sponholz, der für sechs Wochen in die Schweiz fahren will, um den Rheumatismus seiner Frau auszukurieren, und seinem Patienten Dubslav: (29)»[...] Und ich bin froh, daß die Digitalis hier bei Ihnen mal wieder zeigt, was sie kann. Und ich bin doppelt froh, weil ich mich auf sechs Wochen von Ihnen verabschieden muß. [...] Wie ich meinen Kreis wiederfinden werde ... nu, vielleicht hat Gott ein Einsehen.« »Er ist doch wohl eigentlich der beste Assistenzarzt.« »Und vor allem der billigste. Der andre, den ich mir aus Berlin habe verschreiben müssen (ach, und so viel Schreiberei), der ist teurer. Und meine Reise kommt mir ohnedies schon teuer genug.« (Th. Fontane, Der Stechlin, 356f.) · Das hier im ohnedies-Satz genannte Faktum „die geplante Reise in die Schweiz wird sehr teuer" gilt, und es würde auch gelten, wenn das vorher verbalisierte Faktum „der Assistenzarzt aus Berlin, der mich während meiner Abwesenheit vertreten wird, ist teuer", auf das der deiktische Bestandteil der Konnektivpartikel zeigt, nicht noch hinzukäme. Die bevorstehende Reise ist also bereits ohne die zusätzlichen Kosten für den Vertretungsarzt sehr teuer. Der im ohnedies-Satz bezeichnete Sachverhalt steht somit genauso wie der im sowieso- oder eA-Satz bezeichnete von vornherein fest, und eben hierin besteht auch die wesentliche Übereinstimmung der drei Partikeln. Diesen temporalen Blickwinkel nimmt auch Paul (19929, 629) bei seiner Bedeutungsumschreibung von ohnedies ein: Die Äußerung „er war ohnedies böse" bedeute 16
GrieBhaber (1999) hat allerdings anhand von lokalen Präpositionen die „relationierende Prozedur" als eine Realisierungsform der operativen Prozedur entwickelt.
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so viel wie „er war böse, schon ehe dies hinzukam". In einen Kontext wie (30) eingebettet ließe sich eine solche Äußerung als eine Art beschwichtigendes Argument einsetzen: (30) A: Ich mache mir solche Vorwürfe! Ich glaube, ich habe Paul mit dem, was ich gesagt habe, sehr verärgert. B: Er war ohnedies böse, weißt du. Was Β hier mit „er war ohnedies böse" zum Ausdruck bringt, könnte folgendermaßen paraphrasiert werden: „Das war sicher nicht besonders nett, was du da gesagt hast, aber Paul war ohnedies böse, und insofern ist deine Bemerkung nicht ganz so relevant gewesen, wie du vielleicht meinst, und du solltest dir nicht allzu viele Gedanken machen". Der von A befürchtete Zusammenhang zwischen seiner Bemerkung und Pauls Bösesein, das also, worauf im ohnediesSatz mittels dies verwiesen wird, wird zwar nicht vollkommen geleugnet, doch wird die Tragweite von As Bemerkung durch das im ohnedies-Satz genannte Faktum erheblich eingeschränkt. Auch ohne As Bemerkung hätte sich die Konsequenz, dass Paul böse ist, ergeben, denn die Hauptursache dafür, dass Paul jetzt böse ist, war eine ganz andere. Offenbar wird mit einem ohnedies-Argument das Vorhergehende nicht vollständig außer Kraft gesetzt; es wird vielmehr ein zusätzliches Argument beigebracht, das so gewichtig ist, dass es allein schon ausreichen würde, um zur jeweiligen Konklusion zu gelangen. So werden ja auch in (29) die Kosten für den Vertretungsarzt durch das im ohnedies-Satz vorgebrachte Argument keineswegs als unbedeutend qualifiziert; es wird hier nur zum Ausdruck gebracht, dass man zur abschließenden Beurteilung der Reise als teuer auch ohne das vorher genannte Faktum kommen würde. Im Falle von ohnedies ist die Relevanzeinschränkung somit weniger stark als bei sowieso und eh. Während sowieso und eh das Vorhergehende als „nicht relevant" markieren, wird es bei ohnedies als „nicht so relevant" qualifiziert, da sich die entsprechende Konklusion auch ohne dieses, d.h. allein schon aus dem im ohnedies-Satz genannten Faktum, ergibt. Auch im folgenden Beispiel, in dem der Autor seine Eingangsthese „Die Städte schwellen zu Monstern an, die jeder Kontrolle entgleiten" anhand von zwei Beispielen (Hakkari und Diyarbakir) nachzuweisen versucht, reicht das im ohnedies-Satz verbalisierte Faktum aus, um die Feststellung „Hakkari ist überfüllt" zu treffen. Nicht erst jetzt mit den gerade eingetroffenen 55 000 Flüchtlingen, sondern bereits vorher war Hakkari überfüllt: (31) Weite Teile von Kurdistan sind bereits totes Land. Nach Angaben der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD haben die Sicherheitskräfte zwischen 1990 und 1994 2374 Dörfer niedergebrannt. Vielleicht zwei Millionen Menschen, vielleicht auch mehr, sind geflohen. [...] Die Städte schwellen zu Monstern an, die jeder Kontrolle entgleiten. Der Gouverneur von Hakkari wandte sich verzweifelt an das Rote Kreuz und erbat Hunderte
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Zelte. Denn die rund 55 000 Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern kann die Stadt in den wildromantischen Bergen von Kurdistan nicht mehr aufnehmen. Ohnedies hatte sich ihre Bevölkerung binnen weniger Jahre verdreifacht. Diyarbakir zählte noch 1990 kaum mehr als 300 000 Menschen. Nun ist die Millionengrenze überschritten. (Die Zeit, 13.10.1995) Das oftned/ei-Argument stellt aber auch hier nicht die Tatsache an sich, dass 55 000 Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern nach Hakkari geflohen sind, als nicht so relevant hin im Gegenteil: es sind ja gerade eben diese zusätzlichen Flüchtlinge, die das aktuelle Problem des Gouverneurs von Hakkari ausmachen; nicht so relevant ist dieser Sachverhalt, der hier durch die Vorfeldpositionierung von ohnedies noch einmal eigens gewichtet wird, nur in dem Sinne, dass man auch ohne ihn zur Konklusion „Hakkari ist überfüllt" gelangt. Man muss also unterscheiden zwischen argumentativer Nicht-Relevanz und inhaltlicher Nicht-Relevanz des durch dies refokussierten Sachverhalts und damit zwischen dem, was der Ausdruck ohnedies selbst leistet, und dem, was sich im jeweiligen Kontext unter Umständen an Sinneffekten ergibt, wenn der zuerst genannte Sachverhalt relativ zum zweiten aufs Neue evaluiert wird. Im Kontext von (30) geht die unmittelbar auf den Ausdruck ohnedies zurückzuführende argumentative Nicht-Relevanz mit einer inhaltlichen NichtRelevanz des vordem ohnedies-Satz verbalisierten Sachverhalts einher. In (31) hingegen, wo das ohnedies-Argument dazu dient, die Behauptung „die Stadt Hakkari kann die 55000 Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern nicht mehr aufnehmen" zu stützen, ergibt sich genau das umgekehrte Bild: Hier erscheint der durch dies im ohnedies-Satz refokussierte Sachverhalt gerade dadurch, dass er argumentativ nicht so relevant ist, inhaltlich umso gravierender. Denn wenn sich die Konklusion „Hakkari ist vollkommen überfüllt" bereits ohne ihn erschließen lässt, wird verständlich, wieso 55 000 weitere Menschen eine unter Umständen nicht mehr zu bewältigende Verschärfung der Situation darstellen. Hieraus folgt, dass die beiden Propositionen, die durch den para-operativen Ausdruck ohnedies zueinander in Beziehung gesetzt werden, notwendig gleichgerichtet sind, d.h. dass sie als Argumente für die gleiche Konklusion genutzt werden. So spricht im folgenden Beispiel sowohl das im ohnedies-Satz genannte Faktum, dass man seiner Bewerbung diverse Unterlagen beifügen muss, dafür, die Unterlagen in einem DinA4-Umschlag zu verschicken, als auch die mittels dies refokussierte Tatsache, dass man mit einem nicht bzw. höchstens einmal gefalteten Bewerbungsschreiben einen guten Eindruck macht: (32) Die Bewerbung muß auf den ersten Blick einen sauberen, ordentlichen Eindruck machen. [...]. Auf keinen Fall ist mit dem Platz zu geizen links etwa drei bis vier Zentimeter Rand, der natürlich senkrecht verlaufen muß, oben und unten etwas Raum freilassen, die Zeilen etwa zwei Zentimeter vor dem Papierrand beenden, etwa alle fünf bis acht Zeilen einen Absatz machen (je nach Inhalt sind auch kürzere Abstände durchaus zulässig) so ergibt sich ein Schriftbild, dessen guter Eindruck noch verstärkt werden
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kann, wenn man das Schriftstück nicht oder höchstens einmal faltet. Man muß ja ohnedies meist Unterlagen beifügen, und dann sieht es gar nicht gut aus, wenn alles zusammen auf Postkartenformat geknickt wird. Für die eigene berufliche Zukunft darf man ein paar Groschen für große Umschläge (und eventuell höheres Porto) nicht scheuen. (Frankfurter Rundschau, 20.2.1999) Die Konnektivpartikel ohnedies bringt auch hier wieder zum Ausdruck, dass das im ohnedies-Saüz angeführte Argument insofern ein stärkeres Argument für die intendierte Schlussfolgerung als das zuerst genannte darstellt, als dieses Argument allein schon ausreichen würde, um zur Konklusion „Man sollte seine Bewerbungsunterlagen in einem DinA4-Umschlag verschicken" zu gelangen. Mit ohnedies wird also immer ein zweites, ein zusätzliches Argument beigebracht, das darauf abzielt, auch denjenigen von der Konklusion zu überzeugen, den das zuerst angeführte Argument vielleicht noch nicht überzeugt hat, der beispielsweise in (32) so etwas wie „die Tatsache allein, dass es einen guten Eindruck macht, wenn ich mein Bewerbungsschreiben nicht oder nur einmal falte, reicht nicht aus, um mich davon zu überzeugen, meine Bewerbung in einem DinA4-Umschlag zu verschicken" eingewendet hätte oder in (31) „nur, weil 55 000 Flüchtlinge angekommen sind, soll Hakkari schon überfüllt sein, das ist wenig plausibel". Von hier aus lässt sich verstehen, weshalb Grimm & Grimm (1889, 1215) die Bedeutung von ohnedies auch mit „außerdem, überdies, sonst, ferner" umschreiben17. In der Tat präsentiert sich der Ausdruck zudem aufgrund seiner Semantik und seiner Morphologie als eine Art Gegenstück zu ohnedies·. Auch hier werden eine operative, genauer: eine relationierende und eine deiktische Prozedur miteinander kombiniert aufgrund dieser morphologischen Struktur könnten sowohl ohnedies als auch zudem mit Rehbein (1995) als „zusammengesetzte Verweiswörtef" charakterisiert werden , wobei zu gegenüber ohne zum Ausdruck bringt, dass der im zudem-Satz genannte Sachverhalt zu dem mittels dem refokussierten hinzukommt: (33) Die Politik der Bauernpartei PSL sei charakterisiert durch ein traditionelles Mißtrauen gegenüber Deutschland, sagte Olechowski [i.e. Polens gerade zurückgetretener Außenminister]. ,Das ist ein großes Problem für unsere Politik', denn wie könne man dynamische Verhandlungen über Polens Beitritt zur Europäischen Union führen, wenn man Jenem mißtraue, der unser bester Anwalt sein sollte?' Das Mißtrauen Pawlaks gegenüber Deutschland falle ständig auf. So habe sich der Premier heftig dagegen gewehrt, seine erste Auslandsreise nach Bonn anzutreten; statt dessen habe er Moskau vorgezogen, erklärte Olechowski. Ständig habe Pawlak zudem personelle Entscheidungen getroffen, mit denen er den 17
Auch die oben zitierte, bei Paul (1992®, 629) angeführte Paraphrase „schon ehe dies hinzukam" fiir ohnedies geht in diese Richtung.
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Deutschen auf die Zehen getreten sei: So habe er in die gemeinsamen polnisch-deutschen Institutionen Leute geschickt, die ihre antideutsche Haltung offen gezeigt hätten; zurückgerufen habe er jene, die eine gute gemeinsame Sprache mit den deutschen Partnern gefunden hätten. (Süddeutsche Zeitung, 20.1.1995) Um seine Behauptung „Polens Regierungschef Waldemar Pawlak ist Deutsch-land gegenüber misstrauisch" zu rechtfertigen, führt der Journalist hier zwei Argumente an: Für diese Einschätzung spricht nämlich sowohl die Tatsache, dass er sich heftig dagegen gewehrt hat, seine erste Auslandsreise nach Bonn anzutreten (p), als auch die Tatsache, dass er wiederholt personelle Entscheidungen getroffen hat, mit denen er den Deutschen auf die Zehen getreten ist (q). Der im zudem-Satz verbalisierte Sachverhalt wird hier also als Argument für dieselbe Schlussfolgerung verwendet wie der im vorausgehenden Satz verbalisierte Sachverhalt. Auch Propositionen, die mit Hilfe von zudem miteinander verknüpft werden, sind demnach gleichgerichtet. Daraus folgt, dass die Argumentation des Journalisten in (33) auch dann schlüssig wäre, wenn man zudem durch ohnedies ersetzen würde. Der fundamentale Unterschied zwischen beiden Partikeln liegt aber darin, dass mit zudem eben gerade nichts Uber die Gewichtung der beiden Argumente ausgesagt wird, wohingegen die Semantik von ohne zum Ausdruck bringt, dass die Konklusion allein aus q erschließbar ist, so dass q das relevante Argument darstellt, das durch ρ allenfalls vorbereitet wird. Das folgende Schaubild veranschaulicht die unterschiedlichen Leistungen von ohnedies und zudem: p, ohnedies q
(also: bereits q allein)
—» Konklusion k
p, zudem q
(also: ρ ν q)
-» Konklusion k
t_l tJ
Die besondere Leistung der Konnektivpartikel ohnedies und damit auch ihre Unterschiede gegenüber sowieso und eh manifestieren sich ganz deutlich in folgenden Beispielen: [Neubearbeitung:] (34) A: Was meinst du, sollen wir Renate aufs Gymnasium gehen lassen oder nicht? B: Aber sie heiratet doch so wieso/eh/ ? ? o Α η «dies.
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(35) A fragt in die Runde (also B, C und D): Was wollen wir heute abend machen? Wollen wir vielleicht schwimmen gehen? B: Also, ich habe sowieso/ehf Ohnedies keine Lust, heute noch mal raus zu gehen. (36) A: Wollen wir heute abend in den neuen Film von Woody Allen oder lieber in den neuen Film von Mathieu Krassowitz gehen? B: Wir kriegen doch sowieso/eh/ ohnedies keine Karten mehr. Offensichtlich ist der Gebrauch von ohnedies in einem Kontext, in dem der Sprecher mit dem im Partikelsatz verbalisierten Sachverhalt auf eine Entscheidungs- oder eine Alternativfrage reagiert, zumindest ungewöhnlich, wenn nicht sogar inakzeptabel (und dies, wie sich gleich zeigen wird, nicht nur, weil ohnedies eher in der geschriebenen Sprache verwendet wird, wie jetzt vermutlich der eine oder andere entgegenhalten wird), wohingegen sowieso und eh an dieser Stelle problemlos verwendet werden können. Für sowieso ist dieser Kontext geradezu prototypisch; schließlich werden hier beide Seiten der Alternative, auf die sich die Konnektivpartikel sowieso bezieht, d.h. ρ und ->p, entweder explizit verbalisiert wie in (34), automatisch mitverstanden wie bei der Entscheidungsfrage in (35) oder als Gattungspräsupposition vorausgesetzt wie in (36). Sowohl das Verweisobjekt des ersten so als auch das des zweiten so befinden sich hier also in einem für den Adressaten zugänglichen Verweisraum. Genau dieser Umstand macht aber den Gebrauch von ohnedies so problematisch, denn ohnedies enthält nur einen deiktischen Ausdruck, die Objektdeixis dies, mit der eben nur eine einzige anadeiktische Prozedur vollzogen und damit nur ein einziger im vorangehenden Text oder Diskurs verbalisierter Sachverhalt im Partikelsatz refokussiert werden kann. Nach Hoffmann (1992, 608) ist die anadeiktische Prozedur „als schrittweise Re-Orientierung in der linearen Kette vorzustellen, bis das passende, rhematisch verträgliche Objekt gefunden ist". Dementsprechend wäre die Verwendung von ohnedies in (34) bis (36) deswegen nicht ganz angemessen, weil es im Grunde genommen zwei Objekte gibt, die mit dem im Partikelsatz bezeichneten Sachverhalt rhematisch verträglich sind. In den folgenden, leicht modifizierten Versionen der Beispiele (34) bis (36) ist die Verwendung von ohnedies jedoch durchaus adäquat: (34') A: Was meinst du, sollen wir Renate aufs Gymnasium gehen lassen oder nicht? B: Naja, ihre Noten sind ja nicht so besonders und sie heiratet doch ohnedies (irgendwann). (35') A fragt in die Runde: Was wollen wir heute abend machen? Wollen wir vielleicht schwimmen gehen? B: Also, ich habe schon den ganzen Tag Kopfschmerzen und ohnedies keine Lust, heute noch mal raus zu gehen.
