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German Pages [282] Year 2015
Wilhelm Eppler (Hg.)
Fundamentalismus als religionspädagogische Herausforderung
Mit 3 Abbildungen
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0419-3 ISBN 978-3-8470-0419-6 (E-Book) Mit freundlicher Unterstützung der CVJM-Hochschule in Kassel. © 2015, V&R unipress in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Fundamentalismus als Thema christlicher Theologie und Religionspädagogik Friedrich Schweitzer Fundamental, nicht fundamentalistisch – Wege einer religiösen Erziehung jenseits von Relativismus und Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . .
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Wilhelm Eppler »Sollte es mit dem Christentum einmal dahin kommen, daß es aufhörte, liebenswürdig zu sein…« Hermeneutische Anmerkungen zur gegenwärtigen Fundamentalismusdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Pola Gewalt und ihr Ende in der biblischen Apokalyptik . . . . . . . . . . . . .
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2. Fundamentalismus als Thema jüdischer und islamischer Theologie Micha Brumlik Zionistischer Messianismus des Jerusalemer Rabbiners Abraham Isaak HaCohen Kook . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mouhanad Khorchide Islamischer Fundamentalismus in Deutschland: Ein soziales Phänomen? Verunsicherte Identitäten und die Suche nach Anerkennung . . . . . . .
85
Friedrich Erich Dobberahn Verlust und Rückeroberung der Heilsgeschichte – zur Entstehung des schı¯‘itischen Islamismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
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Inhalt
Friedrich Erich Dobberahn »The Coming is upon us« – Dokumentation eines islamistischen Videos aus dem Iran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
3. Fundamentalismus in soziologischer und psychologischer Sicht Florian Karcher Jugendkultur, Religion und Fundamentalismus – Religiosität Jugendlicher heute und ihre Anfälligkeit für Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . 163 Christiane Schurian-Bremecker Warum sich der Schäfer der Gemeinde Affaltersbach dem Abendmahl verweigerte oder: Die Bedeutung von Ritualen für Gemeinschaften . . . . 179 Jürgen Eilert Fundamentalistische Kommunikation als religionspädagogische Herausforderung – Fundamentalisten sind nicht immer »die Anderen«
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André Armbruster Zur Komplexität religiös-fundamentalistischer Selbstmordattentate – ein habitus- und feldtheoretisches Forschungsprogramm . . . . . . . . . . . 209
4. Fundamentalismus in medientheorethischer und politologischer Sicht Stefan Piasecki Medien und Fundamentalismus – eine Herausforderung für die Jugendarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Dietmar Molthagen Fundamentalismus und Demokratie – am Beispiel des Salafismus und des Rechtsextremismus in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Vorwort
Der vorliegende Band versucht dem Thema »religiöser Fundamentalismus« näherzukommen und mögliche pädagogische Implikationen zu reflektieren. Ausgangspunkt für die Idee des Sammelbandes war ein interdisziplinär angelegtes Modul »Jugendkultur und Fundamentalismus« an der CVJM-Hochschule in Kassel, das ich gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Florian Karcher, Jugendsoziologe, durchführte und das sich großen Interesses seitens der Studierenden erfreute. Wir waren der Meinung, dass es an der Zeit ist, sich wissenschaftlich und interdisziplinär dem Phänomen religiöser Fundamentalismus zuzuwenden. Bei einem solchen Projekt kann gefragt werden, ob eine sich wissenschaftlich verstehende Theologie und Religionspädagogik hier nicht einem vorwissenschaftlichen Verständnis von Texten und Religion zu viel Aufmerksamkeit zuwendet, indem sie diese gar als »religionspädagogische Herausforderung« versteht. Gilt es nicht heute, in Zeiten fortschreitender Säkularisierung, die Konzentration positiv auszurichten auf die Vermittlung »gesunden« Glaubens, anstatt »Fehlformen« des Glaubens zu reflektieren? Wirkt eine solche Fragestellung nicht zu sehr auf die eigene Agenda? Diese Fragen müssen gestellt werden, doch spiegelt sich in ihnen möglicherweise eine binnenkirchliche und binnentheologische Sicht, die nicht weiterführend ist: Die Bindung der Religiosität an Institutionen nimmt ab, die Rolle der Religion ist in der modernen Gesellschaft vielfältig und unübersichtlich geworden, und vor allem: Fundamentalistische Ausprägungen von Religion üben eine zunehmende Attraktivität auf junge Menschen aus. Dies sind Entwicklungen, die zu bedenken sind, zumal die öffentliche Präsenz des Themas unüberhörbar nach Klärungen ruft. Studierende religionspädagogischer Studiengänge an den Hochschulen für angewandte Wissenschaften stehen verstärkt vor der Herausforderung, angesichts dieser Entwicklungen ihre eigene hermeneutische Identität zu reflektieren und zu festigen, um sie dann in ihre spätere Arbeit einbringen zu können. In ihren späteren beruflichen Arbeitsfeldern begleiten sie Jugendliche oft unmittelbar in ihren Identitätsfindungsprozessen und in ihrer Suche nach Orientierung. Vieles hängt davon ab, dass Jugendliche in dieser Lebensphase Religion als
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Vorwort
etwas kennenlernen, das die besten Kräfte in ihnen freisetzt, nämlich Offenheit für Andersdenkende, Toleranz, Neugier, aber auch Wertebewusstsein, Rückgrat, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt waches Interesse und Engagement für Politik und Gesellschaft. Religion darf Menschen nicht verschließen, fanatisieren, verhärten, sie darf nicht in Fraglosigkeit führen und damit untüchtig machen für das Leben in der pluralistischen Moderne. Die Frage nach dem religiösen Fundamentalismus wird so gesehen zur pädagogischen Frage nach der Prävention, schärft aber gleichzeitig den Blick dafür, wie Glauben – auch der christliche Glaube – so kommuniziert werden kann, dass er weder den Gefährdungen des Fundamentalismus noch des profillosen Relativismus erliegt. Fundamentalismus ist ein Thema, das heute zielführend nur interdisziplinär und interreligiös reflektiert werden kann. Deshalb kommen in diesem Band unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen zu Wort: Friedrich Schweitzer plädiert in seinem Beitrag für eine Religionspädagogik, die eine fundamentalistische Ausrichtung ebenso vermeidet wie eine relativistische Auflösung aller religiösen Orientierung. Die Unterscheidung von »fundamental« und »fundamentalistisch« pointiert die Balance deutlich: Ziel ist es, pluralitätsfähig zu sein, ohne dass sich Glaube verwässert und vergleichgültigt. In meinem Beitrag untersuche ich die gegenwärtig in Fundamentalismusdiskursen sich etablierende Vorstellung von Fundamentalismus als »ungebändigte« und »unzivilisierte« Religion, eine Vorstellung, die ein bestimmtes Verständnis von Religion impliziert und unter hermeneutischen Gesichtspunkten kritisch zu prüfen ist. Ein weiteres wichtiges Thema der Fundamentalismusforschung ist die Apokalyptik, die gegenwärtig aus unterschiedlichen Gründen in Misskredit geraten ist. Thomas Pola begründet in seinem Beitrag, inwiefern die Apokalyptik als Verstehensvoraussetzung für die Person Jesu von Nazareth und das gesamte Neue Testament unverzichtbar ist, und plädiert dringend dafür, die Hebräische Bibel in der Religionspädagogik nicht auf leicht eingängige Stoffe oder nur auf die soziale Botschaft der Propheten zu reduzieren. Der zweite Teil beleuchtet den Fundamentalismus aus der Sicht der jüdischen und islamischen Theologie. Besonders erfreulich ist es, dass Vertreter der jüdischen und islamischen Theologie, Micha Brumlik und Mouhanad Khorchide, sich bereit erklärt haben, theologische und soziologische Aspekte zum Thema aus ihrer Sicht beizutragen. Ihre Mitwirkung ist ein starkes Zeichen dafür, dass wir beim Thema Fundamentalismus vor einer gemeinsamen Herausforderung stehen und dass das Gespräch fortgesetzt werden sollte. Micha Brumlik stellt unterschiedliche Facetten des Fundamentalismus im gegenwärtigen Judentum dar und erläutert die Rolle des Messianismus und des Zionismus auf dem Hintergrund der Theologie des Jerusalemer Rabbiners Abraham Kook, ergänzt durch Bezüge zur rabbinischen Theologie und zum Reformjudentum. Mouhanad Khorchide vergleicht die sich verändernden Rahmenbedingungen von der
Vorwort
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ersten Generation der Gastarbeiter bis zu späteren Einwanderungsgenerationen und zeigt auf diesem Hintergrund, welche Rolle der Religion in den Identitätskonstruktionen junger Muslime zukommt und inwiefern hier auch fundamentalistische Orientierungen attraktiv sind. Friedrich Erich Dobberahn führt in seinem Beitrag in die historischen Hintergründe des islamistischen Fundamentalismus schiitischer Prägung ein und zeigt dabei, welche Auswirkungen die apokalyptische Geschichtsinterpretation für das Selbstverständnis des schiitischen Islamismus hat. Anschaulich wird diese Deutung in seinem zweiten Beitrag durch das von ihm kommentierte Propaganda-Video aus dem Iran »The Coming is upon us«. Der dritte Teil des Aufsatzbandes widmet sich soziologischen und psychologischen Aspekten. Florian Karcher stellt die jugendliche Religiosität im Rahmen des jugendlichen Sozialisationsprozesses dar und zeigt, wo hier Anfälligkeiten für Radikalität und Fundamentalismus liegen und welche Konsequenzen sich für die Religionspädagogik ergeben. Christiane Schurian-Bremecker beleuchtet die zentrale Rolle von Ritualen in der Gesellschaft und zieht von hier aus die Linie zur Rolle des christlichen Glaubens und der Religionen. Sie plädiert dafür, inmitten unterschiedlicher Wahrheitsansprüche über geeignete Rituale nachzudenken, um in den Pluralisierungsprozessen der Moderne und den nicht einzuebnenden religiösen und kulturellen Unterschieden Erfahrungen von Solidarität zu erzeugen und zu festigen. Jürgen Eilert setzt sich aus (entwicklungs-) psychologischer Sicht mit dem Thema Fundamentalismus auseinander und beschreibt die komplexen Prozesse, die sich abspielen, wenn Jugendliche unsere Welt kritisch wahrzunehmen beginnen und an normativen Bezügen messen. Zugleich reflektiert er, wie eine angemessene Kommunikation und hilfreiche Begleitung in diesen Lebensphasen aussehen könnte. André Armbruster untersucht auf dem Hintergrund der Sozialtheorie Pierre Bourdieus und des von ihm entwickelten Habituskonzepts, wie es zu Selbstmordattentaten kommen kann. Er stellt dabei auch die Wirklichkeitsdeutung des religiösen Fundamentalismus dar sowie die Gründe, die zur Umdeutung des im Koran als Sünde beurteilten Selbstmords als Martyrium geführt haben. Im vierten und letzten Teil führt Stefan Piasecki in die komplexe Dynamik des Zusammenspiels von Medien und Fundamentalismen ein: So sind Fundamentalismen auf Öffentlichkeitswirkung nach innen wie nach außen angewiesen, während umgekehrt auch die Medien damit rechnen können, dass Berichte über Extremismus und Fundamentalismus einen Aufmerksamkeitswert haben. Zum Abschluss bündelt Dietmar Molthagen das Thema aus politologischer Sicht: Er präzisiert den in der Politologie umstrittenen Extremismus- und Fundamentalismusbegriff und arbeitet die Unvereinbarkeit salafistischer und rechtsextremer Vorstellungen mit dem Grundgedanken der Demokratie heraus. Angesichts der zunehmenden Attraktivität fundamentalistischer Gruppen für Jugendliche ver-
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Vorwort
weist er auf die Bedeutung der Präventionsarbeit mitgliederstarker Gruppen wie Kirchen und Religionsgemeinschaften. In den Beiträgen sind die bildungstheoretischen und pädagogischen Fragestellungen unterschiedlich stark reflektiert. Wenn ich recht sehe, ist der Klärungsbedarf an Grundsätzlichem bei dem komplexen Thema derzeit noch erheblich, sodass pädagogische Überlegungen noch nicht jenen Grad der Konkretheit erreichen können, den wir uns wünschen. Deshalb sollte der Band als Annäherung an das Phänomen Fundamentalismus verstanden werden, dessen Reflexion weitergeführt werden muss. Einige Beiträge sind fachwissenschaftlich geprägt, andere bemühen sich um Allgemeinverständlichkeit und dürften daher eine breitere Leserschaft ansprechen. Deshalb mögen sich die Leserinnen und Leser von ihrem jeweiligen Interesse bei der Lektüre leiten lassen. Ich möchte – auch im Namen der CVJM-Hochschule Kassel – allen Mitarbeitenden für ihre Beiträge zu diesem Band herzlich danken. Besonders danke ich meinen Kollegen Prof. Dr. Klaus Schulz, Göttingen und Prof. Stefan Jung, Essen für die kritische Begleitung des Projekts, unserer unermüdlichen Lektorin, Frau Katja Rasmus, Melle, sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen für die Drucklegung. Kassel, den 4. Februar 2015 Wilhelm Eppler
1. Fundamentalismus als Thema christlicher Theologie und Religionspädagogik
Friedrich Schweitzer
Fundamental, nicht fundamentalistisch – Wege einer religiösen Erziehung jenseits von Relativismus und Fundamentalismus
In diesem Beitrag geht es um Fundamentalismus aus religionspädagogischer Sicht. Gefragt werden soll nach Möglichkeiten und Wegen einer religiösen Erziehung und Bildung, die eine fundamentalistische Ausrichtung ebenso vermeiden wie die vermeintlich problemlösende Strategie einer Auflösung aller religiösen Orientierung zugunsten einer relativistischen Position. Darauf verweist die Unterscheidung zwischen fundamental und fundamentalistisch. Die religionspädagogische Perspektive wird dabei in einem weiten Sinne verstanden. Es geht von vornherein nicht nur um Schule und Religionsunterricht, sondern um alle Bereiche der religiösen Erziehung und Bildung, beispielsweise also auch in der Familie und in der Jugendarbeit. Besondere Berücksichtigung finden im Folgenden auch erziehungswissenschaftliche Kriterien, weshalb schon mit dem gewählten Titel – »fundamental, nicht fundamentalistisch« – auf den Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner angespielt wird, der diese Unterscheidung seinen Überlegungen zum Fundamentalismus zugrunde legt.1 Diese Unterscheidung soll im Folgenden religionspädagogisch aufgenommen und weitergeführt werden. Nicht beabsichtigt ist hingegen ein eigener inhaltlicher Beitrag zur Klärung von Fundamentalismus als allgemeinem historischem oder gegenwärtigem Phänomen. Dazu liegen inzwischen klärende Untersuchungen vor, die für die nachfolgenden Ausführungen insoweit aufgenommen und referiert werden, als es für die religionspädagogische Darstellung erforderlich ist.
1 Vgl. Benner, 2008; überarbeitet Benner, 2014.
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Friedrich Schweitzer
Zur Problemstellung: Religiöse Erziehung und Fundamentalismus Warum soll überhaupt nach dem Verhältnis zwischen religiöser Erziehung und Fundamentalismus gefragt werden? In der religionspädagogischen Tradition und der entsprechenden Literatur finden sich kaum Ausführungen zum Thema Fundamentalismus. Wie etwa an entsprechenden Themenheften religionspädagogischer Zeitschriften abzulesen ist,2 handelt es sich um ein aktuelles Thema, das erst in neuerer Zeit zu einem stärker beachteten religionspädagogischen Problem wurde, vor allem vor dem Hintergrund medial breit aufgenommener Entwicklungen. In erster Linie gilt die mediale Aufmerksamkeit dabei dem Fundamentalismus im Bereich des Islam, der als eine der Ursachen für terroristische Anschläge gilt. Im Bereich der Wissenschaft spielen dabei häufig Bezüge auf die bekannten Thesen von Samuel P. Huntington zum »Kampf der Kulturen« eine begründende Rolle.3 In zweiter Linie wird dann aber auch dem christlichen Fundamentalismus vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt, vor allem im Umkreis der Auseinandersetzungen um Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, etwa mit dem Stichwort »Kreationismus« oder der in den Vereinigten Staaten immer wieder diskutierten Forderung, neben der Evolutionstheorie auch die Sichtweisen des »intelligent design«, als einer angeblich wissenschaftlichen Alternative zur Evolutionstheorie, zu lehren.4 Zumindest teilweise werden in der Öffentlichkeit bereits religiöse Überzeugungen als solche mit Fundamentalismus assoziiert und wird angenommen, dass eine sich an der Bibel orientierende christliche oder auch jüdische oder muslimische Erziehung, die den Schöpfungsglauben einschließt, notwendig fundamentalistisch sei.5 So steht die Religionspädagogik heute vor der Aufgabe, ihr eigenes Verständnis von religiöser Erziehung und Bildung in dieser Hinsicht genauer zu klären und deutlich zu machen, was ein reflektiertes religionspädagogisches Verständnis religiöser Erziehung und Bildung vom Fundamentalismus unterscheidet und wie religionspädagogisch mit fundamentalistischen Tendenzen bei Kindern und Jugendlichen umzugehen ist. Dabei fällt die Abgrenzung gegenüber dem Fundamentalismus zunächst leicht – wie sich noch zeigen wird, stehen sich im heutigen Verständnis Bildung und Fundamentalismus als einander ausschließende Gegensätze gegenüber –, aber es stellen sich dann doch Nachfragen ein, die sich vielleicht am besten im Blick auf Eltern und deren Erwartungen an Erziehung und Bildung erläutern lassen. Zumindest einem Teil der christlichen Elternschaft liegt sehr daran, dass 2 Vgl. etwa Der Evangelische Erzieher 4/1995; Religionsunterricht an Höheren Schulen 3/1995; entwurf 1/2010; Loccumer Pelikan 4/2013. 3 Huntington, 1998. 4 Vgl. dazu Numbers, 2006: 373 ff. 5 In diese Richtung zielen etwa die Argumente bei Dawkins, 2007.
Fundamental, nicht fundamentalistisch
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ihre Kinder in religiöser und ethischer Hinsicht klare Orientierungen gewinnen, nicht zuletzt im Blick auf die gesellschaftliche Vielfalt, mit der ohne eine solche Orientierung kaum erfolgreich umzugehen sei. Kann oder soll dies bereits als eine fundamentalistische Intention bezeichnet werden? Würde der Fundamentalismusbegriff damit nicht inflationär? Die Ausbildung von Orientierungen, die als Voraussetzung individueller Urteils- und Entscheidungsfähigkeit anzusehen sind, ist auch ein Anliegen der Religionspädagogik. Insofern ist festzuhalten, dass der Ausweg aus dem Fundamentalismus jedenfalls nicht in einem Relativismus bestehen kann. Anders formuliert besteht die Aufgabe im Folgenden darin, Wege dafür zu finden, wie fundamentalistische Tendenzen zu vermeiden sind und dennoch Orientierung gewonnen werden kann. In dieser Hinsicht bietet sich die Fundamentalismusthematik dazu an, mit dem Verhältnis zwischen (religions-)pädagogischen Vorgaben einerseits und religiöser Autonomie andererseits eine Grundfrage der Religionspädagogik überhaupt weiter zu klären. Selbstverständlich spielt bei all dem auch der Religionsunterricht eine wichtige Rolle. Für die Schule gelten heute insgesamt das sogenannte Überwältigungsverbot sowie das Kontroversgebot (nach dem sogenannten Beutelsbacher Konsens6). Damit ist ausgeschlossen, dass im Religionsunterricht, der nach dem Grundgesetz (Artikel 7 Absatz 1 und 3) der staatlichen Schulaufsicht untersteht und damit auch an die entsprechenden pädagogischen Leitlinien gebunden ist, fundamentalistische Überzeugungen gelehrt werden. So kann – und soll aus meiner Sicht7 – beispielsweise auch das »intelligent design« in der Schule durchaus zum Thema gemacht werden, aber es muss dabei deutlich werden, warum und in welchen Hinsichten solche Auffassungen kontrovers sind. Weniger geklärt ist dabei, wie mit fundamentalistischen Überzeugungen auf Schülerseite umgegangen werden soll. Gerade aus dem Religionsunterricht werden in den letzten Jahren vermehrt Beobachtungen berichtet, wie Lehrerinnen und Lehrer mit fundamentalistischen Haltungen bei einzelnen Schülerinnen und Schülern konfrontiert seien.8 Dabei spielen allerdings auch die Wahrnehmungen und Einschätzungen der Lehrpersonen eine wichtige Rolle, und manchmal – so wird etwa aus der Lehrerausbildung berichtet – kommt es gerade auch in der Religionslehrerschaft zu fundamentalistischen Orientierungen.9 Problematisch sind hier ebenso Haltungen einer grundsätzlichen Fundamentalismusangst wie die einer fundamentalistischen Verfestigung der Inhalte des Religionsunterrichts, die mitunter nicht einmal bewusst zu sein scheint. Der englische Religionspädagoge Terence Copley hat sogar zu zeigen versucht, dass es in Schule und 6 Vgl. Bundeszentrale für Politische Bildung, 2014. 7 Vgl. Gemballa u. Schweitzer, 2010. 8 Vgl. etwa Klindworth-Budny, 2013; Peters, 2013; Büttner, 2010; mit anderen Akzenten Kliemann u. Schweitzer, 2007: 11 ff., 117 ff. 9 Jendorff, 1998; vgl. auch Heyen, 2002.
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Friedrich Schweitzer
Religionsunterricht eine säkularistisch-fundamentalistische Indoktrination geben könne, die pädagogisch gesehen kaum weniger problematisch sei als ein religiöser Fundamentalismus.10 Copleys kritische Thesen sind sehr zugespitzt und haben in der Fachwelt entsprechend wenig Zustimmung gefunden. Sie machen aber deutlich, dass das Überwältigungsverbot sowie das Kontroversgebot keineswegs allein gegenüber religiösen Überzeugungen zur Geltung gebracht werden sollten. Weit über den Religionsunterricht hinaus betreffen die Kontroversen, vor allem in den USA, zum Teil aber auch in Deutschland, den Unterricht über die Evolutionstheorie in der Schule.11 Dass im Biologieunterricht die Evolutionstheorie unterrichtet werden darf, steht in Deutschland außer Frage. Ob Biologielehrerinnen und -lehrer dabei die Auffassung vertreten dürfen, hier werde – im Unterschied zum Religionsunterricht – gesagt, wie es »wirklich« war und sei, stellt aber eine andere Frage dar.12 Manche Eltern lehnen eine Schule, die nicht auch in religiöser Hinsicht sensibel ist, für sich und ihre Kinder ab. Darüber hinaus ist die Schule in breiter Weise mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt in der Schüler- und Lehrerschaft konfrontiert. Dabei können immer auch fundamentalistische Richtungen eine Rolle spielen. Über Familie, Religionsunterricht und Schule hinaus ist auch an den Bereich kirchlicher Pädagogik zu denken, etwa an die Jugendarbeit. Manchen Berichten zufolge neigen gerade Mitarbeitende im Jugendalter zu fundamentalistischen Orientierungen.13 Ihr Einsatz in der Jugendarbeit ist ja oft durch besonders feste Überzeugungen motiviert. Wo genau verläuft dabei die Grenze zwischen klarer Orientierung, jugendlichem Übereifer und problematischem Fundamentalismus, der ein Eingreifen erforderlich macht? Ist es noch legitim, wenn Jugendliche im Lobpreis »ihren Gott« als den »größten Gott« feiern, oder wird hier unter der Hand eine grundlegende Ablehnungshaltung gegenüber Angehörigen anderer Religionen angelegt? Gründe gibt es also genug, sich religionspädagogisch mit Fundamentalismus zu befassen. Allerdings muss dabei von vornherein festgehalten werden, dass die empirische Forschung sich bislang noch kaum auf den Zusammenhang zwischen religiöser Erziehung und Fundamentalismus eingelassen hat. Verfügbar sind dazu bis jetzt vor allem kleinere qualitative Untersuchungen, die kaum als Grundlage für verallgemeinernde Aussagen geeignet sind.14 Das gilt ähnlich, 10 Copley, 2005. 11 Vgl. als hilfreiche Darstellung Numbers, 2006; als eher kontroverse und positionelle Beschreibung für Deutschland s. Kutschera, 2007; zur Thematik aus religionspädagogischer Sicht vgl. Schweitzer, 2012. 12 Vgl. Gemballa u. Schweitzer, 2010. 13 Horn, 1998. 14 Vgl. etwa Hanisch, 2008; Streib, 2001; Dressler, Ohlemacher u. Stolz, 1995.
Fundamental, nicht fundamentalistisch
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wenn auch in anderer Weise, für die aus dem Bereich der Therapie stammende Literatur.15 Die bislang einzige größere Studie zum Fundamentalismus bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland, die von Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller und Helmut Schröder veröffentlicht wurde,16 hat aus guten Gründen in der Wissenschaft breite Kritik erfahren.17 Sie gilt als theoretisch und empirisch wenig tragfähig. Es wäre sehr wünschenswert, dass die empirischen Forschungsgrundlagen im Blick auf Fundamentalismus und religiöse Erziehung in verschiedenen Religionen – in Deutschland vor allem Christentum, Islam und Judentum – in Zukunft deutlich verbreitert werden.
Religionspädagogisch bedeutsame Aspekte des Fundamentalismus Wie bereits gesagt, soll hier nicht versucht werden, ein eigenständiges Verständnis von Fundamentalismus im Allgemeinen zu entwickeln. Dazu liegen inzwischen ausgezeichnete Darstellungen vor, unter denen das in den 1990er Jahren in Chicago durchgeführte Fundamentalismus-Projekt noch immer hervorragt.18 Auch das Verhältnis von Fundamentalismus und Kreationismus ist in geschichtlicher Hinsicht durch Ronald L. Numbers ausgezeichnet dargestellt worden.19 Insbesondere auf das von diesen Autoren erarbeitete Verständnis stütze ich mich im Folgenden. Kennzeichnend für Fundamentalismus ist in dieser Sicht das Bemühen, an der eigenen Glaubenstradition und den eigenen Glaubensüberzeugungen möglichst unverändert festzuhalten, ungeachtet der Infragestellung vor allem durch die moderne Wissenschaft, sei es in Gestalt der Evolutionstheorie oder der historisch-kritischen Methode innerhalb der Theologie selbst. Religionspädagogisch bedeutsam bzw. für die (historische) Bildung insgesamt wichtig ist die Erkenntnis, dass der Fundamentalismus keineswegs, wie heutige Annahmen mitunter zu suggerieren scheinen, ein Phänomen primär im Bereich des Islam darstellt, sondern ursprünglich aus der Geschichte des Christentums stammt. Eng verbunden ist schon die Bezeichnung Fundamentalismus mit einer christlichen Schriftenreihe »The Fundamentals«, die ab 1909 in den USA erschien. Im Zentrum stehen dabei fünf Glaubensinhalte oder Prinzipien, die als unverrückbar angesehen werden. Sie umfassen: »1. die Irrtumslosigkeit der Schrift; 2. die Jungfrauengeburt; 3. den stellvertretenden Sühnetod Christi im Sinne eines stellvertretenden Strafleidens (›penal substitution‹); 4. die leibliche 15 16 17 18 19
Etwa Klosinski, 1996; Leuzinger-Bohleber u. Klumbies, 2010. Heitmeyer, Müller u. Schröder, 1998. S. dazu u. a. Bukow u. Ottersbach, 1999. Marty u. Appleby, 1991 – 1995. Numbers, 2006.
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Friedrich Schweitzer
Auferstehung Jesu Christi; 5. die Authentizität der Wunder Jesu«.20Ihren Hauptgegner sahen diese frühen Fundamentalisten in den Vertretern der historisch-kritischen Bibelauslegung, im Weiteren aber auch im Darwinismus. Von theologischer Seite wird dem Fundamentalismus heute eine Vertauschung der Fundamente vorgehalten. Folgende Formulierungen des Theologen Christoph Schwöbel fassen in dieser Hinsicht eine Art Konsens zusammen: Der Fundamentalismus »übernimmt die Agenda des vermeintlichen ›Gegners‹ und behauptet das als fundamental, was von der gegnerischen Kritik am meisten betroffen ist«. »Zugleich vollzieht sich damit im christlichen Fundamentalismus eine strukturelle Verzerrung des christlichen Glaubens«. Nicht mehr der Glaube an den Dreieinigen Gott wird ins Zentrum und an den Anfang gestellt, sondern eben die »Irrtumslosigkeit der Schrift«.21 Religionspädagogisch bedeutsam ist allerdings auch die Einsicht, dass der Fundamentalismus – schon in seinen christlichen Anfängen und vielfach auch in unserer Gegenwart im Bereich des Islam – eine Reaktion auf die Erfahrung einer grundlegenden Infragestellung der eigenen Glaubensüberzeugungen sowie einer gesellschaftlichen und kulturellen Marginalisierung darstellt. Diese Einsicht ist insofern besonders wichtig, als sie deutlich macht, dass jeder Versuch, dem Fundamentalismus als Folge etwa eines allzu festen Glaubens oder einer allzu selbstgewissen religiösen Identität zu begegnen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. In den heute in Deutschland vorherrschenden lebensweltlichen Zusammenhängen, in denen Kinder und Jugendliche sich bewegen, aber auch im Bereich der Schule, entspricht dem eine soziale oder beziehungsmäßige Marginalisierung. Wer fundamentalistische Überzeugungen vertritt, kann in der Regel weder in der Gesellschaft der Gleichaltrigen noch in der Schule auf Anerkennung hoffen. Fundamentalistische Überzeugungen bedingen vielmehr weithin eine Minderheitenposition, die zur Isolation zu werden droht – mit der Folge einer Überidentifikation mit der kleinen und begrenzten Eigengruppe, die dann allein noch Bestätigung zu versprechen vermag. Damit ist auch eine beziehungsdynamische Seite von Fundamentalismus und entsprechenden Abwehrbewegungen gegen den Fundamentalismus in westlichen Lebenswelten angesprochen. Das Chicago-Projekt zum Fundamentalismus hat deshalb auch den Anti-Fundamentalismus eigens dargestellt: »In vielen Teilen der Welt«, so wird es dort beschrieben, ist »nicht nur ›Fundamentalismus‹ ein Problem, sondern auch die Angst vor Fundamentalismus; in manchen Fällen hat diese Angst sogar zu einer Verletzung von Menschenrechten geführt«. In ihrer extremsten Form werden entsprechende feindschaftliche Haltungen dann als eine besondere Art der Phobie bezeichnet – als »Fundaphobie«. Dabei werde 20 Schwöbel, 2010: 142. 21 Schwöbel, 2010: 143.
Fundamental, nicht fundamentalistisch
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»der andere als hartnäckiger Feind beschrieben«, der »dämonische Eigenschaften besitzt«, und »jeder, dem die Zugehörigkeit zu diesem Lager vorgeworfen wird«, werde zum Gegenstand »für jenes Feindesstereotyp«.22
Pädagogische und religionspädagogische Orientierungen: fundamental, nicht fundamentalistisch Insgesamt haben sich weder die Erziehungswissenschaft noch die Religionspädagogik in der Breite mit der Frage des Fundamentalismus auseinandergesetzt. Das gilt nicht nur für empirische Untersuchungen, die – wie bereits zu konstatieren war – weithin fehlen, sondern auch für genauere theoretische Analysen. Einer der wenigen Erziehungswissenschaftler, die sich auf die Frage nach einer erziehungswissenschaftlichen Einschätzung des Fundamentalismus eingelassen haben, ist Dietrich Benner, auf den ich mich mit dem vorliegenden Beitrag besonders beziehe. Seine Unterscheidung zwischen »fundamental« und »fundamentalistisch« soll deshalb etwas ausführlicher dargestellt werden. Benner stellt seine »Überlegungen zur Unterscheidung zwischen ›fundamentalen‹ und ›fundamentalistischen‹ Konzepten« unter die Überschrift »Religiöse Bildung«23. Seinen Ausgangspunkt beschreibt er dabei so: »Ungeachtet aller in monotheistischen Religionen angelegten fundamentalistischen Gefahren scheint mir die bildungstheoretische Anschlussfähigkeit der christlichen Trinitätslehre darin zu liegen, dass sie Menschwerdung und Offenbarung sowie Bildung und Religion in ein nicht-hierarchisches Verhältnis zueinander zu stellen erlaubt«24.
Benner geht also davon aus, dass Bildung mit dem christlichen Gottesverständnis vereinbar ist. Dazu gehört, dass Religion in diesem Falle Bildung nicht determiniert, sondern dieser in einer »nicht-hierarchischen« Weise begegnet. Das entspricht Benners anthropologischem Grundmodell, für das verschiedene Formen der menschlichen Praxis nebeneinander stehen.25 Benner argumentiert dann weiter: Diesem Verständnis »zufolge sind die Menschen in religiöser Hinsicht ebenso auf eine Offenbarung Gottes angewiesen, wie der Gott sich nur dem Menschen als einem bildsamen Wesen offenbaren kann. Religiöse Praxis ist nicht als Praxis von Göttern zu verstehen, die nach allem, was wir über sie sagen, ohne Religion auskommen. Sie ist vielmehr eine
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Juergensmeyer, 1995: 353 f., eigene Übersetzung. Benner, 2008, in überarbeiteter Form Benner, 2014. Benner, 2008: 153. Benner, 1987.
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Friedrich Schweitzer
Praxis, in der Menschen ihre eigene Endlichkeit reflektieren und eine ›religiöse Musikalität‹ entwickeln können«26. Die fundamentalistische Verengung und Versuchung besteht in dieser Sicht dann darin, das eigene Verständnis des Absoluten mit dem Absoluten selbst gleichzusetzen: »Solche Auslegungen sprechen historischen Formen des Religiösen eine absolute Geltung zu und entziehen ihre Interpretation dem menschlichen Verstand.«27 Was bedeutet demgegenüber »fundamental«? Nach Benner können solche Formen des Religiösen als fundamental bezeichnet werden, »welche die weder an Wissenschaft noch an Moral oder Politik delegierbare grundlegende Funktion von Religion, die Abhängigkeit des Menschen und der Welt zu reflektieren, im Horizont einer historischen Offenbarungsreligion zur Geltung zu bringen suchen«28. Wenn Benner darauf hinweist, dass Religion diese ureigene Funktion nicht an »Moral oder Politik« delegieren könne, so will er damit umgekehrt auch zum Ausdruck bringen, dass Religion andere Handlungsbereiche wie Ökonomie, Sittlichkeit, Pädagogik, Ästhetik oder Politik nicht determinieren kann. Hier begegnen wir wieder der für Benner leitenden Vorstellung einander »nichthierarchisch« zugeordneter Praxisformen. Theologisch gesehen bleibt Benners These von der Gleichursprünglichkeit und anzustrebenden Autonomie der unterschiedlichen Praxisformen des menschlichen Daseins insofern zwar unterbestimmt, als sie die in der Geschichte der Pädagogik zu Recht breit diskutierte Frage etwa nach dem Verhältnis zwischen Erziehung und Weltanschauung nicht genügend beachtet.29 Sie besitzt gleichwohl eine Nähe etwa zu der Lutherischen Lehre von den beiden Reichen oder Regimenten, die ausdrücklich Raum für eine von der menschlichen Vernunft bestimmte Wissenschaft, einschließlich der Pädagogik, schaffen soll und in der Wirkungsgeschichte auch deutlich befördert hat. Im vorliegenden Zusammenhang ist freilich noch wichtiger, dass Benner versucht, den grundlegenden Charakter religiöser Erziehung und Bildung mit dem Begriff des »Fundamentalen« zu seinem Recht kommen zu lassen. Deshalb wendet er sich gegen jede wohlfeile Gleichsetzung religiöser Bekenntnisse mit Fundamentalismus, ohne deshalb auf eine entschiedene pädagogische Kritik am Fundamentalismus zu verzichten. Schon Benner selbst macht zu Recht darauf aufmerksam, dass sich seine erziehungswissenschaftliche Argumentation durchaus mit religionspädagogischen Positionen verbinden lässt.30 Über Benner hinaus zeigt dies etwa auch die 26 27 28 29 30
Benner, 2008: 153. Benner, 2008: 154. Benner, 2008: 154. Vgl. dazu Haen, 2014. So im Blick auf Karl Ernst Nipkow: Benner, 2008: 158 ff.
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kritische Analyse fundamentalistischer Erziehungsformen bei der niederländischen Religionspädagogin Doret de Ruyter31. De Ruyter unternimmt eine Beschreibung fundamentalistischer Erziehungsformen anhand von fünf Merkmalen: 1. das Aufwachsen in einer vollständig durchorganisierten fundamentalistischen Gemeinschaft, mit besonderen Schulen, kirchlichen Zusammenkünften und einem Freizeitverhalten allein im Kontext der betreffenden Gemeinschaft; 2. die von früh auf betriebene biblische Unterweisung, in der die Bibel als einziger Weg zum wahren Leben herausgestellt wird; 3. Disziplin, Respekt vor Autoritäten und Gehorsam; 4. hervorgehobene und pädagogisch gezielt eingesetzte Schuldgefühle; 5. Ausschluss kritischer Fragen und keine Unterstützung kritischen Denkens.32 De Ruyter beurteilt diese (Fehl-)Formen der Erziehung dann anhand des Kriteriums, wie viel Respekt für andere sie zulassen und wie sie sich mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Pluralismus vertragen. Die religionspädagogische Betrachtung von Fundamentalismus greift allerdings zu eng, wenn fundamentalistische Tendenzen allein als Ausdruck fundamentalistischer Erziehung in speziellen Gemeinschaften betrachtet werden. Entwicklungspsychologisch lässt sich nämlich zeigen, dass es in der Lebensgeschichte, besonders in der Kindheit, aber auch noch im Jugendalter zum Teil zu Glaubensüberzeugungen kommt, die einerseits eine Tendenz zur Verabsolutierung aufweisen und andererseits doch als entwicklungskonform bezeichnet werden können.33 Solche Glaubensweisen können und sollen in dieser Perspektive erst dann als fundamentalistisch bezeichnet werden, wenn sie über ihre oft kindlichen Ursprünge in der Lebensgeschichte hinaus unverändert in spätere Lebensphasen fortgeführt werden. So ist es angemessener, bei Kindern von einem »scheinbaren Fundamentalismus« zu sprechen oder auch das bei Jugendlichen mitunter zu findende Streben nach fundamentaler Gewissheit sensibel anzuerkennen, statt es sogleich mit dem Label des Fundamentalismus zu versehen.34 Fundaphobe Reaktionen führen hier jedenfalls nicht zu einer pädagogischen Grundhaltung, die es erlaubt, Kindern und Jugendlichen in ihren Orientierungsbedürfnissen gerecht zu werden. Eine wichtige Konkretion haben solche allgemeinen auf den Fundamentalismus bezogenen Analysen in der Religionspädagogik im Blick auf die Frage nach Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie sowie hinsichtlich des Kreationismus gefunden. Dabei besteht breite Übereinstimmung, dass Kinder und Jugendliche in der Entwicklung eines Verständnisses unterstützt werden sollten, das den nur scheinbaren Gegensatz zwischen Schöpfungsglaube und Evoluti31 32 33 34
De Ruyter, 2001. De Ruyter, 2001: 198 f. Streib, 2001; Schweitzer, 1998. Schweitzer, 1998: 49.
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onstheorie überwindet. Der christliche Glaube will keine wissenschaftlichen Erklärungen der Weltentstehung geben und naturwissenschaftliche Aussagen sind über den Glauben nicht möglich, weder beim Schöpfungsglauben noch bei anderen Glaubensthemen. Die kreationistischen Antwortversuche, die vor allem in den USA Verbreitung gefunden haben, sind insofern wenig hilfreich. Sie versuchen den Glauben als wissenschaftliche Erklärung stark zu machen, was aber diesem Glauben von vornherein nicht gerecht wird. Die religionspädagogische Aufgabe besteht auch in diesem Falle in einer sensiblen Begleitung der religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Scharf ablehnende Reaktionen auf – oft nur scheinbar – fundamentalistisch-kreationistische Äußerungen etwa von Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht helfen ebenso wenig weiter wie eine Unterstützung kreationistischer Glaubensweisen etwa durch den Religionsunterricht im Verhältnis zum Biologieunterricht. Schließlich findet sich in der Religionspädagogik und Pädagogik neuerdings auch der Versuch, das mitunter mit dem Fundamentalismus assoziierte Problem der Indoktrination genauer zu untersuchen. Wohl als Erster in Deutschland hat hier Karl Ernst Nipkow unter dem Titel »Christliche Pädagogik unter Indoktrinationsverdacht?« eine entsprechende Analyse vorgelegt. Dabei wehrt er sich gegen die »Tendenz, mit anscheinend verallgemeinerbaren Befunden in Teilbereichen (Papstkritik) Religion überhaupt auszubooten«35. Vor allem sei nicht jede Form der religiösen Erziehung oder Unterweisung als Indoktrination zu disqualifizieren. Nipkow hält jedoch auch klare Grenzen fest: »Eine Indoktrination droht, wenn die Führung eines Staates, einer Religionsgemeinschaft oder einer Weltanschauungsorganisation meint, der zu indoktrinierende Inhalt sei so unzweifelhaft eine für den Menschen notwendige politische, religiöse oder weltanschauliche Wahrheit, dass es gerechtfertigt sei, sie anderen zu ihrem Glück frag- und umstandslos aufzunötigen«36. Vor diesem Hintergrund entwickelt Nipkow dann eine differenzierende Einschätzung unterschiedlicher möglicher Formen von Indoktrination und formuliert Vorschläge für den pädagogischen Umgang mit ihnen. Darin trifft sich Nipkow auch mit Absichten des Erziehungswissenschaftlers Henning Schluß, der einen eigenen Band »Indoktrination und Erziehung« herausgegeben hat. Einleitend hält Schluß fest, dass die »Selbsttätigkeit des zu Erziehenden« als pädagogisch unerlässliches Ziel und zugleich als dessen Voraussetzung zu verstehen sei. Deshalb kommt er zu der Einschätzung: »Eben dieses Moment der Selbsttätigkeit bleibt in Indoktrinationsprozessen unberücksichtigt und insofern verstehen wir Indoktrination als das Gegenteil von Erziehung«37. 35 Nipkow, 2005: 81. 36 Nipkow, 2005: 87. 37 Schluß, 2007: 8.
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Perspektiven für die pädagogische Praxis In diesem Abschnitt soll im Blick auf verschiedene Einzelthemen weiter konkretisiert werden, wie eine religiöse Erziehung und Bildung jenseits von Relativismus und Fundamentalismus vorzustellen ist. Der Raum lässt es dabei freilich nicht zu, diese Konkretionen alle im Einzelnen auszuführen, sodass es bei Andeutungen oder Richtungsangaben bleiben muss. Die Themen sollen auch keine Gesamtschau ergeben, sondern verstehen sich in einem exemplarischen Sinne. Insofern ist auch die Reihenfolge, in der sie im Folgenden aufgenommen werden, nicht als Prioritätenliste zu verstehen.
Marginalisierungserfahrungen entgegenwirken Ganz offenbar entstehen fundamentalistische Haltungen nicht einfach aufgrund religiöser Überzeugungen oder kognitiver Orientierungen. Im Hintergrund stehen fast immer Erfahrungen der Marginalisierung in sozialer, kultureller oder interaktiver Hinsicht. Fundamentalismus ist der Versuch, den bedrohten eigenen Glauben festzuhalten, auch gegen übermächtig erscheinende gesellschaftliche Tendenzen oder Gruppen, die durchaus auch gesellschaftliche Mehrheiten darstellen können. Marginalisierung als Ausgrenzung kann viele Formen annehmen. Bei muslimischen Kindern und Jugendlichen ist dabei vor allem an die fehlende gesellschaftliche Integration zu denken. Allgemeiner formuliert geht es um fehlende Anerkennung, die auch bei christlichen Kindern und Jugendlichen zum Problem werden kann. Fundamentalistische Orientierungen erscheinen dann deshalb so attraktiv, weil sie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe sowie die Anerkennung durch diese Gruppe versprechen.
Die Grenzen des Behütens erkennen Seit den Anfängen des Pietismus und besonders bei August Hermann Francke steht das Anliegen, Kinder und Jugendliche vor abträglichen Einflüssen aus der Umwelt zu behüten, im Zentrum von dessen Erziehungsverständnis.38 Auch als fundamentalistisch angesehene Gemeinschaften in der Gegenwart tendieren, wie deutlich geworden ist, zu einer solchen Erziehungsmaxime. Im Extrem kommt es dann sogar zu der Weigerung, die eigenen Kinder in eine staatliche Schule zu 38 Francke, 1964.
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schicken, in der beispielsweise die Evolutionstheorie im Biologieunterricht erklärt wird. Der selbst im Pietismus aufgewachsene Theologe und Pädagoge Friedrich Schleiermacher hat in seiner Erziehungslehre schon 1826 die Grenzen des Behütens als pädagogisches Prinzip in bleibender Form herausgearbeitet.39 Das relative Recht des Behütungsprinzips bleibt unbestritten. Es wäre nicht sinnvoll, Kinder allen Einflüssen – heute beispielsweise aus den Medien – unkontrolliert auszusetzen. Doch bleibt das Behüten allein insofern unzureichend, als es Kindern nicht dazu verhilft, positive Einstellungen oder Einsichten zu entwickeln. Dies ermöglicht erst eine kritisch-reflektierte Auseinandersetzung auch mit Überzeugungen, die dem eigenen Glauben widersprechen. Weithin ist es in unserer Gesellschaft gar nicht möglich, Kinder und Jugendliche vor aller Begegnung mit negativen Einflüssen zu bewahren. Schon bald müssen Eltern erkennen, dass nicht nur der Einfluss der Medien allgegenwärtig ist, sondern dass sie auch hinsichtlich einer Beeinflussung durch Gleichaltrige weithin machtlos sind. Behüten ist sinnvoll, aber nur in Grenzen – und nur dann, wenn es durch eine Unterstützung der eigenen kritischen Urteilsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen begleitet und ergänzt wird.
Religiöse Bildung ermöglichen Wenn Kinder und Jugendliche Sicherheit im Glauben erlangen und doch nicht einem Fundamentalismus verfallen sollen, bedarf es einer religiösen Bildung, die beides ermöglicht: die intensive Begegnung mit Glaubensüberzeugungen bzw., für das evangelische Verständnis gesprochen, mit dem Evangelium und die reflexive Durchdringung dieses Glaubens auch im Verhältnis zu anderen Glaubensüberzeugungen oder Weltanschauungen. Auf eine solche Form von religiöser Bildung zielt der evangelische Religionsunterricht, wie er beispielsweise in den Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland verstanden wird.40 Dieser Unterricht ist zwar eine Veranstaltung der staatlichen Schule, aber in kirchlicher und theologischer Sicht kann er auch als eine Form der »Kommunikation des Evangeliums« (Ernst Lange) verstanden werden. Zugleich bietet dieser Unterricht, auch aufgrund seiner Stellung in der Schule und der Nachbarschaft zu anderen Schulfächern, eine wichtige Möglichkeit, den eigenen Glauben im Laufe der Schuljahre immer wieder neu zu reflektieren, nicht zuletzt 39 Schleiermacher, 1849: 103 ff.. 40 Vgl. besonders die aktuelle Denkschrift zum Religionsunterricht »Religiöse Orientierung gewinnen« (EKD, 2014). Diese Schrift enthält auch zahlreiche Bezüge zu den Ausführungen im vorliegenden Beitrag.
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im Verhältnis zur Naturwissenschaft. Natürlich ist der Religionsunterricht dabei nicht der einzige Ort, an dem eine solche religiöse Bildung möglich ist. Pädagogische und religionspädagogische Angebote in der Gemeinde sind in dieser Hinsicht ebenso wichtig wie eine religiöse Familienerziehung.
Pluralitätsfähigkeit als Bildungsziel In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist immer deutlicher geworden, dass die pluralen religiösen und weltanschaulichen Verhältnisse in unserer Gesellschaft zu einer unhintergehbaren Voraussetzung aller Bildungsprozesse geworden sind. Das Aufwachsen in der Pluralität lässt sich auch nicht mehr so verstehen, dass Kinder zunächst nur in ihrem eigenen Glauben oder dem ihrer Eltern aufwachsen, um dann später, im Jugend- oder Erwachsenenalter, auch anderen Glaubensweisen oder weltanschaulichen Überzeugungen zu begegnen. Von früh auf, spätestens im Kindergarten, begegnen Kinder heute anderen Kindern, die anderen Glaubens- oder Religionsgemeinschaften angehören oder eben auch keine Mitgliedschaft dieser Art kennen. Kinder stellen schon früh auch in dieser Hinsicht Fragen und wollen wissen, was es mit der Vielfalt von Überzeugungen auf sich hat. Die Formulierung »Pluralitätsfähigkeit als Bildungsziel« ist dabei so gemeint, dass ein prinzipienorientierter reflektierter Umgang mit der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt angestrebt werden soll.41 Auf diese Weise wird ein Relativismus, der von der prinzipiell gleichen Gültigkeit aller Glaubensweisen ausgeht, ebenso vermieden wie ein Fundamentalismus, der die eigenen Überzeugungen verabsolutiert. Wichtig ist dabei, dass die Prinzipien, die einer auch in evangelischer Sicht angemessenen Pluralitätsfähigkeit zugrunde liegen, nicht etwa aus einer dem eigenen Glauben übergeordneten Perspektive, sei es der Ethik oder der Politik, gewonnen werden können. Ein Beispiel dafür stellt das aus der evangelischen Lehre von der Rechtfertigung zu gewinnende Glaubensverständnis dar. Diesem Verständnis zufolge kann kein Mensch über den eigenen Glauben verfügen – der Glaube bleibt ein Geschenk Gottes. Dies aber gilt nicht nur für den christlichen Glauben, sondern auch für andere Glaubensweisen. Auf dieses Argument berufen sich heute etwa theologische Toleranzbegründungen.42 Pluralitätsfähigkeit bedeutet also keineswegs eine Verwässerung oder Vergleichgültigung des Glaubens. Sie weist vielmehr einen Weg, wie mit religiös- und weltanschaulich pluralen Situationen im Horizont des eigenen Glaubens angemessen umgegangen werden kann. 41 Vgl. dazu Schweitzer, 2014. 42 Vgl. Schwöbel, 2003.
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Zwischen der Bibel als Dokument des Glaubens und als Gegenstand des Glaubens unterscheiden lernen In neuerer Zeit hat gerade die Begegnung mit dem Islam vor Augen geführt, dass ein zentraler Unterschied zwischen Christentum und Islam im Verständnis von Bibel und Koran zu sehen ist. Für Muslime ist der Koran unantastbar, weil er das von Mohammed unverfälscht verschriftlichte Offenbarungswort Allahs enthält. In der Bibel hingegen finden sich von vornherein sehr unterschiedliche Schriften – das Schöpfungslob und die poetischen Psalmen, Erzählungen, Briefe, Lieder und vieles andere mehr. Auch wenn es in der christlichen Tradition durchaus die Lehre von der Verbalinspiration gegeben hat, ist doch schon durch die Art der Schriften im Alten und im Neuen Testament ausgeschlossen, die Bibel in Analogie zum Koran als Niederschrift einer direkt von Gott her ergehenden, letztlich diktierten Offenbarung im Wortlaut verstehen zu wollen. Dies lässt sich auch so ausdrücken, dass für Muslime der Koran Gegenstand des Glaubens ist, während Christen – wie es die Glaubensbekenntnisse zum Ausdruck bringen – an den Dreieinigen Gott glauben, als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Von diesem Gott legen die biblischen Schriften Zeugnis ab. Gott spricht durch die biblischen Schriften, die deshalb als Zeugnis des Glaubens bezeichnet werden können. In der neueren Religionspädagogik finden sich deshalb ausdrückliche Bemühungen um einen nicht-fundamentalistischen Bibelunterricht, der zugleich der grundlegenden oder eben fundamentalen Bedeutung der Bibel gerecht wird.43
Fundamentalismus als Thema im Religionsunterricht Vielfach wird vorgeschlagen, im Religionsunterricht eigene Unterrichtseinheiten zum Thema Fundamentalismus zu gestalten. Dazu liegen in der Literatur inzwischen auch zahlreiche Beispiele vor.44 Schon angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung des Fundamentalismus ist es sinnvoll, wenn in der Schule auch die Entstehung und Geschichte des Fundamentalismus nicht ausgeblendet bleiben. Dabei sollte ebenso das Verständnis für Reaktionen auf vergangene oder gegenwärtige Marginalisierungserfahrungen angestrebt werden wie eine kritische Auseinandersetzung mit Verabsolutierungstendenzen – selbstverständlich überall dort, wo Fundamentalismus 43 Vgl. mit direktem Bezug zum vorliegenden Thema Pollefeyt u. Bieringer, 2005. 44 Vgl. etwa die einleitend genannten Themenhefte der verschiedenen religionspädagogischen Zeitschriften.
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Gewalt befördert, aber eben auch in einem weiter reichenden, pädagogischen ebenso wie theologischen Sinne. Zugleich ist deutlich geworden, dass die Thematisierung von Fundamentalismus allein keine zureichende Antwort auf die mit dem Fundamentalismus verbundenen Herausforderungen darstellen kann. Sinnvoll ist sie als eines der Elemente einer Erziehung und Bildung, die insgesamt auf die mit dem Fundamentalismus verbundenen Probleme und Schwierigkeiten eingestellt ist. Deshalb stelle ich ans Ende dieses Beitrags und auch der Aufzählung religionspädagogischer Konkretionen bewusst noch einmal eine eher allgemein formulierte Aufgabe:
Kinder und Jugendliche auf ihrer Suche nach Lebensgewissheit begleiten Zumindest in individueller Hinsicht lässt sich Fundamentalismus als Folge einer Überforderung verstehen sowie als bedingt durch nicht gemeisterte Übergänge in der lebensgeschichtlichen Entwicklung des Glaubens. Exemplarisch ist dies wiederum an dem scheiternden Bemühen darum abzulesen, den in der Kindheit angeeigneten Glauben an Gott als den Schöpfer der Welt auch in einer an naturwissenschaftlichen Erklärungsmodellen ausgerichteten Kultur oder Umwelt festzuhalten. Nicht erreicht wird in diesem Falle eine Sichtweise, in der sich die gleichzeitige Berechtigung religiöser und naturwissenschaftlicher Deutungen der Welt erschließt. Offenbar stellen sich solche Sichtweisen heute keineswegs von selbst ein. In vielen Fällen bleibt der in der Kindheit vielleicht einmal als überzeugend erfahrene Schöpfungsglaube dann mit der Kindheit zurück, unter Umständen mit der Folge eines Relativismus. In der bundesweiten Studie zur Konfirmandenarbeit beispielsweise stimmen zahlreiche Jugendliche gerade der Aussage »Die Welt ist von Gott erschaffen« nicht zu. In Deutschland sind es 51 Prozent, die diese Aussage ablehnen,45 in anderen europäischen Ländern sogar noch deutlich mehr.46 Die religionspädagogisch angemessene Antwort auf solche Befunde kann nicht darin bestehen, Jugendliche gegen die Naturwissenschaft im Glauben bestärken zu wollen – ein Unterfangen, das in den meisten Fällen ohnehin aussichtslos wäre. Erforderlich ist vielmehr eine sensible Begleitung junger Menschen auf dem Weg zu einem Glauben, der auch mit den Herausforderungen der religiös-weltanschaulichen Vielfalt differenziert umzugehen versteht. Ein Beispiel dafür ist das Denken in Komplementarität, das neuen Raum schafft auch für 45 Ilg, Schweitzer u. Elsenbast, 2009: 365. 46 Vgl. Schweitzer, Ilg u. Simojoki, 2010.
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einen Schöpfungsglauben angesichts naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle.47 Ein solcher Glaube ist fundamental, aber nicht fundamentalistisch. Deshalb vermeidet er auch den Relativismus. Er bietet Orientierungsmöglichkeiten, ohne das Gespräch mit anderen Glaubensweisen oder Überzeugungen auszuschließen. Wo religiöse Erziehung und Bildung für solche Fragen der Suche nach Orientierung und Gewissheit, im Leben und im Glauben, offen sind, wirken sie auch einem Fundamentalismus entgegen. Durch eine sensible Begleitung tragen sie dazu bei, diejenigen Überforderungen zu vermeiden, aus denen der Fundamentalismus resultiert.
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»Sollte es mit dem Christentum einmal dahin kommen, daß es aufhörte, liebenswürdig zu sein…«1 Hermeneutische Anmerkungen zur gegenwärtigen Fundamentalismusdiskussion
Das Thema Fundamentalismus ist in den letzten Jahren von einem Spezialthema der theologischen Hermeneutik in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Erschreckende Nachrichten von religiös motivierter Gewalt erzeugen eine religionskritische Stimmung und wirken auf einen Diskurs ein, der die Grenzen theologischer Hermeneutik längst hinter sich gelassen hat. So ist es folgerichtig, dass – wie jüngst Jan Assmann resümierte2 – »theologische Themen in den letzten 15 Jahren zum Gegenstand allgemeiner intellektueller Auseinandersetzung geworden sind«. Letzteres ist eine erfreuliche Entwicklung und dürfte auch für die Theologie und Religionspädagogik ein Gewinn sein. Konzentrierte sich bisher die Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus auf die klassischen, schon seit jeher vom amerikanischen Evangelikalismus und Fundamentalismus beeinflusste Fragestellungen wie zum Beispiel die Verhältnisbestimmung von biblischem Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie oder die Frage nach dem Recht historisch-kritischer Schriftauslegung3, hat sich nun die Auseinandersetzung um den Fundamentalismus interreligiös und interdisziplinär ausgeweitet. So steht die Diskussion des Monotheismus deutlich im Zusammenhang des Fundamentalismusthemas, mit neuer Dringlichkeit werden weitere Gefährdungspotenziale in den Religionen genannt: der Zusammenhang von Religion und Gewalt, die schwierige Rolle der Apokalyptik und nicht zuletzt die Demokratiefähigkeit monotheistischer Religionen. Wenn angesichts der Exzesse religiöser Gewalt kritisch gefragt wird, welch ein Sinn »heilige«, mit göttlichem Geltungsanspruch ausgestattete Texte in einer modernen Welt haben, zeigt sich: Wir haben es mit einer erweiterten Fundamentalismusdiskussion zu tun, die Theologie und Hermeneutik grundsätzlicher noch als bisher zu Klärungen ruft. Bisher selbstverständliche Sprachfiguren in der christlichen Liturgie und Predigt (z. B. die Rede von der »Gottesherrschaft« oder die hymnische Zielperspektive 1 Kant, 1999 (1794): 76. 2 Assmann, 2014: 36. 3 Hochgeschwender, 2007: 117 ff.
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des Philipperhymnus, »dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind …«, Phil. 2,10) lösen heute mitunter schwierige Assoziationen aus und müssen einer im Blick auf das Thema Fundamentalismus sensibilisierten Öffentlichkeit gegenüber ebenso verantwortet werden wie auch zunehmend kirchlichen Insidern. Ich sehe gegenwärtig drei Herausforderungen der Diskussion: Zunächst die Unschärfe des Fundamentalismusbegriffs in medialen Kontexten. Neuere wissenschaftliche Definitionsversuche haben aber die philosophisch-politologischen4, die (tiefen-)psychologischen5 oder die theologisch-hermeneutischen6 Implikationen des Phänomens erhellt. Als Grundkriterien für den Fundamentalismus zeichnen sich ab: der Rückbezug auf religiöse Traditionen unter Umgehung hermeneutischer Einsichten sowie die Unfähigkeit, mit Differenzen und Diversität in zivilisierten Formen umzugehen, wie sie die Moderne mit der Reformation, der Aufklärung und dem Säkularitätsprinzip hervorgebracht haben.7 Eine zweite Herausforderung besteht in der Tatsache, dass der rein religionswissenschaftliche Zugang säkularer Wissenschaften aus der Perspektive konfessioneller Theologie oft als unangemessen, wenn nicht als irrelevant erachtet wird. Es ist aber ratsam, die religionswissenschaftlichen Erkenntnisse beim Thema Fundamentalismus – auch im Interesse des interdisziplinären Dialogs – nicht zu ignorieren. Eine dritte Herausforderung sehe ich in den religionskritischen Stimmen dieser Diskussion, für die Fundamentalismen (als extreme Formen von Religion) nur unter Beweis stellen, dass im Kern monotheistischer Religionen intolerante oder gar gewaltaffine Kräfte wirken, die modernen Gesellschaften nicht zuträglich sind. Hier besteht die Gefahr, dass monotheistische Religionen tendenziell in ihren fundamentalistischen Ausprägungen wahrgenommen werden. Fundamentalisierung der Religionen ist damit nicht nur ein Thema derer, die Religion fundamentalistisch interpretieren und leben, sondern ebenso ein Thema der Außenwahrnehmung. Inwiefern angesichts dieser Tendenzen die Nachbardisziplin der Systematischen Theologie, die Apologetik, zu neuen Ehren kommen muss, sei zunächst dahingestellt. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, welche Fragen die erweiterte Fundamentalismusdebatte an die theologische Hermeneutik stellt und welche Deutekategorien zum Verständnis von Fundamentalismen dabei eine Rolle spielen. Sodann sei an einigen Beispielen dargestellt, wie auf Seiten der Theologie Motive
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Vgl. Meyer, 2011. Vgl. Strozier, 2010: 63–74. Vgl. Meyer, 2011: 40 f.; Schirrmacher, 2010: 77 ff.; Berger, 1999: 9 f. Vgl. Meyer, 2011: 22 f.27.40 f.
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der Diskussion aufgegriffen werden. Abschließend seien einige hermeneutische Überlegungen genannt, die in die Schlussreflexion übergehen.
Interdisziplinäre Herausforderungen Jan Assmann hat jüngst8 das Thema, wie es sich ihm derzeit darstellt, folgendermaßen präzisiert: »Das Problem ist nicht der Monotheismus im Sinne der Verehrung eines einzigen Gottes, sondern die Vorstellung der Offenbarung als einer schriftlich kodifizierten Wahrheit, die exklusiv, einem einzigen Volk, einer einzigen Gruppe gegeben, und doch zugleich von universaler, alle Menschen angehender Geltung sein soll«.9
Hintergrund dieser These ist Assmanns Feststellung, dass in der (von Gewalt nur so strotzender!) Antike mit der monotheistischen Religion etwas grundsätzlich Neues auftrat, nämlich »die Gewalt im Namen Gottes«.10 Und dies »nicht im Sinne einer logischen Konsequenz«, sondern als im Monotheismus angelegte »inhärente« Möglichkeit. Diese sich in Ex. 32 – 34 erstmals äußernde neue Form religiöser Gewalt, die sich »nach innen« richtet und von religiösem »Eifer« befeuert ist (Num. 25,11), zeigt das zur Debatte stehende Problem: Menschen können sich nunmehr als Sprachrohr oder Schwert Gottes verstehen. Die mit dem Monotheismus verbundene »Idee der Unvereinbarkeit« mit anderen Kulten und Religionen bringt das Risiko des Umschlags in Intoleranz und Gewalt mit sich.11 In der monotheistischen »Gegenreligion« Moses ist eine »antagonistische Energie« erkennbar, weil der Kampf »für« etwas eben immer auch mit dem Kampf »gegen« etwas verbunden war.12 Assmanns Lösung dieses religiösen Konflikts ist ein Plädoyer für ein Nebeneinander von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion in Anlehnung an Moses Mendelssohn und Lessings Ringparabel: Es geht um den Respekt vor der Differenz bei gleichzeitigem Wissen um etwas »Übergreifendes«. Assmanns abschließendes Resümee: Religion muss ihre »zivilisierende, humanisierende Kraft mit den ihr eigenen (anstatt mit politischen) Mitteln« ausüben.13 In ähnliche Richtung geht Peter Sloterdijks jüngste Veröffentlichung zu diesem Thema,14 wo er die Linien seines Konzeptes zum Fundamentalismus hin 8 9 10 11 12 13 14
Vgl. Assmann, 2014: 36–55. Assmann, 2014: 51. Assmann, 2014: 37. Assmann, 2014: 47. Assmann, 2014: 48. Assmann, 2014: 52. Sloterdijk, 2013; vgl. Sloterdijks frühere Positionen: Sloterdijk, 2007 und 2009.
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auszieht: Religion hat in der Ethnogenese ihre entscheidende Rolle, Religionen sind »ethnoplastische Regelwerke«, die für die Stabilisierung des Kollektivs sorgen, weshalb es kein religionsloses Volk geben kann. Bei der Bewältigung der sich geschichtlich entwickelnden polyethnischen und multikultischen Situation gibt es zwei Optionen: Entweder werden die eigenen Götter in den fremden Namen des anderen Volks wiedergefunden (wie bekanntlich häufig in der Antike) oder es ist eine Singularisierungsstrategie zu beobachten, die meist zu einer »resolute[n] Versteifung« und »Überhöhung« führt, bei der sich der eine und eigene Gott der Integration in ein Gesamtsystem entzieht. Letzteres war die Option Israels, verbunden mit der Konsequenz für das Kollektiv: »Weil unser Gott wie kein anderer ist, wird unser Volk wie kein anderes sein«. Die Singularisierung hatte ein Vermischungs- und Übersetzungsverbot zur Folge, verbunden mit einer »fortlaufenden Sortierung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern«. An dieser Stelle präzisiert Sloterdijk seine früheren Ausführungen zum Thema Gewaltaffinität des Monotheismus: Das Gewaltproblem ist nicht eigentlich am Monotheismus festzumachen, sondern an der »Funktion des bundförmigen Singularisierungsprojektes samt seinen psychosozialen und moralischen Kosten«.15 So sieht Sloterdijk in der Bundesbrucherzählung Ex. 32 – 34 die fiktive Urszene des »obsessiv wiederkehrenden Bundesbruchmotivs«, das er das »SinaiSchema« nennt. Das Sinai-Schema enthält nicht nur die Pflicht zur Grausamkeit (»einer der schlimmsten Sätze der Religionsgeschichte aller Zeiten«16), sondern stellt auch die Vorlage »für Übertragungen in beliebig weit entfernte Kontexte« bereit.17 Die »singularisierende Strategie in der Kult- und Völkerkonkurrenz«, von Sloterdijk »Seinsweise eines Eiferkollektivs« genannt (mit den dazugehörenden Sprachformen des Bruchs, der Abgrenzung und der Konversion), begründet eine »Kultur der totalen Mitgliedschaft« bzw. die Überhöhung zu einer »programmatischen totalen Institution«.18 Dabei steht das Vertrauen in Gottes Erbarmen neben dem Bedrohlichen der unbarmherzigen Vernichtung (»phobokratisches Paradoxon«19): Der »singuläre[n] Verwandlung einer zufälligen Ethnie … in ein eiferndes Programmvolk«20 eignet ein »phobokratischer Charakter«, weil die Gefahr der Apostasie und der Assimilation mit der ständigen Furcht vor dem Bundesbruch verbunden ist. Sloterdijk findet das Sinai-Schema bzw. das Sinai-Narrativ in den klassischen drei Monotheismen wieder, mit den 15 Sloterdijk, 2013: 30. 16 Sloterdijk, 2013: 30. 17 Der Tun-Ergehens-Zusammenhang lässt – so Sloterdijk – freilich auch die umgekehrte Lesart des Rückschlusses vom Unheil auf den Bundesbruch zu, sodass der Bundesbruch immer »latent chronisch« präsent sei. 18 Sloterdijk, 2013: 42 – 44. 19 Sloterdijk, 2013: 47. 20 Sloterdijk, 2013: 44.
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»bekannten Gewaltfreisetzungen nach innen wie nach außen«21. Sloterdijks Ergebnis: Wir haben es bei den »totale[n] Programmkollektive[n]« des Judentums, Christentums und des Islam mit der Nachwirkung des Sinai-Schemas zu tun, die als »Modelle totaler Mitgliedschaften« dazu tendieren, Apostasie mit dem Todesurteil zu ahnden. Die Moderne brachte zwar eine Befreiung der Religion von ihrer ethnogenen Funktion, doch übernahmen Ersatzreligionen die kollektivsynthetischen Funktionen der Religion: »Was man den Nationalismus, den Totalitarismus, den Faschismus, den Kommunismus, den Fundamentalismus oder den Integrismus genannt hat, waren und sind in der Sache nichts anderes als mehr oder weniger verzweifelte Versuche, ältere Formen der Kollektivsynthese durch die allzuständige Religion mit neuen, halb willkürlichen Themen wie Nationalkultur, Vergesellschaftung der Produktionsmittel, Führerkult, Rassendifferenz oder Buchstabengläubigkeit nachzuspielen«.22
Zwar hat die Moderne andere Formen der Mitgliedschaft geschaffen (»Souveränisierung der Person«), doch bestehen ältere Formen totaler Angehörigkeit weiter und werden zu einem »Sonderproblem der Moderne«.23 Fundamentalismen sind also Varianten des Sinai-Schemas, bei dem ein striktes Intoleranzgebot gilt, während die liberale Gesellschaft sich dem Toleranzgebot verschrieben hat (»Toleranzparadoxon«).24 Sloterdijks Lösung besteht in der »Zivilisierung der Religionen durch Bildung«25, die für ihn wesentlich durch die Namen Erasmus von Rotterdam, Spinoza, James, Scholem und Assmann repräsentiert sind.26 Religionen sind »zivilisierungsbedürftig« und können nur als »mentale und rituelle Übungssysteme«, als »Theopoetik des menschlichen Geistes« in der Moderne einen Platz finden.27 Abschließend sei an die Perspektive des jüngst verstorbenen Münchner Soziologen Ulrich Beck erinnert, dessen Sicht die dargestellten Positionen Assmanns und Sloterdijks flankieren. Die leitende These seines schon 2008 erschienenen Buchs »Der eigene Gott«28 könnte zusammengefasst lauten: Im neuzeitlichen Individualisierungsprozess, der mit der Reformation begann, liegt das entscheidende Potenzial für die Zivilisierung religiöser Konflikte. Religionen eignen eine grundsätzliche Ambivalenz: Sie heben einerseits durchaus soziale und ethnische Unterscheidungen auf, richten aber andererseits durch ihre 21 22 23 24 25 26 27 28
Sloterdijk, 2013: 48. Sloterdijk, 2013: 54. Sloterdijk, 2013: 57. Sloterdijk, 2013: 59. Sloterdijk, 2013: 60, vgl. Schieder, 2008: 274 f. Sloterdijk, 2013: 61 f. Sloterdijk, 2013: 63. Beck, 2008.
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Fundamentalunterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen neue Mauern auf.29 Da in Religionen universal geltende Wahrheitsansprüche im Spiel sind und einander gegenüberstehen, könne der Konflikt als »clash of universalisms«30 verstanden werden. Nach Beck müssen sich Religionen deshalb dringend mit dem »Schock der Nichtuniversalität«31 auseinandersetzen. Eine Lösung sieht Beck allein im Individualisierungsprozess32, bei dem die religiöse Wahrheit gegen alle Kollektivdefinitionen der Religiosität subjektiviert und der Autonomie des Individuums unterworfen wird. Den entscheidenden Schritt für die Individualisierung der Religion sieht Beck in der Reformation, sie war bahnbrechend für die Entkoppelung des subjektiven Glaubens von der kirchlichen Autorität.33 Mit der Individualisierung von Religion »(wird) über Religionsgrenzen hinweg die friedfertige Auflösung der Wahrheitsabsolutismen eingeübt«.34 Demgegenüber wirken Fundamentalismen in die entgegengesetzte Richtung: Sie stärken als »harte« Religionen die Absolutismen, Wahrheitsuniversalismen und die »totalitäre Gottunmittelbarkeit«35. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die dargestellten Ansätze machen deutlich, dass der Übergang von einer kritischen Auseinandersetzung mit den monotheistischen Religionen zur Fundamentalismusdebatte fließend ist. In den religions- und kulturgeschichtlichen Untersuchungen werden tief verankerte Grundmuster (pattern) sichtbar, die ein Gefährdungspotenzial monotheistischer Religionen darstellen und in Fundamentalismen sozusagen »ungebremst« zur Wirkung kommen. Fluchtpunkt dieser Debatte ist die universale Geltung eines exklusiven Wahrheitsanspruchs, der mit dem Bekenntnis zu einem einzigen Gott verknüpft ist. Der universale Geltungsanspruch einer exklusiven Wahrheit setzt – so können wir sagen – eine Art präfundamentalistische Disposition, die die Toleranz nach innen und nach außen zu einem den monotheistischen Religionen »inhärenten« Risiko macht. Als Lösung des Problems schlagen die genannten Autoren durchgängig vor, Religionen zu »domestizieren« oder zu »zivilisieren«, sollen sie nicht in ihre ungebändigte archaische, intolerante und gewalttätige Form zurückfallen. In dieser Perspektive lassen sich Reformation und Aufklärung als wichtige Stadien der »Zivilisierung« der christlichen bzw. der jüdischen Religion darstellen. Zudem ist – so die gängige Sicht – auf dem Hintergrund dieser Entwicklungen die Demokratiefähigkeit der Religion erst ermöglicht worden, da erst jetzt im an29 30 31 32 33 34 35
Beck, 2008: 73 f. Beck, 2008: 212 u. ö. Beck, 2008: 213 f. Beck, 2008: 110 f. Beck, 2008: 136 – 143. Beck, 2008: 249. Beck, 2008: 216 f.
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sonsten unaufhebbaren Konflikt zwischen den exklusiven Wahrheitsansprüchen der Religionen und dem Selbstverständnis einer pluralistischen, offenen Gesellschaft eine Lösung in Sicht kommt.
Theologische Positionsbestimmungen Die skizzierten religionstheoretischen Ausführungen haben eine interdisziplinäre Diskussion angeregt, an der sich auch Theologinnen und Theologen beteiligt haben.36 Ich möchte im Folgenden an zwei Beispielen – an einem katholisch-theologischen und einem evangelisch-theologischen – zeigen, wie die Vorstellung von der »Zivilisierung« und »Domestizierung« der Religion auf theologischer Seite aufgegriffen wird. Friedrich Wilhelm Graf betont, dass weder das Christentum in seiner katholischen oder protestantisch-lutherischen Form noch der Islam, noch das Judentum aufgrund der grundlegenden theokratischen Vorstellung in diesen Religionen besonders demokratieaffin seien. Nur aufgrund langer konfliktreicher Lernprozesse sei diesen Religionen ein konstruktives Verhältnis zu demokratischen Gesellschaftsformen möglich geworden.37 Deshalb ist auch für Graf klar: »Soll religiöser Glaube mit einer freiheitlichen politischen Ordnung kompatibel sein, muss er sich selbst begrenzen können und zivilisieren«.38 Dies gilt insbesondere, weil Religionen eine grundsätzliche Ambivalenz eignet: Sie kann zu Nächstenliebe, Mitmenschlichkeit, Solidarität mit Armen und Entrechteten führen, sie kann sich aber auch in Fanatismus, Hass und aggressive Gewaltbereitschaft wandeln. Zugleich lässt sich Religion als »intensiv erlebte Bindungsmacht«39 und der innewohnenden »Tendenz zum Unbedingten« extrem schwer »domestizieren«. Wenn das gelingen soll, kann Religion nur durch sie selbst, also nicht von außen, sondern nur von innen verändert und »domestiziert« werden: »Die im Interesse einer freiheitlichen politischen Ordnung erwünschte Selbstzivilisierung von Religion kann, wenn überhaupt, nur aus der Eigenlogik der religiösen Überzeugungen […] begründet und durchgesetzt werden.«40 Graf verdeutlicht seine These am Begriff der »Allmacht«: Die Vorstellung von der Allmacht Gottes (omnipotentia) als absolute und ins Unendliche gesteigerte Macht ist eine gefährliche Entgrenzung, sie wirkt innerweltlich als unbedingt gültig, undiskutierbar verbindlich und kann jederzeit instrumentalisiert werden: 36 An dieser Stelle sei nur auf den schon genannten anregenden, von Rolf Schieder (2014) herausgegebenen Sammelband hingewiesen. 37 Vgl. Graf, 2014: 247 f. 38 Graf, 2014: 249. 39 Graf, 2014: 250. 40 Graf, 2014: 251.
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»Wenn weltliche Machthaber sich auf Gottes Allmacht berufen, wollen sie nur sich und ihre Macht absolut setzen.«41 Zivilisierung monotheistischer Religion hieße also, die Vorstellung von Allmacht Gottes kritisch zu relativieren. Einen wichtigen Ansatz hierfür sieht Graf in der Inkarnation und in der Trinitätslehre: »Gott will selbst gar nicht allmächtig, er will menschlich sein«.42 Trotz einer solchen Zivilisierung der Religion durch sie selbst sieht Graf erhebliche Spannungen zwischen religiöser Vorstellung und moderner vernünftiger Demokratietheorie, weil es seiner Meinung nach kaum religiöse Vorstellungen gibt, die Säkularität und weltanschauliche Neutralität des Staates anerkennen oder begründen. In diesem Defizit sieht er die Ursache dafür, dass auch Fundamentalismen auf den globalen Religionsmärkten erfolgreicher sind als demokratieorientierte, liberalreligiöse Akteure.43 Friedrich Wilhelm Grafs Konzept der »Domestikation« der christlichen Religion durch die Inkarnation macht die Selbstbegrenzung Gottes gut sichtbar. Letztlich geht es Graf – wie schon in früheren Jahren beispielsweise von Eberhard Jüngel präzise dargestellt und gefordert44 – um die christologisch begründete radikale Infragestellung der metaphysischen Gottesprädikationen, die mit der abendländischen Philosophie teilweise unreflektiert in die Theologie eingedrungen sind. Die Schwierigkeit von Grafs Konzept ist die Subsumierung dieses wichtigen Gedankens unter Begriffe wie »Domestikation« und »Zivilisierung« der Religion. Dadurch interpretiert Graf die Selbstoffenbarung Gottes in Christus von einem religionstheoretischen Vorstellungsmodell her, was neben dem protestantischen Schriftprinzip die Rolle eines zweiten hermeneutischen Prinzips annimmt. Präzisierungsbedarf besteht weiter bei der Dialektik von Allmacht und Ohnmacht Gottes sowie in der Vorstellung von der »Domestikation« der Religion im Verhältnis zu der (ebenso zu reflektierenden) »Domestikation« des Menschen. Auch in der katholischen Theologie, insbesondere in den Veröffentlichungen von Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger), ist das Fundamentalismusthema präsent und wird auf dem Hintergrund der traditionell thomistisch geprägten Verhältnisbestimmung von Vernunft und Religion – bekanntermaßen ein Grundthema des theologischen Denkens dieses Papstes – reflektiert.45 Für Ratzinger sind Fundamentalismen »Pathologien der Religion«.46 In gewissem Sinn hat die Vernunft (als göttliches Licht!) die Rolle eines »Kontrollorgans« für die Religion, von der Vernunft her muss sich daher die Religion immer wieder neu 41 42 43 44 45 46
Graf, 2014: 253. Graf, 2014: 253. Graf, 2014: 255. So Jüngel, 1977: 59 ff.; 270 ff.; 409 ff. Ratzinger (Papst Benedikt XVI.), 2006a: 37 f.; ders., 2006a: 72 – 84; ders., 2007: 31 f. Ratzinger, 2006a: 81; Habermas u. Ratzinger, 2005: 56 – 58; vgl. ders., 2009: 91 f.
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»reinigen und ordnen lassen«.47 Papst Benedikt redet also nicht von »Bändigung« oder »Domestizierung«, sondern benützt die Metaphern der »Reinigung«, der »Heilung« und der »Ordnung«.48 Umgekehrt gibt es aber auch »Pathologien der Vernunft«, die sich als »Hybris« der Vernunft äußert: Auch die Vernunft muss sich ihrer Grenzen bewusst sein und »Hörbereitschaft gegenüber den großen religiösen Überlieferungen der Menschheit« einüben.49 Vernunft wirkt zerstörerisch, wenn sie die »Korrelationalität« mit der Vernunft ablegt.50 Beide, Vernunft und Religion bzw. Vernunft und Glauben, sind zu gegenseitiger Reinigung und Heilung berufen, sie brauchen sich gegenseitig und müssen sich gegenseitig anerkennen.51 Diese Korrelationalität darf aber nicht nur auf den westlichen kulturellen Kontext beschränkt sein, es geht vielmehr um eine »polyphone Korrelation«, aus der ein »universaler Prozess der Reinigungen« erwachsen kann.52 So ermöglicht der Beitrag der Metaphysik und Theologie »die transzendente Würde des Menschen« wirklich zu fassen.53 Es geht Papst Benedikt XVI. um einen »für das Absolute offene[n] Humanismus.«54 Ist die Korrelationalität von Religion und Vernunft gestört, führt das einerseits zu einem Ausschluss der Religion aus dem öffentlichen Bereich, andererseits werden Formen von Religion genährt, »die die Menschen einander entfremden, anstatt sie einander begegnen zu lassen, und sie von der Wirklichkeit entfernen«.55 Fazit: »Der Ausschluss der Religion vom öffentlichen Bereich wie andererseits der religiöse Fundamentalismus behindern die Begegnung zwischen den Menschen und ihre Zusammenarbeit für den Fortschritt der Menschheit.«56 Fundamentalismen stehen also für misslingende Formen des Dialogs zwischen Vernunft und Religion bzw. Glauben: »Die Vernunft bedarf stets der Reinigung durch den Glauben« während umgekehrt auch die Religion ihrerseits »stets der Reinigung durch die Vernunft [bedarf], um ihr echtes menschliches Antlitz zu zeigen«.57 Diese Perspektive bestimmt nach Papst Benedikt XVI. sämtliche ethische Herausforderungen der Gegenwart: Es geht um die Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen. Immer geht es um zwei Arten der Rationalität: »Die auf die Transzendenz hin offene Vernunft oder die in der Immanenz eingeschlossene Ver47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57
Habermas u. Ratzinger, 2005: 56. Habermas u. Ratzinger, 2005: 57; Ratzinger, 2006b: 37 f. Habermas u. Ratzinger, 2005: 56. Habermas u. Ratzinger, 2005: 56. Habermas u. Ratzinger, 2005: 57. Habermas u. Ratzinger, 2005: 56. Ratzinger, 2009: 87. Ratzinger, 2009: 119. Ratzinger, 2009: 90. Ratzinger, 2009: 91. Ratzinger, 2009: 92.
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nunft«.58 Die Beziehung zwischen Glaube und Vernunft kann auch so beschrieben werden: »Nur gemeinsam werden sie den Menschen retten. Die vom reinen technischen Tun gefesselte Vernunft ist ohne den Glauben dazu verurteilt, sich in die Illusion der eigenen Allmacht zu verlieren. Der Glaube ist ohne die Vernunft der Gefahr der Entfremdung vom konkreten Leben der Menschen ausgesetzt.«59 Es lässt sich festhalten: Die katholische Theologie trägt mit dem Konzept der Korrelationalität von Vernunft und Religion nicht nur eine Fundamentalismuskritik, sondern zugleich auch eine anspruchsvolle Kulturkritik vor, der man insgesamt mehr Beachtung als bisher wünscht. Auch der Deutung von Fundamentalismen als pathologische Formen von Religion eignet ein hohes Maß an Plausibilität. Aus evangelisch-theologischer Sicht besteht allerdings das Problem, dass theologisches Denken auf ein zeitlos gültiges Paradigma von Vernunft und Glauben festgelegt wird, nämlich auf die hellenistische Kultursynthese, die aus evangelischer Sicht nur eine kontingente, historisch bedingte Kontextualisierung des christlichen Glaubens darstellt. Damit ist der christliche Glaube nicht nur eine Deutung von Wirklichkeit, die mit anderen Deutungen in einen offenen Dialog treten kann, vielmehr wird in der katholischen Theologie ein objektiver Wahrheitsanspruch geltend gemacht, der im Kontext neuzeitlichen Denkens in gewisser Weise als absolut, wenn nicht gar selbst als fundamentalistisch wahrgenommen werden kann.60 Sehr zugespitzt kann es Paolo d’Arcais sagen: »Solange die katholische Kirche […] ihre Lehre als rational begründbare Wahrheit ausgibt, verfällt sie unweigerlich der Versuchung, ihre Grundsätze auch außerhalb der Kirche durchsetzen zu wollen.«61 Gerade die dogmatisierte Korrelationalität von Vernunft und Religion führt auf der anderen Seite zu einem Geltungsanspruch objektiver Wahrheit, der mit dem demokratischen, pluralistischen System nur bedingt kompatibel ist. Hier besteht also Diskussionsbedarf.
Hermeneutische Überlegungen Die bisherige Untersuchung zeigte, dass der exklusive und zugleich universale Wahrheitsanspruch der Religion in Spannung steht zur modernen Kultur, die den zivilisierten Umgang mit Differenzen und die wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Identitäten zur nicht hintergehbaren Voraussetzung gemacht hat. Wenn Jürgen Habermas es für eine der wichtigsten hermeneutischen Herausforderungen des religiösen Bewusstseins in der Moderne hält, dass es sich 58 59 60 61
Ratzinger, 2009: 113, vgl. ders., 2006a: 82–84. Ratzinger, 2009: 114, teilweise kursiv im Original. Vgl. Häring, 2013: 54 ff. Ratzinger u. d’Arcais, 2006: 104.
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»selbstreflexiv zu den Aussagen konkurrierender Heilslehren« ins Verhältnis setzen müsse, und zwar in ein solches, »das den exklusiven Wahrheitsanspruch nicht gefährdet«62, dann pointiert er präzise diese Spannung, die Sloterdijk das »Toleranzparadoxon« nannte. Ebenso bringt Ulrich Becks Rede vom »Schock der Nichtuniversalität« der Religionen (beides siehe Kapitel »Interdisziplinäre Herausforderungen«) dieses Thema auf den Punkt. Fundamentalismen in dieser Perspektive lösen diese Spannung auf, während – und auch das wurde deutlich – das Programm einer »Zivilisierung« der Religion an dieser Stelle ansetzt. Da ich den Rekurs auf die biblischen Ursprungsurkunden für unverzichtbar halte, sei diese Fragestellung abschließend aus biblisch-theologischer Sicht reflektiert. Der Kürze wegen fasse ich das Wichtigste in 5 Punkten zusammen: 1. Der universale Geltungsanspruch des christlichen Glaubens gründet im Glauben an Gott, den Schöpfer (Gen. 1 f.) und dessen Heilswillen (Ex. 20,1 ff.) für seine gesamte Schöpfung. Der Alttestamentler Claus Westermann konnte diesen Befund so zuspitzen: »Von Gott reden, heißt vom Ganzen reden«63 und: »Gott (hat es) mit allem, was es gibt, zu tun, denn er hat alles geschaffen und führt alles dem von ihm bestimmten Ziel zu.«64 Der Schöpfung am Anfang entsprechen die Visionen vom eschatologischen Schalom: »Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen« (Jes. 2,4) bzw. »Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt« (2. Petr. 3.13). 2. Die Identifikation Gottes mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth steht dafür, dass Gott selbst ein Opfer der Gewalt wurde und unmissverständlich auf der Seite derer steht, die Gewalt leiden. Die Kategorie der Gewalt ist seitdem mit einer höchst kritischen Konnotation zu versehen: Im religiösen Kontext hat Gewalt jede Berechtigung verloren, im weltlich-politischen Bereich muss sich Gewaltausübung strengster ethischer Prüfung unterziehen. Lassen wir uns auf die Motivik und Sprache Peter Sloterdijks ein, wird man darüber hinaus sagen können: Der Gekreuzigte ist selbst ein Opfer des Sinai-Narrativs geworden, denn Jesus ist aufgrund der Tora zum Tode verurteilt worden (Dtn. 13,1 – 12; 17,1 – 7). Damit wird der Blick frei für die Mitte der christlichen Botschaft, die auf eine Durchsetzung des Wahrheitsanspruchs mit äußeren Machtmitteln verzichtet und stattdessen Zeichen des Friedens und der Versöhnung setzt als Zeichen der Hoffnung auf Gottes Zukunft. 3. Glaube ist nach christlicher Anschauung grundsätzlich und ausschließlich ein Schöpfungsakt Gottes und kann deshalb nie das Ergebnis von Zwang, Manipulation oder Gewalt sein (»qui fidem efficit, ubi et quando visum est Deo, in 62 Habermas, 2005, 143. 63 Westermann, 1984: 203. 64 Westermann, 1984: 205.
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his, qui audiunt evangelium«)65. Weil Glaube und Gewissheit sich immer einer »transzendenten Erschließungserfahrung«66 verdanken, schließt der Respekt vor dem Glauben als dem Werk Gottes spiegelbildlich auch den Respekt vor dem Nichtgläubigen und Andersgläubigen ein. Dieser Respekt nötigt dem christlichen Glauben die Sorge ab, für Rahmenbedingungen zu sorgen, in denen Gläubige, Andersgläubige und Nichtgläubige gleichermaßen gut leben können. Insofern hat das Säkularitätsprinzip als die wichtigste staatsethische Errungenschaft der Moderne seinen Grund im Zentrum des christlichen Glaubensverständnisses. Dass das Säkularitätsprinzip dem Christentum am Beginn der Neuzeit (als ihm scheinbar fremdes Prinzip) erst wieder abgerungen oder abgetrotzt werden musste, soll damit nicht infrage gestellt werden. 4. Das Wissen um den Glauben als Schöpfungsakt Gottes macht die Reflexion dessen, wie Menschen »erreicht« werden können, nicht überflüssig. Da allen christlichen Ursprungstexten im Neuen Testament der werbende und zum Glauben einladende Sprechakt eigen ist, darf der Begriff »missionarisch« nicht als Ausdruck von Fundamentalismus diffamiert werden. An der Sendung Gottes (missio) in die Welt (d. h. am Apostolat) haben alle Christen teil. Zugleich begrenzt das Wissen um den Glauben als einem unverfügbaren Erschließungsprozess alles menschliche Bemühen und verhindert so jede gewaltsame Durchsetzung religiöser Geltungsansprüche.67 5. An dieser Stelle ist ein Hinweis auf Immanuel Kant hilfreich: In seiner Schrift »Das Ende aller Dinge« (1794) warf er die Frage auf, was wäre, wenn das Christentum einmal »aufhörte, liebenswürdig zu sein«.68 Er stellte die Frage, nachdem er in den vorhergehenden Abschnitten dargestellt hatte, dass der Stifter des Christentums »nicht in der Qualität eines Befehlshabers [redet], der seinen Gehorsam fordernden Willen« den Menschen auferlegte, sondern er redet »in der [Qualität] eines Menschenfreundes […], der seinen Mitmenschen ihren eignen wohlverstandenen Willen, d.i. wonach sie von selbst freiwillig handeln würden, wenn sie sich selbst gehörig prüften, ans Herz legt«.69 Wenn das Christentum aufhören würde, in diesem Sinne »liebenswürdig« zu sein, wenn es also »statt seines sanften Geistes mit gebieterischer Autorität bewaffnet würde«, dann – so Kant – müsste »Abneigung« und »Widersetzlichkeit« gegen dasselbe die Folge sein, ja dann wäre die Zeit des Antichrists angebrochen und das »Ende aller Dinge in moralischer Rücksicht«.70 Wir hätten es mit einer Perversion des 65 Confessio Augustana Art. V 66 Schwöbel, 2002: 24. 67 Vor diesem Hintergrund dürfte die nüchterne Aussage des Neuen Testaments neue Beachtung finden: dass der Glaube »nicht jedermanns Ding« ist (2. Thess. 3,2). 68 Kant, 1999 (1794): 76. 69 Kant, 1999 (1794): 74, kursiv im Original, Ergänzung durch den Autor. 70 Kant, 1999 (1794): 74.
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Christentums zu tun. Mit dem universalen Geltungsanspruch des christlichen Glaubens ist also zugleich eine in diesem Sinne verstandene »liebenswürdige« Beschränkung und Begrenzung gesetzt.
Schlussreflexion 1. Die in der gegenwärtigen Diskussion um den Fundamentalismus sich etablierende Deutung von Religion als einer zu domestizierenden bzw. zu zivilisierenden Größe orientiert sich wesentlich an der historischen Rolle der Religion. Religionen – so das religionsphilosophische Interpretationsschema – drohen in ihre archaische ungebändigte und intolerante Form zurückzufallen, werden sie nicht durch die zivilisierenden Kräfte der Aufklärung gebändigt. Diese Beschreibung eignet sich aber nicht als Leitmetapher zur Präzisierung des Fundamentalismusbegriffs. Sie wird dem Selbstverständnis des Urchristentums nicht gerecht und kann auch an der neutestamentlichen Textwelt nicht verifiziert werden. Das Deuteschema bedarf auch der Überprüfung von Seiten der jüdischen und muslimischen Theologie. 2. Zielführend und für die religionspädagogische Praxis hilfreicher ist es, sich auf die grundlegenden Einsichten der Hermeneutik zu besinnen, die zu einem reflektierten Verhältnis zur Bibel gehören. Das heißt: Jedes Verstehen muss seinen eigenen Verstehensvoraussetzungen, der Korrelation von Erkenntnis und Interesse, selbstreflexiv Rechnung tragen. Sodann ist für ein christliches Bibelverständnis das inkarnatorische Grundmotiv nicht hintergehbar: dass Gott sich auf die menschliche Sprache, auf die Bedingungen menschlicher Wahrnehmung und deren unterschiedliche Perspektivik, auf die Dynamik und Begrenztheit menschlicher Traditionsprozesse und auch auf die Möglichkeit menschlicher Missverständnisse vorbehaltlos eingelassen hat. Nur so, »in irdenen Gefäßen«, ist uns der »Schatz« gegeben (2. Kor. 4,7). Die sich hier widerspiegelnde Deszendenz Gottes bekommt in der Rede von der Inkarnation ihre begriffliche Schärfe. 3. Zu einem reflektierten Verhältnis zur Bibel gehört die Bereitschaft, Texte im Sinne der reformatorischen Tradition auch einer kritischen Bewertung, das heißt in Einzelfällen einer Sachkritik zu unterziehen, und zwar aufgrund von Kriterien, die die Bibel selbst (!) vorgibt. Eine Hermeneutik, die nicht zwischen der Bibel und dem Wort Gottes zu unterscheiden vermag, kann weder fundamentalistischen Verzerrungen der Bibel eine leistungsfähige Position entgegensetzen noch kann sie im interdisziplinären Diskurs, in dem vehement auf problematische Texttraditionen und deren schwierige Wirkungsgeschichte verwiesen wird, ein hermeneutisch verantwortlicher Gesprächspartner sein.71 Die Bibel ernst zu 71 Gerade im interdisziplinären Dialog erweist sich das Bemühen – und ggf. der Streit (!) – um
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nehmen heißt auch, die Diversität ihrer Texte und Inhalte wahrzunehmen und nicht harmonisierend wegzubügeln. 4. War die Auslegung der Bibel noch bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein getragen von der Verortung in konkreten politischen und soziokulturellen Bezügen, so trugen vielfältige Pluralisierungs- und Deinstitutionalisierungsprozesse (zunehmender Bedeutungsverlust der Kirchen) – zum Verlust dieser Bezüge bei. Das Fehlen konkreter soziokultureller und institutioneller Referenzrahmen hat Auswirkungen auf die Auslegung biblischer Texte. Die Sehnsucht nach einer »reinen« Lehre, die als objektive und nicht zu hinterfragende Wahrheit ohne weiteren Interpretations- und Kontextualisierungsbedarf in die Gegenwart umzusetzen ist, nimmt zu und verleiht »Auslegungen« den Charakter der Endgültigkeit. 5. Moderne pluralistische Gesellschaften werden zwei Fragekomplexen besondere Aufmerksamkeit widmen müssen: der Identitätsbildung und der Sinnfrage. Weil nur stabile Identitäten in der Lage sind, die Vielfalt anderer kultureller und religiöser Identitäten als nicht bedrohlich zu erleben, sind Prozesse jugendlicher Identitätsbildung herausragende Themen der Fundamentalismusprävention. Angesichts des fundamentalistischen Identitätswahns ist es sinnvoll, Aspekte des christlichen Identitätsverständnisses zu bedenken: Menschlicher Identität eignet im Kern eine passive Konstitution. Als Relationsbegriff ist Identität letztlich zugesprochen, zugeeignet und weist theologisch auf die dem Menschen von Gott zugeeignete Identität. Die Freiheit vom Zwang zur eigenen Identitätskonstruktion bedeutet auch, von einem pathogenen fundamentalistischen Identitätswahn befreit zu sein, auch von der Angst vor drohendem Identitätsverlust, die im Hintergrund des fundamentalistischen Identitätswahns steht. Der andere Komplex ist die Sinnfrage. Die knappen Sinnressourcen moderner Gesellschaften bergen das Risiko größerer Sinnvakuen in sich. Es hängt viel davon ab, dass formelle, nicht formelle und informelle Bildungsprozesse einen »Horizont sinnstiftender Lebensdeutungen«72 erschließen können, auf den menschliches Leben angelegt ist.
den kritischen Kern und die »Mitte« des Kanons bzw. religiöser Textsammlungen als unverzichtbar, was sich anhand der Ausführungen Peter Sloterdijks (s. o.) zeigen lässt: Indem er im Sinai-Narrativ ein durchgängiges und variantenreich sich fortsetzendes Grundmotiv in der Hebräischen Bibel und in allen monotheistischen Religionen sieht, legt er eine Art »Mitte« und »Grundlinie« der Bibel fest und beansprucht von hier aus die Diskurshoheit zum Thema Religion und Fundamentalismus. 72 EKD, 2003: 90.
Hermeneutische Anmerkungen zur gegenwärtigen Fundamentalismusdiskussion
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Wilhelm Eppler
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Thomas Pola
Gewalt und ihr Ende in der biblischen Apokalyptik1
Der Religionsunterricht ist in Sachen »Apokalyptik« mit zwei Vorgaben konfrontiert: Erstens: Quantitativ sind eschatologische Kompositionen des Alten und des Neuen Testaments sowie des Frühjudentums dermaßen vom Motiv der Gewalt als Mittel durchsetzt, dass im populären Sprachgebrauch »apokalyptisch« und »verheerende Zerstörung« als synonyme Größen gelten (z. B. im Titel des aus Gewaltszenen bestehenden Kriegsfilms »Apocalypse Now« aus dem Jahre 1979). Fühlte sich so mancher Bibelrezipient schon durch den sogenannten JHWHKrieg (s. u.) im Deuteronomistischen Geschichtswerk (DtrG) befremdet, so werden gleichermaßen Laie und Fachmann angesichts der kulminierenden Gewaltmotive in den apokalyptischen Abschnitten bis hin zur Johannesoffenbarung »Ratlos vor der Apokalyptik« (so der Titel der Monographie von Klaus Koch, 1970). Wird dieser populäre Apokalyptikbegriff dem Selbstverständnis der antiken Quellen gerecht? Zweitens: Der aktuelle Religionsunterricht leidet unter dem durch die bisherigen Lehrpläne konstituierten »Kanon im Kanon«, der im Alten Testament nur Stoffe der Genesis (unter Ausklammerung der Priesterschrift mit Ausnahme von Gen 1), des DtrG und die Sozialkritik des Propheten Amos vorsieht. Es bleibt dabei die Funktion der (in der Regel rein anthropozentrisch) verstandenen Sozialkritik bei Amos innerhalb seiner Auffassung von Gott als Wirklichkeit unbeachtet. Vor allem aber fehlt bei diesem den Anspruch des Alten Testaments verniedlichenden »Kanon im Kanon« die eschatologische und apokalyptische Botschaft. Warum ist das so gravierend? Der (vom Verdacht eines Biblizismus 1 Frau Anna Reich M.A., Herrn Philipp Schreiber M.A., Herrn stud. phil. Sebastian Horstmann und Herrn Pfarrer K. Joos (Zwerenberg) danke ich für ihre Korrekturhinweise und ihre bibliographische Hilfe. – Die alttestamentlich-frühjüdische »Apokalyptik« soll hier nicht als Variante eines wie auch immer definierten »Fundamentalismus« hingestellt werden. Jedoch gibt es spätestens seit den radikalen Religionsparteien der Zeloten und Sikarier der römischen Zeit eine fraglos verengte Rezeption der frühjüdischen Apokalyptik, die hier aber nicht behandelt werden kann.
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anerkannt freie) Neutestamentler Ernst Käsemann (1906 – 1998) bezeichnete die Apokalyptik als die »Mutter der christlichen Theologie«2 – mit Recht! Wie will der Religionsunterricht die theologischen Anliegen des Neuen Testaments3 plausibel machen, wenn den Schülern der alttestamentlich-frühjüdische apokalyptische Hintergrund in Kontinuität und Diskontinuität vorenthalten wird? Schließlich will das Neue Testament bei seinen Rezipienten ja in der Tradition vorgegebene apokalyptische Abschnitte durch selektierte Zitate und Anspielungen vergegenwärtigen, um sie – meist signifikant modifiziert – als erfüllt hinzustellen (v. a. aus Daniel, Jesaja und Sacharja4). Mit welchem Recht wird dieses Anliegen der neutestamentlichen Autoren durch die aktuelle Religionsdidaktik unterdrückt? Dieser Beitrag geht angesichts der neutestamentlichen Zitate, die sich vor allem in den Passionsabschnitten finden, exemplarisch dem Stellenwert und der Funktion der Gewalt als Mittel im Sacharjabuche nach, genauer in Sach 1 – 6 (520 – 515 v. Chr.), 9 – 11 (unter Alexander d. Gr., vor 300 v. Chr.) und 12 – 14 (3. Jh. v. Chr.).
Kennzeichen der Apokalyptik im Alten und Neuen Testament sowie im antiken Judentum5 Das Thema der alttestamentlichen, frühjüdischen und neutestamentlichen Apokalyptik6 ist die weltweit sichtbare Herrschaft JHWHs. Ihre bleibende Durchsetzung bedeutet das Ziel der Geschichte und setzt das von Gott gesetzte Ende der irdischen Weltreiche voraus. Traditionsgeschichtlich beruht die alttestamentliche Apokalyptik auf dem Zusammenfließen von eschatologischer Prophetie und der Weisheitstradition: Die Wirklichkeitsauffassung einer vollkommen geord2 Käsemann, 1962: 158 f. 3 Dazu gehören vor allem die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, seine Selbstbezeichnung als »Menschensohn«, die Deutung des Todes Jesu als einem Heilsgeschehen, die Logik der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft und die Anliegen der johanneischen Schriften samt ihrer Logik. 4 Im Falle des Sacharjabuches handelt es sich besonders um 3,8 und 6,12 in Lk 1,78; um Sach 9,9 f. in Mk 11,1 – 11 par.; um Sach 6,12 f. in Mk 14,58 par. und Joh 2,19 – 21; um Sach 14,21 in Mk 11,15 f. par. und Joh 2,14; um Sach 13,7 in Mk 14,27 (Mt 26,31); um Sach 12,10 in Joh 19,33 – 37 und Offbg 1,7. 5 Der hier gesetzte Rahmen erlaubt leider nicht in einen Dialog mit der gegenwärtigen Mehrheitsmeinung zu treten (z. B. Kratz, 1998), die die Apokalyptik quantitativ, literar- und sozialgeschichtlich als bloße Randerscheinung des Alten Testaments ansieht. 6 Weder Altes und Neues Testament noch das Frühjudentum weisen ein die Apokalyptik kennzeichnendes Wort auf. Die Forschung entnimmt daher seit Lücke (1832) die Bezeichnung »Apokalyptik« dem Beginn des letzten Buches der Bibel, der Johannesoffenbarung: »Offenbarung (ἀποκάλυψις) Jesu Christi« (Apk 1,1). Diese Bezeichnung wird der hohen Bedeutung der visionären Offenbarung in der Apokalyptik gerecht.
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neten Schöpfung wurde auf den Ablauf der Geschichte übertragen, sodass auch diese die von Gott bestimmten Perioden erkennen bzw. erwarten lässt. Jeder geschichtlichen Epoche hat demzufolge JHWH eine zeitliche Grenze gesetzt (Dan 7,12). Zugleich ging die ursprünglich ekstatische Prophetie über in schriftgelehrte Arbeit (der dennoch eigene visionäre Erfahrung zugrunde liegen konnte). Aus der Tradition vorgegebene Motive und Zitate wurden in neue Zusammenhänge gebracht. Diese schriftgelehrte Darstellungsweise wurde als vollgültig inspiriert angesehen. Ihren Respekt vor der Tradition drückten die produktiven Apokalyptiker durch die Angabe von Pseudonymen, vor allem aus der Ur- und Patriarchenzeit, als Verfasser aus (z. B. Henoch, vgl. Gen 5,21 – 24). Ein weiteres Kennzeichen der Apokalyptik ist ihr universaler Horizont. Er beruht auf dem qualitativ neuartigen Charakter der subjektiv religiös (!) begründeten Herrschaftsauffassung der Neuassyrer,7 Neubabylonier, Perser8 und Griechen. Sie sahen sich von ihren jeweiligen Hauptgöttern beauftragt, diesen die ganze Welt kulturell (!) untertan zu machen. Eines der Mittel war bei den Assyrern und Babyloniern die Entfernung der Götterfiguren aus den nationalen Heiligtümern und die Aufstellung der geraubten Figuren zu Füßen des obersten Gottes im Kernland der Weltmacht (vgl. Jes 36,18 – 20 u. ö.). Israel und Juda bekamen im 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. besonders die Praxis der Umsiedlung großer Volksmassen zu spüren (2. Kön 17,1 – 6; 25,111 f. u. ö.). Im Gegenzug konnten rebellische Gruppierungen aus einer anderen Gegend des jeweiligen Weltreichs angesiedelt werden (2. Kön 17,16. 24 ff). Während die Assyrer die Deportierten des Nordreichs in den Jahren 724 bis 722 v. Chr. dezentral ansiedelten, konnten die Judäer dagegen unter den Babyloniern 597 und 587 v. Chr. zusammenbleiben und ihre kulturelle Identität wahren (Ez 1,1 – 3; 20,1 – 3; Ps 137 u. ö.). Für die judäische Prophetie hieß dies: Es sind nun alle Völker zum Gegenspieler JHWHs und Seines Volkes (Juda) geworden (man war dabei der Meinung, jedes Volk hätte seine eigene Religion; vgl. Dtn 32,8). Man hat sie spirituell als Mächte empfunden. Es stellt sich aufgrund des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Drucks die Frage: Wann endlich setzt JHWH seine Weltherrschaft durch? Unumstritten zählen die Apokalyptik aus dem Kanon Daniel (164 v. Chr.) und die Johannesapokalypse (zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr.) zu den apokalyptischen Büchern. Bis in die Gegenwart gilt das Danielbuch als frühestes und bereits als klassisches apokalyptisches Werk.9 Ein anderer Forschungszweig suchte dagegen nach den dem Danielbuch vorausgehenden Anfängen der Apokalyptik und fand
7 Pola, 2005; Zehnder, 2005. 8 Pola, 2003. 9 Z. B. Kratz, 1998.
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diese bei Protosacharja10. Die hier vorgelegte Untersuchung schließt sich dieser Sicht an.11
Gewalt und ihr Ende im Buche Sacharja (Hebräischer Wortlaut und Septuaginta) Sach 1 – 6: Gewalt und ihr Ende in den Nachtgesichten Sacharjas Seit M. Baumgarten12 wird der Visionszyklus Sach 1,7 – 6,8 (+ 6,9 – 15) mit Recht als »Nachtgesichte« bezeichnet. In einer einzigen Nacht, vom 15. zum 16. Februar 519, soll der junge Priester Sacharja in Judäa sieben Visionen (Kapitel 3 wurde vor 515 v. Chr. ergänzt) empfangen haben (1,7 f.). In der Endgestalt finden sich mit 1,17; 2,10 – 17 und 4,6 – 10* auch ebenfalls vom Propheten stammende Wortkompositionen.13 Sacharja 1,7 zufolge (als Eröffnung der ersten Vision in V.7 – 16 [+17]) war zum Zeitpunkt des Ergehens der Nachtgesichte das zweite Regierungsjahr des Persers Darius I. (521 – 485 v. Chr.) angebrochen. Nachdem dieser in seinem ersten Regierungsjahr der von ihm in Auftrag gegebenen sogenannten BehistunInschrift zufolge Aufstände im ganzen persischen Weltreich niedergeschlagen hatte,14 ist nun »die ganze Erde … still und in tiefster Ruhe« (1,11). Erstaunlicherweise wird jedoch diese von der persischen Weltmacht gewaltsam erreichte Ruhe als »Friedhofsruhe« interpretiert: JHWH zürnt über die »sorglosen Nationen«, denn »sie verhalfen zum Unheil«. Daher verkündet JHWH: »Ich wende mich Jerusalem wieder zu in Erbarmen« (vgl. Jes 40,1; 52,7 – 10), was sich im Tempelbau und der baulichen Wiederherstellung der Stadt konkretisieren soll (Sach 1,15 f.). V.17 ergänzt, dass dieses Geschehen in Verbindung mit dem Kommen des idealen davidischen Herrschers in einer verwandelten, neu geschaffenen Schöpfung steht. Bereits hier ist die für die Apokalyptik grundlegende Unterscheidung zweier Wirklichkeitsebenen relevant:15 Dass die Perser mit Gewalt eine Art Weltfrieden hergestellt haben, ist nahezu irrelevant für die judäische Perspektive. Entscheidend ist JHWHs hier angekündigter heilvoller 10 11 12 13 14 15
Sach 1 – 8, 520 – 515 v. Chr.; Sellin, 1901; Gese, 1973; Ego, 1996; zuletzt Förg, 2013. Pola, 2003; anders dagegen Redditt, 2014. Baumgarten, 1854. Pola, 2003. TUAT I, 1984: 419 – 450. Es scheint, dass die von Redditt (2014) vorgelegte Kommentierung hinsichtlich des erwarteten Davididen und der kriegerischen Auseinandersetzungen in Sach 9 – 14 von diesseitigen Größen ausgeht und gelangt daher zu einer Datierung von Kapitel 9 bis 14 in das 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. (Redditt, 2014: 31 u. ö.).
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Eingriff in das Ergehen der seit 520 v. Chr. Not leidenden (Hag 1) Stadt Jerusalem als des eigentlichen Zentrums der Welt. Vom erneut erwählten Zion aus wird der ideale Davidide herrschen – über eine Neue Schöpfung, deren Städte JHWHs »von Gutem überfließen« (V.17). Die parallel konstruierten Visionen Sacharja 2,1 – 4 (Hörnervision) und V.5 – 9 (Der Engel mit der Messschnur) konkretisieren die Ankündigungen aus der ersten Vision. Mit den Hörnern, die Juda »zerstreut« haben (V.2.4), »dass kein Mensch mehr sein Haupt erhebt« (V.4), sind in Aufnahme der Realie der sogenannten Hörnerkrone (vgl. 1. Kön 22,10 f. und Belege der assyrischen und babylonischen Ikonographie) die Weltmächte seit den Neuassyrern gemeint. Sach 2,1 – 4 führt die sich religiös beauftragt verstehenden Weltmächte (s. o.) ab den Neuassyrern vor Augen, die JHWH zugunsten Judas beseitigt. Die Zeit der irdischen Weltreiche, auch des persischen, ist infolge des gewaltsamen Eingreifens JHWHs gegen die »Hörner« (in einem spirituellen Geschehen!) nun für immer vorbei (vgl. Hag 2,6 f.21 f.). Die dazu parallel formulierte dritte Vision Sacharja 2,5 – 9 führt das ideale Jerusalem innerhalb der Neuen Schöpfung (V.8; vgl. 8,14 f.; Jes 65,20) als eine Stadt ohne schützende Steinmauern vor Augen: »Und ich selbst werde ihr ringsherum eine feurige Mauer sein, Ausspruch JHWHs, und ich werde zur Herrlichkeit in ihrer Mitte sein« (Sach 2,9).
Zu erwarten wäre eine unbefestigte Stadt mit der Begründung, dass ja hier die Weltmächte im Zusammenhang mit der Zerstörung der Hörnerkronen beseitigt worden sind (V.1 – 4). Aber die rhetorische Duplik will mehr aussagen: Das positive Gegenstück zur negativen Beseitigung der Weltmächte ist die Personalität des Bundesgottes JHWH für Seine Stadt. Es geht nicht um einen messbaren künftigen Wohlstand in der irdischen Stadt, sondern das Irdische und Himmlische verschmelzen miteinander. JHWH umgibt diese »grenzenlose«16 Stadt schützend und ist zugleich ihre Mitte. So haben gesunkene Kindersterblichkeit und Altern in Würde ihren personalen, auf JHWH bezogenen Sinn (2,8; vgl. 8,14 f.; Jes 65,20). Das Ziel der Geschichte ist – von JHWH her – gekommen. Dass im folgenden Jahrhundert unter Nehemia bei noch immer spärlicher Bevölkerung in der Stadt (Neh 7,4) die Notwendigkeit aufkam, Jerusalems Mauern wiederherzustellen (Neh 2 – 6), zeigt, dass Sach 2,8 f. eine der sichtbaren Wirklichkeit zeitlich vorausgehende unsichtbare Wirklichkeit JHWHs beschreiben will. Das bedeutet für das gestellte Thema: Das Ende der menschlichen Gewalt in Sach 2,1 – 9 ruht nicht in sich selbst, sondern führt positiv zu einem idealen,
16 Willi-Plein, 2007.
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beständigen Gottesverhältnis. Dies spiegelt sich auch in der sich anschließenden, ebenfalls von Sacharja herrührenden Wortsammlung V.10 – 13.14 – 17. In den beiden, in der Endgestalt das Zentrum des Visionszyklus bildenden Visionen Sacharja 3 (Neues Priesteramt, Neue Existenz, Neue Schöpfung) und 4 (JHWHs Gegenwart in der Welt in Gestalt eines kultischen Leuchters) steht JHWH selbst im Mittelpunkt. Während JHWH in der forensischen Einleitung von Sach 3 den Satan allein verbal, durch »schelten« (wörtl.: »jdn. anschreien«), zum Verschwinden aus dem Himmel bringt, wird die kultische Thematik von Kapitel 3 in Kapitel 4 in Gestalt eines Leuchters17 fortgesetzt. Die beiden Protagonisten des Tempelbaus, der davidische Kronprinz Serubbabel und der Hohepriester Josua ermöglichen durch den Tempelbau, dass das Licht JHWHs in der Welt strahlt (vgl. Offbg 11,1 – 14). Apokalyptik und Priesterlich-Kultisches bilden bei Protosacharja eine Einheit. Es wundert daher nicht, dass im Visionspaar 5,1 – 4 (Fluchrolle) und V.5 – 11 (Die Frau im Getreidemaß) die gewaltlose Welt auf der spirituellen Ebene begründet wird. Das Neue Gottesvolk soll, nachdem in Sach 2,1 – 9 die äußere Bedrohung beseitigt worden war, nun die innere Bedrohung beseitigen. Dies geschieht einerseits durch die reinigende Kraft der fliegenden Fluchrolle (5,1 – 4) und andererseits durch das Fortschaffen der in einem Maß begrenzten, weiblich personalisierten Bosheit, nach Babylonien (V.5 – 11). Auch die abschließende Vision in 6,1 – 8, der Entsprechung zur ersten Vision in 1,7 – 16.17, hat das Spirituelle aus der äußerlich unsichtbaren Welt JHWHs zum Gegenstand: Der Geist JHWHs durchstreift, durchdringt die Welt. JHWH durchbricht die in der ersten Vision konstatierte »Friedhofsruhe« durch die Sendung Seines Geistes in die Welt. Fazit: Das für die Apokalyptik inhaltlich charakteristische Thema der Gottesherrschaft durchzieht den Visionszyklus Sach 1 – 6*. Gegenüber der sichtbaren Welt ist das Ziel der Geschichte bei JHWH schon »gegenwärtig« und kann von Sacharja visionär geschaut werden, obwohl seinerzeit in der sichtbaren Welt nur wenig von der bevorstehenden Vollendung erkennbar war. Die Unterscheidung zweier Wirklichkeitsebenen und der höhere Grad an Verbindlichkeit der äußerlich unsichtbaren Wirklichkeit sind für das Verständnis der Nachtgesichte konstitutiv. Die Beseitigung der Weltmächte und der Bosheit führt zu einer idealen, personalen, beständigen Gottesbeziehung. Jerusalem und der Zion waren und sind für immer spirituell der Mittelpunkt der Welt. Das Heilshandeln JHWHs an Seinem Volk steht daher in weltpolitischem und kosmischem Zusammenhang. Für den Religionsunterricht ist dabei hermeneutisch besonders relevant: Sacharja und seine Tradenten haben die Erfüllung dessen mit der Tempelweihe, 17 North, 1970.
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die schon 515 v. Chr. stattfand, erwartet. Dennoch hat man Protosacharja nicht abgetan, sondern die Anhänge Kapitel 9 bis 11 und 12 bis 14 aktualisieren die Heilsbotschaft von Sach 1 – 8, allerdings durch einen völlig gewandelten historischen Hintergrund zu auffallenden Veränderungen genötigt.
Sach 9,1 – 8.9 f.: Das kommende Ende der Gewalt Die Tempelweihe im Jahre 515 v. Chr. hat Esr 6,16 – 18 zufolge die von Deuterojesaja, Haggai und Protosacharja her erwartete Wende nicht gebracht. Was wird nun die Ablösung der Perser durch den Makedonen Alexander d. Gr. (336 – 323 v. Chr.) bringen? Hinter Sach 9,1 – 8 steht der siegreiche Zug Alexanders d. Gr. von der Stadt Damaskus aus südwärts an der Mittelmeerküste bis in den Bereich der Philisterstädte im Jahre 332 v. Chr. Es gelang ihm sogar, die Insel Tyrus zu erobern (V.3 f.). Das Ziel des Makedonen war bekanntlich Ägypten, jedoch endet der Abschnitt mit dem Erreichen der Philisterstädte. Dass Alexander auch einen Abstecher nach Jerusalem unternommen hätte (Jos. ant. XI, 304 – 347), wird mit Recht für unwahrscheinlich gehalten. Sach 9,1 – 8 zufolge behält kein anderer als JHWH das Geschehen in der Hand. Er beschützt weiterhin Seinen Tempel (V.8). Dass Sach 9 – 11 plakativ mit einem sich auf den Alexanderzug beziehenden Abschnitt einsetzen, drückt aus, dass man in der gewaltsamen Ablösung der Perser durch Alexander einen tiefen Einschnitt, den Beginn der Endzeit, gesehen hat. JHWH hat diese weltgeschichtliche Wende ermöglicht. Es schließen sich die beiden für die hier zu verfolgende Thematik besonders wichtigen Verse Sach 9,9 f. an: Juble sehr, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir: Gerecht und errettet ist er, demütig und auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Fohlen, einem Jungen der Eselin. (10) Und er wird ausrotten die Streitwagen aus Ephraim und die Pferde aus Jerusalem. Und der Kriegsbogen wird ausgerottet. Und er verkündet Frieden den Nationen. Und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der Erde.
V.9: In Jes 45,21 ist JHWH der »gerechte und rettende Gott« – in Sach 9,9 ist es JHWH, der mit dem messianischen, gerechten und erretteten König zum Zion
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kommt (!). Der erwartete ideale Herrscher, »dein (= Zions) König« genannt, wird hier als Gegenbild zum kriegerischen, zu Pferd reitend dargestellten Alexander gezeichnet: Der Friedensmessias reitet bescheiden auf dem als klug geltenden Reittier des Königs, dem Esel oder Maultier (1. Kön 13,33.38.44). Nicht ist er siegreich wie Alexander, sondern von JHWH gerecht gemacht und aus lebensbedrohender Not gerettet. Er nimmt das Gericht JHWHs »demütig« bzw. »gebeugt« an. V.10: Das Handeln des Königs umfasst sowohl das Nordreich Ephraim als auch das Südreich Juda, wofür dessen Hauptstadt Jerusalem steht: Eines der großen Anliegen der exilischen Prophetie, die Wiederherstellung aller zwölf Stämme in einer einzigen Monarchie (wie einst unter David und Salomo) durch eine davidische messianische Gestalt (Jer 30 f.; Ez 37,1 – 14.15 – 28 u. ö.), wird hier aufgenommen. Die Restitution Israels ist auch in Sach 9,9 f. ein obligates messianisches Werk.18 Die von diesem König ausgehende umfassende Waffenvernichtung bedeutet die Weiterführung eines aus den Zionspsalmen 46 (V.10) und 76 (V.4) vorgegebenen Motivs: Ist dort JHWH das Subjekt der Waffenvernichtung (auch in Mi 5,9), so ist er in Sach 9,9 f. der friedliche, auf einem Esel reitende Zionskönig.19 Seine Herrschaft bedarf keiner äußerlichen Machtmittel (vgl. Sach 4,10: »nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist [soll es geschehen], spricht JHWH der Heerscharen«20)! Die gewaltsamen und blutigen Herrschaftsmittel Alexanders sind für den Friedensmessias völlig obsolet, denn die Schöpfung und der Mensch wurden von JHWH bereits neu geschaffen (das setzt die Logik des Abschnitts voraus; vgl. Jer 31,31 – 34; Ez 11,17 – 21; 36 f. u. ö.). Die Waffen werden bleibend abgeschafft, »ausgerottet«. Gemeinsam mit Alexander hat dieser Friedenskönig allerdings den territorialen Anspruch: die gesamte (bekannte) Welt. Was der vorexilische Königspsalm 72 (V.8) theoretisch formuliert hatte, soll unter dem Friedenskönig wirklich werden: Er verkündet (Durchsetzung durchs Wort allein!) den Nationen den Frieden der Neuen Schöpfung. Vorstellbar ist dies nur apokalyptisch als Gegenstand des Glaubens wie in den Thronbesteigungshymnen 47, 93 und 95 – 99, als ein für wirklich
18 In Sach 6,12 f. (3,8; vgl. Jer 23,5 f.) erscheint der Tempelbau als weiteres obligates messianisches Werk. Das Tempelwort Jesu (Mk 14,58 par.; Joh 2,19 – 21) nimmt daher den Tempelbau als obligat gewordenes messianisches Werk aus Am 9,11 f. und Sach 6,12 f. auf (in Verbindung mit Jes 53,5 Targum: »er [= der Knecht JHWHs, der Messias] aber wird das Heiligtum bauen«). 19 Mit der Septuaginta ist wehikrît zu lesen. 20 Die Bezeichnung »JHWH der Heerscharen« (YHWH sebaʾôt) galt ursprünglich dem Ladegott (1. Sam 1,3.11; 4,4 u. ö.) und setzt die Vorstellung von˙militärisch mit Dolch und Schutzschild ausgestatteten Engeln voraus.
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Halten in der äußerlich unsichtbaren Wirklichkeit JHWHs. Zum Beispiel darf niemand in den Tempel Waffen hereinbringen (vgl. Joh 2,15)! Die Einzugsperikope Markus 11,1 – 11 par. ist weitaus mehr als die szenische Darstellung der Erfüllung von Sach 9,9 f.: Es handelt sich um eine über die Taufe Jesu (Mk 1,9 – 13 par.) hinausgehende Inthronisationsdarstellung! Den Hintergrund bildet das judäische Inthronisationsritual (1. Kön 1; Ps 2; 110). Zu diesem Ritual gehört nach der Salbung an der Gihonquelle im Kidrontal der Ritt des ˙ einzusetzenden Königs auf dem königlichen Esel bzw. Maultier zum Tempel (1. Kön 1,33 ff.; Ps 110,7), wo er auf dem Thron in der »Sabbathalle«, südlich des Allerheiligsten, also zur Rechten JHWHs, Platz nimmt (Ps 110,1 f.; 2. Kön 16,18). Bei Mk 11 ist der letzte Vers (V.11) entscheidend: Jesus geht unmittelbar nach dem Einzug, der die Akklamation des Volkes (vgl. 1. Kön 1,39 f. u. ö.) deutlich herausstellt, in den Tempel. Mk 11 arbeitet also das Motiv des von Gott kommenden Messias mit dem vorexilischen judäischen Ritus der Königsinthronisation zusammen. Dabei verstärkt er den von Sach 9,9 vorgegebenen leidenden Charakter des Königs in Mk 11,9 f. durch weitere Zitate, vor allem von Ps 118: »Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!« (V.26), der Segnung des in den Tempel einziehenden Erretteten (!) durch die Priester. Viele Ausleger stoßen sich an der in Mk 15,6 – 15 (Barabbas-Szene) angeblich gegenüber der Einzugsperikope unmotiviert umgekippten Haltung des Volks. Die Einzugsperikope mit ihrer Darstellung der königlichen Einsetzung Jesu unter dem Beifall des Volkes nimmt aber das Ziel der Passion, die Auferstehung Jesu, vorweg. Markus hat den siegreichen Einzug Jesu der eigentlichen Passionsdarstellung bewusst vorangestellt, um diese im österlichen Licht erscheinen zu lassen. Für die hier zu verfolgende Thematik ist festzuhalten: Es gibt mit Sach 9,9 f. in der alttestamentlichen Apokalyptik die Erwartung einer von JHWH und seinem Messias kommenden universalen Friedensherrschaft in einer Neuen Schöpfung, in der auch der Mensch durch JHWH qualitativ neu geschaffen wird. Sach 9,9 f. und dessen szenisch dargestellte Erfüllung in Mk 11,1 – 11 par. dürfen im Religionsunterricht daher nicht verniedlicht werden, sondern der jeweilig ausgedrückte positive apokalyptische Anspruch ist herauszuarbeiten.
Sach 9,11 – 17; 10,1 f. 3 – 12: JHWH macht Juda zu Seiner Waffe in den Kämpfen der Gegenwart Überraschenderweise wird der Friedenserwartung von Sach 9,1 – 10 in 9,11 – 17 und Kapitel 10 f. eine Sicht hinzugefügt, die als Hintergrund (auch von 9,9 f.) Auseinandersetzungen mit den frühen Diadochen, insbesondere mit den Ptolemäern im 3. Jahrhundert v. Chr., erkennen lassen. Die Vernichtung des Kriegsbogens (9,10) rückt anscheinend in die Ferne: In 9,13 (innerhalb des Zu-
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satzes zu 9,9 f. in V.11 – 17) macht JHWH Juda zum Kriegsbogen (vgl. 10,4) gegen die Griechen (9,13), in 10,3 »zu seinem Prachtpferd im Krieg«. Überhaupt ist der Abschnitt 10,3 – 12 von militärischer Terminologie durchzogen (z. B. »Krieg« in V.3 – 5 und das Motivwort »Held« in V.5 f.7.12). Entscheidend ist aber der die Wende herbeiführende Eingriff JHWHs durch eine Theophanie in 9,14 f. und die Rettung durch JHWH bzw. den Messias innerhalb der Neuen Schöpfung in V.16 f. sowie der Sturz der Weltmächte durch JHWH in 10,11 f., sodass der Neue Exodus für die Exilierten möglich wird (10,8 – 10; vgl. 9,11 f.). Für die hier zu behandelnde Thematik ist dabei besonders wichtig: Dieser Eingriff JHWHs gehört in die Spätphase der Tradition des JHWH-Krieges (von der älteren Forschung »Heiliger Krieg«21 genannt). Innerhalb von Sach 9 – 14 wird geradezu der Umbruch zu dieser Spätphase greifbar: Während in Sach 9,11 – 17 und 10,1 f. 3 – 12 Juda noch die Funktion von JHWHs militärischer Waffe innehat (wobei – wie immer in der Tradition vom JHWH-Krieg – JHWH allein den Sieg herbeiführt), geraten Juda, Jerusalem und dessen Davidide in Sach 12 – 14 in die Rolle von Märtyrern, da JHWH erst nach deren Überwältigung über die angreifende Völkerschaft siegt (14,3 ff. und 13,7 – 9; Ausnahme: 12,9). Auch in 2. Chronik 20,1 – 30 ist diese Spätphase der Tradition vom JHWH-Krieg belegt: Die einzige menschliche »Leistung« in dieser Schlacht gegen die Feinde besteht im Gebet (!) von König Josaphat (V.18 – 21). Den Sieg über die Feinde jedoch führt allein JHWH herbei (V.22 – 30). Der Religionsunterricht sollte daher beim Thema des sogenannten »Heiligen Krieges« nicht nur die theologisch programmatischen Darstellungen des DtrG ab Jos 1 – 12 vor Augen haben, sondern die traditionsgeschichtliche Entwicklung des Motivs vom JHWH-Krieg bis hin zur Apokalyptik zur Sprache bringen, derzufolge nur noch JHWH allein kämpft, und zwar mit Feinden, die nur noch als spirituelle Mächte aufgefasst werden. Die gern gestellte Frage nach der angeblichen »Grausamkeit« im Alten Testament lässt sich also angemessen nur traditionsgeschichtlich und damit gesamtbiblisch beantworten. Denn aus der späten alttestamentlichen Auffassung vom JHWH-Krieg folgt im Neuen Testament die kompromisslos gewaltfreie Bekämpfung der Dämonen durch Jesus (Mk 1,21 – 28 u. ö.). Was im Alten Testament die zu vertreibenden gottwidrigen und zum Zion stürmenden Fremdvölker sind, sind im Neuen Testament die auszutreibenden und zu nichtenden gott- und menschenwidrigen Dämonen (Mk 5,1 – 20 u. ö.). Daher besitzen auch die älteren Anschauungen vom JHWH-Krieg (z. B. im DtrG) hermeneutisch und besonders hinsichtlich der gegenüber dem DtrG späteren apokalyptischen Wirklichkeits-
21 Um eine Verwechslung mit dem sich völlig anders verstehenden »Heiligen Krieg« im Islam zu vermeiden, wurde der Fachausdruck in der alttestamentlichen Wissenschaft geändert. Vgl. Weippert, van Ess, Reuter, 2000.
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auffassung eine gesamtbiblische Relevanz und sollten daher im Religionsunterricht nicht grundsätzlich verschwiegen werden.
Das Martyrium geht der endzeitlichen Durchsetzung der Herrschaft JHWHs voraus (Sach 12 – 14) Auch in Sach 12,1 – 8 wehrt JHWH die gegen Jerusalem heranstürmenden Völker ab, wie das im vorexilischen »Zionsmythos« (ein unglücklicher Fachausdruck) der Fall gewesen war: Es stürmen die Feinde gegen den Zion heran, aber JHWH lässt ihren Angriff durch eine Theophanie scheitern. Er rettet die Stadt (Ps 76,4 – 7; 48,5 – 7). Bei Jesaja (8. Jh. v. Chr.) findet sich, zentral für seine Gerichtsbotschaft, die Umkehrung des »Zionsmythos«: JHWH bewirkt den Eintritt des Komas der Jerusalemer Bevölkerung (Jes 6,9 f.; 29,9 f.) und nicht wie in Ps 76,6 der Feinde, damit die (für Jesaja: assyrischen) Feinde die ohnmächtige Stadt ungehindert zerstören können. Diese jesajanische Umkehrung des »Zionsmythos« beziehen die drei Abschnitte Sach 12,9 – 13,1; 13,7 – 9 und Kapitel 14 nun auf den endgeschichtlichen Kampf zwischen »allen« Völkern (12,9; 14,2.12), also den JHWH-widrigen Mächten, und JHWH. Der endzeitlichen Durchsetzung der Herrschaft JHWHs (14,9; vgl. V.16 f.) geht das Martyrium der Einwohner Jerusalems und gar des davidischen Messias voraus. Sacharja 14: Die weitestgehende Gewalt der Völker gegen Jerusalem findet sich in V.1 f.: Nach der Einnahme der Stadt und ihrer Plünderung werden alle Frauen vergewaltigt und die Hälfte der Bevölkerung deportiert. Erst dann greift JHWH ein (14,3 ff.). In Sacharja 12,9 – 13,1 »vertilgt« zwar JHWH »alle« gegen Jerusalem heranstürmenden Völker, der Schwerpunkt des Abschnittes liegt aber auf der durch den Geist JHWHs ermöglichten Klage aller Sippen und Stände um den getöteten Messias.22 Infolge aber dieser Niederlage erst bricht die Neue Schöpfung, die Ära der Vergebung und Reinheit durch die von JHWH geöffnete Quelle an (13,1). In Sach 12,9 – 13,1 ist der (von JHWH gewollte und durch die breiter angekündigte Klage retardierend ernst genommene) Tod des Messias die Voraussetzung für den Anbruch des Neuen Äons. Heil gibt es nur durch das Gericht, durch das Martyrium, durch den Tod hindurch. Sach 12,9 – 14 thematisiert den Tod, der sich anschließende Vers 13,1 dagegen das Leben. Der sogenannte Lanzenstich in Johannes 19,33 f. wird (zusammen mit Ex 12,46) als Erfüllung des Zitats von Sach 12,10 bezeichnet (s. Joh 19,36 f.). Das 22 In 12,10 ist mit Joh 19,37 und Apk 1,7 ʾlyw (»auf ihn«) statt ʾly (»auf mich«) und deqa¯rô (»man hat ihn durchbohrt«) statt daqa¯rû (»sie haben durchbohrt«) zu lesen. Übersetzung: »und sie werden auf den blicken, den man (im Kampf) getötet hatte«.
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dem hebr. Wortlaut angepasste Sacharja-Zitat will jedoch den gesamten Kontext in Sach 12,9 – 14,21 als Hintergrund des Geschehens von Joh 19,25 – 36 assoziieren und nicht nur den Lanzenstich hervorheben. Die römischen Soldaten verkörpern hier die Weltmacht, also »alle Völker« als gottwidrige Mächte, dagegen ist der Leib Jesu im Johannesevangelium der wahre Tempel (Joh 2,21). Das »Kommen« (vgl. Sach 12,9) der Soldaten zu Jesus bildet also den Angriff der Völker gegen den Zion ab (Sach 12,1 – 8.9; v. a. 14,1 – 5; (s. o. zum sogenannten Zionsmythos), also den eschatologischen, apokalyptischen Endkampf! Obwohl Jesus bereits tot ist (Joh 19,30), ist ihr durchbohrender, von Gott gewollter Todesstoß mit der Lanze (Sach 13,7) paradoxerweise in soteriologischem Sinne erfolgreich: Aus dem Leibe Jesu, dem wahren Tempel, kommen Joh 19,34 zufolge Blut (»gegen Sünde«) und Wasser (»gegen Unreinheit«) heraus (Sach 13,1; vgl. 14,8). Auch in Joh 19 ist der Tod des Messias die Voraussetzung für den Anbruch der Neuen Schöpfung, der Vergebung und der aus der Sühnweihe resultierenden Heiligung! Hinzu kommt darüber hinaus die Traditionsgeschichte des Motivs der Tempelquelle23 mit ihrem bibelkundlich ersten Beleg in Gen 2,10 – 14 (wobei der »Garten« in 2,4b–3,24 ebenfalls als Heiligtum vorgestellt ist), so will Joh 19 mit dem Lanzenstich die Wiederkehr des »Paradieses« herausstellen. Dort, wo man es am wenigsten suchen würde, bei Jesus am Galgen der finsteren und unreinen »Schädelstätte«, ist Johannes zufolge der von Gott ursprünglich gewollte protologische Zustand der Schöpfung wiederhergestellt! Der Tod Jesu besitzt Johannes zufolge in diesem Sinne also Heilsbedeutung, wobei der Evangelist allerdings einen schriftkundigen Leser voraussetzt, der den Zusammenhang des Zitats von Sach 12,10 versteht. Die Konsequenzen dessen für die Religionsdidaktik liegen auf der Hand! Sacharja 13,7 – 9 lautet: Dolch, wach auf, gegen meinen Hirten und gegen den Mann meiner Sippengenossenschaft! – Ausspruch JHWHs der Heerscharen –. Schlage den Hirten, dass die Schafe sich zerstreuen! Und ich werde meine Hand gegen die Geringen wenden!8 Und es wird im ganzen Land geschehen, – Ausspruch JHWHs –, zwei Teile davon werden [ausgerottet,] sterben, aber ein Drittel bleibt darin übrig.9 Und ich bringe den dritten Teil ins Feuer, ich läutere sie, wie man Silber läutert, und prüfe sie, wie man Gold prüft. Der wird meinen Namen anrufen, und ich, ich werde ihm antworten.
23 Gen 2,10 – 14; Ez 47,1 – 12; Sach 13,1; 14,8; Joel 4,18 u. ö.
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Und ich werde sagen: Er ist mein Volk. Und er, er wird sagen: JHWH ist mein Gott.
Hier ist die Aussageabsicht die Entstehung des Neuen Gottesvolkes, des Neuen Israel. JHWH will dafür den Tod des Messias, die Zerstreuung seines Volkes (V.7), das Gericht im ganzen Land Juda (V.8) und auch das restliche Drittel muss (nach Vorbild von Ez 5,1 – 4a) noch einem Scheidungs- und Läuterungsgericht unterzogen werden (V.9a). Aber dann ist schöpfungstheologisch die Voraussetzung für den Neuen Bund da. So stellt der Abschnitt also den »Geburtsschmerz für das Neue Israel« (Gese, 1973) heraus. Die reziproke exklusive Bindung zwischen JHWH und Seinem Neuen Israel konkretisiert sich im Gottesdienst, in der Anrufung des Namens JHWHs. Die kultische Dimension der Apokalyptik leuchtet auch hier wieder auf. Hinter dieser in Sach 12 – 14 bis hin zu Kapitel 14 gesteigerten Vorstellung eines Martyriums von der Stadt und ihrem Davididen müssen entsprechend furchtbare geschichtliche Erfahrungen aus der Zeit der Herrschaft der Ptolemäer in Altsyrien stehen, die sich mit Ausnahme der fünf syrischen Kriege zwischen den Ptolemäern und Seleukiden im 3. Jahrhundert v. Chr. nicht näher bestimmen lassen (vgl. Dan 11,15). In Jerusalem wurden die Hohenpriestergeschlechter der zadokidischen Oniaden einerseits und der Tobiaden andererseits in diese Auseinandersetzungen hineingezogen. In den zum Teil blutigen Machtkämpfen um das Hohepriesteramt spiegelt sich letztlich die instabile Weltpolitik. Das Kommen des in Sach 9,9 f. angekündigten Friedensmessias und der Neuen Schöpfung zögerte sich also in einer von Kämpfen erschütterten Welt immer weiter hinaus. Entgegen Sach 9,9 f. war nun bewaffneter Kampf geboten! Der gegenüber Sach 12 – 14 spätere Abschnitt Dan 11,5 – 45 zeigt, dass man in Jerusalem diese Vorgänge kannte. Man litt um so mehr unter dem Ausbleiben der weltweit sichtbaren Gottesherrschaft. Dabei gilt Jerusalem sowohl in Sach 12 – 14 als auch in Dan 11 spirituell als das Zentrum der Welt: Das weltgeschichtliche Ringen im 3. Jahrhundert v. Chr. verzögert das Eintreten der Verheißungen von Jes 40 – 55, an deren Gültigkeit die frühe Apokalyptik, besonders das Haggai-Sacharja-Korpus, aber auch Jes 56 – 66 und die Thronbesteigungspsalmen 47.93.95 – 99 festgehalten hatten. Der Gewalt der als Mächte empfundenen Völker setzt JHWH also Gewalt entgegen. In einer aspektivischen oder stereometrischen Weise geschieht dies entweder, ohne dass Juda zuschaden kommt, oder indem es zu einer Überwältigung Jerusalems bzw. des Davididen kommt, zu einem Martyrium, bis dann erst JHWH eingreift. Es gibt im Alten Testament (auch im schon im Targum messianisch gedeuteten Abschnitt Jer 52,13 – 53,12) die Ankündigung eines leidenden Messias!
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Neues Testament: Ein Zitat von 13,7 leitet die Passionsdarstellungen von Markus (14,27) und Matthäus (26,31) ein, um die Zerstreuung der Jünger bei der Gefangennahme Jesu in den Zusammenhang des Gerichtsgeschehens von Sach 13,7 – 9 zu stellen. Zugleich soll aber auch das aus dem Gericht resultierende Heil als Ziel des Passionsgeschehens aus Sach 13,9b assoziiert werden. Die neutestamentlichen Passionsdarstellungen sind der Meinung, das endzeitliche Weltgericht, das die alttestamentliche Apokalyptik angekündigt hatte, sei stellvertretend in Jesus Christus am Kreuz ergangen. Entsprechend muss der von der Apokalyptik infolge des gottgewollten Todes des Messias, des Scheidungs- und Läuterungsgerichtes zur Hervorbringung des Neuen Israel und des Weltgerichtes angekündigte Neue Bund innerhalb einer neu gewordenen Schöpfung Wirklichkeit geworden sein! Das Neue Testament ist der Meinung, dass der »Neue Bund« von Jesus Christus gestiftet und für die Gläubigen Wirklichkeit geworden ist. Ein engerer Bezug zu Sach 13,9 findet sich zunächst im Zusammenhang der Abendmahlsliturgie in Lk 22,20 und 1.Kor 11,25 (vgl. 2.Kor 3,6). Der Bezug zwischen dem Martyrium des Messias und dem Neuen Bund ist hier als von Sach 12 – 14 vorgegeben angesehen worden. Eine Religionsdidaktik, die die innere Logik der Bibel um des Propriums des Neuen Testaments willen für verbindlich hält, wird Wege zur Vermittlung dessen finden.
Das Ziel von Sach 12 – 14 ist die endzeitliche Durchsetzung der Herrschaft JHWHs, der Neue Äon Gewalt, Gegengewalt und Martyrium werden in Sach 12 – 14 zwar dargestellt, fungieren aber lediglich als Voraussetzung zum (in 9,9 f. bereits angekündigten) Ziel der Geschichte, dem endgültigen Anbruch der sichtbaren, universalen Herrschaft JHWHs: »Und JHWH wird König sein über die ganze Erde; an jenem Tage wird JHWH einzig sein und sein Name einzig« (14,9; vgl. V.16 f.).
Dazu gehören sachlich in Sach 14 als Motive das Kommen JHWHs (bzw. des Messias) vom Osten her (V.4 – 5; vgl. Ez 43,1 – 12 u. m.), in Verbindung damit eine Verwandlung der Schöpfung, sodass der Zion als Weltberg sichtbar hervorragt (auch in V.10 f.; vgl. Jes 2,2; 40,4 f.), das Ende der gegenwärtigen Weltzeit in Sach 14,6 f. (vgl. Jes 60,19 f.; Revokation von Gen 8,22), in Sach 14,8 die Öffnung einer vom Zion als Weltberg ausgehenden Quelle (vgl. 13,1; Gen 2,10 – 14; Ez 47,1 – 12; Joel 4,18 u. m.), die wie die soteriologisch und reinigend wirkende Quelle von Sach 13,1 zweigeteilt ist, und das Ende von Martyrium und Fremd-
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bestimmtheit von Jerusalem in 14,11 – Sach 13,7 – 9 zielt, wie bereits ausgeführt, auf eine Restitution Israels, den Neuen Bund innerhalb einer Neuen Schöpfung. Es gehört zum aspektivischen Charakter von Sach 9 – 14, dass den Völkern, deren Vernichtung JHWH in 12,9 angekündigt hatte, in 14,16 – 19.20 f. (als inhaltliche Fortführung von Jes 40 – 55) Anteil am Heil Israels eröffnet wird: »Und es wird geschehen: Jeder Übriggebliebene von allen Völkern, die gegen Jerusalem gekommen sind, die werden Jahr für Jahr hinaufziehen, um den König JHWH der Heerscharen, anzubeten und das Laubhüttenfest zu feiern.«
Nicht nur liegt mit der Erwartung eines universal gefeierten Laubhüttenfestes innerhalb des Sacharjabuches eine inhaltliche inclusio mit 2,14 – 17 vor, diese Erwartung ist vielmehr auch bezeugt in Psalm 87 und vor allem dem Thronbesteigungspsalm 96.24 Vorexilisch wurde beim Laubhüttenfest die Sinaioffenbarung vergegenwärtigt (Lev 23,41 f.). Seine Wertschätzung drückt sich bereits in der Bezeichnung »das Fest JHWHs« (Lev 23,33 – 36.38 – 43) aus. Die demgegenüber erhöhte Gewichtung des Laubhüttenfestes in 2.Makk 10,1 – 8 (als Fest der Wiederherstellung Israels) und im Jubiläenbuch (16,20 ff.; vgl. Jos.ant VIII,100) lassen die universalistische Erwartung erkennen, die im nachexilischen Judentum mit dem Laubhüttenfest verbunden war (Stuhlmacher, 1999: 101 f.): Verwirklicht hatten sich aus den Ankündigungen von Deuterojesaja unmittelbar nach dem Exil die Rückführung einer größeren Volksmasse und der Tempelbau, ausgeblieben aber waren die volle Aufrichtung der Gottesherrschaft, die Wiederherstellung der zwölf Stämme Israels und die Bekehrung der Welt zu JHWH durch die von Jes 40 – 55 verkündete Prozession JHWHs und seines Volks zum Zion. Man sah sich nachexilisch also zwischen den Zeiten: Zwar feierte man beim Laubhüttenfest die Thronbesteigung JHWHs, die Gottesherrschaft, das (positiv zu verstehende) Weltgericht und die Bekehrung der Völker zu JHWH, aber die äußerlich sichtbare Verwirklichung all dessen stand noch bevor. Das Neue Testament ist schließlich in Mt 28,16 – 20 (der letzten Inthronisationsdarstellung Jesu mit einem Sendungsauftrag als Thronrede; Pola, 2013a) der Meinung: Diese Traditionen erfüllen sich, unter christologischem Gesichtspunkt signifikant modifiziert, vgl. P. Stuhlmacher:
24 Ps 87: Die zum Zion strömenden Völker fassen sich als auf dem Zion geboren auf. – Ps 96: Die Rückkehr der Judäer zum Zion ist erfolgt, nun wird die Rettung durch JHWH den Völkern verkündet. Auf dem Zion beginnt die Neue Schöpfung (Förg, 2012). – »Wir haben bei Deuterojesaja, in Ps 87 und 96 die Konzeption einer von Jerusalem ausgehenden Völkermission vor uns, die das Ziel hat, die ἔθνη (= «Völker«; Th.P.) zur Einsicht ihrer geistlichen Herkunft vom Zion zu führen« (Stuhlmacher, 1999: 102 f.).
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»Vergleicht man Mt 28,16 – 20 mit den auf dem Laubhüttenfest alljährlich erinnerten Traditionen, sieht man, daß der Text diese Traditionen christologisch variiert. Die (elf) Jünger bilden den Kern des neuen Israels, und sie werden vom erhöhten Christus beauftragt, das Evangelium von der Gottesherrschaft zu allen Völkern hinauszutragen (vgl. Mt 24,14 mit Mk 13,10). Durch die weltweite Mission der Apostel sollen alle Menschen konfrontiert werden mit der Heilsbotschaft von der Herrschaft Gottes, die durch den Auferstandenen schon gegenwärtig repräsentiert wird und ihrer endgeschichtlichen Durchsetzung entgegensieht. Die abschließenden Worte Jesu: ›Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der (Welt-)Zeit‹ verheißen den Jüngern den wirksamen Beistand des erhöhten Menschensohnes auf dem gefahrvollen Weg der Völkermission: Sie wird von seinem Geist getragen sein (vgl. Mk 13,11 par.). Die Beistandsformel blickt aber auch schon auf das Ende dieses Äons voraus. In Mt 23,39 wird auf die endzeitliche Wiederkunft (des Menschensohnes) mit Zitat von Ps 118,26 hingewiesen, und in Mt 24,29 – 31 wird das Parusiegeschehen näher entfaltet. An seinem Ende wird der mit den Wolken des Himmels kommende Menschensohn seine Engel aussenden, und diese werden die Auserwählten aus allen Himmelsrichtungen ›zusammenführen‹ (ἐπισυνάγειν)« (Stuhlmacher, 1999: 103).
Vorläufiges Fazit: Die Erfahrung verlustreicher gewaltsamer Auseinandersetzungen in der Ptolemäerzeit einerseits und das damit einhergehende Ausbleiben des Anbruchs der Herrschaft JHWHs sind der Hintergrund für die Ankündigung in Sach 9 – 14, dem Eingreifen JHWHs und dem Ende der Geschichte werde ein furchtbarer Endkampf aller Völker gegen Jerusalem vorausgehen. Zum Ziel des Geschehens gehört aber in stereometrischer Weise auch das Heil für diejenigen Völker, die JHWH als ihren Gott anerkennen.
Die von JHWH gewollte Gewalt der Makkabäer und Hasmonäer in der Septuagintafassung des Buches Sacharja Die mit Sach 9 einsetzende Linie der Aktualisierung setzt sich in der Textgeschichte, besonders im griechischen Sacharjabuch fort (im 2. Jh. v. Chr. zusammen mit den anderen Übersetzungen des Zwölfprophetenbuchs entstanden; s. u.). Dabei hat man auch Sach 1 – 6 im Lichte von Sach 9 – 14 gelesen. Woran wird dies erkennbar? Die theologisch wichtigste, das Buch strukturierende Änderung gegenüber dem hebräischen Konsonantentext findet sich innerhalb 14,12 – 21 in V.14 (Pola, 2008): Aus dem Stamm »Juda« wird im Griechischen die Person »Judas« (in manchen Handschriften sogar ὁ Iουδας; bloßes Iουδας auch in Ps 60,9 [Septuaginta] = 108,9 [Septuaginta]). Wenn dieser »Judas« mit der aufsteigenden hasmonäischen Dynastie zu identifizieren wäre (Schaper, 1995: 42 – 45), könnte also auch die Septuaginta des Sacharjabuches die Gestalt von Judas
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Makkabäus (1. Makk 2 u. ö.; gest. 161/160 v. Chr.) als Rettergestalt vor Augen haben. Vier weitere Akzentsetzungen im griechischen Sacharjabuch gegenüber dem hebräischen bestätigen die auf Judas Makkabäus bezogene Aktualisierung: Erstens umschließt mit dem Verb παρατάσσομαι (»sich in Schlachtordnung aufstellen, sich rüsten«) militärische Terminologie das griechische Sacharjabuch: Aus Sach 14,3 (Septuaginta; vgl. auch V.14!) ist παρατάσσομαι gegen den Konsonantentext nach Sach 1,6b (Septuaginta) eingedrungen (vgl. 8,15): Der Übersetzer verbindet offensichtlich die eschatologische Gerichtstheologie der Kapitel 9 bis 14 mit der Heilsbotschaft von Kapitel 1 bis 8. Für ihn ist es derselbe Kyrios, der für sein Volk eschatologisch Heil bewirkt, aber auch handfest militärisch kämpft. Wenn es in der hellenistischen Gegenwart eine Hoffnung gab, dann war sie militärischer Art! In Sach 14,14 wird darüber hinaus παρατάσσομαι mit Judas (Makkabäus) als Subjekt verwendet. Der anscheinend eschatologisch verstandene sakrale Krieg wird der Sacharja-Septuaginta zufolge sowohl in der unsichtbaren Welt des Kyrios als auch in der sichtbaren Welt durch dessen Repräsentanten, Simon (Makkabäus), geführt. Zweitens: Der Plural ἡμέραι ἔρχονται (»es werden Tage kommen«) in Sach 14,1 (Septuaginta) will zu Beginn des letzten Kapitels des Buches die Gerichtsbotschaft des ersten Schriftpropheten, Amos, aktualisierend assoziieren, da der seltene Plural bei Amos im Konsonantentext von 4,2; 8,11 und 9,13 belegt ist (Jansma, 1950: 128 f.): Das Ziel der einst gegen das Nordreich verkündeten Gerichtsbotschaft von Amos ist innerhalb des griechischen Zwölfprophetenbuchs das apokalyptisch verstandene Weltgericht (Sach 14). Drittens: In Sach 9,9 f. verwandelt die Septuaginta den passiv (aus dem Gericht) geretteten Herrscher des Konsonantentextes in einen aktiven Retter (σῴζων) und macht in V.10 ihn (statt JHWH) zum Subjekt der eschatologischen Waffenvernichtung und der Weltherrschaft im Sinne von Ps 72,8 (s. o.). Sah die Septuaginta also in Judas Makkabäus die aktiv rettende (σῴζων) Königsgestalt von Sach 9,9? Soll ernsthaft Judas Makkabäus weltweit die Waffen vernichten und vom Zion aus eine messianische Weltherrschaft errichten?25 Viertens: Für das aktualisierende Verständnis der Septuaginta auf Judas Makkabäus spräche auch, dass der Kyrios in Sach 12,6 (Septuaginta) »die Anführer einer Tausendschaft Judas wie eine Feuerfackel …« machen will, die gegen die umgebenden Völker gerichtet ist. Aus der »Feuerpfanne« des hebräischen Wortlautes wird in der Septuaginta eine »Feuerfackel«, nun intertextuell verknüpft mit Sach 3,2 (Septuaginta; dort seinerseits aus Am 4,11 zitiert), aber hier 25 Van der Kooij (2003) sieht dagegen aufgrund von Bezügen zu Hos 3,5; Am 9,11 f.; Tob 13,13; 14,5 f.; 1.Makk 14,4 – 15.36 den Hohenpriester Simon (gest. 134 v. Chr.) als den König von Sach 9,9 f. an.
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mit umgekehrter Bedeutung: Hatte Juda in Sach 3,2 (Septuaginta), repräsentiert durch den Hohenpriester, als »Feuerfackel« das Gericht JHWHs im Exil erlitten, so wird in 12,6 (Septuaginta) nun Juda selbst zur »Feuerfackel«, zum eschatologischen, einen Weltenbrand in Gang setzenden Gerichtswerkzeug gegen alle Völker – anscheinend angeführt von Judas Makkabäus. Trotz dieser »Militarisierung« im griechischen Sacharjabuche verstärkt dieses gegenüber dem hebräischen Wortlaut den Heilsuniversalismus, wie aus 2,6 f.15 (Septuaginta) und 14,10.13.17 (Septuaginta) ersichtlich ist (Pola, 2008). Fazit: Die Opposition zur gewaltsamen Hellenisierungspolitik des Seleukiden Antiochus IV. (175 – 164 v. Chr.) hat sich literarisch im anerkannt apokalyptischen Danielbuche, insbesondere in Dan 7 – 12, niedergeschlagen. Die Aufwertung des Militärischen in der aktualisierenden Septuagintawiedergabe des Sacharjabuches aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. überrascht daher nicht. Allerdings konnte der Übersetzer des Zwölfprophetenbuchs dabei besonders von der Vorlage der apokalyptischen Kapitel Sach 9 f. und 12 bis 14 ausgehen. Es versteht sich von selbst, dass das Neue Testament die auf den militärischen Kampf bezogenen Aktualisierungen der Sacharja-Septuaginta nicht übernommen hat (Mt 21,5; vgl. Joh 12,5).