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(36') A: Wollen wir heute abend in den neuen Film von Woody Allen oder lieber in den neuen Film von Mathieu Krassowitz gehen? B: Ich würde, glaube ich, heute abend lieber zu Hause bleiben, und wir kriegen doch ohnedies keine Karten mehr. Hier nämlich gibt es nur ein einziges Objekt, das rhematisch zu dem im ohnedies-S&tz genannten passt. Die mittels dies vollzogene anadeiktische Prozedur geht hier nicht ins Leere, sondern verweist auf den jeweils unmittelbar vorher von Β selbst verbalisierten Sachverhalt. Und genauso wie in (29) bis (32) stellt auch hier das im ohnedies-SsAz bezeichnete Faktum ein zweites Argument dar, das zu dem vorher genannten hinzukommt, dieses aber dadurch als nicht so relevant markiert, dass sich die jeweilige Konsequenz („Wir lassen sie nicht aufs Gymnasium gehen", „Wir wollen nicht schwimmen bzw. nicht ins Kino gehen") auch „ohne dieses" ergibt. Wie die Variationen der Beispiele (34) bis (36) zeigen, besteht der entscheidende Unterschied zwischen sowieso und ohnedies folglich darin, dass der Sprecher sich mit der Konnektivpartikel ohnedies nicht wie mit sowieso auf eine strittige Frage bezieht, sondern auf ein vorher genanntes Argument p. Dieses geht zwar in dieselbe Richtung wie q, ist aber insofern nicht so relevant, als aus q allein auf die intendierte Konklusion geschlossen werden kann. Selbstverständlich ließe sich in (34') bis (36') auch sowieso an Stelle von ohnedies verwenden: Auch sowieso würde sich in diesem Fall auf den unmittelbar vorher verbalisierten Sachverhalt beziehen und nicht auf die Entscheidungsbzw. Alternativfrage von A. Jedoch würde eben dieser Sachverhalt aufgrund der residual-deiktischen Qualität der beiden sos im Wissen des Hörers als Alternative, als strittige Frage ρ oder - φ , rekonstruiert werden, also etwa in (34') „Die Frage, ob Renates Noten gut genug fürs Gymnasium sind oder nicht, ist insofern nicht relevant, als sie so wie so irgendwann heiraten wird" oder in (36'): „Die Frage, ob ich heute abend lieber zu Hause bleiben würde oder nicht, ist insofern nicht so relevant, als wir so wie so keine Karten mehr kriegen werden".
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ohnehin
Der Ausdruck ohnehin ist Grimm & Grimm (1889, 1218) zufolge im 18. Jahrhundert" „nach Analogie von mithin" gebildet wordenl9: Bei beiden Ausdrücken handelt es sich um Zusammensetzungen aus einer Präposition mit der Lokaldeixis hin, wobei die hier involvierten Präpositionen mit bzw. ohne als semantisch komplementär charakterisiert werden können. Wir haben es demnach in beiden Fällen mit einer Prozedurenkombination aus einer relationierenden 18
Zum ersten Mal ist ohnehin bei Moerbeek im Jahre 1768 belegt (vgl. Weigand 1910 5 , 335).
19
Die Etymologie von ohnehin und damit der historische Zusammenhang von ohnehin und mithin wird auch bei Weydt (1983, 178) zur Analyse von ohnehin herangezogen.
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und einer mit Hilfe von hin vollzogenen deiktischen Prozedur zu tun. Von seiner Grundbedeutung her bezeichnet hin den Endpunkt einer Bewegung vom Sprecher weg, wohingegen sein Pendant her die Orientierungsrichtung zum Sprecher hin vorgibt, so dass hier Ursprung der Perspektive und Verweisort identisch sind (vgl. hinüber, hinunter oder auch hinkommen gegenüber herüber, herunter bzw. herkommen). Der para-operative Ausdruck mithin wurde ursprünglich im Sinne von .währenddem', ,in diesem Augenblick' verwendet, also ausschließlich temporal, konnte dann aber zunächst nur in der Kanzleisprache, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts laut Paul (1992®, 578) aber auch in der normalen Umgangssprache auch zur Einleitung einer Schlussfolgerung gebraucht werden. Heute wird mithin nur noch in diesem zweiten und jüngeren, für die Analyse von ohnehin bedeutsamen Sinne gebraucht: (37) Sam Njankono Meffire wurde als Sohn eines Kameruners und einer DDRBürgerin in Sachsen geboren, besitzt mithin die deutsche Staatsbürgerschaft. (Der Spiegel 1/1995) Mithin könnte hier durch .folglich' oder ,also' ersetzt werden. Es drückt aus, dass die Tatsache, dass Sam Njankono Meffire die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, darauf zurückzuführen ist, dass er als Sohn eines Kameruners und einer DDR-Bürgerin in Sachsen geboren wurde. Bei mithin kann das im mithin-Satz genannte Faktum q also aus dem im vorhergehenden Satz verbalisierten Sachverhalt ρ gefolgert werden, anders gesagt: im Falle einer mithin-Verknüpfung wird ρ als Argument für q genutzt. Anders dagegen bei ohnehin·. Hier trifft die im ohnehin-S&tz verbalisierte Behauptung q unabhängig von dem im vorangehenden Text oder Diskurs genannten Sachverhalt ρ zu; q stützt sich hier somit gerade nicht auf p: (38) Jutta Homann aus Hamburg-Rahlstedt hat ihren Platz auf dem GewinnerThron seit nunmehr fünf Ausgaben der „10-Millionen-SKL-Show" nicht verlassen. [...] „Ich kann nachts schon nicht mehr schlafen", erzählt die Hausfrau und Mutter eines erwachsenen Sohnes der ΜΟΡΟ. „Höchstens drei bis vier Stunden bekomme ich die Augen noch zu, den Rest liege ich nervös wach und denke darüber nach, wie das Spiel wohl ausgeht." Doch bei aller Aufregung: 50 000 Mark sind der 60-Jährigen ohnehin sicher: „Vielleicht werden wir von dem Geld renovieren oder uns etwas Kleines gönnen", sagt die Glücksspiel-Kandidatin bescheiden. (Hamburger Morgenpost 28./29.4.2001) Das hier im ohnehin-Satz genannte Faktum q „50 000 Mark sind der 60-Jährigen sicher" steht genauso wie das in einem sowieso- oder eA-Satz genannte von vornherein fest, und vor diesem Hintergrund erscheint der im vorangehenden Text erläuterte Sachverhalt ρ „Jutta Homann ist sehr aufgeregt und kann nicht mehr schlafen" als nicht relevant. Die Komplementarität von mithin und ohnehin lässt sich durch folgende
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Paraphrase verdeutlichen: Während man bei mithin nur mit dem zuerst genannten Faktum ρ (inferentiell) hin zu q gelangt, kommt man bei ohnehin auch ohne das vorher genannte Faktum dorthin. Diese Paraphrase liefert gleichzeitig einen ersten Erklärungsansatz für die Funktion des lokaldeiktischen Ausdrucks hin, den beide Partikeln enthalten: Sowohl bei mithin als auch bei ohnehin wird der Argumentationszusammenhang räumlich konzeptualisiert, wobei das im mithin- bzw. ohnehin-Satz genannte Faktum q gewissermaßen als Ziel eines von der Origo des Sprechers aus über ρ bzw. gerade nicht über ρ zurückzulegenden Weges gesehen wird. Verweisort der Lokaldeixis -hin in ohnehin ist damit der im ohnehin-Satz selbst verbalisierte Sachverhalt q. Das lokaldeiktische -hin ist der Schlüssel, anhand dessen sich nicht nur die spezifische Leistung von ohnehin im Gegensatz zu ohnedies, sondern auch die von ohnehin gegenüber sowieso und eh verdeutlichen lässt. Die Lokaldeixis -hin ist das, was die Konnektivpartikel ohnehin von der ihr auf den ersten Blick sehr ähnlichen Konnektivpartikel ohnedies unterscheidet: Beide stellen eine Verknüpfung zwischen dem im Partikelsatz verbalisierten Sachverhalt q und einem im vorhergehenden Text oder Diskurs genannten Sachverhalt ρ her, und in beiden Fällen wird diese Verknüpfung durch die Präposition ohne semantisch spezifiziert, d.h. sowohl ohnedies als auch ohnehin bringen zum Ausdruck, dass man das, was man vorher genannt hat, also p, für das, was man will, also q (bzw. bei ohnedies ein weiterer aus q folgerbarer Sachverhalt) nicht braucht. Während -dies aber nach links auf das unmittelbar zuvor genannte Faktum ρ zeigt und dieses im ohnedies-Satz aufs Neue in den Fokus der Höreraufmerksamkeit rückt, verweist hin sozusagen in die andere Richtung auf q, d.h. bei ohnehin wird der durch das ohnehin-Argument in seiner Relevanz eingeschränkte Sachverhalt ρ im ohnehin-Satz selbst nur durch die Semantik der Präposition ohne miteinbezogen. Diese doch sehr unterschiedliche Qualität der beiden deiktischen Bestandteile -hin und -dies insbesondere die Tatsache, dass der Ausdruck ohnehin von seiner Morphologie her keinerlei Vorgaben macht in Bezug auf die genaue Form von ρ erklärt, weshalb ohnehin einen ungleich größeren Anwendungsbereich als ohnedies hat: So weist es etwa die oben unter 4. für ohnedies erläuterten Gebrauchsbeschränkungen in Argumenten, die auf eine Entscheidungs- oder Alternativfrage Bezug nehmen, Beschränkungen, die ja durch eben den objektdeiktischen Bestandteil dies in ohnedies bedingt waren, gerade nicht auf20. Zur Illustration führe ich hier noch einmal die Beispiele (34) und (35) an, in denen sich ohnehin im Gegensatz zu ohnedies genauso wie sowieso und eh problemlos verwenden lässt: (34") A: Was meinst du, sollen wir Renate aufs Gymnasium gehen lassen oder nicht? 20
Hentschels & Weydts (1983, 20) Bestimmung von ohnedies als seltenere Nebenform von ohnehin ist somit keinesfalls hinreichend.
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B: Aber sie heiratet doch oAneAt/i/ ?, ohnedies/sowieso/eh. (35") A fragt in die Runde (also B, C und D): Was wollen wir heute abend machen? Wollen wir vielleicht schwimmen gehen? B: Also, ich habe oftne/iin/ n ohnedies/sowieso/eh keine Lust, heute noch mal raus zu gehen. Abgesehen davon, dass ohnehin gehobener als sowieso und eh wirkt (vgl. etwa Hentschel & Weydt 1983, 20 oder Heibig 1988, 194), was allerdings, wie sich gleich zeigen wird, nicht primär eine Frage des Stils ist, besteht der Hauptunterschied zwischen diesen drei Konnektivpartikeln darin, dass sie aufgrund ihrer Morphosyntax eine je spezifische Verknüpfung zu ρ herstellen. Während sowieso ausdrückt, dass q gilt, ob ρ nun vorliegt oder nicht, zielt eh auf die Tatsache ab, dass q schon vor ρ feststand. Beim Gebrauch von ohnehin schließlich wird die in Bezug auf q mittels ohne zu relationierende Größe ρ das Bezugsobjekt der Präposition einzig durch die Bedeutung von ohne evoziert, so dass ohnehin in seiner Grundbedeutung zum Ausdruck bringt, dass man ohne das Vorhergehende, was auch immer es sein mag, hin zu q gelangt. Diese signifikanten Eigenschaften von ohnehin machen es besonders geeignet für Kontexte, in denen der im Partikelsatz genannte Sachverhalt inhaltlich relativ unabhängig vom vorangehenden Text oder Diskurs ist, Kontexte, in denen zum Beispiel mit dem ohnehin-SaXz ein Themen- oder Perspektivenwechsel innerhalb eines komplexen, übergeordneten Themas eingeleitet wird. Im Beispiel (39) etwa, in dem der Autor die These „die heutige Parteienlandschaft ist weder mit der von 1930 noch mit der von 1945/48 vergleichbar" zu belegen versucht, wird das komplexe Thema „die sächsische Parteienlandschaft seit 1990 und ihre historischen Vorläufer" in verschiedene Teilthemen aufgesplittet bearbeitet. Der ohnehin-Satz markiert hier den Übergang vom Teilthema „die CDU und ihre historischen Vorläufer" zum Teilthema „die PDS und ihre historischen Vorläufer", wobei durch ohnehin eben dieser Zusammenhang als nicht relevant qualifiziert wird, da die PDS erst nach 1990 gegründet worden ist: (39) Die Parteienlandschaft seit 1990 hat wenig Bezugspunkte zu der, die sich 1930 von der Demokratie zu verabschieden begann und auch kaum zu der von 1945/48, die durchaus mit derjenigen Westdeutschlands korrespondieren konnte. Die SPD in Sachsen darf sich gewiß ganz allgemein der großen sozialdemokratischen Tradition verpflichtet fühlen, sie ist aber viel stärker einem ethischen Sozialismus (wenn überhaupt einem Sozialismus) verpflichtet, der in Sachsen bis 1933 nur schwach vertreten war. Die CDU hatte in den bürgerlichen Parteien Sachsens bis 1933 keine Vorläufer, eher in denen von 1945/48. Für ein Zusammengehen von SPD und CDU läßt sich die Geschichte kaum bemühen, wenn wir an eine mindestens 60 Jahre währende polare Lagerbildung zwischen Bürgerlichen und Sozialisten in Sachsen denken. Dagegen aber auch nicht, eben weil die heutige Partei-
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enlandschaft nicht mit der damaligen vergleichbar ist. Die PDS ist ohnehin eine Partei, die in kein bisheriges historisches Schema paßt. Sie ist was kaum gesehen wird mehr ein ungewolltes Kind der Vereinigung als das des gescheiterten Realsozialismus, und ihr Weg ist offener, auch unsicherer als der jeder anderen Partei. (Frankfurter Rundschau, 12.1.1999) Zur Gliederung eines längeren Textes bzw. einer längeren Textpassage trägt ohnehin auch im folgenden Beispiel bei. Auch hier wird im ohnehin-Satz, der zudem noch graphisch vom Vorhergehenden abgesetzt ist, ein neuer thematischer Aspekt zur Sprache gebracht, der mit den im vorangehenden Text verbalisierten Inhalten zwar in einen gemeinsamen thematischen Rahmen eingeordnet werden kann, dabei aber durchaus eigenständig ist: (40) An Energie fehlt es Kerkorian nicht. Noch heute spielt er täglich Tennis, das Alter ist ihm nicht anzusehen. Nur seine Nase zeigt, daß sich der ehrgeizige Aufsteiger in jungen Jahren regelrecht durchboxen mußte. Als Milliardär ist Kerkorian ein Spätstarter: Seine tausendste Dollarmillion hatte der gebürtige Kalifornier erst in einem Alter zusammen, in dem sich andere längst zur Ruhe gesetzt haben. Der Sohn eines armenischen Obstbauern hat in seinem Leben oft genug bewiesen, mit welchen Tricks man Geschäfte machen kann. So konnte aus dem Knaben Kerkor, der über die achte Schulklasse nicht hinauskam, Kirk werden, der zu den 20 reichsten Amerikanern gehört. „Ich bin ein Sohn aus armen Verhältnissen, der Glück hatte", sagt er bescheiden über sich selbst. Zu den scheuesten Vertretern der US-Wirtschaft zählt er ohnehin. Mit Journalisten redet Kerkorian grundsätzlich nicht. Öffentliche Auftritte sind ihm ein Greuel. Gesehen wird er allenfalls, wenn in seinem MGM Hotelkomplex ein großer Schwergewichtsboxkampf auf dem Programm steht. (Der Spiegel 17/1995) Nach Hoffmann (2000) handelt es sich in (39) und (40) um zwei verschiedene Formen der Themenentwicklung: In (39) haben wir es mit einem Themensplitting zu tun, wohingegen (40) als Beispiel für eine Themenkomposition zu charakterisieren wäre. Der Autor will seinen Lesern hier ein Bild des 77jährigen Kirk Kerkorian vermitteln, der für knapp 23 Milliarden Dollar den Autokonzern Chrysler kaufen will. Dieses komplexe Thema bearbeitet er über verschiedene Subthemen: „Kerkorians Gesundheitszustand", „wann wurde er Milliardär", „aus welchen Verhältnissen kommt er", „welche Schuldbildung hat er" sowie schließlich über das mit Hilfe von ohnehin an das vorhergehende Subthema geknüpfte „wie geht er mit dem öffentlichen Interesse an ihm um". Jedes dieser Subthemen behandelt einen anderen Aspekt der Person Kerkorian und leistet dadurch einen Beitrag zum übergeordneten Thema „wer ist eigentlich dieser Kerkorian". Dabei drückt ohnehin ganz im Sinne der angenommenen Grundbedeutung aus, dass man ohne das Vorhergehende hin zu der im ohnehin-Satz verbalisierten Behauptung kommt; die These, dass Kerkorian einer der scheuesten Vertreter der US-Wirtschaft ist, lässt sich folglich unabhängig von den vorher verbalisierten Inhalte vertreten, die in genau diesem Sinne, d.h. ohne dass man sie als
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stützende Argumente hinzuziehen müsste, als nicht relevant markiert werden. Fassen wir zusammen: Von seiner Grundbedeutung her, die den Hörer bzw. Leser nach „rechts" auf den im ohnehin-Satz genannten Sachverhalt q hin orientiert, ist der Ausdruck ohnehin für die Organisation von größeren Texten wie geschaffen; so tritt ohnehin sowohl in (39) als auch in (40) innerhalb eines größeren Textzusammenhangs auf und hilft diesen zu strukturieren, indem es ein neues Teil- bzw. Subthema einleitet, welches dann im Folgenden weiter entfaltet wird. Somit ist es weniger ein stilistisches als vielmehr ein textspezifisches Phänomen, dass ohnehin als stilistisch gehobene Entsprechung zu sowieso und eh angesehen wird: Nicht der Ausdruck ohnehin ist es, der sich durch die Zugehörigkeit zu einem gehobenen Register auszeichnet, sondern die Texte (gegebenenfalls natürlich auch die Diskurse), in denen er vorzugsweise vorkommt, sind es, die vermutlich aufgrund der Vielschichtigkeit des zu bearbeitenden Themas einen gewählteren Stil aufweisen als etwa die spontane mündliche Alltagskommunikation.