Folgerungen und Ausblick Die alttestamentliche Apokalyptik – zumindest im hier grob überschauten Sacharjabuche – will trösten. Sie scheint von Betroffenen (einer Anfechtung bzw. Verfolgung durch die jeweilige Weltmacht) für entsprechende Betroffene geschrieben zu sein. Als die einst von Deuterojesaja angekündigte Wende zum Neuen Äon weder mit der Tempelweihe 515 v. Chr. noch mit dem Siegeszug Alexanders des Großen eintrat und sich vielmehr mit den verlustreichen Kämpfen um die langsam zurückgehende Herrschaft der Ptolemäer in Altsyrien im 3. Jahrhundert v. Chr. immer weiter hinzog, wuchs die Erkenntnis, es sei JHWHs Wille, dass der Wende zum Neuen Äon schwere Kämpfe, ja sogar das Martyrium der Bewohner Jerusalems und des Davididen vorangehen müssen, ja, dass JHWH selbst den gewaltsamen Tod des davidischen Hirten und die Zerstreuung von dessen »Herde« befiehlt. Das von Deuterojesaja vorgegebene Ziel des Weltgeschehens bleibt aber unverrückt: die für alle Völker sichtbare und von ihnen anerkannte Herrschaft JHWHs und des davidischen Messias vom Zion aus über ein restituiertes Israel und der sich zu JHWH bekennenden Völker innerhalb einer Neuen Schöpfung. Paradoxerweise ist also die Steigerung des Gewaltmotivs innerhalb von Sach 9 – 14 kein Widerspruch zum Motiv der eschatologischen Waffenvernichtung durch den Friedensmessias in Sach 9,9 f. Man
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hat nur trotz aller »Naherwartung« lernen müssen, allen Widerwärtigkeiten zum Trotz wesentlich geduldiger das Kommen des Friedensmessias zu erwarten. Die aktualisierende Septuaginta des Sacharjabuches hat diese Wende allen Ernstes von Judas Makkabäus (gest. 161/160 v. Chr.) und seinen militärischen Mitteln erwartet. Das Neue Testament hat diese Sicht in seinen Zitaten von Sach 9,9 verständlicherweise nicht übernommen (Mt 21,5). Jedoch setzt das Neue Testament in seiner Rezeption der alttestamentlichen und frühjüdischen Apokalyptik die höhere Verbindlichkeit der äußerlich nicht sichtbaren Wirklichkeit voraus, wenn das Neue Testament entgegen der alttestamentlich-frühjüdischen Apokalyptik nicht von einer Ablösung, sondern von einer Durchdringung der Äonen ausgeht: In der Phase des Niedergangs des Alten Äons ist der Neue bereits da. Es herrschen die Römer mit Gewalt, die den Messias Jesus von Nazareth (der bekanntlich äußere Machtmittel ablehnte26) sogar hinzurichten vermögen, obwohl dieser Mk 1,15 par. zufolge den Anbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ (»Gottesherrschaft«) verkündet hat und dies durch mannigfache Bestätigungszeichen von Gott her bis zur Auferweckung am Ostermorgen unterstrichen wird. Erfahren kann das die neutestamentliche Gemeinde dennoch, und zwar analog zu den Betern der alttestamentlichen Thronbesteigungspsalmen: im Gottesdienst als Begegnung mit Gott, Jesus Christus und dem Heiligen Geist. Für die Religionsdidaktik bedeutet das: Das Alte Testament darf nicht verniedlichend auf selektierte Stoffe der Genesis und des DtrG sowie auf die Sozialkritik von Amos verkürzt werden, deren theologischer (also auf Gott bezogener) Anspruch dann auch noch durch eine rein diesseitsorientierte Brille auf das Anthropologische reduziert wird. Ein solcher »Kanon im Kanon« wird hermeneutisch und damit auch religionsdidaktisch dem Selbstverständnis des Alten Testaments und seiner Rezeption im Neuen Testament (in Kontinuität und Diskontinuität) nicht gerecht. Zu diesem Selbstverständnis der Bibel gehören daher theologisch und religionsdidaktisch das späte Alte Testament und damit die Apokalyptik. Wenn es die Apokalyptik war, die den Abschluss des hebräisch-aramäischen Kanons im 1. Jahrhundert n. Chr. und die Entstehung des Neuen Testaments zur Folge hatte, da ihr Inhalt als nicht mehr steigerbar angesehen worden war,27 ist sie sowohl als Ziel der alttestamentlichen Erwartung als auch als Inhalt der neutestamentlichen Erfüllungsdarstellungen tragender Bestandteil der gesamtbiblischen Botschaft,
26 Der irdische Jesus hat auf äußere Mittel zur Durchsetzung des Gottesreiches grundsätzlich verzichtet, weil der Gottesherrschaft in der Neuen Schöpfung nur der gewaltlose Weg gemäß ist: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt« (Joh 18,36). 27 Gese, 1987.
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auch wenn diese im Alten Testament sich »vielfach und auf vielerlei Weise« (Hebr 1,1), also aspektivisch, gibt. Was wird denn theologisch und damit auch religionsdidaktisch mit der Herausarbeitung des Apokalyptischen anders? Exemplarisch sei genannt: Die Bedeutung der Gottesreichsverkündigung Jesu: Den Evangelien zufolge vollzieht Jesus von Nazareth während seines irdischen Wirkens die Aufrichtung der Gottesherrschaft (βασιλεία τοῦ θεοῦ), der Apokalyptik zufolge dem Ziel der Geschichte. Dies erfolgt durch Jesu Gottesreichs-Verkündigung (Mk 1,15 par.). Da jede Heilsbotschaft eines Bestätigungszeichens von Gott her bedarf, tut Jesus selektiv (!) Wunder. Daraus folgt: Die Wunder dürfen religionsdidaktisch keinen isolierten Selbstzweck bekommen, sondern sie müssen als der Gottesherrschafts-Verkündigung Jesu untergeordnet vermittelt werden. Ihr selektiver Charakter (Lk 4,25 – 27) und die apokalyptische Unterscheidung zweier Wirklichkeiten verbieten, aus der Wundertätigkeit Jesu individuell für die äußerlich sichtbare Wirklichkeit einen Heilungs- oder Auferstehungsanspruch abzuleiten. Dies gilt nicht für ohnehin spirituelle Größen wie besonders der Vergebungszusage, aber auch der individuellen eschatologischen Neuwerdung »in Christus« bei Paulus (2. Kor 5,17; Gal 2,20; 6,15). Jesus als Gott und Mensch zugleich: Vor dem Hintergrunde der alttestamentlichen und frühjüdischen Apokalyptik (Dan 7; äth. Henoch 46,1 – 8; 48,1 – 10) erweist sich daher jede Vorbild-Christologie (»Jesus war der beste Mensch, der je gelebt hat«) als dem Anspruch des Neuen Testaments unangemessen. Der auf der Seite Gottes stehende Messias von Sach 9,9 f. wurde im Neuen Testament entsprechend christologisch rezipiert (s. o.). Jesus ist den kanonischen Evangelien zufolge Gott und Mensch zugleich. Auch dem Judentum zufolge kann nur Gott selbst Sünden vergeben. Daher darf die Religionsdidaktik Jesus nicht allein auf die Seite der Menschen ziehen, auch, wenn dies für die säkular geprägten Schüler leichter vermittelbar ist. Aber darf die Leichtigkeit der Vermittlung ein Argument für eine karikierende Verkürzung des elementaren Inhalts sein? Notwendige Gewalt durch Jesus und durch Gott: Die Frage »Warum musste Jesus leiden?« entzieht sich einer vollständigen Beantwortung. Das Neue Testament, für sich genommen, beantwortet die Frage nicht, sondern verweist auf das Alte Testament.28 Für Sach 13,7 (in seinem Zusammenhang) geht die Gewalt gegen den davidischen Messias von Gott selbst aus. Mk 14,27 und Mt 26,31 leiten ihre Passionsdarstellungen mit einem Zitat von Sach 13,7 ein, um die Zerstreuung der Jünger auf dem Ölberg in den Zusammenhang des Gerichtsgeschehens 28 »Und er sprach zu ihnen [den nach Emmaus wandernden beiden Jüngern; Th.P.]: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen (!) Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen (!) Schrift von ihm gesagt war« (Lk 24,25 – 27; vgl. Apg 8,30 – 35).
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von Sach 13,7 – 9 zu stellen. Vor allem soll Markus und Matthäus zufolge aus Sach 13,9b das Ziel des Passionsgeschehens, das aus dem Gericht resultierende Heil, vergegenwärtigt werden. Das endzeitliche Weltgericht (!) der Apokalyptik ist den kanonischen Evangelien zufolge stellvertretend in Jesus Christus am Kreuz ergangen. Gewalt durch Gott gegen den Messias ist die Grundlage des christlichen, des universalen Heils (so auch in Jes 52,13 – 53,12):29 Die Religionsdidaktik darf Gott als »gewaltig« und als pro nobis Gewalt ausübend nicht ausklammern. Die kompromisslose Gewalt Jesu gegen die Dämonen restituiert den betroffenen Menschen einen protologisch intakten Zugang zu Gott. Der traditionsgeschichtliche Hintergrund dazu ist der Sieg JHWHs gegen die als negative spirituelle Mächte empfundenen Völker in der Apokalyptik. Die Bedeutung der Unterscheidung zweier Wirklichkeitsebenen in der Apokalyptik: Im Kult, im Gottesdienst, wird bereits in äußerlich unsichtbarer Weise erfahrbar, was draußen in der Welt noch nicht zu sehen ist und was die Thronbesteigungspsalmen 47, 93 und 95 – 99 auf ihre Weise bezeugen:30 die weltweit sichtbare Herrschaft JHWHs vom Zion aus über die Ihn anbetenden Völker. Dass Gott also inmitten seiner Gemeinde gegenwärtig ist, der Neue Bund und die Neue Schöpfung schon jetzt als Wirklichkeit erfahrbar sind, setzt im christlichen Gottesdienst besonders die Feier des Heiligen Abendmahls voraus. Jede Religionsdidaktik sollte daher ein Glaubensverständnis vermitteln, das von der höheren Verbindlichkeit der unsichtbaren Wirklichkeit Gottes bestimmt ist. So wird auch für Schüler der christliche Gottesdienst erfahrbar als Begegnung mit Gott und mit Jesus Christus.
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2. Fundamentalismus als Thema jüdischer und islamischer Theologie
Micha Brumlik
Zionistischer Messianismus des Jerusalemer Rabbiners Abraham Isaak HaCohen Kook
Über Jahrhunderte war die Rückkehr des jüdischen Volkes, der Juden in das ihnen ausweislich der Tora von Gott zugesprochene Land, das Land Israel, tatsächlich nur ein frommer Wunsch: etwa, wenn man sich Jahr für Jahr während des Pessachfestes, beim Seder, wünschte: Nächstes Jahr in Jerusalem. Unabhängig davon trifft zu, dass kleine Gruppen von Juden über all die zweitausend Jahre hinweg im Lande Israel lebten, ebenso wie es zutrifft, dass bereits im hohen Mittelalter, etwa bei Jehuda Halevi, eine bedeutende hebräische Lyrik vorliegt, die von Zionssehnsucht kündet. Allerdings: Eine gemeinsame Rückkehr aller Juden ins Land Israel sollte messianischen Zeiten vorbehalten bleiben – und zwar so, dass der von Gott gesandte, künftige Erlöser die Juden zurückführen und ihnen ein gesichertes gottgefälliges Leben garantieren werde bzw. dass mit dieser Rückkehr die Erlösung der Welt anheben werde. Für die erste – nennen wir sie die realpolitische – Variante, steht der mittelalterliche Philosoph Moses Maimonides (1135 – 1204), der den Glauben an den Messias in seinen Glaubensartikeln für verbindlich erklärte, damit allerdings lediglich die Vorstellung verband, dass die Juden gesammelt in einem eigenen Staat und in Sicherheit werden leben können,1 der Lauf der Welt sich aber ansonsten nicht ändern werde. Maimonides’ Messias ist kein eschatologischer Friedensfürst. Anders sein etwas jüngerer Zeitgenosse Nachmanides (1194 – 1270), der in einem jüdisch-christlichen Zeitgespräch unter Berufung auf den Propheten Jesaja mit dem Kommen des Messias die Erlösung der ganzen Welt verband.2 Auf jeden Fall gehen all diese Überlegungen auf das für das Judentum einschneidende Ereignis der Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus sowie die blutige Niederschlagung des Aufstandes des Messias-Prätendenten Simon Bar Kochba3 durch Kaiser Hadrian im Jahre 135 zurück, die das vorerst – bis 1948 – endgültige Ende jeder jüdischen Staatlichkeit im Land Israel markierte. 1 Patai, 1979a: 323 – 327. 2 Maccoby, 2006: 97 – 150. 3 Schäfer: 1981.
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Die jüdische Überlieferung berichtet, dass die dem Tempeldienst skeptisch gegenüberstehenden Schriftgelehrten – aus den Evangelien als »Pharisäer« bekannt – den nationalistischen, von Zeloten geführten Aufstand gegen das Römische Reich ablehnten und Jerusalem noch während der römischen Belagerung verließen, um vom römischen Feldherren eine Kleinstadt als Ort einer gelehrten Akademie zu erbitten. Die Bitte wurde erfüllt, das rabbinische Judentum geboren. Zu registrieren ist aber auch, dass schon während dieses jüdischen Krieges die Mehrzahl der Juden seit Jahrhunderten nicht im Land Israel, sondern diasporisch an den Rändern des Mittelmeers lebte: von den griechischen Inseln bis weit nach Ägypten, nach Alexandria hinein. Schließlich: In Babylon, im heutigen Irak existierte seit Jahrhunderten unter persischer Herrschaft eine große jüdische Minderheit, die sich durch eine bedeutende Gelehrtenaristokratie auszeichnete. Wie – und das war das politisch-theologische Problem, das diese Gelehrten, die Rabbis in Babylonien und im Land Israel umtrieb – war die Zerstörung des Tempels sowie des jüdischen, keineswegs souveränen Staates durch die Römer zu deuten? Und vor allem: Welche Konsequenzen waren aus diesem Ereignis zu ziehen? Die meisten Rabbis deuteten den Untergang des judäischen Staates in der Tradition prophetischen Mahnens und Warnens als Strafe Gottes. Gleichwohl war ein Teil der Meinung, dass ein gottgefälligeres Leben führt, wer – und sei es unter römischer Herrschaft – im damaligen »Palästina«, sie nannten es das »Land Israel«, lebte. Übrigens: Bis zum zweiten, gescheiterten jüdischen Aufstand im Jahre 135 war der Name der Provinz »Judäa« – erst danach benannten die Römer diese Provinz in »Palästina« um. Jesus zum Beispiel war also ein »Judäer«, mit Sicherheit kein »Palästinenser«. Andere Rabbinen, vor allem jene, die im fernen Babylon wirkten, wollten es freilich alleine Gott und dem dereinst von ihm gesandten Erlöser, dem Messias, vorbehalten sein lassen, das Volk Israel wieder ins Land Israel zu führen. Wer also verstehen will, wie es möglich war, dass zum Beispiel an der Spitze der juden- und israelfeindlichen Al-Quds-Demonstration in Berlin am 25. Juli des Jahres 2014 zwei ultraorthodoxe jüdische Männer marschierten, kommt um einen genaueren Blick auf die Geschichte der Juden nicht umhin. Denn: Die jüdischen Anführer der Al-Quds-Demonstration, Mitglieder vor allem in den USA und in Jerusalem lebender Sekten, sind ebenso fundamentalistisch gegen einen jüdischen Staat wie jene im Westjordanland siedelnden Juden fundamentalistisch daran glauben, dass nur die Besiedlung des Landes die Erlösung bringen wird. Die Siedler freilich beziehen sich nicht – wie die jüdischen Antizionisten – auf eine talmudische Überlieferung, sondern auf die Eroberungsgeschichten aus den fünf Büchern Moses und dem Buch Josua. Das Credo der ultraorthodoxen Antizionisten findet sich in einem talmudischen Traktat. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich der Talmud in striktem Gegensatz zu den Dogmen und Glaubensbekenntnissen der Kirchen durch einen offenen und
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freizügigen Pluralismus, was die göttlichen Dinge angeht, auszeichnet. Das rabbinische Judentum ist Orthopraxie – es ringt um Eindeutigkeit im Handeln, der Deutung und Interpretation sind keine Grenzen gesetzt – im Talmud findet jede Meinung allemal ihre Gegenmeinung. So auch in der Frage jüdischer Macht und Staatlichkeit. Unter Bezug auf eine Passage des kanonischen »Lieds der Lieder«, in der es darum geht, ob die Töchter Jerusalems ihren Geliebten beschwören dürfen – in der rabbinischen Tradition stehen diese Töchter für das Volk Israel, der Geliebte aber für Gott –, wird nun folgende Warnung artikuliert: »Und R. Jehuda!? Es gibt noch einen anderen Schriftvers (Hohes Lied Salomonis 2,7): , ich beschwöre Euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder den Hinden der Flur..‹ Und R. Zera!? Dies bedeutet, daß Israel nicht geschlossen hinaufziehe….. Dies ist wegen einer Lehre des R. Jose b. R. Hanina nötig, welcher sagte, Wozu diese drei Schwüre? Einer, daß Israel nicht geschlossen hinaufziehe, einer, daß der Heilige, gepriesen sei er, Israel beschwor, sich nicht gegen die weltlichen Völker aufzulehnen, und einer, daß der Heilige, gepriesen sei er, die weltlichen Völker beschwor, Israel nicht übermäßig zu knechten.«4
Rabbi Jose ben Hanina brachte dies während der Wende vom 3. zum 4. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung in Galiläa vor, also zur Zeit Konstantins, zu jener Zeit, als das Christentum im römischen Imperium Staatsreligion wurde. Aus dem Kontext gerissen und isoliert betrachtet, stellt die talmudische Passage nichts anderes dar als eine – im modernen Sinne – antizionistische Aussage, die schon im Mittelalter zwischen den Gelehrten Maimonides und Nachmanides streitig war. Virulent und politisch bedeutsam wurde dieser Streit allerdings erst Ende des 19. Jahrhunderts, als mit Theodor Herzl der moderne, der staatsbildende Zionismus im damaligen Palästina entstand. Der Zionismus, ursprünglich eine ganz und gar säkulare Idee, um dem europäischen Judenhass etwas entgegenzusetzen, wurde im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt, um dem traditionellen, der Existenz in der Diaspora verharrenden »Antizionismus« etwas entgegenzusetzen, schließlich auch theologisch gedeutet: Ein bedeutender, aus Litauen stammender, dann in Palästina als Oberrabbiner wirkender Gelehrter, Raw Kook (1865 – 1935), war – von der Lektüre Hegels beeinflusst – davon überzeugt, dass die vermeintliche Paradoxie der Besiedlung des Landes Israel durch atheistische Sozialisten Teil eines noch nicht verstandenen messianischen Geschehens sei. List der Vernunft! Dagegen standen und stehen andere jüdische Fundamentalisten, etwa die »Satmarer Chassidim«, die – man mag es kaum glauben – gemäß der Lehre ihres Gründers, Yoel Teitelbaum (1887 – 1979), den Holocaust als Strafe Gottes für die Selbstermächtigung der Juden in Reformjudentum und Zionismus deuteten und – man
4 Babylonischer Talmud, Traktat Ketubot [Heiratsurkunden] 111 a.
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schaue auf die Ultraorthodoxen an der Spitze der Al-Quds-Demonstration – dies bis heute beglaubigen: Seite an Seite mit Juden- und Israelfeinden. Abraham Isaak HaCohen Kook, geboren in Litauen und sowohl in der Tradition der rationalistischen, gegen jede Mystik gerichteten Frömmigkeit der sogenannten Mitnagdim als auch der Tradition der Lubavicher Chassidim gebildet, wanderte nach wechselnden Rabbinaten in Weißrussland und Litauen im Jahre 1904 ins damalige Osmanische Reich, nach Palästina ein, überstand die Zeit des Ersten Weltkrieges in London und wurde schließlich, 1919, Oberrabbiner Jerusalems und Palästinas, wo er – hochgeachtet – 1935 starb. Es war Kook, der als Erster eine kohärente Variante eines aus religiös-jüdischen Motiven nicht nur gespeisten, sondern sie wesentlich zum Ausdruck bringenden religiösen Zionismus entwickelte und begründete. Ob er sich dabei auch denkerischer Mittel der allgemeinen europäischen Philosophie von Spinoza, Kant, Rousseau, Schopenhauer bis zu Hegel bediente, ist umstritten, da nicht direkt nachweisbar. Freilich lässt sich – wie sogleich zu zeigen ist – die Konstruktion seines messianisch gedeuteten Zionismus ohne den Rückgriff auf eine Art Dialektik im Sinne Hegels gar nicht entfalten. Umgekehrt ist einzuräumen, dass auch Hegel und seine Dialektik von – über den schwäbischen Pietismus vermittelten – Impulsen der Kabbala gespeist sind.5 Kook, der sich in seiner Funktion als Oberrabbiner Palästinas auch in streitigen Fällen stets für die atheistischen, sozialistischen Zionisten einsetzte, stand also vor der Aufgabe, deren auf einer vermeintlich atheistischen Überzeugung beruhendes sozialistisches Aufbauwerk mit den Mitteln der Kabbala hier und einer nun doch modern anmutenden Geschichtsphilosophie mit den Grundkategorien des Universalen und des Partikularen zu begründen und beides zugleich noch in überzeugender Weise mit der messianischen Tradition zu verbinden. Zum Erreichen dieses Zwecks bedient sich Kook einer modernen, dem Idealismus, vor allem Hegel entlehnten Methode, einer historischen Dialektik, bezieht sich dabei aber thematisch und semantisch auf mindestens zwei jüdische Traditionen, deren eine noch der späten Antike entstammt, während die andere, die lurianische Kabbala und ihre Fortsetzung im chassidischen Denken von Salman Schneur von Lyadi, im 18. Jahrhundert entfaltet worden sind. Der ersten Tradition geht es darum, zwei Gestalten des Messias zu identifizieren, den Messias ben David sowie den Messias ben Joseph. In seinem Buch »Orot«6, postum 1961 publiziert, identifiziert Raw Kook den modernen jüdischen Nationalismus gewissermaßen mit der Gestalt des Messias ben Joseph7 und ordnet ihn typologisch der Kategorie des Partikularen zu.8 Die 5 Vgl. Magee, 2001; Schulte, 2014. 6 Kook, 1961. 7 Vgl. Patai, 1979b: 165 – 170.
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Spaltung der Gestalt des messianischen Königs in einen Messias ben Joseph und einen Messias Ben David findet sich etwa im Babylonischen Talmud, im Traktat Sukka, 52 a, wo es im Zusammenhang mit Trauerbräuchen von Frauen heißt: »Welche Bewandtnis hat es mit der Trauer? Hierüber streiten R. Dosa und die Rabbanan, einer sagt, um den Messias, den Sohn Josephs, der dann getötet wird, und einer sagt, um den bösen Trieb, der dann getötet wird. Einleuchtend ist es nach demjenigen, welcher sagt, um den Messias, den Sohn Josephs, der dann getötet wird, denn es heißt: sie werden auf den blicken, den sie durchbohrten und um ihn trauern, wie man um den Einzigen trauert, wieso aber trauern sie nach demjenigen, welcher sagt, um den bösen Trieb, der dann getötet wird, dieserhalb sollte man ja ein Fest veranstalten und nicht weinen.«
Der Talmud zitiert hier aus dem Buch des Propheten Zacharias, wo es tatsächlich heißt: »… und sie blicken auf zu mir – mit dem, den sie durchbohrt haben.« Diese Passage hat später mit der Passionsgeschichte Jesu Eingang in die Evangelien gefunden – die ganze Tradition des Messias ben Joseph hat den Judaisten Peter Schäfer vermuten lassen, dass – historisch gesehen – das rabbinische Judentum wesentlich vom frühen Christentum geprägt wurde.9 Dieser Gestalt, die unwiderruflich zum Tode verurteilt ist, stellten die Rabbinen schließlich den wahren, den den Gang der Geschichte erlösenden, abschließenden Messias ben David entgegen, von dem es etwa in der erwähnten talmudischen Passage heißt, dass er »noch in unseren Tagen« erscheinen wird. Das lässt sich so lesen, dass Erscheinen und Untergang des Messias ben David eine (notwendige) Vorbedingung für das Auftreten des Messias ben Joseph ist. Raw Kook aber identifiziert den modernen, partikularen, jüdischen Nationalismus, also den Zionismus, mit genau diesem Messias ben Joseph: »Daher« so Raw Kook in »Orot«, ist der Messias ben Joseph dazu bestimmt, getötet zu werden, während das wahre, das ewige Königreich das des Messias ben David sein wird. Und wenn das Streben nach dem Universalen in der Verneinung der nationalen Isolation besteht, dann bedarf es nur eines weiteren Schritts und das Böse wird auch im Leben der Individuen ausgemerzt sein. Daher gehören die Verneinung des bösen Triebes und das Töten des Messias ben Joseph zusammen. Daher streiten die Weisen über die Bedeutung des Verses »und sie werden den einen sehen, der getötet wurde« – und zwar darüber, ob er sich auf den Messias ben Joseph oder auf den bösen Trieb bezieht.«10 Tatsächlich beglaubigte Kook in einer anderen Schrift unter Bezug auf die Kabbala, dass zumal Menschen, Juden, die den traditionellen Glauben zurückweisen, Menschen, die äußerlich schlecht seien – gerade weil sie jener Generation angehören, die dem Kommen des 8 Vgl. Belfer, 1995: 261. 9 Vgl. Schäfer, 2010. 10 Kook, 1961: 160.
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Messias vorangeht -, innerlich gut sind. Es sind diese Juden, die atheistischen, sozialistischen Pioniere des frühen Zionismus, die dieser Generation angehören und daher – mitsamt ihrem politischen Projekt, einer jüdischen Nationalstaatsgründung in Palästina, als prozessuales, historisches Gegenstück zum »Messias ben Joseph« gelten können. Diese Annahme, die für Kook, den Oberrabbiner Palästinas, politisch auf nichts anderes hinauslief als darauf, den sozialistischen Zionismus, dem die Orthodoxie feindlich gegenüberstand, theologisch zu legitimieren, wurde von ihm durch eine zweite Gedankenreihe, die er der chassidisch weiterentwickelten Kabbala entnahm, verstärkt. Gemäß der im 17. Jahrhundert von Rabbi Isaak Luria entwickelten Theosophie entstand die Welt nicht durch einen kreativen Schöpfungsakt Gottes, sondern durch seinen Rückzug in sich selbst: Diese als »jüdische Mystik« geltende Metaphysik lehrt, dass die Welt nicht durch einen Befehl Gottes aus dem Nichts entstanden ist, sondern dadurch, dass Gott sich in sich selbst zusammengezogen hat, um so Raum für die Welt zu schaffen. Der so entstandene Raum wies Gefäße göttlichen Lichts auf, die schließlich zerbrachen, sodass die Welt gleichsam eine Schutthalde darstellt, unter deren Trümmern sich verborgene Funken göttlichen Lichts finden. Die theologische Rechtfertigung des profanen Zionismus setzt nun bei einer Philosophie eben jener Trümmer an, also jener Schalen, jener »Klippot«, in denen und unter denen göttliches Licht, ja Bestandteile der in die Welt verbannten Gottheit verborgen sind. Es war einer der großen Meister des Chassidismus, Schneur Salman von Lyadi (1745 – 1812), der hieran eine theosophische Spekulation knüpfte, – ich referiere deren Prinzipien nach den Ausführungen von Jerome Gelman11: 1. Was niedrig und klein erscheint, ist in Wahrheit sehr hoch, was aber »hoch« erscheint, in Wahrheit sehr niedrig. 2. In baldiger Zeit wird sich die wahre Realität enthüllen. 3. Je niedriger etwas erscheint und deshalb von großer Heiligkeit ist, umso geringer ist seine eigene individuelle Ausprägung und umso stärker seine allgemeine Natur. 4. Die Potenz der unterdrückten Heiligkeit drückt sich innerweltlich in verhüllter Form aus. Als Beispiel dafür gilt die große Kraft der »animalischen Seele« im Gegensatz zur schwächeren Kraft der »göttlichen« Seele. 5. Daher lässt sich Kraft für heilige Dinge unzweifelhaft aus Dingen beziehen, die niedriger erscheinen: Wasser etwa gilt auf den ersten Blick als niedriger denn eine Person und ihre gottgefälligen Vorhaben – ein zweiter Blick zeigt, dass »Wasser« spirituell gesehen höher steht als die menschliche Seele.
11 Gelman, 1995: 281 f.
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Diese Prinzipien hat Raw Kook mehrfach beglaubigt: »Die Heiligkeit im Profanen, das herniedergestiegen ist zur völligen Unheiligkeit, ist erhabener und heiliger als das Heilige im Heiligen, nur daß es höchst verborgen ist.«12 Als politisch denkender Theologe war Raw Kook mit dem Problem des Widerstreits zwischen atheistischem Zionismus und ablehnender Mehrheitsorthodoxie befasst, ein Widerstreit, der sich topographisch als Widerstreit von »Zion« (säkulares Streben nach jüdischem Leben im Land Israel) sowie »Jerusalem« (halachisches, gottgefälliges Leben im Land Israel) manifestierte. Tatsächlich dachte Kook selbst über die Gründung einer »jerusalemistischen« im Unterschied zu einer »zionistischen« Bewegung nach – mit dem Ziel, vor allem die Orthodoxie und ihre Anhängerschaft für die Gründung eines jüdischen Nationalheims im Palästina zu gewinnen. Allerdings: Vor dem Hintergrund seiner theosophischen Spekulationen über das Verhältnis von »hoch« und »niedrig«, von »profan« und »heilig« musste er am Ende zu dem Schluss kommen, dass die profanen Bemühungen der atheistischen Sozialisten theosophisch gesehen höher standen: »Die Frage Jerusalems – im Vergleich zu Zion – wird in der Kraft der Heiligkeit hienieden offenbart, weil sie – im Unterschied zum Zion eine äußerliche Frage darstellt.«13 In einer geradezu an Hegels Metaphysik des Staates erinnernden, ja sie sogar noch übertreffenden Manier beschwört er die Heiligkeit jedenfalls einer künftigen, jüdischen Staatlichkeit: »Die Tätigkeit des Staates gehört zu den höchsten Offenbarungen der Heiligkeit und weil sie so heilig ist, kann sie nicht offen scheinen, in einem Licht, dem offene Heiligkeit eignet.«14 Aus alledem folge, so jedenfalls Jerome Gelmans Deutung, dass nach Kooks Überzeugung der jüdische Staat keineswegs nur ein Mittel zum Zweck der Durchsetzung religiöser Ziele sein könne, sondern dass er ein Selbstzweck sein müsse – nicht in einem staatsmetaphysischen Sinn, sondern in dem Sinne, dass sich wahre Heiligkeit im Staat selbst manifestiere. Andererseits schrieb Kook in einer zunächst beinahe an Kant erinnernden Nüchternheit: »Ein Staat stellt nicht die höchste Glückseligkeit der Menschheit dar. Das ließe sich über einen normalen Staat sagen, aber nicht über einen Staat, der in seiner Gründung idealistisch ist, einen Staat, der in seine Existenz den höchsten Gehalt des Ideals gemeißelt hat. Ein solcher Staat steht auf der Leiter der Glückseligkeit wahrlich am
12 Zit. in Gelman, 1995: 280 (eigene Übersetzung). 13 Gelman, 1995: 280 (eigene Übersetzung). 14 Gelman, 1995: 281 (eigene Übersetzung).
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höchsten. Und unser Staat, der Staat Israel ist solch ein Staat, Quelle von Gottes Sitz in der Welt.«15
Freilich setzt diese messianologische Legitimation des zionistischen Staatsgründungsprojekts noch eine dritte intellektuelle Operation voraus, nämlich die Entpersonalisierung und damit Prozessualisierung des Messiasgedankens – eine Gedankenoperation, die seit der späten Antike zumindest mit den sogenannten »Wehen des Messias«, also mit einer Zunahme des Leidens vor seinem Eintreffen rechnete. Dabei galt der Messias aber immer noch als eine menschliche Person. Es war das Reformjudentum des (frühen) 19. Jahrhunderts, das die Umwandlung des Messiasgedankens vorantrieb: So erklärte etwa die im Jahr 1885 beschlossene »Pittsburgh Platform« des US-amerikanischen Reformjudentums: »We recognize in the modern era of universal culture of heart and intellect the approaching of the realization of Israels great messianic hope for the establishment of the kingdom of truth, justice and peace among all men. We consider ourselves no longer a nation, but a religious community, and therefore expect neither a return to Palestine, nor a sacrificial worship under the sons of Aaron, nor the restauration of any of the laws concerning the Jewish state«16
Freilich zeigt schon die im Jahr 1937 beschlossene Erklärung von Columbus/Ohio eine mindestens in Bezug auf die jüdische Heimat – gemeint ist das Land Israel, das damalige Palästina, – veränderte Haltung: Nun wird ganz im Sinne des Kulturzionismus von Achad Haam das jüdische Nationalheim sowohl zur Rettung für die Verfolgten als auch zum spirituellen und intellektuellen Zentrum des Judentums erklärt. Während in der jüdischen Philosophie der Jahrhundertwende, etwa bei Hermann Cohen, der Messias zum Idealbild einer vom Leiden der Welt zu erlösenden Menschheit wird,17 erklärten die radikalen Vertreter eines reformierten Judentums, etwa Mordekhai Kaplan, im Jahr 1956: »We can no longer believe that any person or semi-divine being, is divinely destined to rule as the Messiah and usher the millenium. Nevertheless, the idea of the Messiah can still figure symbolically to express the valid belief in the coming of a higher type of man than this world has yet known.«18
Doch ging Avraham Kook auch diesen – sichtlich von Nietzsche inspirierten – Weg einer Prozessualisierung und Symbolisierung der Gestalt des Messias nicht. Kooks messianischer Zionismus oder eben zionistischer Messianismus setzt sich vielmehr aus fünf unabhängig voneinander funktionierenden Argumentationsfiguren zusammen: 15 16 17 18
Gelman, 1995: 284 (eigene Übersetzung). O.V., 2007. Vgl. Grözinger, 2009: 649. Vgl. o. V., 2007.
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1. Die Prozessualisierung – nicht die Symbolisierung – der Gestalt des Messias in eine realhistorische Bewegung von Juden, die schließlich in einen ganz und gar wirklichen Staat münden soll; 2. eine lurianische Mystik der Dialektik von Heiligem und Profanem, von Unscheinbarem und vermeintlich Heilig-Bedeutendem sowie 3. eine der spätantiken rabbinischen Tradition entnommene Dialektik von Messiah ben Joseph und Messiah ben David … 4. Hinzu kommen zwei weitere Überlegungen in Bezug auf den nicht zuletzt unter den sozialistischen Pionieren in Palästina weitverbreiteten Atheismus, dem Kook eine reinigende und aufklärende Wirkung auf ein falsches Gottesverständnis zuspricht. 5. Hält Kook – im Unterschied zu Reformjudentum und Neoorthodoxie – daran fest, dass Israel als Volk seiner göttlichen, im Bund vom Sinai eingegangenen Verpflichtung einzig und allein im Land Israel nachkommen kann.19 Zusammengenommen lässt sich Kooks messianologische Legitimation der zionistischen Staatsgründung dann so artikulieren: Die sinaitische Verheißung legt fest, dass nur das partikulare Volk Israel in seinem partikularen Land Israel seiner Verpflichtung, der Welt ein Licht und ein Volk von Priestern und Heiligen zu sein, erfolgreich nachkommen kann. Dazu ist es unerlässlich, im Land Israel zu leben und dieses Leben auch zu schützen und für die Juden der Welt zu garantieren. Dieser – auf die Menschheit als Ganzes bezogene – Prozess ist aber ein realhistorischer Prozess. Jene, die diesen realhistorischen Prozess tatsächlich durchführen, sind Angehörige des jüdischen Volkes, Männer und Frauen, deren Gesinnung atheistisch ist. Ihr Atheismus erweist sich gegenüber der oft erstarrten Frömmigkeit der Orthodoxie als reinigender Impuls und somit – gemäß der lurianischen Lehre von der Dialektik des Heiligen und Profanen – im Endeffekt als heiliger denn der konventionelle orthodoxe Glaube und die ihm entsprechende quietistische Praxis. Die im Letzten heiligere säkulare Praxis der Staatsgründung erweist sich als jene messianische Größe, die die rabbinische Tradition als den vorläufigen, den schließlich scheiternden und sterbenden Messias ben Joseph identifiziert hatte. Erst ihr Scheitern ermöglicht Erscheinen und Auftreten der letzten, nun wirklich erlösenden Gestalt, des Messias ben David. Avraham Kook dekretierte daher, dass kein Zweifel daran bestehen könne, dass der Zionismus der Beginn der Erlösung sei – Atchalta D’Geula – die bald, noch in unseren Tagen eintreten werde.20 Es fragt sich nun, ob Avraham Kook als den Staatsgründungsprozess aktiv unterstützender Zionist diese Konstruktion tatsächlich widerspruchsfrei auf19 Belfer, 1995: 266. 20 Sprinzak, 1991: 45.
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rechterhalten kann oder ob nicht – so meine Überzeugung – seine Argumentation in mehrfacher Hinsicht entweder mehrdeutig oder in sich widersprüchlich und damit denn doch unhaltbar ist. Zunächst ist ein moraltheoretischer Einwand zu erheben: Die von Kook zur Legitimation der atheistischen Aufbauarbeit ins Spiel gebrachte lurianische Dialektik von »heilig« und »profan« erweist sich, denkt man sie konsequent zu Ende, als ein antinomistisches Programm. Wenn tatsächlich alle Handlungen, die zunächst als geboten und heilig gelten, in letzter Instanz unheilig und verächtlich sind, wenn tatsächlich alle Handlungen, die auf den ersten Blick verächtlich und profan wirken, in letzter Instanz heilige Handlungen sind, dann ist es moralisch – und somit auch politisch – möglich, alle dem Staatsgründungsprozess dienenden Aktivitäten, auch und gerade dann, wenn sie auf den ersten Blick der jüdischen Moral und Ethik widersprechen, zu rechtfertigen. Und tatsächlich erwies sich Avraham Isaak Kook, obwohl auf den ersten Blick als Oberrabbiner Palästinas den Linkszionisten zugeneigt, der zionistischen Rechten verbunden. Im Juni 1933 wurde der aktivistische, arbeiterzionistische Politiker Chaim Arlosoroff am Strand von Tel Aviv von einem Unbekannten erschossen. Als Drahtzieher wurde der zionistische Faschist Abba Ahimeir verdächtigt, als Täter zwei der rechtszionistischen sogenannten Revisionistischen Partei angehörige Männer, Zvi Rosenblatt und Abraham Stavsky. Am Ende wurde allein Stavsky verurteilt; das Urteil aber schließlich vom Obersten Gericht in letzter Instanz aus Mangel an Beweisen aufgehoben. Die prominenteste Stimme unter jenen, die Stavskys Verurteilung kritisierten und sie als eine »Blutbeschuldigung« gegen Juden bezeichneten, war die Stimme Rav Kooks.21 Es muss unentschieden bleiben, ob Kook sich aus allgemeinem Gerechtigkeitsempfinden, aus Kritik am britischen Mandatsregime oder aus aktiver Sympathie mit der rechtszionistischen Bewegung mit Stavsky solidarisierte. Der Dichter Uri Zvi Greenberg lebte von 1896 bis 1981; in seinen Anfängen ein Anhänger des Arbeiterzionismus wurde er in den 1930er Jahren zum Anhänger Wladimir Jabotinskys und dann jüdischer Faschist – Mitglied des »Brit ha Birionim«. Aus seiner Feder stammt das folgende Gedicht, das er nach 1929 der auf Landkauf und Siedlung, nicht aber auf Eroberung eingestellten Arbeitspartei und ihnen nahestehenden Rabbinern, darunter Raw Kook, entgegenhielt: Your Rabbis taught: A land is bought with money You buy the land and work it with a hoe.
21 Eliav, 2007.
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And I say: A land is not bought with money And with a hoe you also dig and bury the dead. And I say: A land is conquered with blood. And only when conquered with blood is hallowed to the people With the holiness of the blood. And only one who follows after the cannon in the field, Thus wins the right to follow after his good plow On this, the field that was conquered. And only such a field gives nourishing and healthy bread And the house which arises on its hill is truly a fortress and a temple, Because in this field there is honorable blood. Your Rabbis taught: The messiah will come in future generations: And Judea will arise without fire and without blood. It will arise with every tree, with every additional house. And I say: If your generation will be slow And will not grasp in its hands and forcibly mold its future And in fire will not come with the Shield of David And in blood will not come with its horses saddled The Messiah will not come even in a far off generation. Judea will not arise.
Die Literatur zu Avraham Isaak Kook setzt sich immer wieder mit der Frage auseinander, ob – und wenn ja wie – sich seine Ansichten von jenen seines Sohnes, Zvi Jehuda Kook, unterscheiden, dem Gründer und Oberhaupt der in Jerusalem gelegenen religiösen Schule »Jeschiwa Merkas ha Raw« und geistiger Führer der Siedlerbewegung Gusch Emunim.22 Tatsächlich kann Gelman ein Zitat Kooks vorbringen, in dem es – ganz im Gegenteil zum Gedicht Uri Zvi Greenbergs – heißt: »When we now return to our land we conquer it not with force and not with the sword, but by peaceful means; we pay good money for each and every inch of land of our land, even though our rights to the land of our holy county have never expired«.23
Das sollte heute – sofern man religiöser Zionist ist – mehr denn je gelten. Die Geschichte des Staates Israel gibt aber Anlass zu der Überlegung, ob Ketuboth 111a nicht doch recht hat.
22 Gelman, 1995. 23 Gelman, 1995: 287.
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Literatur Belfer, E. (1995). The Land of Israel and Historical Dialectics in the Thought of Rav Kook: Zionism and Messianism. In L. J. Kaplan, D. Shatz (Hrsg.), Rabbi Abraham Isaac Kook and Jewish Spirituality (S. 257 – 275), New York und London. Eliav, B. (2007). Art. The Arlosoroff Murder Trial. In F. Skolnik, M. Berenbaum (Hrsg.), Encyclopedia Judaica, Bd. 2 (2. Aufl., S. 471), Jerusalem. Gelman, J. I. (1995). Zion and Jerusalem. In L. J. Kaplan, D. Shatz (Hrsg.), Rabbi Abraham Isaac Kook and Jewish Spirituality (S. 281/282). New York und London. Grözinger, K. E. (2009). Jüdisches Denken. Theologie/Philosophie/Mystik, Band 3, Frankfurt am Main. Kook, A. I. (1961). Orot. Jerusalem. Maccoby, H. (2006): The Vikuah of Nahmanides: Translation and Commentary. In H. Maccoby (Hrsg.), Judaism on Trial: Jewish-Christian Disputations in the Middle Ages (S. 97 – 150). Portland. Magee, G. A. (2001). Hegel and the Hermetic Tradition. Ithaca und London. Schäfer, P. (1981): Der Bar Kokhba-Aufstand. Studien zum zweiten jüdischen Krieg gegen Rom. Tübingen. o. V. (2007). Art. Messiah. In F. Skolnik, M. Berenbaum (Hrsg.), Encyclopedia Judaica, Bd. 11 (2. Aufl., S. 1415). Jerusalem. Patai, R. (1979a). Maimonides on the Messiah. In R. Patai (Hrsg.), The Messiah Texts (S. 323 – 327). Detroit. Patai, R. (Hrsg.) (1979b). The Messiah Texts. Jewish Legends of Three Thousand Years, Detroit. Schäfer, P. (2010). Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Tübingen. Schulte, C. (2014) Zimzum. Gott und Weltursprung. Berlin. Sprinzak, E. (1991). The Ascendance of Israel Radical Right. New York und Oxford.
Mouhanad Khorchide
Islamischer Fundamentalismus in Deutschland: Ein soziales Phänomen? Verunsicherte Identitäten und die Suche nach Anerkennung
Religionen überschreiten Kulturgrenzen und bieten – das gilt zumindest für die drei monotheistischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam – eine universale Orientierung, verbunden mit einem absoluten Wahrheitsanspruch. Wenn nun zunehmend Menschen unterschiedlicher Kultur und Religion in globalisierten Gesellschaften Tür an Tür wohnen, stellt sich dementsprechend die Frage, wie die jeweiligen konkurrierenden Sinnsysteme und Glaubenswahrheiten friedlich zusammenfinden können. In den modernen Gesellschaften Westeuropas stellt nicht nur die religiöse Vielfalt eine Herausforderung für ein friedliches Zusammenleben dar, sondern auch die Koexistenz dieser religiösen Vielfalt mit einer sich immer stärker säkularisierenden Gesellschaft. Aus diesem komplexen Feld möchte ich im Folgenden exemplarisch die Begegnung Europas mit dem Islam im Zuge der Arbeitermigration der 1960er und 70er Jahre und die daraus resultierenden Diskussionen um die Ankunft dieser »neuen« Menschen herausgreifen, um die Frage des »Fremdseins« anhand des Beispiels der Identitätskonstruktionen junger Muslime in Europa zu behandeln. Hier zeigt sich in nuce die Problematik der Rekrutierung junger Muslime in fundamentalistische Milieus, aber auch die Chancen des friedlichen Zusammenlebens in unserer pluralen Gesellschaft.
Dialektik zwischen Religiosität und Gesellschaft Um die Prozesshaftigkeit der Entwicklung und des Wandelns von Religiosität wahrnehmen zu können, ist es zielführend, zwischen Religion als Gesamtheit von Glaubensaussagen, Ritualen, kultischen Handlungen, Vorschriften und normativen Geboten auf der einen Seite sowie Religiosität als subjektive und individuell ausgeübte Religion, welche die persönliche Bindung, das persönliche Verständnis und die eigene Interpretation zum Ausdruck bringt, auf der anderen Seite zu unterscheiden. Religiosität ist Ausdruck eines dynamischen Prozesses.
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Sie entwickelt und verändert sich unter anderem in Abhängigkeit von der Selbstund Fremdverortung in der Gesellschaft als anerkanntes bzw. abgelehntes Mitglied, aber auch durch Bewältigungsstrategien. Umgekehrt bestimmt die Weltanschauung eines Menschen sein Menschenbild und seine Beziehung zur Gesellschaft. Es handelt sich also um einen dialektischen Prozess, in dem sich Religiosität und die Verortung in der Gesellschaft gegenseitig beeinflussen. Die Bedeutung von Religion für junge Muslime in Europa ist durch diesen dialektischen Prozess determiniert. Es geht einerseits um die Frage, wie religiöse Einstellungen die Lebensformen und Werte beeinflussen, und andererseits darum, welche Rahmenbedingungen welchen Einfluss auf religiöse Orientierungen ausüben. So erweist es sich heute als wenig zielführend, sich generell mit der Zu- bzw. Abwendung junger Muslime zum bzw. vom Islam zu befassen. Vielmehr müssen die Fragen im Vordergrund stehen, unter welchen Rahmenbedingungen sich Religiosität auf welche Weise entwickelt, warum sich junge Muslime in bestimmten Lebenssituationen für das eine oder andere religiöse Milieu – etwa die Hinwendung zu einer orthodoxen oder sogar fundamentalistischen oder aber aufgeklärten Form der Religiosität und deren korrespondierenden Lebensweisen – entscheiden und welches die Determinanten dieser Entscheidung sind. Die Ankunft der Muslime im Zuge der Arbeitermigration in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trug zu einem Wandel der Gesellschaften vieler Länder Europas – wie Deutschland, Österreich und der Schweiz – bei. Diese Gesellschaften wurden kulturell wie religiös pluraler. Die Ankunft des Islam wurde nicht selten als Bedrohung der eigenen Werte wahrgenommen. Vertreter dieser These stellen Rückfragen an den Islam und fordern ihn auf, sich zu europäischen Werten zu bekennen; der Islam stelle eine Bedrohung für die Errungenschaften der europäischen Kulturgeschichte dar, die auf einer jüdisch-christlichen Grundlage basierten. Der Islam wird daher als große Herausforderung gesehen. Schon in der Einleitung zu der Studie »Muslime in Deutschland«, die durch das deutsche Bundesministerium des Innern gefördert wurde, heißt es im ersten Absatz: »Im Kontext aktueller Debatten um Zuwanderung hat die Situation von Muslimen in Deutschland einen besonderen Stellenwert. Im Zentrum der Diskussionen, die stark auch von Sicherheitsfragen geprägt werden, stehen unter anderem die Problematik des sogenannten ›home-grown-terrorism‹ und damit verbundene Auseinandersetzungen, die sich um die Schlagworte des Islam in der Diaspora, des Islamismus und des islamischen Fundamentalismus ranken (vgl. z. B. jüngst Hoffman et al., 2007). Thematisiert werden ferner Segregationsprobleme und die Gefahren der Etablierung parallelgesellschaftlicher Strukturen mit Blick auf eine mögliche gesellschaftliche Bedrohung, die neben Desintegrationsphänomenen auch in einer Beeinträchtigung der aktuellen Sicherheitslage gesehen wird. In dieser Ausgangssituation ist im Interesse einer ratio-
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nalen Debatte sowie einer evidenzbasierten Planung von Maßnahmen wissenschaftlich dringend klärungsbedürftig, in welchem Maße unter den in Deutschland lebenden Muslimen tatsächlich Prozesse der Entwicklung von Extremismus zu beobachten sind, die mit einer Ablehnung demokratischer wie auch rechtsstaatlicher Strukturen einhergehen und ggfs. einen Resonanzboden für politisch-religiös motivierte Gewalt darstellen können, und welche Faktoren solche Entwicklungen beeinflussen, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Konzipierung problem- sowie zielgruppenadäquater Präventionsansätze«1.
Die Rede ist hier von »Sicherheitsfragen«, »Islamismus«, »islamischem Fundamentalismus«, »Segregationsproblemen«, »parallelgesellschaftlichen Strukturen«, »gesellschaftlicher Bedrohung«, »Desintegrationsphänomenen«, »Beeinträchtigung der aktuellen Sicherheitslage«, »Extremismus«, »Ablehnung demokratischer wie auch rechtsstaatlicher Strukturen«, »politisch-religiös motivierter Gewalt«, »Präventionsansätzen«. Neben der Frage nach der Stellung der Frau im Islam sind diese die zentralen Schlagworte, die die Diskussionen um den Islam in Europa überschatten. Es ist nicht zu übersehen, dass es sich dabei um Konfliktfelder handelt, weshalb es auch nicht verwunderlich ist, dass sich Muslime immer wieder in eine Apologetik gedrängt fühlen, immer wieder beteuern müssen, dass sie gegen Gewalt sind, für rechtsstaatliche Prinzipien eintreten und dass sie ein friedliches Zusammenleben anstreben. Dabei zeigen die empirischen Daten eindeutig, dass die absolute Mehrheit der Muslime demokratische Grundwerte akzeptiert. So kommt die bereits erwähnte Studie »Muslime in Deutschland« zum Fazit: »Insgesamt lässt sich bei nur ca. 10 % der befragten Muslime eine ausgeprägte Distanz zu Grundprinzipien von Demokratie und Rechtsstaat erkennen. Es handelt sich um eine qualifizierte Minderheit der Muslime, für die eine aus einer moralischen Perspektive formulierte Kritik an demokratischen Strukturen, die Befürwortung von Todes- und Körperstrafen sowie ein Primat der Religion vor Demokratie kennzeichnend ist […] Weitere Analysen konnten zeigen, dass solche demokratiedistanten Haltungen sowohl mit einer wirtschaftlich ungünstigen Lebenssituation als auch mit geringer Bildung und subjektiven Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung in der Aufnahmegesellschaft korreliert sind. In dieser Hinsicht gleichen unsere Befunde den Ergebnissen von Forschungsarbeiten zu Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit. Damit korrespondiert, dass demokratiedistante Einstellungen häufiger anzutreffen sind, wenn die praktische sprachlich-soziale Integration schlecht gelungen ist«2.
Auch beim Thema politisch-religiös motivierte Gewaltbereitschaft unter Muslimen kommt die Studie zu dem Fazit:
1 Brettfeld u. Wetzels, 2007: 9. 2 Brettfeld u. Wetzels, 2007: 173.
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»Die weit überwiegende Mehrheit der Muslime lehnt Formen terroristischer Gewalt ebenso ab wie körperliche Gewalt, die sich auf religiöse Legitimationen beruft. Hohe Akzeptanz politisch-religiös motivierter Gewalt zeigt nur eine kleine Minderheit von etwa 6 %. Innerhalb dieser Gruppe sind Personen mit islamismusaffinen Haltungen, d. h. einer Distanz zu Demokratie und Rechtsstaat sowie ausgeprägten Formen der Aufwertung des Islam und der Abwertung des Westens, überrepräsentiert. Aber auch innerhalb der Gruppe mit islamismusaffinen Haltungen ist die klare positive Legitimation von politisch-religiös motivierter Gewalt nur bei einer Minderheit (etwa ein Fünftel) zu erkennen. Von daher ist die Gleichsetzung eines demokratiedistanten, politisch aufgeladenen Islam mit Gewaltbefürwortung und Sympathie für Terrorismus so zu pauschal«3.
Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime hat also weder mit Demokratie noch mit dem Grundgesetz ein Problem. Religiös motivierte Gewalt wird ebenfalls von der Mehrheit der Muslime abgelehnt. Dennoch sind dies die Themen, mit denen sich Muslime in Studien, Talkshows und medialen Berichten, aber auch in persönlichen Begegnungen immer wieder konfrontiert sehen. Dadurch bleibt kaum Raum dafür, die Frage an die Muslime zu stellen, mit welchen Werten sie europäische Gesellschaften bereichern können. Dies begünstigt allerdings eine reflexartige Abwehrhaltung junger Musliminnen und Muslime.
Verunsicherte Identitäten und die Angst vor der Nähe Nur wenn ich weiß, wer ich bin, und mir meiner Identität sicher bin, habe ich keine Angst, mich dem »Anderen« zu öffnen, in ihm das »Neue« zu sehen. Die Begegnung des Islam mit Europa im Zuge der Arbeitermigration führte jedoch zu Identitätsverunsicherungen auf beiden Seiten, was statt Nähe Distanz hervorrief. Um dies genauer zu erklären, möchte ich in den nächsten Zeilen auf die konkrete Situation der Muslime in Deutschland eingehen, vor allem die der zweiten und dritten Generation. Wenn wir heute in Deutschland von Muslimen sprechen, dann sprechen wir hauptsächlich von den ehemaligen »Gastarbeitern«, die im Zuge der Anwerbeabkommen in den 1960er und 70er Jahren als Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen sind, von deren Familien, die in den 80er Jahren im Zuge der Familienzusammenführung nachgekommen sind, sowie von deren Nachkommen, die mittlerweile in zweiter und dritter Generation in Deutschland geboren wurden. Es ist mehr oder weniger ein Zufall, dass es sich beim Großteil der ehemaligen »Gastarbeiter« um Muslime handelt. Dadurch überlagern sich verschiedene Dimensionen des Andersseins, der Fremdartigkeit, und so verschärfen 3 Brettfeld u. Wetzels, 2007: 190.
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sich Probleme der Abgrenzung, der Anpassung und der Integration; ethnische Dimensionen überlagern sich mit nationalen, religiösen und sozioökonomischen.4 Sprach man in den 1960er und 70er Jahren von »Gastarbeitern«, so begann man in den 80er- und 90er Jahren, als die Arbeitermigration durch die Familienzusammenführung sichtbar geworden war, von den »Ausländern« zu sprechen. Spätestens seit dem 11. September spricht man von den »Muslimen«, gemeint sind aber noch immer die ehemaligen Gastarbeiter und deren Nachkommen. Mit dieser Verschiebung der Wahrnehmung wurden aus den »Gastarbeitern« »Muslime« und aus den typischen sozialen Problemen einer Gastarbeiterschaft religiöse Probleme. Man hört nicht selten Aussagen wie »Sie sprechen schlecht Deutsch, weil sie Muslime sind« oder »Sie steigen im Schulsystem und am Arbeitsplatz nicht schnell auf, weil sie Muslime sind«. Die Kategorie »Muslim-Sein« rückt immer stärker als Deutungsmuster für soziale Defizite der Gastarbeiterschaft in den Vordergrund. Die Religion sei das Problem, sei das Integrationshindernis, heißt es. Muslime finden sich entsprechend in einer Rechtfertigungsposition wieder. Betrachtet man die Debatten der letzten Jahre um das Thema Islam, dann sind diese, wie bereits angemerkt, entweder überschattet von sicherheitspolitischen Fragen oder es geht um Moscheebauten, Minarette und das Kopftuch. Und wer die Ankunft der Muslime in Europa als Sicherheitsproblematik begreift, wird voraussichtlich früher oder später auch der eigenen Angst erliegen und im Islam und in den Muslimen nur noch eine Gefahr und Bedrohung sehen. Dadurch, dass sich Muslime in einer Rechtfertigungsposition wiederfinden, kommen sie kaum dazu, sich die wichtige Frage zu stellen: Wie kann der Islam die europäischen Gesellschaften bereichern?
Wenn das Fremdsein zur Identität wird Gerade Angehörige der sogenannten zweiten und dritten Generation der Muslime fühlen sich mit der hiesigen Gesellschaft stark verbunden, ihre Distanz zur Heimatkultur ihrer Großeltern ist groß. Je stärker sie sich integriert fühlen, desto größer sind auch ihre Erwartungen an das Aufnahmeland; das zeigt sich vor allem im Anspruch auf Gleichbehandlung und Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Institutionen (Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt), aber auch in der Erwartung, anerkannt und akzeptiert zu sein.5 Die sogenannte erste Generation der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus muslimischen Ländern kam primär aus der Türkei und Nordafrika, war also in 4 Vgl. Casanova, 2004. 5 Vgl. Mehrländer, 1983.
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einem islamischen Land aufgewachsen. Die Angehörigen dieser Generation wurden in ihren Heimatländern sozialisiert und internalisierten dort Werte und Normen, für sie war Religion nicht mehr als ein Teil ihrer Herkunftsidentität. Eine reflexive Zuwendung zur eigenen Kultur und zur eigenen Religion setzte vor allem mit dem Familiennachzug ein. Die Bedeutung der Religion in der zweiten und dritten Generation differenziert sich stärker aus. Das begründet sich dadurch, dass diese Generationen in ihrer Sozialisation, Sprache und Identitätsentwicklung stärker einer Spannung zwischen den Orientierungen der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft ausgesetzt sind und ihnen daher Religion als (mögliche) Bewältigungsstrategie dient. Die Erwartungen der Jugendlichen an die europäischen Gesellschaften sind hoch. Hier, wo sie geboren und aufgewachsen sind, wünschen sie sich eine Heimat, die ihnen nicht nur Chancengleichheit im Bildungssektor, am Arbeitsmarkt und am Wohnungsmarkt bietet, sondern auch eine innere Heimat, in der sie sich als anerkannte Menschen entfalten können. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt und haben die Jugendlichen das Gefühl, diskriminiert zu sein, dann kommt es zu verschiedenen Reaktionen. Manche kapseln sich ab, sie gehen zu beiden Systemen – zur Kultur der Eltern und zur Mehrheitsgesellschaft – auf Distanz. In der Literatur werden sie meist als »Marginalisierte« bezeichnet. Viele Jugendliche greifen aber auch reaktiv bei der Suche nach einem sicheren »Wir-Gefühl« auf die Religion zurück. Auf die Frage, als was sie sich fühlen, geben sie an, hauptsächlich als Muslime, der Islam würde für sie sehr viel bedeuten. Diese Form der islamischen Identität bezeichne ich als »Schalenidentität«.6 Für die Konstruktion einer kollektiven Identität bedienen sich diese Jugendlichen eines Islam »ohne Inhalt«; der Islam, den sie leben, ist mit einer leeren Schale zu vergleichen. Die Religion dient der Konstruktion einer kollektiven Identität, die auch Schutz vor dem »Anderen« bietet. Schalenmuslime stützen sich also auf ausgehöhlte (entkernte) Identitäten. Diese Jugendlichen fühlen sich als unwillkommene Ausländer und als benachteiligte Außenseiter. Durch den Islam, der vor allem als Bindeglied zu anderen Migrantenjugendlichen gleicher Herkunft bzw. Religion gesehen wird, können sie ein gewisses Gefühl der Sicherheit aufbauen. Sie halten sich überwiegend an die gottesdienstlichen kollektiven Praktiken. Diese finden ihren Ausdruck in der Gemeinschaft, werden in Bezug zur Gruppe verrichtet und von ihr mehr oder weniger kontrolliert. Viele Jugendliche fasten also im Monat Ramadan, viele männliche Jugendliche gehen freitags mit ihren Vätern zum gemeinschaftlichen Freitagsgebet in die Moschee und Mädchen tragen ein Kopftuch; so erfüllen sie die Erwartungen der Eltern bzw. der sozialen Kontrolle seitens der eigenen Community und konstruieren 6 Vgl. Khorchide, 2007 und Khorchide, 2010.
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gleichzeitig eine reaktive kollektive Identität, die ihnen das notwendige Gefühl der Sicherheit und Stärke vermittelt. Gottesdienstliche individuelle Praktiken, die unabhängig von der Gruppe verrichtet werden und sich deren Kontrolle entziehen, wie zum Beispiel das tägliche Gebet oder die Koranlektüre, die in der islamischen Lehre einen hohen Stellenwert haben, finden hingegen keine Berücksichtigung. Diese religiöse kollektive Identität ist also als Reaktion zu verstehen – einerseits auf die Erwartungen der Eltern und der eigenen Community, andererseits auf das Gefühl der Nicht-Anerkennung seitens der Mehrheitsgesellschaft. Gerade aus dem letztgenannten Punkt wird diese Identität über die Beschreibung des Anderen und weniger über die Beschreibung des Eigenen skizziert. Das heißt: Wenn Jugendliche beschreiben, was sie als Muslime ausmacht, geben sie weniger an, was sie sind, sondern vielmehr, was sie nicht sind. Für die erste Generation der Muslime in Deutschland war dies anders, da die Erwartungen anders waren; sie lagen hauptsächlich im wirtschaftlichen Bereich. Sie kamen primär aus der Türkei, sind also in einem islamischen Land aufgewachsen, wo seinerzeit die religiöse Tradition noch weitgehend ungebrochen bestand. Sie wurden in ihren Heimatländern sozialisiert und internalisierten dort Werte und Normen. Für Angehörige dieser Generation war Religion nicht mehr als ein Teil ihrer Herkunftsidentität. Muslimsein war Teil des Selbstverständnisses als Türke- oder Arabersein. Eine reflexive Zuwendung der ersten Generation zur eigenen Kultur und zur eigenen Religion setzte vor allem mit dem Familiennachzug ein. Die Eltern hatten Angst vor der Entfremdung und »Entgleitung« ihrer Kinder, die ja in einem anderen Werte- und Normensystem aufwuchsen. Die Notwendigkeit der kulturellen Erziehung trug somit zur Verstärkung der kulturellen kollektiven Identität unter den muslimischen Migranten der ersten Generation bei. Die Bedeutung der Religion in der zweiten Generation differenziert sich stärker aus. Dies begründet sich dadurch, dass die zweite Generation in ihrer Sozialisation – Sprache, Identitätsentwicklung – stärker einer Spannung zwischen den Orientierungen der Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft ausgesetzt ist7 und Religion daher als eine (mögliche) Bewältigungsstrategie gesehen wird. Religiöse Hinwendung kann als Reaktion auf Ambivalenz, auf empfundene Unvereinbarkeiten und Druck gedeutet werden. Im Unterschied zum Elternhaus werden den religiösen Symbolen und Inhalten spezifische (individuelle) Bedeutungen unterlegt.8 So kann Religion für Jugendliche ein »Code« sein, um Selbstbewusstsein zu signalisieren, und zwar in Abgrenzung zur Umwelt, aber auch zu den Eltern.9 Als Reaktion auf wahrge7 Vgl. Hämmig, 2000. 8 Vgl. Tietze, 2006. 9 Vgl. Nökel, 2002.
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nommene oder vermutete Geringschätzung und soziale Ausgrenzung erhält sie eine wichtige Funktion für das kollektive Selbstverständnis.10 Sozioökonomische Benachteiligung, Diskriminierung und »cultural isolationism« gelten allgemein als wichtiger Hintergrund oder überhaupt als Erklärung für eine verstärkte Hinwendung zum Islam bei der zweiten Generation. Im Vergleich zum »family Islam« ihrer Eltern richte sich das verstärkte religiöse Bewusstsein der Jugendlichen nun stärker auf eine selbst vollzogene Abwendung von der Aufnahmegesellschaft und eine geringe Anpassungsbereitschaft.11 Es kommt also bei Jugendlichen der zweiten Generation zu einer Umwertung: Hier geboren und aufgewachsen, erwarten sie, auch hier eine Heimat geboten zu bekommen, in der sie sich heimisch fühlen können. Bei Nichterfüllung dieser Erwartungen beginnen die Jugendlichen kulturelle Gegensätze zu konstruieren und vorhandene zu übertreiben. Es kommt zur Überbetonung von Differenzen. Gemeinsamkeiten in den Ein- und Vorstellungen, aber auch religiöse Gemeinsamkeiten werden heruntergespielt. Ein offenes Islamverständnis, das nicht nur Gemeinsamkeiten mit den anderen Weltreligionen betont, sondern auch das im Koran verankerte Prinzip der Würdigung aller Menschen als Menschen – unabhängig davon, welcher Weltanschauung sie angehören – spricht diese Jugendlichen weniger an, denn sie suchen nach Elementen in der Religion, die ihr Anderssein betonen sollen. Begriffe wie Aufklärung oder Moderne werden pauschal als »westlich« abgelehnt, ohne sich mit deren Inhalten zu beschäftigen. Hier besteht die Gefahr der Instrumentalisierung der Religion, im Sinne einer reaktiven Rückbesinnung, die sich durch das Festhalten an sichtbaren Symbolen äußert, um Grenzen zwischen Kollektiven auf der Basis religiöser Differenz zu ziehen. Eine immer stärkere Identifikation mit dem Islam und zugleich eine kaum reflexive Beschäftigung mit dem Islam führen zur Aushöhlung der Religion. Denn es geht bei dieser Identifikation mit dem Islam nicht um Spiritualität, um Gotteserfahrung, um Inhalt, sondern lediglich um die äußere, identitätsstiftende Fassade. Auf die Frage nach der Identifikation der Jugendlichen mit dem Herkunftsland ihrer Eltern bzw. mit dem Islam antworten die meisten, dass sie sich als stolze Angehörige ihrer Herkunftsländer, als stolze Muslime fühlen. Hier könnte schnell der falsche Eindruck entstehen, dass die Jugendlichen ein starkes und stabiles Verhältnis zum Herkunftsland ihrer Eltern bzw. zum Islam haben. Fragt man allerdings nach, ob sie sich zum Beispiel vorstellen könnten, in ihrem jeweiligen Herkunftsland zu leben, zeigt sich ein anderes Bild: Vielen liegt das 10 Vgl. Tietze, 2006; vgl. auch Heitmeyer, Müller u. Schröder, 1997, die darin auch die Ursache von Gewaltbereitschaft sehen und diese Gruppe als Risikogruppe definieren. 11 Vgl. Foner, 2008.
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völlig fern. Sie meinen, dass sie während der Sommerferien, wenn sie in der Heimat ihrer Eltern auf Besuch sind, als Fremde aus Europa angesehen würden; man behandle sie dort als Ausländer, weil sie weder ihre Muttersprache akzentfrei sprächen noch sich kleideten und verhielten wie ihre dortigen Altersgenossen. Schon nach zwei Wochen wollen viele Jugendliche zurück »nach Hause«, nach Europa. Hier werden sie allerdings auch nicht als Einheimische betrachtet, sie sind, vor allem nach dem 11. September, die »Anderen«, die Muslime. Es ist daher für diese Menschen einfacher, auf abstrakte Kategorien wie Religion zurückzugreifen und die Fremdzuschreibung »Ihr Muslime« zur Eigenzuschreibung »wir Muslime« zu machen. Plötzlich rückt die religiöse Identität, die bislang nur im Hintergrund Teil des Türke-Seins, des Ägypter-Seins etc. war, in den Vordergrund. Trotz geringem Interesse an den Inhalten der Religion und fehlender religiöser Praxis sehen sich die Jugendlichen als stolze Muslime und meinen, ohne den Islam gar nicht leben zu können. In Gesprächen zeigt sich allerdings rasch, dass sie wenig Wissen und Informationen über den Islam haben; ihre Kenntnisse beschränken sich auf das, was sie zu Hause beiläufig erfahren. Dadurch kommt es bei ihnen zur verstärkten Vermischung von Heimattraditionen und religiösen Normen. So entsteht ein Teufelskreis: Das Muslim-Sein wird mit dem »Fremd-Sein« gleichgesetzt, es wird zu einem Identitätsmerkmal. Die Muslime identifizieren sich damit, die Mehrheitsgesellschaft grenzt sich damit von den Muslimen ab: »Wir und Ihr, die Muslime.« Dies stellt gerade für die islamisch-religiöse Bildung in Deutschland eine große Herausforderung dar. Denn solche ausgehöhlten Identitäten sind stark anfällig für politische Instrumentalisierung und entsprechende Rekrutierung in fundamentalistischen Milieus. Jürgen Oelkers bringt diese Gedanken auf den Punkt: »Die politische Bearbeitung dieser Probleme dürfte umso schwieriger werden, je weniger die sozio-ökonomische Integration gelingt, je geringer der Schulerfolg der Kinder ist, je mehr verschiedene Generationen Desintegration erleben und je härter die eigene Kultur abgeschottet wird. Von der anderen Seite aus gesagt: Je weniger die aufnehmende Kultur bereit ist, Integrationswillige aufzunehmen, je stärker sich die fundamentalistische Diskussion entwickelt und je weniger echte Chancen sich die Mitglieder der fremden Kultur ausrechnen können, desto mehr verschärft sich das Problem. Religiöse Überzeugungen lassen sich dabei politisch instrumentalisieren, und dies umso mehr, je weniger Kontakt mit anderen Kulturen besteht«12. Bei einer ausgehöhlten Identifikation mit dem Islam geht es nicht um Spiritualität, um Gotteserfahrung, um Inhalt, sondern lediglich um die äußere, identitätsstiftende Fassade. Und genau hier wird das sogenannte salafistische 12 Oelkers, 2011: 120 f.
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Angebot für junge Muslime attraktiv, denn dieses spaltet die Welt in Gut und Böse. Die Guten liebt Gott, die Bösen verdammt er bis in die Ewigkeit. Salafisten seien die Einzigen, die von Gott geliebt werden, sie seien letztendlich die Sieger, die Auserwählten. Dazuzugehören gibt ein Gefühl der Stärke und vor allem der Überlegenheit. Das restriktive Gottesbild der Salafisten verleiht Macht, denn an der Seite eines kriegerischen Gottes zu stehen, dessen Botschaft eine Kampfansage ist, macht mächtig. Ein barmherziger, liebender Gott, dessen Barmherzigkeit seinem Zorn vorauseilt, ist hingegen ein schwacher Gott, daher konstruieren fundamentalistische Gruppierungen einen patriarchalischen Gott, der seine Männlichkeit immer wieder mit Zorn und Gewalt unter Beweis stellt. Sich mit solchen fundamentalistischen Gedanken zu identifizieren ist letztendlich Ausdruck innerer Ohnmacht, die manche Jugendliche, aber nicht nur Jugendliche, durch die Identifikation mit einer mächtig auftretenden Religion zu kompensieren versuchen.
Ein notwendiger Perspektivenwechsel Ich spreche hier bewusst vom »Neuen« und nicht vom »Fremden«. Denn das Fremde wird assoziiert mit Unbehagen und Verunsicherung; es ist das vermeintlich Andere, das man auf Distanz halten will. Sieht man hingegen im »Anderen« das »Neue«, geht man darauf zu, denn das »Neue« macht neugierig, und was neugierig macht, ist auch aneignungswert. In »Die Zeit bedenken« schreibt Vilém Flusser: »Möglichkeiten erweitern sich, wenn ich den anderen in meine Zeit einbeziehe, d. h. wenn ich ihn anerkenne und liebe […] ich bin nicht allein auf der Welt, sondern andere sind auch dort […] Indem ich meine eigene Zukunft dem anderen zur Verfügung stelle, verfüge ich über die seine.«13
Das Dasein des Eigenen ist erst durch die Ankunft des Fremden möglich. So könnte man Hegels Aussage bezüglich der Entstehung der griechischen Kultur verallgemeinern. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Bd. 12) sagte er: »Wir haben soeben von der Fremdartigkeit als von einem Elemente des griechischen Geistes gesprochen, und es ist bekannt, dass die Anfänge der Bildung mit der Ankunft der Fremden in Griechenland zusammenhängen.«14 Auch Europa ist eine ostwestliche Fusion. Dazu bemerkt wiederum Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, »die ganze Kultur des nord-, ost- und westlichen Europas« sei »ein Gewächs aus römisch-griechisch13 Flusser, 2002: 126. 14 Hegel, 1924.
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arabischem Samen«.15 Man darf nicht vergessen, dass der Islam im Mittelalter eine konstitutive Rolle für Europa spielte. Gerade zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert fand eine Hellenisierung des Islam statt. Von dieser führt eine direkte Linie zur europäischen Renaissance: Die Muslime retteten das antike griechische Erbe vor dem Vergessen und bereicherten es. Darauf konnte die Renaissance aufbauen. Wenn heute von der europäischen Renaissance bzw. der europäischen Aufklärung oder gar den europäischen Werten gesprochen wird, impliziert dies eine Selbstgenügsamkeit der europäischen Kultur und somit eine Verdrängung der Ankunft des »Neuen«. Die historischen Einflüsse des Islam auf die Entwicklungen in Europa werden verdeckt und vergessen. Der Soziologe Joachem Matthes bemerkt zur europäischen Kultur: »Die Fähigkeit, die Erfahrung von Fremdheit zu verarbeiten und in Verhaltensformen zu übersetzen, scheint mit der Vermehrung dieser Erfahrung nicht Schritt zu halten. Das europäische Prinzip der kulturellen und territorialen Sortierung von Fremdem und Eigenem hat sich bis in die ›tiefsten‹ Schichten des Alltagslebens und des Alltagswissens hinein in die Vorstellungs- und Handlungswelt der Europäer eingelassen. Im Zuge dieser Entwicklung hat die neuzeitliche europäische Welt etwas verloren, worüber sie zuvor durchaus verfügte: ein Verständigungs- und Regelwerk für die Koexistenz mit Fremdem im ›eigenen Haus‹, in räumlicher Mischung.«16
Heute erzeugt die Globalisierung Nähe und somit eine Fülle an kulturellen Lebenspraktiken und Ausdrucksformen. Der Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul Han beschreibt dies so: »Alle Zeichen, alle Symbole und alle Codes, ja alle Kulturen sammeln sich in einem einzigen Hyperraum. In diesem hyperkulturellen Raum überlagern und durchdringen sich die Kulturen, es gibt keine Grenzen, keine Fremde und keine Entfernungen. Es gibt kein ›Dort‹, alles ist hier und alles ist verfügbar. Man muss sich nicht für eine bestimmte Kultur entscheiden, das ›Entweder-Oder‹ hat sich zugunsten des ›Und‹ aufgelöst. Wir leben heute in diesem hyperkulturellen Raum und das Konzept der Hyperkulturalität kennzeichnet unsere Zeit.«17
Han spricht von einem »Hypermarkt der Kultur«. Alle Zeichen, Symbole und Kulturen gehören uns allen und stehen jedem zur Verfügung. So »bedient« sich in diesem Hypermarkt jeder selbst, eignet sich an, was ihn interessiert. Das Eigene wird erst aus dem kulturellen Hyperraum angeeignet, also erworben und nicht ererbt. Ich sehe dieses Szenario, das Han beschreibt, als einen möglichen Ausgang, aber nicht als einzigen. Denn Nähe und Fülle an kulturellen Lebenspraktiken und 15 Herder, 2002: 651. 16 Matthes , 2000: 13. 17 Han, 2005: 18.
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Ausdrucksformen erzeugen nicht zwangsmäßig einen gemeinsamen hyperkulturellen Raum, Nähe kann auch verunsichern und zur Zurückhaltung führen. Es hängt von unserer Sichtweise ab, ob wir im »Anderen« das Fremde oder das Neue erkennen wollen. Sind wir bereit, auf dieses »Andere« zuzugehen oder ziehen wir uns ins »Eigene« zurück? Wer sich für die zweite Variante entscheidet, beginnt, das »Eigene« so zu konstruieren, als wäre es essenziell, immer und unverrückbar statisch nachweisbar so gewesen. Unter welchen Voraussetzungen aber führt Nähe zur Öffnung dem Anderen gegenüber? Der Islam benötigt ein Europa, das ihm Raum gibt, in dem er sich entfalten kann. Anders kommen Muslime aus der Rechtfertigungsposition nicht heraus, um sich selbst die zentrale Frage stellen zu können: »Wie können wir die Gesellschaft bereichern, was können wir beitragen?« Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, dass, wenn muslimische Jugendliche in Begegnungen mit Jugendlichen nicht-muslimischen Glaubens von ihrer religiösen Praxis, von ihrem Moscheebesuch, von ihrem Fasten sprechen, sich die nicht-muslimischen Jugendlichen fragen: »Und wie ist es eigentlich bei uns, in unserer Religion?« Durch die Ankunft des Islam entdecken viele ihre eigene Religiosität wieder, und zwar nicht im Sinne einer christlichen Identität als Gegenpol zur islamischen Identität, sondern im Sinne einer Erweiterung der europäischen Identität, die nicht mehr als jüdisch-christlich zu sehen ist, sondern als jüdisch-christlich-muslimisch. Die Ankunft des Islam in Europa ruft auch christliche Werte in Erinnerung, die der Islam genauso vertritt: Nächstenliebe, Verantwortlichkeit für die Schöpfung, soziale Verantwortlichkeit, aber auch Familie. Ob Europa im Islam das »Fremde« und somit eine Bedrohung oder aber das »Neue« sieht, und ob die Muslime in Europa eine Heimat oder eine Diaspora sehen, hängt von der Perspektive des jeweiligen Betrachters ab. Das »Fremde« für sich gibt es nicht, es ist ein Konstrukt in unseren Köpfen. Fremdheit ist keine Eigenschaft einer Person oder einer Gruppe, sondern das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses. Ein Perspektivenwechsel – »neu« statt »fremd«, »aufeinander zugehen« statt »sich zurückhalten«, »sich dem Anderen öffnen« statt »verschließen« verlangt jedoch selbstsichere Identitäten, keine ausgehöhlten. Der Prozess beginnt also mit der kritischen Reflexion des Eigenen, um sich dann mit dem notwendigen Selbstbewusstsein offen und ohne Angst dem Anderen, dem Neuen zuzuwenden, mit und von ihm zu lernen, es zu bereichern und sich von ihm bereichern zu lassen.
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Die Rolle islamisch-religiöser Bildung Die religiöse Bildung muslimischer Jugendlicher in Deutschland muss der angesprochenen Entwicklung der Entstehung ausgehöhlter religiöser Identitäten Rechnung tragen und ein sinnvolles Angebot machen, das diese entkernten Identitäten mit einem sinnvollen Gehalt füllt. Moderne religiöse Bildung versteht sich nicht als Prozess der Vermittlung von Religion. Beim veralteten Konzept der Vermittlung stand das zu Vermittelnde im Vordergrund. Heute geht es um Aneignungsprozesse. Bei diesem Konzept der Aneignung steht der Schüler/die Schülerin, also das Subjekt selbst, mit seiner Lebenswirklichkeit, seinen Erfahrungen, Erwartungen, Wünschen, Bedürfnissen usw. beim Prozess der religiösen Bildung im Vordergrund. In der islamischen Religionspädagogik geht es heute also nicht um das Eintrichtern von Glaubensgrundsätzen und die Vermittlung von endgültigen Antworten, sondern darum, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, ihre eigene Religiosität zu entwickeln und wahrzunehmen sowie die Bedeutung religiöser Inhalte individuell zu reflektieren, damit sie ihre Religiosität selbst verantworten können. Es geht also um Fragen wie »Was bedeutet Religion für mich? Welchen Bezug haben religiöse Inhalte zu meinem Alltag?«. Moderne religiöse Bildung bezeichnet alle Begegnungen und Erfahrungen mit Religion, die für das Leben eines Menschen Bedeutung haben und die ihn reicher, reifer und sensibler machen können. Religiöse Bildung gelingt erst, wenn sie Teil einer religiösen Einstellung wird. Die Besonderheit einer modernen Religionspädagogik ist gerade ihr Gegenwartsbezug. Durch religiöse Bildung sollten Menschen befähigt werden, ihr Leben in religiöser Hinsicht selbst entwerfen zu können und diesen Lebensentwurf selbst verantworten zu können. Sie sollten in der Lage sein, zwischen lebensfreundlichen und lebensfeindlichen religiösen Angeboten zu unterscheiden. Es geht vor allem um ein subjektives Betroffensein von Religion. Daher nimmt die Religionspädagogik von allen theologischen Fächern am stärksten an den Veränderungen der modernen Lebenswelt teil.18 Und unsere heutige moderne Welt ist gerade durch ihre kulturelle und religiöse Vielfalt gekennzeichnet. Religiöse Bildung kann nur dann gelingen »wenn die Erfahrungen divergierender Lebensweisen und vielfältiger Fremdheit sinnvoll aufgegriffen und für die Lernprozesse fruchtbar gemacht werden können«19. Gerade Lernprozesse im Religionsunterricht sprechen die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler direkt an und bewirken existenzielle Betroffenheit. Aufgabe einer zeitgemäßen islamischen Bildung ist es daher nicht, jungen Menschen einen Katalog an Erlaubtem und an Verbotenem zu vermitteln und 18 Vgl. Kunstmann, 2004: 45. 19 Tautz, 2007: 13.
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Heranwachsende somit zur unkritischen Befolgung religiöser »Gesetze« anzuhalten, was den Prozess der Entstehung ausgehöhlter Identitäten nur begünstigt. Vielmehr sollen junge Menschen zur kritischen Reflexion von Traditionen, die sich mit humanen Werten nicht vereinbaren lassen, angehalten und dazu zu befähigt werden, ihre freie individuelle Selbstbestimmung als Muslime auf Basis eines offenen Islamverständnisses im Sinne einer spirituellen und ethischen Religion und weniger einer Gesetzesreligion zu entfalten. Sie sollen den Sinn ihrer Religiosität für sich entdecken und dazu befähigt werden, Gotteserfahrungen zu machen. Wenn es aber in religiöser Bildung um ein subjektives Betroffensein von Religion geht, dann setzt dies eine dialogische Theologie voraus, die die Beziehung Gott-Mensch nicht als Gehorsamkeitsbeziehung, sondern als dialogische Beziehung vorsieht.
Die Notwendigkeit einer dialogischen islamischen Theologie Gott ist nur dann fremd, wenn wir Menschen uns Gott gegenüber verschließen. Dann machen wir Gott zu etwas Fremden, was mit Gott an sich nichts mehr zu tun hat. Manche Menschen vereinnahmen Gott für sich – einen Gott, der sich der ganzen Welt geöffnet hat. Diese machen Gott tatsächlich »fremd«, weil sie nicht (mehr) von Gott reden, sondern von etwas, das für uns alle nur noch befremdend ist. Das Verständnis einer Theologie beginnt mit der Frage nach dem Gottesbild, das dieser Theologie bzw. das einer bestimmten Auslegung der Theologie zugrunde liegt. Eine Theologie, die in Gott primär einen Richtergott sieht, dem es um die Befolgung seiner Anweisungen geht und der denjenigen, die ihm gehorchen, ein ewiges Verbleiben im Jenseits im Paradies verspricht und denjenigen, die ihm nicht gehorchen, mit dem ewigen Höllenfeuer droht, kann in Religion nichts anders sehen als Instruktionen, eine Religion, die auf so einem Gottesbild basiert, ist eine Gesetzesreligion. In ihr geht es lediglich um die Befolgung von Gesetzen. Ich spreche hier in diesem Zusammenhang von einem instruktionstheoretischen Modell. Die traditionelle islamische Lehre, wie sie sich seit dem 9. Jahrhundert etabliert hat, fragt primär nach religiösen Dogmen und Normen, sie war bemüht, ein juristisches Schema zu entwickeln, das möglichst alle Lebensbereiche erfassen sollte, dabei rückte der Mensch aus dem Zentrum ihrer Überlegungen. Denn sie entwickelte sich im Laufe der Zeit stark zu einer Gesetzesreligion. Problematisch bei diesem Verständnis der Religion für religiöse Bildung ist, dass, wenn es bei der Religion um die Befolgung von Instruktionen geht, religiöse Bildung lediglich darin bestehen würde, diese Instruktionen zu vermitteln. Denn Ziel wäre letzt-
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endlich, die Anweisungen Gottes zu befolgen, seine Gebote und Verbote einzuhalten, um seiner Strafe (das Höllenfeuer) zu entgehen und ins Paradies zu kommen. Vom Menschen wird also eine totale Unterwerfung erwartet. Man muss nicht verstehen oder nachvollziehen, warum man dies oder jenes tun muss bzw. nicht tun darf, wichtig ist, dass man sich an die Gesetze hält. Moderne religiöse Bildung will jedoch Menschen befähigen, ihr Leben in religiöser Hinsicht selbst zu entwerfen und diesen Lebensentwurf selbst zu verantworten. Das Subjekt muss sich also selbst einbringen. Dieses Verständnis von religiöser Bildung braucht eine dialogische Theologie. Eine dialogische GottMensch-Beziehung setzt ihrerseits ein dialogisches Gottesbild voraus, einen Gott, der zugänglich ist, der erfahrbar ist, einen Gott also, dem es nicht um sich selbst geht, dem es nicht um Instruktionen geht. Ist so eine Theologie im islamischen Kontext denkbar? Dem Christentum zufolge offenbarte sich Gott in Jesus Christus, Gott ist Mensch geworden und machte sich dadurch zugänglich, erfahrbar. Nach muslimischem Verständnis hat sich Gott nicht direkt offenbart, sondern lediglich sein Wort. Ist es aber wirklich so? Hat sich Gott dem Islam nach nicht selbst offenbart? Den Begriff »Offenbarung« als Selbstmitteilung Gottes kennt die islamische Theologie nicht. Der Koran wird in der traditionellen islamischen Theologie als »Herabsetzung« (arab.: tanzil20) bzw. »Inspiration« (arab.: wahy21) bezeichnet. Obwohl der Islam nicht von Offenbarung im Sinne der Selbstmitteilung Gottes spricht, stellt sich dennoch die Frage: Hat sich Gott nach islamischem Glauben selbst offenbart? Im Koran spricht Gott über sich, er stellt sich selbst vor. Es handelt sich aber nicht bei allen koranischen Versen um die Beschreibung Gottes, denn es gibt zahlreiche narrative Passagen, aber auch Regelungen für den Gottesdienst sowie für die gesellschaftliche Ordnung, weshalb viele Muslime von der Offenbarung des Willen Gottes im Koran reden, und nicht von der Offenbarung Gottes selbst. Es ist also schwierig zu sagen, der Koran sei die Selbstmitteilung, die Offenbarung Gottes, auch wenn der gesamte koranische Text nach muslimischem Glauben von Gott stammt. Anders gesagt, man kann nicht sagen: Der Koran ist Gott. Es können lediglich die Teile des Korans als Selbstmitteilung Gottes, also als Offenbarung Gottes, bezeichnet werden, in denen Gott sich selbst und seine Handlungen beschreibt.
20 Vgl. Koran, Sure 17, 105; Sure 26, 193; Sure 2, 176; Sure 3, 3; Sure 4, 136; Sure 7, 196; Sure 25, 1; Sure 39, 23; Sure 2, 23; Sure 4, 47; Sure 15, 9; Sure 76, 23; Sure 17, 106; Sure 2, 97; Sure 16, 44. 21 Vgl. Sure 4, 163; Sure 12, 3; Sure 42, 7; Sure 6, 19; Sure 18, 27; Sure 43, 43; Sure 53, 4; Sure 20, 114.
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Die häufigste Eigenschaft Gottes, die im Koran vorkommt, ist die Bezeichnung ar-Rahman bzw. ar-Rahim (Allerbarmer, der absolut Barmherzige). Die Selbstbeschreibung Gottes im Koran als barmherzig allein reicht jedoch nicht aus, um seine Barmherzigkeit wahrzunehmen. Die Annahme, Gott habe sich nur im Koran offenbart, macht die Offenbarung lediglich zu einem Brief, den Gott an uns Menschen geschrieben hat, in dem er uns mitteilt, er sei barmherzig. Es ist aber nur ein Brief; auch wenn es ein Liebesbrief ist, so ist es doch lediglich ein Brief. Die Offenbarung Gottes und seine Barmherzigkeit bedeuten jedoch mehr als ein Brief Gottes an die Menschen, sie bedeuten, dass diese Barmherzigkeit für den Menschen zugänglich, also erlebbar und erfahrbar wird, dass Gott erfahrbar wird. Seine Barmherzigkeit hat Gott nicht nur im Wort (im Koran) offenbart, sondern in der Schöpfung selbst. Jeder Akt der Barmherzigkeit in dieser Welt ist eine Manifestation der Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes, denn die Barmherzigkeit Gottes »umfasst alle Dinge«22. Der Koran gibt einen Hinweis auf diese Manifestation der Barmherzigkeit Gottes und fordert auf, diese wahrzunehmen: »Schau doch auf die Spuren der Barmherzigkeit Gottes! Schau wie er die Erde wieder belebt, nachdem sie abgestorben war.«23 Der Mensch kann durch sein Zutun die Erde fruchtbar machen und damit die Barmherzigkeit Gottes veranlassen. Somit erhält die Offenbarung einen dialogischen Charakter, denn der Mensch selbst kann sie hervorrufen und veranlassen, indem er barmherzig und gütig handelt. Dies ist auch der Auftrag an den Menschen. Als der Prophet Mohammed von einem Mann danach gefragt wurde, wo Gott sei, zeigte er auf einen armen Menschen und sagte: »Geh zu dem armen Menschen, dort findest du Gott«. Prophet Mohammed erzählte: »Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ›Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben‹, der Mann wird daraufhin erstaunt fragen: ›Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig, oder hungrig sein?!‹, da wird ihm Gott antworten: ›Am Tag soundso war ein Bekannter von dir krank und du hast ihn nicht besucht, hättest du ihn besucht, hättest du mich dort bei ihm gefunden, an einem Tag war ein Bekannter von dir hungrig und du hast ihm nichts zum Essen gegeben und an einem Tag war ein Bekannter von dir durstig und du hast ihm nichts zum Trinken gegeben.‹«24
Dort, wo man eine Hand der Barmherzigkeit und der Güte ausstrecken kann, manifestiert sich Gott, dort ist Barmherzigkeit, dort ist Gott. Dort, wo eine Mutter ihr Kind umarmt, dort, wo man einen Menschen anlächelt, überall dort, wo man 22 Sure 7, 156. Alle Koranzitate wurden vom Verfasser aus dem Arabischen unter Rückgriff auf die Koranübersetzung von Milad Karimi übersetzt. 23 Sure 30, 50. 24 Überliefert nach Muslim, Hadith Nr. 2569, nach eigener Übersetzung aus dem Arabischen.
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ein Zeichen der Güte, der Liebe und der Barmherzigkeit setzt, dort veranlasst man die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes, dort macht man Gott erfahrbar. Wie bereits erwähnt, ist »barmherzig« das Attribut, mit dem sich Gott im Koran am häufigsten beschreibt. 113 der 114 koranischen Suren beginnen mit der Formel »Im Namen Gottes des Allerbarmers, des Barmherzigen«. Seine Barmherzigkeit beschreibt Gott im Koran als absolut. Das Einzige, zu dem sich Gott im Koran selbst verpflichtet hat, ist die Barmherzigkeit: In der sechsten Sure, Vers 12 heißt es: »Er hat sich selbst die Barmherzigkeit vorgeschrieben«. Diese Aussage wiederholt sich in derselben Sure in Vers 54.25 Die islamische Formel »Allahu Akbar«, die mehrmals im islamischen Gebetsruf wiederholt und mit der das islamische rituelle Gebet eingeleitet wird, bedeutet »Gott ist größer«. Die Formel verrät allerdings nicht, in welchem Vergleich Gott größer sein soll. Die traditionelle islamische Theologie interpretiert diese Formel im Sinne der Allmacht Gottes. Demnach bedeutet »Allahu Akbar«: »Gottes Macht ist größer als jede andere Macht im Universum«. Gott ist also allmächtig und deshalb ist es ihm überlassen zu tun und zu lassen, was er will.26 Indem die Formel »Allahu Akbar« nicht verrät, größer als was, will sie jedoch nichts anderes sagen, als dass Gott größer ist als gedacht werden kann. Kann man nun einen Gott denken, der größer ist als ein Gott, dem es lediglich um sich selbst geht, der nur gehorcht werden will, der nach Selbstbestätigung seiner Majestät sucht, der seine Macht demonstrieren will, indem er diejenigen, die ihm gehorchen, belohnt und sich an denjenigen, die ihm widersprechen, rächt? Diese Frage wird hier mit einem klaren »Ja« beantwortet. Ein Gott, der die Menschen zu sich mit Mitteln der Liebe und Barmherzigkeit ruft, ist größer, denn dieser Gott will die Menschen nicht zwingen, nicht manipulieren, ihnen keine Angst machen, sondern er will, dass Menschen sich in Freiheit, aus einer inneren Überzeugung und mit Vertrauen auf seine Barmherzigkeit zu ihm, zum Guten, wenden. Wenn Gott größer ist, als gedacht werden kann, kann er den Menschen nicht deshalb erschaffen haben, weil er den Menschen bzw. die Schöpfung braucht. 25 Der Koran geht sogar einen Schritt weiter: Er stellt die Barmherzigkeit nicht nur als Attribut Gottes dar, sondern als Wesenseigenschaft Gottes, ja setzt sie Gott gleich. So heißt es in Sure 17, 110: »Ruft Allah, oder ruft ar-Rahman [den absolut Barmherzigen], egal was ihr ruft, ihm gehören die edelsten Namen«; hier wird »Allah« mit ar-Rahman gleichgesetzt. In Sure 7, 56 verwendet der Koran das arabische Wort für »nah«, ein Adjektiv im Maskulinum, das jedoch auf rahma, die Barmherzigkeit Gottes, bezogen wird, obwohl diese im Arabischen feminin ist. So lautet der Vers: »Die Barmherzigkeit Gottes [rahma], er ist nah.« Grammatikalisch korrekt müsste der Vers lauten: »Die Barmherzigkeit Gottes, sie ist nah«. Das Wort Gott »Allah« wird im Koran immer als Maskulinum behandelt; der angeführte Vers setzt also Gott mit der Barmherzigkeit gleich, weshalb er das maskuline Adjektiv verwendet, um das im Arabischen feminine Wort rahma (Barmherzigkeit) zu beschreiben. 26 Vgl. Subhi, 1985: 45 f.
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Auch nicht deshalb, weil er verherrlicht werden will, denn ein vollkommener Gott ist auf jeden Fall größer als ein Gott, der die Schöpfung benötigt oder auf sie angewiesen ist, um verherrlicht zu werden und um sich in seiner Majestät bestätigt zu fühlen. Wenn Gott aber nicht verherrlicht werden will, warum hat er dann den Menschen erschaffen? Die Sure 55 im Koran gibt eine klare Antwort darauf: aus seiner bedingungslosen Barmherzigkeit.27 Gott ist vollkommen barmherzig, auch ohne Schöpfung. Er braucht die Schöpfung nicht, um barmherzig zu sein oder damit sich seine Barmherzigkeit vollendet. Gott war immer da und die Barmherzigkeit als seine Wesenseigenschaft war dadurch auch immer existent. Nur die Offenbarung dieser Barmherzigkeit, die Offenbarung Gottes selbst, seine Selbstmitteilung, bedarf der Akteure, die in der Lage sind, sie zu erfahren. Die Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes kann sich nur in Beziehung zur Schöpfung verwirklichen; sie macht die Schöpfung notwendig. Die Entscheidung zur Offenbarung seiner Barmherzigkeit ging ebenso aus seiner Barmherzigkeit hervor. Das impliziert aber, dass alle göttlichen Anweisungen, unabhängig davon, ob sie den Gottesdienst oder die gesellschaftliche Ordnung betreffen, nicht als solche zu verstehen sind, die Gott für sich benötigt, sondern als solche, die der Mensch braucht. Dies impliziert wiederum, dass, wenn Gott sich im Koran als zornig bezeichnet, wenn seine Gebote nicht eingehalten werden,28 er dies nicht deshalb tut, weil er in seiner Herrlichkeit gekränkt oder beleidigt ist, sondern sein Zorn entspringt aus Barmherzigkeit und Besorgnis um den Menschen. Gottes Zorn ist für und nicht gegen den Menschen bzw. richtet sich gegen Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen und wird nicht ausgelöst aufgrund ungenügender Verherrlichung durch den Menschen. Denken wir Gott als wütend, wenn seine Gebote nicht eingehalten werden, weil er sich übergangen und missachtet fühlt, dann denken wir Gott nicht als vollkommen, denn es gibt einen größeren Gott als diesen: einen, dem es eben nicht um sich selbst geht, sondern um den Menschen. Dieses Verständnis öffnet uns Muslimen eine andere Perspektive des Verstehens von Gottes Geboten und Verboten. Der Blick wird damit Richtung Mensch gelenkt. Die Gebote dienen dem Menschen, seiner Vervollkommnung und seiner Glückseligkeit – auch hier und jetzt auf der Erde – und nicht Gott selbst. Indem Gott den Menschen erschuf, machte er den ersten Schritt auf ihn zu. Er erschuf den Menschen aus seiner bedingungslosen Barmherzigkeit und machte damit dem Menschen schon durch den Schöpfungsakt eine Liebeserklärung. Das bedeutet, Gott hat dieses Wesen erschaffen, er hat damit das Neue erschaffen, und er hat in diesem Neuen das Gute gesucht. Es wäre schade, wenn wir 27 Vgl. Sure 55, 1 – 3. 28 Vgl.Sure 16, 106 und Sure 20, 81.
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dieser Würde, die Gott uns bedingungslos geschenkt hat, einfach verlustig gehen. Warum maßen wir uns das an? Gott hat den Menschen im Koran als sein edelstes Geschöpf bezeichnet, voller Würde! Warum nehmen wir Gott – und uns – dieses Geschenk weg, indem wir, statt das Neue im Anderen zu erkennen, bloß das Fremde darin sehen? Verstoßen wir hierbei nicht gegen die Liebe Gottes, gegen seine Barmherzigkeit? Er hat es uns vorgemacht und an uns appelliert, einander bedingungslos zu lieben und bedingungslos barmherzig zu sein! Wir brauchen Religionen! Wir brauchen dieses Angebot, denn es gehört zum Gläubig-Sein, zum Religiös-Sein, nicht nur der Gang in die Moschee oder in die Kirche, um Gott anzubeten oder um zu ihm zu beten – denn Gott hat nichts davon –, Gott will vielmehr, dass wir beten, um ihn besser kennenzulernen, dass wir mit ihm in Dialog treten, um aus dieser Erfahrung mit ihm heraus etwas für unseren Alltag zu lernen, für unsere Begegnungen mit Mitmenschen. Er erwartet auch von uns, dass wir diese bedingungslose Liebe und Barmherzigkeit, die er uns schenkt, weiterschenken und weitergeben. Das verstehe ich unter ReligiösSein! Es geht nicht um die Anzahl unserer Gebete oder wie viel man im Koran gelesen hat und wie oft man in der Moschee am Gottesdienst teilgenommen hat, es geht im Endeffekt um das Ergebnis, wie viel Liebe und Barmherzigkeit ich in meinem Leben veranlasst habe.
Literatur Alle Koranzitate wurden vom Verfasser aus dem Arabischen unter Rückgriff auf die Koranübersetzung von Milad Karimi übersetzt. Die Hadithsammlung von Muslim wird nach eigener Übersetzung aus dem Arabischen zitiert.
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Friedrich Erich Dobberahn
Verlust und Rückeroberung der Heilsgeschichte – zur Entstehung des schı¯‘itischen Islamismus
Die Gründungen islamischer Gottesstaaten durch sunnitische Terrormilizen wie Islamic State (IS) und Boko Hara¯m sowie die Aktivität von ca. 550 deutschen IS˙ Kämpfern in den Kampfgebieten Syrien und Iraq sind zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags beherrschendes Thema der deutschen Medien. 2014 war es ¯ yatolla¯h Ruholla¯h Mu¯sawı¯ Homeinı¯ ebenso 35 Jahre her, dass es im Iran durch A ˙ ˘ zu einer islamischen Revolution kam: Sie kann durchaus als »Höhepunkt des islamischen Fundamentalismus«1 bzw. des Islamismus insgesamt bezeichnet werden und war der Versuch gewaltsamer Rückeroberung einer verloren geglaubten Heilsgeschichte – ein paradigmatischer Vorgang, der sich gegenwärtig im IS-Protostaat in Iraq und Syrien sowie in Nigeria und Mali wiederholt und dessen Ausgänge noch ungewiss sind. In diesem Beitrag, der auf Deutsch oder Englisch nachzulesende Originalquellen aus dem Arabischen wie Persischen einbezieht, sollen die theologischen Ursprünge und die historischen Entwicklungsstadien des schı¯‘itischen Islamismus, dessen vehemente Auswirkungen bis heute auch unter radikalisierten Sunniten2 spürbar sind, nachgezeichnet werden. Unter »islamischem Fundamentalismus« oder »Islamismus«3 ist eine universale Heilsideologie mit dem heilsgeschichtlich-politischen Anspruch zu verstehen, eine als alternativlos angesehene, quasi »kosmisch« gültige Ordnung in notwendig intolerant-totalitärer Weise gegen die säkulare, liberale Gesellschaft des Westens durchzusetzen, die sich in heidnischer Arroganz (g˘ahilı¯ya) gegen den reinen, wahren Ur-Islam verschworen hat. Islamistisch meint hierbei imperiale Anstrengungen (auch gewaltsamer Art), mit denen Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik über jede territorial-nationalstaatliche Beschränkung hinaus 1 Tibi, 2000: 125; vgl. auch 117 ff.131; vgl. Trimondi, 2006: 360 ff. 2 Tibi, 1998: 36 ff.305 f. verweist darauf, dass die militante Mahdı¯-Vorstellung des Schı¯‘ismus (s. Anm. 89, 116, 171 und 187) in der Form eines »Untergrund-Ima¯ms« auf radikalsunnitische Richtungen übergegriffen hat; vgl. Trimondi, 2006: 361. 3 Definitionen bei Thoß u. Richter, 1991: 156 ff.; Tibi, 1998: 333 ff.; ders., 2000: 35.117 ff.160 ff.; ders., 2001: 101 ff.200 ff.; Chimelli, 2002: 41 ff.; Riexinger, 2004: 34 f.; Künzl, 2008: 36 ff.55 ff.62 ff.; Kandel, 2011: 7 ff.; Seidensticker, 2014: 9 ff.
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anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden, umgestaltet werden sollen.4 Fundamentalistisch ist die überzeitliche Heils- und Rechtsgewissheit in Kombination mit dem apokalyptischen Gut-Böse-Dualismus, die Zurückorientierung auf die ideal-normative Urgesellschaft des Islam (»Medina-Modell«5) sowie die Betonung der Offenbarung als einer klaren, jedermann zugänglichen Wortwörtlichkeit heiliger Schriftquellen, welche die weltweite islamische Glaubensgemeinschaft (umma) einigt.
Die Heilsgeschichte: Muhammads Freudenbotschaft ˙ Die Welt in Aufruhr Als Muhammad als Prophet aufzutreten begann, befand sich die arabische ˙ Halbinsel des 6. und 7. Jahrhunderts n. Chr. im Gravitationsfeld einer Reihe von exogen bewirkten und sich nach innen fortsetzenden Umschwüngen, die mit signifikanten Destabilisierungsprozessen sozialer und religiös definierter Kulturkomplexe zu tun hatten.6 Verursacht durch mehrere Dammbrüche des großen Staudamms bei Ma¯rib im Süden der arabischen Halbinsel, 100 km östlich von San‘a¯’, im 6. Jahrhundert7 war es zu einer Reihe von Bevölkerungsverschiebungen gekommen. Sich gegenseitig anstoßende Migrationswellen trieben arabische Stämme bis in die fruchtbaren Kulturlandzonen Mesopotamiens und Syrien-Palästinas hinein, drängten aber auch im Süden einzelne Bevölkerungsgruppen in östliche Richtung nach Saba’ und Hadramaut ab. ˙ ˙ Geprägt war das Zeitalter Muhammads von spektakulären militärischen ˙ Auseinandersetzungen zwischen Ostrom und dem neu-persischen (sa¯sa¯nidischen) Reich.8 610 bis 616 gelang es den Neu-Persern in einem beispiellosen
4 Der Islamismus ist als Gegenrevolution zu verstehen angesichts der traumatischen Kollektiverinnerungen an die Kolonialzeit und des Protestpotenzials, das sich durch das sozialpolitische Versagen des westlichen nationalstaatlichen Systems (samt seiner säkular orientierten, repressiven politischen Eliten) im islamischen Raum angesammelt hat, sowie die hiervon und vor allem vom Sechs-Tage-Krieg (Juni 1967) ausgelöste Sinnkrise (Tibi, 2000: 35.50 ff.56 ff. 62 f.173 ff.; ders., 2001: 267 ff.; Ourghi, 2008: 146; Künzl, 2008: 52 ff.; Cook, 2008: 13 ff.; Kandel, 2011: 15 ff.). 5 Sure 33, 21. 6 Rodinson, 1975: 34 ff.42 ff.71 ff.; vgl. Paret, 1972: 36 ff.; Halm, 2010: 15 ff. 7 Vgl. Sure 34, 15 ff.; vgl. Speyer, 1971: 392 f.; Halm, 2010: 17 f. 8 Nöldeke, 1973: 238 ff.268 ff.292 ff. und Sura 30, 1 ff.; Cook, 2002: 4 ff.; Rodinson, 1975: 71 zitiert einen eschatologischen Midrasch zu Gen. 14 (Bere¯sˇ¯ıt Rabba¯h 42, f. 26a), der auf die ¯ Kriege zwischen den damaligen Großmächten bezogen wurde: »Wenn du siehst, dass die Reiche der Welt sich widereinander erregen, dann blicke dem Fuß des Messias entgegen«; vgl.
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Eroberungszug, alle orientalischen Provinzen des Byzantinischen Reiches, von Chalkedon bis nach Ägypten, einzunehmen.9 Ungeheures Aufsehen erregte, als sie 614 die Kreuzesreliquie von Jerusalem in ihre Hauptstadt Ktesiphon entführten; 628 konnte Herakleios sie zurückholen und im Jahr darauf in Jerusalem wiedereinsetzen.10 In diesen Krieg zwischen Ostrom und dem sa¯sa¯nidischen Persien wurden auch die arabischen Pufferstaaten der syrischen Wüste (G˙assa¯niden), Mesopotamiens (Lahmiden) und der arabischen Halbinsel (das je˘ menitische Königreich unter wechselnden Herrschern jüdischen und christlichen Glaubens) hineingerissen. Als Vasallen und Bundesgenossen der einen wie der anderen Seite in Stellvertreterkriege und religiöse Verfolgungen verstrickt, waren sie ein Spielball der sich befehdenden Großmächte. Seit dem 4. Jahrhundert drangen auf die arabische Halbinsel monophysitisches und nestorianisches Christentum, Judentum (dieses sicher schon seit 70 n. Chr., der Zerstörung Jerusalems durch Titus) und Zoroastrismus vor, was tiefgreifende religiöse Wandlungsprozesse initiierte. Dort, wo die arabischen Stämme sich solchen universalistisch-religiösen Strömungen anschlossen, löste sich die an den ethnischen Verband gekoppelte Verehrung von Stammesgöttern zunehmend auf. Dies hatte eine schleichende Substanzentleerung von eigenen mythischen Rückbindungen und des arabischen Stammeshumanismus zur Folge, das heißt die Destabilisierung der Stammesgesellschaft und die bereitwillige Aufgabe von traditionellen Stammesidealen wie Kollektiv- und Solidaritätsstruktur. Durch die Ableistung von topographischen, militärischen und handelstechnischen Vermittlerdiensten zwischen den sich mit Krieg überziehenden Großmächten kam es in denjenigen westarabischen Handelsstädten und Oasen, die sich zu wichtigen Operationszentren für den Karawanenhandel entwickelten, zu ungeahnter wirtschaftlicher Blüte. Dieser rasante ökonomische Aufschwung wiederum rief in ethisch-moralischer Hinsicht einen Zivilisationsumbruch hervor, nämlich ein Abrücken von der tribalen Solidarität hin zu einem merkantil geprägten, zugleich plurikulturellen Individualismus, der den Einzelnen aus seiner Kollektivverantwortlichkeit entließ und die regionalen Ökonomien auf die Privilegierung altetablierter Kaufmannsschichten und die Marginalisierung sowie Entrechtung wirtschaftlich schwächerer Bevölkerungsteile umstellte. Schon Hubert Grimme hat daher vermutet, dass die Botschaft Muhammads ein ˙ auch Pesı¯qta¯’ Rabba¯tı¯ 36, f. 162a; Strack u. Billerbeck, Bd. IV, 2, 1978: 982; vgl. 4. Esra 9, 3 ff.; syr. Baruch 70, 2 ff. etc. 9 Vgl. Sure 30, 1 f. 10 Taeschner, 1964: 44.53. Auch die Eroberung Jerusalems war als Vorzeichen der Endzeit geweissagt worden; syr. Baruch 20, 2 (vgl. 13, 4 ff.); 4. Esr. 6, 19; Anonymi scholia in easdem orationes contra Julianum imp., in: Migne, 1865: 1351 ff.; Möhring, 2002: 315 ff.; Taxacher, 2010: 191 f.; vgl. At-Tabası¯, 2006: 193; vgl. zu Anm. 59 und 117. ˙ ˙
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Versuch »sozialistischer Art« gewesen sei, gewissen »abnormen«, »überhandnehmenden irdischen Mißständen entgegenzutreten«11 wie Kindsmord aus Armut, Promiskuität, Geiz und Hartherzigkeit gegenüber den Armen, religiösethische Indifferenz, Korruption und Ausbeutung, Raffgier, Verschwendung und Prunksucht.12 Auch wenn diese These Grimmes heute als zu einseitig beurteilt wird,13 sind doch die zahlreichen sozialen Anklagen Muhammads gegen die ˙ immer schärfer werdende soziale Polarisierung in seiner Heimatstadt – er gleicht darin manchen alttestamentlichen Propheten – im Qur’a¯n nicht zu überhören. Als Anzeichen einer »globalen Krise« könnte damals auch das erste Einschleppen der Pockenkrankheit nach Arabien, das vermehrte Wachstum bitterer Pflanzen14 sowie die Kollektiv-Erinnerung an das große Erdbeben von Antiochien 528 gewertet worden sein.15 Die Heilsbotschaft Muhammads ˙ In der wissenschaftlichen Literatur zum Islam wird bisweilen ein Zerrbild des Qur’a¯n entworfen, als enthielte dieser keine heilsgeschichtliche Botschaft, sondern verträte ein den damaligen gesellschaftlichen Umbrüchen entsprechendes apokalyptisches Geschichtsbild, demzufolge das innerweltliche Heil ganz an das Ende der Geschichte bzw. jenseits von ihm ausgelagert wäre16 und die Welt daher grundsätzlich heillos und ohne Gottes barmherzige Zuwendung sei. Im Unterschied zur dualistisch-pessimistischen Apokalyptik etwa des 4. Esra oder des syrischen Baruchbuches17 subtrahiert der Qur’a¯n die Geschichte jedoch nicht zu einem Geschehensprozess immer größer werdender Heillosigkeit herunter; sein Gesamtduktus ist von der unablässigen Fürsorge Alla¯hs für seine Schöpfung, von seiner Güte, Barmherzigkeit und Gnade dem Menschen gegenüber und somit heilsgeschichtlich bestimmt. Dem Qur’a¯n fehlt gerade die für die Apokalyptik konstitutive Anschauung der periodisch18 immer weiter fortschreitenden Aus11 Grimme, 1892: 14 ff.18 ff.; vgl. zu Sure 43, 66 f.; 101, 4 Neuwirth, 2010: 309. 12 Vgl. etwa Sure 6, 137.140.151 ff.; 17, 31; 43, 83; 60, 12; 69, 26 ff.34 f.; 70, 21 ff.; 73, 11 ff.; 74, 6.15.43 ff.; 76, 8 ff.; 80, 1 ff.; 81, 8 f.; 83, 1 ff.; 89, 17 ff.; 90, 6 ff.; 92, 11.17 ff.; 93, 9 f.; 96, 6 f.; 100, 8 ff.; 102, 1 ff.; 104, 1 ff.; 107, 1 ff.; 111, 2. 13 Hurgronje, 1923: 319 ff.; Paret, 1972: 36 ff.; Nagel, 1983: 91 ff. 14 Nöldeke, 1973: 219. 15 Nöldeke, 1973: 465. 16 So z. B. bei Dantine: 1973: 189 und Goetze, 2014: 287 ff. Das Autorenkollektiv Trimondi (Pseud.), 2006: 285 ff. trennt demgegenüber richtiger zwischen der qur’a¯nischen Eschatologie und der apokalyptischen Tradition der aha¯dı¯t (sg.: ha¯dı¯t), das heißt den post-qur’a¯nischen ¯ ˙ ¯ Aussprüchen des Propheten und der Ima¯˙me. 17 Vgl. Jes. 24, 7 ff.; 4. Esra 4, 27 f.; 5, 55; 7, 10 ff.; 14, 10 ff.; syr. Baruch 83, 10 ff.; 85, 10. 18 Vgl. Dan. 2; 7; 8 – 12; 4. Esra 5, 55; 12, 10 ff.; 14, 11 ff.; syr. Baruch 27, 1 ff.; 85, 10; äthiop. Henoch 93, 1 – 10; Test. Levi 17; die muslimische »Zehn-Wochen-Apokalypse« bei Cook, 2002: 344 ff.; vgl. Anm. 114.
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lagerung des Heils jenseits einer Endkatastrophe19 und damit der Kernpunkt der apokalyptischen Weltbefindlichkeit, Weltflucht bzw. Weltaggression, auch wenn einzelne auch in der Apokalyptik verwurzelte Motive aus Muhammads End˙ zeitprophetie nicht wegzudiskutieren sind.20 So folgt Muhammad der Apokaly˙ ptik darin, dass Alla¯h erst am Ende der Tage das schlechthin Böse ein für alle Mal vernichtet21 und das uneingeschränkte Heil wiederherstellt. Aber schon mit der dualistischen Geschichtsauffassung der Apokalyptik22 stimmt Muhammad nur ˙ von ferne überein, indem die vom »Teufel« (iblı¯s) ausgeübte Funktion eher auf eine die göttliche Gerechtigkeit unterstützende »Assistentenrolle« hinausläuft, da er dem Menschen nur mit der Zustimmung Alla¯hs die Sünde »herausschmückt«.23 Der Qur’a¯n ist als Ganzes »an eschatological book and not an apocalyptical book.«24 Muhammad lebte in der Naherwartung25 des Geschichtsendes, der ˙ Auflösung des Kosmos26 und des Jüngsten Gerichts. Die entscheidende heilsgeschichtlich zu verstehende Innovation der Prophetie Muhammads im arabischen ˙ Umfeld bestand nun darin, dass sie das in der altarabischen Kollektiv-Poesie weit verbreitete Bild einer zyklisch-schicksalhaften, kreisenden Zeit eschatologisierte.27 Muhammad übernahm aus dem Judentum die lineare Auffassung einer ˙ vorwärtsgerichteten, gezielten, allein dem Willen, Handeln und Gestatten des einzigen Gottes unterworfenen Zeitbewegung mit geschichtlichem Anfangs- und 19 Vgl. Hiob 7, 12; 9, 13; 26, 12; Ps. 74, 13 f.; 89, 10 f.; Jes. 27, 1; 51, 9 ff.; syr. Baruch 29, 4. Die Definition des apokalyptischen Geschichtsbildes bei Vielhauer, 1971: 413 f.; Dantine, 1973: 15 – 23.188 f.; Taxacher, 2010: 76 ff.187 f.; Goetze, 2014: 296 f.366 ff. 20 Cook, 2002: 270 ff.275 ff.354.382 ff. mit Anm. 207 verweist vor allem auf die Schilderungen der kosmologischen Zeichen und der Naturkatastrophen beim Weltende (s. Anm. 26). Die im Qur’a¯n anklingende Vorstellung der »Zwei-Äonen« (Sure 29, 19 f.; 36, 79; 50, 15; 53, 47; 56, 62; vgl. 4. Esra 6, 7; 7, 10 ff.50; 8, 1; syr. Baruch 44, 11 ff.; 48, 50; 51, 16; Offb. 21, 1 ff.) und des Jüngsten Gerichts sind eher als eschatologisch zu werten; vgl. Neuwirth, 2010: 299 f.438 f. Kaum vorhanden ist im Qur’a¯n der Dualismus (vgl. Anm. 22 und 23). 21 Sure 7, 18; 17, 63; 38, 85; Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2009: 42; At-Tabası¯, 2006: 232 f.; vgl. Jes. 27, 1; Offb. 20, ˙ ˙ ˙ 7 ff. 22 Das qur’a¯nische Begriffspaar Licht/Finsternis ist sicher nicht im Sinn eines gnostischen Dualismus zu verstehen; vgl. Sure 2, 257; 5, 15 f.; 6, 122; 14, 1.5; 33, 43; 57, 9; 65, 11. 23 Vgl. Sure 4, 60.76; 15, 39 ff.; 17, 62 ff.; 22, 52 ff.; 114, 4 ff.; Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2009: 25 ff.199; ˙ Neuwirth, 2010: 456 f; so auch Paret, 1977: 45 und Nagel, 1983: 263. 24 Cook, 2002: 301; auch: 9.275 ff.301 ff.313 ff.; ders., 2008: 217; vgl. Schäfer, 2008: 74. 25 So schildert Muhammad in den Suren 79, 1 – 5; 100, 1 – 6 (vgl. Sure 77, 1 – 7) Naturphänomene, ˙ die von aggressiver Vorwärtsbewegung gekennzeichnet sind (vgl. Jes. 5, 26 ff.) und das stürmisch näherkommende Weltende und Jüngste Gericht ankündigen; Neuwirth, 2010: 286 ff.580 ff.694 ff.; dies., 2011: 168 ff.172 f.401 f.407; zu Sura 77, 1 – 7 vgl. dies., ebd.: 504. 26 Sure 56, 1 – 7; 69, 13 – 16; 75, 7 – 10; 77, 8 – 13; 78, 18 – 20; 81, 1 – 14; 82, 1 – 5; 84, 1 – 6; 101, 5; Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2009: 70.77 f.; vgl. Jes. 13, 10; 24, 9 f; Joel 2, 10; Matth. 24, 29; Offb. 6, 12 ff.; 8, 6 ff.; 16, 20.˙ 27 Paret, 1972: 120 ff.; Nagel, 1983: 149 ff.158 f.169.266; Neuwirth, 2010: 282.417 ff.; vgl. Taxacher, 2010: 45 f.83 ff.
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Endpunkt.28 Dadurch vermochte er dem pessimistischen Empfinden der altarabischen Kollektiv-Dichtung eine heilsverkündende Botschaft entgegenzustellen: Während der menschliche Existenzvollzug zuvor als sinnentleert galt, weil das individuelle Leben in unaufhörlichen Zyklen zerrinne und unmaßgeblich im jenseitsleeren Nichts verlösche,29 verkündete Muhammad nun , dass sich ˙ der Mensch auf der unumkehrbaren Zielgeraden der Geschichte für eine paradiesische Fortsetzung seines Lebens im Jenseits bewähren dürfe. Die hierfür erforderliche Dankbarkeit, die zu Buße und Umkehr führe, mache Alla¯h in seiner Gnade und Barmherzigkeit dem Menschen leicht, indem er Schöpfung und Geschichte nicht auf das Endgericht zulaufen lasse, ohne in sie die untrüglichen Zeichen seiner Rechtleitung zu setzen. Die Heilszeichen der barmherzigen Rechtleitung Gottes in der Schöpfung In der qur’a¯nischen Schöpfungslehre30 demonstriert Muhammad mithilfe seiner ˙ »Zeichentheologie« seinen Zeitgenossen ante oculos, wie dicht die Schöpfung von Heilszeichen durchsetzt ist. Er betont die unermüdliche Fürsorge Alla¯hs für die von ihm geschaffene Welt.31 Deren Segnungen und Wohltaten erfüllen ihre Zeichenfunktion, den Menschen zu Dankbarkeit, Buße und Umkehr anzuleiten, dadurch, dass sie im Hinblick auf Gotteserkenntnis32 und Rechtfertigung im Endgericht den zum Scheitern wie zum Glauben fähigen Menschen33 unmissverständlich über die Einzigkeit Gottes belehren. Jeder, der den ihm gnädig »anerschaffenen Heilsverstand«34 gebraucht, vermag diese in der Schöpfung aufgerichteten »Enbleme der Rechtleitung« (ayya¯t) zu seiner eigenen Rettung
28 Vgl. Sure 7, 29; 21, 104; 29, 19 f.; 30, 11.27; 33, 38; 69, 13 ff.18 ff.; 75, 1 ff.8 ff.; 78, 17 f.19 f.; 81, 1 ff.8 f. 10 f.13 ff.; 82, 1 ff.5 ff.; 84, 1 ff.6 ff.; 85, 13; 99, 1 ff.6 ff.; 101, 1 ff.6 ff. Nagel, 1983: 266 ff.; Neuwirth, 2010: 417 ff.; Schimmel, 2014: 144 ff. Vgl. Jes. 13 ff.; Offb. 6 ff. Im syr. Baruch 85, 10 ff. werden für diese unumkehrbare zielgerichtete Linearität einprägsame Vergleichsbilder angeboten: wie sich der Krug dem Brunnen, das Schiff dem Hafen, die Karawane der Stadt, der Mensch dem Tod nähert, so bewegt sich auch die Geschichte unweigerlich auf das ihr von Gott bestimmte Ende zu; vgl. auch 4. Esra 6, 1 – 6; Strack u. Billerbeck, Bd. IV, 2, 1978: 799 – 976. 29 Sure 13, 5; 17, 49.98; 19, 66; 23, 35 ff.81 ff.; 27, 66 ff.; 32, 10; 34, 7; 36, 78 f.; 37, 16 f.53; 46, 17; 50, 3; 56, 47; 75, 3 f.; 79, 10 ff.; Nagel, 1983: 149 ff.266 ff.; Neuwirth, 2010: 431 f. 30 Sure 27, 60 ff.; 30, 20 ff.46 ff.; 45, 3 ff.; 51, 20 ff; 55, 10 ff.; 77, 16 ff.; 78, 6 ff.; 79, 27 ff.; 80, 24 ff.; 90, 8 f. Zur Traditionsgeschichte dieser »Zeichentheologie« verweist Neuwirth, 2010: 433 ff.449 ff. z. B. auf Psalm 136, die spätjüdische Weisheit (vgl. Sap. Sal. 13, 5; Sefär Yes¯ıra¯h, ˙ ff. insbesondere Kapitel XV etc.) und Ephraem Syrus. vgl. auch Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: 38 ff.229 ˙ 347 f.367 ff.; ders., 2009: 22 ff.103 f. 31 Sure 55, 1 – 78; vgl. Ps. 135, 6 ff.; 136. 32 Sure 2, 164; 45, 3 ff.12. 33 Sure 2, 30 ff.; 90, 4; 91, 8; 95, 4 f. 34 Sure 30, 30; 91, 8 f.; Al-Qummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 17 f.; Nagel, 1983: 252 ff.290 f. ˙ ˙
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richtig zu deuten.35 Während die jüdisch-christliche Apokalyptik aufgrund ihrer Erbsündenlehre davon ausgeht, dass eine solche Bewährung der massa perditionis aus eigener Kraft kaum möglich sei,36 stellt Muhammad die menschliche ˙ Befähigung zum Heil in den Vordergrund. Hierin setzt sich Muhammad deutlich ˙ 37 von der intertestamentarischen Apokalyptik ab. Die Heilszeichen der barmherzigen Rechtleitung Gottes in der Geschichte In den sogenannten Straflegenden38 trägt Muhammad historische Erinnerungen ˙ zusammen, die trotz ihres Gerichtsaspektes eine fürsorgliche, heilsgeschichtliche Funktion besitzen: Seine Zuhörer sollen sich durch die vielen damals in Ruinen liegenden Siedlungen der arabischen Halbinsel warnen lassen. Alla¯h hat die dort einst lebenden, unbotmäßigen Völkerschaften bestraft. Deren verödet liegende Wohnstätten39 erscheinen im eschatologisch-linearen Geschichtsbild des Qur’an aber nur vordergründig als Stationen einer Unheilsgeschichte. Als unübersehbare Mahnmale siegreicher göttlicher Machtdemonstration gehören sie mit in die qur’a¯nische Zeichentheologie, die den Menschen auf dem zielgerichteten Weg40 zum Weltende und Weltgericht zur Buße und Umkehr umlenken soll. In derselben Hinsicht heilbringender Fürsorge deutet Muhammad in den˙ selben »Straflegenden« auch die Sukzession der von Alla¯h ausgesandten prophetischen Warner. Aus der Tatsache, dass jeder von ihnen auf Verstockung und Ablehnung41 stieß und mit brachialer Gewalt verfolgt wurde,42 aber nicht mundtot gemacht werden konnte, ließe sich vordergründig zwar auch die Vorstellung einer Unheilszyklik ableiten. Alle diese martyrisierten Gottgesandten gehören jedoch mit ihren Buß- und Umkehrrufen, die Alla¯h in seiner Barm-
35 Sure 6, 76 ff.; Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: 202.217.229.236.328; ders., 2009: 340 f.; so auch Ps. 19, 2 ff.; 50, 6; 97, 6; Röm. 1, 19 f.;˙ 2, 4. 36 4. Esra 3, 20 ff.; 7, 45 ff.67 ff.116 ff.; 8, 35; syr. Baruch 48, 42 ff.; 75, 5 ff.; Apk. Mos. 14, 2 f.; Vit. Ad. 44, 2; Schatzhöhle 5, 4 ff. 37 In Sure 2, 30 ff. negiert der Qur’a¯n die Vorstellung, dass der Mensch als solcher durch den Sündenfall aus dem paradiesischen status integritatis in den status corruptionis gelangt sei; Nagel, 1983: 264.283. 38 Sure 7, 59 ff.; 22, 42 ff.; 50, 12 ff.; 51, 31 ff.; 53, 50 ff.; 69, 1 ff.; 73, 15 ff.; 79, 15 ff.; 85, 10 ff.; 89, 6 ff.; 91, 10 ff.; 105, 1 ff.; vgl. Nagel, 1983: 167 f.; Neuwirth, 2010: 300 ff.; auch hier finden sich noch Residuen gemeinorientalischen Kreislaufdenkens, das Muhammad mit seinem eschatologischen Geschichtsbild linear überschreibt; vgl. Anm. 43. ˙ 39 Im Qur’a¯n schlagen sich offenbar historisch noch fassbare Kollektiverinnerungen an den Untergang bedeutender politischer Machtzentren nieder; vgl. Nöldeke, 1973: 192 ff.299 f. mit Anm. 4. 40 Sure 33, 38. 41 Sure 2, 6.14; 6, 25; 9, 94.98; 10, 44.75; 11, 26; 16, 110; 17, 47 ff.; 18, 55; 22, 45; 36, 8 f.; 40, 37; 41, 4.44; 42, 23; 43, 39; 47, 26; 57, 15; 63, 3 etc. 42 Sure 7, 82.88; 14, 13 f.; 26, 167; 27, 56; 29, 24; 40, 5; 54, 9.
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herzigkeit unüberhörbar werden lässt, als Heilszeichen zu der konstanten Leitlinie der heilsgeschichtlichen Fürsorge Gottes.43 Auf dem Höhepunkt dieser dramatischen heilsgeschichtlichen Zielspannung steht als letzte und krönende Manifestation die Sendung Muhammads selbst. Sie ˙ ist eine heilsnotwendige Einrichtung (wa¯g˘ib) der Rechtleitung Alla¯hs und ein 44 sichtbarer Beweis (hug˘g˘a) seiner Wahrheit. Muhammad als das »Siegel der ˙ ˙ Propheten«45 und der letzte von Alla¯h ausgesandte Warner46 ordnet sein eigenes Verfolgtsein und das seiner frühesten Anhänger in die ihm vorlaufende, nicht zum Schweigen gebrachte Märtyrerreihe47 ein, die er zum Abschluss bringt. Während aber die Ungläubigen bloß schwatzen48 und diese heilsbedeutsamen »Zeichen«49 ignorieren, sodass der Jüngste Tag sie überraschen wird, sind diejenigen, die sich durch die Sendung des Propheten50 zum Glauben haben rufen lassen, nach Sure 44; 54, 1 ff. in die Lage versetzt, die allerletzte und unwiederholbare Gelegenheit zu Buße und Umkehr zu ergreifen. Noch kurz vor dem Weltende ragt durch den machtpolitischen Triumphalismus Muhammads die künftige Weltvollendung mitten in die Letzt-Zeit hinein, ˙ indem das von Alla¯h dem Menschen angebotene Heil noch ehe, dass der Jüngste Tag anbricht, vor der gesamten Menschheit51 sichtbar und siegreich52 wird. Dem Wunder bei Badr 624, durch das Alla¯h der weit unterlegenen Heerschar Muhammads den Sieg verlieh,53 folgten die entscheidenden Triumphe, die 630 in ˙ der Eroberung Mekkas und der Reinigung der Ka‘ba vom Polytheismus gipfelten.54 Muhammad gelang es darüber hinaus, mithilfe seiner Heils- und Freudenbotschaft55 dem arabischen Tribalismus eine politisch einigende Wertigkeit sowie eine heilsgeschichtlich-universale Vision von Identität, Solidargemeinschaft und Berufung zu verleihen. Mithilfe der gleichwohl strikt provisorisch gedachten, »gottesstaatlichen« Gemeindebildung in Medina vermochte er sich 43 Sure 5, 15 f.; 14, 1.5; 57, 9; 65, 11; vgl. Nagel, 1983: 168; zur linear überschriebenen Zyklik s. Anm. 38. 44 Sure 6, 149; Khoury, 2011: 36 (Nr. 73). Dies umso mehr, wenn sich nach schı¯‘itischer Tradition in Sure 53, 4 das huwa (mit »er« statt mit »es« zu übersetzen) auf den Propheten selbst beziehen sollte. 45 Sure 33, 40: ha¯tam an-nabı¯yı¯n. 46 Sure 11, 12; ˘22, 49 ff.; 29, 50 f.; 42, 7; 51, 50 f; 53, 56 f.; 74, 1 ff.; 80, 11; 81, 27; 87, 9; 88, 21. 47 Sure 8, 30; 9, 40; 17, 76; 47, 13; 60, 1 und dazu Paret, 1975: 137 – 158; ders., 1977: 52.141.162.166.234. 241.354; Nagel, 2008a: 137 ff. 48 Sure 43, 83; 70, 42; 74, 45 ff. 49 Sure 47, 18. 50 Sure 5, 15 f.; 14, 1; 57, 9; 65, 11. 51 Sure 4, 79; 7, 158; 34, 28; 81, 27. 52 Sure 9, 33; 48, 28; 61, 9. 53 Sure 3, 13.123 ff.; 8, 9 ff.17.48 ff.65 f. 54 Sure 48, 1 ff.18 ff.24 f. 27 f.; 61, 13. 55 Vgl. Sure 2, 113; 5, 22; 7, 188; 11, 2; 33, 45; 34, 28 u. ö.
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der Welt als der von Gott selbst bestätigte Führer der arabischen Stämme zu präsentieren, dem Alla¯h – wie die Sendschreiben Muhammads an die Herrscher ˙ Ägyptens, Byzanz’, Persiens, Jemens und Äthiopiens beweisen56 – den Auftrag erteilt hatte, noch kurz vor dem Weltende und Jüngsten Tag den gesamten Erdkreis der islamischen Umkehrbotschaft zu unterwerfen.57 Auch die gigantische militärische Expansion unter den ersten Kalifen als Erfüllung des Vermächtnisses Muhammads58 konnte noch als unübersehbares Heraufziehen der ˙ eschatologischen Heilsvollendung aufgefasst werden.59 Die Heilszeichen der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes im Endgericht Heilsgeschichtlich gedacht ist im Qur’a¯n schließlich auch das Weltende selbst mit seinem Endgericht. Der von Alla¯h festgesetzte Termin des Endgerichts60 ist ein Fälligkeitstermin61, der die sich hinziehende Duldung des irdischen Frevels zugunsten ihrer Opfer endlich beenden62 und das universale Heil in Bälde durchsetzen soll. Alla¯h, der »Aufschiebende« (al-mu’ahhir), kommt nach der jedem Menschen zur Bewäh˘˘ rung gnädig zuerkannten Lebensfrist, »schnell zur Abrechnung« (sarı¯‘u lhisa¯bi)63 – in seiner Barmherzigkeit zum Lohn64, in seiner Gerechtigkeit zur Strafe ˙ (sarı¯‘u l-‘iqa¯bi)65. Über die Art und Weise des Fortlebens im Jenseits entscheidet die Lohn- und Strafgerechtigkeit Gottes66 nicht in billiger Gnade. Das Fortleben ist nur dann ¯ yatolla¯h Homeinı¯ am 56 Al-Buha¯rı¯, 2010: 26 ff.311 f.; Nagel, 2008a: 431 ff. So sandte auch A ˘ Führung 07. 01.˘1989 eine Delegation zu Präsident Michail Gorbatschow, die der sowjetischen vorschlug, nach dem Scheitern des Kommunismus den Islam als Alternative in Betracht zu ziehen. Homeinı¯, 2010b: 29 f.; Naji, 2009: 197. ˘ 8, 39. 57 Sure 2, 193; 58 Vgl. Taeschner, 1964: 56. 59 Die Einnahme Jerusalems 638 durch den zweiten Kalifen ‘Umar (634 – 644) ließ sich als Erfüllung der Prophezeiung verstehen, dass der Fall Jerusalems ein Vorzeichen des Weltendes sei (s. Anm. 10). Ähnliche Weissagungen gab es zur Eroberung von Konstantinopel (= Ostrom), um dessen Einnahme sich 679 Mu‘a¯wiya und seine Nachfolger vergeblich bemühten; vgl. At-Tabası¯, 2006: 119.136 ff.191 ff.; Targu¯m-Midrasch zu Klgl. 4, 20 ff.; Pesı¯qta¯’ ˙ ˙Strack u. Billerbeck, Bd. IV, 2, 1978: 764 ff., hier S. 792.; vgl. zu Anm. 117. Rabba¯tı¯ 4, f. 18a; 60 Sure 37, 20 f.; 40, 18 ff.; 44, 40; 53, 57; 56, 47 ff.; 71, 4; 77, 11 ff.38; 78, 17. 61 Vgl. Sure 2, 282. 62 Vgl. Mark. 13, 20. 63 Vgl. Sure 14, 48 – 51; 24, 37 – 39; 38, 15 f.; 40, 17 f. 64 Sure 3, 199; 84, 8. 65 Sure 6, 165; 7, 167. 66 Im Qur’a¯n ist freilich die Konkurrenz von a) göttlichem Zugeständnis menschlicher Freiheit und Individualverantwortung, b) unbegrenzter Geschichtsmacht und Entscheidungsfreiheit Alla¯hs im gerechten Gericht und c) seiner alles übergreifenden Güte und Barmherzigkeit deswegen nicht in einen widerspruchsfreien Einklang gebracht, weil in Hinsicht auf die uneingeschränkte Souveränität Gottes jeder dieser drei Aspekte auch für sich als absolut gelten muss; vgl. Sure 2, 284; 3, 128 f.; 5, 18.40; 9, 66; 12, 52 f.; 15, 38 ff.; 17, 54; 24, 40 ff.; 29,
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heilvoll, wenn sich der Mensch im Diesseits, in der »Heimstatt der Prüfung« bewährt hat und somit am Jüngsten Tag die vorausgeschickten »Anstrengungen« und Verdienste aufweisen kann, mit denen er sich für die Förderung und Verteidigung des wahren Glaubens einsetzte.67 Muhammad vertritt hier die ebenso ˙ in der jüdischen Märtyrerliteratur belegte Anschauung, dass weder die Bemühungen und Leiden um des wahren Glaubens willen unbelohnt noch Verfolgung und Unterdrückung unabgegolten ad acta gelegt werden dürfen.68 Wer sich in seiner irdischen Existenz, auf dem Übergangsweg zum Jenseits durch Umkehr und Glaubenspraxis um den Islam verdient gemacht hat, der wird auch in seine ewigen Heilsrechte eingesetzt werden. Rechtssicher gemacht wird dieses heildurchsetzende Gerechtigkeitsprinzip mithilfe der himmlischen Buchführung69 – ein Motiv, das sich auch in der Hagiographie des Propheten findet. Als Muhammad im Anschluss an seine ˙ Nachtreise70 der Legende zufolge auch durch den siebten Himmel geführt wird, vernimmt er dort das »Kratzen von Schreibfedern«.71 Am Jüngsten Tag stellt Alla¯h das verheißene ewige Heil gemäß dieser unauslöschlichen Einträge her. Da Alla¯h in seiner Gnade und Barmherzigkeit für die Umkehr des Menschen zu ihm alles getan hat, sind seine Belohnung und seine Strafe nach aktenkundigem Verdienst oder Versagen72 immer gerecht.73 Durch aufhebende Milde, Amnestie
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21 ff.; 33, 24 f.; 45, 24 – 37 ff.; 48, 14; 74, 31; 92, 5 ff. etc.; vgl. Nagel, 1983: 166 f.263 ff.270 ff. 276 ff.292 ff. Sure 2, 207.218; 3, 157 f.169.195; 4, 74.100; 8, 74; 9, 20 ff.111; 16, 41; 22, 58 f.; 47, 4 ff.; 61, 10 ff.; 73, 20; vgl. Nagel, 2008b: 404 f. Im Qur’a¯n ist der Gerechtigkeitsbegriff stark vom kaufmännischen Denken bestimmt. Torrey, 1892. Nach Sura 2, 207; 4, 74; 9, 111; 61, 10 hat Alla¯h den Gläubigen ihr irdisches Leben mit der Verheißung des Paradieses »abgekauft« (isˇtara¯). Durchgehend werden in der Rechtfertigungslehre des Qur’a¯n Termini aus dem Geschäftsleben (Sure 2, 282 f.) verwendet wie »Kauf«, »Lohn«, »Preis«, »Versorgung«, »Ware«, »Darlehen«, »Lösegeld« etc.; Sure 2, 90.102; 3, 169.195; 4, 74.100; 8, 74; 16, 41; 22, 58; 57, 11.15.18; 61, 10; 73, 20; 89, 16 u. ö. Diese kaufmännische Motivik taucht auch immer wieder in den von W. Schmucker untersuchten iranischen Märtyrertestamenten auf; s. Schmucker, 1987: 214 f.222. Syr. Baruch 82, 2; 2. Makk. 7, 9.11.14.19.23.29.35 f.; 12, 45; 4. Makk. 9, 8 f.32; 10, 11; 11, 23; 12, 12.18; 13, 17; 14, 5; 17, 18; 18, 3.5.23; Klauck, 1989: 672 ff.; von solcher Auffassung der unbedingten Verlässlichkeit Gottes (vgl. Taxacher, 2010: 156) sind bis heute islamistische Organisationen bestimmt, wie z. B. schon aus den ersten Flugbättern der Hama¯s hervorgeht; ˙ Croitoru, 2010: 77. Sure 6, 59; 17, 13 f.71; 69, 19 f.25 f.; 45, 28 f.; 78, 29; 81, 10; 82, 11 f; 83, 7 ff.19 ff.; 84, 7 f.10 f.; AlQummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 51 f.; vgl. Dan. 7, 10; Offb. 20, 12.15; äthiop. Henoch 47, 3; 89, ˙ ˙ 90, 17.20; 97, 6; 98, 7 f.; 104, 7; 108, 7; 4. Esra 6, 20; vgl. auch Speyer, 1971: 333 f. 62 ff.70 ff.76; Sure 17, 1. Vgl. Sure 82, 10 ff. Zur »Nacht-« und »Himmelsreise« s. Ibn Isha¯q, 1976: 78 ff.83 ff. Das Motiv der »kratzenden Schreibfedern« ist bei al-Wa¯kidı¯ überliefert;˙ vgl. auch Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: ˙ 251; Nagel, 2008b: 45. 4. Esra 9, 17 z. B. gebraucht eindrückliche Vergleiche: »Wie der Acker, so die Saat; wie die
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oder Sonderregelungen wird niemand übervorteilt werden.74 Diese streng eingehaltene Gerechtigkeitsgarantie von Lohn und Strafe am Jüngsten Tag wird delegiert an die unbestechliche Mechanik der jedes Stäubchen75 registrierenden Waage (mı¯za¯n).76
Der Verlust der Heilsgeschichte: der Untergang des wahren Gottesstaates Die »Quintessenz allen Unglücks« Nach dem Tod Muhammads 632 kam es zu einer Folge von Ereignissen, welche ˙ die Entstehung einer speziell schı¯‘itischen Apokalyptik im Sinne eines tribulationistischen Geschichtsverständnisses77 begünstigten. »Shı¯‘ı¯ apocalyptic is a natural outgrowth of the tragic Shı¯‘ı¯ history.«78 Der Name Schı¯‘a (sˇ¯ı’a = »Partei«) rührt aus den Sukzessionsstreitigkeiten nach dem Tod Muhammads 632 in ˙ Medina her. Die Partei ‘Alı¯ ibn Abı¯ Ta¯libs, des Vetters und Schwiegersohns ˙ Muhammads und – nach Abu¯ Bakr (632 – 634), ‘Umar (634 – 644) und ‘Utma¯n ¯ ˙ (644 – 656) – vierten »rechtgeleiteten« Kalifen, interpretierte das Nachfolgekriterium von Sure 4, 59 im Sinn der Blutsverwandtschaft mit der Prophetenfamilie (ahl al-bayti),79 in der sich die Erleuchtung durch Gott als persönliche Natur-
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Blumen, so die Farben; wie die Arbeit, so das Werk; wie der Bauer, so die Ernte.« Vgl. auch 4. Esra 7, 35.; 2. Kor. 9, 6. Sure 2, 134.141.286; 3, 161; 4, 18.40.193; 6, 70.160; 10, 4; 48, 16 f.; 74, 38; 76, 31; 84, 25; vgl. 4. Esr. 7, 33 ff.; 9, 17; syr. Baruch 54, 15 ff. Alla¯h erlaubt keinen Nachlass durch Fürsprache (Sure 2, 48.123.254; 9, 113; 30, 12 f.; 74, 48; vgl. 4. Esr. 7, 102 ff.; syr. Baruch 85, 12). Fürsprecher könnte er nur selbst sein; vgl. Nagel, 2008a: 113. Allerdings wird schon in der Felsendom-Inschrift von 691/2 zu Jerusalem (Außenseite des oktagonalen Arkadenumlaufs, Nordost-Seite) Alla¯h gebeten, Muhammads ˙ Fürsprache am Tag der Auferstehung anzunehmen; vgl. Dobberahn, 2013: 179.190.224; zu ¯ yatolla¯h Sayyid Kama¯l alden entsprechenden Aha¯dı¯t vgl. Khoury u. Abdullah, 1987: 502 ff.; A ¯ Haydarı¯, 2013: 99 ff. ˙ ˙ Sure 99, 7 f. Sure 7, 8 f.; 23, 102 f; 55, 7; 57, 25; 99, 7 ff.; 101, 6 ff.; Al-Qummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 59. ˙ Tribulationismus = Die Gläubigen werden inmitten oder erst am˙ Ende der Trübsal (tribulatio) durch das Kommen des Erlösers errettet; vgl. Schäfer, 2008: 141 ff. Cook, 2002: 192; ders., ebd.: 193 f.228 f.331 f. und Ourghi, 2008: 211 sehen die Differenzierung zwischen sunnitischer und schı¯‘itischer Apokalyptik im Zusammenhang der ‘abba¯sidischen Bürgerkriege (im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert), von deren Ereignissen die meisten Voraussagen zu den Umständen der Wiederkunft des Mahdı¯ beeinflusst sind. Auf die zahlreichen apokalyptischen und messianischen Bewegungen der Umayyaden- und frühen ‘Abba¯siden-Zeit (Dabasˇ¯ı, 2012: 69 f. 109 ff.) sowie auf die speziell sunnitische Apokalyptik und Mahdı¯-Gestalt (Cook, 2002: 225 ff.315) können wir hier nicht eingehen. Sure 33, 33; vgl. Taeschner, 1964: 71 ff.75 ff.; Halm, 1988: 8 ff.; ders., 1994: 15 ff.; ders., 2005: 11 ff.; ders., 2011: 47 ff.; Gronke, 2009: 19 ff.; Amirpur, 2013a: 14 ff.19 ff. Hinzu kommt die
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anlage, als leibliches »Erb-Charisma« fortsetze. Damit etablierte sie – wohl von iranischen Vorstellungen beeinflusst80 – eine ima¯mitisch-gottesstaatliche Doktrin, nach welcher jede andere islamische Herrschaft usurpatorisch und illegitim sei und der innerweltliche Fortgang der Heilsgeschichte einzig durch die genealogische Prolongation der irdischen Anwesenheit des Propheten garantiert werde (siehe Abbildung 1).81 Durch die Ermordung ‘Alı¯s 661 und das Martyrium Husayns (‘Alı¯s jüngstem ˙ Sohn), der bei Karbala¯’ am 10. Muharram (= ‘Asˇu¯ra¯’82) des Jahres 680 von seinen ˙ ku¯fı¯schen Gefolgsleuten im Stich gelassen worden war, kam es für die Schı¯‘a daher zum definitiven Verlust des legitimen Gottesstaates. Karbala¯’ (karb = Betrübnis, Leid; bala¯’ = Heimsuchung, Kummer83) nahm für die Schı¯‘a die Ausmaße einer Urkatastrophe, eines formativen Traumas an und wurde für sie zur »Quintessenz allen Unglücks« (zubdat al-masa¯’ib).84 Durch das mit Karbala¯’ ˙ 680 verbundene »Erlöschen der Leuchte der Rechtleitung« und den Verlust des »Staates der Wahrheit und des Glaubens« galt die Geschichte als ihrer Heilsquelle beraubt: »Was für ein gewaltiges Unglück (mus¯ıbatan ma¯ a‘zamaha¯) und ein ˙ ˙ schwerer Verlust (wa-a‘zama razı¯yataha¯) im Islam (fı¯-l-isla¯mi) und in der Ge˙ samtheit der Himmel und der Erde (wa-fı¯-l-g˘amı¯‘i-s-sama¯wa¯ti wa-l-ardi)!«85 ˙
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Überlieferung, dass Muhammad am 16. März 632 ‘Alı¯ bei G˙adı¯r Humm zu seinem Nachfolger ˙ ¯ ’ n-nudba, 2014: 11 ff.; Sˇayh al-Mufı¯d,˘2006: 122 ff.; Sayyid ‘Abd aldesigniert haben soll; du‘a ˘ Husayn Sˇaraf ad-Dı¯n al-Mu¯sawı¯, 2006: 277 – 300; Halm, 1988: 10 f..; ders., 1994: 15; ders., ˙ 2005: 11. Xvarɘnah (avestisch) = »[erblicher] Machtglanz«; vgl. Taeschner, 1964: 79. Auch Halm, 1988: 11 zufolge ist dieses hereditäre Prinzip unarabisch. Goldziher, 1925: 206 f.213 f.; Gabriel, 1974: 88 f.; Halm, 1988: 54.68; ders., 1994: 43 ff.; ders., 2005: 33 ff.; Tibi, 1998: 115; Dabasˇ¯ı, 2012: 43 f. Nach einer späteren Überlieferung soll sich ‘Alı¯ daher als den »Punkt unter dem ba¯’ («)ب, dem ersten Buchstaben der bismilla¯h (=»im Namen Alla¯hs«) der ersten Sure bezeichnet haben, also als die Individuation der Offenbarung selbst. Homeinı¯, 1981: 405.432; ders., 2011: 80. ˘ ˇu¯ra¯’ (hebräisch-aramäisches Wort: »der Zehnte«) bezeichnet den 10. Tag (des Monats ‘As Muharram). ˙ Volksetymologie aus dem altmesopotamischen Ortsnamen; Halm, 1994: 182, Anm. 28. Vgl. Halm, 1994: 188. Eine ausführliche Darstellung der Ereignisse von Karbala¯’ 680 bei Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 267 – 333; vgl. a. die eindrucksvolle Dichtung bei Habı¯bu ’lla¯h Fa¯rsı¯ Qa¯’a¯nı˘¯ ˙ (1808 – 1854), übersetzt von Schimmel, 2014: 42 f. und die deutsche Comic-Version bei Bahmanpour, 2014. So wörtlich die vom 5. und 6. Ima¯m (8. Jahrhundert) überlieferte ziya¯ratu ‘asˇu¯ra¯’ (= Audienz ¯ sˇu¯ra¯’), 2013: 4 f.13. Der Heilsverlust bezieht sich hiernach auf den Verlauf der Weltzu ‘A historie, da Alla¯h den usurpatorischen Tyrannen Aufschub gewährt; s. Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: ˙ f. Mit 223; Muhammad ibn Muhammad al-Ha¯rit¯ı (= Sˇayh al-Mufı¯d, 948/950 – 1022), 2006: 203 ˙ ˙ der Geschichte ˙ ¯ geht eine ˘ starke Abwertung des Diesseits einher, dieser Apokalyptisierung wohinter die qur’a¯nische Zeichentheologie der Schöpfungslehre (s. S. 110 f.) zurücktritt; Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: 124.137 ff.162.168.180 ff.203.206.224 f.229.258 f.261 ff.272 f.277 f.280 ff.284 ff. ˙ ff.336 ff.358 ff.365 f.382 f.; ders., 2009: 21 ff.40 f. 68.77 f.248.331 f.335.340.357. 369. 307 ff.330 372.420 f.448 f.
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Ähnlich äußert sich die lange Reihe der 37 Wo? (ayna)-Fragen im schı¯‘itischen Bittgebet der Wehklage (du‘a¯’ n-nudba): »Wo ist das verbindende Mittel zwischen der Erde und dem Himmel?« (ayna s-sababu l-muttasilu bayna l-ardi wa-s˙ ˙ sama¯’i).86 Die Wiedereinsetzung der durch den Tod Husayns verlorenen got˙ tesstaatlichen Heilsnorm würde sich erst am Ende der Tage bei der Vernichtung des Dag˘g˘a¯l87 durch den Mahdı¯,88 den Endzeiterlöser vollziehen.89 Der Mahdı¯ selbst wird zwar im Qur’a¯n nicht genannt90 und spielt daher in der sunnitischen Glaubensrichtung eine nur untergeordnete Rolle.91 In der Schı¯‘a jedoch gilt seine Erwartung als »Lebensnerv« und »Herzstück des Glaubens«. Die in die Schı¯‘a wohl am ehesten aus der spätjüdischen Apokalyptik übernommene Hoffnung auf eine militante Rettergestalt, die kurz vor dem Weltende und Jüngsten Gericht eine die wahre Gottesverehrung durchsetzende Heilsperiode einleitet,92 stellt eine besondere, im Endzeitdrama eingeschobene Episode dar, welche die Schı¯‘a zur Bewältigung ihres Karbala¯’-Traumas von 680, das heißt ihres »Ursprungsmythos’« und des hieraus entstandenen »Leidens- und Viktimisierungsnarrativs«,93 adaptiert hat.
86 So das auf den 6. Imam (8. Jahrhundert) zurückgehende du‘a¯’ n-nudba, 2014: 18 ff. 21.26.33.39 f. 87 Die Bezeichnung ad-dag˘g˘a¯l als Gegenspieler des Mahdı¯ (s. Anm. 88) geht auf das aramäischsyrische Wort dagga¯la¯’ = »Lügner, Treuloser« zurück; vgl. den in den Qumra¯nschriften (1QpHab, col. X, 9; 4Q171, col. I, 25 und col. IV, 14) genannten »Lügenpropheten« (matt¯ıf hak-ka¯za¯b = »Lügenträufler«), bzw. den »Pseudo-Christus« von Matth. 24, 24; 2. Thess.˙˙2, ¯ 3 ff.; vgl. Strack u. Billerbeck, Bd. III, 1979: 637 ff.; Cook, 2002: 93 – 120; Trimondi, 2006: 289 f.; Ourghi, 2008: 47 f. 88 Mahdı¯ = Pt. pass. von arabisch √hdy I. in der Bedeutung »der [von Alla¯h] Geführte, der [von Alla¯h] Rechtgeleitete«, dann: »der rechtgeleitete Führende«. 89 Cook, 2002: 142.195 f.228 f.; vgl. Dabasˇ¯ı, 2012: 81 ff.86; dazu s. S. 121. 90 Zur schı¯‘itischen Qur’a¯n-Interpretation hinsichtlich des Mahdı¯ vgl. z. B. Asˇ-Sˇira¯zı¯, 2014. 91 Auch in den bedeutsamsten sunnitischen Hadı¯t-Sammlungen von Al-Buha¯rı¯ (gest. 870) und ¯ Muslim ibn al-Hag˘g˘a¯g˘ (gest. 875) wird der˙ Mahdı¯ nicht erwähnt; zu den˘ Gründen s. Gold˙ ziher, 1925: 222. Dennoch existieren auch kanonische Hadı¯t-Kompendien der Sunna, welche ˙ ¯39; ders., 1994: 47 f.; ders., 2005: die Mahdı¯-Vorstellung unterstützen; Halm, 1988: 25, Anm. 36 f.; Ourghi, 2008: 147 ff. In der sunnitischen Apokalyptik ist der Mahdı¯ fester Bestandteil; Cook, 2002: 137 ff.; ders., 2008: 126 ff. 92 Vgl. 4. Esra 7, 26 – 33; 12, 31 – 34; syr. Baruch 29, 3 – 30, 1; 39, 7 – 40, 4; 72, 2 – 74, 4; Sibyll. III, 652 ff.767 ff.; äthiop. Henoch 91, 12 f.; Offb. 20, 1 – 10; Strack u. Billerbeck, Bd. IV, 2, 1978, 766 – 798.977 – 1015; Goldziher, 1925: 217 ff.221 f.; Taeschner, 1964: 84. 93 Zum Terminus »Ursprungsmythos« s. Tillich, 1980: 27 ff. u. ö.; dazu Thoß u. Richter, 1991: 146 ff.164 ff. 176 f.181 ff.; zum »Leidens- und Viktimisierungsnarrativ« s. Damir-Geilsdorf, 2008: 78 ff.