Quellen Boll, H. (1992) Ansichten eines Clowns. Köln: Kiepenheuer & Witsch Fontane, T. (1994) Der Stechlin. Köln: Könemann Gärtner, A. (1993) Konkurrenz versus Kooperation? Eine sprachwissenschaftliche Unterschung über konkurrierende und kooperierende Verhaltensweisen von Beteiligten in Geprächen. Frankfurt a.M.: Lang Gernhardt, R. (1997) Das Buch der Bücher. Zürich: Haffmans Grimmelshausen (1984) Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi. Hrsg. von Rolf Tarot. Tübingen: Niemeyer Gutzkow, K. (1998) Die Ritter vom Geiste. Hrsg. von Thomas Neumann. Frankfurt a.M.:Zweitausendeins (der Text folgt dem Korpus der Erstausgabe von 1850/51) Lessing, G. E. (ca. 1908) Lessings Werke. 3. Teil. Hrsg. von Waldemar Oehlke, Berlin/ Leipzig/ Wien/ Stuttgart: Deutsches Verlagshaus Bong & Co. Nestroy, J. (1993) Historisch-kritische Ausgabe. Stücke 5. Hrsg. von Friedrich Walle. Wien: Jugend und Volk Schnitzler, A. (1993) Das dramatische Werk I: Anatol, Dramen 1889-1891. Frankfurt a.M.: Fischer Cellesche Zeitung Der Spiegel Die Zeit Frankfurter Rundschau Hamburger Morgenpost Mannheimer Morgen Süddeutsche Zeitung
Literatur Bredel, U. (2000) Ach so Eine Rekonstruktion aus funktional-pragmatischer Perspektive. In: Linguistische Berichte 184,401-421 Bühler, K. (1934/1999 ) Sprachtheorie. Stuttgart: Lucius & Lucius Duden (1998^ Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Bearbeitet von P. Eisenberg, H. Gelhaus, H. Henne, H. Sitta und H. Wellmann. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag Eder, A. (1975) Eh-Pragmatik. In: Wiener Linguistische Gazette 9, 39-57 Ehlich, K. (1987) so - Überlegungen zum Verhältnis sprachlicher Formen und sprachlichen
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Frederike Eggs
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Konrad Ehlich Determination - eine funktional-pragmatische Analyse am Beispiel der hebräischen Strukturen
0. Überblick und Vorbemerkung Die Determination gehört ohne Zweifel zu den linguistisch reizvollen Gebieten. Zugleich bildet sie von den antiken Grammatikvoraussetzungen her eine Zone der Diffusität - gingen die beiden Grundsprachen Griechisch und Latein in dieser Hinsicht doch, anders als in den meisten anderen, auseinander. Auch die anderen westindoeuropäischen Sprachen verhalten sich nicht einheitlich. Besonders slawische Sprachen haben kein Artikelsystem, was zu weitreichenden Hypothesen geführt hat, die die beiden hauptsächlichen Besonderheiten dieser Sprachgruppe, die Artikellosigkeit im nominalen Bereich und das aspektuelle System des Verbs, miteinander in eine innere Beziehung setzen (s. vor allem Leiss 2000). Eine umfassende Konzeption zur Determination scheint bisher besonders unter funktionalem Gesichtspunkt - nicht vorzuliegen. So mag es vielleicht nützlich sein, die Determinationsverhältnisse in einer Sprache näher zu betrachten, die ein sehr klares Artikelkonzept vorhält. Dies soll im vorliegenden Papier geschehen. Das Beispiel, auf das Bezug genommen wird, ist das Hebräische. Der Text ist so verfaßt, daß er auch für nicht-hebraistische Leserinnen verständlich ist - jedenfalls war das das Bemühen seines Verfassers. In einem ersten Abschnitt (§ 1.) wird das Artikelsystem des Hebräischen im Anschluß an die ausgezeichnete Erschließung der Sprachdaten in den traditionellen Grammatiken kurz und unter Einbeziehung einiger neuerer systematischer Gesichtspunkten beschrieben. Der zweite Abschnitt (§ 2.) entwirft eine funktional-pragmatische Bestimmung von Determination. Der dritte Abschnitt (§ 3.) nutzt die in § 2. entwickelten Kategorien für die Re-analyse und Rekonstruktion des hebräischen Systems und thematisiert dessen systematische Integration in den Gesamtaufbau der Sprachstruktur. Für eher an den systematischen Fragen interessierte Leserinnen ganz ohne Kenntnisse des Hebräischen und ohne Interesse daran, sich vorab auf diese Sprachstruktur im Detail einzulassen, ist auch eine Lektüre möglich, die bei § 2 beginnt und sich dann, zwischen § 3. und § 1. wechselnd und beide Abschnitte in der Lektüre aufeinander beziehend, die konkreten Einzelstrukturen vor Augen führt. Allerdings scheint mir ein Einbezug dieses konkreten Beispiels - nicht zuletzt auch für die Anwendung auf andere Sprachen - schwer verzichtbar, jedenfalls aber nützlich zu sein.
Konrad Ehlich
308 1. Kurze Phänographie
Das Hebräische1 weist, betrachtet man es aus der Perspektive etwa des Deutschen oder weiterer moderner westindoeuropäischer Sprachen, eine vergleichsweise klare Struktur der sogenannten Determination auf. Diese gilt es zunächst also kurz zu beschreiben2. 1.1 „Determination" und „Artikel" Die Verwendung des Ausdrucks „Determination" geschieht in der hebraistischen Literatur im allgemeinen ohne weitere Explikationen als Teil einer grammatischen Terminologie, die als improblematisch erscheint. Ihren Fluchtpunkt bildet im allgemeinen jener common sense grammatischer Arbeit, der sich auf die selbstverständlich gewordenen griechisch-lateinischen Termini und auf deren diffus interpretierten kategorialen Status verläßt. Diese werden zudem stark von den unter diese Kategorien subsumierten und durch sie erfaßten eigensprachlichen Verhältnisse der Grammatiker bestimmt. Deren Sprache, also ζ. B. die deutsche, soll so, und zwar distanzlos, zur Erfassung und Aufhellung der sprachlichen Verhältnisse der fremden hebräischen Sprache dienen - ein kategorial bewerkstelligter Prozeß der Aneignung. Eine differenzierte kontrastive Analyse wird so eher erschwert als ermöglicht. Auch der Ausdruck „Artikel" wird im selben Sinn verwendet, und zwar als „bestimmter" Artikel. Der entsprechende Passus bei Bauer & Leander 1922 lautet: Der Artikel determiniert ein an sich indeterminiertes N o m e n und entspricht also im wesentlichen dem bestimmten Artikel des Deutschen. (§ 31a)
Eine Kennzeichnung der Indétermination findet sich im allgemeinen nicht. Es entspricht dem eben beschriebenen kategorialen Verfahren, wenn Bauer & Leander freilich (§ 3 In) schreiben: 1
Unter „Hebräisch" wird hier die althebräische Sprache verstanden, wie sie im überwiegenden Teil des Alten Testaments / Tenach sowie einer verhältnismäßig kleinen Gruppe weiterer Texte (vgl. Donner - Röllig 1966-1969; Jenni 1978, § 0.4.3.) dokumentiert ist. Wie weit das heute gesprochene Ivrit, das in vieler Hinsicht eine hybride Weiterentwicklung unter starkem indoeuropäischen Einfluß ist, die Sprachstrukturen des Althebräischen bewahrt hat, bedarf jeweils der eigenen Analyse und kann für den Bereich der Determination an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Zur Ge-samtgeschichte der hebräischen Sprache vgl. z.B. Kutscher 1982.
2
Detaillierte Darstellungen - vor allem der formalen Verhältnisse - finden sich in allen einschlägigen Grammatiken des Hebräischen, also etwa Gesenius & Kautzsch 1909, Bergsträsser 1918, Bauer & Leander 1922 und ausführlichen Lehrbüchern wie Jenni 1978; schwieriger ist die Bestimmung der Funktionen insbesondere des Artikels sowie der sogenannten „status-constructus"-Verbindungen. Ein Teil der Grammatiken ist aus äußerlichen Gründen zu einer Behandlung der Funktionen nicht gekommen (Bauer & Leander 1922, Bergsträsser 1918/1929). Brockelmanns Alterswerk 1956 hingegen widmet ihnen breiten Raum.
309
Determination im Hebräischen
Als unbestimmter Artikel wird gelegentlich das Zahlwort 'äxad "eins" verwendet...3 Diese Belege sind freilich dermaßen sporadisch, daß sie auch ohne die Annahme einer Parallele zur entwickelten Charakterisierung von Indétermination im Deutschen als einfache Nutzung des Numerale verstanden werden können. 1.2 haDer Ausdruck, der für die Kennzeichnung von Determination verwendet wird, ist ein dem zu determinierenden Nomen präfigiertes ha-. Es hat einige phonotaktische Besonderheiten. Deren wichtigste ist, daß es zu einer Verdoppelung des folgenden, nomeninitialen Konsonanten führt4. Dadurch gewinnt ha- eine spezifische, hervorgehobene Performanzqualität. Bei den Konsonanten, bei denen im Hebräischen Gemination nicht möglich ist (Laiyngale und /r/), treten systematisierte Ersatzformen für die Gemination ein, nämlich Vokaldehnung des lai zum gelängten läl oder /ä/, oder eine sogenannte „virtuelle Verdoppelung", insbesondere vor Ici (vgl. ausführlich in Bauer & Leander 1922, § 3 ld-1). Gelegentlich unterbleibt die Gemination des Folgekonsonanten, wenn diesem ein Schwa folgt (ebd. § 31c mit § 24m, p). Beispiele sind (1)
hay-yarden
der Garten
(2a)
hä-'ädäm
der Mensch
(2b)
hä-cir
die Stadt
(3)
hä-härim
die Berge
(4) ha-hekäl der Tempel In der Transliteration steht der Bindestrich hinter ha für die Gemination und ihre Ersatzformen. Im folgenden wird zur allgemeinen Bezeichnung des "Artikels" nur noch diese Form ha- gebraucht. Bei der Anführung des determinierten Wortes wird die Form haK-K... (bzw. hä-K..., hä-K... oder ha-K...) gewählt. Die Form ha- weist, wie die obigen Beispiele bereits zeigen, keinerlei Differenzierungen nach Genus, Kasus oder Numerus auf. Sie ist also im Hebräischen nicht als ihrerseits flektiert zu bezeichnen, anders als die Artikel im Griechischen und Deutschen und - eingeschränkt (Genus, Numerus) - z. B. im Französischen, Italienischen, Spanischen, Niederländischen oder Schwedischen. Die Prä-Positionierung gegenüber dem Nomen teilt das Hebräische mit den eben genannten Sprachen außer dem Schwedischen5. 3
Die Transliteration wird - auch in Zitaten - in einer vereinfachten Form vorgenommen, s. Ehlich 1976, § 0.4.1.; technisch mögliche Veränderungen durch den Computerdruck bedürfen gegenüber den dort gewählten Zeichen keiner eigenen Begründung.
4
Alle hebräischen Nomina beginnen mit einem Konsonanten.
310
Konrad Ehlich
Der Ausdruck ha- nimmt also die Funktion oder die Funktionen rein wahr, die mit dem Terminus „Determination" erfaßt werden, ohne daß ihm, wie den Artikeln der anderen genannten Sprachen, noch weitere Funktionen aufgetragen wären. 1.3 Zwei Etymologisationen Die Gemination wird in der Literatur im allgemeinen nicht synchronistisch verstanden, sondern diachronistisch abgeleitet. Auch die funktionalen Bestimmungen geben eine diachronistisch entwickelte Ableitung. Beide Bereiche, die rein formale und die formal-funktionale, sind bei Ewald 1822 auf das engste miteinander verbunden. Hinsichtlich des formalen Aspekts zeichnen sich zwei Linien ab. Die eine, die sich ζ. B. bereits bei Ewald 1822 findet, führt ha- auf eine Form *hal zurück. Bei Ewald findet sie sich eingeordnet in einen allgemeineren Ableitungszusammenhang der „Partikel-Bildung" (§§ 440ff.), der unten mit Blick auf die Form-Funktionsbestimmung aufzunehmen ist. Ewald schreibt: Unter den pronominalen Weisewörtern ist die Sylbe hai bis zum heutigen Gebrauche und Sinn des griech. u. deutschen Artikel abgestumpft; ja diese Sylbe verbindet sich noch enger und fester mit dem Nomen als unser Artikel, und ist noch weit mehr verkürzt. Er gibt nur eine leise und sanfte Hinweisung auf die Sache, um sie hervorzuheben: und Genus und Numerus ist darin um so weniger unterschieden, da er für sich allein gar nicht mehr stehen kann, sondern nur in dieser engsten Verbindung und Anlehnung. Die nächste Folge davon ist, dass sein / nach § 113 sich stets in den Anfangslaut des Nomen auflöst...
Es wird hier also eine Assimilation des -1 angesetzt, eines -1 freilich, das durch nichts weiter nachgewiesen wird. Anders gesagt: es wird eine Vorgeschichte unterstellt, die die Gemination zu erklären hat, und die Gemination ist es, in der diese durch sonst nichts als die Notwendigkeit, eben eine solche Vorgeschichte zu haben, „sich ... auflöst". Eine zweite Linie findet sich, und zwar im Anschluß an Barth 1896, bei Bauer & Leander 1922 zu Beginn des Abschnitts über den Artikel. Dort heißt es: Seine ursprüngliche Form ist *hä, ein Demonstrativelement, das z. B. im arab. hä-5ä .dieser', syr. hä ,sieh da', hä-riä .dieser' vorliegt.... (§ 31a). Hier ist also eine Entwicklung von langem 5 zu anschließender Kürzung zu a und erneuter Längung zu ä im Fall der Ersatzdehnung vor einigen Laryngalen unterstellt. Diese Auffassung führt immerhin semitistische Parallelen an. Damit ist der zweite Bereich berührt, nämlich eine ebensolche etymologische Argumentation, nun aber nicht für die reine Form, sondern zugleich für die Funktion. Sowohl bei Ewald 1835 wie bei Bauer & Leander 1922 und 5
Dessen Post-Positionierung, allerdings wiederum als Enklise, findet sich hingegen im ansonsten nahe verwandten Aramäischen.
Determination im Hebräischen
311
insgesamt wird der Artikel auf ein „Demonstrativelement" zurückgeführt. Von Ewald wird dies eingebettet in eine andere, eine sozusagen allgemein sprachgenetische Argumentation. In einer kontinuierlichen Stufung von Ausdrücken, die bei den „blossen Empfindungswörtern" beginnt („flüchtige Laute, besonders Hauche, noch ohne alle Form" (§ 440), begibt sich Ewald dann zu den „Deutewörtern" (§ 441). Von ihnen schreibt er: Die letzten Wurzeln und Anfänge, wie sie sich in den zerstreuten Stämmen und Zweigen zu erkennen geben, sind folgende: 1) ein ha (hu) oder ohne starken Hauch a (auch in i in manchen Sprachen übergehend), das ganz einfache Deutewort, an sich ohne grosse Kraft ...2) gewichtvollere Weisewörter oder bestimmtere Demonstrativa, deren Sinn auf festem Consonanten ruht und die daher auch mehr Unterschiede zulassen: der nächste Mitlaut ist das stoßende t, den mit einer gewissen Gewalt weisend, auf den die Aufmerksamkeit erst gelenkt werden muss, ... Im Leben der besondern Sprachen finden wir aber theils vielfache Zusammensetzung der schwachen und kurzen Urlaute...
Hier zeigt sich also eine sozusagen naturalistische Argumentationsweise, in der das erschlossene *hal auf „Urlaute" und deren Kombinatorik zurückgeführt wird. Das Mißliche dabei ist nun, daß unter solchen „Weisewörtern" das Element ha- von seiner Form her im hebräischen deiktischen System überhaupt keinen Ort hat: Die hebräischen Deixeis zä, zot, 'ellä sind offensichtlich anders gebildet (vgl. Ehlich 1979). Das Element hai / ha- stünde vielmehr ganz isoliert. Auch die arabischen und syrischen Beispiele sind wenig überzeugend, zeigen sie doch keinerlei isoliertes Element ha oder hä. Jedenfalls aber scheint es für die konkrete Sprachstufe, mit der man es zu tun hat, eben das Hebräische, unwahrscheinlich, daß der Wortfindungs- und -bildungsprozeß eine Aufklärung über die Funktionen des Elementes gestatten würde. Der Rekurs auf ein als solches nicht belegtes deiktisches Element erscheint also - anders als für viele romanische und germanische Sprachen (vgl. Seebold 1984, Stark 2003) - eher spekulativ. Die Vermutungen Ewalds, die eine Art Verweis-Dynamik unterstellen, sind zwar funktional orientiert, verbleiben aber gleichfalls im Spekulativen - und die konkreten Funktionsbestimmungen schuldig. 1.4 Determination ohne Artikel Die Determinierung durch ha- ist nun freilich nicht die einzige im Hebräischen vorkommende Weise von Determination. Neben ihr stehen verschiedene andere, die im folgenden beschrieben werden. 1.4.1 Eigennamen Eigennamen gelten, so heißt es in den Grammatiken, als in sich determiniert. Dies ist funktional unmittelbar einsichtig. Es hat freilich für das Hebräische
312
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eine besondere Pointe. Denn der überwiegende Teil der Namen ist semantisch „durchsichtig" konstruiert, also wesentlich mehr, als dies etwa in europäischen Sprachen der Fall ist, vgl. die klassische Untersuchung von Noth 1928, Köhler 1952, 1953). Erschließt sich hier - neben den semantisch völlig undurchsichtigen Namen - die onomastische Semantik meist nur noch dem Blick des Etymologen, so sind große Teile des onomastischen Bestandes besonders der der Personennamen - so dicht an der alltäglichen Semantik gelagert, daß davon ausgegangen werden kann, daß sie den Sprechern in ihrer semantischen Struktur durchschaubar und vertraut sind; sie sind „redende Namen" (Köhler 1953, 51). Ein Teil von ihnen besteht aus einfachen Appellativa (z.'eb, ,Wolf ; nocam, .Lieblichkeit') oder Adjektiven bzw. Partizipien sä iti, .erwünscht'). Ein Teil sind sogenannte Satznamen (n.tan'el, .Gott (El) hat gegeben', 'elnätän, ,es ist Gott (El), der gegeben hat'). Sie können auch als einfache Verbalphrase stehen (nätän, ,(er) hat gegeben'). Auch Nominalphrasen kommen vor, wie zum Beispiel im Ortsnamen bet 'el, .Haus Gottes'. Es ergibt sich also ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten, die die verschiedensten semantischen Typen ausmachen. Ohne den Namensstatus würden die Nominalphrasen, die als Namen fungieren, durch ha- determinierbar sein. 1.4.2 Exkurs: „Gattungs- und Eigenschaftswörter, die, auf Individuen bezogen, zu Eigennamen werden" Die in der Überschrift dieses Abschnittes zitierte Formulierung stammt von Brockelmann (1956, § 21c). Es handelt sich hier um Namen wie hanänhär, .der Strom', als Name für den Euphrat gebraucht, oder hal-l.bänon, ,der Weiße', der Libanon. Dies sind einfache determinierte Nominalphrasen. Ihre „Namensbedeutung" erschließt sich erst auf den zweiten Blick, nämlich einerseits aus dem Vergleich zur Eigennamenverwendung in den Übersetzungen in andere Sprachen. Andererseits ist für diesen zweiten Blick die Namensfunktion auch für das Hebräische deutlich - denn die Verwendimg dieser determinierten Nominalphrase bedarf keiner eigenen Einführung; vgl. unten § 3.4. 1.4.3 Suffigierte deiktische und phorische Ausdrücke Eine Determination kann auch durch die im Hebräischen suffigierten sprecherund hörerdeiktischen und die phorischen Ausdrücke geschehen, die in der traditionellen Terminologie Possessivpronomina heißen. Die Beispiele sind vom Nomen ben, ,Sohn', gebildet: {S)b.n-i Sohn, mein mein Sohn (6) bin-kä Sohn, dein(M) dein Sohn (7) b.n-o Sohn, sein sein Sohn (Daß es sich hier um eine determinierte Nominalphrase handelt, ist aufgrund einer syntaktischen Struktur, die unten näher betrachtet wird (§ 3.5), an der
Determination im Hebräischen
313
Kombination mit einem hinzutretenden Adjektiv ersichtlich, das den Artikel trägt: (8) b.no hag-gädol
Sohn, sein, der große
sein großer (=ältester) Sohn
1.4.4 Nominalphrasen, deren letztes Element determiniert ist („statusconstructus-Verbindungen") Das Hebräische weist eine ausgearbeitete phonotaktische Struktur auf, in der die innere Zusammengehörigkeit komplexer Nominalphrasen zum Ausdruck gebracht wird, nämlich solcher, die aus zwei oder mehr Nominalphrasen mit je einem eigenen Substantiv zusammengesetzt sind. Diese komplexen Nominalphrasen werden in der hebräischen Grammatik als „status-constructusVerbindungen" bezeichnet. Um dieses Verfahren nachvollziehbar zu machen, lohnt der Vergleich mit der deutschen Übersetzung; die NP in (9) zeigt zwei Charakteristika; sowohl die erste wie die zweite NP, aus denen sie sich zusammensetzt, ist determiniert; die Veränderungen gegenüber dem casus rectus, oder, wie man heute sagen würde, dem „default"-Fall, „das Haus", finden sich an „König", nämlich durch den „casus obliquus", den „schiefen Fall" des Genitiv; entsprechend ist die damit kongruente Kasuszuweisung bei den Artikeln. (9) das Haus des Königs Anders ist die Situation im Hebräischen: (10) bet ham-mäläk (2.Kg.7,9). Das Substantiv bayit, ,Haus', wird in eine morphologisch veränderte Gestalt gebracht - hier mit Kontraktion von lay/ zu lei. An mäläk, .König', ändert sich hingegen nichts. Die Veränderung von bayit zu bet ergibt den sogenannten „status constructus" (st. es.), den Fall, in dem bayit mit einer ihm folgenden NP verbunden wird. Die Markierung der Verbindung beider Nominalphrasen wird also, wenn man das Deutsche zum Kontrast heranzieht, konträr verteilt6.