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Abbildung 1: Zwölferschı¯‘itenring mit Veranschaulichung des schı¯‘itischen Führungsanspruchs und der hieraus erwachsenen Doktrin des ima¯mitischen Gottesstaates. Die Inschrift dokumentiert die Teilhabe der schı¯‘itischen Ima¯me an der göttlichen Lichtsubstanz. Innerhalb der Aureole ist von rechts nach links zu lesen: 1. Zeile: an erster Stelle steht Alla¯h, ihm folgt der von Alla¯h eingesetzte Muhammad, auf diesen dann – unter Weglassung der ersten drei »rechtgeleiteten« Kalifen ˙– direkt ‘Alı¯ [ibn Abı¯ Ta¯lib], der 4. »rechtgeleitete« Kalif = 1. Ima¯m, ermordet 661. Der Schlussbuchstabe seines ˙ Namens, Ya¯, nach ku¯fı¯scher Manier lang nach rückwärts ausgezogen, führt in ununterbrochener Abfolge über Muhammad bis auf Alla¯h selbst zurück: das heißt: ‘Alı¯, ˙ der Vetter Muhammads, steht zusammen mit Muhammad auf einer von Alla¯h ˙ ˙ ausgehenden Linie. – 4. Zeile, Zeilen 2 und 3 verklammernd und wegen der genealogischen Rückbindung graphisch mit dem Namen ‘Alı¯ vereinigt: Fa¯tima, vierte und jüngste Tochter ˙ das Erwachsenenalter Muhammads (dessen einziges Kind, bei dem Nachkommen ˙ erreichten) und leibliche Mutter der Prophetenenkel (Al-)Hasan und (Al-)Husayn. – 3. ˙ usayn, 3. Ima¯˙m. Der Name Zeile: (Al-)Hasan, 2. Ima¯m, gest. 670 oder 678. – 2. Zeile: (Al-)H ˙ (Al-)Husayns steht graphisch im Zentrum. Die hellrote Farbe ˙des Steins stellt nach einem ˙ oft tradierten Hadı¯t Muhammads94 den in Blut verwandelten Sand von Karbala¯’ dar: das ˙ ¯ und˙ den Verlust des legitimen Gottestaates. (©Friedrich Erich Martyrium Husayns Dobberahn)˙
94 Vgl. Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 335 f. ˘
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Die schrittweise Auslagerung des Heils an das Ende der Geschichte In der Schı¯‘a entwickelte sich nun das apokalyptische Weltgefühl einer schrittweisen Auslagerung des innerweltlichen Heils an das Weltenende95 nebst der Dualisierung des Geschichtsbildes. Auf der einen Seite bedeutete für die Schı¯‘a der Tod Husayns den Beginn schrankenloser Rechtswillkür, Korruption, Ne˙ potismus, Verschwendung und Sittenverfall unter der Herrschaft der usurpatorischen, in Irreleitung gestürzten umayyadischen und ‘abba¯sidischen Kalifen.96 Ihre auf Al-Husayn genealogisch folgenden Ima¯me sah die Schı¯‘a in den immer ˙ stärker werdenden Sog einer Passionsgeschichte des wahren Islam hineingezogen. Auf der anderen Seite verehrte sie ihre Ima¯me als erleuchtete, vor der Sünde geschützte und unfehlbare Heilsgestalten,97 mit denen die Heilsgeschichte nach dem Untergang des legitimen Gottesstaates noch nicht gänzlich abbrach, weil nach schı¯‘itischer Anschauung Alla¯h kein Zeitalter die von ihm erleuchtete Führung und Rechtleitung entbehren lässt.98 Trotz ihrer politischen Einflusslosigkeit noch wirkungsmächtig genug durch vorbildhafte Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, Reinhaltung der Lehre, Genügsamkeit und freigebige Armenpflege,99 trotz des Argwohns, den ihnen die sunnitischen Kalifen aufgrund des ima¯mitischen Leitungsanspruchs stets entgegenbrachten, trotz haftähnlicher Beaufsichtigung, nahmen die Ima¯me noch in gewisser Weise ihr soteriologisch unverzichtbares Führungsamt wahr. Auch wenn das von der Schı¯‘a gezeichnete Gesamtbild ununterbrochener Verfolgung und Unterdrückung ihrer Ge-
95 Vgl. zur Definition Anm. 19. 96 Vgl. Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: 54.137 ff.198.246 ff.266.272 f.313.353 f.372 f.; Motahharı¯, 1997: ˙ 23 ff.94 ff.112 ff. Ausdruck dieser Dualisierung sind auch die in safawı¯discher˙ Zeit (16. Jh.) ˙ ersten »rechtgeleiteten sogar verpflichtend gewordenen rituellen Schmähungen der drei Kalifen« bei den Prozessionen am 10. Muharram (as-sabb = Schmähung; al-bara¯’a = Lossagung); Texte in: ziya¯ratu ‘asˇu¯ra¯’, 2013: 5˙ ff.9 ff.14 ff.17 f.19 f.; vgl. Goldziher, 1925: 203 f.; Halm, 1988: 16.61.107; ders., 1994: 55.109; ders., 2005: 42; Amirpur, 2013a: 40; Schimmel, 2014: 47 f. 97 Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: 52 ff.78.220 f.278.295.328 f.333 f.344 f.361.385 f.; ders., 2009: 30.38.55 ff. 72.141 f.185˙f.333.355 f.; Al-Qummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 33.76 f.79; Khoury, 2011: 36 ff. (Nr. 72 – ¯ yatolla¯˙h ˙Sayyid Kama¯l al-Haydarı¯: 2013: 82 ff.94 ff.109.120 – 111); Homeinı¯, 1981: 64 f.; A ˙ ˘ 132.151.159 ff.178 ff.185 ff.259 ff. 98 Du‘a¯’ n-nudba, 2014: 26; Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 340.366; Al-Qummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 76 f.; ˙ ˙ der Schı¯‘a ver˘ Goldziher, 1925: 198. Aus der von Teilen Khoury, 2011: 37 ff. (Nr. 76 ff.); tretenen präexistenten Schöpfungsmittlerschaft Muhammads und der Prophetenfamilie ¯ yatolla¯h Sayyid Kama¯l al-Haydarı¯, 2013: 84.94 ff.109.˙ 121 f.126; vgl. Joh. 1, 3.10; Kol. 1, 16; (A ˙ Hebr. 1, 2) ergibt sich sogar, dass die Welt ohne die Anwesenheit der Ima¯me keinen einzigen Tag fortbestehen kann; vgl. Halm, 1988: 54.68; ders., 1994: 46; ders., 2005: 35; Ourghi, 2008: 169 f.189 mit Anm. 233; vgl. a. Nagel, 2008b: 157 ff. 99 Vgl. Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 341 ff.351 ff.363 ff.387 ff.409 ff.427 ff.440 ff.450 ff.465 ff., inbes. 259. ˘ 351.358.364.366.393; vgl. Motahharı¯, 1997: 135 f.150 ff. Bisweilen ließen sich die sunnitischen ˙ beraten; Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 367.395 ff.417 ff.425.431 ff.; vgl. Kalifen sogar von den Ima¯men ˘ Mark. 6, 20.
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meinde100 und schließlicher Vergiftung all ihrer Ima¯me der historischen Wirklichkeit nicht voll entsprach,101 erblickte die Schı¯‘a in ihren Ima¯men – in zyklischer Wiederaufnahme der einst Muhammad vorauslaufenden, von Gott ˙ heilsgeschichtlich immer wieder machtvoll bestätigten Märtyrerfolge102 (s. S. 111 f.) – dennoch eine sich über zwei Jahrhunderte hinweg erstreckende, lückenlose Kette von unbeugsamen Blutzeugen.103 Al-Qummı¯ as-Sadu¯q (918 – ˙ ˙ 991) deutete Sure 17, 4 – 8 daher schließlich als apokalyptische Allegorie auf die Prophetenfamilie104 und behauptete, dass schon Muhammad an den Folgen eines ˙ Giftanschlags nach der Eroberung von Haybar 628 verstorben sei.105 ˘ Die kleine und die große Verborgenheit des Mahdı¯ Die Vorstellung des wirklichen Verlustes der Heilsgeschichte bahnte sich in der Schı¯‘a an, als die Ima¯m-Reihe mit dem elften, früh verstorbenen und kinderlos gebliebenen Ima¯m Al-Hasan, genannt az-Zakı¯ al-‛Askarı¯ = »der Reine, der sich ˙ im Heerlager Aufhaltende« (gest. 874), abriss. Es setzte sich jedoch die Tradition durch, Al-Hasan habe einen Sohn namens Muhammad besessen, den er aus ˙ ˙ Vorsicht vor dem Zugriff des ‘abba¯sidischen Kalifen Abu¯ l-‘Abba¯s Ahmad al˙ Mu‘tamid (reg. 870 – 892) an einem geheimen Ort in Sicherheit hätte bringen können; von dort habe ihn Alla¯h 874 in die – diesseitige – Verborgenheit (g˙ayba) entrückt,106 um ihn als Mahdı¯, als Endzeiterlöser, erst am Ende der Tage wieder hervortreten zu lassen. In dieser Zeit der sogenannten »kleinen Verborgenheit« (al-g˙ayba as-sug˙ra¯, 874 – 941) wurde für den entrückten zwölften Ima¯m die be˙˙ stehende Institution der wika¯la – einer Bevollmächtigung zur Ima¯m-Stellvertretung – weitergeführt,107 wodurch es in den folgenden rund 70 Jahren zu einer 100 Goldziher, 1925: 200 ff.; selbst unter der Herrschaft der die Schı¯‘a schützenden und fördernden Herrschaft der Bu¯yı¯den (945 – 1055; vgl. Taeschner, 1964: 135 ff.; Halm, 1988: 56 ff.; ders., 1994: 108 ff.; ders., 2005: 61 ff.; Gronke, 2009: 33 f.) kam es immer wieder zu antischı¯‘itischen Pogromen; vgl. Halm, 1988: 61.66. Die Schı¯‘a blieb aufgrund ihrer ablehnenden Haltung (rafd) sunnitischer Regime bis in heutige Zeiten (vgl. die Repressionen der Schı¯‘iten ˙ im Iraq, Saudi-Arabien, Jemen, in den Emiraten und im Libanon) verdächtig und inferiorisiert; vgl. Ramazani, 1988: 35 ff.39 ff. 42 ff.48 ff.181 ff.; Halm, 1988: 49.170 f.; ders., 1994: 175 f.; ders., 2005: 119; Ibrahim, 1997: 142 ff.258 ff. 101 Halm, 1988: 37 f.; ders., 1994: 38; ders., 2005: 28. 102 Sure 40, 5 f.; vgl. 7, 83.91 f.; 14, 15 ff.; 26, 170 ff.; 27, 56 ff.; 29, 24 f.; 54, 11 ff. 103 Dem Martyrium der Imame wurde dabei sogar eine fürbittende, stellvertretende Sühneleistung zugeschrieben; vgl. hierzu auch 4. Makk. 6, 28 f.; 9, 24; 12, 17; 17, 20 ff. und Klauck, 1989: 670 ff. Anklänge an eine Stellvertretungs-»Christologie« sind nicht zu übersehen; vgl. Halm, 1988: 19.101; ders., 1994: 44 f.; ders., 2005: 34 f.; Dabasˇ¯ı, 2012: 80. 104 Cook, 2008: 103 ff.; vgl. ders., 2002: 280.296.303 ff. 105 Al-Qummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 81; vgl. Ibn Isha¯q, 1976: 203. ˙ 106 Sˇayh al-Mufı¯˙d,˙2006: 457.464 f.469 f.; Motahharı ¯, 1997: 223 ff.; Halm, 1988: 41; ders., 1994: ˘ 41; ders., 2005: 31 f.; Amirpur, 2013a: 24 ˙f. 107 Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 465 f.; Halm, 1988: 42; ders., 1994: 42; ders., 2005: 32; Ourghi, 2008: 40 ff.˘
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Sukzession von angeblich vier Kontaktpersonen (»Botschaftern«, sufara¯’, Singular safı¯r) gekommen sein soll, die mit dem verborgenen Ima¯m in Verbindung gestanden hätten. Diese Mittelsmänner wurden von der Schı¯‘a später als Mahdı¯Stellvertreter kanonisiert.108 Mit dem vierten »Botschafter« ‘Alı¯ ibn Muhammad ˙ As-Simmarı¯ erlosch 941 jedoch auch diese letzte Verbindung zur Heilslinie des Erb-Charismas, da die natürliche Lebensdauer des amtlich zu vertretenden und nicht wiedergekommenen zwölften Ima¯ms überschritten wurde. Wenige Tage vor seinem Tod soll As-Simmarı¯ von dem verborgenen Mahdı¯ die Anweisung erhalten haben, keinen weiteren Nachfolger mehr für das »Botschafteramt« zu ernennen, weil sich »die Herzen [weiter] verhärteten und sich die Erde [weiter] mit Ungerechtigkeit anfüllen würde.«109 Diese Begründung spiegelt deutlich das apokalyptische Weltgefühl wider, die Empfindung des stetig anwachsenden Heilsverlusts und rettungslosen Dauerverfalls. Die Abfolge der ima¯mitischen Prolongierung der immer noch vermittelbaren heilsgeschichtlichen Präsenz Muhammads war endgültig unterbrochen. Ein dem verborgenen Mahdı¯ zuge˙ schriebenes Hadı¯t lautete nun: »O Alla¯h, das Unheil ist größer geworden, das ˙ ¯ Verborgene [= das Zukünftige] ist offenkundig geworden, das Verdeckte wurde entschleiert: die Hoffnung wurde unterbrochen, die Erde ist eng geworden und der Himmel wurde versperrt.«110 So kam es zum endgültigen Verlust der gottesstaatlichen Heilsgeschichte und entstand die Vorstellung der großen, vollständigen, aber doch innerweltlich bleibenden Okkultation (al-g˙ayba al-kubra¯ bzw. at-ta¯mma) des wunderhaft fortexistierenden Mahdı¯.111 Aufgrund ihrer Soteriologie (s. S. 116) war die Schı¯‘a gezwungen, den apokalyptischen Erlösermythos in dieser besonderen Weise aufzugreifen, weil sie weiterhin an der zeitlich und räumlich allgegenwärtigen Möglichkeit des ima¯mitischen Heils festhielt, auch wenn dessen sichtbare Einflussnahme auf die Ereignisse dieser Welt in eigentümlicher Weise »ruhend«, »suspendiert« (sa¯qit = hinfällig) sein würde. Die Rechtleitung ihrer Gemeinde ˙ sah die Schı¯‘a jetzt nur noch dadurch gewährleistet, dass sie die »suspendierten« Prärogativen des Mahdı¯112 einstweilen in die Obhut der Religionsgelehrten 108 Nach Halm, 1988: 43 f. und Ourghi, 2008: 41 dürften davon wohl nur die beiden letzten historisch sein. 109 Ourghi, 1988: 41; vgl. Al-Qummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 77. Das Empfinden des immer weiter ˙ ˙ sich weiter verstärkt haben, als die schı¯‘itischen fortschreitenden Heilsverlustes wird Bu¯yiden (s. Anm. 100) in Rücksicht auf die Regierbarkeit der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit den ‘abba¯sidischen Kalifen als geistlichen Führer nicht durch einen ‘alı¯dischen Ima¯m ersetzten – theoretisch wäre jeder aus der ‘alı¯dischen Sippe dafür infrage gekommen. Halm, 1988: 29.58; ders., 1994: 108; ders., 2005: 62. 110 Özoguz u. Abu Hadi, 2008: 200 (vgl. 207). 111 Halm, 1988: 45 ff.; ders., 1994: 42; ders., 2005: 32 f.; Ourghi, 2008: 39 ff.42 ff. 112 Ausgeübt wurden nur noch die kultischen Amtspflichten, die Muhammad in Medina wahrgenommen hatte: Leitung des gemeinsamen Ritualgebetes und˙ Predigt, gemeinde-
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(‘ulama¯’), das heißt der geistlichen, juristischen Experten (fuqaha¯)113 gab. Für den Zeitpunkt der Wiederkehr des Mahdı¯ bot sich die im spätjüdischen Erlösermythos mitenthaltene Erklärung an, dass sich sein Hervortreten erst am Ende der Geschichte, auf dem Höhepunkt einer festgelegten Anzahl von Unheilsperioden vollziehe,114 wenn sich Gut und Böse, das heißt Mahdı¯ wie Dag˘g˘a¯l, im ultimativen Antagonismus gegenüberstünden. Das in ständig neuen, gewaltigen Terror-Wellen das Gute unterjochende Böse müsse sich vor seiner Vernichtung erst noch im letzten Zyklus zu seiner maximalen Steigerung aufgegipfelt haben, bevor es ein für alle Mal vernichtet werden könne.115 Endgültig werde der Sieg des summum bonum nur dann sein, wenn er ein Sieg über das völlig ausgereifte summum malum sei. Ein in diesem Sinn auf den Propheten Muhammad selbst zurückgeführtes Hadı¯t besagt: »Der Mahdı¯ wird die Erde [so vollständig] mit ˙ ¯ Gerechtigkeit erfüllen, wie sie zuvor [vollständig] mit Tyrannei und Unrecht erfüllt war.«116
Die Schı¯‘a als subversive Bußreligion In der gewaltigen Umbruchsituation und endzeitlichen Hochspannung des 15. Jahrhunderts,117 das von ständigen Kriegen, Verwüstungen, vom Ausbeutungsdruck auf die bäuerliche Bevölkerung, von Migrationsströmen, von Zerfall und Neubildungen rivalisierender Machtblöcke erfüllt war,118 kam es gleich zu
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interne Schlichtung von Streitigkeiten, Rechtsprechung und Steuererhebung. Die anderen Aufgaben staatlicher Exekutive (Strafvollzug, Aussendung und Empfang von Gesandtschaften, Abschließen von Staatsverträgen, Führung des Heiligen Krieges) übernahmen die ‘ulama¯’ erst wieder mit der Homeinı¯’schen Revolution 1979 im Iran (s. S. 129); Halm, 1988: ˘ 163). Halm, 1988: 70 f.135 ff.; ders., 1994: 102 ff.; ders., 2005: 56 ff. Daher verlagerte sich das Hauptinteresse der Schı¯‘a im 10. Jahrhundert auf die Sammlung und Sichtung der überlieferten Aha¯dı¯t ihrer von Alla¯h erleuchteten Ima¯me und die Kodifizierung des schı¯‘itischen ¯ ˙ 1988: Rechts. Halm, 62 ff.; ders., 1994: 111 ff.; ders., 2005: 63 ff. Vgl. Anm. 18. Von den verschiedenen, auch in der sunnitischen Apokalyptik tradierten Zyklen haben im Wesentlichen nur die Dag˘g˘a¯l-Zyklen (Cook, 2002: 93 ff.109 ff.212 ff.), der Sufya¯nı¯-Zyklus (Cook, 2002: 122 ff.) und der messianische Zyklus (Cook, 2002: 137 ff. 147 ff.154 ff.166 ff.172 ff.195 – 212) das Geschichtsbild der schı¯‘itischen Apokalyptik bestimmt. Zu den anderen Zyklen s. Cook, 2002: 36 ff.49 ff.66 ff.80 ff.(358).84 ff.182 ff. Vgl. 4. Esra 4, 28 ff.; 6, 19; syr. Baruch 39, 5 ff.; 70, 2; vgl. Taxacher, 2010: 103. Nach 2. Thess. 2, 6 f. und Offb. 20, 7 ff. muss der Antichrist erst noch von seinen Fesseln befreit werden, damit der entscheidende Endkampf stattfinden kann. Zu den entsprechenden Aha¯dı¯t s. Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 466; At-Tabası¯, 2006: 49.190; ebd., ˙ ¯ f.37.44; ˙ ˙ ˘ Hughes, 1995: 455; Ourghi, 2008: 52.199.226; zur 49 – 65; Asˇ-Sˇira¯zı¯, 2014: 18.29.32 Auffassung der Notwendigkeit antagonistischen »Ausreifens« vgl. auch Motahharı¯, 1997: ˙ 215; As-Sadr, 2008: 55 ff.60 ff.; Nagel, 2008a: 962. ˙ ˙ Am 29. Mai 1453 fiel Konstantinopel durch Sultan Mehmed II; vgl. o. Anm. 10 und 59. S. im Einzelnen Taeschner, 1964: 162 f.; Gronke, 2009: 63˙ ff.
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mehreren schı¯‘itischen Mahdı¯-Erhebungen sowie Gründungen relativ kurzlebiger Mahdı¯-Reiche.119 Als dann aber im 16. Jahrhundert, unter den safawı¯dischen ˙ Herrschern, die den ‘alı¯dischen Stammbaum für sich reklamierten120, die Zwölfer-Schı¯‘a zur Staatsreligion avancierte und sich in der Schı¯‘a ein regelrechter Klerus bildete,121 wurden im Interesse des »hierokratischen« Statuserhalts die apokalyptisch-politische Umsturzerwartung prämillenaristisch122 abgeschwächt und durch eine Verstärkung des kollektiv-rituellen Existenzvollzugs der Schı¯‘a, die Ereignisse von Karbala¯’ »nachzuleiden«, kanalisiert.123 In safawı¯discher Zeit ˙ vervollkommneten und konservierten sich so unter der Kontrolle der Geistlichkeit die bis in moderne Zeiten hinein praktizierten Bußrituale,124 die Schwertschläger- und Geißlerprozessionen sowie die epischen, durch Rezitatoren im Volk verbreiteten Leidensnarrative (rawz˙ahwa¯nı¯).125 Dieser rituelle ˘ Existenzvollzug basierte einerseits auf dem Empfinden der bei Karbala¯’ kollektiv erworbenen historischen Schuld (s. S. 116 f.) und andererseits auf dem Wunsch, sich eine neue persönliche Heilsidentität durch die Teilnahme an einem mit Karbala¯’ mystisch verschmelzenden Martyrium zu schaffen. Keimzelle hierfür war der 684 von rund 4000 ku¯fischen »Büßern« unternommene Aufstandsversuch gewesen, mit dem diese ihr Schuldgefühl, das für die Welt bestimmte gottesstaatliche Heil verraten zu haben, überwinden wollten.126 Dadurch, dass sie im imitativen Märtyrertod eine unio mystica mit Al-Husayn, dem Exponenten des ˙ 119 120 121 122 123
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Halm, 1988: 98 ff.; Marx, 2004: 66 ff.; Ourghi, 2008: 53 ff. Halm, 1988: 109; ders., 1994: 124; ders., 2005: 74; Gronke, 2009: 78. Halm, 1988: 107 ff.: ders., 1994: 120 ff.; ders., 2005: 42 ff.; Gronke, 2009: 78 ff. Prämillenarismus = der Erlöser erscheint unmittelbar vor dem Millenium (= Tausendjähriges Reich); d. h. nur er kann es herbeiführen; vgl. Schäfer, 2008: 141 ff. Halm, 1988: 177 ff.; ders., 1994: 53 – 97; ders., 2005: 21 ff.39 – 55; Ourghi, 2008: 81. Die von der Obrigkeit gestattete öffentliche Praktizierung der Bußrituale ist erstmals für 963 unter der Bu¯yı¯denherrschaft belegt. Vgl. hierzu die Zeilen Muhammad Sˇams ad-Dı¯n Ha¯fiz’ (1320 – ˙ gebeugt und ewiger˙ Klage ˙ voll. / 1389): »Wir sind ein eignes wunderliches Volk. / Von Gram Ohn’ Unterlaß in unsrem Trauerjoch / des feuchten Auges heiße Perle streuend.« Daumer, 2013: 90 f. Hier sind altmesopotamische (Hes. 8, 14) und altiranische Bräuche durchaus noch spürbar (Gabriel, 1974: 85 ff.; Halm, 1988: 178 ff.180; ders., 1994: 53 ff.75 ff.; ders., 2005: 39 ff.; Schimmel, 2014: 39 f.43 f.46), wobei insbesondere das verdienstliche Weinen (al-buka¯’) um Al-Husayn auffällt. ˙ Gemeint sind epische Werke in Versform, welche die »Urkatastrophe« von Karbala¯’ oder das Märtyrertum der Ima¯me schildern; Homeinı¯, 1981: 131.164.333; Halm, 1988: 181 ff; ders., ˘ 1994: 69 ff.; ders., 2005: 45 f.; Schimmel, 2014: 42 ff.59; Funke, 2014: 35 f.; vgl. DamirGeilsdorf, 2008: 80 f. zu den ebenso auf einer nakba = »(Ur)Katastrophe« basierenden Leidens- und Viktimisierungsnarrativen palästinensischer Widerstandsbewegungen; vgl. Cook, 2008: 14 f. Halm, 1988: 21 f.; ders., 1994: 29 ff.; ders., 2005: 21 ff.; der Zeitpunkt für das geplante Martyrium war immerhin günstig gewählt, da dieser Aufstand zeitlich mit der Revolte des Gegenkalifen in Mekka, ‘Abd Alla¯h ibn az-Zubayr (683 – 692), und den umayyadischen Thronwirren (683 – 685) zusammentraf.
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Heils eingingen, gaben sie sich ihre heilsgeschichtliche Identität, die sie bei Karbala¯’ verloren hatten, zurück. Auch wenn dann in den Geißlerprozessionen und Passionsspielen die Bereitschaft zur physischen Selbstauslöschung in eine lediglich rituell nachleidende Gestik einfloss,127 so stand diese doch immer in dem zyklisch wiederkehrenden, dualistisch-apokalyptisierenden Konflikt zwischen göttlichem Recht und widergöttlicher Tyrannei und verankerte auf diese Weise im schı¯‘itischen Kollektivbewusstsein das ihm eigentümliche, relativ leicht zu mobilisierende, subversive, revolutionär-ethische Potenzial im Kampf um die Heilsgeschichte, das Engagement für eine bessere und gerechtere Gesellschaft im Sinn urislamischer, gottesstaatlicher Heilsordnung (al-hukm al-isla¯mı¯). ˙
Die »Rückeroberung« der Heilsgeschichte: die islamische Revolution im Iran Die Schı¯‘a zwischen Quietismus und Synergismus Die Frage, die sich der Schı¯‘a angesichts des unterschiedlichen Verhaltens ihrer Ima¯me128 schon früh gestellt hatte, war, ob man die unheilvoll anwachsende Verderbnis des Ur-Islam und die damit verbundenen eigenen Martyrien in Fatalismus und politischer Abstinenz (bis hin zur taqı¯ya, der Verleugnung des eigenen Bekenntnisses bei Gefahr für Leib und Leben129) hinzunehmen habe oder nicht. Gemäß ihrem seit der safawı¯dischen Zeit vorherrschenden Prämillena˙ rismus130 – von einigen prominenten Klerikern der Schı¯‘a noch bis in die 1990er 131 Jahre vertreten – lief daher die Antwort der Schı¯‘a auf Quietismus, Vertröstung und politische Abstinenz hinaus: Die Wiederherstellung der von Alla¯h erleuchteten gottestaatlichen Rechtleitung könne nicht durch menschliche Bemühung erfolgen, sondern sei das alleinige Vorrecht des wiederkommenden Mahdı¯. 127 In den von den Schmähritualen (vgl. Anm. 96) provozierten Straßenkämpfen gab es allerdings auch immer wieder Tote, die als Märtyrer verehrt wurden; vgl. Goldziher, 1925: 204; Halm, 1988: 16.179; ders., 1994: 65.82.84.109; ders., 2005: 53 f. 128 Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 366 f.384.393.418 ff.425; Motahharı¯, 1997: 23 ff.70 ff.94 ff.134 ff.157 ff.; ˙ ein ˘besonderes Problem stellte die dann mit Hinweis auf Sure 12, 55 (vgl. Gen. 41, 37 ff.) positiv beantwortete Frage dar, inwieweit sich die Ima¯me an den usurpatorischen und tyrannischen Regierungen beteiligen dürften; vgl. Halm, 1988: 26 – 40.69; ders., 1994: 33 – 40.108 ff.; ders., 2005: 25 – 31.61 ff.; Dabasˇ¯ı, 2012: 62 f.153. 129 Sure 3, 28; 16, 106; Khoury, 2011: 180 (Nr. 436). Die taqı¯ya erklärte Al-Qummı¯ as-Sadu¯q im ˙ ˙ Ourghi, 10. Jh. zur Pflicht; vgl. ders., 2013: 90 ff; Goldziher, 1925: 203 f.; Halm, 1988: 54 f.96; 2008: 34, Anm. 36. 130 Vgl. Anm. 122. 131 Halm, 1988: 152 ff.; ders., 1994: 146 f.; ders., 2005: 94 f.; ders., 2010: 123; Ourghi, 2008: 135 f.
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Im 11. Jh., unter der von den Schı¯‘iten als unerträglich empfundenen Herrschaft der ‘Abba¯siden132 an die Aussagen As-Simmarı¯s anknüpfend (s. S. 121), hatte allerdings schon ‘Alı¯ ibn Ta¯hir al-Murtada¯, ein direkter Nachfahre des ˙ ˙ siebten Ima¯ms, erklärt, dass die Verborgenheit des Mahdı¯ eben deswegen andauere, weil die widergöttliche Tyrannei der »usurpatorischen« islamischen Herrscher solch desaströse Formen angenommen habe, dass sie sogar imstande sei, die Rückkehr des Mahdı¯ aufzuhalten.133 Aus solcher Erklärung heraus, dass es das Überhandnehmen des schlechthin Bösen über das Gute sei, das die ersehnte Wiederkunft des Mahdı¯ verhindere, ergab sich dann die Überzeugung, dass man jene das Weltgeschehen bestimmenden satanischen Gegenkräfte nicht bloß erleidend tolerieren dürfe, sondern dass durch ihre aktive Beseitigung das Hervortreten des Endzeiterlösers zu beschleunigen sei. So wirkten im 11. Jh. die Isma¯‘ı¯liten durch gezielte assassinatos (Politmorde), die immer auch die Bereitschaft zum Märtyrertod einschlossen, aktiv auf die Vorbereitung der Mahdı¯Herrschaft hin.134 Die Islamische Revolution im Iran ¯ yatolla¯h Ruholla¯h Mu¯sawı¯ Homeinı¯ initiierte Islamische Die 1979 im Iran von A ˙ ˘ Revolution stellt selbst keine Mahdı¯-Erhebung dar, sondern den synergistischen Versuch, die bei Karbala¯’ 680 verlorene gottesstaatliche Heilsgeschichte zunächst für den Iran zurückzuerobern, um mit der lokalen Restitution des ‘alı¯dischen Gottesstaates der Wiederkunft des Mahdı¯ und dem Antritt seiner Weltherrschaft den Weg zu bereiten.135 Die seit safawı¯discher Zeit geübte politische ˙ Zurückhaltung verschob sich nun in Richtung einer postmillenaristischen Mo136 bilisierung (ta‘bi’a). 132 Zu den Hintergründen vgl. Taeschner, 1964: 98 ff..; Halm, 1988: 31 ff.; ders., 2005: 26 f.; Gronke, 2009: 26 ff. 133 Halm, 1988: 68. Damit zusammenhängend gab es auch die Erklärung, dass sich die schı¯‘itische Gemeinde selbst um Gerechtigkeit bemühen müsse, bevor der Mahdı¯ wiederkehre; Motahharı¯, 1997: 211 f.; As-Sadr, 2008: 55 ff.; Ourghi, 2008: 199 ff.; vgl. zum Juden˙ 641. tum Strack˙ u. Billerbeck, Bd. III, ˙1979: 134 Taeschner, 1964: 134; Gabriel, 1974: 98 ff.; Halm, 2008: 64 f.; vgl. ders., 1988: 224 ff.; Gronke, 2009: 47 f. 135 Vgl. Foreign Broadcast Information Service, Daily Report, South Asia, Vol. 8, no. 031, vom 14. 02. 1983: »The way will be opened for the world government of Imam Mahdi […]. The government of God [has been established] in a country which wishes to establish divine justice in the world, first of all in Iran itself.« Dadurch wurde der Iran zur »redeemer nation«, zur »liberation of mankind. […] Islam is a sacred trust from God to ourselves and the Iranian nation must grow in power and resolution until it has vouchsafed Islam to the entire world.« zit. n. Ramazani, 1988: 20.301 f.; Ourghi, 2008: 206; vgl. weitere Zitate bei Arndt, 2012: 22. 136 Postmillenarismus = der Erlöser erscheint erst nach dem Millenium, d. h. das Millenium gehört noch zur natürlichen Geschichte und kann (teilweise) vom Menschen selbst errichtet werden. Zur Terminologie vgl. Schäfer, 2008: 141 ff.
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Unter dem Druck der fünf Jahrzehnte währenden »blutvergießenden Tyrannei« der »usurpatorischen« und »illegalen« Pahlawı¯-Dynastie137 hatte Homeinı¯ ˘ schon früh die traditionell quietistische Zurückhaltung der Schı¯‘a138 aufgegeben und mit dem Hinweis auf die unter Reda¯ Sˇa¯h Pahlawı¯ grotesk gesteigerte Fort˙ setzung der »widergöttlichen« Umayyaden- und ‘Abba¯siden-Dynastie139 den zyklischen Aspekt des dualistisch-konfrontativen Weltgeschehens betont. Im Kontext der damaligen Massenkundgebungen gegen den Schah, die sich der Symbole und Rituale des traditionellen Karbala¯’-Narrativs als Negativfolie bedienten,140 apokalyptisierte er das Regime Reda¯ Sˇa¯h Pahlawı¯s, das den Iran ˙ wirtschaftlich ruiniere, kulturell verfremde141, die eigene Bevölkerung »massa142 kriere« und die islamfeindlichen »Kolonialmächte« hofiere,143 als satanischen,144 wiederkehrenden Yazı¯d-Zyklus (s. S. 116).145 Im Dezember 1977 präsentierte er sich in einer von Teheraner Tageszeitungen als Faksimile abgedruckten fatwa¯ als Exponenten des Guten,146 wobei er Reda¯ Sˇa¯h Pahlawı¯ nach ˙ Sure 2, 257; 4, 60.76; 16, 36 als at-ta¯g˙u¯t, das heißt als Transsubstantiation des ˙˙ 147 Bösen bezeichnete. In Hymnen ließ er sich als »Feind des Teufels« und »Wächter und Freund des Rechts« besingen.148 Auf Revolutionsplakaten zeigte er sich, wie er die gottesstaatliche Heilsgeschichte wiederherstellt, indem er sie vom Bösen reinigt und den Satan vertreibt (siehe Abbildung 2).149
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Homeinı¯, 1981: 242 ff.249.254 ff.258 f.286 f.294 u. ö. ˘ omeinı¯, 1981: 72.133.144.147; vgl. auch 219.225.242 ff.341 u. ö.; Ourghi, 2008: 123 ff. H ˘ Homeinı¯, 1981: 133.147 f.200 ff.243 f.249 ff.266 f.332 f u. ö. ˘ Damir-Geilsdorf, 2008: 80 f.; vgl. o. Anm. 125. Vgl. Sure 2, 193. Sure 8, 39. Homeinı¯, 1981: 182.189 ff.214 ff.229 f..238 f.254 ff. u. ö. ˘ omeinı¯, 1981: 210.231.266 u. ö.; vgl. auch 27.276.287 f.294.300 ff.334.357.385 u. ö. H ˘ omeinı¯, 1981: 177 ff.204 f.243 f.249 u. ö.; Halm, 1988: 157; ders., 1994: 155 f.; ders., 2005: H ˘ Ourghi, 2008: 91 f.; Kahlili, 2013: 41 f.; vgl. Schmucker, 1987: 200 f.; Funke, 2014: 37. 102; Thoß u. Richter, 1991: 217, Anm. 415. Wie überdies aus einem (fiktiven?) Brief an seine Schwiegertochter Fa¯tima Taba¯taba¯’ı¯ hervorgeht (Homeinı¯, 2010b: 51 ff.; vgl. Thoß u. ˙ sich ˙ ˙ Homeinı¯ schon ˘früh als Antagonisten des Satan empRichter, 1991: 65.118.128), soll funden und ständig von ihm verfolgt˘ gefühlt haben. Thoß u. Richter, 1991: 107; Schirra, 2007: 122; vgl. zum Begriff at-ta¯g˙u¯t (= Dämon, Götze, ˙ ˙ 2010a: 30.60.93.100; Satan) bei Homeinı¯: ders., 1981: 48.92 f.147.154.235.243.270; ders., ˘ ¯ genauso äußerte sich 1979 auch Ayatolla¯h Ba¯qir as-Sadr gegenüber Sadda¯m Husayn; vgl. ˙ ˙ ˙ ˙ Ibrahim, 1997: 279. Thoß u. Richter, 1991: 40. Thoß u. Richter, 1991: 100; vgl. weitere Beispiele ebd.: 106.152 ff.
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Abbildung 2: Revolutionsplakat vom September 1978: Der als Teufel portraitierte Reda¯ Sˇa¯h ˙ ¯ yatolla¯h Ruholla¯h Mu¯sawı¯ Homeinı¯ vertrieben. Das unverfremdete Pahlawı¯ wird von A ˙ ˘ Mose, der auf dem Gottesberg stehend Original des Bildes (aus einem Kinderbuch?) zeigt den (hier als Satan-Dag˘g˘a¯l gezeichneten) Sa¯mirı¯ verjagt,150 der die Israeliten dazu verführt hatte, mit der Anfertigung eines »(Goldenen) Kalbes« von Alla¯h abzufallen.151 Den in Abbildung 2 zitierten Qur’a¯nvers Sure 17, 81: »Gekommen ist die Wahrheit und vergangen ist der Trug. Siehe, der Trug ist zum Verfall bestimmt«152 hatte Homeinı¯ in seiner ˘ Ramada¯n) vom 06. 09. »Declaration on the Occasion of ‘I¯d al-Fitr« (Gebete am Ende des ˙ 1978 verwendet,153 nachdem er erfahren hatte, dass die Ramada¯n-Gebete ˙von stürmischen ˙ in denen dessen Protestkundgebungen gegen den Schah begleitet worden waren, Ausweisung aus dem Iran gefordert wurde. In dieser Deklaration bezeichnete Homeinı¯ den ˘ at-ta¯g˙u¯t,154 Schah und seine Regierung nach Sure 2, 256 f.; 4, 51.60.76; 5, 60; 16, 36; 39, 17 als ˙˙ das heißt als Inkarnation des Satans, als »Ober-Rebell«, Götze und Verführer. (©WURFVerlag)
150 Sure 20, 97. 151 Sure 20, 95 – 98; Speyer, 1971: 332; zum Dag˘g˘a¯l als samaritanischer Jude s. Trimondi, 2006: 290; Cook, 2008: 187. Auch auf anderen Revolutionsplakaten wird Homeinı¯ in Anspielung ˘ Abbildung bei Thoß auf seinen Familiennamen Mu¯sawı¯ als neuer Mose dargestellt; vgl. die u. Richter, 1991: 106, wo Homeinı¯ dieselbe Körperhaltung einnimmt wie Mose in der »Bibel ˘ in Bildern« von Julius Schnorr v. Carolsfeld, Nr. 51, 52 und 56. 152 Vgl. Sure 8, 8; 21, 18; 34, 49; 42, 24. Die unter dem Surenvers stehende persische Zeile »Wenn der Dämon verschwindet, erscheint der Engel« ist ein verkürztes Zitat aus dem später unter Homeinı¯ verpönten Dichter Ha¯fiz ; Daumer, 2013: 31: »Mit seinem Mohrenheer erschien der ˙ ˘ Gram, / Mein Blut vergießend˙ grausam und verrucht; / Ein lichtgeborner weißer Engel kam / Und schlug den Unhold plötzlich in die Flucht.« 153 Homeinı¯, 1981: 233: »Verily falsehood is bound to vanish.« Vgl. auch: 180.252.265 f.272. ˘ omeinı¯, 1981: 235; vgl. auch: 92 f.98 f.147.154. 154 H ˘
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Seine dualistisch-apokalyptisierende Argumentation, dem endgültigen Untergang des wahren Islam entgegenwirken zu müssen,155 untermauerte Homeinı¯ ˘ mit seiner an den Gottesstaat ‘Ali ibn Abı¯ Ta¯libs anknüpfenden fundamentalis˙ tischen Rechtstheologie: Weder sei die allein Gott zustehende Souveränität (Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Iran) in Legislative, Judikative und Exekutive (Artikel 4) an andere, selbstständig handelnde Autoritäten delegierbar, noch dürfe die Ausübung des göttlichen Gesetzes (qur’a¯n, aha¯dı¯t, ˙ ¯ ˇsarı¯‘a) zeitlich und lokal beschränkt werden. Aus diesem Grund erweise sich die im Iran 1926 offiziell gewordene Beschränkung der Religionsgelehrten (‘ulama¯’) und »geistlichen Juristen« (fuqaha¯) auf die Erledigung rein kultischer Belange156 als Unglaube (kufr) und Widergöttlichkeit (ta¯g˙u¯t).157 Zum Beweis, dass im Islam ˙ – angefangen bei Muhammad in Medina selbst – alle legislativen, judikativen ˙ und exekutiven Aufgabenbereiche unverzichtbare Prärogativen eines legitimen »Beherrschers der Gläubigen« seien, der nichts anderes täte, als das Gesetz Gottes auszuführen,158 erwähnt Homeinı¯ mehrfach die persönliche Beteiligung des ˘ Propheten und ‛Alı¯s bei der Exekution von Leibesstrafen (hadd, Plural hudu¯d).159 ˙ ˙ Von der genauen Durchsetzung dieser allein legitimen und die Heilsgeschichte universal garantierenden Herrschaftsordnung dürfe also zu keiner Zeit abgewichen werden.160
Der Iran als »redeemer nation« Aus dieser gottesrechtlichen Notwendigkeit heraus, den Medina-Staat für die Fortsetzung der Heilsgeschichte und zugleich für die Rückkehr des Mahdı¯ zurückzuerobern,161 wurde daher nach der Rückkehr Homeinı¯s am 01. Februar ˘ 155 156 157 158 159 160
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Homeinı¯, 1981: 177 ff.183 ff.189 ff.195 ff.200 ff.209 ff.212 ff.; Thoß u. Richter, 1991: 94 ff. ˘ Halm, 1988: 150 f.; ders., 1994: 141; ders., 2005: 89 f. Homeinı¯, 1981: 48; kufr ist das Wort, das auf der Stirn des Dag˘g˘a¯l geschrieben steht; Hughes, ˘ 1995: 465; Nagel, 2008a: 596 f.; Ourghi, 2008: 47. Vgl. Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2007: 267; vgl. Tibi, 1998: 28 ff. ˙ ¯, 1981: 37.40.89; ein allein dem Ima¯m zustehendes Vorrecht; Halm, 1988: Sure 5, 38; Homeinı 131.137. ˘ Homeinı¯, 1981, 61 ff.79 ff.87.96 ff.112 f.122.124; Daba¯sˇ¯ı, 2012: 274. Die libanesische Hizbu ˙ mit ˘ ¯ h schloss sich diesem gottesrechtlichen Standpunkt an; vgl. El Cheikh, 2010: 83 ff. ’lla Anm. 113. Der zelotisch klingende Fundamentalismus Homeinı¯s (vgl. Flavius Josephus, ˘ Antiquitates XVIII, 1.6; ders., De bello Judaico, II, 8.1; 13.6; 17.8; vgl. Steffelbauer, 2008: 51 ff.) stellt angesichts der mehrheitlich rationalisierenden Auslegungspraxis der Schı¯‘a (vgl. Halm, 1988: 89.130 f.; ders., 1994: 113; ders., 2005: 65) einen Sonderfall dar, wenngleich sich Homeinı¯ 1987 – seinen eigenen Zelotismus abschwächend – zu pragmatischeren Lösungen ˘ bereit fand; Arndt, 2012: 23. An der Parusie-Klausel »Möge Gott seine (= des Mahdı¯) Rückkunft beschleunigen« wurde im Artikel 5 bewusst festgehalten. Vgl. den Gebrauch dieser Klausel bei Homeinı¯, 1981: z. B. ˘
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1979 aus dem französischen Exil in Neauphle-le-Château anhand der Artikel 5, 56, 91 und 107162 das Ima¯mat des abwesenden Mahdı¯ durch das zur vollständigen politischen Regierungsgewalt berufene Ima¯mat der Rechtsgelehrten (wela¯yet-e faqı¯h) ersetzt.163 Der erwartete Mahdı¯ amtiert damit, ohne selbst persönlich erschienen zu sein, als verfassungsmäßiges Staatsoberhaupt (Artikel 5), während das einstweilige Ima¯mat der Rechtsgelehrten für ihn seine heilsmächtige, erbcharismatische Rechtleitung (s. S. 115 f.) wahrnimmt. Auch wenn diese stellvertretende Art der Rechtleitung grundsätzlich fehlbar bleibt,164 wurde mit dieser vorerst lokalen Antizipation der erst bei der Wiederkunft des Mahdı¯ zu erwartenden universalen Rückverwandlung der Unheilsgeschichte in gottesstaatliche Heilsgeschichte der Iran zur redeemer nation, zum heilsgeschichtlichen Drehund Angelpunkt, von dem aus der Mahdı¯ schon jetzt mittels seiner Stellvertretung die ihm zustehende weltweite Gottesherrschaft etabliert. Nach Aussagen ‘Alı¯ Ha¯mene’ı¯s von 1984 ist die Welt deshalb »in eine neue Epoche getreten« und ˘ dem Mahdı¯ »näher gekommen«.165
Die verderbliche Folgerichtigkeit der islamistischen Matrix Die Instrumentalisierung von Karbala¯’ Als nach 1979 schlagartig die tiefsitzenden ethnischen, religiösen, kulturellen und sozialen Fragmentierungen des Iran zu Tage traten und nach dem Öl-Embargo während der Geiselaffäre 1979 bis 1980 der Angriffskrieg des Iraq ausbrach (1980 – 1988) – durchaus ein Krieg der Golfanrainerstaaten im Bündnis mit dem Westen166 gegen den Export der Homeinı¯schen Revolutionsideologie167 – , wurde ˘
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84.174 u. ö.; vgl. Halm, 1988: 163 f.; ders., 1994: 47.162 f.; ders., 2005: 36.104 f.; Ourghi, 2008: 127; Arndt, 2012: 21 f. Vgl. zu den genannten Verfassungsartikeln 2, 4, 5, 56, 91, 107 die bei Özoguz, 2007: 5 f.19.22.38.48.52 f.78 mit Erläuterungen abgedruckte deutsche Übersetzung. In konsequenter Umsetzung seiner schon am 21.01 und 08. 02. 1970 in an-Nag˘af (Iraq) gehaltenen Vorlesungen zum »Islamischen Staat« (hoku¯mat-e esla¯mı¯); vgl. Homeinı¯, 1981: ˘ 160 f.163 f.; 27 – 166, insbesondere 37.40.63.75.89; ders., 1983: ˙15 – 176; vgl. Halm, 1988: ders., 1994: 156 ff.162 f.; ders., 2005: 100 ff.104 f. Allerdings übernimmt der iranische Klerus nicht selbst die Befugnisse der Exekutive (vgl. Artikel 113), sondern überwacht diese (»Islamkonformitätskontrolle«, s. Artikel 4 und 91 – 99) und stellt das Islamische Oberhaupt (rahbar; Artikel 5 und 107 – 112); Ha¯mene’ı¯, 2011a: 61 f.68 f.107 f.135 f. Halm, 1988: 124.130; ders., 1994:˘ 125 f.137; ders., 2005: 76.86. Gleichwohl wurden die Entscheidungen Homeinı¯s (sein Titel sayyid = »Herr« bezeichnet seine Abstammung aus ˘ der Prophetenfamilie) als »quasi unfehlbar« angesehen; vgl. Halm, 1994: 163 ff.170 f.; ders., 2005: 106. Ha¯mene’ı¯, 2011b: 25 f. ˘ Tibi, 2000: 127. Der Iraq wurde von Saudi-Arabien, Kuwait, Jordanien, Ägypten, aber auch
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in dem in Bedrängnis gebrachten Gottesstaat die Rückbindung an Karbala¯’ in einer Weise instrumentalisiert,168 die zur selbstentfremdenden ethischen Diskreditierung der Schı¯‘a führte.169 Die apokalyptisierende Geschichtsdeutung, bei Karbala¯’ 680 die Heilsgeschichte durch Verrat verloren zu haben und den gerade erst zurückeroberten Heilsstaat nicht neuerlich aufs Spiel setzen zu dürfen (»Wir sind nicht die Leute von Ku¯fa!«170), setzte einen fatalen Eskalationsmechanismus in Gang. Die Kollektiverinnerung an die »Quintessenz allen Unglücks« (s. S. 116), apokalyptisches Weltgefühl, das Reservoir von Viktimisierungs- und Konspirationsnarrativen, der Geschichtssynchronismus, in immer neuen Yazı¯d-Zyklen Opfer mythisch-antagonistischer Bedrohung zu sein, ein feinddämonisierender Gut-Böse-Dualismus, unaufgebbare gottesstaatlich-fundamentalistische Rechtsvorstellungen, Kultivierung märtyrerhafter, thanatomanischer Lebensformen, um dem »seiner Feinde Mord steuernden« Endzeiterlöser171 den Weg zu bereiten, griffen mit verderblicher Folgerichtigkeit ineinander. Obwohl sich Homeinı¯ noch ˘ am Jahreswechsel 1979/1980 in seinen Vorlesungen über die beiden ersten Verse der Sure al-hamd (= al-fa¯tiha) zu einer kaum überbietbaren Betonung der ˙ ˙ Barmherzigkeit Gottes bekannte,172 fühlte er sich allein dem als Gerichtsherr formalrechtlich amtierenden Mahdı¯ verantwortlich173 und leitete zur Verteidigung des proleptisch wiederhergestellten Gottesstaates Maßnahmen ein, die vor Massenexekutionen seiner »yazı¯dischen« Erzfeinde174 nicht zurückscheuten.
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der Sowjetunion, USA und Frankreich finanziell, logistisch und mit Waffenlieferungen unterstützt; Ramazani, 1988: 76 ff.; Münkler, 2003: 34.72 ff.89.159.165; Kepel, 2004: 153 f.; Amirpur, 2013a: 59 ff. Der Iran erfuhr militärische Hilfestellung durch Syrien und NordKorea; Ramazani, 1988: 80 ff.118. Zum iranischen Revolutionsexport insbesondere in den Iraq (dort beträgt der schı¯‘itische Bevölkerungsanteil 55 %), aber auch in den Libanon und nach Palästina vgl. etwa Ramazani, 1988: 32 – 54.155 ff.183 ff. Zur Instrumentalisierungstheorie durch religiöse Eliten vgl. de Juan, 2008: 59 f.67. Hinsichtlich des ethischen Standards des schı¯‘itischen Gottesstaates wird allgemein auf den Regierungsauftrag verwiesen, den ‛Alı¯ ibn Abı¯ Ta¯lib dem ägyptischen Gouverneur Ma¯lik alAsˇtar an-Naha‘ı¯ erteilte; s. Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2009:˙252 – 270; Özoguz, 2007: 82 – 102. Homeinı¯, ˙ 1981: 68.156,˘ Anm. 72 bezog sich selbst auf dieses Manifest, das seitdem als˘ geistige Grundlage der Verfassung der iranischen Republik gilt (Özoguz, 2007: 5.79). So die Aufschrift eines Revolutionsbanners von 1979 (ma¯ ahl-e ku¯fa nı¯stı¯m); Dabasˇ¯ı, 2012: 17. S. die unmissverständlichen Aha¯dı¯t bei At-Tabası¯, 2006: 219 – 232; vgl. eg 193, 1 (Luther, ˙ ¯ ˙ ˙ 1543). Homeinı¯, 1981: 372.405 ff.411 f.; ders., 2011: 23.81 ff.92 ff. ˘ Dispensierung von jeder säkularen Rücksichtnahme vgl. Sure 8, 17, A ¯ yatolla¯h MoZur hammad Taqı¯ Mesba¯h Yazdı¯, 2011: 97 f. und dazu Münkler, 2002: 114 f.180 f.184 f.200 f. ˙ ˙ ˙von mehr als 6 000 im ersten Jahr; vgl. die genauen Zahlen nach Naji, 2008: 29 spricht Amnesty-International bis 1989 bei Thoß u. Richter, 1991: 185 ff. Diesen Exekutionen fielen in erster Linie die Gegner der soteriologisch begründeten Zwangsislamisierung zum Opfer: ein breites Spektrum säkular-liberal und westlich orientierter Iraner (vgl. At-Tabası¯, 2006: ˙ 228 f.231 f.), dazu – entgegen Homeinı¯, 1981: 266 – ethnische und religiöse˙ Minderheiten ˘
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Zugleich nahm er im ersten Golfkrieg (1980 – 1988) den kollektiv-rituellen Existenzvollzug der Schı¯‘a (s. S. 123 f.) in die Haftung eines heilsgeschichtlich erforderten Massenmartyriums.175 Die von ‘Alı¯ Sˇarı¯‘atı¯ (1933 – 1977) mit dem ¯ ˇsu¯ra¯’!«176 Satz »Jeder Boden ist Karbala¯’, jeder Monat Muharram, jeder Tag ‘A ˙ propagierte Ent-Ritualisierung der Selbstopfer-Rituale bezeichnete Homeinı¯ als ˘ Weisung Al-Husayns,177 das traditionell nur symbolisch vollzogene blutige ˙ Selbstopfer (s. S. 124) sei jederzeit auch physisch umzusetzen.178 Vor allem im Hinblick auf den exzessiven Einsatz von Kindsoldaten ab zwölf Jahren wirkte sich die ursprungsmythische Instrumentalisierung von 680 als »Epiphanie des Untolerierbaren«,179 als menschenverschlingende Passionsdoktrin aus.180 Mit dem Ruf »Karbala¯’, wir kommen!« liefen die minderjährigen »Gotteskrieger« mit Plastikschlüsseln für die Paradiesespforte um den Hals, bisweilen vom Mummenschanz einer leuchtendweiß gekleideten Reitergestalt angetrieben, in waagerechten Reihen über die iraqischen Minenfelder.181
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(Araber, Kurden, Turkmenen; vgl. At-Tabası¯, 2006: 222 ff.226 f.), denen z. T. mit Recht ˙ ˙¯ h-Regime mit Terrorakten zum Einsturz bringen ¯ yatolla vorgeworfen werden konnte, das A zu wollen (vgl. At-Tabası¯, 2006: 230 f.; Homeinı¯, 2010a: 28, Anm. 32); Thoß u. Richter, 1991: ˙ 119 f.127.135.140;˙ Gronke, 2009: 111 f.; ˘Naji, 2009: 29; Dabasˇ¯ı, 2012: 314 f.; Kahlili, 2013: 158. Vgl. Sura 2, 154; 4, 74; 47, 4 ff.; At-Tabası¯, 2006: 179; ziya¯ratu ‘asˇu¯ra¯’, 2013: 8.12 f.; zur ˙ ˙ der iranischen Märtyrertestamente bei Schmucker, Bindung an Karbala¯’ s. a. die Analyse 1987: 185 – 249, hier 241 ff.; vgl. Thoß u. Richter, 1991: 146 ff. Im März 1986 schnellte die Kriegsopferquote auf die Zahl von 700 000 Gefallenen hoch (Durchschnittsalter 24 Jahre); Schmucker, 1978: 212 mit Anm. 89. Halm, 1988: 180; ders., 1994: 151; ders., 2005: 98; Trimondi, 2006: 338 ff. Homeinı¯, 2010a: 10.64 f. ˘ omeinı¯, 2010a: 65 ff.; dazu s. Thoß u. Richter, 1991: 146 ff.; Halm, 1988: 180; ders., 1994: H ˘ f.; ders., 2005: 98 f.; Trimondi, 2006: 338 ff.; Ourghi, 2008: 256 f.; Schäfer, 2008: 71 f.; 151 Amirpur, 2013a: 46 ff. Terminologie nach Eco, 1999: 118. Seinen Aufruf zum Selbstopfer von Jugendlichen (ab einem Alter von 12 Jahren) rechtfertigte Homeinı¯ mit dem Hinweis auf das Vorbild des von Gott erleuchteten ersten Ima¯m: Auch ˘Husayn habe seine Kinder ‛Alı¯ al-Akbar und ‛Alı¯ al-Asg˙ar 680 bei Karbala¯’ (vgl. Sˇayh al-Mufı˙¯d, 2006: 319.321.338 f.) für den wahren Islam hingegeben; Homeinı¯, 2010a:˘ ˘ Verhalten der 8.61.70.81; vgl. ders., 1981: 336 und ders., 2010a: 84 f., wo sich ein dejà-vu zum Mutter von 2. Makk. 7, 28 f.; 4. Makk. 15, 8 ff.14 ff.19 ff.22 ff.; 16, 12 f.15 ff. einstellt; vgl. Schmucker, 1987: 193.214; Sahebjam, 1988: 74 ff.96 ff.; vgl. Artikel 17 f. der Charta der Hama¯s-Gründung vom 18. 08. 1988; Croitoru, 2010: 96.192. ˙ Eingehende Schilderungen bei Sahebjam, 1988: 122 ff.132 ff.134 ff.150 f.180 ff.; Thoß / Richter, 1991: 124 ff.; Schirra, 2006: 132.167 f.; Küntzel, 2012: 21 ff.29 ff.; Kahlili, 2013: 73.128 f.151 ff.; Funke, 2014: 37 ff.44.47.48 ff. Die Zahl der gefallenen Kindsoldaten wird zwischen 40 000 und 100 000 beziffert; Küntzel, 2012: 22.
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Befreiungswege aus der islamistischen Matrix Hamı¯d Daba¯sˇ¯ı hat in seinem Buch »Shi‘ism – a religion of protest« vor allem im ˙ Rückblick auf die postrevolutionäre Phase des von Homeinı¯ herbeigeführten ˘ Systemsturzes die These aufgestellt, dass die Schı¯‘a, »as soon as it is politically successful it loses its moral legitimacy. In order to remain morally potent, Shi‘ism must always be in a posture of protest.«182 Mit dieser Beschreibung des schı¯‘itischen Paradoxons stellt Daba¯sˇ¯ı als identitätsstiftende Mitte der Schı¯‘a ausdrücklich nicht den durch Heilsverrat und Heilsverlust genötigten Versuch heraus, aus menschlicher Kraft das gottesstaatliche Heil gewaltsam wiederherzustellen, sondern ihre durch Karbala¯’ leidvoll erworbene ethische Legitimität, Vorkämpferin für die Sache der »Erniedrigten« (mustad‘afu¯n) gegen die ˙ »Mächtigen« (mustakbiru¯n) zu sein.183 Insofern steht die Schı¯‘a als eine »Religion des Protestes« vor der Herausforderung, dort Einspruch zu erheben, wo ihr Karbala¯’-Trauma, das »verbindende Mittel zwischen Erde und Himmel sei abgerissen« (s. S. 117), und ihre Mahdı¯-Erwartung im Sinn einer militanten Rückeroberung der Heilsgeschichte instrumentalisiert und in den apokalyptisierenden Kreisel eines gewaltfördernden Fundamentalismus und g˘iha¯distischen Märtyrertums hineinmanövriert werden.184 Es wird abzuwarten sein, inwieweit es dem islamic newthinking, das seit geraumer Zeit auch im Iran begonnen hat,185 gelingt, mithilfe des in der Schı¯‘a immer lebendig gebliebenen ig˘tiha¯d186 eine bis zu den Schriftquellen zurückreichende »erkenntnistheoretische Revolution«187 zu ermöglichen. Diese kann
182 Daba¯sˇ¯ı, 2012: 313; vgl. auch: XIV.XVI.313 ff.322 u. ö. 183 Vgl. Halm, 1988: XIII (Vorwort). 184 Vgl. Riexinger, 2004: 34 f.; Möller, 2004: 63 ff.; Trimondi, 2006: 460 f.; Schäfer, 2008: 50 ff.74 ff. Aktuell wird die besondere Dringlichkeit solcher Herausforderung an dem derzeit im Iran umlaufenden, aus dem direkten Umfeld des ehemaligen iranischen Präsidenten Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯d stammenden Video The Coming is upon us deutlich. Schon Sa˙ 2011:˙ 186.198 und Küntzel, 2012: 41 ff. haben auf dieses Video hingewiesen; s. die fiarian, YouTube-Fassung in www.youtube.com/watch?v=bPkUEcFkNbk und die Dokumentation dieses Videos im vorliegenden Band, s. S. 139 – 160. 185 Safiarian, 2011: 86 ff.; Dabasˇ¯ı, 2012: 275 f.315 f.; Benzine, 2012: 56 ff.; Amirpur, 2013b: 14.176 ff.207 ff.; vgl. a. den von Heller u. Mosbahi, 1998, herausgegebenen Sammelband. 186 ig˘tiha¯d = »(intellektuelle) Anstrengung« im Sinn selbstständiger Rechtsfindung durch eine gerade nicht fundamentalistische, rationale Überlegung und Dialektik (kala¯m); Halm, 1988: 63 ff.85 ff. mit Anm. 125; ders., 1994: 112 f.116 ff.134 f.; ders., 2005: 64 f.; Khorchide, 2013b: 86.100 ff.108 f. 187 Adonis: 1998: 70. Dazu gehörte z. B., Sura 2, 154; 4, 74; 47, 4 ff. nicht vom historischen Kontext abgehoben zu interpretieren. Hinsichtlich einer Neudeutung Karbala¯’s verweisen Thoß u. Richter, 1991: 183 (vgl. auch: 146 ff.164 ff. 176 f.181 ff.) auf Paul Tillich, dessen mythologiekritischer Ansatz (»Brechung des Ursprungsmythos«) ein erwägenswertes Denkmodell bietet (Tillich, 1980: 27 ff.). Auch die Janusköpfigkeit des Mahdı¯ wäre neu zu
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das heilsgeschichtliche Geschichtsverständnis des Qur’a¯n (s. S. 111 f.) aktualisieren und sich emanzipieren von jeder apokalyptisierenden, islamistischen Selbstfixierung an einen historischen und für unübertrefflich gehaltenen, schon einmal erreicht geglaubten, in Verlust geratenen und gewaltsam zurückzuerobernden Heilszustand. Es ist genau dieses Hineinpressen der Heilserwartung in den (Gott letztlich misstrauenden) Modus der Geschichtswiederholung, das die apokalyptischen Empfindungen von Weltverachtung und Heillosigkeit hervorruft, das zu endzeitlich vorgreifender Selbstjustiz im Namen Gottes anstachelt und den Zugang zu einer zukunftsoffenen Wahrnehmung wie Mitgestaltung der Heilsgeschichte versperrt.188 Der unbeschränkten Geschichtssouveränität Alla¯hs189, welche die Sure 5, 64 mit dem Bild der »ausgestreckten« (mabsu¯tata¯ni), ˙ ungefesselten Hände190 beschreibt, entspricht dagegen einzig das stets neue und mannigfaltige Heilsangebot Alla¯hs, seine rastlose Barmherzigkeit und gütige Weltzuwendung,191 die sich in immer neuer, auch unvorhersehbarer Gestalt erweist.192 In dieser vollzieht sich die Selbigkeit seiner Treue – ebenso wie die Treue seiner Gläubigen – grundsätzlich unabhängig von der selbstbeschränkenden Festlegung auf gewesene und gegenwärtige Weltzustände.193
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188 189 190 191 192 193
diskutieren; vgl. At-Tabası¯, 2006: 129 f.215 – 232 gegenüber 98 f.131 ff.261 ff.282 ff.293 ff. ˙ ˙ 305 ff. Dies gilt auch für das im Iran proleptisch (Artikel Nr. 5) institutionalisierte Provisorium des Endzeit-Ima¯mats. Vgl. Anm. 66. Das in Sure 5, 64 gegebene jüdische Zitat lässt sich nicht belegen und widerspricht Num. 11, 23. Vgl. Khorchide, 2013a: 70 ff.76 ff.197 ff. u. ö. Vgl. Sure 31, 27; s. a. die bei Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 353.368 ff. und Khoury, 2011: 43 f. (Nr. 94) ˘ verzeichneten Aha¯dı¯t. ¯ ˙ anhand In den 80er Jahren von Sure 5, 64 so noch vertreten von einem der engsten Berater ¯ yatolla¯h Mohammad Taqı¯ Mesba¯h Yazdı¯ (ders., 2010: 51 f.), Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯ds, A ˙ ˙ ˙ hier˙ von mir˙ umformuliert nach der an christliche Adressen gerichteten Argumentation zur Überwindung des apokalyptischen Weltgefühls bei Dantine, 1973: 15 – 23.186 – 192.198 f., insbesondere 91 – 93; vgl. Taxacher, 2010: 178 f.244; Goetze, 2014: 296 f.366 ff.
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Friedrich Erich Dobberahn
»The Coming is upon us« – Dokumentation eines islamistischen Videos aus dem Iran
Der Fundamentalismus im Islam äußert sich – beeinflusst hauptsächlich von den Schriften Sayyid Abu-l-A‘la¯ Mawdu¯dı¯s (1903 – 1979), Hasan Ahmad ‘Abd ar˙ ˙ Rahma¯n al-Banna¯s (1906 – 1949) und Sayyid Qutbs (1906 – 1966)1 zur islamischen ˙ ˙ Weltrevolution – in der Form des Islamismus.2 Eine besondere Variante dieses Islamismus stellt die gegenwärtig im iranischen Schı¯‘ismus revitalisierte Mahdı¯3Erwartung dar, wofür als religionspädagogisch auswertbares Anschauungsmaterial ein 2011 im Iran produziertes Propaganda-Video mit dem Titel The Coming is upon us (zuhu¯r besya¯r nazdı¯k ast, 01:06) zur Verfügung steht. Journa˙ listen wie Kamran Safiarian und Matthias Küntzel haben auf dieses Dokument aufmerksam gemacht, ohne dass ihm eine eingehende, islamwissenschaftlichen Ansprüchen genügende Analyse gewidmet wurde.4 Dieses Video ist eine aktuelle Variante des seit den späten 1980er Jahren sprunghaft angewachsenen islamistisch-apokalytischen Doomsday-Genres,5 das anhand von detaillierten Schrift1 Tibi, 1998: 303 ff.; ders., 2000: 7 ff.44.66 f.80 f.; ders., 2001: 136 ff.329 ff.; Chimelli, 2002: 41 ff.; Trimondi, 2006: 302 ff.306 ff.; Künzl, 2008: 26 ff.; Seidensticker, 2014: 44 ff.51 ff. 2 Definitionen bei Peters, 1987: 217 ff.; Tibi, 1998: 333 ff.; ders., 2000: 35.117 ff., 160 ff.; ders., 2001: 101 ff.200 ff.; Riexinger, 2004: 34 f.; Künzl, 2008: 36 ff.55 ff.62 ff.; Seidensticker, 2014: 9 ff. 3 Mahdı¯ = Pt. pass. von arabisch √hdy I. in der Bedeutung »der [von Alla¯h] Geführte, der [von Alla¯h] Rechtgeleitete«, dann: »derjenige, der rechtgeleitet zu führen in der Lage ist«, »der rechtgeleitete Führende«. Zur Gestalt des Mahdı¯ und den Inhalten insbesondere der schı¯‘itischen Mahdı¯-Erwartung s. As-Sadr, 2008: 19 ff.; Goldziher, 1925: 216 ff.; Halm, 1988: 45 ff.; ˙ ff.; Cook, 2002: 195 ff.; ders., 2008: 126 ff.; Trimondi, 2006: ders., 1994: 47 ff.; ders., 2005:˙ 36 287 ff.297 ff.; Ourghi, 2008: 37 ff., 165 ff. 4 Safiarian, 2011: 186.198; Küntzel, 2012: 41 ff. Das persischsprachige (fa¯rsı¯) Original dauert ca. eine Stunde; wir zitieren die englischen Untertitel ausschließlich aus der auf 28 Minuten und 25 Sekunden gekürzten YouTube-Fassung in: www.youtube.com/watch?v=bPkUEcFkNbk mit Angabe der Minuten und Sekunden (00:00). 5 Auslöser hierfür waren – wie für den Islamismus – die Geschichtstraumata der Kolonialzeit, das Versagen des in die islamischen Staaten importierten westlichen nationalstaatlichen Systems, die Repressionen seiner säkular orientierten politischen Eliten und die vor allem vom Sechs-Tage-Krieg (Juni 1967) verursachte Sinnkrise (Tibi, 2000: 35.50 ff.56 ff.62 f.173 ff.; ders., 2001: 267 ff.; Künzl, 2008: 52 ff.; Cook, 2008: 13 ff.). Auf die seit den 1980er Jahren erschienenen Bücher von Sa‘ı¯d Ayyu¯b und anderen (Cook, 2008: 16; Schäfer, 2008: 74 ff95 ff.) folgte
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beweisen aus dem Qur’a¯n und den Aha¯dı¯t6 für die unmittelbare Zukunft die ˙ ¯ Wiederkehr (zuhu¯r) des sogenannten »Zwölften Ima¯m« und damit verbunden ˙ den Anbruch einer mit militärischen Mitteln eingeleiteten Heilszeit voraussagt:7 Der Mahdı¯, eine messianische Erlösergestalt, werde in Kürze aus seiner vierzehn Jahrhunderte währenden Verborgenheit hervortreten, um noch kurz vor dem Weltende und Jüngsten Tag von seinem Stützpunkt im Iran aus den Erdkreis von allen satanischen, das heißt antiislamischen Mächten gewaltsam zu reinigen und die Weltherrschaft des wahren, reinen und ungeteilten Ur-Islam aufzurichten. Ein in den iranischen Revolutionsgarden unenttarnt gebliebener CIA-Agent hat dieses für islamistische Schulungszwecke produzierte Video kurz nach seiner Fertigstellung mit englischen Untertiteln versehen ins Internet gestellt, um die Weltöffentlichkeit zu alarmieren.8 Reaktionen der US-amerikanischen Medien erfolgten prompt,9 zumal The Coming is upon us aus dem direkten Umfeld des von 2005 bis 2013 amtierenden iranischen Präsidenten Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯d ˙ ˙ stammt, dessen vor der 60. UN-Vollversammlung am 17. September 2005 gesprochenes Bittgebet um die baldige Wiederkunft des Mahdı¯ Ausdruck seiner
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eine Flut islamistischer »Doomsday«-Schriften. Eine detailliert kommentierende Übersicht hierzu bietet Cook, 2008: 16 ff., passim und 237 ff. (Lit.); vgl. auch Trimondi, 2006: 367 ff. Als aha¯dı¯t (sg.: ha¯dı¯t) bezeichnet man die von den Prophetengenossen gesammelten Aus¯ ˙ Muh ˙ ¯ die nicht im Qur’a¯n stehen, aber auch Aussprüche der »Vierzehn sprüche ammads, ˙ Unfehlbaren« (Muhammads, Fa¯timas und der 12 Ima¯me); vgl. Halm, 1988: 50 ff.54; ders., ˙ den Hadı¯tgrundlagen der schı¯‛itischen wie sunnitischen 1994: 43.126; ders.,˙ 2005: 33. Zu ˙ ¯ 2002: 23 ff.27 ff.284 ff.295 ff.333 – 385; Ourghi, Apokalyptik und Mahdı¯-Erwartung s. Cook, 2008: 29 ff.138 ff.141 ff. Die umfassendste deutschsprachige Hadı¯t-Zusammenstellung zum ˙ ¯ 2012, ins Deutsche überMahdı¯ bei At-Tabası¯, 2006 (im Internet abrufbar). Die von Khoury, ˙ ˙ Aha¯dı¯t-Zusammenstellung trägt gerade zum »Herzstück« des schı¯‘itischen setzte schı¯‘itische ¯ Glaubens, der Mahdı˙¯-Erwartung nichts bei. Generell werden solche exakten Vorhersagen von schı¯‘itischen wie sunnitischen Gelehrten mit Berufung auf Sure 7, 187; 31, 34; 33, 63; 41, 47; 43, 85; 67, 26; 79, 42 ff. und verschiedene Aha¯dı¯t ˙ u.¯ wie kadaba al-waqqatu¯na = »Die Zeitbestimmer lügen« (Goldziher, 1925: 220.362; Özoguz ¯ Abu Hadi, 2008: 200) abgelehnt; vgl. 4. Esra 4, 36 f.; Matth. 24, 36 und Strack u. Billerbeck, Bd. IV, 2, 1978: 1013 ff.; dies., 1979: 588 f. Dennoch sind diesbezügliche Spekulationen seit jeher weit verbreitet; Cook, 2008: 84 ff.91 ff. Vgl. zu weiteren Details Reza Kahlili (Pseudonym; Kahlili, 2013: 333) selbst in Kahlili, 2011: »This movie has been produced in Iran by an organization called ›Conductors of The Coming‹ in collaboration with the Iranian president’s office and the Basij (Iranian paramilitary force). Also reports indicate that Esfandiar Rahim Mashaei, President Ahmadinejad’s top adviser and chief of staff, was directly involved with this project […]. Currently this movie is being distributed throughout the Basij and Revolutionary Guards’ bases. The producers are in the middle of translating it into Arabic with the purpose of mass distribution throughout the Middle East. Their intention is to incite further uprisings with the hopes of motivating Arabs to overthrow U.S. backed governments with the final goal of the annihilation of Israel and Allah’s governance of the world.« Vgl. dazu etwa FRONTPAGE MAG vom 28. 03. 2011; NewsMax vom 28. 03. 2011; LIVE FOX NEWS vom 31. 03. 2011; PajamasMedia vom 28. 03. 2011, 11. 04. 2011, 13. 04. 2011; CBN NEWS World vom 03. 04. 2011; The 700 Club (CBN TV) vom 20. 04. 2011 etc.
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religiösen Überzeugung ist. Zu den wichtigsten Mentoren und engsten Beratern Ahmadı¯-Nezˇa¯ds (ein ehemaliges Mitglied der Revolutionsgarden) gehört unter ˙ ¯ yatolla¯h Mohammad Taqı¯ Mesba¯h Yazdı¯. Beiden – Ahmadı¯-Nezˇa¯d anderem A ˙ ˙ ˙ ˙ wie Mesba¯h Yazdı¯ – werden Verbindungen zur radikal endzeitlich ausgerichte˙ ˙ 10 ten Laienorganisation Hog˘g˘atı¯ya nachgesagt. Inwieweit dies zutrifft und ob ˙ diesem Kurs auch andere politisch einflussreiche Persönlichkeiten der gegenwärtigen iranischen Nomenklatura angehören – hohe Vertreter der paramilitärischen Revolutionsgarden (pa¯sda¯ra¯n) und der bası¯g˘-Miliz11 sowie unter ande˘ annatı¯, der auch ¯ yatolla¯h Ahmad G rem der Vorsitzende des Wächterrats, A ˙ Mitglied des Experten- und Schlichtungsrates ist – kann aufgrund der wenig transparenten Verhältnisse nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.12
¯ yatolla¯h-Staat – Die bevorstehende Ankunft des Mahdı¯ im A Dokumentation des fünfteiligen YouTube-Videos Das Video »The Coming is upon us« kündigt in seinem Vorspann an (00:06 // 00:29): »What you will see in this documentary: Analysis of common questions regarding the timing of the reappearance of the 12th Imam Mahdi. Analysis of the Hadith and how they relate to the current situations in the Middle East with a focus on what role the Islamic Republic of Iran will play at the time of the reappearance. The promises of Ulema, the religious authorities, that the reappearance is very close.«13
10 Zur Hog˘g˘atı¯ya vgl. Cohen, 2013. ˙ 11 Vgl. Safiarian, 2011: 161 ff.; vgl. Anm. 78. 12 Cohen, 2013: 131 ff.145 ff. Eine Liste von Vertretern dieser – innerhalb des schı¯‘itischen Klerus isolierten (Naji, 2009: 92.94; vgl. Ourghi, 2008: 228.251; Safiarian, 2011: 34.185 f.; Cohen, 2013: 144) – fundamentalistisch-islamistischen Richtung aus der iranischen Staatsspitze präsentiert Naji, 2009: 15.46 f.50 f.63.80 f.98 ff. 104 f.106 ff.239.251.263 ff.265 f.; Kahlili, 2013: 321.333 ff. »For about 10 minutes, the video lists the names of clerics, including very influential ones like Ayatollah Haeri Shirazi and former Revolutionary Guards chief commander Seyed Yahya Safavi, who affirm their belief that Khamenei is Seyed Khorasani. This isn’t propaganda, the regime really believes it, Kahlili said.« (so Wouk, 2011 vom 29. 03. 2011). Der im Video (03:42; 04:11; 07:41+47; 14:54; 18:42; 20:26; 27:23) immer wieder gezeigte und ¯ yatolla¯h ‛Alı¯ Ha¯mene’ı¯, scheint indessen vorgezitierte oberste religiöse Führer im Iran, A ˘ ˇa¯d in einem nicht spannungsschoben zu sein. ‘Alı¯ Ha¯mene’ı¯, der zuvor mit Ahmadı¯-Nez ˘ freien Zweckbündnis stand (Naji, 2009: 212 f.261 ˙ff.270 ff.; Safiarian, 2011: 40 ff.), hat sich inzwischen von ihm distanziert (Safiarian, 2011: 185 f.; Küntzel, 2012: 41 ff.); vgl. Anm. 33. 13 Vgl. das in 07:47 und 27:23 ‛Alı¯ Ha¯mene’ı¯ zugeschriebene Zitat: »I can tell you with utmost ˘ for The Coming and the establishment of a new Islamic confidence: The promise of Allah civilization is on its way.« Vgl. Ha¯mene’ı¯, 2011: 26. Das unten links stets zu sehende »Logo« ˘ den entsprechenden persischen Film-Titel zuhu¯r besya¯r (vgl. 01:06; 05:45; 15:53) nennt ˙ nazdı¯k ast = »Die Wiederkunft ist ganz nahe.«
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Teil 1 beginnt (00:29) mit einem gesungenen Bittgebet (du‘a¯’) für Muhammad,14 ˙ und seine Familie.15 Die folgenden, im Video wiederholt gezeigten, nach einem Wolkenbruch aufblühenden Blumen (01:08 mit Sure 2, 164; vgl. 05:32 u. ö.) könnten an die gewaltigen Naturwunder der messianischen Zeit erinnern, die in den Aha¯dı¯t im Zusammenhang mit der Parusie des Mahdı¯ vorhergesagt wer˙ ¯ den,16 aber auch an das Tulpensymbol der iranischen Flagge und an Revolutionslieder während des Schah-Regimes anknüpfen.17 Ab 01:37 werden verschiedene Moscheen gezeigt; zuerst die Prophetenmoschee von Medina, dann ab 01:47 die Kuppel von Karbala¯’ (Iraq) mit der »Passionsfahne« und die Trauerzeremonien iranischer Pilger im Gedenken an die Passion al-Husayns.18 Man ˙ hört ein Mahdı¯-Lied19 und sieht Geißler-Bewegungen (01:54; latmı¯ya). In ˙ Großveranstaltungen unter freiem Himmel (Karbala¯’? Nordiran?) werden in ¯ yatolla¯h ‛Alı¯ Anwesenheit des obersten religiösen Führers (rahbar) im Iran, A Ha¯mene’ı¯, ab 01:52 Fahnen in den Farben der am Endkampf beteiligten Trup˘ pen20 mit der Aufschrift ya¯ mahdı¯ adriknı¯ (=»O Mahdı¯, erlöse mich!«) geschwenkt (vgl. 19:50). Der ab 02:14 erscheinende Elegienvers lautet »Ach, ihr Weltbewohner, dass sie ihn, meinen Großvater – al-Husayn – durstig getötet ˙ haben!« Zugleich ertönen »ya¯-husayn«- (=»O Husayn«)-Rufe. Die von herab˙ ˙ kommendem Paradieslicht umspielte Ka‘ba (02:22; vgl. 27:31+43) erscheint, während Sure 11, 86 rezitiert wird. Anschließend (02:38; vgl. 10:20) wird der verborgene, aber anwesend gedachte Mahdı¯ willkommen geheißen.21 Begrüßt 14 Vgl. Sure 33, 56. 15 Übersetzung des gesungenen Eingangsgebetes: »O Alla¯h, segne unseren Meister Muhammad, ˙ den [von Menschen] ungelehrten Propheten (vgl. Sure 7, 157 f.), und seine Familie, und beschleunige ihre Erlösung.« Zur Wichtigkeit dieses Gebetes aufgrund der von Teilen der Schı¯‘a vertretenen präexistenten Schöpfungsmittlerschaft Muhammads und der Prophe˙ ¯ yatolla¯h Sayyid Kama¯l al-Haydarı¯, 2013: 121 f.128.131 tenfamilie s. A f.191 f.; vgl. Joh. 1, 3.10; ˙ Kol. 1, 16; Hebr. 1, 2. 16 Ausgehend von 24 gewaltigen Wolkenbrüchen. Zu den diesbezüglichen Aha¯dı¯t vgl. Sˇayh al¯ Mufı¯d, 2006: 481 ff.; At-Tabası¯, 2006: 325 ff.; Halm, 1988: 46; ders., 1994: 50;˙ ders., 2005: ˘38 f. ˙ grow. / Tulips and flowers will cover the earth like a flower garden 17 »From our blood tulips˙ will …« nach: ‘Alı¯-Asˇraf Darwı¯ˇsya¯n, in www.iran-bulletin.org/history/GOLSORKH.html, Anm. 12. Zu den aus dem Märtyrerblut Husayns sprießenden Tulpen und Rosen s. Thoß u. Richter, 1991: 16.173; Halm, 1994: 23.26;˙ders., 2005: 20. Zum Tulpensymbol der iranischen Flagge s. Özoguz, 2007: 76 f. 18 Der 680 bei Karbala¯’ vom Euphratwasser abgeschnittene und mit seinen Getreuen niedergemetzelte Al-Husayn ist der dritte Ima¯m der Schı¯‘iten und »Oberhaupt der Märtyrer«; mit ˙ seinem gewaltsamen Tod ging für die Schı¯‘a die gottesstaatliche Heilsgeschichte verloren (ziya¯ratu ‘asˇu¯ra¯’, 2013: 4 f.13; du‘a¯’ n-nudba, 2014: 18 ff.); der erwartete Mahdı¯ stellt sie bei seinem Hervortreten als Weltherrschaft wieder her. 19 Übersetzung des Mahdı¯-Liedes: »O Mahdı¯, Alla¯h soll dich eilen! O Vergelter (oder: Gerechtigkeitsbringer), wo bist du?«; vgl. a. die bei Ourghi, 2008: 255 ff. zitierten, aus den 1960er Jahren stammenden Mahdı¯-Qasa¯’id (= Gedichte). 20 Cook, 2002: 83 f.125 f.151 ff. ˙ 21 Der hinter den Moderatoren sichtbare persische Schriftzug (nasta‘lı¯q) lautet: as-sala¯mu
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werden mit der Verheißung aus Sura 21, 105 auch alle diejenigen, die für seine Wiederkunft kämpfen (02:44). Teil 1 schließt mit der Frage: However, the question is and has been for every generation: Will they witness the reappearance in their lifetime? (03:14). Die zu Teil 2 überleitende Bilderfolge präsentiert 03:28 die an die rituellen Straßenkämpfe22 erinnernden Trommler-Prozessionen (dasteh) aus dem Trauermonat Muharram, im Hintergrund ein Bild Husayns, Sˇaha¯da-Fahnen23 und ein ˙ ˙ Kind mit Märtyrer-Stirnband (ya¯ mahdı¯ adriknı¯ 03:30). Es folgen zwei Landkarten (ab 03:31); auf der ersten sieht man das Vorrücken des messianischen Mag˙ribı¯ von Nordwestafrika aus nach Ägypten, Palästina und Syrien;24 die zweite Karte stellt die hierauf erfolgenden strategischen Bewegungen des Mahdı¯-Gegners Sufya¯nı¯ (s. u.) dar, der von Syrien und Iraq abprallt und nach Mekka marschiert.25 Um die strikte Schriftbindung der im Video vorgetragenen Endzeitprophetie unter Beweis zu stellen, erscheinen (ab 03:32) die Buchdeckel verschiedener Hadı¯t-Sammlungen im Bild.26 Als Mahdı¯-Gegenspieler werden unter ˙ ¯ anderem Barack Obama, Sadda¯m Husayn (03:41) und die Könige Saudi-Arabi˙ ˙ ens und Jordaniens gezeigt (03:48). Darauf folgt die mit den Aha¯dı¯t belegte ˙ ¯ Feststellung: »People will rise from the East preparing the way for Imam Mahdi« (04:05), um die Rolle der Islamischen Republik Iran zu betonen.27 Illustriert wird
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‘alayka ya¯ sa¯hib az-zama¯n = »Friede sei mir dir, o Herr der Zeit (= Mahdı¯)«. Zur verborgenen ˙ ˙des Mahdı¯ wird 03:38 auf das Werk von Sˇayh ‘Alı¯ al-Yazdı¯ l-Ha’irı¯, ilza¯mu nAnwesenheit ˙ Prophetenfa˘ den Gegner [der na¯sibi fi itba¯ti l-hug˘g˘ati l-g˙a¯’ibi = »Zwingender [Beweis für] ¯ ˙ in [Bezug ˙auf] das Vorhandensein des ›verborgenen Arguments‹ (= Mahdı¯)« verwiemilie] sen. Ausgelöst durch die rituellen Schmähungen der sunnitischen Kalifen; Texte in: ziya¯ratu ‘asˇu¯ra¯’, 2013: 5 ff.9 ff.15 ff.19 f.; Goldziher, 1925: 204; Halm, 1988: 179; ders., 1994: 65; ders., 2005: 41 f.; Gronke, 2009: 78; Schimmel, 2014: 47 f. ˇsaha¯da = muslimisches Glaubensbekenntnis. Links der zweite Teil: »und Muhammad ist sein Gesandter«, woran in der Schı¯‘a meist ʿAlı¯ walı¯yu ʾlla¯hi = »‘Alı¯ ist der ˙Freund Gottes« angefügt wird. Isma¯‘ı¯litische Mahdı¯-Tradition; vgl. dazu Halm, 1988: 208 ff. So die Szenarien nach dem 03:31 und 17:00 gezeigten Buch von ‛Alı¯ al-Ku¯ra¯nı¯, ‘asr az-zuhu¯r = ˙ ˙Buch ˙ der »Zeitalter der Wiederkehr [des Mahdı¯]«, und Sˇayh al-Mufı¯d, kita¯b al-irsˇa¯d = »Das ˘ Rechtleitung«, 2006: 482 (vgl. Cook, 2002: 83.125 ff.181 f. 360 f.378). Aktuell (2014, 2015) könnte die militärische Zurückweisung des Sufya¯nı¯ auf die internationale Allianz gegen den IS, an der auch islamische Staaten beteiligt sind, hin gedeutet werden. Vgl. schon Anm. 21 und 25. Das Video präsentiert im Folgenden noch weitere Quellensammlungen: 03:34 einen Band (51, 52 oder 53?) aus dem 110 Folianten zählenden Kompendium von Muhammad Ba¯qir Mag˘lisı¯ (1627 – 1700), biha¯r al-anwa¯r = Lichtermeere; 03:35 ˙ ¯ n, ru¯zga¯r-e raha¯’e¯ = »Zeit der Erlösung«; ˙ Ha¯dı¯ Ka¯mil Sulayma 03:53 zeigt das Cover von As¯ l as-Sayyid Haydar al-Ka¯zimı¯, bisˇa¯ratu l-isla¯mi fı¯ ‘ala¯ma¯ti l-mahdı¯ s-sala¯mu Sayyid Mustafa¯ A ˙ ˙ Frohbotschaft ˙des Islam im ˙[Hinblick auf] die Vorzeichen des Mahdı¯ (a.).« Im ‘alayhı¯ = »Die weiteren Verlauf des Videos werden aus den genannten Werken immer wieder Aha¯dı¯t unter ˙ ¯ Angabe ihrer jeweiligen Fundstelle (Nr.) eingespielt. Zum Erscheinen des Mahdı¯ vom Osten her s. Cook, 2002: 147 ff. Zu den entsprechenden
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dies mit Bilderstrecken von Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯d (ab 03:58; 04:19 u. ö.), ˙ ˙ ¯ yatolla¯h Ruholla¯h Mu¯sawı¯ Homeinı A ¯ (04:08; 05:26 vom Paradieslicht umspielt; ˙¯ ˘ vgl. ab 16:28), Ayatolla¯h ‘Alı¯ Ha¯mene’ı¯ (04:11 u. ö.) und Hasan Nasr Alla¯h, dem ˙ ˙ ˘ Hizbu ’lla¯h-Führer im Libanon (03:40). 04:24+04:30 sieht man die Al-Aqsa¯˙ ˙ Moschee in Jerusalem (vgl. 15:20 im Paradieslicht) und parallele Aufnahmen von 28 Paraden der Hizbu ’lla¯h und der Pa¯sda¯ran. ˙ Teil 2 »Analyzing the Hadith to solve the riddle of the reappearance« (ab 04:45) nennt die wichtigsten in den Aha¯dı¯t geweissagten »kleinen« Vorzeichen ˙ ¯ des Weltendes, die sich im Vorfeld der messianischen Parusie des Mahdı¯ ereignen:29 verheerende Naturkatastrophen, weltweite kriegerische Auseinandersetzungen, durch wirtschaftlichen Kollaps verursachte Hungersnöte und chaotische soziale Zustände; Gefährdung des wahren Glaubens durch westoxication (= Verwestlichungsseuche),30 Dekadenz und Permissivität. Das parallel laufende Bildmaterial zeigt eingestürzte Gebäudekomplexe, Kriegsopfer aus Palästina, Iraq, Iran, Afghanistan, aber auch aus Korea, Vietnam und afrikanischen Staaten, wobei Fotoserien von Politikern aus den USA, Israel und der EU (05:04; 06:19) diese offenbar als Verantwortliche demaskieren sollen (05:01). Hinzu kommen Momentaufnahmen erotischer Freizügigkeit (05:12) und Mitschnitte aus Satanskulten (06:30), um die breite Palette der moralischen Korrumpierung und Jugend-Verführung des Westens zu demonstrieren.31 Fazit: »The world is filled with injustice and thirsty for the justice of Mahdi« (Iranian Newspaper Kayha¯n,
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Aha¯dı¯t, nach denen vor allem Iraner zu den Verbündeten des Mahdı¯ gehören, s. At-Tabası¯, ¯ ˙ 82 ˙ ˙ 2006: ff.85 ff.147 ff.; Ourghi, 2008: 129 mit Anm. 201. 04:29 könnte einen Aufmarsch der 1984 gegründeten razmandega¯n (= Krieger; Singular: razmandeh) zeigen, einer Vorläuferorganisation der iranischen Ansa¯r-e Hezbo ’lla¯h, die als ˙ hauptsächlicher Unterstützer der libanesischen Hizbu ’lla¯h gilt. Die˙ persische Transparent˙ aufschrift über der Tribüne lautet in Übersetzung rechts: »Wir leben mit der wela¯yat (=»Land«; ma¯ ba¯ wela¯yat zendeh ¯ım).« Links: »Solange wir leben, sind wir Krieger (ta¯ zendeh ¯ım razmandeh ¯ım).« Cook, 2002: 12 ff.354 ff.; ders., 2008: 8 ff.49 ff.; zu den Aha¯dı¯t vgl. Motahharı¯, 1997: 215 ff.; ¯ Sˇayh al-Mufı¯d, 2006: 381 ff.; At-Tabası¯, 2006: 23 ff.26 ff.33˙ ff.47 ff.67 ff.;˙ Sˇarı¯f ar-Rad¯ı, 2009: ˙ ˙ ˙ ˘ 70.77 f.; Khoury, 2012: 177 f. (Nr. 435). Der Mahdı¯ als Verbindungsglied leitet nach den »kleinen« die »großen« Vorzeichen des Weltendes ein; zu Letzteren gehören die Ereignisse der messianischen Zwischenzeit, insbesondere die Vernichtung des Dag˘g˘a¯l (s. Anm. 51), und kosmologische Vorgänge, welche die Auflösung der Schöpfung ankündigen (vgl. Sure 56, 1 – 7; 69, 13 – 16; 75, 7 – 10; 77, 8 – 13; 78, 18 – 20; 81, 1 – 14; 82, 1 – 5; 84, 1 – 6; 101, 5; vgl. Jes. 13, 10; 24, 9 f; Joel 2, 10; Matth. 24, 29; Offb. 6, 12 ff.; 8, 6 ff.; 16, 20). Vgl. Halm, 1994: 148.164.184; ders., 2005: 96 Der entsprechende Abschnitt ab 05:10. »Woman will rid themselves of the Hejab (= Schleier). (Imam Ali).« / Bildmaterial: unverschleierte muslimische Frauen. / 05:18: »Adultery will become common. Men will dress like woman. Men will content themselves to men and woman to woman. (Prophet Muhammad).« Zu den Aha¯dı¯t s. Cook, 2002: 333 ff.338 ff.; At˙ ¯Verhältnisse; vgl. Safiarian, 2011: ˙ Tabası¯, 2006: 43. Das Video kritisiert damit auch iranische ˙44 ff.57 ff.; Scheit, 2010: 142 ff.; vgl. auch die Kampfschriften der Hama¯s zu den Verhältnissen ˙ im Libanon; Croitoru, 2010: 78.
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konservativ-regierungstreue Zeitung, 06:40).32 Angesichts dieser Zusammen¯ yatolla¯h ‘Alı¯ ballung von Schrecknissen wird den Gläubigen gegenüber durch A Ha¯mene’ı¯ »with utmost confidence« (ab 07:47; vgl. 27:23) versichert:33 Die ˘ Bahnbrecher der triumphalen Weltrevolution des Mahdı¯ sind schon unterwegs. Dazu werden ab 07:18 Märtyrerbilder34 gezeigt, die von einem im Iran-Iraq-Krieg (1980 – 1988) berühmt gewordenen responsorischen Kriegsgesang (a¯hang-e g˘eha¯d) untermalt werden, der die Soldaten als Märtyrer und »Armee des Mahdı¯« anredet, Karbala¯’ und den Tag des (Jüngsten) Gerichts beschwört.35 In Teil 3 (ab 08:08) befasst sich das Video beginnend beim Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 mit den globalen militärischen und ideologischen Auseinandersetzungen zwischen dem Islam und dem als aggressiv dargestellten kapitalistischen Westen, den USA und Israel und sieht aufgrund von Hadı¯t-Belegen (07:56) gerade in dieser seit dem Jahr˙ ¯ tausendwechsel enorm verschärften Konfrontation36 ein klares Indiz für das unmittelbare Nahegerücktsein der Parusie des Mahdı¯ (09:01). 32 Auch sonst werden öfter Ausschnitte aus der Zeitung Kayha¯n gezeigt, deren englische Bildunterschriften sich in der Hauptsache mit dem persischen Text decken. 33 Anlass für diese Einblendungen ist wohl eine Kolportage. »In July 2010, a senior Iranian cleric revealed that Khamenei had told close associates that he had privately met with the Mahdi and was told that he’d arrive before his [=Ha¯mene’ı¯’s] time as Supreme Leader ends« (Wouk, ˘ 2011). 34 General Ahmad Ka¯zemı¯, geb. 1958, am 09. 01. 2006 bei einem Flugzeugunglück (Sabotage?) ˙ ums Leben˙ gekommen. Mohammed Ibra¯hı¯m Hemmat, geb. 1955, am 04. 03. 1980 bei der ˙ ¯ yatolla¯h Mohammed Hosayn Behesˇtı¯, geb. 1928, militärischen Operation »Haybar« gefallen. A ˙ 06. 1981 bei einem At˘ Vorsitzender des Revolutionsrates, oberster Richter des ˙Iran; am 28. ˘ owa¯d Tondgu¯ya¯n, geb. 1938, iranischer tentat der Volksmog˘a¯hedı¯n getötet. Mohammad G Ölminister, am 03. 11. 1980 von iraqischen˙ Invasionstruppen entführt und zu Tode gefoltert. Mahdı¯ Ba¯kerı¯, geb. 1954, gefallen am 16. 03. 1985 während der »Operation Badr« im Iran-IraqKrieg. Mostafa Gamra¯n, geb. 1932, erster Verteidigungsminister der Islamischen Republik ˙ ˙ 05. 1981 durch einen Bombensplitter umgekommen. Mortada¯ Avı¯nı¯, geb. 1947, Iran, am 21. ˙ nicht geräumte Fotograf, der den Iran-Iraq-Krieg dokumentierte; am 09. 04. 1993 durch eine iraqische Landmine getötet. 35 Vgl. eine aus dem Jahr 2004 stammende Einspielung dieses Liedes bei: http://www. dailymotion.com/embed/video/x7ow0i?syndication=112544&related=0 (in den Untertiteln eine Übersetzung ins Englische). 36 Vgl. Cook, 2008: 84 ff.129 f. – Vgl. ab 08:11 das Bildmaterial: Anschlag auf die Twin-Towers, G. W. Bush im Tarnfleck, attackierende US-Panzerbrigaden, Infanterievormarsch, Plakat, das mit giftgrünen Schriftzug »ISLAM« die Islamophobie des Westens demonstrieren soll: »Lets not leave it for our children!«; es folgen Usa¯ma bin La¯din vor Sˇaha¯da-Schriftzug, US-Amerikaner (?) mit Minaretten als karnevaleskem Kopfputz, Fotomontage von G. W. Bush und Usa¯ma bin La¯din, US-Flugzeugträger (mit der Aufschrift »E = mc2«) von US-Panzerkreuzern umgeben, nächtliches Bombardement Bagdads zu Beginn des 3. Golfkrieges (= 2. Iraq-Krieg der USA gegen Sadda¯m Husayn, 2003), kriegsverwundete Kinder, bewaffnete US-Soldaten ˙ auf dem Gelände˙ und im Inneren iraqischer Moscheen etc.; zu den diesbezüglichen Aha¯dı¯t s. ¯ ˙ der At-Tabası¯, 2006: 27 ff.147 ff. Das 10:48 zitierte Werk baya¯n al-a’imma (= »Erläuterung ˙ ˙ Ima¯me«) wird nicht näher spezifiziert.
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Teil 4 (ab 09:07) spitzt dann die apokalyptische Deutung der augenblicklichen Umbruchszeit zu: Kurz vor dem Wiedererscheinen des Mahdı¯ steht der Iraq im Fokus der in Teil 2 bis 3 genannten globalen Konflikte. Der Iraq ist es auch, der später als strategischer Ausgangspunkt für die vom Mahdı¯ ausgeübte messianische Weltherrschaft dient (09:18).37 In einer »Länderschau« des Nahen Ostens (jeweils ab 11:11; 12:23; 13:13; 15:24; 16:13) werden hiernach für alle islamischen Kernstaaten, in denen schı¯‘itische Minderheiten als Wegbereiter des Mahdı¯ (07:01) leben (Jemen, Ägypten, Palästina und Saudi-Arabien), vor allem die Kriegs- und Umsturzereignisse38 der letzten Jahre (mithilfe eingeblendeter Filmdokumente und Schlagzeilen aus der Iranian newspaper Kayha¯n) zusammengestellt. Zu Palästina und Israel wird 13:28 auf Sure 17, 4 – 8 verwiesen. Die diesen politischen Vorfällen jeweils zugeordneten Schriftbeweise aus der Hadı¯t˙ ¯ Literatur sollen belegen, dass gegenwärtig die allerletzten Stadien vor der messianischen Wiederkunft des zwölften Ima¯ms (10:11)39 durchlaufen werden.40 Dazu wird 10:20+26 eine Schrifttafel mit dem Friedenswunsch für »den sich erhebenden, erwarteten [Mahdı¯] und die berühmte [vorhergesagte] Gerechtig37 Zu den entsprechenden Aha¯dı¯t s. At-Tabası¯, 2006: 187.189; zur islamistisch-apokalyptischen ¯ ˙ 55 ˙ ˙f. Interpretation s. Cook, 2008: f.127 38 Etwa der Sturz Sadda¯m Husayns 2003 (10:35; vgl. 03:41) und Muhammad Husnı¯ Muba¯raks ˙ allerdings auch ein Bild aus dem Kaukasus-Krieg ˙ ˙ vom 08 – 12. 08. ˙ 2011 (12:52). Gezeigt wird 2008 (11:07). 39 Bildmaterial: Mahdı¯ reitet auf einem Schimmel (vgl. Offb. 19, 11 ff.), während sein Antlitz von einer Lichtwolke verdeckt wird (05:34; 10:11; 24:23); dazu werden jedesmal Ausschnitte des über www.youtube.com/watch?v=U5OJIVlLc3o abrufbaren Liedes eingespielt. Übersetzung: »Sei gütig, lieber Meister, und kehre zurück! Mache deine Hände zu einer Zufluchtsstätte, o edler Mann! Geopfert seien wir Deinem Namen, o du, Yu¯suf az-Zahra¯’ (Zahra¯’ = Fa¯tima, ˙ Tochter Muhammads)! Unsere Herzen sehnen sich nach dir, Meister, Herr!« Der verborgene, ˙ anwesende Mahdı¯ wird hier mit dem »verborgenen« Yusuf (Sure 12, 58.87 ff.) aber diesseitig ¯ verglichen, den seine Brüder in Ägypten nicht erkannten, obwohl er unter ihnen weilte (vgl. Gen. 42, 8; 45, 2 ff.). 40 Wegen der seit Ende 2014 stark zunehmenden Aktivität der schı¯‘itischen Hu¯tı¯-Rebellen im seit 1990 vereinigten Jemen zitieren wir hier einen längeren Abschnitt (vgl. ˙Anm. 62). 11:11: Bildmaterial: Landkarte Jemens. »The Events in Yemen on the Threshold of The Coming. Another important region for The Coming is Yemen. It has been predicted by the Hadith that on the threshold of The Coming, a holy revolution will take place in this country. Some believe that after The Coming, the first soldiers of Imam Mahdi who will reach Mecca will be from Yemen. / 11:41: During recent years, the Shiites in Yemen have been under attack by its central government, but with their courageous resistance have pushed back the enemy. In the most recent conflict, the government of Saudi Arabia attacked the Shiites in Yemen from the ground, the sea and the sky. Meanwhile, the government of Jordan sent over 2 000 of its commandos to join in the attack with Israel and America. What is the reason for this focus by the enemy on the Shiites of Yemen?« / 11:40: Bildmaterial: Flüchtlingslager, ‘Abd al-Malik alHu¯tı¯, Rebellenführer der schı¯‘itischen Zayditen, Plakat mit dem blutbefleckten Namen des im ˙ jemenitischen Nordwesten gelegenen Gouvernements Sa‘da, bis 1962 Sitz des zayditisch˙ 2010: 79.112 f.). Bilder vom Sa‘daschı¯‘itischen Ima¯mats (Taeschner, 1964: 125 f.214 f.; Halm, ˙ Aufstand 2004 bis 2010 (2009) etc.
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˘ amkara¯n mit ihrer Prachtallee41 (vgl. keit« gezeigt sowie 10:23 die Moschee von G auch 24:34+38; 26:30). Für den Iran wird indessen konstatiert, dass sich verschiedene, in den Aha¯dı¯t belegte Weissagungen (vgl. schon ab 04:05) zur end˙ ¯ zeitlichen Wegbereitung des Mahdı¯ durch die Islamische Revolution von 1979 ¯ yatolla¯h Homeinı¯s (16:28) erfüllt haben.42 Nach (16:16) bzw. das Auftreten A ˘ 14:35 deutet auch die Pa¯sda¯ra¯n-Fahne (Schriftzug über der Kalaschnikow = Sure 8, 60) darauf hin.43 Teil 5A (ab 17:53) und Teil 5B (ab 22:40) präsentieren nach Darstellung der Ereignisse »on the treshold of the coming« die an den »großen« Vorzeichen des Weltendes beteiligten dramatis personae (vgl. 00:37 die in Rot gehaltenen Schriftzüge; ab 04:10 die in die Bilderfolgen eingeblendeten Aha¯dı¯t). Zum Ver˙ ¯ ständnis dieser teuflischen wie messianischen Akteure ist die Tatsache wichtig, dass es sich hier um mythologische Chiffren bzw. archetypische Rollen handelt, um antagonistische Kräfte und Gestalten, die in der schı¯‘itischen (wie sunnitischen) Apokalyptik seit jeher in geschichtlichen Zyklen und periodischen Personifizierungen gegeneinander antreten.44 The Coming is upon us zufolge findet jetzt ihre finale Konfrontation statt. Teil 5A: Ab 17:53 werden – nach eingeschobenen Bilderfolgen zu diesen gegenwärtig und letztmalig agierenden Gegnern des Mahdı¯ (ab 18:07; siehe dazu Teil 5B) – zunächst die drei wichtigsten messianischen Verbündeten des Mahdı¯ genannt, die den Hadı¯t-Traditionen zufolge am alles entscheidenden Endkampf ˙ ¯ gegen das antiislamisch Böse beteiligt sind:45 Sayyid Hura¯sa¯nı¯ (ab 18:53; oberster ˘ ˘ amkara¯nı¯ aus dem Jahr 994 41 Der Mahdı¯ soll – einer Weissagung des Sˇayh Hasan ibn Mutlı¯h G ¯ ˘ ˙ ˘ amzufolge – bei seinem Hervortreten einem vertrockneten Brunnen in der Moschee in G kara¯n bei Qomm entsteigen, wonach er zum Herrschaftsantritt auf einer inzwischen von Ahmadı¯-Nezˇa¯d prachtvoll angelegten Aufmarschstraße entlangzieht (vgl. Jes. 40, 3 ff.; ˙ Matth. 3, 3; Joh. 1, 23). Ourghi, 2008: 252 f.; vgl. Naji, 2009: 93; Arndt, 2012: 26 f. und Cook, 2008: 141 ff. ¯ yatolla¯h Mohammad Taqı¯ Mesba¯h Yazdı¯, 2011: 69. 42 Vgl. Anm. 27; A ˙ ¯ wa (= »Stärke«, »Kraft«, »Streitmacht« ˙ al-qu 43 Das 14:35 zitierte Hadı¯t wird ˙anhand des Wortes ¯ aus Sure 8, 60) als˙ Prophezeiung auf die Pa¯sda¯ra¯n-Flagge gewertet, nach deren Vorbild im Iran auch die Hizbu ’lla¯h-Fahne gestaltet wurde. Mit diesen »schwarzen Flaggen« zieht die Streitmacht des˙ wiedererschienenen Mahdı¯ heran; zu den diesbezüglichen Aha¯dı¯t s. At˙ ¯ ˙ Tabası¯, 2006: 84.86.142 f.147; Cook, 2002: 125.153; ders., 2008: 173. ˙ 44 Cook, 2002: 93 ff.120 ff.122 ff.137 – 188; ders., 2008: 105. Zu ihrer speziell schı¯‘itisch-apokalyptischen Interpretation s. ders., ebd.: 189 – 229; vgl. z. B. ‘Alı¯ Akbar Ha¯ˇsemı¯ Rafsang˘a¯nı¯ am 14. 10. 1983 in: Tehran Domestic Radio Service in Persian (1030GMT): »The events of Karbala are being repeated in our society today.« zit. in Ramazani, 1988: 298. 45 Zu ihren Geschichtszyklen s. Cook, 2002 (wie Anm. 44). Zu den entsprechenden Aha¯dı¯t s. At˙ ¯ auch ˙ Tabası¯, 2006: 142 ff.147 ff.152 ff.; Ourghi, 2008: 231 f. In den Aha¯dı¯t erscheint bisweilen ¯ ˙ Jesus als einer der engsten Verbündeten des Mahdı¯ (vgl. Sure˙ 3, 55), der sogar dessen Antagonisten, den Dag˘g˘a¯l (s. Anm. 51) tötet; zu diesen Aha¯dı¯t s. At-Tabası¯, 2006: 141 f. ˙ ¯ Cook, ˙ ˙ 156.269 f.274.300.303.337; vgl. Goldziher, 1925: 220; 2002: 173 ff. 212 ff.352 f.361.367.369; ders., 2008: 196 ff. u. ö.; Trimondi, 2006: 287. 291 ff.; Ourghi, 2008: 20 f. u. ö.
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politischer und militärischer Führer),46 Sˇu‛ayb ibn Sa¯lih (Befehlshaber einer aus ˙ ˙ dem Osten kommenden Heeresmacht; in der von Kahlili gekürzten Fassung erst ab 24:47)47 und Yama¯nı¯ (Anführer einer aus dem Süden, dem Jemen, heranrückenden Armee; ab 21:07).48 Da – wie zuvor vermeintlich zur Genüge bewiesen – die allerletzte Frist vor der Wiederkunft des Mahdı¯ gerade verstreicht, ist anzunehmen, dass die genannten Mitstreiter des Mahdı¯ hohe schı¯‘itische Geistliche und Politiker der Gegenwart sind: Sayyid Hura¯sa¯nı¯ ist der Oberste Religions˘ führer ‘Alı¯ Ha¯mene’ı¯ (ab 18:53; 19:37 wird dazu die im Nordosten des Iran = ˘ Hura¯sa¯n gelegene Moschee von Masˇhad gezeigt); Yama¯nı¯ ist Sayyid Hasan Nasr ˙ ˙ ˘ Alla¯h, der Führer der Hizbu ’lla¯h im Libanon, dessen Vorfahren aus dem Jemen ˙ ˇ 49 stammen (ab 21:15). Su‛ayb ibn Sa¯lih ist Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯d (siehe ˙ ˙ ˙ ˙ Teil 5B; ab 25:15). Teil 5B: Ab 22:40 zählt das Video die in den Aha¯dı¯t genannten Widersacher ˙ ¯ des Mahdı¯50 auf und schildert, wie und durch wen diese bei der endzeitlichen Rückeroberung der Heilsgeschichte vernichtet werden. Hauptgegner ist der Dag˘g˘a¯l51, der Betrüger, nach den Aha¯dı¯t ein Jude,52 der als »Antichrist« mit ˙ ¯ teuflischer Macht ausgestattet nur noch für begrenzte Zeit seine Terrorherrschaft über die Welt ausüben wird. Im Video erscheint er nicht als Individuum, sondern, wie die in 23:16 abgebildete Pyramide des Obersten Rats der HochgradFreimaurerei zeigt,53 als Hort der Verschwörung, als internationale overall 46 Gezeigte Aha¯dı¯t 04:14; 18:45; mehrere ab 19:17; 20:10; das 19:26+43 genannte Hadı¯t soll das ˙ ¯ auf Ha¯mene’ı¯ am 23. 06. 1981 und seine Verletzung an der rechten ˙ ¯ Hand Bomben-Attentat ˘ haben; vgl. At-Tabası¯, 2006: 142 (linke Hand). Zu Hura¯sa¯nı¯ vgl. (dast-e ra¯st) geweissagt ˙ Cook, 2002: 149.154. ˘ Ourghi, 2008: 207, Anm. 305; S. 231 f.; ˙vgl. 47 Gezeigte Aha¯dı¯t 03:54; 18:32; 25:24; Sein Name setzt sich aus zwei im Qur’a¯n genannten ˙ ¯ Propheten zusammen (Sure 11, 46.87.91; 62, 89). Zu Sˇu‛ayb ibn Sa¯lih vgl. Ourghi, 2008: 207, ˙ ˙ Anm. 305; Cook, 2002: 129. 148 ff.151 ff.; vgl. Anm. 58. 48 Gezeigtes Hadı¯t 04:26 und 19:22; zu Yama¯nı¯ vgl. Ourghi, 2008: 207, Anm. 305; 233, Anm. 404; ¯ vgl. Cook, ˙2002: 82, Anm. 204; ders., ebd.: 125.139. 49 Im Hintergrund von 14:56; 21:40 und 22.16 ertönt ein Hizbu ’lla¯h-Kampflied auf Husayn und Nasr Alla¯h. 22:07 sein Ruf: labbayka ya¯ husayn! = »Dir˙ zu Diensten, oh Husayn!«˙(vgl. 04:31; ˙ ˙ ab ˙21:40). 50 Vgl. Hughes, 1996: 455; Cook, 2002: 221 ff.319 f.; Ourghi, 2008: 46 ff.211 ff.; At-Tabası¯, 2006: ˙ ¯˙ gegen seine 129 f.216 ff. zitiert nur die in den Aha¯dı¯t erwähnten Strafmaßnahmen des Mahdı ˙ ¯ Widersacher. 51 Gezeigte Aha¯dı¯t 03:31; 04.00; 18:36. Die Bezeichnung ad-dag˘g˘a¯l (= »Lügner, Treuloser«) ist ˙ ¯ dem »Pseudo-Christus« von Matth. 24, 24; 2. Thess. 2, 3 ff. vergleichbar; vgl. Strack u. Billerbeck, Bd. III, 1979: 638 ff.; Cook, 2002: 93 – 120; Trimondi, 2006: 289 f.; Ourghi, 2008: 47 f. 52 Zur antijüdischen Deutung des Dag˘g˘a¯l vgl. Cook, 2002: 110 ff.; ders., 2008: 18 ff.59 ff.150 ff.184 ff. 53 22:40: »The Imposter – Islamic Antichrist: One of the important signs prior to The Coming is the rise of the imposter, Islamic Antichrist. The imposter has been described in the Hadith as a wicked being who will confront God’s faith. There are many signs describing the imposter, which cannot point to a single being. Hadith talk about several imposters prior to the Coming«; vgl. Trimondi, 2006: 377 ff.; Ourghi, 2008: 221 f.; Cook: 2008: 18 ff.28 f.34.43.184 ff. Im
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conspiracy, die schon seit der Pharaonenzeit (23:26) nach der Weltherrschaft strebt und jetzt als hidden hand das »zionistische Regime«, die Mutterländer des Kapitalismus und die vom wahren Islam abtrünnigen Machthaber fernsteuert.54 Die nicht zimperliche Bildauswahl schreibt den Freimaurern auch Ritualmorde zu (23:24: das aztekische Herzopfer) und zeigt den Dag˘g˘a¯l sogar als Hexenkönig von Angmar (24:12).55 Ihm zur Seite steht Sufya¯nı¯56 (18:07), dessen militärisches Operationsgebiet sich über den Iraq, Iran, Syrien, Palästina und den Hig˘a¯z er˙ streckt.57 Diesem tritt Sˇu‛ayb ibn Sa¯lih (= Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯d) schon 72 ˙ ˙ ˙ ˙ Monate vor (!) dem Wiedererscheinen des Mahdı¯ entgegen, um Palästina, ins58 besondere Jerusalem zu befreien (ab 25:40). Die Vernichtung der Juden und die Wiedereroberung Jerusalems gilt nach einigen Aha¯dı¯t als wichtigstes Vorzeichen ˙ ¯
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Bildmaterial taucht ab 23:48 zum Beweis die mano cornuta-Gebärde bei US-Politikern auf, die in den USA (auch mit abgespreiztem Daumen) als I love you- oder Solidaritätszeichen üblich ist. 23:53 wird Sayyid al-Husayn Ibn ‘Alı¯ al-Ha¯ˇsimı¯, Groß-Sˇarı¯f und Amı¯r von Mekka, König des ˙ Hig˘a¯z (1854 – 1931), gezeigt. Möglicherweise liegt hier eine Bildverwechslung mit dem Be˙ gründer der Wahha¯bı¯ya, Muhammad ibn ‘Abd al-Wahha¯b (1703 – 1792) vor; vgl. Anm. 56 ˙ und 61. »Herr der Ringe«, Teil III (Die Rückkehr des Königs) um 02:05:12: in der Schlacht auf dem Pelennor tötet Éowyn den Hexenkönig von Angmar, Fürst der Nazgȗl. Gezeigte Aha¯dı¯t 03:34; 18:21. Die Aha¯dı¯t und Kommentare (Cook, 2002: 122 ff.319 f.376 ff.; ¯ ¯ ˙ 219 ders., 2008:˙127 ff.; Ourghi, 2008: 48 ff., ff.) zu Sufya¯nı¯ sind vielfältig und gegensätzlich. In den 1990er Jahren wurde Sufya¯nı¯ in den apokalyptischen Kommentaren noch vielfach mit Sadda¯m Husayn als sunnitischer, die Schı¯‘a verfolgender »Herrscher« identifiziert; Cook, ˙ Anm. 6; 129, Anm. 3; vgl. ders., 2002: 319 f. Im Video ist für den gegenwärtigen, ˙ 2008: 44; 90, vorgeblich letzten Geschichtszyklus der am 23. 01. 2015 verstorbene wahha¯bitische (= streng ¯ l Sa‘u¯d gemeint (18:07; vgl. sunnitische) saudische König ‘Abd Alla¯h ibn ‘Abd al-‘Azı¯z A Anm. 61). Der Name Sufya¯nı¯ selbst hängt offenbar mit Abu¯ Sufya¯n ibn al-Harb ibn Umayya ˙ ammad hartzusammen, der das Oberhaupt der mekkanischen Aristokratie war, die Muh ˙ Islam; sein näckig bekämpft hatte. Er konvertierte kurz vor der Eroberung Mekkas 630 zum Sohn Mu‘a¯wiya wurde zum Begründer der den Schı¯‘iten verhassten umayyadischen Dynastie. Zum Sufya¯nı¯-Zyklus s. Cook, 2002: 122 ff. Vgl. hierzu ab 13:13 und 14:37; ab 13:28 wird Sure 17, 4 – 7 gezeigt; vgl. Cook, 2008: 98 ff.; das Hadı¯t ab 13:38 bei At-Tabası¯, 2006: 143. Zu 25:40 s. At-Tabası¯, 2006: 142 f. Vgl. 24:47: ˙ ¯ ˙ ˙ in the age of The Coming is Shoeib-Ebne ˙ ˙ »Another important figure Saleh. According to the Hadith, Shoeib starts his move 72 months prior to The Coming. Shoeib will be appointed to the commander in chief by Seyed Khorasani.« Dazu s. Ourghi, 2008:232.248 f. / 25:15: Bildmaterial: ‘Alı¯ Ha¯mene’ı¯ überreicht Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯d seine Ernennungsurkunde. ˙ ˙ ˘ »Can Doctor Ahmadinejad be the Shoeib-Ebne Salah, that great commander of Islam at the time of The Coming? According to Hadith, Shoeib has the confirmation of Seyed Khorasani and is appointed as the commander of Iranian forces on the threshold of The Coming.« / 25:40: »There are several Hadith that point to Shoeib’s final goal of conquering Beitol Moghadas (= Jerusalem) and on the threshold of The Coming [;] this holy place will be conquered by him and his forces.« / 26:00: Ausschnitt aus einer Ansprache Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯ds an ˙ ˙ einem der 1979 von Homeinı¯ eingeführten al-quds-(= Jerusalem)-Tage (letzter Freitag des ˘ Ramada¯n): »Palestine with the full strength of resistance and power of faith will become free. Justice˙ will come. The oppressed will be saved.« Vgl. Schirra, 2007: 145 ff.; Cohen, 2013: XIII.
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der Wiederkunft des Mahdı¯.59 Anhand von opulentem, von martialischer Musik begleitetem Bildmaterial militärischen Großgeräts marschiert die Streitmacht Sˇu‛ayb ibn Sa¯lihs mit Truppenkontingenten, Bomberformationen und Flotten˙ ˙ paraden als hochgerüsteter, unschlagbarer (vgl. ab 20:22) Kriegsapparat auf. Wiederholt gibt The Coming is upon us den Countdown für den Einbruch des Heils in diese Welt des Unheils auf den Tag genau bekannt: Das mit einer gigantischen Welle von weltweiten Militär-Aktionen verbundene60 Hervortreten des Mahdı¯ aus seiner Okkultation wird in 18:27 (vgl. 03:49; 16:04) exakt im Zusammenhang mit dem »in Kürze bevorstehenden« Ableben des saudischen ¯ l Sa‘u¯d (geb. 1924?) erwartet (siehe AbKönigs ‘Abd Alla¯h ibn ‘Abd al-‘Azı¯z A bildung 1).61 Er verstarb am 23. Januar 2015.
59 Vgl. 15:16; Cook, 2002: 75 ff.103 ff.172 ff.; ders., 2008: 138 ff. u. ö.; dazu s. Muslim ibn alHag˘g˘a¯g˘, al-g˘a¯mi‘ s-sah¯ıh, Nr. 6985; At-Tabası¯, 2006: 224: »Der Auferstehungstag wird erst ˙ ˙ ˙ ˙ihr mit den Juden ˙ ˙ gekämpft habt. Sie werden besiegt, die Flucht dann anbrechen, ˙wenn ergreifen und sich hinter Felsen verstecken. Diese aber werden rufen: Muslime, ihr, die ihr Gott dient, hinter mir verbirgt sich einer der Juden.« In Artikel 7 der Charta der Hama¯s wird auf dieses Hadı¯t Bezug genommen; Croitoru, 2010: 27.85 f.92 f.99; Schäfer, 2008:˙ 77. ˙ ¯ 60 Die entsprechenden Aha¯dı¯t s. bei At-Tabası¯, 2006: 186 – 201; Asˇ-Sˇira¯zı¯, 2014: 33.45; Hughes, ˙ ¯ ˙ ˙ 1995: 456; vgl. die apokalyptischen Kommentare bei Cook, 2008: 126 – 149; ein Video dazu bei www.anwarweb.net (Titel: The arrival of Imam Mahdi, zuhu¯r al-ima¯m al-mahdı¯). ˙ 61 Der Abschnitt ab 15:24. Die schı¯‘itische Minderheit, deren Proteste konsequent niedergeschlagen werden, siedelt in den östlichen, erdölfördernden Landesteilen und ist vom Ölpreisverfall (2014, 2015) direkt betroffen. Ab 18:27 der entscheidende Satz: »When Abdullah dies, the reappearance is guaranteed.« Vgl. schon 03:49: »Whoever guarantees the death of King Abdullah of Saudi Arabia, I will guarantee the imminent reappearance of the Mahdi.« Angespielt wird demnach 16:04 auf den seit Jahren kritischen Gesundheitszustand des saudischen Königs, 03:49 und 18:27 dagegen auf seine Ermordung (vgl. Anm. 62). Hier dürften vor allem die Erinnerungen an die Zerstörung und Plünderung der Ima¯m-Schreine in den Jahren 1802 und 1805 durch die streng sunnitischen Wahha¯bı¯ten eine Rolle spielen (Halm, 1988: 133; ders., 1994: 130 f.; ders., 2005: 80 f.), aber seit der iranischen Revolution 1979 auch Legitimitätskonflikte zwischen dem Iran und Saudi-Arabien hinsichtlich der Repräsentation und Führung der islamischen Gemeinde (z. B. in der Verantwortung für die heiligen Stätten Mekkas und Medinas); vgl. Ramazani, 1988: 90 ff.; Kepel, 2004: 152 ff.257 ff.; Safiarian, 2011: 157 f.; Tyler u. Boone, 2012; Amirpur, 2013: 59 ff.; Mabon, 2013. Zum Streit der Schı¯‘a mit den ‘Abba¯siden (15:28), die, obgleich selbst der Prophetenfamilie entstammend, die ‛Alı¯den erneut von der Macht verdrängten, vgl. Taeschner, 1964: 98 ff.105 ff.; Halm, 1988: 31 ff.; ders., 2005: 26 f.; Gronke, 2009: 26 ff.
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Abbildung 1: Screenshot aus The Coming is upon us (www.youtube.com/watch?v= bPkUEcFkNbk; 18:27; vgl. 03:49). Übersetzung: »Ima¯m Sa¯diq: ›Jedem, der mir den Tod ˙ verborgenen Ima¯ms (Mahdı¯) ‘Abd Alla¯hs garantiert, dem werde ich die Erscheinung des garantieren.‹ Dann sprach er: ›Wenn ‘Abd Alla¯h stirbt, werden die Menschen mit keinem anderen Regime mehr einverstanden sein. Diese Auseinandersetzung und dieser Streit werden nach Gottes Willen bis zur Erscheinung Sa¯hib al-Amr’s (= Befehlshaber, Mahdı¯) ˙ ˙ haben, werden gestürzt werden. Im anhalten. Die Regime, die Jahrzehnte lang geherrscht ständigen Regierungswechsel regieren manche Machthaber ein paar Monate, manche nur ein paar Tage.‹ Ich fragte: ›Dauert diese Phase lang?‹ Er sagte: ›Nein!‹«62
Die Schlussszenen des Videos (ab 26:18) zeigen Scharen von versammelten ˘ amkara¯n, die sehnsuchtsvoll auf das WiederGläubigen vor der Moschee von G erscheinen des Mahdı¯ warten. Noch einmal erscheint die Ka‘ba im Paradieslicht (27:32). Das Video klingt aus mit mehrfachen Versicherungen an die Gläubigen, dass die Wiederkunft des Mahdı¯ und die siegreiche Rückeroberung der 680 bei Karbala¯’ in Verlust geratenen Heilsgeschichte unmittelbar bevorstehe (27:37+45 = Sure 61, 13).
Zur religionspädagogischen Verwendung des Videos Theologische Inhaltsskizze: Die im Video zum Ausdruck kommende schı¯‘itisch geprägte Endzeit-Prophetie stützt sich auf apokalyptische Aussagen in den Aha¯dı¯t, nach deren Muster auch einzelne Qur’a¯nverse interpretiert werden. ¯ 62 Muhammad Ba¯qir Mag˘lisı¯, biha¯r al-anwa¯r im Abschnitt über den Sufya¯nı¯, Hadı¯t Nr. 54; vgl. ¯ ˙ 2008: 93. Ein anderes, bei ˙ 232 ˙ Al-Ku¯ra¯nı¯ belegtes Hadı¯t zitiert Ourghi, 2008: Cook, f.; dieses ¯ ˙ Hadı¯t ist ursprünglich wohl auf den Gegenkalifen ‘Abd Alla¯h ibn az-Zubayr (reg. 683 – 692) ˙ ¯ und kündigt eine Revolution im Jemen an (vgl. o. Anm. 40), die nach der Ermordung bezogen eines »letzten Königs« namens ‘Abd Alla¯h zur Besetzung des Hig˘a¯z (des westlichen Küs˙ tengebirges der Arabischen Halbinsel mit den heiligen Stätten Mekka und Medina) führe. Danach würde der Mahdı¯ hervortreten. Vgl. Kahlili, 2013: 252 f. zu einem von Homeinı¯ 1987 ˘ geplanten Umsturzversuch in Saudi Arabien.
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Diese Belege fungieren als hermeneutischer Schlüssel zur Deutung der Gegenwart: Durch den gewaltsamen Tod des zur Herrschaft der islamischen Gemeinde allein legitimierten Prophetenenkels und dritten Ima¯ms Husayn 680 bei Karbala¯’ geriet mit dem Untergang des wahren Gottesstaates das urislamische Heil in die Gewalt einer bösen, teuflischen Urmacht,63 die dieses Heil seitdem in immer neuen, zyklischen Terrorwellen64 zum Erliegen zu bringen droht.65 In Anknüpfung an die aus der spätjüdischen Apokalyptik bekannte Erlöser-Hoffnung verkünden die Aha¯dı¯t, dass das 680 bei Karbala¯’ verlorengegangene gottes¯ staatliche Heil erst am Ende der Geschichte durch die Intervention einer messianischen Gestalt zurückerobert wird66 – und zwar durch den aus seiner Verborgenheit hervortretenden, der erleuchteten Prophetenfamilie entstammenden zwölften Ima¯m, den Mahdı¯. Diese apokalyptisierende Geschichtsschau, die das Heil an das Ende der Geschichte ausgelagert sieht,67 verbindet sich im Video mit dem Konzept der islamischen Weltrevolution, das den global wirkenden Erzfeind des Guten mit dem heidnisch-ignoranten (g˘a¯hilı¯ya) Westen identifiziert, dessen martyrisierte Gegeninstanz der reine, ungeteilte Ur-Islam ist, den es mit Waffengewalt wiederherzustellen gilt.68 – Die Tage des schlechthin Bösen, des Mahdı¯-Antipoden Dag˘g˘a¯l, sind gezählt. Gegenwärtig neigt sich der letzte und schlimmste Unheilszyklus seinem Ende zu. Die in den Aha¯dı¯t geweissagte Ko˙ ¯ inzidenz von weltweiten Naturkatastrophen mit globalen politischen wie sozialen Zusammenbrüchen stellt die vorhergesagten Drangsale, mit denen sich das Böse gegen die islamische Weltgemeinde zum letzten Mal aufbäumt, in den 63 Vgl. schon Hiob 7, 12; 9, 13; 26, 12; Ps. 74, 13 f.; 89, 10 f.; Jes. 27, 1; 51, 9 ff.; syr. Baruch 29, 4; vgl. Vielhauer, 1971: 413 f. Unter der Bezeichnung »Satan«, »satanisch« wird diese antagonistisch-mythische Auffassung auch von ‘Alı¯ Ha¯mene’ı¯ zur Charakterisierung der interna˘ ¯, 2011: 19.23.34.36.56 f.60.84.87; er schließt tionalen Lage des Islam vertreten; vgl. Ha¯mene’ı ˘ sich damit der Ausdrucksweise Homeinı¯s an. 64 Vgl. Anm. 44. Dan. 2; 7; 8 – 12; 4.˘ Esra 5, 55; 12, 10 ff.; 14, 11 ff.; syr. Baruch 27, 1 ff.; 85, 10; äthiop. Henoch 93, 1 – 10; Test. Levi 17; die muslimische »Zehn-Wochen-Apokalypse« bei Cook, 2002: 344 ff. 65 So spricht ‘Alı¯ Ha¯mene’ı¯ immer wieder von »Strangulierung« und »Erdrosselung«, um die ˘ globale Bedrohungssituation des Islam zu bezeichnen; vgl. Ha¯mene’ı¯, 2011: 24.27.37.86 f.89; vgl. dazu 4. Esra 4, 27 f.; 5, 50 ff.; 7, 10 ff.; 10, 21 ff.; syr. Baruch˘83, 10 ff.; 85, 10; äthiop. Henoch 42, 1 – 3. 66 Goldziher, 1925: 217 f.; vgl. 4. Esra 7, 26 – 33; 12, 31 – 34; syr. Baruch 29, 3 – 30, 1; 39, 7 – 40, 4; 72, 2 – 74, 4; Sibyll. III, 652 ff.767 ff.; äthiop. Henoch 91, 12 f.; Offb. 20, 1 – 10; Strack u. Billerbeck, Bd. IV, 2, 1978: 766 – 798.977 – 1015. 67 Definition des apokalyptischen Weltgefühls nach Vielhauer, 1971: 413 f.; Dantine, 1973: 15 – 23.188 f.; Taxacher, 2010: 76 ff.187 f.; Goetze, 2014: 296 f.366 ff. 68 Vgl. ziya¯ratu ‘asˇu¯ra¯’, 2013: 8; wörtlich: »Alla¯h, der […] mich mit der Gelegenheit geehrt hat, deine (= Husayn) Blutrache einzufordern (talaba ta¯rika) mit dem siegreichen Ima¯m (= ¯ ˙ Mahdı¯).« Ebd.: 12 f.: »Ich bitte ihn (= Alla¯h),˙ dass […] er mir gewährt, meine Blutrache zu nehmen [für dich = Husayn] mit dem Ima¯m der Rechtleitung (= Mahdı¯).« Vgl. du‘a¯’ n-nudba, ˙ 2014: 21 f.29 f.
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Horizont der Auflösung alles Bestehenden und der kosmischen Realität der unmittelbar zu erwartenden Wiederkunft des Mahdı¯. – Stichtag für das Hervortreten des 12. Ima¯m aus der Okkultation ist der in den Aha¯dı¯t prophezeite ˙ ¯ Tod oder die Ermordung eines verhassten Herrschers. Der erwartete Erlöser, dem die Islamische Republik Iran und ihre gottesstaatliche Nomenklatura als vorhergesagte Vorhut schon die bewaffnete Ausgangsbasis geschaffen haben, schreitet ein. Zusammen mit seinen bereits aktiven Verbündeten vernichtet der Mahdı¯ in einem Strafgericht ohnegleichen den Dag˘g˘a¯l und dessen satanische Kohorten.69 In Erfüllung seiner welthistorischen Sendung erobert er mit der militärischen Aufrichtung des messianischen Reiches die bei Karbala¯’ verlorene gottesstaatliche Heilsgeschichte zurück und verschafft dem Ur-Islam den allein ihm zustehenden universalgeschichtlichen70 Sieg. Themarelevanz: Kepel71 sah noch vor zehn Jahren den Einfluss des militantislamistischen Fundamentalismus auf dem Rückzug; nach Münkler und anderen72 ist jedoch eher davon auszugehen, dass es im Gegenschlag zum open end von Staatszerfallserscheinungen,73 bewaffneten Konflikten zwischen Sunniten und Schı¯’iten,74 Globalisierung, Verwestlichungsschub und Säkularisierung zu einer ansteigenden Radikalisierung kommt. Hierbei erweist sich eine zunehmende Apokalyptisierung und dies-irae-Mentalität als Triebfeder, sich in den Dienst einer als universal gültig und heilsgeschichtlich angesehenen Mission stellen zu wollen.75 Nach dem Abflauen des religiösen Fanatismus im Iran unter ‘Alı¯ Akbar Ha¯ˇsemı¯ Rafsang˘a¯nı¯ (1989 – 1997) und Mohammed Ha¯tamı¯ (1997 – 2005) ist die ˘ 69 Vgl. Jes. 27, 1; Offb. 20, 7 ff. 70 Vgl. Sure 9, 33; 48, 28; 61, 9 und die diesbezüglichen Aha¯dı¯t bei At-Tabası¯, 2006: 127 f. ¯ˇ ˇ ˙ As 181 ff.184 ff.198 ff. 201 ff.; Al-Qummı¯ as-Sadu¯q, 2013: 77 f.; -Sira¯zı¯˙, ˙2014: 24 f.33.43.45; ˙ ˙ Hughes, 1995: 455 f. 71 Kepel, 2004: 425 f.434 f. 72 Münkler, 2003: 66 f.; Künzl, 2008: 60 ff.; Schäfer, 2008: 87; Scheit, 2010: 146. 73 In einigen politischen Kommentaren wird – neben dem Iraq, Syrien, Libanon, Jemen, Nigeria und Mali etc. – auch der Iran als failed-state, als »zerrissenes Land« bezeichnet (Safiarian, 2011: 44 ff.): Der Iran gilt als »strukturlos«, von »innerem Zerfall« in eine Vielzahl von centers of power in their own right bedroht, wobei nebeneinander agierende Gruppen – wie Revolutionsgarden, Volksmilizen, Wächterrat, Exekutiv-komitehs, staatliche Erfüllungsstäbe, Geheimdienste etc. – in wechselnden, z. T. polaren Koalitionen – um das Monopol der Exekutivgewalt ringen (Feuerherdt, Leszczensky, v. d. Osten-Sacken, 2010: 149 – 170; Scheit, 2010: 134 ff.). Hinzukommt, dass sich das Gros der iranischen Zivilbevölkerung, für welches das Schah-Regime weit zurückliegt und das mehrfach gegen die von Homeinı¯ begründete ˘ Islamisierung mit Ordnung votiert hat (Safiarian, 2011: 172 ff.), angesichts der radikalen strengem Moralkodex und drakonischen Strafen in die Parallelwelt des Privatlebens flüchtet; Scheit, 2010: 131 – 147; Safiarian, 2011: 15 ff.44 – 59; Funcke, 2014: 54, Anm. 77. 74 Vgl. die im Januar 2014 erschienene Artikelserie von Mamouri et al., 2014: 26 – 33. 75 Vgl. Riexinger, 2004: 34 f.; Möller, 2004: 63 ff.68 f.; Trimondi, 2006: 459 ff.462 ff.; Schäfer, 2008: 50 ff.74 ff.
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apokalyptische Pathossteigerung, mit der The Coming is upon us die auf das Verfassungsrecht beschränkte Präsenz des Mahdı¯ revitalisiert zur final phantasy seines realen Hervortretens, aktuell einer der am besten zu dokumentierenden Höhepunkte dieser nahöstlichen Neo-Apokalyptisierung. The Coming is upon us wird man kaum anders denn als fundamentalistisch-heilsgeschichtliches Paradigma einer apokalyptisierenden Weltaggression werten können, das in den schon oben genannten Geschichtstraumata der islamischen Welt76 verwurzelt ist und angesichts von Weltordnungswandel, Bedrohung metaphysischer Stützen und Wertebindungen, Sinnkrisen und fehlenden alternativen Problemlösungen einem schweren Legitimations- und Bewältigungsdefizit entspringt.77 Hinzu kommt die in letzter Zeit öfter zu hörende Theorie der iranischen »Konterrevolution«, welche besagt, dass die von Mahmu¯d Ahmadı¯-Nezˇa¯d repräsentierte ˙ ˙ Militärkaste der pa¯sda¯ra¯n und bası¯g˘ versucht, sich mithilfe einer Intensivierung der Erlöser-Erwartung in ihrer Machtstellung beglaubigen zu lassen – und zwar als von den Aha¯dı¯t vorhergesagte, schon aktive Wegbereiter und Bündnispartner ˙ ¯ des Mahdı¯. Indem sie ihre Legitimität direkt auf den ante portas geglaubten zwölften Ima¯m zurückführen,78 beabsichtigen sie, die Machtposition des Klerus, der seit der Homeinı¯’schen Revolution den Mahdı¯ verfassungsrechtlich vertritt ˘ (wela¯yet-e faqı¯h79), zu unterlaufen und im Zusammenhang eines in den Aha¯dı¯t ˙ ¯ angekündigten transformativen Ereignisses80 eine Militärdiktatur zu errichten, 81 die mit der »Befreiung« Jerusalems und der endzeitlichen Ausrottung aller Gegner der allein wahren Religion die Wiederkehr des Mahdı¯ herbeiführen soll. Themabearbeitung und praktische Umsetzung: Das Video The Coming is upon us ist vom intellektuellen Anspruch her am ehesten als Bestandteil einer Oberstufen- oder Erwachsenenbildungseinheit zum Thema Fundamentalismus denkbar.82 Als authentisches zeitgenössisches Dokument aus dem islamistischen
76 S. o. Anm. 5. 77 So waren es schon ab dem 3. Jh. v. Chr.–1. Jh. n. Chr. die Auswirkungen des Zusammenpralls von Altem Orient und Hellenismus sowie des seleukidischen und römischen Imperialismus’ gewesen, die das intertestamentarisch-apokalyptische Schrifttum hervorbrachten; vgl. Möhring, 2002: 327; Taxacher, 2010: 76 ff.150 f. Zum christlichen Umgang mit der Vater Unser-Bitte »Dein Reich komme!« (Matth. 6, 10) vgl. Taxacher, 2010: 166 ff.189 ff.207 ff. 218 ff.225 ff., inbes. 174 ff. 78 Safiarian, 2011: 37 ff.40 f.185 f.; Arndt, 2012: 27. Die Nähe zu der im Iran durchaus nicht einflusslosen Hog˘g˘atı¯yah kann hier nur vermutet werden; Cohen, 2013: 131 ff.145 ff. ˙ 79 = Das zur vollständigen politischen Regierungsgewalt berufene Ima¯mat der Rechtsgelehrten. ¯ l Sa‘u¯ds am 23. Januar 2015 und der Erwartung 80 Vgl. zum Tod ‘Abd Alla¯h ibn ‘Abd al-‘Azı¯z A der Mahdı¯-Parusie die letzten Abschnitte eines kritischen Kommentars von schı¯‘itischer Seite; Özoguz, 2015. 81 S. Anm. 58 und 59; Funke, 2014: 54, Anm. 78. 82 Eine deutsche Übersetzung der englischen Untertitel ist abrufbar unter: Endzeit-Reporter. org (o. J.a).
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Kontext kann es im Religions-, Politik- und Geschichtsunterricht (bzw. in einer AG dieser drei Fächer) durch seine provozierende Anschaulichkeit einen unmittelbaren Einblick geben, wie auf der makropolitischen Ebene traumatische Kollektiverfahrungen, Bewältigungsdefizit, Konspirationsnarrativ, Filterung des Weltgeschehens durch ideologische Blickfeldeinengung, religiöser Fundamentalismus, Apokalyptisierung und schließlich kriegerische Selbstjustiz, dem Endgericht des Jüngsten Tages vorzugreifen, zusammenwirken.83 Hierzu sollten, um der Komplexität des Themenbereichs des islamistischen Fundamentalismus (hier speziell der islamistisch-schı¯‘itischen Spielart) gerecht zu werden, die hinter ihm stehenden kollektiven Geschichtstraumata der islamischen Welt, die politischen Ereignisse und theologiegeschichtlichen Stadien seiner formativen und aktuellen Phase beleuchtet werden.84 Beobachtungen zu den radikalsunnitischen Terrormilizen könnten sich anschließen.85 Auf der individuellen Ebene empfiehlt sich, angesichts der islamistischen Radikalisierung und Rekrutierung von Jugendlichen in der EU die Frage zu erörtern, aufgrund welcher psychischen Disposition von Heilsverlust und Gegenrevolution86 sich junge Menschen von solchen proto-staatlichen Systemen wie dem IS anwerben lassen.87 Die auf The Coming is upon us erfolgte satirische Reaktion des in Deutschland lebenden iranischen Rappers Sˇa¯hı¯n Nag˘afı¯ vom Mai 2012 (Ay Naghi)88 zeigt demgegenüber, wie sehr im Iran ein solch radikal apokalyptisch ausgerichteter Kurs gerade bei Jugendlichen auf Kritik stößt. Zu fragen ist schließlich auch, mit welcher theologischen Argumentation man einer solchen fundamentalistisch-apokalyptischen Matrix entgegentreten könnte.
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Die dazu gehörige Kurzkommentierung (Endzeit-Reporter.org (o. J.b) ist, da sie islamwissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt, nur bedingt verwendbar. Abdel-Samad, 2014: 20 ff.141 ff.193 ff. hat mit Hinweis auf die Cinque scritti morali Umberto Ecos auch auf die Verwandtschaft des Islamismus mit dem Faschismus aufmerksam gemacht; Eco, 1999: 56 ff. und 115 f. Vgl. Anm. 5 und meinen Beitrag »Verlust und Rückeroberung der Heilsgeschichte« in diesem Band. Tibi, 1998: 36 f.305 f. verweist darauf, dass die militante Mahdı¯-Vorstellung des Schı¯‘ismus in der Form eines »Untergrund-Ima¯ms« auf radikalsunnitische Richtungen übergegriffen hat; vgl. Trimondi, 2006: 361. Vgl. Gaertner, 2009: 12.30 f.36.40.58.71 ff.84 f.101.114.120.122 f.126 ff.130 f.141 f.143 ff.156 f. 162 f.175. Vgl. Pisoiu, 2008: 172 ff.; Müller, Nordbruch, Seidel, Tataroglu, 2010; Kandel, 2011; Schmidt, 2012; vgl. Eppler, 2011: 163 – 168 (Lit.). In diesem gesellschaftskritischen Videoclip vom Mai 2012 – vergleichbar den MuhammadKarikaturen des Magazins Charlie Hebdo – wird der 10. Ima¯m ‛Alı¯ al-Ha¯dı¯ (genannt:˙ an-Naqı¯ = »der Vorzügliche«, 829 – 868, angeblich vergiftet) zur Wiederkehr aufgefordert, weil der Mahdı¯ schlafe. Deutsche Übersetzung bei Bax, 2012. Musik-Video bei: www.youtube.com/ watch?v=4rDXhjIN030. Das für Muslime, insbesondere für Schı¯‘iten, höchst anstößige Bildmaterial des Video-Clips wurde inzwischen gesperrt.
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Hierzu bietet sich als Diskussionsgrundlage ein Satz aus M. Khorchides Buch »Islam ist Barmherzigkeit« an: »Ein Verständnis vom Jüngsten Tag als Tag der Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes, als Tag der Vervollkommnung des Menschen, der aus der Barmherzigkeit Gottes erschaffen wurde und daher und wegen dieser Barmherzigkeit seine Vollkommenheit erlangen wird, schließt der Gewalt und Selbstjustiz im Namen eines Richtergottes die Tür.«89
Literatur Abdel-Samad (2014). Der islamische Faschismus – Eine Analyse. München. Amirpur, K. (2013). Schia gegen Sunna – Sunna gegen Schia, Schriftenreihe der VontobelStiftung Nr. 2070. Zürich. ¯ yatolla¯h Mohammad Taqı¯ Mesba¯h Yazdı¯ (2011). Tauh¯ıd – Monotheismus des Islam. A ˙ ˙ ˙ ˙ Bremen. ¯ yatolla¯h Sayyid Kama¯l al-Haydarı¯ (2013). Das Licht der Schöpfung – Über den Rang A ˙ Muhammads (s.), des Siegels der Propheten. Bremen. ˙ Arndt, Ch. (2012). Die Rolle des Mahdı¯ in der Verfassung der Islamischen Republik Iran. München. Bax, D. (2012). Iranische Todesdrohung wegen Satiresong. Der Imam versteht keinen Rap. Zugriff am 23. 01. 2015 unter www.taz.de/!93237/. Benzine, R. (2012). Islam und Moderne – Die neuen Denker. Berlin. Chimelli, R. (2001). Islamismus. Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung. Zürich. Cohen, R. A. (2013). The Hojjatiyeh Society in Iran – Ideology and Practice from the 1950s to the Present. New York. Cook, D. (2002). Studies in Muslim Apocalyptic. Princeton N. J. Cook, D. (2008). Contemporary Muslim Apocalyptic Literature. New York. Croitoru, J. (2007). Hamas – Auf dem Weg zum palästininensischen Gottesstaat. München. Dantine, W. (1973). Der Heilige und der Unheilige Geist – Über die Erneuerung der Urteilsfähigkeit. Stuttgart. Du‘a¯’ n-Nudba – Bittgebet der Wehklage (2014). Bremen. Eco, U. (1999). Vier moralische Schriften. München. El Cheikh, I. (2010). Zwischen Politik und militärischem Kampf – Die Hizbollah im Libanon. Marburg. Endzeit-Reporter.org (o. J.a) Und was machen die Mahdi-Verkünder? – Teil 4. Mahmoud Ahmadinedschad. Zugriff am 23. 01. 2015 unter http://endzeit-reporter.org/web/wpcontent/uploads/2011/05/Und-was-machen-die-Mahdi-Verkuender-Teil-4.pdf. Endzeit-Reporter.org (o. J.b) Ahmadinedschad, der General des Mahdi und sein Umgang mit Satanisten, Exorzisten und Dämonenbeschwörer. Zugriff am 23. 01. 2015 unter 89 Khorchide, 2013: 60; vgl. auch: 32 ff.49 ff.75 f.90 f.97.102; vgl. Benzine, 2012: 80; vgl. auch den ¯ yatolla¯h Reda¯ Rameda¯ni (Ima¯m und Leiter des Islamischen Zentrums Abschlussbeitrag von A ˙ ˙ Hamburg e. V.) auf der Fünften Einheitskonferenz vom 12. 01. 2015 in Hamburg (IZHamburg, 2015, https://www.youtube.com/watch?v=HyQtdhlF9 Fo).
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Friedrich Erich Dobberahn
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Herrn Pfarrer Günther Oborski, Hermannsburg, und Herrn Dipl. Math. Hüseyin Özoguz, Delmenhorst, danke ich herzlich für die fachkundige Begleitung dieser Dokumentation.
3. Fundamentalismus in soziologischer und psychologischer Sicht
Florian Karcher
Jugendkultur, Religion und Fundamentalismus – Religiosität Jugendlicher heute und ihre Anfälligkeit für Fundamentalismus
In der jüngeren Vergangenheit wurde öffentlich und medial verstärkt über den Zugriff fundamentalistischer Netzwerke auf Jugendliche diskutiert. Dass das Thema Fundamentalismus1 verstärkt auch die junge Generation betrifft, dokumentiert auch der Verein Sekten-Info NRW, der, gefördert durch das Land Nordrhein-Westfalen, Beratungsdienste insbesondere für Eltern anbietet. Im Jahresbericht 2013 wird deutlich, dass die meisten Beratungsanfragen den Verein zum Thema Fundamentalismus erreichen.2 Auch wenn vor allem Salafisten oder islamische Hassprediger über das Internet ihre fundamentalistischen Lehren verbreiten, die in der öffentlichen Diskussion stehen, so gibt es auch Gruppierungen aus anderen Religionen und Ideologien, die versuchen, Jugendliche für ihre fundamentalistische Idee zu gewinnen. Auch der christliche Fundamentalismus spielt dabei eine zunehmende Rolle.3 These diese Aufsatzes ist es, dass die Veränderungen in der Religiosität Jugendlicher eine höhere Gefährdung hinsichtlich fundamentalistischer Einflüsse mit sich bringen und so unter anderem zu erklären ist, warum fundamentalistische Ideen für manche Jugendlichen zunehmend attraktiv sind. Dieser Beitrag analysiert deshalb jugendliche Religiosität am Anfang des 21. Jahrhunderts auf dem Hintergrund der empirischen Sozial- und Religionsforschung. Dabei stehen weniger religiöse Inhalte im Fokus als vielmehr Strukturmerkmale und grundsätzliche Entwicklungen im Verhältnis junger Menschen zu Religion in Deutschland. Anhand dieser Strukturmerkmale wird dann eine gewisse Anfälligkeit für fundamentalistische Einflüsse auf Jugendliche deutlich gemacht und aufgezeigt, an welchen Stellen religiöser Sozialisation eine beson-
1 Auf eine explizite Ausdifferenzierung des Verständnisses von Fundamentalismus wird in diesem Beitrag verzichtet und stattdessen auf die Beiträge von Friedrich Schweitzer, Dietmar Molthagen und Wilhelm Eppler verwiesen, die sich damit ausführlich auseinandersetzen. 2 Vgl. Rhiede, 2014. 3 Eindeutige empirische Studien zur Verbreitung von fundamentalistischen Weltsichten unter Jugendlichen fehlen leider bisher.
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dere Sensibilität für fundamentalistisches Gedankengut gegeben ist. Abschließend werden einige Implikationen für die Religionspädagogik aufgezeigt.
Radikalität als Merkmal der Jugendphase Als wesentliches Merkmal der Jugendphase kann spätestens seit der Moderne eine gewisse Oppositionalität diagnostiziert werden4, die bisweilen bis hin zu einer Radikalität reicht. Es ist eine zentrale Sozialisationsaufgabe von jungen Menschen, herauszufinden, welche Werte im eigenen Leben eine Rolle spielen. Dieser Prozess nimmt nicht selten seinen Weg über die Abgrenzung, also die klare Verneinung bestimmter Werte. Jugendlichen fällt es leichter, gegen etwas als für etwas zu sein. In seinem Modell der produktiven Realitätsverarbeitung erkennt Hurrelmann neben der Integration auch die Abgrenzung als Werkzeug der Sozialisation junger Menschen hin zu einer eigenen Identität.5 Die in diesem Prozess gewonnenen Gedanken, Einsichten und Werte werden dann oftmals recht exklusiv vertreten und auch kommuniziert, sodass jugendliche Ausdrucksformen häufig radikal wirken. Der radikale Wechsel in eine zum Beispiel vegane Ernährungsweise, die Bereitschaft, für den favorisierten Fußballclub nahezu uneingeschränkt einzutreten, und die scheinbar lebensumfassende Begeisterung für eine Musikgruppe (Fankultur) können äußere Zeichen dieses Prozesses sein. Es handelt sich hier jedoch in den meisten Fällen nicht um eine echte radikale Einstellung in einzelnen Lebensbereichen, sondern um eine Form der Radikalität in temporärer Form, die der eigenen Identitätsfindung dient. Während in Einzelfällen Jugendliche durchaus dauerhaft darin verhaftet bleiben, legen doch die allermeisten diese radikale Einstellung ab und entwickeln ein Verständnis dafür, dass bestimmte Sichtweisen recht subjektiv sind und andere deshalb nicht ausschließen. Deutlich wird dies an den zahlreichen Jugendkulturen, die im letzten Jahrhundert in Deutschland entstanden sind. Als eigenständiges kulturelles System ist Jugendkultur unabhängig von institutio-nalisierten Bildungssystemen. Sie orientiert sich nicht an den von Schule vermittelten Bildungsgütern, sondern an Werten und Vorstellungen, die im Freizeitbereich junger Menschen liegen.6 Hier sind an erster Stelle folgende Bereiche zu benennen: Musik, Mode, Konsum, Medien, Umgangssprache und andere. »Kultur« in Jugendkulturen meint daher nicht nur klassische Kultur- und Bildungsgüter, sondern insbesondere die Entwicklung von Lebensstilen und ihren Ausdrucksformen. Sie setzt sich von vor4 Vgl. Baacke, 2007: 245 ff. 5 Vgl. Hurrelmann , 2012: 33 f. 6 Vgl. Ferchhoff, 2007: 56.
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handenen tradierten Kulturgütern (z. B. Kunst, Sprache) ab und entwickelt schnell und ständig verändernde eigenständige Formen. Insofern suchen Jugendkulturen gerade die Abgrenzung zur allgemein gegebenen gesellschaftlichen Kultur. Sie sind Protest-, Oppositions- und Abgrenzungskulturen. Baacke spricht in diesem Zusammenhang von »Absetzbewegungen auf der kulturellen Ebene«7. Dies galt für die klassischen Jugendkulturen der vergangenen Jahrzehnte (Hippie, Rocker etc.) genauso wie für moderne und aktuelle Jugendkulturen (Emo, Hip-Hop etc.). Ihnen gemeinsam ist die Abgrenzung zur vorherrschenden Hochsowie Alltagskultur. Sie stellen eine gesellschaftliche Form der Auseinandersetzung mit klassen-, milieu-, geschlechts- und altersspezifischen Erfahrungen dar, die sich zur jeweiligen Erwachsenenkultur ins Verhältnis setzen.8 Innerhalb dieser Jugendkulturen wird die bereits formulierte temporäre Radikalität deutlich. Anhänger einer konkreten Jugendkultur erleben diese häufig als »einzig wahre« und vertreten die Ansichten und Ausdrucksformen mit Nachdruck. Doch nur die wenigsten Jugendlichen bleiben dauerhaft in einer Jugendkultur verortet, sondern sie sind für sie ein Entwicklungsraum für die eigene Identität. Klaus Farin bezeichnet Jugendkulturen auch als »artificial tribes«9, also als künstliche Stämme, in denen sich Jugendliche zusammenrotten und die eine Verkleinerung des Kosmos darstellen. Sie bieten ihnen ein geschlossenes System von Werten, Inhalten und Ausdrucksformen, durch die Jugendliche zumindest eine Zeit lang Halt und Orientierung finden. Diese Vereinfachung der Welt kann durchaus als eine Art »Fundamentalismus auf Zeit«10 verstanden werden. In einer hoch individualisierten Gesellschaft werden solche geschlossenen Systeme als Orte der Identitätsfindung besonders relevant. Vor diesem Hintergrund der postmodernen Gesellschaft dürfen und müssen (in genau dieser Ambivalenz) Jugendliche ihre Lebensbiographie jenseits traditioneller Herkunftsmilieus, Orientierungsmuster und normativer Selbstverständlichkeiten in die eigene Hand nehmen. Auf der einen Seite erweitert dieser Prozess die Optionen, Wahlmöglichkeiten und damit auch die Chancen der Jugendlichen, ein individuelles und selbstbestimmtes Lebensprojekt zu entwickeln und sich freier zu einer Persönlichkeit zu entfalten. Man darf aber auf der anderen Seite nicht übersehen, dass die Möglichkeit zugleich auch eine Notwendigkeit geworden ist. Jugendliche haben keine andere Wahl, als selbst Gestalter ihrer Biographie zu werden und das Risiko für ihre Entscheidungen selbst zu tragen, weil die individualisierte Gesellschaft keine festen Konturen und eindeutigen Identifikati7 8 9 10
Baacke, 2007: 145. Vgl. Scherr, 2009: 183 f. Vgl. Farin, 2010. Es handelt sich hier in aller Regel jedoch nicht um einen religiösen Fundamentalismus.
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onsmuster mehr bietet.11 Die Individualisierung betrifft Jugendliche deshalb in besonderem Maße, weil gerade in der Jugendphase der Identitätsfindungsprozess am stärksten ist. Es wird deutlich, dass Radikalität oder auch Fundamentalismen auf Zeit oftmals Formen einer Identitätssuche und Teil des jugendlichen Sozialisationsprozesses sind. Die Wege, die Jugendliche dabei gehen, zum Beispiel innerhalb der Jugendkulturen, sind in den meisten Fällen unbedenklich. Gleichzeitig wird deutlich, dass es gerade in dieser latenten Lebensphase eine ganz besondere Empfänglichkeit für geschlossene Weltbilder und Ideologien gibt, die der Jugendphase an sich inne liegt, aber unter postmodernen Bedingungen klar verstärkt wird.
Hilflose Suche nach religiöser Identität Diese Unsicherheit gilt auch für die Suche nach einer religiösen Identität. Als Teil der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen geschieht auch dieser Prozess unter postmodernen und vor allem hoch individualisierten Voraussetzungen. Unabhängig von Konfessionen und Inhalten der religiösen Suche Jugendlicher lassen sich dabei die im Folgenden skizzierten Strukturmerkmale jugendlicher Religiosität beobachten.12
Jugendliche Religiosität ist entinstitutionalisiert Betrachtet man das Interesse Jugendlicher an der Institution Kirche oder vergleicht die inhaltlichen Aussagen zur Religion mit den kirchlichen Dogmen, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass Jugendliche grundsätzlich kein Interesse an Religion haben. In der Shell-Jugendstudie 200613 sind es jedoch nur 28 Prozent aller befragten Jugendlichen, die angeben, nicht an die Existenz eines Gottes oder einer höheren Macht zu glauben. Und nur 18 Prozent haben überhaupt kein Interesse an transzendenten Dingen.14 Auch im Vergleich mit anderen Zahlen älterer Studien zeigt sich ein beständiges Interesse am Transzen11 Vgl. Gabriel, 1994: 61. 12 Die Entwicklung dieser Strukturmerkmale greift auf einschlägige jugend- und religionssoziologische Studien der letzten Jahre zurück. 13 In diesem Beitrag wird auf die Shell-Jugendstudie von 2006 Bezug genommen, da diese Studie sich recht ausführlich mit Fragen der Jugendreligiosität auseinandergesetzt hat, während die aktuelle Jugendstudie aus dem Jahr 2010 sich nur in wenigen Seiten dieser Frage widmet, aber die Ergebnisse von 2006 im Wesentlichen bestätigt. 14 Vgl. Shell, 2006: 208 ff.
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denten bei Jugendlichen. Gleichzeitig diagnostiziert Wippermann für den biographischen Zeitraum zwischen 17 und 20 Jahren die intensivste Auseinandersetzung mit existenziellen weltanschaulichen Fragen.15 Die Distanzierung Jugendlicher in der Adoleszenz betrifft daher in erster Linie die institutionalisierte und tradierte Religion, die im christlichen Bereich vor allem durch die Kirchen repräsentiert wird. Der Bedeutungsverlust institutionell oder tradiert vermittelter Inhalte von Religion darf daher keinesfalls mit einem generellen Desinteresse an Religiösem und Transzendentem verwechselt werden. Die Betrachtung zur Religiosität in den Sinus-Milieus ordnet nur 4 Prozent der Jugendlichen in die Gruppe der traditionellen Jugendlichen ein, die sich durch eine kirchennahe Religiosität auszeichnet.16 Alle anderen Milieu-Gruppen sehen die Autoren hingegen in einer (teilweise durchaus konstruktiv) kritischen oder sogar oppositionellen Haltung gegenüber institutionalisierter Religion. Und auch in den eigenen Reihen wird Kritik an Kirche und ihrer Form, Religion zu leben, laut. »Evangelische Kirche, in den Grundzügen ’ne gute Idee, aber nicht komplett vertretbar«17, zitiert eine Studie der aej18 exemplarisch einen Jugendlichen, der in der evangelischen Jugendarbeit aktiv ist. Die Religion Jugendlicher und Heranwachsender ist also zunehmend entinstitutionalisiert. »Im Kontext des epochalen Bedeutungsverlustes kirchlicher Praxis sind Jugendliche immer diejenige Gruppe, die sich am deutlichsten von kirchlichen Vorgaben absetzt«19. Bei dieser Entwicklung ist davon auszugehen, dass sie zwar nicht schnell in eine entkirchlichte Gesellschaft (mit Ausnahme der neuen Bundesländer20), aber in eine noch stärkere faktische Nichtbeteiligung bei formeller Zugehörigkeit von institutionalisierter Religion führen wird. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Entinstitutionalisierung von Religion im Wesentlichen zwei Gründe hat. Zum einen ist es die bewusste Ablehnung tradierter religiöser Inhalte im Gesamtzusammenhang einer »Modernisierung des Aufwachsens«, die von einem Rückgang institutionalisierter Sozialisationsräume zugunsten eines eigengestaltbaren und jugendkulturellen Lebens geprägt ist.21 Zum anderen liegt aber auch eine zunehmende Nichtkenntnis der Inhalte vor, die religiöse Institutionen vermitteln. Jugendliche 15 16 17 18 19 20
Vgl. Wippermann, 1998: 261. Vgl. Wippermann u. Calmbach, 2007: 147 ff. Fauser, Fischer u. Münchmeier, 2006: 198. Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland. Helsper, 2000: 287. Dies gilt für die neuen Bundesländer deutlich stärker als für die alten. Alle Studien, die sich mit dem Verhältnis Institution und Religion bei Jugendlichen befassen und eine Differenzierung zwischen Ost- und Westdeutschland vornehmen, zeigen dies. Jugendliche in den neuen Bundesländern stehen quantitativ sowie qualitativ in einer noch deutlicheren Distanz zur institutionellen Religiosität. 21 Vgl. Helsper, 2000: 289.