6
Die grammatische Redeweise vom nomen regens und nomen rectum („dem Genitiv"), die m.E. schon für das Deutsche nicht sehr geeignet scheint, ist für die anders gearteten Verhältnisse im Hebräischen wenig geeignet und zudem erheblich irreführend.
314
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Ν /Gen
das
Haus
des
König-s
NP
(IO 1 )
NP
NP
Ν / St.cs.
Det
Ν
bet
ham-
mäläk
Determination im Hebräischen
315
Die status-constructus-Form liegt auch der Kombination mit den Suffixen zugrunde, also (11) bet-i
Haus, mein
mein Haus.
Die phonotaktische Veränderung des status constructus ergibt sich aus allgemeinen phonologischen Regeln des Hebräischen. Dies bedeutet, daß sie nicht bei allen Substantiven realisiert werden kann. So ist etwa aus phonologischen Gründen für qol, .Stimme', eine eigene status-constructus-Form ebenso wenig möglich wie für gibbor, .Krieger'. In solchen Fällen bleibt die constructusVerbindung also phonotaktisch unbezeichnet. Sonst aber ist die Ausdrücklichkeit der status-constructus-Verbindung eines der Hauptkennzeichen des Hebräischen im Nominalbereich. Die komplexe NP mit st. es. ist also dadurch gekennzeichnet, daß ihr die Determination nur einmal zugewiesen wird, und zwar an der letzten Position. Die Determinationsverhältnisse an dieser Stelle entscheiden über die Determination aller in ihr enthaltenen Nominalphrasen. So läßt sich (10) in eine weitere NP integrieren: (12) 'o§. rot bet ham-mäläk ( 1 .Kg. 14,26) die Schätze des Hauses des Königs Auch die Form 'o$.rot ist ein status constructus zum Plural 'o§ärot. Rückläufig wird allen drei NPP Determination zugewiesen. (12·)
NP
NP
NP
NP
NP
NP
Ν /St.cs.
Det
Ν
'o§.rot
bet
ham-
mäläk
L
L
J
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316
Eine Begrenzung der Menge der Nominalphrasen, die in eine solche Konstruktion einer komplexen NP integriert werden können, besteht offensichtlich nicht bzw. nur aus produktionspraktischen Gründen. So wäre eine Erweiterung von (12) zu (13) ohne Probleme vorstellbar: (13) k.le'o§. rot bet ham-mäläk
die Gerätschaften der Schätze des Hausesdes Königs
Die Determination der letzten NP in einer solchen komplexen NP kann wiederum durch alle die Typen realisiert sein, in denen Determination vorkommt, vgl. (14) mit nomen proprium und (15) mit Suffix: (14) bet däwid (15) bet äbihä
das Haus Dawids das Haus des Vaters, ihr das Haus ihres Vaters
1.5 Was ist determiniert? Die im vorigen Abschnitt behandelten Formen der Determination sind eindeutig Phrasen - und nicht einzelne Ausdrücke. Dies führt auf die Frage, welchen sprachlichen Kategorien die Qualifizierung „determiniert" eigentlich zukommt. Hier stoßen wir auf eine Ambivalenz in den traditionellen Auffassungen, die eindeutig erst in den jüngeren Fassungen der generativen Beschreibungen aufgelöst ist, in denen die Determination als Kopf von Phrasen bezeichnet werden. Die Eigenschaft „determiniert" wird hier eindeutig der Phrase als ganzer zugeordnet (vgl. weiter § 2.1.1). In der traditionellen Auffassung hingegen schwanken die Bestimmungen: Es wird hier auch das Nomen als „determiniert" qualifiziert. Der Artikel tritt zum Nomen hinzu, und dieses gewinnt so eine zusätzliche Eigenschaft. Die Vermischung von Wortart und Satzteil macht sich hier bemerkbar - eine Vermischung, die auch terminologisch erst vergleichsweise spät - vor allem in der deutschen Tradition - systematisch aufgelöst wurde, ohne daß sich die Konsequenzen davon vollständig durchgesetzt hätten. Die Zuweisung von Determination zum Nomen macht aus ihm eine nicht mehr isolierte Einheit, sondern eine Phrase - auch dann, wenn diese lediglich aus dem Determinator und dem Nomen besteht. Nicht das Nomen ist determiniert, sondern die NP. Das gilt entsprechend auch dann, wenn von einer Determination in sich geredet wird - wie im Fall der Eigennamen (§ 1.4.1). Diese sind, wenn sie auf ihre Determinationsqualität hin betrachtet werden, keine Eigennamen mehr, sondern eben genau Nominalphrasen. Determination kommt einer Phrase zu, nicht einem ihrer Elemente. 1.6 Doppeldetermination Eine doppelte Determination ist im Hebräischen strikt ausgeschlossen oder, wie es in einem Lehrwerk (Grether 1955, S 189) heißt, „tunlichst vermieden".
Determination im Hebräischen
317
Dies gilt insbesondere für die Eigennamen: Ihre Kombination mit ha- ist nicht möglich. 1.7 Zusammenfassung Das Hebräische ist eine Sprache, in der Determinationsverhältnisse zu besonderer Deutlichkeit ausgearbeitet sind. Nominalphrasen sind determiniert oder nichtdeterminiert. Die Redeweise von determinierten Nomen beschreibt die Verhältnisse nicht angemessen, sondern verwechselt Wortklassen und Satzteile - eine in der traditionellen ebenso wie in den neueren grammatischen Redeweisen häufiger anzutreffende Metabasis eis alio genos. Die determinierten Nominalphrasen sind entweder in sich determiniert, oder die Determination wird durch das präfigierte und durch Gemination des anschließenden Initialkonsonanten des Substantivs artikulatorisch hervorgehobene Element ha-, den Determinator, markiert. In sich determinierte Nominalphrasen sind Eigennamen, durch Suffix bestimmte Nomina oder komplexe Nominalphrasen, deren letzte NP determiniert ist. Deren Determination kann wiederum in sich oder durch ha- zustande kommen. Die Determination kann strikt nur einmal pro Nominalphrase durchgeführt werden. Dieses Verfahren kann als rigorose Determination bezeichnet werden. Sie ist, wie sich zeigen wird, tief in den strukturellen Gesamtaufbau der Sprache eingebettet und mit ihr verzahnt. 2. Was bedeutet „Determination" ? 2.1 Determination und Definitheit Bisher wurde der Ausdruck „Determination" aus der Literatur übernommen und unter bezug auf ein alltagswissenschaftliche Vorverständnis gebraucht. 2.1.1 DET Für die funktionale Analyse der Determination finden sich verschiedene Interpretationslinien innerhalb der Linguistik. Die generativen Schulen befassen sich mit den Funktionen kaum, sondern verlassen sich weithin auf das alltagswissenschaftliche Vorverständnis. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, daß in einem Teil der Theorien die ursprüngliche Strukturierung der Nominalphrase, in der die Determination - wie in der traditionellen Grammatik - als addendum zum Nomen behandelt wurde, umgekehrt und so der Determinator zum Kopf der Nominalphrase erklärt wurde. Diese wurde so aus einer NP zur DP. Diese interessante Veränderung geht über die traditionelle Vernachlässigung der Funktionen freilich kaum hinaus.
Konrad Ehlich
318 2.1.2 Definitheit
Die ohne Zweifel bedeutendste Interpretation der Determination verdankt die Linguistik der Logik. Logisch basierte Artikeltheorien sehen im Artikel ein sprachliches Verfahren, um Definitheit herzustellen bzw. auszudrücken (vgl. Heyer 1987). Definitheit wird über die Beziehung des sprachlichen Ausdrucks zur Wirklichkeit erfaßt. Definitheit wird in definiten Beschreibungen ausgedrückt. Eine definite Beschreibimg ist ein Ausdruck, der sich auf ein und nur ein Element in der Wirklichkeit bezieht. Dieses Verfahren entspricht nun auf interessante Weise der wahrheitswertbezogenen Satzanalyse. Es handelt sich um eine der wahrheitswertsemantischen Herangehensweise parallele Interpretationsbewegung auf der Stufe der nächst kleineren sprachlichen Einheit, eben der Nominalphrase. Eine wahrheitswertsemantische Satzinterpretation weist den Propositionen in Sätzen Wahrheitswerte zu und bestimmt so ihre Bedeutung (Frege 1892). Ein Satz ist genau dann wahr, wenn das, was er aussagt, der Fall ist (Tarski-Semantik). Die Entwicklung einer solchen Auffassung des Satzes bildete die vielleicht wichtigste Weichenstellung in der Entwicklung der westlichen Grammatik (vgl. Ehlich 2001a). Auf die Nominalphrase zurückbezogen, macht sich dasselbe Verfahren exemplarisch im Fall des Eigennamens sichtbar: Der Ausdruck Sokrates bezeichnet einen und nur einen Menschen; er referiert auf ihn, und zwar eineindeutig. Diese Verfahrensweise der Analyse ist im Grund eine ontologische. Sie kommt allerdings spätestens dann in eine Krise, wenn sich sprachliches Handein nicht direkt auf die außersprachliche Wirklichkeit bezieht. Eine im strikten ontologischen Sinn arbeitende Interpretation wäre nicht in der Lage, solche Verwendungen des Determinators noch zu erfassen. Entsprechend werden die ontologischen Verfahrensweisen vielfältig, meist freilich eher diffus, abgeschwächt. Als Relate gelten nicht mehr Elemente der Wirklichkeit, sondern deren Repräsentanten im Geist oder in der „Diskurswelt". Das Grundverfahren bleibt aber auch in diesen Abschwächungen erhalten: Es wird durch den Determinator, genauer: durch seine Zuweisung zu einem Wort auf ein Element der realen / vorgestellten / eingebildeten / usw. Welt referiert. Die spezifische Leistung des Artikels wird gerade darin gesehen, aus der Menge von Elementen einer Klasse eines und nur eines zu identifizieren, herauszuheben und dieses durch die Referenz eindeutig zu machen. Die Gewinnung von Existenzaussagen innerhalb der jeweiligen Bezugswelt schließt sich an. Ein solches Verfahren ist - dies wird gerade an den vorstellungsbezogenen Modifikationen deutlich - primär, ja ausschließlich an der Relation von Sätzen und ihren Teilen einerseits, Weltzuständen und ihren Teilen andererseits interessiert. Es bezieht sich also auf die Relation zwischen einem Teil des versprachlichten propositionalen Gehalts p7 und einem Teil der außersprachlichen Wirk7
Zum ρ-Π-Ρ-Modell vgl. Ehlich & Rehbein 1986, § 5.4
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lichkeit P. Positionen, die diese strikte ontologische Bindung aufweichen, relativieren sie durch die Reduktion auf Wissensbezüge, nehmen also Teile der mentalen Sphäre, also von Π als Repräsentanten von Ρ in diese Beziehungsbestimmung auf. Die Grundbewegung bleibt freilich dieselbe. Ein Einbeziehung der Kommunikation zwischen Sprechern und Hörern, die sich dieser - wie der anderen - sprachlichen Verfahren bedienen, findet in diesen ontologisierenden Analysen nicht statt. Vielmehr würden sie - wenn sie sich einer Reflexion ihrer selbst zuwendeten - alle Sätze bildenden Sprecherinnen günstigstenfalls in dem Versuch engagiert finden, semantische Beziehungen zwischen den Ausdrücken und den Dingen zu identifizieren, um sie für die Wahrheitswertzuweisung vorbereitend einzusetzen. Sie würden alle Sprechenden also als Philosophen sehen, die der ontologischen Frage verpflichtet sind. 2.1.3 Die traditionellen Bestimmungen Die traditionelle Auffassung bleibt in der Terminologie wie in der Analyse eine nähere Verständigung über den Artikel und seine Funktionen weithin schuldig. Der Terminus arthron, der im Lateinischen als articulus wiedelgegeben wurde, ist formal und bleibt semantisch unergiebig, arthron ist das „Glied". Dies hilft für die inhaltliche Erfassung dessen, was er bewirkt, kaum. Vielmehr ist diese - vergleichsweise spät in die griechisch-lateinische Grammatik eingeführte - Kategorie eher ein Zugeständnis an die offensichtliche sprachliche Wirklichkeit des Griechischen mit seinem ausgearbeiteten Drei-Artikel-System und seiner umfänglichen Flexion, die Genus, Numerus und Kasus umfaßt. Die traditionelle Analyse wurde freilich durch den Umstand behindert, daß das Lateinische bekanntlich ein Artikelsystem nicht hat, so daß hier der deutlichste Überschuß der beerbten griechischen grammatischen Kategorienlehre gegenüber den lateinischen sprachlichen Verhältnissen aufzufinden ist. Die später beschriebenen westindoeuropäischen Sprachen des Germanischen und Romanischen wiesen dagegen wieder ein Artikelsystem auf, wobei das Deutsche die größte Parallelität zum Griechischen zeigt. Andere Sprachen wie das Russische haben kein Pendant. Die Romania bildete durch Verwertung der Zeigfeldausdrücke für die Zwecke der Determination ein ausgearbeitetes, gegenüber dem Lateinischen sekundäres System von Artikeln aus. 2.2 Determination und sprachliches Handeln Die Beschränkung auf Wort, Wortgruppe und Satz als Letztbestimmungen sprachlicher Strukturen eliminiert für die Praxis des linguistischen Verständnisses das sprachliche Handeln als konkretes Interaktionsgeschehen zwischen den Interaktanten, die miteinander durch Sprache kommunizieren. Dadurch werden auch für die Analyse wesentliche Bestimmungen zum Verschwinden gebracht. Dies scheint besonders intensiv dort zu gelten, wo die Kernpunkte der traditionellen linguistischen Interessen nicht betroffen sind,
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also dort, wo es nicht um die in den traditionellen Kategorien immer schon eingefangenen sprachlichen Phänomene geht, insbesondere um die wahrheitswertbezogenen Fragestellungen. Aus der Sicht der Interaktion zwischen einem Sprecher S und einem Hörer H stellt sich die Funktion von Determiniertheit anders dar. Im kommunikativen Handeln findet ein beständiger Abgleich zwischen den dabei involvierten Wissenssystemen der Interaktanten statt. Damit eine Verständigung zwischen S und H möglich wird, sind einerseits (a) eine gemeinsame Wissensmenge und eine Menge gemeinsamer Wissensstrukturen erforderlich, andererseits (b) je spezifische Differenzen zwischen beiden. Ohne (a) wäre eine Verständigung kommunikativ-sprachlich nicht möglich, weil hermeneutisch ausgeschlossen. Ohne (b) hingegen wären viele sprachliche Handlungen sozusagen „ohne Punkt". Die Differenzen sind dabei als je spezifische zu bestimmen. Alle jene allgemeinen Wissens- und Wissensstrukturunterschiede zwischen S und H bleiben auf sich beruhen - und können dies auch. Die Wissenszirkulation im sprachlichen Handeln beschränkt sich auf jenen kleinen Bezirk des je aktualisierten und modifizierbaren Wissens. Wissensvermittlung zwischen S und H ist also eine Art Grenzverschiebungsphänomen: Das konkrete Nicht-Wissen von H wird durch das sprachliche Handeln zwischen S und H in ein konkretes Wissen von H transformiert8 (vgl. Ehlich 1989, § 4.). Nennen wir die für das konkrete sprachliche Handeln betroffenen Bereiche des Wissens die Wissens-Transferzone (WIZ) der sprachlichen Handlung. Die WissensTransferzone umfaßt also W s , die spezifischen Elemente des Wissens von S; das spezifische Transferwissen WT; WH, das Wissen und das spezifische NichtWissen von H sowie das für S und H gemeinsame allgemeine Wissen WA.9 WH zerfällt dabei in einen Wissens- und einen spezifischen Nicht-Wissensteil WH1 und Wh2. Neben dem allgemeinen, aber für die konkrete Kommunikation relevanten Wissen WA ist es nun für das Gelingen der Prozesse des Wissenstransfers von fundamentaler Bedeutung, daß zwischen den Interaktanten ein genauer Abgleich des transferrelevanten Wissens erfolgt. Dies betrifft sowohl Ws wie WH, und in diesem sowohl WH1 wie WH2. Ein Teil von Ws ist mit W„1 hinreichend ähnlich, daß es als für die Kommunikation bei S wie bei H gemeinsam von S unterstellt, in Anspruch genommen werden und von H, solange dieser Anspruch unwidersprochen bleibt, geteilt gelten kann. Dieser Teil des Wissens von S heiße entsprechend WS1. 8
Dies ist im Lehr-Lern- wie im Unterrichtsdiskurs auf charakteristische Weise anders - was eine der Voraussetzungen ftlr das lehrende und das lernende Handeln ist.