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stehen in Distanz zur Kirche, nicht nur, weil sie diese ablehnen, sondern eben auch, weil sie sie nicht kennen. Hier spielt eine mangelnde Attraktivität (auf die noch näher eingegangen wird) eine Rolle. Kirchen bekommen von Jugendlichen nur wenige Chancen, ihr Angebot an Religiosität vorzustellen.
Jugendliche Religiosität ist synkretistisch Eng verbunden mit der Entinstitutionalisierung jugendlicher Religiosität ist die zunehmende Vermischung verschiedener religiöser Sichtweisen, Strömungen und Inhalte zu einer individuellen Mischreligion. Dies betrifft sogar die Jugendlichen, die kirchlich aktiv sind. In der Studie aej wird deutlich, dass selbst für diese Jugendlichen Glauben kein festes Bündel kirchlich oder institutionell festgelegter Inhalte, sondern das Ergebnis eines eigenen, individuellen Reflexionsprozesses ist. Exemplarisch wird dafür eine junge Frau zitiert: »Ich hab mir einfach erlaubt, so Christ zu sein, wie ich das für richtig halte«22. Noch deutlich stärker betrifft dies Jugendliche, die sich selbst nicht als institutionell-religiös einstufen. Bei Untersuchungen, die auch das Gottesbild zum Thema hatten, wurde deutlich, dass hier die Durchmischung verschiedener Inhalte, Religionen und Ideologien schon fast der Normalfall ist.23 Diese Situation stellt sich auch in der 15. Shell-Jugendstudie dar. Hier gaben sowohl kirchennahe als auch kirchenferne Jugendliche mehrere verschiedene Faktoren ihrer Religion an, die verschiedenen Systemen entlehnt waren (z. B. Schicksal und Vorherbestimmung, Sternenkonstellationen, Engel und Geister u. a.).24 Jugendliche Religiosität ist also in zunehmendem Maße synkretistisch. »Das Wort Gott wird zu einem vieldeutigen Begriff, der von einer höheren Macht über kosmische Energie bis hin zur Natur mit unterschiedlichen Deutungen angereichert wird«25. Der einzelne Jugendliche adaptiert nicht mehr ausschließlich eine, sondern mehrere Existenzdeutungen und Religionen, selektiert daraus und konfiguriert sie zu seinem eigenen Arrangement. Wie bereits deutlich wurde, gilt dies in ähnlicher Weise auch für gläubige und kirchennahe Jugendliche. Sie akzeptieren nicht den gesamten Kanon christlich-kirchlicher Glaubensvorstellungen, sondern wählen darunter diejenigen Inhalte aus, die für sie nachvollziehbar und überzeugend sind, und fügen ggf. Inhalte aus anderen Kontexten hinzu. Wichtigster Maßstab kirchenferner sowie kirchennaher Jugendlicher für diese Auswahl stellt dabei die Einschätzung des eigenen Selbst dar. Was ich mir 22 23 24 25
Fauser et al., 2006: 116. Vgl. Helsper, 2000: 293. Vgl. Shell, 2006: 211 f. Kern, 1997: 74.
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denken und vorstellen kann, was mich überzeugt und mir gefällt, wird Teil meiner individuellen Religiosität.26 Eine sachliche Prüfung, ob verschiedene Inhalte kompatibel sind, findet dabei in der Regel nicht statt, sondern der Einzelne trifft seine Auswahlentscheidungen nur mit eigener Logik und dem eigenen Befinden. Damit wird zunehmend Realität, was Ellen Key bereits um 1900 forderte: Ob »Jesus oder Buddha oder andere große Geister, die Menschen sollen das wählen, was am besten zur Architektur ihrer Persönlichkeit passt«. Tendenziell ist daher jeder einzelne Jugendliche in Sachen Religion ein Sonderfall. Das einst von einem Monopolanbieter beherrschte religiöse Feld hat sich gewandelt zu einer Struktur, in der sich die einzelnen ihre Religion selbst zusammenbasteln. Es wird daher zu Recht vom »Supermarkt der Identitäten«27, Religionen und Sinndeutungen gesprochen. Das Ergebnis dieses Patchworks ist keinesfalls ein stabiles und langfristiges System, sondern variiert je nach Alter, Milieu und Lebenskontext. Gabriel spricht sogar von einer »lebenslangen Auswahl und häufig wechselnden Lösungen der Sinnsuchen«28. Die synkretistische Religionspraxis Jugendlicher ist im Gesamtzusammenhang der Individualisierung und Pluralisierung von Weltanschauungen zu sehen. Sie ist Ausdruck des Rückzugs in den Bereich der privaten Autonomie.29 Die Freiheit, selbst aus dem religiösen Angebot wählen zu können, bringt aber auch neue Anforderungen an die Jugendlichen mit sich. »Die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu«30 und mit ihnen steigt die Verantwortung des einzelnen Jugendlichen für sein eigenes Leben. Wie im Bereich von Lebensgestaltung, Schule und Beruf gilt für Jugendliche zunehmend auch im religiösen Bereich nicht nur die Freiheit, sondern auch die Notwendigkeit und damit die Belastung, auszuwählen. »ArchitektIn und BaumeisterIn des eigenen Lebensgebäudes zu werden, ist […] nicht nur Kür, sondern zunehmend auch Pflicht in einer grundlegend veränderten Gesellschaft«31. Bei der heutigen Fülle religiöser Angebote kann dies leicht zur Überlastung führen: Der oder die Einzelne bekommt keine Sinngebung, keine Existenzdeutung oder Identitätsstiftung mehr mit auf den Weg, sondern muss sie sich selbst nicht nur suchen, sondern auch zusammensetzen.
26 27 28 29 30 31
Vgl. Helsper, 2000: 294. Vgl. Ferchhoff, 2005: 71 f. Gabriel, 1994: 62. Vgl. Helsper, 2000: 294. Beck, 1986: 216. Keupp, 2005: 64.
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Jugendliche Religiosität ist eventorientiert Das Prinzip der freien Auswahl verändert auch die Qualität jugendlicher Religiosität. Dadurch, dass der oder die Einzelne aus Angeboten auswählt, die ihm oder ihr zusagen, bekommt Religion eine stärker bedürfnis- und erlebnisorientierte Form.32 Religion wird von Jugendlichen heute weniger als ein abstraktes, ideologisches Gebilde gewünscht, sondern als ein auf ihre Bedürfnisse und auf Erfahrbarkeit ausgerichtetes Angebot. Den Mangel daran kritisieren Jugendliche an den Kirchen.33 Eine Form, die sich stärker an den Bedürfnissen und dem Wunsch nach konkreter Erfahrbarkeit orientiert, ist das religiöse Event, welches in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Setzt man diesen Zuspruch in einen Zusammenhang mit dem deutlichen Rückgang religiöser Aktivität Jugendlicher im Alltag (z. B. Gottesdienstbesuche, Beten), wird eine Tendenz deutlich: Jugendliche Religion entwickelt sich weg von einer Alltagsreligiosität hin zur punktuellen Religion. »Religion ist weniger Hintergrundmusik für das gesamte Leben, sondern entzündet sich als Religiosität und Spiritualität an einzelnen Punkten des Lebens«34. Die Religion Jugendlicher ist also zunehmend eventorientiert. Wichtigster Grund für diese Tendenz dürfte sein, dass solche Events mit vielen Menschen den Minderheitsgefühlen, die religiöse Jugendliche im Alltag erfahren, entgegenstehen. Sie schaffen es, eine Atmosphäre zu prägen, in der Religiosität normal ist, und eine Kommunikation darüber zu ermöglichen. Ein zweiter Grund für den Zulauf religiöser Events ist sicher die Verbindung des Religiösen mit moderner Kultur. Konzerte, Musik, Massenerlebnisse und andere eventtypische Elemente weisen auch die religiösen Events auf. Hier erleben junge Menschen, dass die Auseinandersetzung mit Religion in einem Umfeld stattfindet, das ihrer Kultur entspricht. Religiöse Events entsprechen aber auch den bisher dargestellten Aspekten jugendlicher Religiosität: Sie ermöglichen eine selbstbestimmte Aneignung von Religion und Kultur. Jugendliche nehmen an religiösen Events teil, weil sie hier die Nähe und Distanz zu bestimmten Angeboten und Inhalten selbst bestimmen und sich ihnen ggf. auch ganz entziehen können.35 Der hohe Erlebnis- und Erfahrungsfaktor macht sie zusätzlich attraktiv. Die Auseinandersetzung Jugendlicher mit Religion ist auf solchen Events keineswegs oberflächlich, sondern durchaus engagiert und persönlich. Nur geschieht eben selten eine Übertragung 32 33 34 35
Vgl. Gabriel, 1994: 62. Vgl. Shell, 2006: 216 Neuhold, 2005: 20. Vgl. Wegner, 2005.
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auf das Alltagsleben der Jugendlichen. Wegner bezeichnet religiöse Events deshalb auch als »Kathedralen auf Zeit«36. Mit diesem Charakter entsprechen sie der Entinstitutionalisierung und der synkretistischen Ausrichtung jugendlicher Religiosität. Die Teilnahme an Events verpflichtet die Jugendlichen nicht auf eine bestimmte konfessionelle Meinung und die Teilnahme daran ist meistens, auch bei bestimmter konfessioneller Trägerschaft, überkonfessionell. Dies gilt teilweise auch für das religiöse Angebot auf den Events. Das religiöse Angebot wird in der Struktur des Marktes angeboten. Aus dem Marktangebot können die Jugendlichen dann frei wählen, ob und mit welchen Inhalten sie sich auseinandersetzen. Entinstitutionalisierung und Synkretismus der jugendlichen Religion finden in der Eventorientierung ihre Entsprechung.
Jugendliche Religion ist privatisiert und funktional Events sind Orte, an denen Jugendliche ihre Religiosität auch in der Öffentlichkeit leben. Sie stellen damit eine Ausnahme zur Alltagsreligiosität dar. Denn die Loslösung der Religion aus dem institutionellen Rahmen und ihr synkretistischer Charakter führen zu einer individualisierten Religion, die sich vor allem im privaten Bereich vollzieht. Die Auseinandersetzung mit Religion geschieht in den kleinen Systemen des Freundeskreises oder der Familie, aber häufig auch ganz ohne Gesprächspartner. Mit dem Verschwimmen der Grenzen von dem, was religiös ist, ist Religion auch sozial unsichtbarer geworden.37 Werner Tzscheetsch spricht daher auch, in Anlehnung an Thomas Luckmann, von der »unsichtbaren Religion Jugendlicher«38. Diese Entwicklung ist aus den bisher genannten Tendenzen ableitbar. Die unsichtbare Religion der Jugendlichen ist eine synkretistische Mischung aus verschiedenen religiösen und ideologischen Vorlagen und weist im Wesentlichen nur eine große Gemeinsamkeit auf, nämlich die Orientierung am eigenen Ich.39 Der Rückzug auf das eigene Ich macht aus der jugendlichen Religiosität etwas Intimes und Persönliches, was nicht gerne öffentlich zur Sprache gebracht wird. Die Religiosität bzw. das religiöse Patchwork ist daher individualisiert und privat. Dies wird auch in den Interviews der Studien von Ziebertz, Kalbheim, Riegel und Prokopf deutlich: Jugendliche geben hier an, dass Religion im Freundeskreis nur selten Thema ist und wenn, dann nicht ernsthaft diskutiert wird.40 Dabei wird 36 37 38 39 40
Wegner, 2005. Vgl. Knoblauch, 1996: 75. Tzscheetzsch, 2001: 288 ff. Vgl. Knoblauch, 1996: 83. Vgl. Ziebertz et al., 2003: 239.
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häufig darauf verwiesen, dass jeder/jede selbst wählen müsse, wie er zur Religion stehe, und somit Religion Privatsache sei.41 Eng damit verbunden ist der funktionale Charakter von jugendlicher Religion. Funktional meint, dass im Lebensverlauf Jugendlicher zu bestimmten Anlässen auf Religion zurückgegriffen wird. Es ist daher auch von einer »Biographisierung der Religion« die Rede.42 Solche Anlässe können bereits eine religiöse Bedeutung, wie z. B. bei Taufe, Konfirmation oder Heirat aufweisen, aber »Auslöser« für religiöses Nachdenken sind auch Erfahrungen mit Tod, Ausweglosigkeit, Einsamkeit und vor allem Leid. »Typische Situationen, in denen dieser Bezug auf Religion aktiviert wird, sind Erfahrungen eigener Ohnmacht und Begrenztheit«43. In diesem Kontext ist Religion für Jugendliche oft eine Art Lebenshintergrund, der an »Wendepunkten der eigenen Biographie« aktualisiert werden kann (deshalb funktional), aber ansonsten überwiegend ausgeblendet wird.44 Dies zeigt sich auch in der grundsätzlichen Bejahung der Existenz der Kirchen in den Shell-Jugendstudien. Hier liegt im privaten Bereich ein ähnliches Muster vor wie bei der Eventorientierung jugendlicher Religiosität. Religion hat den Sinn und Zweck, Menschen in Krisen wieder aufzubauen, ihnen zu helfen und Orientierung zu geben. Der Zugriff auf Religion ist also aus der konkreten Lebenssituation heraus motiviert und soll im Ergebnis eine situative Lebenshilfe darstellen. Wenn Religion diesen Zweck erfüllt, ist es egal, aus welchen Quellen sie sich speist oder ob sie institutionell vermittelt wurde. »Wichtig ist die Funktion, nicht die Herkunft«45. Hier liegt auch eine Verbindung zum synkretistischen Charakter der jugendlichen Religiosität. Im funktionalen Zugriff der Religion kommt es nämlich nicht auf eine inhaltliche und innere Kohärenz der Religion an, sondern auf die individuelle und situationsgerechte Plausibilität. Jugendliche wählen das aus, was ihnen jetzt gerade hilft, und das kann sich inhaltlich auch völlig von bisherigen Zugriffen auf Religion unterscheiden.
Anfälligkeit durch Überforderung Die dargestellten Strukturmerkmale jugendlicher Religiosität zeigen deutlich auf, dass an junge Menschen auch hinsichtlich ihrer religiösen Entwicklung heute große Anforderungen gestellt werden. Im Folgenden wird darauf Bezug ge41 42 43 44 45
Vgl. Ziebertz et al., 2003: 245. Vgl. Oertel, 2004: 48. Vgl. Ziebertz et al., 2003: 244. Vgl. Oertel, 2004: 48. Ziebertz et al., 2003: 245.
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nommen und aufgezeigt, warum diese Strukturen junge Menschen für fundamentalistische Einflussnahme empfänglich machen. Durch die Loslösung von institutionellen Strukturen von Religion entsteht ein Vakuum. Institutionell vertretene Inhalte sind Lehren, Werte und Normen, die in aller Regel von einer Gemeinschaft getragen und auch geprüft werden. Obwohl religiöse Institutionen keineswegs frei davon sind, nicht auch Irrwege zu gehen und höchst problematische Lehren zu vertreten, sind sie in der Pflicht, den Zugehörigen ihre Inhalte und Lehren plausibel zu machen und sich kritischer Rückfragen zu stellen. Radikale und fundamentalistische Ansätze können so schneller entlarvt und ihr Zugriff auf den Kanon der Glaubenslehre verhindert werden. Wenn sich nun jugendliche Religiosität zunehmend von institutionell vermittelter Religiosität entfernt, werden automatisch diese Kontrollmechanismen schwächer. Die Formen und Inhalte der Religiosität müssen sich dann nur noch der subjektiven Relevanz der Jugendlichen stellen und nicht mehr der Vertretbarkeit mit anderen (Grund-)Werten. Es gibt keine Maßstäbe mehr, an denen sie sich messen lassen müssen. Schaut man nun auf die Umstände der Lebensphase Jugend und versteht sie als eine labile und zur Radikalität neigende Phase der Identitätsfindung, wird schnell deutlich, wie leicht auf diesem Wege fundamentalistische Gedanken Teil der Religiosität von Jugendlichen werden können. Mit Blick auf die synkretistische Struktur jugendlicher Religiosität wird dann auch deutlich, dass sich im Modus der subjektiven Auswahl religiöser Inhalte fundamentalistische Gedanken gleichberechtigt neben anerkannte Lehren, zum Beispiel der Kirchen, gesellen und so in einer Patchwork-Religion sogar legitimiert werden können. Wenn eine fundamentalistische Sicht sich mit einer eklektisch ausgewählten Bibelstelle verbinden lässt, kann diese zur subjektiven Legitimation der Sichtweise werden.46 Wie bereits an einigen Stellen deutlich wurde, ist der Modus der Auswahl eben die aktuelle, häufig situativ bedingte Relevanz und individuelle Nachvollziehbarkeit des religiösen Inhalts. Der Jugendliche ist nur sich selbst gegenüber verantwortlich, was er glauben und wie er dies leben möchte. Individualisierung bedeutet nämlich auch, dass erst einmal alles infrage kommt und jeder und jede nach seiner Fasson entscheidet, was ihm oder ihr einleuchtet. An dieser Stelle sei noch einmal auf die bereits zitierten Studien verwiesen. In kaum einem Punkt sind sich all diese und viele andere so einig wie darin, dass für Jugendliche heute ein exklusives Religionsverständnis nicht infrage kommt und es für junge Menschen fast schon selbstverständlich ist,
46 Dieser Vorgang kann an zahlreichen Themenbereichen nachvollzogen werden. Man denke nur an die gegenwärtigen Diskussionen um Fragen der Sexualität. Aber auch im rechtsradikalen Bereich findet gelegentlich ein Rückbezug auf die Bibel und kirchliche Lehren statt.
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dass jedwede Form der Religiosität gleichberechtigt nebeneinandersteht und akzeptiert werden muss, oder kurz gefasst: »anything goes«. Die Eigenverantwortung für Inhalte und Formen der eigenen (individuellen) Religiosität stellt hohe selbstreflexive Anforderungen an Jugendliche. In einer Lebensphase, in der junge Menschen nach Orientierung und Halt suchen, kann die Selbstkonstruktion des Glaubens daher leicht zu einer Überforderung werden. Diese Belastung kann Jugendliche in Antworten und Sinndeutungen treiben, die allzu eindeutig sind. Der religiöse Fundamentalismus bietet den Jugendlichen »absolute Gewissheit, festen Halt, verlässliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen«47 eben auch in religiösen und spirituellen Fragen. Die einfachen Antworten, die hier gegeben werden, erlösen die Jugendlichen von der Belastung, sich mit den verschiedensten religiösen Möglichkeiten auseinandersetzen und auswählen zu müssen, was passend und richtig erscheint, und entbinden von der Entscheidungspflicht, die ihnen in der individualisierten Gesellschaft auferlegt ist. Die ja meist radikale Ausrichtung passt zudem zur Grundtendenz dieser Lebensphase. So ist es oftmals nicht der Inhalt der Antworten, die der Fundamentalismus auf Lebensfragen gibt, der ihn für junge Menschen attraktiv macht, sondern vor allem, dass überhaupt Antworten gegeben werden. Auch die Anfälligkeit junger Migranten in unseren westlichen Gesellschaften kann deutlich gemacht werden. Sie stammen oftmals aus Gesellschaftssystemen, die deutlich weniger individualisiert sind und in denen sowohl religiöse Institutionen als auch das Familiensystem einen sehr starken Einfluss auf die Ausbildung der religiösen Identität nehmen. Sie wachsen daher nicht unter den Vorzeichen der Individualisierung auf, sondern werden mitten in sie hineingeworfen. Dadurch ist die Überforderung besonders hoch und mit ihr auch die Anfälligkeit für fundamentalistische Zugriffe. Besonders hoch ist die Anfälligkeit für einfache Antworten in belastenden Lebenssituationen, die junge Menschen erleben. Hier ist ja grundsätzlich eine besondere Offenheit gegenüber Religiosität gegeben.48 Diese Belastung kann sowohl in individueller (z. B. in belastenden Familiensituationen) als auch in kollektiver Form (z. B. bei der Frage nach dem Umgang mit der eigenen Religion in einer fremden Kultur) erlebt werden. Hier können fundamentalistische Gedanken nicht nur eine Hilfe gegen die allgemeine Überforderungssituation junger Menschen sein, sondern helfen auch, mit akuten Belastungen umzugehen, und geben das Gefühl, etwas dagegen tun zu können. Letztlich spielt auch das Strukturmerkmal der Privatisierung des Religiösen dem Fundamentalismus in die Hände. Wenn religiöse Fragen und Sinn- und 47 Meyer, 1995: 18. 48 Vgl. dazu die Ausführungen zum funktionalen Charakter der Religiosität Jugendlicher oben.
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Orientierungssuche in den privaten, intimen Bereich junger Menschen verlagert werden, werden Antworten und Inhalte nur noch selten mit anderen kommuniziert und damit auch reflektiert. Im Gespräch mit anderen kann man ja einen reflektierten Blick auf das gewinnen, über das man redet. Entweder in Form der Selbstreflexion, die sich im Prozess des Aussprechens ereignet, oder aber auch in der Reaktion und Reflexion des Gegenübers als Fremdreflexion. In einer privatisierten Religiosität entfällt dieses Moment und somit auch die Chance, dass fundamentalistische Tendenzen einer religiösen Haltung entlarvt werden können. Jugendliche, die sich mit ihren religiösen Fragen ins Intime zurückziehen oder mit diesen Fragen alleine gelassen werden, können sich so, unerkannt und teils ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen, in fundamentalistische Gedankengebilde verstricken und dafür mehr und mehr innere Zustimmung gewinnen. Privatisierung bedeutet für den religiösen Bereich aber auch, dass Religion zur Privatsache wird, in die man sich nicht einmischt und in die sich niemand einzumischen hat. Wenn auf religiöser Ebene alles möglich und auch in Ordnung ist, warum soll das nicht für fundamentalistische Weltsichten gelten? Es wird deutlich, wie die Struktur jugendlicher Religiosität am Anfang des 21. Jahrhunderts eine hohe Anfälligkeit und Gefährdung hinsichtlich fundamentalistischer Zugriffe mit sich bringt. Entinstitutionalisierung, Selbstkonstruktion, Funktionalität und Privatisierung schaffen in der Phase der religiösen Orientierung eine hohe Unsicherheit, die dann durch fundamentalistische Inhalte gefüllt werden kann.
Religionspädagogik als Befähigung zur religiösen Freiheit Es stellt sich nun die Frage danach, wie Religionspädagogik, und hier insbesondere christliche Religionspädagogik, mit den Strukturen jugendlicher Religiosität umgehen und auf die Anfälligkeit für fundamentalistische Zugriffe reagieren kann. Dabei steht Religionspädagogik vor einem inneren Konflikt: Einerseits will sie junge Menschen befähigen, kompetent und eigenverantwortlich mit religiösen Fragen umzugehen, und anderseits ist sie als christliche Religionspädagogik ja selbst Anbieter religiöser Inhalte. Wenn sie also Jugendlichen helfen möchte, in religiösen Fragen Orientierung zu finden und nicht auf die einfachen Antworten des Fundamentalismus hereinzufallen, muss sie sich stets dem Vorwurf aussetzen, dass sie dies nur zugunsten der eigenen religiösen Antworten und Inhalte tut. Im Folgenden werden abschließend einige Implikationen gegeben, die helfen sollen, innerhalb der Religionspädagogik mit diesem Spannungsverhältnis, welches letztlich als solches anerkannt werden muss und nicht aufgelöst werden kann, umzugehen.
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1. Grundvoraussetzung für den Umgang damit ist ein Selbstverständnis der Religionspädagogik, das die religiöse Selbstbestimmung junger Menschen und damit auch die Strukturen jugendlicher Religiosität voll anerkennt. Nur wenn sich Religionspädagogik selbst verpflichtet auf religiöse Manipulation zu verzichten, kann sie jungen Menschen auch glaubwürdig helfen anderen Manipulationsversuchen zu widerstehen. Dies scheint in manchen Augen selbstverständlich zu sein und trotzdem soll an dieser Stelle ausdrücklich auf diese Grundvoraussetzung hingewiesen werden. 2. Daraus resultiert, dass es eine zentrale Zielsetzung religionspädagogischen Handelns ist, dass junge Menschen befähigt werden religiöse Fragen zu stellen und kompetent für sich selbst zu beantworten. Sie können von ihrer religiösen Eigenverantwortlichkeit nicht entbunden werden, aber sie können begleitet und befähigt werden Wege und Maßstäbe für den Prozess der Selbstkonstruktion zu entwickeln. Religionspädagogik ist in diesem Sinne Religionsfreiheitserziehung. 3. Dort, wo christliche Religionspädagogik selbst als Anbieter religiöser Inhalte auftritt, muss dies nah an der Lebenswelt junger Menschen geschehen. Sie darf keine Antworten auf selbst gestellte, dogmatisch abgeleitete Fragen geben, sondern muss auf die Lebensfragen Jugendlicher reagieren und diese ernst- und aufnehmen. Ihre Antworten müssen stets im Sinne offener Angebote kommuniziert werden und eine Reaktion auf die Lebenswelt Jugendlicher sein und dürfen nicht für die eigene Sache vereinnahmen. Nur so haben die Adressaten eine Chance zu prüfen, wie tauglich die Antworten für sie sind. 4. Dabei müssen sich eigene Antworten (aus christlicher Sicht) denselben Kriterien stellen, die auch an andere religiöse Sichtweise gestellt werden. Jugendliche müssen sogar befähigt werden, die christliche Botschaft kritisch zu reflektieren. Daher kann christliche Verkündigung in diesem Sinne immer nur mit der Implikation des kritischen Prüfens geschehen. Junge Menschen müssen aufgefordert werden, die ihnen angebotenen Inhalte nicht nur zu adaptieren, sondern sie auf ihre Relevanz und Berechtigung zu prüfen. Dies gilt dann auch für die eigenen Inhalte. 5. Als Maßstab dieser kritischen Prüfungen muss innerhalb des Christentums die biblische Überlieferung vermittelt werden. Jugendliche müssen befähigt werden, religiöse Aussagen selbst, anhand der Bibel, zu überprüfen. So kann es gelingen, dass eine Reflexion und Überprüfung von Religiösem an nachvollziehbaren und (innerhalb der Religionsgemeinschaft) anerkannten Maßstäben erfolgt und nicht nur auf Grundlage subjektiven Empfindens geschehen muss. 6. Der Umgang mit religiöser Vielfalt und Freiheit kann besonders gut im Dialog der Religionen und in der Begegnung mit anderen religiösen Ansichten er-
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lernt werden. Dies gilt jedoch nur dann, wenn in diesem Dialog nicht alle religiösen Sichtweisen, im Sinne eines Weltethos, ineinander aufgehen, sondern wenn dabei unterschiedliche Positionen erörtert, diskutiert und dann auch akzeptiert werden. Hier können junge Menschen lernen Standpunkte vor anderen zu vertreten und sich hinterfragen zu lassen. Der Dialog zeigt ihnen, dass es auch in einer multioptionalen Gesellschaft möglich ist, Halt und Sicherheit in einer reflektierten eigenen Position zu erfahren.
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Warum sich der Schäfer der Gemeinde Affaltersbach dem Abendmahl verweigerte oder: Die Bedeutung von Ritualen für Gemeinschaften
In der Ortschronik von Affaltersbach, die Paul Sauer herausgegeben hat, ist das religiöse Leben der Gemeinde minuziös festgehalten. So erfahren wir, dass im 16. Jahrhundert in der Chronik verewigt wurde, wer »dem Beichtstuhl und dem Abendmahl fernblieb, ohne eine wichtige Ausrede beibringen zu können«1. Schließlich stellte das Abendmahl ein wichtiges religiöses Ritual der reformierten Kirche dar, auch als Absetzung gegenüber der katholischen Glaubensgemeinschaft. Wir lesen, dass der Schäfer der Gemeinde sich dem Abendmahl verweigerte. Ebenso die Mutter, die sich und ihre vier unehelichen Kinder »nicht anders als durch Zulauf«2 ernähren konnte und sich deshalb vor dem dörflichen Kirchenkonvent wegen Hurerei zu verantworten hatte. Beide Dorfbewohner lebten am Rande der Dorfgemeinschaft und gehörten zu den Ausgestoßenen. Ihre Abendmahlsverweigerung zeigt über den individuellen, hilflos anmutenden Protest hinweg die Bedeutung kirchlicher Rituale für die Dorfgemeinschaft. Beim Abendmahl kamen alle Dorfbewohner zusammen, um in der (Glaubens-)Gemeinschaft gemeinsam das Abendmahl zu feiern. Man war bestrebt, diejenigen, die außerhalb der Sozietät standen, dazuzuholen und ihnen zu vermitteln, dass sie trotz ihrer Verfehlungen den Teil eines großen Ganzen bildeten. Auch wenn sich die Gesellschaft im Laufe der Jahrhunderte grundlegend verändert hat, bleibt doch der verbindende Charakter von Ritualen ebenso bestehen. Ebenso wie die ausschließende Eigenschaft. Dass dies so ist, ist ursächlich eine Folge des Wesens von Ritualen.3 1 Sauer zit. in Köhle-Hezinger, 2011: 35. Christel Köhle-Hezinger befasst sich in ihrem Beitrag mit einer alltagskulturellen Geschichtsschreibung des Abendmahls unter besonderer Berücksichtigung der soziokulturellen Rahmenbedingungen. Im vorliegenden Kontext, aus welchem das Zitat stammt, zitiert sie Beispiele vornehmlich aus Baden-Württemberg. 2 Sauer zit. in Köhle-Hezinger, 2011: 35. 3 Um das Wesen von Ritualen im vorliegenden Kontext zu umreißen, wird als Ritual im engeren Sinne mit Barbara Stollberg-Rillinger (2013, 9 f.) »eine menschliche Handlungsabfolge bezeichnet, die durch Standardisierung der äußeren Form, Wiederholung, Aufführungscharakter, Performativität und Symbolizität gekennzeichnet ist und eine elementare sozial strukturbildende Wirkung besitzt.« Diese Anlehnung an Barbara Stollberg-Rillinger erscheint
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Bevor wir uns mit der Wirkung von Ritualen befassen und uns damit dem rituellen Wesen nähern, lassen Sie uns aus dem 16. Jahrhundert in die Gegenwart zurückkehren. Wir werfen zunächst einen Blick auf unsere heutige plurale Gesellschaft und gemäß dem verbindenden Thema dieses Buchs ihre fundamentalistischen Strömungen in verschiedenen Subkontexten. Darauf aufbauend erörtern wir Rituale und deren Mechanismen, wobei wir besonders das Spannungsfeld von Gemeinschaft und Macht betrachten. Was hat sich verändert seit dem 16. Jahrhundert? Was ist geblieben? Diese grundlegende Einordnung versetzt uns in die Lage, insbesondere auf das Gefährdungspotenzial der Rituale im Hinblick auf fundamentale Gemeinschaften zu verweisen. Rituale sind vielschichtig. Sie bringen Probleme und Schwierigkeiten mit sich. Gleichzeitig eröffnen sie Chancen und Möglichkeiten, ein gleichberechtigtes Miteinander in sozialen Gruppen gewinnbringend zu gestalten. Abschließend geht es daher um das Potenzial von Ritualen als Krisenmodulatoren in modernen Gesellschaften. Werfen wir zunächst einen Blick in die gegenwärtige Gesellschaft mit ihren religiösen Ausprägungen.
Religiosität in der Gegenwart Die Rolle der Religionen in der modernen Gesellschaft hat sich, verglichen etwa mit dem 16. Jahrhundert, entscheidend verändert. Zu beobachten ist eine Abnahme kirchlicher Religiosität unter gleichzeitiger Zunahme dessen, was Hubert Knoblauch »populäre Religion«4 nennt. Die Kirchen verlieren stetig Mitglieder.5 Dies bedeutet jedoch nicht zwangsläufig eine fortgesetzte Säkularisierung, denn die Kirche als Organisation ist in modernen Gesellschaften als institutioneller Akteur nach wie vor relevant. Denken wir an das wichtige religiöse Initiationsritual der Konfirmation, welches in weiten Kreisen der Bevölkerung begangen wird, ebenso wie die Lebensphasen markierenden Rituale. Dazu gehören bei-
sinnvoll, da die Definition den Begriff des Rituals im Kontext des vorliegenden Themas umfassend beschreibt und auf seine wesentlichen Merkmale beschränkt. Es handelt sich hier also bewusst um eine thematisch ausgerichtete Definition, die keinen Anspruch auf eine Übertragung in weitere Forschungsfelder erhebt. 4 Knoblauch, 2008: 1; vgl. auch die weiteren Ausführungen des Autors im Text zum Thema. 5 Eine Ausnahme bilden lediglich die Muslime, die eine Zunahme zu verzeichnen haben; vgl. Knoblauch, 2008: 1. Vgl. auch die neuesten Entwicklungen zur Kirchenmitgliedschaft in der EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft (EKD, 2014).
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spielsweise Hochzeiten und Begräbnisse, die sowohl in der säkularen Welt als auch im Gemeindeleben wichtige Funktionen erfüllen. Zusätzlich zur institutionalisierten Religion hat in der postmodernen Gesellschaft der einzelne Mensch mit seinen persönlichen Glaubensvorstellungen und -bedürfnissen die Möglichkeit, seine individuelle Glaubensrichtung zu gestalten. Parallel zu diesen Entwicklungen nimmt die Bedeutung der Spiritualität zu, sowohl innerhalb von Kirchengemeinschaften als auch außerhalb. Spiritualität, die der Mensch als Individuum erlebt oder welche er in Gemeinschaft erfährt, ist ein Zeichen dieser veränderten Glaubenspraxis. Und hier kommen erneut Rituale ins Spiel.
Religiöse Rituale in der gegenwärtigen Gesellschaft Riten und Rituale prägen unser säkulares und unser religiöses Leben in entscheidendem Maße. Dabei haben sie sich seit dem 16. Jahrhundert nicht nur stetig verändert, sie unterliegen in der gegenwärtigen, postmodernen Gesellschaft ganz entscheidenden Modifikationen. Konfirmationsfeiern werden beispielsweise auch im kirchlichen Rahmen heute anders gestaltet als noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Stand früher die Wissensvermittlung und die vor der Gemeindeöffentlichkeit ausgetragene Leistungsprüfung im Mittelpunkt des Geschehens, favorisiert man heute eher partizipatorische Elemente, wie beispielsweise die Gottesdienstgestaltung. Geblieben ist die Bedeutung der Rituale für das religiöse Leben, egal ob es sich um neue spirituelle Formen von Religion handelt oder um etablierte Prägungen kirchlichen Lebens. Über Rituale definieren sich Glaubensgemeinschaften und setzen sich von anderen Konfessionen und Religionen ab. Hier erfahren Menschen Gemeinschaft, die die Individualisierung der Postmoderne zulässt und gleichzeitig entschärft. Die Individualisierung bzw. Pluralisierung der postmodernen Gesellschaft korrespondiert auf der Ebene des religiösen Lebens mit einer Diversifikation. Dies wiederum führt zu entsprechenden Entwicklungen im Ritual. Veränderungen lassen sich nicht nur, wie die mannigfaltigen Ausgestaltungen von Konfirmationsfeiern belegen, hinsichtlich der historischen Perspektive und einer Auffächerung von religiösen Ritualen beobachten. Die Vielzahl von Deutungen und Erwartungen der Ritualteilnehmenden schlagen sich in einer Flut von Rezeptionsmöglichkeiten und tatsächlichen Ausgestaltungen mit einer veränderten Teilnahmepraxis nieder. So nimmt die unterschiedliche Rezeption ein und desselben Rituals zu, wie besonders nachdrücklich die Ausgestaltung des Weihnachtsfestes zeigt. Hier entstehen ganz unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen, die von der gemeindlich-religiösen Schwerpunktsetzung, indivi-
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duellen Glaubensfeierlichkeiten über familiale Ausgestaltungen zu gesellschaftlichen Entwürfen reichen und sich in unterschiedlicher Weise überschneiden, ergänzen und entsprechen. Das Interesse und die Beteiligung an religiösen Ritualen sind Teil des Prozesses der Pluralisierung und unterliegen in der postmodernen Gesellschaft in hohem Maße der Entscheidung des Individuums. Mit der wachsenden Selbstbestimmung des Einzelnen verlieren religiöse Institutionen an Einfluss, sowohl was die Ausgestaltung der Rituale als auch die feste vorstrukturierte Beteiligung des Individuums betrifft. Als Konsequenz daraus verändern sich Rituale. Manche rituellen Angebote gehen an der Lebenssituation des Einzelnen vorbei und werden deshalb nicht nachgefragt. In anderen Fällen werden Rituale durch individualreligiöse Synkretismen verändert und situationsadäquat angepasst.6 In multikulturellen, multiethnischen Gesellschaften besitzen religiöse Rituale einen wichtigen Symbolcharakter. Sie entwickeln sich zu oftmals sichtbaren Zeichen kultureller Identität. Nicht integrierte Menschen enthüllen so ihr Abgrenzungsbedürfnis, welches sie an die nachfolgende Generation weitergeben. Dies wird entweder den Jüngeren aufgedrängt oder aufgrund von Marginalisierungserfahrungen gerade von diesen gepflegt und offensiv gestaltet. Oftmals führt dies dann zu intraindividuellen Spannungen. Bereits Geertz7 betonte die Diskontinuitäten und kontradiktorischen Rollenerwartungen, die entstehen, wenn religiöse Gemeinschaften zu den herrschenden Regeln der Gesellschaft in Widerspruch stehen.8
Abgrenzung und Marginalisierung im gesellschaftlichen Kontext Welche Rolle spielen nun in diesem Kontext von Abgrenzung und Marginalisierung fundamentalistische Strömungen in der Gesellschaft? Im vorliegenden Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Fundamentalismus9 immer auch mit Blick auf eine Analyse kontextueller Bedingungen und die Identifizierung soziokultureller Milieus, die für das Entstehen von Fundamentalismus vielleicht als charakteristisch gelten könnten, verbunden ist. Mi6 Vgl. hierzu die ausführlichen Ausführungen von Ebertz, 1999: 31 f. 7 Geertz, 1975: 13. 8 Vgl. hierzu den differenten Umgang im Hinblick auf das Thema »Kopftuch« in den westeuropäischen Gesellschaften oder auch die vielfältigen Geschehnisse um den Karrikaturenstreit. 9 Vor dem Hintergrund verschiedener Fachrichtungen gibt es ein sehr unterschiedliches Verständnis von Fundamentalismus. Im vorliegenden Zusammenhang verweise ich auf die Ausführungen von Grünschloss (2009) und verwende den Begriff als auf die vorliegenden Inhalte angepasste Beschreibungskategorie. Es folgt also keine umfassende Definition des Begriffes. Hingegen werden die spezifischen Merkmale des Fundamentalismus betont, die auf Gemeinschaft bezogen sind.
Die Bedeutung von Ritualen für Gemeinschaften
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lieus bilden subkulturelle bzw. subreligiöse Gruppen innerhalb der Gemeinschaft, die durch spezifische Umgangsweisen miteinander verbunden sind. Wie wir noch sehen werden, definieren sich Gruppen stark über Rituale. Neben verschiedenen Charakteristika10 ist ein wesentliches Merkmal des Fundamentalismus der Exklusivismus mit universaler Geltungsbehauptung. Aus der Alleingeltung resultieren die entsprechend distanzierenden Beziehungen gegenüber allem Anderen und Fremden. Hier ist es demnach wiederum die Gruppe, die sich gegenüber anderen Gemeinschaften absetzt und die sich durch Rituale darstellt. Also ein Kollektiv, welches Positionen und Handlungen entwickelt, die dieses von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft entfernt. Welche Rolle spielt hier die Religion? Was sind eigentlich die Bestandteile eines religiösen Systems? Was gehört dazu? Grünschloss beruft sich auf Wach11, wenn er auf die religionssoziologische Grundregel verweist, dass von einem religiösen System als real existierender Größe erst dann zu sprechen ist, wenn es sowohl im Bereich der religiösen Theorie als auch in kultisch-ritueller Hinsicht und im Bereich der religiösen Gruppenbildung eine beobachtbare Ausformung erhalten hat. Nur wenn in allen diesen drei Bereichen, also der Dogmatik, dem Kultus bzw. Ritus und der Sozialgestalt, eine Ausdifferenzierung stattgefunden hat, kann von Religion im Vollsinn des Wortes gesprochen werden. Er betont, dass dies auch für fundamental ausgerichtete Religionen gilt. Rituale gehören demnach zu allen religiösen Gemeinschaften.12 Welche Rolle aber spielen sie genau? Was haben Rituale mit Gemeinschaft zu tun? Und wie wirken eigentlich Rituale auf Gruppen und ihre einzelnen Mitglieder?13 Nähern wir uns dem Wesen der Rituale zunächst auf der Ebene der Erinnerungen und der Performance.
10 Vgl. Grünschloss, 2009: 174 ff. 11 Wach, 1971. 12 Vgl. hierzu auch die Ausführungen im pädagogischen Kontext von Wulf und Zirfas, 2004a: 22. 13 Die soziale Dimension von Ritualen ist wichtig, aber das religiöse Ritual ist auch wesentlicher Ausdruck einer individuellen Glaubensüberzeugung. Religiöse Rituale beinhalten also umfangreiche Funktionen. Diese umfassen eine religiöse Kommunikation, die Krisenbewältigung einschließt, ebenso wie in zeitlichen Abständen wiederkehrende, traditionelle Zeremonien wie etwa bei kalendarischen oder liturgischen Ritualen, und eine rituelle Kommunikation mit einem transzendenten Gegenüber. Es ist die Frage, inwieweit sich die Religionsgemeinschaften in der praktischen Glaubensvermittlung dieser Zusammenhänge bewusst sind. Vgl. hierzu auch Beck, 2007.
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Ritual, kulturelles Gedächtnis und Performance Dass Rituale eine Funktion im Zusammenhang von Gedächtnis und Erinnerung besitzen, hat vor allem Jan Assmann immer wieder aufgezeigt.14 Hier ist der Ort des kulturellen Gedächtnisses, das sich auf Ereignisse bezieht, die in der Vergangenheit liegen. Nach Assmann hat das kulturelle Gedächtnis die Aufgabe, nicht nur als Andenken, Erinnerung und Rückblick zu dienen, sondern die menschliche Alltagswelt um eine andere Dimension zu erweitern, die normativen und formativen gesellschaftlichen Einfluss besitzt. Rituale, die das kulturelle Gedächtnis formen, weisen somit eine die Gegenwart übersteigende (Zeit-)Dimension auf. Die Begrenzung des Menschen auf den Alltag löst sich auf und der Bezug zur Weite menschlichen Lebens ist hergestellt. Assmann nennt dies eine kontrapräsentische Funktion15. Er betont diese basale Funktion des Rituals, die sich auf das Gedächtnis stützt und für Kontinuität und Überlieferung des Gewesenen sorgt. Das kulturelle Gedächtnis ist maßgeblich für jede einzelne Gruppe und deren Identität. Religiöse Rituale einer Sozietät sind demnach keine Äußerlichkeit. Sie erfüllen als zentrale Gedächtnisspeicher eine essenzielle Funktion. Religiöse rituelle Handlungen sind demnach Vorgänge, die für die Gruppe, die diese vollzieht, konstitutiv sind.16 Wie nun aber schaffen es Rituale, die menschliche Gedankenwelt und deren Handlungen zu formen? Wulf und Zirfas17 unterstreichen die Performanz der Rituale, die eng mit der Wirkung des rituellen Geschehens verknüpft sind. Die Wirkung von Ritualen zählt zu den grundlegenden Funktionen eines Rituals. Nicht nur die Sprache, sondern auch symbolische Handlungen, Gestik und Mimik, mehr noch Sprache und Tun im Zusammenspiel, also die Gesamtheit des Rituals schafft eine neue Realität und erzeugt Identität. In diesem Kontext verweisen Wulf und Zirfas insbesondere auf die Bedeutung der Körperlichkeit in Ritualen. Der Vollzug der performativen Erzeugung von Identität im Ritual ist ganz wesentlich ein Prozess der Verkörperung. Wie kann man sich die Prozesse der Verkörperung nun konkret vorstellen? Nach Wulf18 ereignet sich das, was im Ritual geschieht, in Prozessen der Nachahmung. Mimesis, wie Wulf den Verlauf der Imitation nennt. Mimesis ist reflexiv und wiederholend, zugleich aber auch stark sinnlich. Mimesis bezieht 14 Vgl. hierzu Assmann, 1991 und Assmann, 1997. 15 Assmann, 1997: 85. 16 Verwiesen sei auf diesen wichtigen Aspekt im Kontext der Diskussion um interreligiöse Rituale, aber auch im Hinblick auf manche restaurative Tendenz in Religionsgemeinschaften. 17 Vgl. Wulf, 2005 sowie die Veröffentlichungen von Wulf und Zirfas (Wulf, 2004; Wulf u. Zirfas, 2004a und 2004b). 18 Wulf, 2005.
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sich auf ein früheres Geschehen, das Wiederholung erfährt und damit als zentraler Gedächtnisspeicher, um den Assmann’schen Begriff hier erneut zu zitieren, fungiert. Zugleich geschieht Mimesis immer auch in neuen Konstellationen und bleibt damit different. Hier liegt der Grund für die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Dynamik des Rituals. Rituale bedürfen, wie Wulf und Zirfas betonen, eines mimetischen, stark sinnenhaften Wissens. Sie sprechen von »Prozesse[n] der kreativen Nachahmung, die sich auf Vorbilder und an den Handlungen anderer ausrichtet. […] Mit Hilfe dieser mimetischen Prozesse erfolgt die Herausbildung eines praktischen, handlungsrelevanten Wissens, einer körperlichen Beteiligung und eines leiblichen Habitus.«19 Diese inneren Funktionsweisen von Ritualen, die eben nicht nur Äußerlichkeit sind, verdeutlichen, wie sehr religiöse Rituale eine eigene und sehr spezifische Form darstellen, das Religiöse zu kommunizieren. Desgleichen tragen sie zur Persönlichkeitsbildung bei, stoßen Glaubensprozesse an und geben diesen eine Gestalt.20 Entsprechend bedeutsam ist die Wirkung von Ritualen. Macht, Einfluss und individuelle Prägung sind mit diesen verbunden. Dies gilt sowohl im Hinblick auf fundamentalistische Gruppierungen als auch für jeden einzelnen Menschen. Wo Macht und Einfluss auftauchen, lauern eben auch Gefahren. Im Folgenden geht es deshalb um das Gefährdungspotenzial von Ritualen, zunächst für den einzelnen Menschen, später dann in Bezug auf das Kollektiv.
Die Schattenseiten von Ritualen im Hinblick auf das Individuum Rituale sind gefährlich. Da sie per se eingeführte Handlungen sind, die während des Vollzugs nicht hinterfragt werden, bergen sie grundsätzlich die Gefahr, Wahlmöglichkeiten und individuelle Freiheiten zu beschneiden. Sowohl im gesellschaftspolitischen wie auch im religiösen Kontext hat man sie als Mittel der Indoktrination, Disziplinierung und der Manipulation missbraucht. Eine überwiegend positive Betrachtung der Rituale blendet die Schattenseiten eines Tuns leicht aus, das in aller Regel unreflektiert abläuft, aber eben weitreichende performative Konsequenzen und die Persönlichkeit prägende Wirkungen hat. Bereits 1978 hat Werner Jetter religiöse Rituale als gefährliche Unentbehrlichkeiten beschrieben. »Die neurotischen Zwangsrituale erinnern daran, nicht nur wie tief auf Wiederholung und Vertretung angelegtes Handeln ins Psychische eindringt und sich dort einprägt,
19 Wulf und Zirfas, 2001: 342. 20 Religiöse Rituale, die sich symbolischer Zeichenhandlungen bedienen, heben den prozesshaften, visuellen Charakter von Ritualen besonders deutlich hervor.
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sondern auch, was alles sich in sie verlagern, von ihnen vertreten und durch sie abführen lassen kann.«21
Er steht in einer geistigen Verwandtschaft mit den Theorien Sigmund Freuds, der sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts mit Ritualen auseinandergesetzt hat. Freud konstatiert, dass kollektive wie individuelle religiöse Rituale zu pathologischem Zwangsverhalten mutieren können. In dem 1907 erschienenen Aufsatz »Zwangshandlungen und Religionsübungen«22 meint Freud zwar, »dass die kleinen Zutaten des religiösen Zeremoniells sinnvoll und symbolisch gemeint sind«. Diesen stellt er jedoch zwangsneurotisches Verhalten gegenüber. Dasselbe, so Freud, verantworte die Unterdrückung des Individuellen, die Verschmelzung des Ich, des Einzelnen, mit den Inhalten des Über-Ichs. Rituale, so die Ausführungen Freuds, verstärke diese die Individualität beschränkende Verschmelzung. Ob man sich nun den Theorien Freuds anschließt oder nicht, feststeht, dass Rituale jeden einzelnen Menschen in seiner Persönlichkeit formen. Darüber hinaus prägen und gestalten Rituale menschliche Gesellschaften. Wenn wir Rituale im Kontext fundamentaler Gegebenheiten betrachten – betont sei hier der Exklusivitätsanspruch des Fundamentalismus, das Beharren auf festen religiösen Grundsätzen und die damit einhergehende deutliche Separation von den Anderen bzw. Fremden –, fragen wir deshalb noch einmal grundlegend: Was hat es nun auf sich mit der Verknüpfung von Ritualen und Gemeinschaft?
Zentrale Stellung des Rituals in sozialen Gebilden Bereits Durkheim verwies darauf, dass sich Gemeinschaften durch Rituale bilden, erhalten oder restituieren. Nach ihm geschehen grundlegende menschliche Handlungsweisen wie die Verbindung von Denken und Handeln im Ritual. Deshalb sind Rituale für das Zusammenleben in menschlichen Gemeinschaften unerlässlich. Versöhnung und Integration, maßgebliche Verhaltensweisen, um soziale Gebilde zusammenzuhalten, erfolgen in Form von Ritualen.23 Bell betont ebenfalls die grundlegende Bedeutung der Rituale für menschliche Gemeinschaften. »Belief in ritual as a central dynamic in humanaffairs […] Ritual is approached as means to create and renew community, transform humanidentity, and remake our most existential sense of being in the cosmos.«24 Nach Bell werden Werte, Normen und Wahrheiten durch Rituale dargestellt, 21 22 23 24
Jetter, 1978: 112. Vgl. hierzu auch den weiteren Kontext bei Freud (1966a und b). Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Bergensen, 2003. Bell, 1997: 264.
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soziale Konflikte im Ritual erfahren und bezwungen und Inkorporierungen von Ordnungen vollzogen. Die kommunikative Handlung des Rituals beschreibt Wirklichkeit und hat wiederum Einfluss auf die reale Welt.
communitas und die Einheit der Gruppe Ohne Zweifel: Rituale sind bedeutsam für Gemeinschaften; im Grunde genommen erzeugen sie diese sogar erst. Ohne Rituale gibt es, so die Historikerin Stollberg-Rillinger25 »keine gesellschaftliche Ordnung, keine Institutionen, keine dauerhafte soziale Struktur. Rituale vermitteln die elementaren Werte, Wissensbestände und Ordnungskategorien einer Gesellschaft; sie reproduzieren und transformieren die soziale Wirklichkeit.« Schauen wir einmal genauer hin. In Ritualen wird das Bekannte und Vertraute durch Zeremonien und Worte übermittelt. Darüber hinaus geht die klassische Ritualtheorie davon aus, dass gemeinsam vollzogene Rituale in den Beteiligten die entsprechenden Gefühle erzeugen, »zum Beispiel Gefühle der Zusammengehörigkeit, der Verpflichtung, der Würde oder auch der Scham«26. StollbergRillinger spricht davon, dass Rituale damit »eine kollektive Ansteckungswirkung« haben. Bleiben wir bei den Gefühlen, denn Gefühle, die soziale, menschliche Gemeinschaft erfahren lassen, sind im rituellen Kontext besonders bedeutungsvoll. Victor Turner27 spricht in diesem Zusammenhang von communitas. Dieser Begriff beschreibt das kollektive Zusammensein in der Übergangsphase eines Rituals, nach Arnold von Gennep auch als marge bezeichnet.28 Communitas beinhaltet ein elementares, nachhaltiges Gemeinschaftsgefühl, in welchem soziale und menschliche Verbundenheit in besonders starker Form zum Ausdruck gebracht wird. Für die Ausbildung sozialer Gemeinschaft ist communitas besonders wichtig. Sie vermittelt jedem einzelnen Menschen grundlegende Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen durch das Erlebnis der Einheit in der Gruppe. Damit schaffen Rituale nicht nur Kollektive, sie stabilisieren die sozialen Gemeinschaften auch. Sie dienen dazu, sich der Präsenz der Gemeinschaft immer wieder zu versichern und durch Wiederholung zu bestätigen. Sowohl die Rituale als auch die rituellen Rollenzuschreibungen und Positionsbestimmungen sind allerdings keine starren Identitäten, in denen die Verhaltensmuster der Mitglieder festgelegt und unflexibel bleiben. Diese können 25 26 27 28
Stollberg-Rillinger, 2013: 14 f. Stollberg-Rillinger, 2013: 12. Turner, 2000. Vgl. hierzu die Dreiteilung der Rituale bei Arnold van Gennep, 1986.
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sich im Rahmen der üblichen Kommunikationsstrategien flexibel, bisweilen spielerisch zu ihnen in Beziehung setzen. Veränderungen, die von allen Ritualteilnehmern getragen werden, stärken die Beziehungen untereinander sogar. Bergesen29 hat dies aussagekräftig beschrieben. Das soziale Leben bewegt sich ständig zwischen zwei Polen: zwischen Individualität und Kollektivität. Das Ritual bildet dabei den grundsätzlichen Vermittlungsmechanismus, der wiederholt eingesetzt wird, um isolierte Individuen in eine soziale Gemeinschaft zu integrieren. Der Schäfer und die Mutter der vier unehelichen Kinder der Gemeinde Affaltersbach, von deren Abendmahlverweigerung wir zu Beginn dieses Textes erfahren haben, stehen außerhalb der dörflichen Ordnung. Durch ihre Teilnahme am Abendmahl möchte die Kirchengemeinde sie integrieren. Auch diejenigen, die Ausgrenzung erfahren, sollen – und sei es auch nur zeitlich begrenzt – aufgenommen werden, sollen einen Teil des großen Ganzen bilden. Dann stellen sie keine Bedrohung als exklusives Element für die Dorfgemeinde dar. Das Fremde, das, was sich außerhalb der sozialen Strukturen bewegt, ist immer ein Faktor von Unsicherheit, Angst und Bedrohung. Menschliche Gemeinschaften sind deshalb bestrebt, entweder das Fremde zu assimilieren, wenn auch manchmal, wie im Beispiel gesehen, nur zeitlich begrenzt, oder aus der Gemeinschaft zu verbannen. Auch wenn Rituale Sicherheit vermitteln und Gemeinschaft entstehen, restituieren und erfahren lassen, sind sie auf der anderen Seite beengend, einschnürend und repressiv. In diesem Sinn hat die Abendmahlsverweigerung des Schäfers und der Mutter der vier unehelichen Kinder der Gemeinde Affaltersbach Protestcharakter. Vielleicht war dies eines der letztmöglichen Zeichen, welches die Ausgestoßenen setzen konnten.
Befreiung vom Druck der sozialen Ordnung Zum einen stabilisiert die soziale Ordnung, repräsentiert durch Rituale, also die Gemeinschaft und vermittelt den Individuen Sicherheit. Zugleich aber üben die sozialen Normen Druck aus: Sie kanalisieren Gedanken, Emotionen und Wahrnehmungen. Wer sich nicht nach den Normen der sozialen Ordnung verhält oder diesen nicht entsprechen kann – denken wir an unser Beispiel aus dem 16. Jahrhundert, in welchem die genannten Personen die geltenden Normen des Dorflebens nicht einhalten können –, steht außerhalb der Gemeinschaft. Aber auch für diejenigen, die integriert sind, gilt: Bedürfnisse, die im Alltagsleben nicht befriedigt werden, drängen nach einer Befreiung vom Druck der sozialen Ordnung. Soziale Ordnung und persönliche Identität stehen in einer symbiotischen Beziehung, die ambivalent ist. 29 Bergesen, 2003: 51 ff.
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Elemente, die die soziale Gemeinschaft infrage stellen, werden oftmals separiert und zeitlich begrenzt ausgelebt. Die Entlastung vom Druck der Gemeinschaft nimmt angestauten Wünschen und Trieben ihre verändernde, manchmal auch zerstörerische Macht. In solchen Phasen erfahren die Teilnehmer konkret, wie das soziale Miteinander Sicherheit gibt: Die Erfahrung des Nicht-Gewöhnlichen erneuert das Bedürfnis nach der Stabilität der bekannten Abläufe. Phasen der Aufhebung gewöhnlicher Regeln sind demnach für die Erhaltung der Ordnung unerlässlich.30 Es gilt also: Werden chaotische Elemente in Ritualen aufgefangen, stabilisieren sie sogar die Gemeinschaft, da die Unzufriedenheit sich nicht mehr gegen Elemente innerhalb der Sozietät richtet. Das rituelle Handeln lässt demnach die Möglichkeit zu, Ritualelemente hinzuzufügen oder wegzulassen, bei denen die bestehenden Normen der Gemeinschaft modifiziert werden. Knüpft man an unser Beispiel aus dem 16. Jahrhundert an, bedeutet dies, eine Ritualform zu schaffen, in der sich die Ausgestoßenen wiedergefunden hätten. Dann wäre die Chance gegeben, die Gemeinschaft unter Mitwirkung aller Dorfbewohner zu erfahren. Das bedeutet auch, dass Rituale veränderbar sind. Nach Claude Levi-Strauss besteht aber genau in der Obsessivität, also in der scheinbaren Unveränderlichkeit der Rituale, die Gefahr derselben. Rituale werden nicht hinterfragt und bewertet, sodass mögliche Fehler nicht gefunden werden und bestehen bleiben.31
Gefährdungspotenzial von Gruppenritualen Neben der Starrheit eines Rituals, welches verkrustete Strukturen und Machtkonstellationen transportiert, dokumentiert und bestätigt, beinhaltet das Ritual selbst in seiner Dynamik ein zwanghaftes Moment. Diese Art des Zwangs tritt im gesellschaftlichen Kontext hauptsächlich bei ekstatischen rituellen Ereignissen wie Massenritualen und Trance auf.
30 Anders als die beschriebene Abendmahlsverweigerung des Schäfers und der Mutter der vier unehelichen Kinder der Gemeinde Affaltersbach, in der die Mitglieder der Gemeinschaft diese verlassen und dies damit offensiv zum Ausdruck bringen, gibt es innerhalb von Ritualen öffentlich gebilligte Phasen des Aufhebens der gesellschaftlichen Regeln. Verwiesen sei hier auf die Aktivitäten in der Faschingszeit, die die normale gesellschaftliche Situation karikieren bzw. zeitlich begrenzt aufheben; wenn beispielsweise die Frauen, die über keine gesellschaftliche Macht verfügten, einmal im Jahr, an Weiberfasnacht, das Rathaus stürmten. Dies fängt soziale Unzufriedenheit auf und trägt dann insgesamt zu einer stabilen sozialen Situation bei. Um die innere Dynamik der Rituale zu verdeutlichen, sei hier auf ein Beispiel aus dem familialen Kontext verwiesen (Schurian-Bremecker, 2008: 160). 31 Vgl. Strauss zit. in Staal, 1979: 12.
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Noch einmal blicken wir auf die grundlegenden Konstellationen eines Rituals. Nach Durkheim sind Kollektivbewegungen, die Massenrituale darstellen, nur durch Ordnung möglich, »die sich […] den Individuen aufzwingt«32. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf communitas, dieses machtvolle Gefühl der Einheit, Sicherheit und Stärke in der Übergangsphase eines Rituals, verwiesen. Bei Ritualen, in denen zahlreiche Menschen beteiligt sind, wird communitas gebündelt erfahren, man spricht dann davon, dass das Individuum in der Gruppe aufgeht. Es kommt zur Deindividuation. Das individuelle Bewusstsein wird in der kollektiven Empfindung konzentriert und verstärkt. Das eigene Ich geht in der Identität mit der Gruppe auf, das Individuum wird nach Bergensen zum »kollektiven Anderen«33. Ein bewusster, begreifender Austausch mit den Anderen ist nicht mehr möglich. Mehr noch werden die Differenzen zwischen den Ritualteilnehmenden nivelliert zugunsten einer Uniformisierung der Handelnden und des Tuns selbst. Erfährt der Einzelne in der Menge eine Ausschaltung seines individuellen Denkens, wird er unkritisch, er reagiert geleitet durch die Gruppe und seine Instinkte. Dies führt zum individuellen Verlust von Selbstaufmerksamkeit, Selbstregulation und Enthemmung. Diese Diffusion der Verantwortung, wenn sich das Individuum nur als kleiner Teil eines großen Ganzen fühlt, bedingt die Aufgabe des eigenen Ethos gegenüber dem des Kollektivs. Dies kann dazu führen, dass der Einzelne in dieser Situation Werte und Normen vertritt, für die er sonst nicht steht. Dieses vom individuellen Alltag abweichende Verhalten verstärkt sich dann, wenn innerhalb der Gruppe neue Normen entstehen, die nur für spezifische Situationen gelten und gegebenenfalls zu direktem Widerspruch zur alltäglichen Realität stehen. Die massenhafte Ausdehnung solcher Veranstaltungen, die Synchronizität und sinnliche Wirkung des Handelns34 erzeugt Selbstaufgabe und zugleich Erregung. Es kommt zu einer sinnlich-körperlichen mimetischen Ansteckung.35 Dieser Zustand der Erregung, der Exaltation gilt als eine besondere Form von communitas und wird als effervescence bezeichnet. Fugger meint, effervescence sei geradezu eine elementare Funktion von Ritualen, »bestimmte, auf den rituellen Anlass […] bezogene Emotionen hervorzurufen«36, nicht zuletzt, um Gefühle dadurch zu steuern und zu bewältigen.37 Das 32 33 34 35 36 37
Durkheim, 1981: 497. Bergensen, 2003: 49 f. Z. B. Hunderte Menschen, die marschieren, singen, tanzen etc. Vgl. hierzu die detaillierten Ausführungen bei Bell, 1979: 162 und Gebauer, 1998: 148. Fugger, 2011: 414. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Stollberg-Rillinger, die in diesem Zusammenhang auf die Kanalisierung individueller Trauer durch kollektive Trauerrituale, an die Erzeugung von Scham durch Buß- und Schandrituale, von freundschaftlicher Nähe durch gemeinsames Essen und Trinken usw. (2013; 227) verweist.
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heißt: Emotionen haben eine kommunikative Dimension. Geteilte Freude, gemeinsame Angst, kollektive Trauer, Scham, Hass oder Zorn verbinden Menschen zu emotional communities38 und grenzen sie zugleich von anderen ab.39 Für fundamentale Gemeinschaften bedeutet dies eine Stärkung sowohl im Hinblick auf Inklusion, das heißt eine Konzentration auf die eigene Gemeinschaft, als auch in Bezug auf Exklusion gegenüber fremden Sozietäten. Gerade weil sich in der Masse individuelle Angst in Sicherheit verwandelt, das Bewusstsein der eigenen Schwäche in Kraft und Minderwertigkeitsgefühle in Größengewissheit. Alles in allem entsteht ein diffuses Wir-Gefühl, welches als beglückend und entspannt erlebt wird. Die negativen Effekte dieser rituellen Eigenschaften und besonderen Konstellationen sind nicht zu unterschätzen. Rituale in diesem Kontext unterdrücken individuelle Ausprägungen, behindern persönliche Entwicklungen und generieren spezifische Strukturen. Der Nährboden schlechthin für fundamentalistische Gemeinschaften. Diktaturen nutzten und nutzen diese rituellen Wirkungen zur Beeinflussung, Kontrolle, Leitung und Umerziehung von Menschen. Wie effizient das sein kann, das vermitteln beispielsweise die Darstellungen der Nürnberger Reichsparteitage des Nationalsozialismus. Gerade weil die rituelle Ausgestaltung der Gesellschaft im Faschismus so erfolgreich war, herrscht bis in die Gegenwart hinein ein verbreitetes Misstrauen vor allem gegenüber politischen Inszenierungen, die im Kontext von Täuschung und Verführung der Massen gesehen werden.40 Aus diesem Grund haben Angehörige der 68er-Generation mit ihrer Kritik gerade bei den verkrusteten Ritualen und deren negativen Auswirkungen angesetzt. Sind Gesellschaften tatsächlich bedroht oder fühlen sie sich auch nur terrorisiert, lässt sich ein Anstieg von Ritualausführungen feststellen. In Situationen erhöhter Unsicherheit reagieren ritualisierte Gemeinschaften mit verstärkter Ritualisierung und der Hinwendung zu alten Ordnungen. Sie verteidigen ihre Traditionen intensiv und versuchen neue Optionen auszuschließen und das Traditionelle zu bewahren. Für Subsozietäten innerhalb von Gesellschaften kann dies bedeuten, sich so weit wie möglich aus den bestehenden gesellschaftlichen Verflechtungen zurückzuziehen. Besonders stark ist der Zwangseffekt von Ri38 Rosenwein, 2006. 39 Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Stollberg-Rillinger, 2013: 227 sowie den Exkurs Nr. 22 »Rituale und Emotionen« unter www.historische-einführungen.de. 40 Stollberg-Rillinger (2013, Quelle Nr. 22, 58/63) macht darauf aufmerksam, dass diese moderne Erfahrung, die insbesondere in Deutschland politische Rituale generell und nachhaltig diskreditiert hat, dem Verständnis von Ritualen eher im Weg steht, da sie zu der Annahme verleite, es handele sich stets um manipulative Tricks, deren sich die Herrschaftsinhaber strategisch bedienen, während sie sich zugleich selbst davon innerlich distanzieren. Nach Stollberg-Rillinger zeigt die neuere Ritualforschung, dass diese Sicht zu einfach ist.
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tualen, wenn, wie wir am Beispiel des Schäfers und der Mutter mit ihren vier Kindern in Affaltersbach gesehen haben, abweichende Lebensentwürfe oder Glaubensvorstellungen eine tatsächliche oder auch nur subjektiv wahrgenommene Gefahr für den Bestand des Gemeinwesens darstellen. Aber auch wenn Gesellschaften nicht bedroht sind, existieren Herrschaftsaspekte ritueller Gewalt. In der Erzeugung von Normalitätsvorstellungen drückt sich politische Macht aus, ritualisiertes Handeln institutionalisiert und bestätigt Autorität.41 Dies ist so, da, wie Belliger42 feststellt, im rituellen Geschehen kein herrschaftsfreier Diskurs geführt wird. Ritualisiertes Handeln verkörpert die Wahrheit, wobei die Wahrheit nicht nach gemeinsam akzeptierten Kriterien verhandelt wird. Die mit dem Ritual verbundenen Werte und Normen werden nicht überprüft, sondern durch Bekehrung, Sozialisation und Initiation internalisiert. Nach Belliger43 zielen Rituale auf die Errichtung sozialer Rollen, Identitäten und grundlegender Differenzierungen. »Das Ritual ist nicht darauf ausgerichtet, einen universellen Konsens in einer nur kontrafaktisch anzunehmenden universellen Kommunikationsgemeinschaft anzustreben. Es […] zielt vielmehr auf die Durchsetzung einer hier und jetzt geltenden Gruppenidentität, d. h. auf eine persönliche, soziale, kulturelle und ontologische Totalität«.
Wie viel mehr können im Kontext einer fundamentalistisch interpretierten Religion Rituale Sicherheit, Geborgenheit und Selbstvertrauen vermitteln, indem sie innovativen Strömungen Reduktionen gegenüberstellen, die durch rituelle Ausgestaltungen eine direkte Erfahrbarkeit verleihen.44 Ekstatische Frömmigkeit, Heilsversprechen von Führungspersönlichkeiten etc. sind dann rituelle Mittel, um das Zugehörigkeitsgefühl zur eigenen Gemeinschaft zu festigen. Aus dieser Haltung heraus verstärkt sich noch einmal in fundamentalistischen Gesellschaften eine charakteristische Ablehnung jeglichen kulturellen und religiösen Pluralismus.45 Eingedenk dieser starken negativen rituellen Macht könnte man im Umkehrschluss nach dem verbindenden Charakter von Ritualen und deren Potenzial im positiven Sinn fragen.
41 42 43 44
Vgl. hierzu die detaillierten Ausführungen bei Gebauer, 1998: 156. Belliger, 2003: 30. Belliger, 1998: 30. Vgl. hierzu ebenfalls die Ausführungen zu Komplexitätsreduktionen im ideologisch-dogmatischen Bereich bei Geertz, 1983: 46 ff. 45 Vgl. hierzu Grünschloss, 2009: 180.
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Das Potenzial multireligiöser Rituale Evident ist, dass eine Ritualpraxis, die Angehörige unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften in die gleichen rituellen Handlungen einbindet, mit einer fundamentalistischen Auslegung von Religion nicht zu vereinbaren ist. Der Exklusivitätsanspruch ginge verloren, Abschottung gegenüber Fremdem würde unmöglich, da das Fremde Teil der eigenen Gemeinschaft geworden wäre.46 Hier ist die Frage angebracht, inwieweit multireligiöse Rituale im Gegensatz zum Fundamentalismus eine sozialintegrative Wirkung aufweisen, also fundamentale Religionsausübung verhindern. Kehren wir zurück zum prozessualen Verständnis des rituellen Geschehens nach Turner, der die transformative Kraft in der Übergangsphase eines Rituals betont. Die Separation nach außen, nach Arnold van Gennep die erste Phase des Rituals, korrespondiert mit der Solidarität nach innen. Solidarität nach innen bereitet das Gemeinschaftsgefühl der communitas vor. Zuvor steht die Loslösung der Ritualteilnehmer aus ihren alltäglichen sozialen Beziehungen und Bindungen. Erst dies schafft die Voraussetzung für die Erfahrung von communitas. In dieser Phase des Rituals spielen die wichtigen Größen des Alltags wie Geschlecht, Alter, Ethnie, Besitz usw. keine Rolle mehr. Alle Differenzen scheinen temporär, das heißt in der Phase der Umwandlung, aufgehoben. Rituale haben damit nicht nur eine verbindende, erhaltende Funktion, sondern auch eine verändernde Kraft. Im Kontext von Religion ist die Erfahrung von communitas unterschiedlicher Glaubensrichtungen Vorreiter einer sozialen Implikation. Punktuell sind hier nicht nur die konfessionellen Schranken zugunsten eines ökumenischen Gedankens aufgehoben. Denn Rituale vermitteln nicht nur traditionelle Werte, sondern auch die einzigartige Erfahrung, dass das, was Menschen im alltäglichen Leben voneinander trennt, nicht unabänderlich ist. Die Erfahrung von communitas trägt das Potenzial in sich, zur Initialzündung zu werden, um differente gesellschaftliche Gruppen zusammenzubringen. Das Potenzial multireligiöser Rituale ist nicht nur bemerkenswert, es könnte auch wegweisend sein. Im Zeitalter der Globalisierung stellt die Integration verschiedener Bevölkerungsgruppen in ein Staatensystem ein Basisproblem dar. 46 Die Öffnung gegenüber dem Fremden bedeutet nicht, dass eigene Glaubensinhalte aufgegeben werden und sich in Beliebigkeit auflösen. Im Gegenteil zeigen verbindende rituelle Elemente zwar einerseits, dass Formen des Glaubens durchaus geteilt werden können. Andererseits wird erst durch das Miteinander und die damit verbundene Auseinandersetzung mit anderen Glaubensinhalten und -formen deutlich, welche Überzeugungen ich wirklich spüre und vertrete. So bedeutet vielleicht gerade die Unterschiedlichkeit und das Ausspielen der Divergenz in der rituellen Gemeinschaft ein Mittel der eigenen Glaubensfindung bzw. Glaubensstärkung. Vgl. dazu auch die Diskussion in einem erweiterten Feld bei Schneider, 2013.
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Inwiefern multireligiöse Rituale dazu einen Beitrag leisten könnten, ist eine Frage, die es wert ist, näher betrachtet zu werden. Forschungen mit dieser thematischen Ausrichtung sind sicherlich lohnend, stehen aber im Großen und Ganzen noch aus. Im ethnologischen Kontext hat sich Volker Gottowik47 mit multireligiösen Ritualen in Zentralindonesien befasst. Er betont im Kontext einer differenzierten Darstellung und durchaus kritischen Bewertung die sozialintegrative Leistung von multireligiösen Ritualen, unter anderem am Beispiel der Pilgerreise. Bereits Benedict Anderson48 hatte betont, dass der Reise, die verändernde Erfahrungen von Zeit, Status und Raum mit sich bringt, eine sinnstiftende Erfahrung innewohnt. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Pilgerfahrten nach Rom oder Mekka, in deren Verlauf sich Angehörige verschiedener Nationen als christliche bzw. muslimische Gemeinschaft erfahren. Wenn hier nationale Grenzen aufgehoben werden und zu einer sinnstiftenden Gemeinschaft führen, kann dies ebenso für verschiedene religiöse Gruppen gelten, die sich durch die Erfahrung von communitas als Kollektiv erfahren. Es ist daher gar nicht hoch genug einzuschätzen, welches Potenzial multireligiösen Ritualen innewohnt, um fundamentalistischen Strömungen entgegenzuwirken. Kehren wir am Ende zum Anfang zurück und übertragen die Vision einer verbindenden Gemeinschaft durch Rituale auf den zweiten inhaltlichen Schwerpunkt des vorliegenden Bandes, die religionspädagogische Perspektive. Wenn Rituale tatsächlich das Potenzial in sich tragen, nebeneinanderstehende Elemente zusammenzufügen, dann genügt es eben nicht, Wissen über die eigene und die fremde Religion zu vermitteln und einzuüben. Dann wäre es dezidiert eine Aufgabe von Religionspädagogik in einer multireligiösen Gesellschaft, nach verbindenden Elementen verschiedener Religionen zu suchen und diese auf ihre einigende Tauglichkeit hin zu überprüfen. Aufzuspüren wären gemeinsame rituelle Erfahrungsräume junger Menschen unterschiedlicher religiöser Sozialisation, die diese einander näher bringen. Dies wäre dann der Ausdruck und die Vision eines geteilten Lebens in einer globalisierten, multireligiösen Welt, in welchem Menschen unterschiedlicher Religionen als gleichberechtigte Partner innerhalb derselben Gesellschaft miteinander lebten. Dass immer auch die Perspektive der Anderen Berücksichtigung finden sollte, das zeigt das Beispiel des Schäfers und der Mutter aus Affaltersbach, die eben nicht die Chance hatten, sich mit ihren dem Mainstream widersprechenden Lebensentwürfen in das gemeindliche Leben einzubringen.
47 Gottowik, 2008. 48 Anderson, 1993.
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Jürgen Eilert
Fundamentalistische Kommunikation als religionspädagogische Herausforderung – Fundamentalisten sind nicht immer »die Anderen«
Das von mir essayierte Thema »Fundamentalistische Kommunikation« birgt insofern Schwierigkeiten, als man leicht versucht ist, derartige Zuschreibungen immer an »Fremde« oder »Andere« und deren (Groß-)Gruppen zu adressieren, um im Fremden seine eigenen fundamentalistischen Allüren projektiv zu bekämpfen. Ausgehend von dieser Alltagswahrnehmung im Umgang mit Fundamentalisten möchte ich nicht mit Definitionsversuchen beginnen, wer oder was ein Fundamentalist »ist«. Wir orientieren uns daher zunächst einfach an lebensweltlich vorausgesetzten Kommunikationen, nach der es sich bei »Fundamentalismus« um eine normativ inakzeptable, den gesellschaftlichen Frieden störende, exkludierende Haltung handelt, die nach allgemeiner Wahrnehmung zu korrigieren ist, damit der Normalzustand wiederhergestellt, der gesellschaftliche Frieden gesichert und alle Menschen guten Willens gesellschaftlich integriert werden können. Insofern der Fundamentalist immer »der Andere« ist, läuft man allerdings Gefahr, unsensibel für die eigenen fundamentalistischen Anteile zu werden bzw. für den nicht verhandelbaren Kernbestand derjenigen normativen »Selbstverständlichkeiten«, die man unter keinen Umständen preiszugeben bereit sein sollte. Sprechen wir also über »fundamentalistische Kommunikation«, dann sind wir wohl beraten, uns selbst über das eigene epistemische und normative Tafelsilber Rechenschaft abzulegen, um dann bewusst eine klare und hilfreiche Haltung im Umgang mit »fundamentalistischer Kommunikation« einzunehmen. Erfahrungsgemäß kann eine solche hilfreiche Haltung nicht eingenommen werden ohne eine solche eigene Klarheit zu unverhandelbaren Werten und deren verantwortlicher Umsetzung im Alltag. In diesem Artikel beschränke ich mich auf Hinweise zur Kommunikation mit fundamentalistisch denkenden Jugendlichen, da wir es hier noch nicht mit gefestigten Identitäten und oft auch gar nicht mit organisationellen Formen zu tun haben.