9
Die hier eingeführten Kategorien berühren sich mit den in Ehlich 1989, § 3., an der Sprechhandiungssequenz Frage-Antwort Air eine einzelne sprachliche Handlungsfolge entwickelten; die Einzelbestimmungen können für den vorliegenden Zweck hier nicht im einzelnen weiter verfolgt werden. Eine ausführlichere Behandlung bleibt Aufgabe einer späteren systematischen Darstellung.
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(Ob die hinreichende Ähnlichkeit im einen Extremfall Gleichheit, im anderen Extremfall bloß entfernte Ähnlichkeit ist, bleibt für die interaktionalen Inanspruchnahmen weithin gleichgültig; nur bei aus Ähnlichkeit in Unähnlichkeit umschlagender ungefährer Ähnlichkeit wird die Inanspruchnahme zum Protest und dami| zum kommunikativen Regreß führen: H erhebt Einspruch gegen die Inanspruchnahme, S muß sich dazu kommunikativ verhalten, indem er den fehlgeschlagenen Anspruch im Nachhinein dadurch untermauert, daß er ihn postum ermöglicht, indem er dieses Wissen WH1 für H allererst an-, also in einem Reparaturdiskurs nachliefert.) WS1 ist also jenes mit H geteilte Wissen, von dem aus und auf das hin S den Wissenstransfer organisiert. Demgegenüber ist das eigentliche Transferwissen WT genau jene Differenz zwischen WS1=WH1 und Ws. Es kann aus Sicht von S auch als Ws2 bezeichnet werden. Im idealen Fall wird dieses Ws2 sich zu WH2 komplementär verhalten wie dies am Beispiel der Frage von H der Fall ist, in der das konkrete Nicht-Gewußte eigens durch dafür verwendete Prozeduren bezeichnet wird (vgl. Ehlich 1989, § 3), so daß S aus Ws2 genau dasjenige Wissen zum Transferwissen WT machen kann, das H fehlt. In der nicht-fragenden Kommunikation hingegen bedarf es weitestgehender Antizipationen, Vor- und Nachkonstruktionen von S in bezug auf Ws2, um WT möglichst präzise zu bestimmen. Solche Verfahren sind naturgemäß äußerst riskant und unterliegen vielfältigen Gefährdungen, die leicht in allgemeine Gefährdungen der jeweiligen Kommunikation, ja des ganzen gemeinsamen kommunikativen Systems von S und H umschlagen können. Es ist deshalb für das Gelingen der Kommunikation von erheblicher, wenn nicht entscheidender Bedeutung, daß innerhalb ihrer ein interaktional verläßlicher permanenter Abgleich der beteiligten Wissenselemente und ihre Bereiche stattfindet. Dieser Wissensabgleich fordert den Interaktanten bedeutende Kommunikationsleistungen ab. Diese sind Formen der interaktiven Bearbeitung des Wissens der ganzen Wissens-Transferzone WIZ. Dies ist ein Teil des interaktiven Wissensmanagements zwischen S und H. Je besser dieses gelingt, um so leichter gelingt die Kommunikation zwischen S und H; andererseits: je stärker dieses Wissensmanagement zwischen S und H fehlschlägt, um so größer sind die Gefahren für die Kommunikation zwischen S und H insgesamt. Das kommunikative Bearbeiten der Sprache selbst im sprachlichen Handeln erfordert kommunikativen Aufwand für etwas, was eigentlich sozusagen von selbst gehen sollte. Der hierfür zu erbringenden Aufwand hat dienende Funktion gegenüber dem, was eigentlich kommunikativ bewerkstelligt werden soll. Dafür aufgewendete sprachliche Verfahren sind also - als in der Kommunikation selbst realisierte Hilfsstrukturen - metakommunikativ. Als Bestandteil des Bereichs, in dem sprachliche Verfahren (und sprachliche Ausdrücke zu ihrer Realisierung) eingesetzt werden, die der Bearbeitung sprachlicher Einheiten, Strukturen und versprachlichten Wissens innerhalb der sprachlichen Interaktion
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selbst dienen, unterliegen sie einer paradoxen Grundstruktur: Je unauffälliger, je leichter und unaufwendiger sie eingesetzt werden können, desto besser erfüllen sie ihre charakteristischen Zwecke. Solche Bearbeitungen heißen operative Prozeduren. Das Feld, dem sie innerhalb der funktional-pragmatischen Feldertheorie zugehören, ist das operative Feld. In diesem Feld sind unter vielen anderen Ausdrucken auch die eben schon angesprochenen Fragewörter angesiedelt, aber auch die Anaphern und die Konjunktionen. Die Erstreckungen des Feldes sind bis heute nicht voll bekannt. Je deutlicher aber für einzelne operative Prozeduren die Aufdeckung ihrer inneren Strukturiertheit und ihrer Zwecke möglich wird, um derentwillen sie entwickelt wurden und unterhalten werden, um so mehr wächst das Wissen, wie sprachliche Kommunikation auch in den Einzelheiten ihrer Strukturen und Einheiten und ihrer Organisation aufgebaut ist und in den konkreten sprachlichen Handlungen der Interaktanten sich umsetzt. Die explizite Organisation des Wissensmanagements zwischen S und H kann nun auf unterschiedliche Weise geschehen. Größere vs. geringere Explizitheit lassen gerade hier auch bei relativ „nahe" miteinander „verwandten" Sprachen große Unterschiede erkennen. Es gibt Sprachen, die eine große Mühe darauf verwenden, ihre Sprecherinnen in die Lage zu versetzen, den Wissensabgleich zwischen S und H innerhalb der Kommunikation ausdrücklich und permanent mit expliziten Prozeduren zu vollziehen. Es gibt andere Sprachen, die hier die die Äußerungstätigkeit unablässig begleitenden mental-konstruktiven Aktivitäten von S und H in großem Maß ununterstützt lassen. Die beiden klassischen Sprachen, die die Grundlage einer jeden grammatischen Analyse bis heute abgegeben haben, gehen gerade hier deutlich, wenn nicht geradezu prototypisch auseinander. Der Wissensabgleich, genauer: seine Ergebnisse aus der Sicht des Sprechers werden in denjenigen Sprachen, die S und H hier erheblich unterstützen, explizit als solche markiert. Genau hierfür stehen den Interaktanten die Einheiten des Determinationssystems zur Verfügung. Ich nenne solche Sprachen im folgenden D-Sprachen. Die Sprachen, in denen entsprechende direkte Verfahren nicht zur Verfügung stehen, in denen also aus komparatistischer Sicht die entsprechenden sprachlichen Mittel „fehlen", sollen I-Sprachen heißen. Die bedeutendste sprachliche Form zur Realisierung von operativen Prozeduren zum Zweck des Wissensabgleichs ist der Determinator. Durch seine übliche synthetische Erscheinungsweise in den flektierenden Sprachen ist er als solcher bisher relativ wenig detailliert beschrieben worden. Wie gesagt: ein Artikel im Deutschen oder Französischen trägt neben der eigentlichen Last der Aufgabe, das Wissensmanagement zu prozessieren, noch die Last der Prozeduren, denen die Genus-, Zahl- und Kasusmarkierungen zugehören. Durch den „bestimmten Artikel", durch den „Determinator", wird vom Sprecher S gegenüber H ein verbalisierter Wissensteil gekennzeichnet als etwas, was S im Sinn von WS1 als das von ihm und dem Hörer H für den Zweck der
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aktuellen Interaktion als gemeinsam angesehenes und anzusehendes Wissen behandelt. Wenn der Determinator mit einem solchen Wissensfragment kombiniert und ihm so attestiert worden ist, dann kann H sich darauf ebenso verlassen, daß dieses Wissen von S als von ihm und S geteilt behandelt wird, wie S es kann, wenn keine einschlägige Klage von Hs Seite aus gegen diese Attestierung erhoben wird. Der Einsatz des Determinators durch S verlangt von H also, in seiner die genutzten Wissensbestände überwachenden Begleittätigkeit zum sprachlichen Handeln von S einen permanenten Abgleich; sobald dieser Abgleich Divergenzen erkennen läßt, werden sie auf ihre voraussichtlichen Folgen für den weiteren Kommunikationsverlauf hin untersucht und im Fall von dessen absehbarer gravierender Behinderung moniert: Ein Reparaturprozeß wird eingefordert und in Gang gesetzt. Charakteristisches Verfahren ist die Nutzung etwa des Fragewortes „welcher" in (16). (16)
S : Der blaue Peugeot hat den alten Ford geschnitten. H: Welcher blaue Peugeot?
S kann zur Nachlieferung des Wissens, das er fälschlich als für ihn und H gemeinsam unterstellte, zum Beispiel auf vorgängige gemeinsame Erfahrungen rekurrieren in (16') (16')
S: Na, der uns vorhin überholt hat.
Weitere Möglichkeiten stehen zur Verfügung. Ihre Beschreibung führt zur Frage, wie das gemeinsame Wissen WS1=WH1 konstituiert wurde. 2.3 Bereiche der Aktualisierung und der Gewinnung von gemeinsamem Wissen zwischen S und H (Wsl/W„l) Die Zuweisung des Determinators stellt nur einen - wenn auch einen besonders wichtigen - Ausschnitt aus dem Gesamtspektrum von Wissen dar, das kommunikativ von S für einen Wissenstransfer in Anspruch genommen werden kann. Dabei ist sinnvoll zwischen zwei Grundtypen zu unterscheiden: der bloßen Aktualisierung und der Gewinnung von gemeinsamem S-H-Wissen. Selbstverständlich ist auch das je neu aktualisierte Wissen irgendwann einmal also solches gewonnen worden. Doch ist dies für die Aktualisierung nicht mehr unmittelbar relevant. (a) Die prominenteste Ausprägung dieses Typs der Aktualisierung ist der Eigenname. Er ist die „Adresse" eines Wissens, das als solches in bezug auf eine kleine Gruppe von Subjekten und Objekten des Wissens so im Wissen der Aktanten inskribiert ist, daß durch die Aufrufung dieser „Adresse" die Gesamtmenge des damit verbundenen Wissens in seiner Einzelheit aktualisiert werden kann. Die ontologische Umsetzung legt sich hier nahe, weil extensional die „Bedeutung" des Namens jene Person / jener eine Ort / usw. ist, für den der Name gilt. Doch hat die Verkürzung auf diese extensionale Bestimmung leicht zur Folge, daß der faktische Wissensumfang, der unter der „Adresse"
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abgelegt ist, aus dem Blick gerät. Die kommunikative Nutzung eines Eigennamens gewinnt seine Funktionalität aber gerade über das unter diesem Namen erreichbare Gesamtwissen. Sonst bleibt der Eigenname lediglich eine (nahezu) leere Adresse, ein rein potentiale Wissensstruktur, die erst der Auffüllung durch konkretes Wissen bedarf, um kommunikativ für WS1/WH1 in Anspruch genommen werden zu können. Der Fall, daß im Transferprozeß eine solche Möglichkeit des Wissens durch Ws2 erst ausgefüllt wird, gehört in den Gewinnungsprozeß neuen Wissens für H. Der Eigenname ist dann sozusagen eine Hohlform, die auf ihre Ausfüllung im kommunikativen Prozeß wartet. Im Reparaturfall wird auf diese Verfahrensweise zurückgegriffen: (17)
S : Ich habe gestern Fritz Wegenland getroffen. H: Wen? Ich kenne keinen Fritz Wegenland. S: Ach so, ja, also, das war jemand, mit dem ich schon in der vierten Klasse.... Die hebräische Verfahrensweise, Namen als "in sich determiniert" zu betrachten (§ 1.4.1), hat unter dem Gesichtspunkt des Wissensmanagements eine große innere Plausibilität. Aus kontrastiver Perspektive ergibt sich hier eher die Frage, welche Funktionen die Attribuierung eines Artikels zu einem Eigennamen hat, wie dies etwa im Neugriechischen {ho Iannis, ,der Johann') oder teilweise im gesprochenen Deutsch (die Tina) der Fall ist.
(b) Der prominenteste Typ der Gewinnung von neuem Wissen innerhalb der WTZ ist der Fall der sinnlichen Wahrnehmung bzw. Vergewisserung. Die Sprechsituation in ihren verschiedenen Dimensionen, das was für S und H in der diskursiven Konstellation für deren fünf Sinne unmittelbar zugänglich ist, ermöglicht den permanenten gemeinsamen Wissenszugewinn. Freilich bedarf dieser durchaus einer sprachlichen Verfahrensweise, um die möglichen Objekte des Wissens zu tatsächlichem Wissen werden zu lassen. Dafür gibt es eine eigene sprachliche Prozedur, durch deren Anwendung der entscheidende Prozeß der Umwandlung von über sinnliche Zugänglichkeit möglichem zu tatsächlichem Wissen kommunikativ, also für S und H verbindlich gemeinsam, zustande gebracht werden kann, nämlich die gemeinsame Organisation der Aufmerksamkeit von S und H, also die deiktische Prozedur. Diese macht in ihrer elementaren Form, also der auf den Sprechzeitraum bezogenen und die Sinnlichkeit aktualisierenden, von der Möglichkeit des permanenten Rekurses auf diese sinnlichen Wahrnehmungsprozesse als Prozesse der sinnlichen Vergewisserung Gebrauch. Dies geschieht insbesondere im Reparaturfall. Zwischen diesen beiden Fällen stehen zwei weitere, die typologisch eine jeweils andere Einbindung in das kommunikative Geschehen haben. (c) Der eine ist der Fall der Anapher. In ihr ist das zugrundeliegende Wissen nicht nur ein gemeinsames, sondern zugleich eines, das bereits zuvor aktualisiert wurde. Wenn diese vorgängige Aktualisierung als bei beiden bewußt unterstellt werden kann, greift die phorische Prozedur als eine Prozedur äußerster sprachlicher
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Ökonomie. Auch dies ist, wie gesagt, eine operative Prozedur (anders als die deiktische). Aber sie ist sozusagen eine der zweiten Stufe. Wissen muß präsent gemacht worden sein und kann - unter Absehung von all seinen sonstigen Merkmalen - bis auf gegebenenfalls abstrakte wie Genus und Numerus - als solches präsentiviertes Wissen weiter genutzt werden. (d) Der andere Fall ist der des Determinators. In ihm kann initial Wissen aus der Transferzone als gemeinsames in Anspruch genommen werden. Indem der Sprecher S eine Nominalphrase determiniert, gibt er begleitend zur Verbalisierung dem Hörer H zu verstehen, daß er dieses so qualifizierte und determiniert verbalisierte Wissen als ein Wissen behandelt und behandelt sehen will, das er mit H teilt. Die Determination fordert H also interaktional zugleich zum unverzüglichen Dementi dieser Gemeinsamkeit auf, sollte diese Annahme falsch sein. Für die Nutzung als gemeinsam kann es naturgemäß unterschiedliche Hintergründe auf der Seite von S und H geben. Für die textuell verengte Perspektive der Linguistik ist im allgemeinen jener Bereich der auffälligste, in dem die unmittelbare Umgebung des „Textes", genauer meist: des Satzes das Wissen sozusagen vorgehalten hat, der „Kontext". Doch ist dies kommunikativ kaum der wichtigste und vielleicht auch nicht der häufigste. Gerade im Diskurs ist es der große Bereich des in einer langen Kommunikationsgeschichte aufgebauten gemeinsamen Wissens, von dem durch die Aufrufung einzelner Wissensstrukturen oder einzelner Wissenselemente Gebrauch gemacht werden kann. Die unmittelbar vorausliegende Erzeugung gemeinsamen Wissens ist nur ein Spezialfall für dieses gemeinsame Wissen. Dieses verdankt sich der Fülle einer gemeinsamen Wissensgeschichte der Interaktanten, die ihrerseits von dem sinnlich jederzeit neu Zugänglichen, das die Sprechsituation bereit hält, bis zur gemeinsamen Erinnerung in allen Formen der dafür relevanten Wissensstrukturtypen gilt einschließlich eines partikularen Erlebniswissens, das zur Teilhabe gebracht wurde. Um Wissen in dieses Wissensuniversum neu einzuführen, bedarf es besonderer Verfahren, die auch sprachlich ihre Spezifika aufweisen. In Sprachen mit einem expliziten „Indeterminator" wie der deutschen dient dafür der sogenannte unbestimmte Artikel - der hier wie in anderen Sprachen - scheinbar paradoxerweise - gerade mit dem Numerale für etwas ganz Bestimmtes, nämlich dem Zahlwort eins zusammenhängt. Doch ist dieser Zusammenhang eben nur scheinbar paradox. Denn das Numerale bezeichnet hier aus der Menge der möglichen Gegenstände etc., auf die die Operation des Zählens angewendet werden kann, eben nur einen - und damit einen beliebigen. Als dieser beliebige eignet er sich für die Einführung in die konkrete Wissenswelt der Interaktanten. Vor allem aber bietet die Verbalisierung von Ws2 die optimale Verfahrensweise zur Einführung neuen Wissens für H und damit für die Kommunikationswelt
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von S und H als ganze. Dies schlägt sich in entsprechenden sprachlichen Formen nieder, auf die gleich weiter einzugehen ist. 2.4 Zusammenfassung Die Nutzung des Determinators erfüllt also eine für die Kommunikation und ihr Gelingen außerordentlich wichtige Funktion. Der Determinator gehört dem operativen Feld der Sprache zu. Die operative Prozedur der Determinierung attribuiert einzelnen Wissenselementen kommunikativ die Qualität der Gemeinsamkeit in den Wissenssystemen von S und H, oder, anders gesagt, sie qualifiziert auf eine sprachökonomische Weise das Verbalisierte hinsichtlich der Inanspruchnahme von Wissen durch S als eines für S und H gemeinsamen Wissens. Dies geschieht konkomitant zur Verbalisierung und bedarf der permanenten Überprüfung durch H, der die fälschliche Inanspruchnahme solcher Gemeinsamkeit durch die Initiierung einer Reparatursequenz moniert und so auf nachträglicher Herstellung der fälschlich in Anspruch genommenen Gemeinsamkeit besteht. Der Determinator ist ein wichtiger Aspekt des interaktiven Wissensmanagements. Dieses ist für das Gelingen von Kommunikation unabdingbar. Die Qualifizierungsmöglichkeit als „gemeinsames Wissen" verdankt sich unterschiedlichen Herkünften; dabei sind die Aktualisierung in der Wissenstransferzone WTZ von der Gewinnung gemeinsamen Wissens zu unterscheiden. Deiktische und phorische Ausdrücke haben andere Funktionen als der Determinator. Verglichen mit der Deixis, handelt es sich um eine prinzipiell andere Feldzugehörigkeit (Zeigfeld vs. operatives Feld); verglichen mit phorischen Ausdrücken, handelt es sich zwar um dasselbe Feld, aber um unterschiedliche Funktionsbereiche. Diese Differenzen machen die Zusammenfassung von Ausdrücken der drei Bereiche in einer Kategorie „Artikelwort" wenig plausibel. Eine solche Zusammenfassimg verunklärt den funktionalen Stellenwert der einzelnen Ausdrücke eher, als daß sie ihn aufzuhellen in der Lage wäre. Die verschiedenen Sprachen unterstützen das Wissensmanagement der Interaktanten in unterschiedlicher Weise. Sprachen, die dies durch das Vorhalten eines Determinators bzw. eines Systems von Determinatoren tun, D-Sprachen, unterscheiden sich von solchen, die dafür keine Vorkehrungen getroffen haben, I-Sprachen. Die verstärkte Erfahrung einer Notwendigkeit, die Interaktanten beim Wissensmanagement zu unterstützen, kann zur Transformation eines I- in ein D-System erfolgen. Großflächige solche Umwandlungen sind in der Romania zu beobachten. Hier wurden die operativen Ausdrücke durch Teil-Umnutzungen deiktischer Ausdrücke gewonnen. Diese Umsetzung bedeutet eine Feldtransposition. Sie kann nicht als eine notwendige Gewinnungsweise für Determinatoren angesehen werden.
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3. Das hebräische Determinationssystem 3.1 Re-analyse Nachdem nun Funktionen von Determination beim sprachlichen Handeln näher nachgegangen wurde, ist eine Re-analyse des hebräischen Systems möglich. Das Hebräische ist - wie andere semitische Sprachen - ein D-System. Das Hebräische als D-Sprache zeigt dieses System sogar in mehrfacher Weise exemplarisch realisiert. Das Hebräische hat einen Determinator, das Element ha-. Dieses nimmt die determinative Aufgabe allein und in reiner Form wahr. Anders als die Artikel in Sprachen wie der deutschen ist dieses Element nicht mit weiteren operativen Aufgaben belastet. Die Mehrfachbelastung eines einzigen formalen Elementes durch unterschiedliche Funktionen resultiert in einer in dieser Form vollzogenen Prozedurenamalgamierung. So enthält der deutsche Artikel sowohl die determinative Funktion wie die der Singular-/Pluralverteilung wie die der Genusmarkierung wie schließlich die der Kasusmarkierung. Welchen Feldern diese einzelnen Prozeduren auch zugehören mögen (dies zu bestimmen, ist keine ganz einfache Aufgabe), sie schießen zu einem komplexen Prozedurenbündel zusammen. Demgegenüber hat das Element ha- die eine Aufgabe, als Determinator zu fungieren. Die Regelungen der ausgeschlossenen Mehrfachdetermination schaffen eine fur das Wissensmanagement sehr übersichtliche Situation. Determination kann entstehen: • in sich - im Fall der Eigennamen • durch Rekurrenz auf die sinnliche Gewißheit des in der Sprechsituation Präsenten; Nutzung deiktischer Prozeduren • durch den Determinator, durch den Nomina in NPP transformiert werden und so die Bestimmung von gemeinsamem S-H-Wissen aus der ungeheuren Fülle möglicher NPP vorgenommen wird • mit einem Verfahren zweiter Stufe, indem bereits als gemeinsames kommunikatives Wissen in Anspruch genommenes Wissen mittels phorischer Prozeduren bei diesem kommunikativen Stellenwert belassen und so ökonomisiert weiter genutzt wird. In komplexen NPP wird die Determination an jeweils letztmöglicher Stelle der Gesamt-NP piaziert. Sie wirkt von dort aus - formal unterstützt durch die status-constructus-Formen - retrograd bis an den Anfang der komplexen NP zurück. 3.2 Unterbrechung der determinativen Kraft in komplexen Nominalphrasen Dadurch ergeben sich spezifische Probleme immer dort, wo innerhalb einer an letzter Stelle determinierten NP bisher im gemeinsamen Wissen noch nicht enthaltene Wissenselemente eingeführt werden sollen, also etwa für die Bestimmung
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Hierfür bedarf es eines Verfahrens zur Beendigung der rückwirkenden Determinationskraft. Dies gelingt nur, indem eine andere Form der Herstellung der komplexen NP angewendet wird. Dafìir steht die Mehrzweck-Präposition /. zu Gebote. /. ist eine der drei Basispräpositionen des Hebräischen und steht für die Angabe einer indirekten Relation zwischen den beiden Bezugsnomina. Im deutschen Übersetzungen wird sie meist durch die Präposition fiir wiedergegeben, doch erfaßt diese nur einen semantischen Teilbereich von /. Ich verwende die Umschreibung „in bezug auf, um im Deutschen die Breite der Semantik von /. anzudeuten. Aus (19) wird so (20); während in (19) sozusagen automatisch auch „Haus" determiniert wäre, ist dies in (20) nicht der Fall. (19) bei däwid das Haus Dawids (20) bet l.däwid ein Haus in bezug auf Dawid ein Haus Dawids. Die Determination kann selbstverständlich durch alle unterschiedlichen Determinationsformen realisiert werden. 3.3 hay-yom, heute In der Literatur wird - im Zusammenhang mit der etymologisierenden Interpretation (vgl. § 1.3.) - gelegentlich davon gesprochen, der Artikel habe in einigen „Zeitbestimmungen" „noch" ,,[v]olle determinative Kraft" (Brockelmann 1956, § 21a). Die Verwendung des Determinators ha- in solchen NPP wie (21 ) hay-yom,
heute;
(22) hal-laylä,
heint, heute Nacht;
(23) has-sänä,
heuer, dieses Jahr
verlangt, wenn der Rückgriff auf eine spekulative Etymologie nicht - und schon gar nicht synchronistisch - sinnvoll erscheint, eine andere Ableitung. Diese ist als funktionale Etymologie (vgl. Ehlich 1994) zu erfassen. Die Verwendung des Determinators ha- in den obigen NPP ist keine einfache operative Prozedur. Sie erreicht vielmehr paradeiktischen Charakter. Für die deiktische Bezeichnung von Zeitverhältnissen in NPP mit Symbolfeldausdrücken für Tag, Nacht, Jahr haben sich in den Sprachen unterschiedliche Verfahren entwickelt. Neben den deutschen zusammengesetzten Verfahren finden wir etwa niederländisch (24) vandaag
vom Tage
englisch: (25) today
zu Tage
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französisch: (26) aujourd'hui
am Tage des hier / jetzt.
Die darin erkennbaren unterschiedlichen Bildeweisen machen deutlich, daß die Gewinnung eines Ausdrucks für die im Effekt deiktische, das heißt an der Sprechsituation orientierte Bezeichnung von Tag der Sprechhandlung usw. eine alles andere als einfache Aufgabe ist. Die Lösungen klaffen entsprechend weit auseinander - von der Integration eines deiktischen Ausdrucks in eine komplexe, in eine PP eingebettete NP (26) bis hin zu zwei den präpositionalen Bereich sehr komplex nutzenden Präpositionalphrasen im Niederländischen (24) und Englischen (25). Der Weg, der im Hebräischen eingeschlagen wird, ist ein anderer: Hier geschieht eine standardisierte Feldtransposition des operativen Ausdrucks ha-, der so zur Gewinnung eines paradeiktischen Ausdrucks führt. In bezug auf die beteiligten Wissensbereiche WS1 und WH1, die hierbei aktualisiert werden, ergibt sich die Einschränkung des Symbolfeldausdrucks yom, Tag, usw. auf die Sprechsituation durch eine Art stillschweigendes und routinisiertes Einverständnis der Interaktanten. Für die Aktualisierung dieses Einverständnis bedarf es wahrscheinlich des Ausschlusses anderer Interpretationsmöglichkeiten durch H, die dieser immer dann vorzunehmen geneigt ist, wenn die Sprechsituationsbindung solcher NPP nicht durch andere Verfahren explizit ausgeschlossen wird. 3.4 Exkurs: Der Artikel bei Wörtern, „die an sich determiniert sind" In der Beschreibung der Determinationsverhältnisse durch die verdienstvolle „Hebräische Syntax" von Brockelmann (1956, § 21c) findet sich die im Licht der Phänographie (vgl. besonders § 1.6.) merkwürdig berührende Angabe: „Den Artikel erhalten Wörter, die an sich determiniert sind..." Fünf Untergruppen werden dazu im einzelnen aufgeführt und mit Belegen versehen: • „solche, die einzig in ihrer Art sind" • „die Bezeichnungen für Gattungen und Stoffe im sing, und pl." • „die Abstrakta von Eigenschaften und Tätigkeiten" • „Maßbegriffe, die in der Idee nur einmal vorhanden sind" • „Gattungs- und Eigenschaftswörter, die, auf Individuen bezogen, zu Eigennamen werden." Ein Beispiel für die erste Gruppe ist (28) has-Sämäs
die Sonne.
Die letzte Gruppe, für die (29) ein Beispiel ist, wurde bereits in § 1.4.2 behandelt.
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(29) hal-l.banon der Weiße, der Libanon 0. Die anderen Gruppen von Ausdrücken sind nur dann bemerkenswert, wenn man semantisch sozusagen deutsche Verhältnisse - und die Interpretationsverfahren, die für sie herangezogen werden, unterstellt. In sich selbst hat es nichts Erstaunliches, daß ein Wort wie èâmâs eine Determination erhält. Der Umstand, daß es die Sonne nur einmal gibt, ist ein ontologischer Sachverhalt. Innerhalb der logisch-ontologischen Interpretationslinie würde hier ein Widerspruch zum Ausschluß der Doppel-Determination (§ 1.6) entstehen - nicht aber, wenn man Determination auf das Wissen der Interaktanten bezieht. Die anderen Gruppen sollen hier nicht im einzelnen behandelt werden. Ihre eigene Erwähnung sozusagen unter dem „Ausnahmegesichtspunkt" verdankt ihre Berechtigung allenfalls unterschiedlichen Verfahrensweisen im Hebräischen und im Deutschen. Sieht man die je eigenen Ableitungen in sich, haben sie nichts Eigenartiges, was eine eigene Erwähnung verdient. Es ist eine je spezifische Struktur des für S und H gemeinsamen Wissens, auf das in einer für die Sprechergemeinschaft verbindlichen Weise zurückgegriffen werden kann, so daß auch eigene diskursive Einführungen in das je gemeinsame und aktualisierte Wissen entfallen können. 3.5 Syntaktische Weiterungen des D-Systems Der in sich konsistente und konsequente Ausbau des D-Systems im Hebräischen zeitigt nun eine Reihe von strukturellen Konsequenzen, die von erheblicher Bedeutung für die Gesamtheit der Sprache in ihrer grammatischen Struktur sind. Diese sollen abschließend kurz thematisiert werden, ohne daß sie hier noch ausführlich behandelt werden können; deren Analyse muß vielmehr an anderer Stelle erfolgen. 3.5.1 Adjektive in determinierten Nominalphrasen Im Hebräischen wird das Adjektiv, das in einer Nominalphrase zu einem Substantiv tritt, konsequent postponiert. Hierbei wird im Fall einer determinierten NP die Setzung des Determinators so vorgenommen, daß die Erstreckung der Determination an der Oberfläche der Äußerungen für H unmittelbar deutlich wird. Der Determinator wird nämlich sowohl dem Substantiv wie dem ihm folgenden Adjektiv präponiert: (30) hab-bayit hag-gädol
das Haus das große
das große Haus
(31) (=8) b. no hag-gädol
Sohn, sein, der große
sein großer (sein ältester) Sohn
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Beispiel (29) zeigt, daß sich die hebräische Bezeichnungsweise im Deutschen bis heute gehalten hat.
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Dies liegt in der Konsequenz eines optimierten D-Systems: Es wird dem Hörer für seine begleitende Überprüfung des als gemeinsam genutzten Wissens WS1 /WH1 eine maximale Kennzeichnung der in diesen Wissensbereich gehörenden Einheiten gegeben. 3.5.2 Der Nominalsatz Die adjektivische Determinationsmarkierung hat eine weitere Konsequenz für den Systemausbau. Die dadurch erfolgende explizite Phrasengrenzmarkierung erlaubt eine wichtige weitere Nutzung für die Integration verschiedener Phrasen zum Satz. Hier ist vor allem der Nominalsatz von Interesse. Dieser beschränkt sich im Semitischen nicht auf den Fall, daß alle Elemente des Satzes aus Nominalphrasen (bzw. Präpositionalphrasen) bestehen. Das Hebräische (und ähnlich das Arabische) hat vielmehr ein komplexes System von Nominalsätzen entwickelt, in das auch Verbalphrasen integriert sein können11. Der Fall der nur aus Nominalphrasen bestehenden Nominalsätze läßt die Nutzung der Determinationsverhältnisse für den Wissenstransfer zwischen S und H exemplarisch erkennen. (32) hab-bayit male'
das Haus - voll
das Haus ist voll
Hier wird durch die Determination „Haus" als bereits geteiltes Wissen zwischen S und H ausgewiesen. Der nicht determinierte Anteil des Satzes hingegen, male', ist das eigentliche Transferwissen, WT, also jenes Wissen, über das S (Ws2), aber nicht H verfügt. Dieses Verfahren ermöglicht für die Erfüllung der Position von WS1/WH1 die Fülle der oben näher bezeichneten Determinationsverhältnisse. Für Ws2 bzw. WT hingegen ist eo ipso ein von H noch nicht akquiriertes Wissen, das als solches durch Abwesenheit des Determinators markiert ist12. Diese Grundaufteilung wurde frühzeitig von der arabischen Nationalgrammatik erkannt und beschrieben. Den determinierten Teil des Nominalsatzes bezeichnete sie als mubtada (das (bereits) Bekannte), den nicht-determinierten als habar (das Neue). Es ist deutlich, daß diese Erkenntnis erst mit der sogenannten „funktionalen Satzperspektive" der Prager Schule linguistisch wiederentdeckt wurde. Die Aufteilung des Satzes in Bekanntes und Neues drückt sich in D-Sprachen in der Nutzimg des Artikelsystems aus. Dies ist im Hebräischen in optimaler Weise der Fall - mit dem Ergebnis, daß die Syntax des Nominalsatzes den einen Elementarteil der ganzen Syntax ausmacht.
11
Vgl. ausführlich die umfassenden Untersuchungen von Michel (1960) und (demn.); eine linguistisch-pragmatische Analyse s. in Ehlich (2001b)
12
Der Fall, daß auch diese Position durch eine determinierte Phrase ausgefüllt ist (nach Michel eine von ihm sogenannte „nominale Behauptung"), steht dazu nicht im Widerspruch. Vielmehr handelt es sich hier um einen komplexen Satztyp mit einer ihm eigenen kommunikativen Funktion.
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3.5.3 Die-Determination im Verbalsatz Diese klare pragmatische Strukturierung der hebräischen Syntax wirft in der Konsequenz die Frage auf, welchen Stellenwert die Determinationsverhältnisse im Verbalsatz aufweisen. Die hebräischen Verbalkonjugationen sind in sich jeweils vollständige Sätze. Sie enthalten die sogenannten Personalelemente entweder als Präfixe oder als Affixe. Hierbei unterscheiden sich funktional die 1. und 2. Person deutlich von der dritten: beide sind deiktischen Charakters, also an die Sprecher-Hörer-Verteilung innerhalb der Sprechsituation gebunden. Lediglich die 3. Person enthält - jedenfalls in der Präfixkonjugation - ein phorisches Element. Für die 3. Person der Affixkonjugation zeigt sich hingegen eine besondere Konfiguration. Diese Verbalform weist nämlich zwar die Merkmale von Numerus und Genus auf - sonst aber keine. Dies kann einerseits bedeuten, daß hier im System ein Null-Morphem anzusetzen ist. Es kann aber auch bedeuten, daß dies den Ort für die Integration einer postponierten NP darstellt. Diese Fragen sind bisher wenig geklärt, ja sie sind noch nicht einmal detailliert gestellt. Die Analyse der Determinationsverhältnisse mag auch hier zu neuer syntaktischer Analyse beitragen können. 3.5.4 Weitere Fragen Die Bestimmung des Hebräischen als einer D-Sprache hat sich als ein Aspekt erwiesen, der über die Determination hinaus die Prozedurenverteilung, Prozedurenkombination und Prozedurenintegration zum Satz strukturell in erheblichem Umfang bestimmt. Der Determination kommt somit für den spezifischen Strukturaufbau dieser Sprache eine erhebliche Bedeutung zu. Deren Beachtung ermöglicht eine spezifischere analytische Profilierung der hebräischen Sprache. Zugleich aber macht er das Desideratum deutlich, sprachliche Strukturen in ihrer Verflechtung von funktionalen und formalen Merkmalen und Kategorien im Detail zur rekonstruieren und so auf eine umfassende pragmatische Grammatik hinzuarbeiten, die auch die inneren Sprachzwecke präzise rekonstruiert und die Nutzung der formal zur Verfügung stehenden Sprachmittel dafür im einzelnen und in den jeweiligen leitenden Strukturentscheidungen erfaßt. Eine darauf aufbauende kontrastive Sprachvergleichung wird vielleicht in der Lage sein, eine genaueres Bild vom Aufbau der Sprachen, ihren Gemeinsamkeiten und ihren Differenzen zu entwerfen und auszuführen, als die allein auf die überkommenen Kategorien sich stützende Linguistik es bisher vermochte.
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Determination im Hebräischen
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Konrad Ehlich
Waltke, B.K. & O'Connor, M. (1990) An Introduction to Biblical Hebrew Syntax. Winona Lake: Eisenbrauns
Oksana Kovtun Zur unbestimmten Determination im Deutschen im Vergleich zum Ukrainischen und Russischen 1. Einleitung Der Terminus .Determination' (lat. ,determinatio' = .Abgrenzung') bezeichnet ganz allgemein eine Relation zwischen zwei Elementen, von denen das eine das andere näher bestimmt. In diesem Sinne wird der Begriff der Determination in der Linguistik oft sehr weit gefasst; so schreibt etwa Weinrich: ... im jeweiligen Text wird die Bedeutung eines Sprachzeichens durch die Bedeutung anderer Sprachzeichen in dessen Umgebung determiniert, das heißt, in ihrem Bedeutungsumfang („Extension") eingegrenzt und in ihrem Bedeutungsinhalt („Intension") präzisiert. Die determinierenden Faktoren können entweder im (sprachlichen) Kontext oder in der (nichtsprachlichen) Situation enthalten sein. (Weinrich 1993: 21)
Im engeren Sinne wird Determination auf den Bereich der Nominalphrasen beschränkt, so z.B. in der Rektions-Bindungs-Theorie (Abney 1987), wo die Determination in erster Linie eine AGR-Markierung in einer NP beinhaltet, oder bei Vater (1991), der zwischen der semantischen (im Sinne einer Definitheitsmarkierung) und der morphologisch-syntaktischen Determination (Anzeige von Person, Kasus, Genus und Numerus) in einer Nominalphrase unterscheidet. Für die sprachlichen Ausdrücke, die eine Funktion der Determination in diesem engeren Sinne ausüben, wird in der „Grammatik der deutschen Sprache" (Zifonun & Hoffmann & Strecker 1997) eine neue Wortklasse gebildet: die Klasse der Determinative. Als Subklassen werden dabei der definite und der indefinite Artikel sc wie die possessiven, die quantifizierenden, die deiktischen und die W-Deternrinativeunterschieden. Bei de r Kontrastierung des Deutschen mit dem Ukrainischen und dem Russischen in Hinblick auf die Determination werde ich mich in diesem Beitrag auf die im er geren Sinne verstandene Determination beschränken und aus den Subklasse η der Determinative speziell den indefiniten Artikel unter die Lupe nehmen. ! ch will der Frage nachgehen, wie die Funktionen, die der indefinite Artikel i n Deutschen ausübt, in den beiden artikellosen Sprachen realisiert werden. Auf der anderen Seite hoffe ich, durch die kontrastive Analyse verschiedene Arten der unbestimmten Determination im Deutschen andeutungsweise auszudiffeienzieren. Die Frage, die hier zunächst zu klären ist, lautet: Auf welchen Bereich bezieht man sich mit den Termini .indefinit'/,unbestimmt'/,indeterminiert'? Es wird vielfach von der Determination des Substantivs oder Nomens gesprochen (Flämig 1991: 474; Weinrich 1993: 415; Duden-Grammatik 1998: 313). Die determinierenden Einheiten werden .Determinative' oder .Determinatoren ' ge-
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nannt. Es ist also zunächst der sprachliche Bereich, auf den mit diesen Termini referiert wird. Auf die außersprachliche Wirklichkeit bezogen verwendet z.B. Flämig (1991: 474) die Bezeichnungen .determinierte' oder .indeterminierte' Gegenstände und setzt diese mit den Begriffen .bestimmt'/,unbestimmt' gleich. Auch in der Duden-Grammatik (1998) ist die Rede von .bestimmten'/.unbestimmten' Objekten; es wird sogar eine Parallelität zwischen der (Unbestimmtheit eines Objekts in der außersprachlichen Wirklichkeit und der (Unbestimmtheit eines Substantivs vorausgesetzt: Der bestimmte Artikel ist zu wählen, wenn das vom Substantiv bezeichnete Objekt .bestimmt' ist. .Bestimmt' meint dabei, dass Sprecher und Hörer es in gleicher Weise identifizieren; es ist beiden bekannt. Umgekehrt gilt: Der unbestimmte Artikel ist zu wählen, wenn das vom Substantiv bezeichnete .unbestimmt' ist, wenn es vom Sprecher und Hörer nicht identifiziert werden kann, beiden nicht bekannt ist. (314)
Auf die Tatsache, daß die Gegenstände an und für sich nicht bestimmt oder unbestimmt sein können, weist Moskalskaja (1975) hin: Die Kennzeichnung eines Gegenstandes als „bestimmt"/„unbestimmt" beruht nicht auf den immanenten Eigenschaften eines Gegenstandes (der Gegenstand kann nicht an und für sich bestimmt oder unbestimmt sein), sondern ist durch die Stellungnahme des Sprechers und des Hörers in der Sprechsituation bedingt. (188)
Ehlich (1977) sieht die Leistung des Artikels in der interaktiven Bearbeitung von Wissen und bezeichnet ihn als einen „Bekanntheitsoperator" (171). Neben der sprachlichen und außersprachlichen Wirklichkeit wird also auch die mentale Wirklichkeit in Betracht gezogen. Geht man von dem Wissensmodell von Ehlich & Rehbein 1986: 96) aus, in dem zwischen der außersprachlichen Wirklichkeit (P), dem Wissen des Sprechers (IIs) bzw. des Hörers (ΠΗ) und der Versprachlichung eines propositionalen Gehalts (p) unterschieden wird, so kann man die in der Forschung gängigen Konzepte wie folgt sortieren: Ρ Π ρ
(un)bestimmtes/(in)determiniertes Objekt (un)bestimmt/(un)determiniert im Sinne von „(un)bekannt" (un)bestimmtes/(in)determiniertes Substantiv/Nomen
Die nächste Frage, die hier zu klären sein wird, ist: Besteht eine Parallelität zwischen der (Un)bestimmtheit bzw. der (In)determiniertheit im Bereich des Sprachlichen, des Außersprachlichen und des Mentalen?
Determination im Deutschen im Vergleich zum Ukrainischen und Russischen
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2. Spezifischer versus unspezifischer Gebrauch des unbestimmten Artikels Operiert man mit den gängigen Termini .bestimmt'/,unbestimmt', so stellt man bald fest, dass man sich mit dem unbestimmten Artikel sowohl auf ein bestimmtes als auch auf ein unbestimmtes Objekt in der außersprachlichen Wirklichkeit beziehen kann. Um dieser Verwirrung zu entkommen, wurden in der Referenzsemantik zusätzliche Begriffe geprägt: .spezifischer' vs. ,unspezifischer' Gebrauch des Artikels (vgl. etwa Bierwisch 1970). Betrachten wir zur Illustration Beispiele aus dem „Grundriss der deutschen Grammatik" (Eisenberg 1999): (1) Ich habe ein Feuerzeug gefunden (2) Karl hat ein Feuerzeug gefunden (3) Ich suche ein Feuerzeug Eisenberg beschreibt solche Äußerungen wie folgt: Wer (1) äußert, bezieht sich mit ein Feuerzeug auf ein ganz bestimmtes Objekt. Hier liegt also ein spezifischer Gebrauch des unbestimmten Artikels vor. (2) und (3) dagegen haben jeweils zwei Lesarten: mit ein Feuerzeug kann sich der Sprecher sowohl auf ein bestimmtes (spezifisches) Objekt beziehen, als auch auf ein beliebiges (unspezifisches) Objekt - ein Feuerzeug wäre in diesem Fall durch irgendein Feuerzeug ersetzbar. Im Fall von (1) hat der Sprecher zudem eine „kognitive Adresse", der Hörer dagegen nicht (Eisenberg 1999: 145). Ich will hier das bestimmte, spezifische Objekt in der außersprachlichen Wirklichkeit in Anlehnung an das Wissensmodell von Ehlich&Rehbein 1986: 96 als P+ und das unbestimmte, unspezifische Objekt als P- bezeichnen. Die „kognitive Adresse" soll als Π+ und ihr Fehlen entsprechend als Π- bezeichnet werden; dabei soll hier stets zwischen dem Wissen des Sprechers und des Hörers differenziert werden. Die drei von Eisenberg angeführten Äußerungen lassen sich dann so darstellen: (1) Ich habe ein Feuerzeug gefiinden=>
P+ ü s + ΠΗ-
(2) Karl hat ein Feuerzeug gefunden => entweder 1. Lesart
P+ ü s + Er-
oder 2. Lesart
p- n s - ΠΗ-
=> entweder 1. Lesart
P+ ü s + Er-
(3) Ich suche ein Feuerzeug
oder 2. Lesart p- n s - n H Die Beispiele (2) und (3) wären also laut Eisenberg in beiden Lesarten identisch. Ich werde im Folgenden zeigen, dass in dieser Umschreibung ein Fehler steckt; die Äußerungen (2) und (3) weisen in ihrer 2. Lesart, die Eisenberg unspezifisch nennt, mindestens zwei unterschiedliche Formen auf:
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Oksana Kovtun
P+ n s - n H - in B2 und Ρ- II s - ΠΗ- in B3. Die richtige Notation wäre also: (1) Ich habe ein Feuerzeug gefunden=>
P+ Il s + ΠΗ-
(2) Karl hat ein Feuerzeug gefunden => entweder 1. Lesart
P+ Il s + E r -
oder 2. Lesart
P+ns-nH-
=> entweder 1. Lesart
P+ n s + ΠΗ-
(3) Ich suche ein Feuerzeug
oder 2. Lesart P- II s - ΠΗIch übersetze nun die oben angeführten Beispiele ins Ukrainische und ins Russische. Diese beiden Sprachen haben, wie bereits gesagt, keinen Artikel, zeichnen sich aber durch eine reiche Palette der sogenannten Indefinitpronomina aus. Wir werden sehen, dass der unbestimmte Artikel ein in der zweiten, unspezifischen Lesart in (2) und in (3) durch verschiedene Indefinitpronomina übersetzt wird, so dass man hier zwischen zwei Formen der unspezifischen Lesart unterscheiden muss.
(Bl) dt.:
Ich habe ein1 Feuerzeug gefunden,
ukr.:
Ja znajschov zapalnytschku.2
russ.:
Ja naschol zashygalku.
Ich fand Feuerzeug (Akk.fem.f (B2) dt. :
Karl hat gin Feuerzeug gefunden.
1. Lesart: ukr.:
Karl znajschov zapalnytschku.
russ.:
Karl naschol zashygalku.
Karl fand Feuerzeug (Akk.fem.) 2. Lesart: ukr. :
Karl znajschov jakus zapalnytschku.
russ. :
Karl naschol kakuju-to zashygalku.
Karl fand welches+Deixis Feuerzeug (Akk. fem.) 1 2 3
Zur raschen Identifizierung werden die analysierten Ausdrücke in den Beispielen unterstrichen. Die ukrainischen und russischen Beispiele werden hier zur besseren Lesbarkeit für den deutschen Leser transliteriert. Bei den ukrainischen und den russischen Beispielen wird kursiv eine Interlinearübersetzung angegeben.
Determination im Deutschen im Vergleich zum Ukrainischen und Russischen
(B3) dt.: ukr.: russ.:
ukr.: russ.:
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Ich suche sin Feuerzeug. 1. Lesart: Ja schukaju zapalnytschku. Ja ischtschu zashygalku. Ich suche Feuerzeug (Akk. fem.) 2. Lesart: Ja schukaju jaku-nebud zapalnytschku. Ja ischtschu kakuju-nibud zashygalku. Ich suche welches es auch sei Feuerzeug (Akk. fem.)
Wir sehen, dass der unbestimmte Artikel ein in seinem sogenannten spezifischen Gebrauch, also (Bl) sowie (B2) und (B3) in der 1.Lesart, kein Äquivalent in den ukrainischen und russischen Beispielen findet. Wir haben hier im Gegensatz zum Deutschen mit keiner expliziten Determination, sondern vielmehr mit einer Kombination von nennender und genus- / kasusspezifizierender Prozedur zu tun (vgl. Redder 1999: 238). Was die unspezifische 2. Lesart in (B2) und (B3) betrifft, so wird hier ein durch zwei unterschiedliche Ausdrücke wiedergegeben. Die Tatsache, dass ich den unbestimmten Artikel in (B2) und in (B3) in der 2. Lesart jeweils anders habe übersetzen müssen, bestätigt die Vermutung, dass auch im Deutschen ein in dieser Position nicht gleich ist. Dies bedeutet, dass die sogenannte unspezifische Lesart des Artikels ein im Deutschen weiter ausdifferenziert werden muss. Ich werde im Folgenden ausgehend von den Ausdrücken jakyjs und jakyj-nebud im Ukrainischen sowie den Entsprechungen kakoj-to und kakoj-nibud im Russischen zeigen, dass die unspezifische Lesart im Deutschen zwei Formen hat: P+ IIs- ΠΗ- und P- IIs- ΠΗ- . 3. Determinationstyp P- IIs- ΠΗAls Äquivalent des unbestimmten Artikels ein in (B3) Ich suche ein Feuerzeug habe ich in der ukrainischen Übersetzung den Ausdruck jakyj-nebud4 und in der russischen Übersetzung kakoj-nibud verwendet. Beide Ausdrücke setzen sich aus dem Interrogativstamm ukr. jak- /russ. kak- (dt. welch-) und dem Element ukr. nebud I russ. nibud zusammen. Dieses zweite Element lässt sich weiter in das Negationselement ukr. ne / russ. ni und die Form bud (dt. sei) vom Verb ukr. buty /russ. byt (dt. sein) zerlegen. Die Ausdrücke ukr. jakyj-nebud / russ. kakoj-nibud heißen also eigentlich „welcher es auch sei" und bedeuten, dass es sich um einen beliebigen Vertreter aus der durch das Nomen benannten Klasse 4
Die Form jaku-nebud, die in der ukrainischen Übersetzung von (B3) verwendet wurde, ist Akkusativ Femininum. Bei der Analyse der ukrainischen und russischen Ausdrücke werde ich als neutrale Form stets Nominativ Maskulinum gebrauchen.
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Oksana Kovtun
von Objekten handelt. Die außersprachliche Wirklichkeit ist somit für den Sprecher und Hörer nicht real, sondern nur potentiell zugänglich (P-). Machen wir uns diese Art der Determination an den folgenden Beispielen aus der russisch-deutschen Ausgabe der Erzählung „Das Rätsel" von Tschechow deutlich: Ein Staatsrat entdeckt jedes Jahr zu Ostern auf der Liste seiner Besucher die Unterschrift einer Person namens Fedjukow. Er kennt diese Person nicht und rätselt, wer das sein könnte: (B4) russ.: Moshet byt, eto tschja-nibud schutka? kann sein dies wessen es auch sei Scherz? Moshet byt, kakoj-nibud tschinownik wmeste so swojej familijej podpisywajet radi kurjosa i etogo Fedjukowa? Kann sein welcher es auch sei Beamter zusammen mit seinem Namen unterschreibt zum Spass auch diesen Fedjukow? Wes wetscher on dumal o torn, ganzen Abend er dachte über schto inkognito-Fedjukow jest duch kakogo nibud davno umerschego tschinownika, dies, dass inkognito-Fedjukow ist Geist welchen es auch sei (Gen.) längst verstorbenen Beamten, prognannogo so slushby predkami Nawagina, a teper mstjaschtschego potomku; gejagten (Gen.) vom Dienst Vorfahren (PI. Instr.) Nawagins, und jetzt rächenden (Gen.) Nachkommen ( Dat. sg.); byt moshet, eto rodstwennik kakogo-nibud kanzeljarista, uvolennogo kann sein dies Verwandter welchen es auch sei (Gen.) Kanzleiangestellten entlassenen (Gen.) samim Nawaginym, ili devizy, soblasnjonnoj im... selbst Nawagin (Instr.) oder Mädchens, verführten er (Instr.) dt.: Vielleicht macht jemand nur einen Scherz? Vielleicht schreibt ein Beamter gleichzeitig mit seinem eigenen Namen spaßeshalber auch diesen Fedjukow ein? Den ganzen Abend lang überlegte er, ob dieser Inkognito-Fedjukow nicht der Geist eines längst verstorbenen Beamten sei, der, von den Vorfahren Nawagins aus dem Dienst gejagt, sich jetzt an deren Nachkommen rächte; möglicherweise konnte er auch ein Verwandter jiggodsiliss Kanzleiangestellten sein, den Nawagin selbst entlassen, oder eines Mädchens, das er verführt hatte... (A. P. Tschechow „Das Rätsel") In diesem Beispiel wird mit den Ausdrücken kakoj-nibud tschinownik (ein Beamter), kakogo-nibud dawno umerschego tschinownika (eines längst verstorbenen Beamten) und kakogo-nibud kanzeljarista (irgendeines Kanz-
Determination im Deutschen im Vergleich zum Ukrainischen und Russischen
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leiangestellten) auf keine konkreten Personen Bezug genommen. Während aber der deutsche Artikel ein dies nicht sofort erkennen lässt, signalisiert der russische Ausdruck kakoj-nibud (welcher es auch sei), dass der Sprecher die Klasse von Beamten und Kanzleiangestellten auf einen möglichen Vertreter absucht. Es ist also kein Zufall, dass alle drei Beispiele ein hypothetisches Geschehen verbalisieren, das durch den Ausdruck moshet byt (dt. vielleicht, möglicherweise) sprachlich explizit gemacht wird. Charakteristischerweise werden ukr. jakyj-nebud und russ. kakoj-nibud in Äußerungen verwendet, die von einem möglichen Geschehen handeln, sowie in Äußerungen, die illokutiv als Fragen und Aufforderungen zu bestimmen sind. Die verbalisierten Objekte bzw. Personen sind in solchen Äußerungen sowohl für den Sprecher als auch für den Hörer in der Wirklichkeit Ρ nicht vorfindlich.
4. Determinationstyp P+ II s · ΠΗWir haben oben festgestellt, dass die sogenannte unspezifische Lesart des unbestimmten Artikels ein Folgendes bedeuten kann: Die Wirklichkeit Ρ ist für den Sprecher und Hörer nicht konkret, sondern nur begrifflich zugänglich, also P-. Betrachten wir nun die zweite Form der unspezifischen Lesart von ein, die in (B2), Lesart 2, Karl hat ein Feuerzeug gefunden vorliegt. Als Äquivalent dieses ein sehen wir in ukrainischer Übersetzung den Ausdruck jakyjs und in russischer Übersetzung kakoj-to. Beide Ausdrücke haben als erstes Element den Interrogativstamm ukr. jakyj / russ. kakoj (dt. welcher). Das zweite Element ukr. s / russ. to ist deiktisch. Das ukr. s geht auf das idg. se* zurück, das heute z.B. im dt. dieser noch steckt. Das russ. to ist wie auch der bestimmte Artikel der im Deutschen auf den idg. Stamm te* / to* zurückzuführen. Im Altslavischen war to ein verbreitetes Mittel, um auf Objekte zu zeigen (vgl. Isatschenko 1968: 505), so ähnlich wie heute die Objektdeixis das im Deutschen. Im 17. Jahrhundert hatte to sogar eine Zeitlang die Funktion eines postponierten Artikels, so wie es heute noch in einigen nordrussischen Mundarten sowie im Bulgarischen und im Mazedonischen anzutreffen ist.5 Sowohl im ukr. jakyjs als auch im russ. kakoj-to stecken also objektdeiktische Elemente, so daß man mit den beiden Ausdrücken immer auf ein konkretes, klar umrissenes Objekt in der Wirklichkeit Ρ verweist. Ich will diesen Determinationstyp wieder an Beispielen aus der zweisprachigen Ausgabe von russischen Erzählungen illustrieren: (B5) russ.: Ja pogrushalsa ν son... vdrug uvidel sebja ν kakom-to dvore... menja okrushali kakije-to tjemnyje 5
Auf der Basis von to haben sich im Russischen schließlich das ferndeiktische tot (jener) und das nahdeiktische etot (dieser) durch die Verschmelzung von to mit dem ebenfalls deiktischen Element e entwickelt. Das Ukrainische hat auf der Basis von to das ferndeiktische Element toj (jener) entwickelt.
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dt.:
ich fiel in Schlaf...plötzlich sah mich in welchem+Deixis Hof... mich umringten welche+Deixis dunkle russ.: figury... oni podchodili vse blishe... sejtschas udarjat! dt.: Gestalten... sie kamen immer näher... gleich schlagen Ich fiel in tiefen Schlaf... plötzlich sah ich mich in einem Hof... dunkle Gestalten umringten mich... sie kamen immer näher... gleich schlagen sie mich tot! (B6) russ.: Nakonez sa steklom pokasalos kakoje-to lizo - vgljadevschys vo tmu, ono stalo otrizatelno raskatschivatsja. dt.: endlich hinter Scheibe zeigte sich welches+Deixis Gesicht - hineingestarrt in Finsternis es begann verneinend schaukeln Endlich zeigte sich hinter der Scheibe sin Gesicht, es starrte in die Finsternis und begann verneinend zu schaukeln (Walerij Popow „Träume auf der oberen Pritsche) Die Objekte, auf die sich der Autor mit den Ausdrücken ν kakom-to dvore (in einem Hof) und kakoje-to lizo (ein Gesicht) bezieht, sind für ihn existent, auch wenn sie nicht unmittelbar in der realen, sondern nur in der geträumten Welt angesiedelt sind. Unbestimmt oder unspezifisch ist nur die Identität von HOF und GESICHT und dies wird durch das Element russ. kakoj (dt. welcher) angezeigt. HOF und GESICHT sind hier aber nicht irgendwelche, beliebige, sondern konkrete Gegenstände; man kann auf sie zeigen, was hier sprachlich mit dem deiktischem Element to auch gemacht wird. Ihre Vorfindlichkeit in der Wirklichkeit Ρ wird auch durch die Ausdrücke signalisiert, die sinnliches Wahrnehmen bezeichnen: sehen in (B5) und sich zeigen in (B6). Im Gegensatz zu (B4), wo ein hypothetisches Geschehen beschrieben wurde, handelt es sich hier um ein tatsächliches vergangenes Geschehen. Fassen wir an dieser Stelle den Unterschied zwischen kakoj-to und kakoj-nibud im Russischen bzw. jakyjs und jakyj-nebud im Ukrainischen zusammen. Mit kakoj-nibud bzw. jakyj-nebud wird dem Hörer / Leser signalisiert, dass kein konkretes Objekt in der außersprachlichen Wirklichkeit, sondern ein beliebiger Vertreter aus der durch das Nomen benannten Klasse von Objekten gemeint ist. Diese Form der Unbestimmtheit liegt in (B3) in der unspezifischen Lesart vor: Ich suche ein Feuerzeug. Mit Hilfe von kakoj-to bzw. jakyjs dagegen bezieht man sich auf ein klar umrissenes Objekt, das aber dem Sprecher und Hörer unbekannt ist. Dies wäre die unspezifische Lesart in (B2): Karl hat ein Feuerzeug gefunden.
Determination im Deutschen im Vergleich zum Ukrainischen und Russischen
343
5. Determinationstyp P+ ü s + ΠΗBezieht sich der Sprecher auf ein konkretes Objekt in der Wirklichkeit und hat selbst Kenntnis von diesem Objekt, z.B. weil er kraft seiner Teilnahme am Geschehen das Objekt persönlich identifizieren konnte, wie das in (Bl) Ich habe ein Feuerzeug gefunden der Fall ist, so ist es nur der Hörer, für den dieses verbalisierte Objekt ein neues Wissen darstellt. Wir haben hier mit dem Determinationstyp P+ ü s + ΠΗ- zu tun. Diese Form der unbestimmten Determination wird im Ukrainischen und Russischen nicht durch einen speziellen Ausdruck, sondern vielmehr durch die Position des als unbestimmt determinierten Elementes am Ende des Satzes, also an der Stelle, wo normalerweise etwas Neues eingebracht wird, realisiert.6 Außerdem kann die grammatische Kategorie des Aspekts bestimmte Determiniertheitseffekte ausüben.7 Es gibt aber eine interessante Konstellation, wenn der Sprecher selbst Kenntnis von dem verbalisierten Objekt hat, den Hörer aber bewusst in Unkenntnis lässt. Dann taucht im Ukrainischen wie im Russischen der Ausdruck odyn / odin auf. Genauso wie ein im Deutschen geht odyn / odin auf das lat. unus zurück und ist mit dem entsprechenden Zahlwort verwandt. Betrachten wir zur Illustration folgendes Beispiel: (B7) russ.: Ja odnomu kupzu reklamu sotschinjal, tak tot vsjal dlja objavljenija gerby raznych orodow. ich einem Kaufmann (Dat.) Reklame verfasste, so der nahm für Anzeige Wappen verschiedener Städte. dt.: Ich habe mal für einen Kaufmann einen Reklametext verfasst, und der hat für die Anzeige die Wappen verschiedener Städte dazugenommen. (Α. P. Tschechow „Der Schriftsteller") Mit der Formulierung odnomu kupzu (einem Kaufmann) signalisiert hier der Sprecher, dass er sich auf eine konkrete Person bezieht (P+), von der er Kenntnis hat (IIS+), da er mit dieser Person in der Vergangenheit interagiert hat. Gleichzeitig gibt er dem Hörer zu verstehen, dass er es im Moment für nicht sinnvoll hält, mehr Informationen über die Identität dieser Person zu liefern, so dass der Hörer bewusst in Unkenntnis gelassen wird (ΠΗ-)· Der Ausdruck odin zeigt ganz allgemein eine Thematisierungsstruktur an, d.h. das neu eingeführte Wissen (das Thema) kann im weiteren Verlauf ausgeführt werden (vgl. Hoffmann 2000). So wird im oben angeführten Beispiel das Thema KAUFMANN weiter durch die Deixis tot (dt. der) aufgegriffen und fortgeführt. Eine geradezu klassische Verwendung von odin sind daher Anfangsformulierungen von Märchen: 6 7
Das Verhältnis zwischen dem neuen und alten Wissen im Hinblick auf die Determination wird auch von Ehlich in diesem Band thematisiert. Eine ausführliche Beschreibung solcher Determiniertheitseffekte liefert die Arbeit von Leiss (2000).
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(B8)
ukr.: Shyw-buw odvn korol. dt.: lebte-war eiü König. Es lebte einmal sin König. Eine weitere Verwendung dieses Determinationstyps findet man in den Titeln wissenschaftlicher Arbeiten, so etwa im Beispiel von Birkenmaier (1979: 82): (B9) russ.: Ob odnoj osobennosti russkoj retschi. dt.: über eine Besonderheit (Präp.) russischer Sprache Über eine Besonderheit der russischen Sprache. Hier signalisieren die Ausdrücke russ. odin / dt. ein erstens, dass aus vielen Besonderheiten der russischen Sprache nur eine einzige behandelt wird, und zweitens, dass der Hörer bzw. Leser in den darauffolgenden Ausführungen mit weiteren Informationen rechnen kann (der Autor weiss ja von vornherein, um welche Besonderheit der russischen Sprache es sich handelt, will aber diese vorerst noch nicht nennen). Der Unterschied zwischen kakoj-to bzw. jakyjs und odin bzw. odyn besteht also darin, dass der Sprecher im ersten Fall das gemeinte Objekt nicht eindeutig identifizieren kann und es im zweiten Fall dem Hörer gegenüber nicht eindeutig identifizieren will.
6. Zusammenfassung Fassen wir noch einmal die drei Determinationstypen, die im Deutschen durch den unbestimmten Artikel ein und im Ukrainischen und im Russischen durch spezielle Ausdrücke realisiert werden, zusammen: ein: P- IIs- ΠΗein: P+ Π5- ΠΗein: P+ ü s + ΠΗEs sind keineswegs drei verschiedene ein, wie dies hier erscheinen mag. Wir sehen, daß alle Charakteristika ein gemeinsames Merkmal haben: Π Η -, d.h. ganz unabhängig davon, ob der Sprecher selbst Kenntnis von dem verbalisierten Objekt hat IIS+ oder IIs-, setzt er beim Hörer keine solche Kenntnis voraus. Der unbestimmte Artikel signalisiert also ganz allgemein, daß der Sprecher kein Wissen auf der Seite des Hörers annimmt. Im Vergleich zur bestimmten Determination, die ja dem Hörer anzeigt, das sich das verbalisierte Objekt im gemeinsamen Wissensraum befindet, also n s + , ΠΗ+, kann die unbestimmte Determination unterschiedliche Konstellatio-
Determination im Deutschen im Vergleich zum Ukrainischen und Russischen
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nen des Sprecher- und hörerseitigen Wissens zum Ausdruck bringen. Der unbestimmte Artikel im Deutschen stellt somit ein Potential dar, das verschieden genutzt werden kann. Das folgende Beispiel zeigt noch einmal deutlich, dass letztendlich auch die Text- oder Diskursart entscheidend dafür ist, welche Möglichkeit gerade realisiert wird. (B12) Beschatteter Mitarbeiter muss Detektiv bezahlen Mainz, (dpa) Ein Chef darf einen Mitarbeiter beschatten und unter Umständen ihn dafür auch noch bezahlen lassen. Dies geht aus einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz in Mainz hervor. Hat sin Arbeitgeber den Verdacht, dass gin krankgeschriebener Mitarbeiter schwarz arbeite, so darf er ihn laut Urteil durch einen Detektiv beobachten lassen und auch die anfallenden Kosten als Schadenersatz verlangen. (B13) Wie der Anwalt-Suchservice berichtet, hatte ein Arbeitgeber einen krankgeschriebenen Staplerfahrer aufgrund von Tipps durch einen Detektiv beobachten lassen. Es stellte sich heraus, dass der Mann schwarz in einem Geschäft arbeitete. Darauf erhielt er eine fristlose Kündigung und die Rechnung für die Detektivkosten. (Az.: 5 Sa 540/99) (Westfälische Rundschau, 8. Juni 2000) Mit den Ausdrücken ein Chef bzw. ein Arbeitgeber, ein krankgeschriebener Mitarbeiter und ein Detektiv werden im Titel und im ersten Absatz beliebige Vertreter der Klassen von Arbeitgebern, Mitarbeitern und Detektiven benannt; es wird also Determinationstyp P- II s - ΠΗ- realisiert. Mit denselben Ausdrücken wird im zweiten Absatz dagegen auf konkrete Personen Bezug genommen; hier liegt Determinationstyp P+ ü s + ΠΗ- vor. Wie ist das möglich? Im ersten Teil des Textes sind die Ausdrücke ein Arbeitgeber, ein krankgeschriebener Mitarbeiter und ein Detektiv in einen Konditionalsatz eingebettet. Auf Grund seines sprachlichen Wissens ist der Hörer/Leser imstande zu erkennen, dass dieser Satztyp noch nicht die Existenz selbst, sondern nur die Bedingung für die Existenz bestimmter Sachverhalte benennt. Das Geschehen ist ähnlich wie in (B4) ein hypothetisches. Ganz anders sieht es dagegen im zweiten Teil des Textes aus: Durch die Kombination von Symbolfeldausdrücken Wie der Anwalt-Suchservice berichtet mit der darauffolgenden Beschreibung des stattgefundenen Geschehens in Tempora der Vergangenheit gibt der Sprecher bzw. Autor dem Hörer bzw. Leser zu verstehen, dass ein Arbeitgeber, ein krankgeschriebener Staplerfahrer und ein Detektiv nicht mehr die ganze Klasse benennen, sondern konkrete Vertreter dieser Klasse von Personen. Die unterschiedlichen Arten der unbestimmten Determination auszudifferenzieren, wie das hier ansatzweise gemacht wurde, ist aus vielen Gründen nützlich. Es kann unter anderem den fremdsprachigen Lernern den Umgang mit einem notorisch schwierigen Phänomen der deutschen Sprache, dem unbestimmten und dem bestimmten Artikel, erleichtern. Andererseits können auch diejenigen
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Oksana Kovtun
profitieren, die Russisch, Ukrainisch oder vielleicht auch eine andere artikellose Sprache als Fremdsprache erlernen. So beklagte sich bei mir eine deutsche Studentin, die Russisch im Hauptfach studiert hat, dass sie den Unterschied zwischen kakoj-to und kakoj-nibud im Russischen nie richtig verstanden hatte. Warum werde der unbestimmte Artikel ein in der Frageäußerung Hat ein Besucher nach mir gefragt? durch kakoj-nibud (welcher es auch sei) und in der Antwortäußerung Ja, es hat ein Besucher nach Ihnen gefragt durch kakoj-to (welcher+Deixis) übersetzt, bezeichnet doch in beiden Fällen im Deutschen der unbestimmte Artikel an dieser Stelle eine unbestimmte Person. Statt der verwirrenden Vorstellung, daß der unbestimmte Artikel zu wählen ist, wenn von unbestimmten Personen, Sachverhalten und Gegenständen die Rede ist, sollten den Studierenden die Strategien zur Bearbeitung des Wissens zwischen Sprecher und Hörer aufgezeigt und die Determination stets unter dieser Perspektive analysiert werden.
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Hans-Werner Eroms
• Syntax der Deutschen Sprache 2000. XI, 510 Seiten. Broschur. ISBN 3-11-015666-0 (de Gruyter Studienbuch) „Eroms versteht es gut, komplizierte Strukturen und diffizile Zusammenhänge lesbar darzustellen. Das Buch bleibt dennoch rigoros wissenschaftlich. Es ist anzunehmen, dass die Syntax bald in die Liste der empfohlenen Standardwerke fur das Studium der Germanistik im Inund Ausland aufgenommen wird." Stefan Pongo in Studia Philologìca, Universitatis Constantini Philosophi, Frühjahr 2001 Hans Werner Eroms ist Professor an der Universität Passau.
Bruno Strecker / Ludger Hoffmann / Gisela Zifonun
• Grammatik der deutschen Sprache 1997. 3 Bde. Zus. XXIX, 2569 S. 68 Abb. 108 Tab. Leinen. ISBN 3-11-014752-1 (Schriften des Instituts fur Deutsche Sprache 7) Die dreibändige Grammatik der deutschen Sprache ist eine Dokumentation der grammatischen Strukturen der deutschen Gegenwartssprache. Die Autoren präsentieren das deutsche Sprachsystem auf der Grundlage authentischer Belege. Die Grammatik der deutschen Sprache ist ein anspruchsvolles grammatisches Lese- und Studierbuch. Sie erläutert die zentralen Termini und Regeln und bietet anhand vieler lebendiger Beispiele die Gelegenheit, die deutsche Grammatik in ihrer Komplexität kennenzulernen.
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Functional Grammar Series (FGS) S e r i e s Editors: C a s p e r d e G r o o t a n d J. L a c h l a n M a c k e n z i e
In contemporary linguistics there is a strong interest in functionalist explanations. There can be little doubt that such explanations gain value from being embedded within a cogent theory of grammar, and this is precisely what is offered by Functional Grammar. In its current formulation, Functional Grammar analyzes the clause as reflecting the interaction of three hierarchical structures with nested layers: in this way, interactional factors are integrated with semantic and morphosyntactic structure. T h e theory furthermore ascribes a central role to the lexicon, showing how its internal structuring is reflected in linguistic regularities. Another characteristic of the grammar is that it aims to achieve typological adequacy: proposals for any one language are formulated in such a way that they are transferable, mutatis mutandis, to other language types. From 1978 until his untimely death in 1995, Simon C. Dik together with many associates throughout the world - produced a large body of work in the framework of Functional Grammar. Since 1985 the Functional
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Series (FGS) has been the
major locus for book-length work in the theory and its applications. As the theory has continued to grow, the FGS remains the principal forum for the presentation and discussion of new developments in Functional Grammar as well as of various applications of the theory in language typology, language description and computational modelling. For single titles published in this series, please visit our website at
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