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Klarheit über das eigene normative Tafelsilber Vorab gilt aber, dass man sich erfahrungsgemäß jeden Dialog mit einem lebensweltlich agierenden Fundamentalisten schenken kann, wenn man auf Zeit und Dauer versucht, seine eigene Lebensführung ohne explizite normative Referenz zu organisieren. Das Gegenüber wird einen dann überhaupt nicht ernst nehmen. Man erzeugt dann von sich selbst Fremdbilder eines bedauerlichen, vormoralischen, möglicherweise tierähnlichen Wesens, dem die rechte Erkenntnis wohl noch geschenkt werden muss. Das Gegenüber wähnt sich dabei in der Rolle eines um die wahren Sachverhalte Wissenden, quasi als totales epistemisches Subjekt, während dem Gesprächspartner die Rolle eines unwissenden, epistemischen Niemands zugewiesen wird.
Entwicklungspsychologische Gesichtspunkte Womit wir vor der ersten wirklichen Herausforderung im Umgang mit fundamentalistischer Kommunikation stehen: Der kognitive Operationsmodus fundamentalistischer Kommunikation bedient sich (oft im Zusammenhang mit Stress1) weitgehend bipolar-dichotomer Muster (»Schwarz-Weiß-Denken«), wie sie erst im Jugendalter möglich werden. Erst auf dieser Grundlage wird es überhaupt möglich, die emotionale Beziehung eines Gesprächspartners völlig abzuspalten und seine Anschauungen für völlig irrelevant zu erklären. Rein entwicklungspsychologisch ist diese Fähigkeit von großem Nutzen. Sie erst ermöglicht Emanzipationsbewegungen aus konsensorientierten Cliquen des frühen Jugendalters. Nur auf der Grundlage einer normativ-ideologischen Entemotionalisierung von Peer-Beziehungen kann sich ein Jugendlicher etwa von seiner ganzen Clique zurückziehen, die zum Beispiel gerade mit einer Straftat beginnt. Jugendsoziologisch gewendet sind sie genau diejenigen Operationen, auf deren Grundlage erste soziale Selbstreflexions- und kulturelle Integrationsleistungen möglich werden. Das heißt, sie beziehen sich mit entwicklungspsychologischer Notwendigkeit kritisch auf das vorhergehende Stadium unhinterfragter emotional gesicherter Peer-Beziehungen. In dieser Form stellen sie eine nun um kulturelle Schemata angereicherte Wiederholung von früher nur sozialen, emotionalen Abgrenzungen gegenüber dem Elternhaus dar. Damit nun kann erklärt werden, wieso eine allein auf inklusiver Empathie, Akzeptanz und Wertschätzung basierende Fundamentalismus-Prävention mit entwicklungspsychologischer Notwendigkeit ins Leere läuft. Denn die Rogerschen Gesprächsvariablen realisieren solche Peer-Kommunikationen, von denen aus Ju1 Beyer, Fridrici u. Lohaus, 2007: 247 ff.
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gendliche sich ja gerade in Richtung eines kulturell »ernst zu nehmenden« Erwachsenen mit klarem, normativem Anspruch weiterentwickeln wollen. Zum erwachsenen Leben gehört eben – und das haben alle Jugendliche seit ihrer Kindheit erfahren – nicht nur die Fähigkeit zur Realisierung Rogerscher Haltungsvariablen, sondern auch die Fähigkeit zur begründeten Abgrenzung, das heißt die Fähigkeit, Kompetenz, Wertschätzung, Empathie und Akzeptanz auch zielgerichtet und begründet zu entziehen. Diese Fähigkeit zur erwachsenen Empathieverweigerung wird möglich durch die Emergenz eben jener formalen Operationen, welche Jugendliche in die Lage versetzen, ihre bislang unhinterfragte Praxis ihrer Peer-Beziehungen auch einmal »ganz grundsätzlich kritisch« zu hinterfragen und sich »ideologisch begründet« davon abzugrenzen.
Eigene fundamentalistische Entwicklungsphasen integrieren Nicht alle Jugendlichen entwickeln diese Schritte in einen operativen Ideologismus weiter und es dürfte auch Unterschiede geben, in welchem Ausmaß sie ihre Beziehungen dadurch gestalten oder steuern. Die fundamentalistischen Identitätsmuster des Jugendalters aber werden damit zunächst entdramatisiert. Man muss nicht mit dem ganzen empirisch abgesicherten Arsenal religionspädagogischer Kompetenz dagegen vorgehen. Nichts ist so gesehen fundamentalistischer, als wenn eine Sorte Fundamentalisten eine andere Sorte Fundamentalisten als Fundamentalisten beschimpft. Statt solcher projektiver Abwehrreflexe gegen die eigene Jugendphase sollte darauf hingearbeitet werden, dass Religionspädagogen und Pfarrer ihre (falls vorhanden) eigene fundamentalistische Phase als sinnvollen und ressourcenreichen Hintergrund wahrnehmen können, um Jugendliche auf eben diesem kognitiven Operationsniveau abzuholen. Das bedeutet, dass man von Professionellen im Umgang mit Jugendlichen erwarten darf, im Sinne einer selektiven Authentizität selbst fundamentalistisch denken und kommunizieren zu können, ohne sich diesem Operationsniveau auszuliefern. Dazu braucht es erstens einen inneren Zugang zur ideologischen Phase in der eigenen Lebensgeschichte und zweitens innere Bilder, Erfahrungen und insbesondere Beziehungen, die den Ausgang aus dieser Phase begleitet haben. Diesbezügliche Selbsterfahrungseinheiten müssten in die Ausbildung von Jugendleitern, Vikaren und Religionslehrern implementiert werden. Nur dann laufen religionspädagogische und theologische Ausbildungsgänge nicht Gefahr, unter der Hand zur triebdynamischen Abwehr gegen die eigene »fromme Lebensgeschichte« instrumentalisiert zu werden – oder aber sogar zu einem Munitionslager für Projektionen gegen die frommen Lebensgeschichten anderer Menschen.
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Ich selbst habe erleben müssen, wie etwa in einer kirchlichen Weiterbildung ein Theologe an einem bunten Abend öffentlich die freikirchliche Kultur des »Zeugnisgebens« bzw. der öffentlichen Bekundung eines Bekehrungserlebnisses in einem kleinen Anspiel lächerlich machte: eine gelungene theatralische Aufführung, die zur großen Erheiterung des Kurses beitrug. Aus dieser vielleicht etwas peinigenden Verdichtung wird vielleicht auch affektiv deutlich, dass nur unter der Bedingung einer reflektierten und emotional verantwortbaren Grundhaltung gegenüber Menschen generell (was auch immer ihnen wichtig ist) erstens diejenige notwendige innere Zuwendung entwickelt werden kann, die es gerade im Umgang mit fundamentalistisch kommunizierenden Jugendlichen braucht, und zweitens die Voraussetzung geschaffen wird, von der Klientel überhaupt ernst genommen wird.
Wer ist ein Fundamentalist? Womit wir beim nächsten Problem wären. Denn wer ist ein Fundamentalist? Und wen meinen wir, wenn wir von »fundamentalistischer Kommunikation« sprechen? Ist es überhaupt sinnvoll, mit einer solchen »nosologischen Einheit« zu operieren oder handelt es sich um eine Phantasiekategorie zur Abgrenzung des gesunden Menschenverstandes über Menschen oder Menschengruppen, die sich an die eigenen Realitätsstandards nicht anpassen wollen und die deswegen mit einem solchen Begriff ausgegrenzt werden können? Fokussieren wir nochmals jenen Theologen, dem nach seiner praktisch-theologischen Groteske zugetragen wurde, dass ich mit einer Baptistin verheiratet bin. Er fasste sich dann ein Herz, kam zu mir, bekundete, dass ihm diese Entgleisung peinlich sei und dass er nicht gewusst habe, dass er sich über mittelbar Anwesende lustig gemacht hatte. Auch im Nachhinein war das eine lehrreiche Erfahrung für uns beide. Denn über »Fundamentalisten« spricht man nur im Modus ihrer Abwesenheit und wenn klar ist, dass »wir Anwesenden« natürlich alle keine Fundamentalisten sind. Wer also muss als Fundamentalist gelten und sich daher gefallen lassen, an dieser Stelle als religionspädagogisches Problem in den Blick genommen zu werden? Menschen, die an »Wunder« glauben? Menschen, die an »Bekehrung und Wiedergeburt« glauben? Menschen, die an die Jungfrauengeburt glauben? Menschen, die an die Realität von Gottes Segen glauben? Vielleicht generell Menschen, deren Glaube sich gängigen Diskurs- und Rationalitätsstandards nicht fügen will? Vielleicht überhaupt Menschen, die an Vorgänge glauben, für die es keinerlei wissenschaftlichen Beleg gibt und daraus normative Vorgaben für ihr Leben und ihre Gemeinschaften und Kirchen ableiten?
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Das »Übersinnliche« und die Moral Vielleicht führt dieser Bezug auf Übersinnliches einen Schritt weiter in Hinblick auf ein Verständnis des Phänomens. Denn der weltanschaulich gefestigte Bezug auf übersinnliche Realitäten ist erst im Jugendalter sinnvoll möglich, da erst hier sich das Denken in Möglichkeiten und reinen Negationen entwicklungspsychologisch entfaltet. Für Jugendliche kann der reine Möglichkeitssinn – religionsproduktiv gewendet – utopisch-ideale Sphären schaffen, die eine kathartische Entlastung von der eher sinistren Gegenwart erzeugen und dann in Ergänzung dazu komplette Negationen des Bestehenden aus sich heraus setzen können. Das ist an sich ein ganz normaler Vorgang, der durch Massenmedien, Videospiele etc. spielerisch erfolgreich kathartisch bedient wird, um die damit gebundene Aufmerksamkeit danach wieder in den Alltag einer durchrationalisierten Gesellschaft zurückfluten zu lassen. Die fundamentalistische Lösung könnte sich dann dadurch auszeichnen, dass sie diesen hydraulischen Vorgang mit einer semipermeablen Membran versieht, sodass der Hin- und Rückfluss zwischen arbeitsweltlichen Spannungsaufbau und bewusstseinsindustrieller Entlastung gestoppt wird, sodass die medial-kathartischen Bilderwelten sich zu einer utopischen Sphäre ausweiten, in der alle Spannungen und Probleme der Gegenwart mystizistisch gelöst werden. So gesehen wären religiöse Lösungen generell nichts anderes als kathartische Ablenkungen, Entlastungen oder Projektionsangebote, um die Spannungen einer durchrationalisierten Welt ertragen zu können. Diese massenhaft wirksamen Muster funktionieren aber nur so lange, als ein Individuum sich überhaupt auf die postmoderne Gesellschaft als erlebniszentriertes Angebot einlässt. Sobald aber die normative Frage gestellt wird (und Jugendliche haben ein Recht darauf, diese Frage an die Erwachsenenwelt zu stellen, denn diese Frage wurde schon immer an sie gestellt), laufen alle diese kathartischen Angebote strukturell ins Leere. Denn sie alle fallen selbst unter den entwicklungspsychologischen Potenzialitäts- und Negationsvorbehalt. Der jugendliche Blick auf das Elend der Welt2, die damit einhergehende moralische Empörung und die dichotomen kognitiven Muster der mittleren Jugendphase bilden dann – einschließlich der neu erworbenen Kompetenz, Beziehungen aufgrund von moralischen Kriterien zu beenden und andere neu zu starten – eine Melange, die Jugendliche anfällig für fundamentalistische Lösungen machen kann.
2 Bourdieu, 2010.
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Der Umgang mit dem Elend der Welt und die politische Option Damit lässt sich religionspädagogisch nur sinnvoll umgehen, sofern der Pädagoge selbst eine empathische und zugleich mündige, also distanzierungsfähige Haltung gegenüber dem Elend der Welt einnehmen kann. Das heißt, er muss sowohl moralisch zentriert und dichotom kommunizieren können als auch Hinweise darauf geben, dass die Wirklichkeit meistens komplexer strukturiert ist, als die Jugendlichen vordergründig zu sehen bereit sind. Ohne eine Anerkennung und sittlich klare Bewertung des Leidens wird es keine gemeinsame Basis in der Kommunikation mit fundamentalistisch orientierten Jugendlichen geben. Das bedeutet konkret, dass man religionspädagogisch zwischen zwei Optionen navigieren sollte: Erstens einer klaren Bejahung der Probleme, auf welche die Jugendlichen weitgehend nur mit dichotomen Mustern zu reagieren in der Lage sind. Zweitens dem Hinarbeiten auf die Anerkennung, dass die Welt, in der wir leben, immer auf Kompromissen und zweitbesten Lösungen basiert und deswegen nicht als Ganzes diffamiert und daher mit »totalen Lösungen« umgeschrieben werden darf. Damit wären wir bei einem weiteren, im öffentlichen Diskurs immer wieder monierten Merkmal des Fundamentalismus: seiner spezifischen Synthese von Religion und Politik. Religiöse Akte konstituieren transzendentalpragmatisch immer wieder die Notwendigkeit von Einheit in der Wahrheit des menschlichen Bewusstseins.3 Es gehört zu den Reifungsschritten Jugendlicher auf dem Weg in einen demokratischen Verfassungsstaat, dass der säkulare Staat keine normativen Vorgaben in Hinblick auf die Gestalt dieser Einheitsformen vorgibt. Vielmehr besteht Religionsfreiheit und das bedeutet insbesondere, dass es außerhalb verfassungsmäßiger Vorgaben keine mystische Einheit und Wahrheit des Staates geben kann, die sich dann in einer Religion, einer Partei und einer Staatstheologie zeigen würde4. Die ästhethische und religiöse Zurückhaltung des modernen Staates bei gleichzeitiger Hervorhebung rein funktionaler Notwendigkeiten bedeutet für Jugendliche, die »das Elend der Welt« sehen, eine ungeheure Anpassungsleistung. Denn der moderne Staat verweigert sich einer religiösen Ritualund Symbolpolitik, in der sein Staatsvolk als mystischer Körper vereint und unter Ausstoßung alles Unwahren und Unheiligen je neu als totale theokratische Ordnung verwirklicht würde.5 Eine derartige Staatsmystik wäre aber genau jene makrosoziologische Abbildung des bereits behandelten jugendlichen Egozentrismus, der aufgrund seiner formalen Operationen die gesamte Welt als Totalverlust abschreiben und 3 Vgl. Barth, 2005: 465 ff. 4 Vgl. Karow, 1997. 5 Vgl. oben.
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sich stattdessen in idealisierte Sozialformen hineinzugeben bereit ist, deren Schattenseiten dann ebenso dichotom ausgeblendet werden wie der Rest der Welt auch. Wir haben es also im Extremfall mit einer doppelten Abspaltung zu tun: einerseits von der Welt in ihrer Ambivalenz und Differenziertheit (um gemeinsam zur Gruppe der perfekten Auserwählten zu gehören), andererseits von den Schattenseiten eben jener Gruppe der Auserwählten (um die Perfektibilität der Auserwählten auch gegen ihre eigenen Defizienz stabil zu halten).
Kommunikationsfähigkeit Es empfiehlt sich also, mit derartigen Fundamentalismen auf Grundlage entwicklungspsychologisch fortgeschrittener dialektischer und synthetischer Muster zu kommunizieren. Generell sollte auf Polarisierungen verzichtet werden, sodass die drei Variablen der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl Rogers voll zur Geltung kommen. Denn anderenfalls gerät man leicht in die Falle einer eigenen Dichotomisierung der Welt, in welcher dann der »Fundamentalist« zu »den Bösen« und man selbst zu »den Guten« gehört. Es empfiehlt sich, die oftmals sehr klaren gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen zu affirmieren und zum Beispiel Schritte vorzuschlagen, wie man selbst konkrete Probleme lösen kann. Dabei dürfte auch der Kontakt zu positiven gesellschaftlichen Leitbildern wichtig sein: Bei der Wahrnehmung ethnischer Diskriminierung könnte man zum Beispiel einen Tag bei einem Träger der Flüchtlingshilfe verbringen und damit gemeinsam mit den Jugendlichen zur Kenntnis nehmen, dass es Personen gibt, die über eine komplexe dichotome Problemwahrnehmung verfügen, die damit verbundenen moralischen und normativen Affekte aber in konkretes gesellschaftsrelevantes Handeln umsetzen. Die fundamentalistische Ideenwelt kann dann als normativer Selbstfindungs- und Selbstvergewisserungsprozess gewürdigt werden: »Prima, dass Du Dir auf Grundlage Deiner Religion so Gedanken über die Diskriminierung von Flüchtlingen machst. Mir geht’s genauso wie Dir, wenn ich diese Bilder über Misshandlungen von Flüchtlingen sehe. Ich kann Deine riesige Wut verstehen. Ich fühle und sehe das in weiten Teilen genauso. Aber ich glaube nicht, dass Deine radikale Lösung hier konkret weiterhelfen würde. Und deswegen habe ich mich dazu entschlossen, auch in meinem Beruf jeden Tag neu dabei mitzuhelfen, dass die Situation sich wirklich schrittweise verbessert.« – Im Kontrast zum religiösen Mystizismus und selbstgenügsamen Ästhetizismus einer geschlossenen fundamentalistischen Position sollte der thematische Fokus immer wieder auf konkrete normative Ansprüche an das Alltagsleben gelegt werden. Dieses Alltagsleben darf selbst-
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verständlich immer auch ein Ausdruck letzter Rationalitäten und thematischer Referenzen sein. Es empfiehlt sich, hier einfach tolerant auch gegenüber festgefügten Vorstellungen zu sein, schlicht die Praxis eigener und fremder Lebensführung in den Blick zu nehmen, um auf dieser Grundlage normative Überzeugungen auszutauschen und im Zweifel auch stehen zu lassen.
Vorgaben der deutschen Verfassung An dieser Stelle muss nun die Frage nach den Kriterien für religionspädagogische Normativität aufgeworfen werden, wenn man nicht alles Fremde als fundamentalistisch diffamieren und damit in einer theologischen Groteske enden will. In Hinblick auf religionspädagogische Maßnahmen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland gilt zunächst § 1 KJHG, wo das Recht eines Kindes und Jugendlichen auf Erziehung zu einer eigenständigen und sozial verantwortlichen Persönlichkeit6 direkt auf das normative Menschenbild des Grundgesetzes referiert,7 wie es im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes8 ausgelegt wurde. Es lohnt sich, hier weiterzudenken. Laut Bundesverfassungsgericht versteht das Grundgesetz den Menschen in der Spannung zwischen Selbststand und Sozialbezug. Der Selbststand definiert sich a. über die Sittlichkeit und Eigenständigkeit, b. über die Selbstverantwortlichkeit, c. über das Recht zur Selbstbestimmung und d. über die Abwehr einer Reduktion des Menschen zum Objekt. Der Sozialbezug definiert sich a. über die Hinordnung des Menschen zur Gemeinschaft und b. über die Begrenzung individueller Freiheit bzw. der Pflichtgebundenheit des Menschen. Das Menschenbild des Grundgesetzes wird im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Pflichtgebundenheit akzentuiert. Grundsätzlich bejaht die Verfassung beide Pole, die sie im Sinne eines Entfaltungsprozesses aufeinander bezieht: Der Mensch ist »eine eigenverantwortliche Persönlichkeit, die sich innerhalb der 6 Rätz-Heinisch, Schröer u. Wolff, 2014: 59 ff. 7 Becker, 1996 sowie Häberle, 2008. 8 Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, »daß sich die Menschenbildformel insbesondere aus einer Gesamtsicht von Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG ergebe.« (vgl. Becker, 1996: 88 und BVerGE 4,7 (16).
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sozialen Gemeinschaft frei entfaltet.«9 Die soziale Gemeinschaft und auch alle religiösen Gemeinschaften auf dem Territorium dieses Landes werden damit als Gefüge verstanden, in dem die persönliche und das heißt eben auch religiöse Entfaltung des Menschen geschehen kann. Die dem Menschen zugesprochene religiöse Entfaltung wird aber nicht als rücksichtsloser Selbstverwirklichungsprozess verstanden. Der Mensch soll sich im Rahmen seiner Entfaltung nicht im Sinne eines selbstherrlichen Individualismus entpflichten. Denn das Menschenbild des Grundgesetzes ist »nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit.«10 Im humanen Selbstentfaltungsprozess konkretisiert sich vielmehr die im Menschen bereits angelegte Gemeinschaftsbezogenheit. Man kann daher sagen, dass der Eigenstand des Menschen sich in sozialen Relationen biographisch auslegt und auch religiös zu konkretisieren vermag. Daher kann der eigenständige Mensch vielfältig sozial und eben auch religiös verpflichtet werden (und sich auch selbst verpflichten), ohne dass damit sein Eigenstand Schaden nehmen würde. Die relative religiöse Verpflichtung ermöglicht vielmehr den humanen Selbstentfaltungsprozess des Menschen. Der humane Selbstentfaltungsprozess und damit auch die religiöse Individuation unterliegen aber zwei Gefährdungen. Einerseits kann der Einzelne im Rahmen dieses Prozesses nicht in ein derart striktes Verpflichtungsgefüge eingebunden werden, dass er zum bloßen funktionalen Objekt seiner Religion wird. Das Menschenbild des Grundgesetzes sieht hingegen vor, dass der Eigenstand des Menschen bei aller Sozialverpflichtung gewahrt bleiben soll. Religiös herabwürdigende Maßnahmen unterliegen also nicht dem Grundrechtsschutz. Andererseits kann der Einzelne im Rahmen dieses Prozesses seinen Eigenstand derart strikt aktualisieren, dass er sich sozial völlig entpflichtet und sich zu einem selbstherrlichen Wesen entstellt. Eine religiöse Selbstentstellung zu einem über Recht und Gesetz erhabenen geistigen Führer oder Hassprediger wird ebenfalls nicht durch das Gesetz gedeckt. Im ersten Fall regrediert der Mensch – unter Ausblendung seiner Subjektnatur – zu einem totalen Objekt anderer Interessen, im zweiten Fall inflationiert er unter Ausblendung seiner Objektnatur zu einem totalen Subjekt seiner eigenen, von Gott ununterscheidbar gehaltenen Interessen.11 Stattdessen fordert das Menschenbild des Grundgesetzes von seinen Staatsbürgern eine Balancierung der sozialen Lebensführung zwischen Eigenstand und Sozialverpflichtung, zwischen Innen und Außen. Wenden wir diese Formulierung religiös, dann geht es um eine Balance zwischen mystisch/spiritueller Er9 BVerfG 30,173 (193). 10 BVerfG 30,173 (193). 11 Zu den soziobiologischen Voraussetzungen dieser Form von Religiosität vgl. Griffith, 2013: 33 – 57.
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fahrung und sozialethischem Handeln. Aus dieser Sicht ist jedes religionspädagogische Handeln durch das KJHG und das Grundgesetz gedeckt, das Jugendliche dazu befähigt, diese Balance zu approximieren. Auch in den religiösen Aspekten ihrer Lebensführung sollen deutsche Staatsbürger eine Balance zwischen Eigenstand und Sozialverpflichtung finden, sodass sie weder die gottunmittelbare Selbstherrlichkeit erleuchteter religiöser Führer inflationieren noch in die funktionalistische Selbsterniedrigung religiös abhängiger Mündel regredieren.
Grundgesetzwidrige Religiosität? Bezieht man beide interaktiven Zerrformen aufeinander, so bilden sie zwei komplementäre Positionen einer typischen grundgesetzwidrigen Religiosität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Religion dazu missbraucht wird, die eigene Gruppe aus allgemeinen gesetzlichen Verpflichtungen auszukoppeln und sie in eine solche normative Selbstherrlichkeit zu manövrieren, dass andere Menschen aus der Perspektive dieser Eigenstandsinflation zu Objekten herabgewürdigt werden. Diese Fehlhaltung kann auch als religiöse Funktionalisierung von Menschen durch andere Menschen beschrieben werden. Der religiös funktionalisierte Mensch wird dabei ohne Rücksicht auf seinen Eigenstand wie eine Sache oder ein bloßes Mittel verwendet. Wenn man Derartiges bei Jugendlichen wahrnimmt, sollten die normativen Brüche angesprochen werden, die sich zwischen den religiösen Ansprüchen und dem konkreten Sozialverhalten auftun. Man sollte die Konfrontation aber genau justieren, um keine Beziehungsabbrüche zu riskieren: »Du sagst, dass Du Gottes Wille auf Erden realisierst. Und dennoch fällst Du mir permanent ins Wort? Ich finde das ganz schön egoistisch. Ich finde, Gottes Wille kann es nicht sein, dass man sich unfaire Sonderrechte herausnimmt.« – Diese Konfrontationen sind nun aber insofern herausfordernd, als dass der jugendliche Egozentrismus sich gerne auch daran nähren kann, sich als funktionales Mittel für übergeordnete wichtige und weltrettende Zwecke zur Verfügung zu stellen. Die Funktionalisierung darf in grundgesetzstimmigen Interaktionen aber niemals so weit gehen, dass der funktionalisierte Mensch den eigenen Subjektstatus verliert. Er soll bei aller Funktionalisierung seinen Eigenstand jederzeit geltend machen können. Und eben das kann man gegenüber steilen Behauptungen immer wieder konkret nachfragen: »Du sagst, dass Du nun endlich weißt, wer Du bist. Aber ich höre permanent nur, was Dein Vorbild Dir sagt. Hast Du auch eine eigene Meinung? Du, ich interessiere mich dafür, erklär mir mal, wie kommst Du auf diese Idee …?« Wer sich also einer Religion verpflichtet, hat immer noch das Recht auf eine eigene Meinung über diese Religion. Grundgesetzwidrig wird eine Funktionali-
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sierung also dann, wenn dem Menschen eine exzentrische Position zu seiner eigenen Sozialverpflichtung verunmöglicht wird, wenn der Mensch religiös so vereinnahmt wird, dass er keine eigene Stellungnahme zum ihm funktionalisierenden Umfeld mehr abgeben kann. Es geht kurzum darum, dass zukünftige Bundesbürger auch ihre religiöse Lebensführung so gestalten lernen, dass sie sich ihres Eigenstandes wohl bewusst sind, diesen aber weder selbstherrlich gegen andere Menschen ausspielen noch sie sich selbst erniedrigen oder verachten lassen. Es verbietet sich im Sinne des Grundgesetzes also, Menschen religiös so zu verpflichten oder sich selbst so verpflichten zu lassen, dass der eigene Subjektstatus verloren geht und man quasi zu einem religiösen Funktionsmedium regrediert. In Gesprächen mit anfälligen Jugendlichen ist alles daranzusetzen, dass sie als religiös verpflichtete Menschen ernst genommen werden. Gleichzeitig muss ihnen aber eine so sichere und verbindliche Beziehung angeboten werden, dass sie immer noch in der Lage bleiben, eine exzentrische Position zur eigenen religiösen Verpflichtung einnehmen zu können. Um in dieser Dialoglage aber überhaupt ernst genommen zu werden, sollte man als Gesprächspartner selbst religiös verpflichtet und das heißt – auch in der Fehlbarkeit der eigenen Lebensführung – auf unverhandelbare Werte hin ansprechbar sein. Reaktionen wie zum Beispiel »Du sprichst doch nur mit mir, weil es Dein Job ist. In Wahrheit bin ich für Dich doch nur eine Nummer und Du hast mich vergessen, wenn Du nach 13 Uhr Schulschluss hast« sollten aber auf eines hinweisen: Die begrenzte Schulsituation birgt im Umgang mit diesem entgrenzenden Phänomen Hindernisse, die man nur im offenen Setting einer religionspädagogisch genau justierten außerschulischen Jugendarbeit überwinden und im Sinne des Erziehungsrechtes der Jugendlichen gestalten kann.
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Jürgen Eilert
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André Armbruster
Zur Komplexität religiös-fundamentalistischer Selbstmordattentate – ein habitus- und feldtheoretisches Forschungsprogramm
Einleitung1 Selbstmordattentate gehören inzwischen zum Standard-Repertoire religiösfundamentalistischer Terrororganisationen und sind in einigen Regionen der Welt trauriger Alltag. Trotzdem sind sie extrem voraussetzungsreiche soziale Phänomene, die sich in bestimmten Kontexten ereignen und nur von bestimmten Personen verübt werden. Die These meines Beitrags ist daher, dass Selbstmordattentate im Namen der Religion aufgrund der Voraussetzungen komplexe soziale Phänomene sind. Will man sie erklären, greifen vermeintlich einfache Antworten, die etwa ausschließlich die Motive der Attentäter2 oder das Gewaltpotenzial der Religion fokussieren, zu kurz. Es bedarf einer Analyse, die verschiedene Ebenen des Sozialen gleichzeitig, aber je angemessen in den Blick nehmen kann und die jedoch auch auf einer soliden theoretischen Basis die verschiedenen Ebenen integrieren kann. Insofern ist es das Ziel meines Beitrags, den Weg zu einer solch komplexitätsorientierten Analyse aufzuzeigen. Allerdings kann die Analyse selbst nicht durchgeführt werden. Denn zum einen würde dies den Rahmen des Beitrags über alle Maßen sprengen und zum anderen steht die Analyse selbst noch aus, da sie Teil eines längeren Forschungsprojekts ist, das sich noch im Beginnen befindet. Was jedoch geleistet werden kann, ist, ein durchführbares Forschungsprogramm aufzuzeigen und es mit ersten vorläufigen Ergebnissen zu illustrieren. Die theoretische Grundlage für eine solche Analyse, für die ich hier werben will, ist die Praxistheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, insbe1 Erste Überlegungen für diesen Beitrag habe ich beim Kolloquium der Lehrstühle für allgemeine und theoretische Soziologie an der Universität Duisburg-Essen vorgestellt. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie insbesondere Gregor Bongaerts für kritische Anmerkungen und wertvolle Hinweise. 2 In diesem Beitrag spreche ich von Attentätern, da dies der empirisch häufigere Fall ist. Zwar verüben auch Frauen zunehmend Selbstmordattentate, jedoch in dem Fall, an dem ich einige Überlegungen erläutern will, sind nur männliche Attentäter beteiligt gewesen.
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sondere die darin enthaltene Habitus- sowie Feldtheorie3. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Theorien überwindet sie den Dualismus von Handlungs- und Strukturtheorie4, indem sowohl Handlungen des Akteurs als auch soziale bzw. gesellschaftliche Strukturen in Blick genommen werden können. Der Vorteil einer Analyse in dem Bourdieu’schen Denkmodell ist, dass Akteure mit ihren historisch entstandenen Präferenzen für Handeln, Entscheiden und Geschmack und die objektiven, das heißt gesellschaftlichen Strukturen zugleich erfasst werden können. Damit kann die soziale Welt zur Erklärung religiös motivierter Selbstmordanschläge in Gänze in den Blick genommen werden, sodass der Komplexität des Phänomens angemessen Rechnung getragen wird. Allerdings ist die Erklärung einer konkreten Handlung – warum sie sich also zu diesem Zeitpunkt genau in dieser Form und nicht anders ereignet hat – von einem logischen Standpunkt aus gesehen unmöglich. Denn Handlungen von Akteuren sind kontingent, sie sind weder determiniert noch unmöglich.5 Eine Handlung kann immer auch anders ausfallen, da schon rein logisch andere Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, wie beispielsweise die Exit-Option zum Abbruch der Handlung oder Interaktion. Die Attentäter vom 11. September 2001 beispielsweise hätten sich auch in letzter Sekunde entscheiden können, die Flugzeuge nicht ins World Trade Center zu fliegen.6 Ein Forschungsprogramm, das bei Selbstmordattentaten als soziale Handlung ansetzt und die Kontingenz des Sozialen im Blick hat, muss fragen, welche Bedingungen das Attentat möglich gemacht haben. Im Vordergrund stehen in meinem Beitrag die sozialen Bedingungen der Möglichkeit des Selbstmordattentats. Als empirisches Beispiel habe ich Selbstmordattentate im Libanon in den Jahren 1982 und 1983 gewählt, die ich im folgenden Abschnitt kurz skizzieren will. Daran schließe ich ausgewählte Erklärungsansätze religiöser Gewalt an, die jedoch allesamt die Komplexität von Selbstmordattentaten nicht fassen können. Dementsprechend fallen die Erklärungen auch zu simpel aus. Im Hauptteil meines Beitrags stelle ich ein praxistheoretisches Forschungsprogramm vor. Dabei gehe ich noch einmal in aller Kürze auf die Vorteile der Soziologie Bourdieus ein, um darauf aufbauend verschiedene Ebenen des Sozialen zu adressieren, um die Bedingungen der Möglichkeit der Selbstmordanschläge darstellen zu können. In diesem Abschnitt werde ich auch in soziologischer 3 Bourdieu, 1993, 2001, 2009. 4 Für Erstere steht exemplarisch die Rational-Choice-Theorie (siehe für den deutschen Raum Esser, 1993), für Letztere die Systemtheorie (siehe dazu prominent Luhmann, 1984). 5 Siehe hierzu die inzwischen klassische Definition von Niklas Luhmann (1984: 152): »Der Begriff [der Kontingenz; A. A.] wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.« 6 Zugegebenermaßen ist dies nicht realistisch, aber als Option dennoch theoretisch möglich.
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Perspektive auf den religiösen Fundamentalismus eingehen. Im Fazit werden methodische Herausforderungen und mögliche Anschlüsse aufgezeigt.
Schiitische Selbstmordattentate im Libanon 1982/1983 Ich möchte in diesem Abschnitt in aller Kürze auf vier Selbstmordanschläge eingehen, die in den Jahren 1982 und 1983 im Libanon verübt worden sind,7 um daran in der weiteren Darstellung einige Punkte illustrieren zu können: Am 11. November 1982 verübte der erst fünfzehnjährige Ahmad Qasir einen Anschlag auf das israelische Militärhauptquartier in der südlibanesischen Hafenstadt Sur (Tyre). Bei diesem Anschlag starben 74 israelische Soldaten und 14 weitere Personen.8 Am 18. April 1983 fuhr ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen Wagen in die US-amerikanische Botschaft in Beirut,9 bei dem 30 Menschen ums Leben kamen und 100 Menschen verletzt wurden. Am 23. Oktober desselben Jahres wurden zeitgleich zwei Selbstmordanschläge verübt, der eine hatte das Lager der US-Marines und der andere die Basis der französischen Fallschirmspringer in der Nähe Beiruts zum Ziel. Beide Anschläge zusammen hatten 298 Tote und 85 Verletzte zur Folge. Die Anschläge folgten dabei immer demselben Muster, indem ein Wagen oder LKW mit Sprengstoff beladen, neben dem Ziel abgestellt und vom Fahrer gesprengt wurde, während dieser in dem Wagen saß.10 Der erste Anschlag im Jahr 1982 galt zunächst nicht als Anschlag, denn er wurde von den israelischen Verantwortlichen als Gasexplosion betitelt. Erst drei Jahre später feierte die libanesische Hisbollah den Anschlag als Selbstmartyrium.11 Zu den Anschlägen auf die amerikanische Botschaft sowie die amerikanischen und französischen Soldaten bekannte sich eine Gruppe namens Islamischer Dschihad.12 Wenig nur ist über diese Gruppe bekannt, in der Literatur rechnet man jedoch inzwischen auch die Anschläge aus dem Jahr 1983 der Hisbollah zu, da die Gruppe Islamischer Dschihad als »the clandestine arm of Hizbullah« verstanden wird.13 In der Logik der Attentäter und der dahinterstehenden Organisationen bzw. Gruppen waren alle Anschläge sehr erfolgreich, da sie zum einen viele amerikanische und französische Soldaten in den Tod rissen. Zum anderen hatten sie zur Folge, dass die amerikanischen und französischen 7 8 9 10 11 12 13
Siehe zum Folgenden Kramer, 1996; Azani, 2011; Rosiny, 2012. Kramer, 1996. Azani, 2011: 66. Kramer, 1996. Kramer, 1996: 1. Malthaner, 2011: 83; Kramer, 1997. Kramer, 1997: 17; Appleby, 2000: 97; Merari, 1990: 203 f.
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Streitkräfte, die im Libanon stationiert waren, abgezogen wurden. Daher auch die Bezeichnung der Hisbollah als »Bezwinger Amerikas«.14 Für eine Analyse über religiöse Gewalt in Form von Selbstmordattentaten eignen sich die beschriebenen Ereignisse gut, da sie einerseits inzwischen befriedigend wissenschaftlich aufgearbeitet sind. Es gibt eine Reihe von Studien zur Hisbollah15 sowie zum Libanon und den Schiiten im Libanon.16 Andererseits ist das Besondere an den Anschlägen, dass sie ein neues Moment aufwiesen, indem zum ersten Mal Selbstmordattentate im Namen des schiitischen Islam verübt worden sind.17 Zwar waren Selbstmordattentate an sich kein neues Phänomen, aber der bewusste Tod des Attentäters, der Selbstmord als religiöse Handlung, war das Ungewöhnliche und Neue, denn, wie der Religionswissenschaftler David Cook feststellt: »The suicide attack was unknown in classic jihad«.18 Es kam jedoch im Libanon der 1970er und 1980er Jahre zu einer Umdeutung vom Selbstmord zum Martyrium. Wenn wir also hier nach den Bedingungen der Möglichkeit von religiösen Selbstmordattentaten fragen, bieten die vorgestellten Beispiele die Chance, auch die gesellschaftlichen Strukturen zu untersuchen, indem wir diese Umdeutung als Ausdruck des Wandels in der religiösen Sphäre analysieren können.
Unterkomplexe Erklärungen Analysen religiös-fundamentalistischer Selbstmordattentate müssen also nicht nur die Handlung des Attentäters erklären, sie müssen auch die Umdeutung vom Selbstmord zum Martyrium in den Blick nehmen können, da ansonsten die Bedingungen der Möglichkeit von Selbstmordattentaten nicht adäquat erfasst werden können. In diesem Abschnitt werde ich ausgewählte Ansätze darstellen.19 Sie alle scheitern an der Erklärung, denn alle setzen eine Perspektive absolut und 14 Abdel-Samad, 2014b: 60. 15 Avon u. Khatchadourian, 2012; Azani, 2011; Malthaner, 2011; Rosiny, 2005, 2012; Sakmani, 2008. 16 Rosiny, 1996; Endres, 2004; Rieck, 1989; Zein al Din, 2010. 17 Gemein u. Redmer, 2005: 251 f. 18 Cook, 2011: 289. Selbstmordattentate sind per se ein modernes Phänomen, da sie ohne Sprengstoff nicht denkbar sind (Gambetta, 2005a: 282 ff.). Dabei sind die Attentate von Himmelfahrtskommandos zu unterscheiden, weil es von immenser Bedeutung ist, durch wessen Hand der Tod erfolgt: Bei Selbstmordanschlägen liegt eine Selbsttötung vor, wohingegen beim Himmelfahrtskommando noch immer der Gegner tötet, auch wenn der Tod von vornherein feststeht. 19 Seit den Anschlägen vom 11. September 2011 ist die wissenschaftliche Literatur zu Selbstmordattentaten nicht mehr zu übersehen. Eine ausführliche und abschließende Übersicht über den Stand der Forschung kann infolgedessen hier nicht geleistet werden. Siehe dafür unter anderem Gambetta, 2005b.
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können dadurch die Komplexität und die Vielschichtigkeit des sozialen Phänomens Selbstmordattentat nicht fassen. Zuerst werde auf das Gewaltpotenzial der Religion eingehen. Anschließend zeige ich, dass Selbstmordattentate nicht durch die Motive der Akteure oder durch deren rationale Kalküle erklärt werden können. Den Abschluss dieses Abschnitts bildet Randall Collins’ Reduktion auf Gewaltsituationen. Dieser Abschnitt ist ein indirekter Beweis meiner These, da Selbstmordattentate nicht monokausal und damit unterkomplex erklärt werden können.
Das (scheinbare) Gewaltpotenzial der Religion Religiöse Konflikte und Gewalt werden oftmals schnell damit erklärt, dass den Religionen, vor allem den monotheistischen, ein Gewaltpotenzial inhärent sei,20 wobei besonders häufig der Islam adressiert wird. Man denke hier nur an die Ausführungen von Samuel Huntington, der Konflikte zwischen dem Christentum und dem Islam »der Natur dieser beiden Religionen und der auf ihnen basierenden Kulturen« entspringen sieht.21 Gewaltsame religiöse Konflikte seien insofern unvermeidlich, als sie natürlich gegeben seien. Einen Schritt weiter noch geht seit Neuestem Hamed Abdel-Samad22 : Der Islam sei im Kern faschistisch und führe so zwangsläufig zu Gewalt. Ihm zufolge verfüge der Islam somit nicht nur über ein Potenzial zur Gewalt, sein faschistischer Kern ziehe unabwendbar Gewalt nach sich. Ich werde in diesem Abschnitt genauer auf die Ausführungen von Abdel-Samad eingehen, da hier explizit und ausschließlich die Religion als Gewaltursache thematisiert wird. Nach Abdel-Samad23 zeichne sich der Islam durch den unbedingten Gehorsam seiner Anhänger aus und dulde keine abweichenden oder eigenen Meinungen; außerdem strebe der Islam die Weltherrschaft an. Da dies die bestimmenden Aspekte seien, könne man, so Hamed Abdel-Samad weiter, von einem »Islamofaschismus« sprechen. Begründet liege dies in den Taten des Propheten Mohammed selbst, denn: »Mohamed versetzte seine Gegner durch Gewalt in Angst und Schrecken und pflanzte die Saat der Intoleranz in das Herz des Islam. Dank Mohamed wurde ein einst multireligiöses Zentrum monotheistisch. Dank ihm wurde der Gott des Islam ein erhabener, unberechenbarer und wütender Gott. Ein Gott, der immer diktiert und nie verhandelt, der Abtrünnige mit Höllenqualen bestraft, über Leben und Tod richtet und nie in Frage 20 21 22 23
Siehe u. a. die Beiträge in Walter, 2005. Huntington, 2006: 337. Abdel-Samad, 2014a. Abdel-Samad, 2014a: 11.
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gestellt werden darf. Ein machtbesessener, eifersüchtiger Gott, der keine Götter neben sich duldet und für den Erhalt seiner Macht über Leichen geht.«24
Der islamische Faschismus führe immer zu Diktaturen wie etwa im Sudan, Iran oder in vielen Ländern Nordafrikas. Diese Diktaturen bestünden wie Zwiebeln aus verschiedenen Schichten, wobei jedoch der Kern immer die islamische Religion bilde, der »die totalitären Grundzüge des Islam« zeige.25 Die islamischen Gesellschaften im Nahen Osten und im Maghreb weisten darüber hinaus Modernisierungsrückstände gegenüber dem Westen auf, da der Islam bzw. die Islamisten diese Gesellschaften von den Errungenschaften der westlichen Moderne abgeschnitten hätten.26 Dieser Rückstand in Verbindung mit einer islamistischen Erziehung, die sich vor allem in Differenz zu anderen – Christen, Juden, Amerika, die westliche Kultur usw. – auszeichne, sei dann auch verantwortlich für den islamistischen Terror, wie etwa die Anschläge vom 11. September 2001: »Mohamed Atta und die 18 übrigen Attentäter sind Kinder einer Generation, die im eigenen Land konservativ erzogen wurde, dort und im Westen den Verführungen der Moderne erlegen ist, die verbotene Früchte gekostet und danach ein schlechtes Gewissen bekommen hat. Ihr Hass auf Amerika war so groß, dass sie bereit waren, sich selbst und Tausende Unschuldiger in die Luft zu jagen, um Amerika weh zu tun.«27
Die Attentate werden in dieser Logik durch »Hass« erklärt, der sich bis zur Religion selbst und ihren Vorschriften zurückverfolgen lasse. Insofern ist nach Abdel-Samad die Religion ausschließlich ursächlich für religiöse Gewalt.28 Durch die Schlichtheit des Arguments29 und die sehr schnell zu beantwortende Schuldfrage (nämlich: die islamische Religion) wirken die Ausführungen attraktiv. Trotzdem sind sie bei genauerer Betrachtung nicht haltbar, da AbdelSamad ein zu simples Geschichtsbild verwendet und die Ambivalenz der Religion30 nicht beachtet – mit beträchtlichen Folgen, wie wir noch sehen werden. Die Vorstellung vom Ablauf der Geschichte kann jedoch schon durch die obigen Ausführungen erahnt werden. Europa und Amerika werden als Ziel- und Endpunkt der menschlichen Entwicklung gesehen, die islamischen Staaten jedoch als rückständig. Begründet wird auch dies mit der islamischen Religion selbst, die aufgrund der im Vergleich zum Christentum und Judentum späteren Entstehung
24 25 26 27 28
Abdel-Samad, 2014a: 66. Abdel-Samad, 2014a: 28. Abdel-Samad, 2014a: 121. Abdel-Samad, 2014a: 125. Im krassen Gegensatz dazu: Stephen Holmes (2005), der bezweifelt, ob Religion überhaupt eine Rolle bei Selbstmordattentaten spielt. 29 Sehr viel differenzierter und daher erkenntnisreicher: Jan Assmann, 2006. 30 Appleby, 2000.
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als »verspätete Religion« bezeichnet wird.31 Wenn aber der Westen sowie das Christentum und Judentum Idealtypen eines geschichtlichen Verlaufs sind, muss der Islam notwendigerweise als mittelalterlich gesehen werden.32 Dieses teleologische Geschichtsbild ist nicht nur falsch, sondern führt auch zu einer Sichtweise des Islam, die durch die von Edward Said33 ausgelöste OrientalismusDebatte eigentlich als überwunden galt. Denn auch bei Abdel-Samad unterscheidet »sich der vernunftgeleitete, hoch entwickelte, humane Westen in einem absoluten, systematischen Sinne von dem anomalen, unterentwickelten, minderwertigen Orient«, wie Said34 es erstmals bereits Ende der 1970er Jahre den Orientalistinnen und Arabisten vorwarf. Man wünscht sich, Abdel-Samad hätte die neuen Erkenntnisse der postkolonialen Studien35 zumindest am Rande wahrgenommen. Dann würde er nicht zu dem Schluss kommen, dass die islamischen Gesellschaften ihre »Hausaufgaben«36 nicht gemacht hätten und insofern gegenüber dem Westen noch einige Entwicklungsschritte nachzuholen hätten. Unhaltbar wird die These des »Islamofaschismus« aber bei der Darstellung des Islam selbst. Denn durch Aussagen wie die genannten »totalitären Grundzüge des Islam« oder »das Herz des Islam« zeigt Abdel-Samad sehr deutlich, dass er die Religion essenzialistisch auffasst. Er definiert den Islam durch besondere – bei ihm: faschistische – Merkmale, die ahistorisch und unveränderbar seien. Aber Religionen, genau wie alle Kulturen, »sind keine zeitlosen Konstanten, sondern unterliegen fortlaufenden Veränderungen. Kulturen haben keine Essenzen, da jede Kultur das historische Ergebnis von Bedeutungserzeugungen ist.«37 Auch hier fällt Abdel-Samad hinter wissenschaftliche Entwicklungen zurück, diesmal jedoch in den Essenzialismus des 19. Jahrhunderts. Führt man diese Überlegung konsequent weiter, trifft sich hier die Koranauslegung und das Islamverständnis Abdel-Samads mit den Überzeugungen der Islamisten, da beide einen wahren Kern und eine absolute Wahrheit der Religion annehmen, die über die Jahrhunderte gleich geblieben ist. Der Unterschied ist nur: Die Islamisten wünschen sich einen Islam, wie sie sich ihn zu Zeiten des Propheten Mohammed vorstellen. Und Hamed Abdel-Samad geht davon aus, dass der Islam noch immer so ist, wie er zu Zeiten Mohammeds war. Anpas31 Abdel-Samad, 2014a: 24. Die Analogie zu den sogenannten verspäteten Nationen wie Deutschland und Italien ist dabei bewusst gewählt. 32 Als Beleg wird ernsthaft der islamische Kalender angeführt, der heute das Jahr 1435 zählt. Und das 15. Jahrhundert liegt bekanntlich im Mittelalter (Abdel-Samad, 2014a: 24). 33 Said, 2009. 34 Said, 2009: 345. 35 Siehe z. B. Kerner, 2010. 36 Abdel-Samad, 2014a: 208. 37 Hahn, 2013: 38.
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sungen, Auslegungen, Veränderungen kommen weder bei den einen noch dem anderen vor. Ambivalenzen, die eindrucksvoll der US-amerikanische Soziologie R. Scott Appleby38 aufzeigt, nämlich dass dieselbe Religion je nach Auslegung Kriegstreiber und Friedensstifter sein kann, können so nicht in den Blick genommen werden. Aber gerade diese Entwicklungen und Auslegungen sind ungemein wichtig in der Analyse von Selbstmordattentaten im Namen der Religion, da nur im historischen und sozialen Kontext die Tat erklärt werden kann.
Motive – soziologisch gewendet Hass, Scham, Aggressivität, Arbeitslosigkeit und viele andere Punkte werden genannt, wenn es um die Motive der konkreten Attentäter geht.39 Dabei geschieht die Suche nach Motiven, die Akteuren ihren Handlungen zuschreiben, oftmals in Anlehnung an die Soziologie Max Webers. Nach Weber ist eine Handlung erklärt, indem die Sinnorientierungen der Akteure rekonstruiert und so verstanden werden.40 Es geht um die Erfassung des subjektiv gemeinten Sinns der Akteure. In unserem Fall kommt es jedoch auf das motivationsmäßige Verstehen an,41 wir müssen also wissen, warum jemand etwas macht, ergo, warum diese Person einen Selbstmordanschlag verübt. Aber gerade diese Suche nach den Sinnorientierungen der Akteure, nach ihren Motiven, ist aus zwei Richtungen zu kritisieren. Einerseits gibt Weber selbst an, dass Handeln zumeist »in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ›gemeinten Sinns‹« verläuft und dass voll bewusstes Handeln »in der Realität immer nur ein Grenzfall« ist.42 Wenn also den Akteuren schon nicht das Motiv voll bewusst ist, wie kann dann eine Analyse das Motiv oder eher: die Motive aufdecken, um so das Attentat zu erklären? Andererseits ist aber der Begriff des Motivs nicht klar gemacht worden. Er wurde bisher grob als Handlungsquelle betrachtet und eher der Psyche zugeschrieben. Mit den amerikanischen Soziologen Hans Gerth und C. Wright Mills43 lässt sich der Motivbegriff jedoch soziologisieren, indem man Motive als Zuschreibungen von Personen für sich selbst und für andere betrachtet. Motive sind dann »die verschiedenartigen Gründe, die Leute für ihre Handlungen angeben«44. Dieser soziologisch gewendete Motivbegriff hat zwei Folgen: Erstens entstehen 38 Appleby, 2000. 39 Für eine Übersicht über mögliche Motive der (islamischen) Attentäter siehe Moghadam, 2003. 40 Weber, 1972: 1; siehe auch Bongaerts, 2012b: 24 ff. 41 Weber, 1972: 4. 42 Weber, 1982: 561 f. 43 Gerth u. Mills, 1973. 44 Gerth u. Mills, 1973: 156; Hervorhebung: A. A.
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Motive retrospektiv, wenn Handlungen gerechtfertigt werden müssen. Das Motiv wird somit erst nach der Handlung konstruiert und fällt als Handlungsantrieb aus. Zweitens sind Motive kontext- und situationsabhängig, da Motive genutzt werden, um »andere davon zu überzeugen, die eigene Handlung zu akzeptieren«45. Sollten Selbstmordattentäter ihre Tat also überleben und würde man sie nach ihren Motiven befragen, hingen die Motive davon ab, wer fragen würde. Es käme zu »Motivdarstellungen«46. Um die eigene Handlung akzeptabel zu gestalten, wären die Motive gegenüber den Opfern andere als gegenüber der eigenen terroristischen Gruppe. Das führt zu dem Schluss, dass es das »wahre« Motiv durch die Kontextabhängigkeit nicht geben kann, da Motive nach dem Gegenüber gewählt werden, also von der Interaktion, den anderen anwesenden Personen und dem Wissen über die Tat abhängen.47 Selbst wenn man unterstellte, dass die Attentäter gegenüber den Opfern lügen würden,48 könnten auch gegenüber den Mitgliedern der Terrororganisation ausschließlich sozial und situativ akzeptierte Motive geäußert werden. Denn das Motiv, dass durch das Attentat die eigene Familie finanziell abgesichert wäre,49 würde wohl kaum Unterstützung bei den anderen Mitgliedern erfahren.50
Selbstmordattentate als nutzenmaximierende Kalküle Eine andere Richtung, Handlungen zu erklären, ist ebenfalls von Max Weber inspiriert: Es handelt sich um die Theorie der Rationalen Wahl, auch bekannt als Rational-Choice-Theorie (RC). Voraussetzung einer Handlung in dieser Theorieperspektive ist, dass der eigene Nutzen bei möglichst minimalen Kosten maximiert wird. Für Selbstmordattentate ergibt das nun aber ein schwerwiegendes Problem, wie Daniel Witte51, selbst ein Vertreter der RC-Theorie, zugibt: »Der RC-Ansatz antizipiert in allen Varianten Akteure, die Handlungsoptionen auf der Basis zukünftiger Folgen, des erwarteten Nutzens sowie der entstehenden Kosten gewichten. Ein Akteur, der seinen eigenen Tod herbeiführt, sich selbst also durch die zu analysierende Handlung als zukünftige Folgen tragendes und abwägendes Subjekt 45 46 47 48 49
Gerth u. Mills, 1973: 157. Kühl, 2014: 75. Kühl, 2014: 75. Aber wie wollte man das feststellen? Dass zumindest theoretisch die Möglichkeit besteht, die Familie durch einen Selbstmordanschlag finanziell abzusichern, zeigt die »lslamic Revolutionary Martyr’s Foundation« der Hisbollah, die die Familien der gefallenen Hisbollah versorgt (Malthaner, 2011: 179). 50 Denkt man diese Argumentation konsequent weiter, hat dies weitreichende Folgen für Gerichtsverhandlungen, da die Motive der Täterinnen und Täter ein wichtiger Faktor in der Urteilsfindung sind. 51 Witte, 2007: 23.
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eliminiert und aus dem Bezugsrahmen der Analyse ausscheidet, entzieht sich auch der Logik und letztlich sogar der Terminologie der Theorie.«
Es ist nicht möglich, das Selbstmordattentat als eine Investition in die diesseitige Zukunft zu sehen. Auch eine Investition in eine jenseitige Zukunft fällt aus, da auch andere, säkulare Organisationen Selbstmordattentate einsetzen. Insofern liegt »in religiösen Glaubenssätzen weder eine notwendige noch eine hinreichende Begründung« zur Erklärung von Selbstmordattentaten vor,52 sodass die RC-Theorie an diesem Phänomen scheitert .53 Allerdings darf man aus dieser Feststellung nicht folgern, dass Attentäter völlig irrational oder ausschließlich impulsiv handeln würden. Das ist allein schon an der Auswahl der Ziele zu sehen: Angegriffen wurden Stützpunkte der israelischen, amerikanischen und französischen Truppen im Libanon, was auch in gewisser Weise erfolgreich war. Die Israelis zogen sich später in den Süden des Libanons zurück, Amerikaner und Franzosen verließen sogar das Land, sodass die Ziele in der Logik der terroristischen Gruppen gut gewählt waren. Das Scheitern der RC-Theorie zeigt lediglich, dass rationale, nutzenmaximierende Kalküle aufgrund des Tods des Attentäters als Erklärung für die Handlung des Akteurs ausfallen.
Reduktion auf Konfrontationsanspannung und -angst Ein letzter Ansatz, den ich hier in aller Kürze vorstellen möchte, ist Randall Collins’ mikrosoziologische Theorie der Gewalt.54 Seine Überlegungen sind sehr attraktiv, da sie die konkreten Situationen, in denen Gewalt auftritt, in den Blick nehmen.55 Collins’ Ziel ist es, »eine allgemeine Theorie der Gewalt als situationsbedingten Prozess herauszuarbeiten. Gewaltsituationen sind durch ein emotionales Feld aus Anspannung und Angst geprägt. Damit der Gewalt Erfolg beschieden ist, müssen diese Anspannung und Angst überwunden werden, etwa durch Umwandlung emotionaler Anspannung in emotionale Energie. Üblicherweise gelingt dies der einen Konfrontationspartei auf Kosten der anderen. Erfolgreiche Gewalt nährt sich insofern von gegenseitiger Konfrontationsanspannung und -angst, als eine Seite den emotionalen Rhythmus beherrscht und die andere als Opfer darin gefangen ist. Allerdings sind wenige Menschen dazu in der Lage.
52 53 54 55
Witte, 2007: 24. Was dies für die RC-Theorie im Allgemeinen bedeutet, sei dahingestellt. Collins, 2009, 2011. Siehe beispielhaft, wie eine an Collins angelehnte Gewaltanalyse aussehen kann, Hoebel, 2014.
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Denn es handelt sich dabei um eine strukturelle Eigenschaft von Situationsfeldern, nicht um eine Eigenschaft von Individuen.«56
Collins’ Ansatz ist damit radikal soziologisch, da er die soziale Situation, die soziale Beziehung der beteiligten Personen in der Interaktion, ins Zentrum seiner Überlegungen setzt. Nach Collins57 »fällt Gewalt so schwer«, da die Hürde aus Anspannung und Angst, die in konfrontativen Situationen entsteht, übersprungen werden muss, was nur auf Kosten der emotionalen Energie der anderen anwesenden Personen passieren kann. Folgt man Collins weiter in seinen Ausführungen, sind Selbstmordattentäter deshalb erfolgreich, weil sie die Konfrontation mit ihren Opfern so lange wie möglich hinauszögern können, da sie schlichtweg nicht zeigen, was sie vorhaben, und so keine Konfrontation entsteht58. Er macht dies an Aufnahmen und Beschreibungen von Attentätern fest, die kurz vor dem Attentat ruhig sind, Blickkontakt meiden und so Anwesenheit minimieren.59 Dies sagt jedoch letztlich wenig darüber hinaus, warum es zu Attentaten überhaupt kommt. Selbst wenn man in Collins’ Theorierahmen bleibt, kann schwer erklärt werden, warum die Attentäter überhaupt ihren Plan fassen, ein Attentat zu verüben. Man kann zwar Aussagen machen, warum das Attentat klappt, und damit insbesondere die Dynamik von Situationen in den Vordergrund stellen, was wenige andere Ansätze schaffen. Es bleibt aber offen, ob Collins erklären kann, was vor der Gewaltsituation passiert. Collins’ Ansatz ist aber auch radikal mikrosoziologisch,60 da er die mikrosoziologische Sichtweise, also die sozialen Situationen, absolut setzt: »Micro-sociology has special significance in the empirical basis of sociology, because everything that happens socially is in a here-and-now sequence of particular people in action. Meso and macro sociology are perspectives constructed from aggregating, comparing and abstracting micro-sociological evidence«61.
Aber gerade diese Reduktion ist zu bezweifeln, da Gesellschaft und seine Teilbereiche durchaus als emergente Sinnzusammenhänge zu sehen sind,62 die sich nicht ohne Weiteres auf die Handlungen der einzelnen Akteure zurückführen lassen.63 Collins kann daher auch nicht die Umdeutung des Selbstmordattentats 56 Collins, 2011: 35. Zu dem Begriff Emotionale Energie siehe auch Collins, 1993, 2005, auf die ich hier nicht eingehen kann. Für eine Kritik an Collins’ begrifflichen und theoretischen Entscheidungen siehe Greve, 2012. 57 Collins, 2011: 46. 58 Collins, 2011: 666 ff. 59 Ähnlich also dem Verhalten in Fahrstühlen, siehe dazu Hirschauer, 1999. 60 Collins, 2012. 61 Collins, 2010: 1. 62 Heintz, 2004. 63 Ein empirisches Beispiel wäre hier die Finanzkrise, die sich nur sehr polemisch durch die »Gier der Banker« monokausal erklären lässt. Als theoretisches Argument, das eben nicht die
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von einer Sünde zu einem Martyrium in den Blick nehmen, da er die Eigendynamik der Religion nicht sehen kann, wenn er alle Änderungen auf einzelne Handlungen von konkreten Personen zurückführen muss.64
Selbstmordattentate als komplexe Praxis Bisher haben wir gesehen, dass Selbstmordattentate durch das Gewaltpotenzial der Religion, die Motive der Attentäter, durch die Suche nach rationalen Kalkülen oder durch die Überwindung von Konfrontationsanspannung und -angst nicht hinreichend zu erklären sind. In dem nun folgenden Hauptteil meiner Ausführungen werde ich ein praxistheoretisches Vorgehen in der Analyse aufzeigen und die Vorteile dieses Wegs herausstellen. Denn mit der theoretischen Option, die Pierre Bourdieu starkmacht, lässt sich der Komplexität der Selbstmordattentate in besonderer Weise Rechnung tragen. Gerade in der prominenten Stellung des Habitusbegriffs, der in sich objektive Strukturen, den Einfluss von Gruppen und Organisationen sowie die Geschichte der Akteure vereint, lässt sich die Komplexität der Handlung in seinen verschiedenen Facetten zeigen. Ausgehend von empirischen Studien in Algerien zum Aufeinandertreffen des modernen Kapitalismus und eher vormodernen Wirtschaftsstrukturen65 und quantitativen Untersuchungen zur Sozialstruktur Frankreichs66 entwickelt Bourdieu sein Konzept des Habitus als zentrales Erklärungsmoment sozialen Handelns gegen die damals vorherrschenden »Denkextreme«67 Subjektivismus und Objektivismus68. Bei beiden Richtungen – mit Jean-Paul Sartre als Vertreter des Subjektivismus und Claude Lévi-Strauss als Prototyp des Objektivismus – entdeckt Bourdieu richtige Einsichten, wirft beiden aber auch deutliche Verkürzungen vor: Der Subjektivismus erkenne zwar das Potenzial individueller Akteure, habe sie jedoch nur als vollkommen freie Urheber von Handlungen im Blick und könne daher gesellschaftliche Zwänge und stabile Handlungsmuster (sprich: soziale Ordnung) nicht sehen. Der Objektivismus à la Lévi-Strauss mache zwar auf gesellschaftliche Strukturen aufmerksam, die Handlungen anleiten können. Allerdings gehe er von einem strukturellen Determinismus des
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Personen, sondern explizit die Makoebene des Sozialen adressiert, ließen sich hier die Ausführungen der soziologischen Systemtheorie anführen (Luhmann, 1997). Allerdings hat Collins (2011: 58) bereits angekündigt, seine »Mikrosoziologie der Gewalt« durch eine makrosoziologische Sichtweise zu ergänzen, sodass die religiöse Legitimierung von Gewalt zukünftig von Collins eventuell adressiert werden kann. Bourdieu, 2000. Bourdieu, 1982. Bongaerts, 2008: 48. Bourdieu, 1993: 57 ff.; Moebius u. Peter, 2014.
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Handelns aus, der einer wissenschaftlichen Logik entspringe, ist jedoch blind für die Widersprüche und Ungereimtheiten der tatsächlichen sozialen Praxis.69 Die Logik der Wissenschaft, die sich durch Widerspruchsfreiheit, Klarheit, Exaktheit und Vollständigkeit der logischen Bezüge kennzeichnen lässt, ist eben nicht die Logik des tatsächlichen sozialen Lebens. Die Logik der Logik und die Logik der Praxis70 sind grundverschieden71, da Letztere sich eher durch eine »Logik des Ungefähren und der Verschwommenheit« auszeichnet72. Wie aber nun das Ungefähre und die Verschwommenheit sowie individuelle Akteure und gesellschaftliche Strukturen begrifflich-theoretisch fassen? Bourdieus Lösung hierzu ist das bereits genannte Prinzip des Habitus, indem der Habitus als ein Set von Dispositionen für Handeln, Wahrnehmen und Verhalten betrachtet wird, aber ebenso auch für Entscheidungen, Gedanken, Urteile und Geschmack.73 Der Habitus gibt ein Set von möglichen Handlungsalternativen vor, schließt jedoch gleichzeitig bestimmte Handlungen aus, da sie dem Akteur schlichtweg nicht in den Sinn kommen. Anschaulich sind diese Alternativen an der Religion zu sehen: Während manche für das Gelingen einer Arbeit beten, steht für manch andere das Gebet als Handlungsoption gar nicht erst zur Verfügung. Der Habitus selbst ist damit die Bedingung der Möglichkeit, die Handlungsmöglichkeiten eröffnet und insofern Handlungen erklären kann. Dabei ist der Habitus jedoch »eine negative Freiheit, eine Grenze, eine Eröffnung einer Möglichkeit«74. Für die Erklärung von Selbstmordattentaten ist nun zu fragen, wie der Habitus verändert werden kann, damit ein Selbstmordattentat als Handlungsoption dem Akteur zur Verfügung steht. Diese Frage basiert auf der Prämisse, dass nicht vorausgesetzt werden kann, dass Selbstmordattentäter ohne Weiteres über die Dispositionen verfügen, mit denen ein Attentat möglich wird.75 Attentäter werden in diesem Sinne nicht mit einem anschlags- und selbstmordbereiten Habitus geboren, sondern dieser Habitus muss erst »gemacht« werden.76 Insofern müssen die Bedingungen der Möglichkeit eines Anschlags als Prozess gedacht werden, durch den eine Veränderung des Habitus des Akteurs erreicht wird. Gleichwohl 69 Bongaerts, 2012b: 68 f. 70 Den Praxisbegriff gewinnt Bourdieu aus Marx’ Thesen über Feuerbach, siehe dazu Bourdieu, 2009: 137; Bongaerts, 2008: 29. 71 Bongaerts, 2012b: 73. 72 Bongaerts, 2008: 39; Hervorhebung weggelassen. 73 Bourdieu, 1993: 102. 74 Rehbein, 2011: 92. 75 Dies wiederum basiert auf gesellschaftlich durchgesetzten Normen des Tötungsverbots, wie auch immer diese letztendlich begründet sind. Siehe dazu unter anderem Joas, 2011. 76 Was jedoch für jeden Habitus gilt. In diesem Sinne erklärt Bourdieu »Soziales durch Soziales« (Émile Durkheim), da es ihm nicht um angeborene, sondern immer angeeignete, sozialisierte Dispositionen geht.
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muss dieser Prozess nicht immer von bestimmten Personen intendiert sein. Zwar spielen auch Gruppen und Organisationen eine Rolle, aber ebenso einzelne Felder wie die Religion, die nicht auf die Handlungen einzelner Akteure zurückgeführt werden können. Es ist zu beachten, dass die (Ver-)Änderung des Habitus hin zum Attentäter keine leicht zu bewerkstelligende Angelegenheit ist, und dies aus zwei Gründen: Erstens ist den Akteuren selbst ihr eigener Habitus nicht in bewusster – und somit selbstständig veränderbarer – Form zugänglich. Der Habitus ist dem Handelnden vorreflexiv gegeben,77 und auch dies wiederum in zweifacher Weise: Zum einen sorgt der Habitus für situationsbezogene und unbewusst passende Handlungen und Entscheidungen. Zum anderen werden aber auch die bewusst und reflexiv getroffenen Handlungsentwürfe vom unbewussten und präreflexiven Habitus – als vom Akteur »nicht ausgewählter Grundlage aller ›Auswahlentscheidungen‹«78– eingeschränkt.79 Hierbei gilt insbesondere eine Aussage Bourdieus80 : »Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen«. Zweitens ist der Habitus träge, Veränderungen bedürfen der Zeit und passieren nicht ad hoc. So wissen wir beispielsweise aus der Familienforschung, dass habituelle Dispositionen über Generationen beibehalten bzw. nur im Laufe der Generationenabfolge verändert werden.81 Meine folgenden Ausführungen möchte ich nun genau dieser Frage widmen, wie untersucht werden kann, wie der Habitus als »Grundlage alles Wählens«82verändert werden kann, sodass Selbstmordattentate als potenzielle Handlungsoption aktualisiert werden können. Es geht im Folgenden also um »die Genese eines terrorbereiten Habitus«83. »Die diesbezüglich zu klärende Frage ist im hier verfolgten Zusammenhang, wie sich bei bestimmten sozialen Akteuren ein Habitus formt, der physische Gewalt [in Form von Selbstmordanschlägen; A. A.] nicht nur als legitimes Mittel zur Proklamation und Durchsetzung bestimmter Weltanschauungen und politischer Ziele ansieht, sondern darüber hinaus dazu disponiert, diese Gewalt unter Inkaufnahme des eigenen Todes selbst einzusetzen.«84
Zuerst gehe ich dazu auf die Akteure und ihre Geschichte ein, wie sie ihren Primär- bzw. klassenspezifischen Habitus erwerben. Anschließend widme ich 77 78 79 80 81 82 83 84
Bourdieu, 2009: 200. Bourdieu, 1993: 114; Hervorhebung weggelassen, A. A. Bongaerts, 2012a: 143; 2012b: 74. Bourdieu, 1993: 127. Brake, 2006a; Krah u. Büchner, 2006. Nassehi, 2011: 102. Hillebrandt, 2007: 53. Hillebrandt, 2007: 53.
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mich kurz fundamentalistisch-religiösen Gruppen bzw. Organisationen und gehe in diesem Zusammenhang auf die Besonderheit eines soziologisch gewendeten Fundamentalismusbegriffs ein. Abschließend versuche ich in Ansätzen zu zeigen, welche Wirkung die sozialen Felder für den Habitus haben. Hierbei spielt dann insbesondere die Religion als Legitimierung der Praxis der Selbstmordattentate eine Rolle.
Habitus als Geschichte der Akteure Wenn die Veränderung des Habitus weniger »eine radikale Umstrukturierung als vielmehr eine Weiterentwicklung, Modifikation« ist,85 dann muss zuerst geklärt werden, welchen Habitus ein Akteur »mitbringt«, der später einen Selbstmordanschlag verüben wird. Wie haben sich die Dispositionen für Handlungen, Wahrnehmen und Verhalten entwickelt? Zu rekonstruieren ist die Geschichte des Akteurs als »historischen Sozialisationsprozeß«86. Diese Habitusgenese ist ein vielschichtiger Prozess,87 bei dem viele Faktoren eine Rolle spielen, zum Beispiel in welchen Verhältnissen der Akteur aufwuchs, was sich insbesondere an der Akkumulation der verschiedenen Kapitalsorten ablesen lässt.88 Verfügt er über viel oder wenig Bildung (kulturelles Kapital)? Verfügt er über viele oder wenige soziale Beziehungen (soziales Kapital)? Ist er wohlhabend oder nicht (ökonomisches Kapital)? Anhand der Kapitalzusammensetzung ist auch die Schicht- bzw. Milieuzugehörigkeit eines Akteurs zu erkennen.89 In diesem Zusammenhang wäre es sicher von Interesse zu verfolgen, ob und inwieweit schicht- oder milieuspezifische Dispositionen des Habitus für Selbstmordanschläge von Bedeutung sind. Es ist zwar allgemein bekannt, dass die meisten Attentäter Mitglieder der Mittelschicht sind,90 aber die Verbindung von Mittelschichthabitus und Anschlag steht meines Wissens noch aus. Letztlich gilt aber: »Zum Terrorismus bereite Akteure sind […] zumeist keine irrationalen Fanatiker mit psychischen Indispositionen. Sie sind Akteure mit einem Habitus, der durch den sozialen Prozess der Gewalt geformt ist«91. Allerdings ist dieser Teil der Analyse auch am schwierigsten zu bewerkstelligen, da Habitusanalysen von konkreten Personen aufwendig sind, weil sie viele 85 86 87 88 89 90 91
Krais u. Gebauer, 2002: 47. Bourdieu u. Wacquant, 2006: 173. Hillebrandt, 2007: 54. Bourdieu, 2012; Bongaerts, 2008: 56 ff. Bourdieu, 1982. Collins, 2008. Hillebrandt, 2007: 51 f.
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Daten benötigen, die nicht ohne Weiteres zu bekommen oder zu erheben sind. So wissen wir zum Beispiel sehr wenig über Ahmad Qasir, den ersten schiitischen Attentäter im Jahr 1982. Martin Kramer schreibt lediglich, dass sein Vater Obstund Gemüseverkäufer war und dass er für ihn arbeitete, nachdem er die Schule nach der fünften Klasse verließ. Er ging regelmäßig in die Moschee, jagte gern und war gern draußen. Alles in allem hatte Ahmad Qasir eine »unexceptional childhood«92. Hieraus lässt sich noch keine habituelle Disposition für ein Selbstmordattentat rekonstruieren. Für eine vollständige Analyse bedarf es also noch weiterer Forschung zu den Habitu¯s der Akteure, die auf empirischen Daten fußen muss.93
Mitgliedschaft in fundamentalistischen Organisationen Kramer94 schreibt jedoch weiter, dass Ahmad Qasir Kontakt mit jungen Männern hatte, die gegen die israelische Besetzung des Libanons kämpften.95 Ich will im Folgenden davon ausgehen, dass diese Männer organisiert waren, und betrachte daher in diesem Abschnitt fundamentalistische Terrororganisationen genauer. Der Fokus liegt auch hier auf der Veränderung des Habitus. Aus diesem Grund kann ich keine Aussagen über die Organisation selbst, ihre Geschichte oder Ziele machen.96 Sollte erst die Mitgliedschaft in einer Organisation wie der Hisbollah vollzogen sein, »hat dies weit reichende Folgen für die Habitusgenese des sozialen Akteurs. Die Mitgliedschaft in einer Untergrundorganisation, deren wichtigster Operationsmodus die Durchführung von Terroranschlägen ist, führt zur Aufgabe aller als bürgerlich bezeichneter Lebensmuster. Die gesamte Lebensführung richtet sich auf die Ziele der Untergrundorganisation aus, die zum alleinigen Bezugspunkt aller Lebenspraxis wird. Die Feldstruktur der Terrororganisation formt die inneren Dispositionen der sozialen 92 Kramer, 1996: 2. 93 Möglicherweise führt die Frage nach der Verbindung von Primärhabitus und Selbstmordanschlag auch in die Sackgasse, sodass unsere zuvor aufgestellte Prämisse, dass Attentäter »gemacht« werden müssen, nicht haltbar ist. Es könnte sich ja herausstellen, dass jeder Habitus unter bestimmten Umständen in einen terrorbereiten Habitus transformiert werden kann. Dann wäre Heinrich Popitz (1992) zuzustimmen, dass im Prinzip jeder Mensch jederzeit töten könne. Um hier jedoch gesicherte Aussagen machen zu können, bedarf es weiterer Forschung. 94 Kramer, 1996. 95 Der Südlibanon und Beirut waren in den 1970er und 1980er Jahre in verschieden langen Phasen von der israelischen Armee besetzt, um Terroranschläge der Palästinenser zu unterbinden. 96 Siehe dazu noch einmal die Darstellungen in Rosiny, 2005; Azani, 2011; Avon u. Khatchadourian, 2012.
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Akteure nachhaltig, indem sie Neigungen und Abneigungen, Bewertungs- und Wahrnehmungsdispositionen oder kurz eine Weltsicht prädisponiert.«97
Die Formung der inneren Dispositionen, also die Änderung des Habitus durch die Organisation, ist gut an den Ausführungen Stefan Mathaners zu erkennen, der terroristische Organisationen wie die Hisbollah und ihre Unterstützungsstrukturen untersucht hat.98 Die volle Mitgliedschaft in einer Terrororganisation selbst ist ein Resultat, das am Ende eines langen Prozesses steht, der durch religiöse und politische Erziehung mit dem Ziel geprägt ist, den »way of life« der Organisation zu verstehen und zu verinnerlichen,99 indem das persönliche Verhalten, die Einstellungen und sogar das äußere Erscheinungsbild den Vorstellungen bzw. Regeln der Organisation angepasst werden. Der Prozess der Mitgliedschaftswerdung kann verstanden werden als Sozialisation in eine disziplinierte, militante Organisation, aber eben auch als Sozialisation in eine islamistische Subkultur, die die Akteure von ihrer sonstigen sozialen Umwelt wie etwa ihrer Familie distanziert.100 »Die inkorporierten Dispositionen terrorbereiter Akteure zeichnen sich deshalb nicht primär durch Fanatismus aus, sondern eher durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer verschworenen, radikalen Gemeinschaft«101. Die Organisationen, die Selbstmordattentate planen, sind aus meiner Sicht auch der Ort, an dem fundamentalistische Umdeutungen der Religion zu suchen sind. Nicht die Religion ist fundamentalistisch (oder gar faschistisch), sondern die Organisation. Aber was bedeutet dies genau? Ich möchte der Argumentation von R. Scott Appleby102 folgen, der sich eingehend mit dem sozialen Phänomen des religiösen Fundamentalismus beschäftigt hat. Er sieht Fundamentalismus als eine spezifische Form der religiösen Militanz, in der selbsternannte wahre Gläubige (self-styled true believers) versuchen, den Verfall der religiösen Identität aufzuhalten, indem sie die Grenzen der Gemeinschaft festigen103. Um dies zu erreichen, versuchen sie Alternativen zu den säkularen Strukturen und Prozessen zu etablieren. »Heilige Wahrheiten« (sacred truths) sehen fundamentalistische Bewegungen als Basis des Wissens und religiöse Werte als Ausgangspunkt und Gipfel der Moral104. Ferner zeichnen sie sich durch ein dualistisches Weltbild aus, indem sie die Welt als unterschieden in Gut und Böse, Licht und Dunkelheit oder rein und unrein sehen. Dieses Weltbild kann sich aber durchaus in einem 97 98 99 100 101 102 103 104
Hillebrandt, 2007: 54 f. Malthaner, 2011. Malthaner, 2011: 196. Malthaner, 2011: 197. Hillebrandt, 2007: 55. Appleby, 2000. Appleby, 2000: 86. Appleby, 2000: 88.
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apokalyptischen Rahmen bewegen. Sich selbst zählen Fundamentalisten dann zu den Guten; sie sind die Ausnahme, die »exceptionalists«105. Durch die Verbindung dieser selbsterschaffenen Ausnahme – die sich auch als Auserwähltsein zeigen kann – und dem apokalyptischen Weltbild gehen Fundamentalisten davon aus, dass sie in einer besonderen Zeit leben, in einer »special time«: »This provides one answer to the question, How does a religious tradition that normally preaches nothing but peace, compassion, forgiveness, and tolerance adopt the discourse of intolerance and violence? The answer is that these are not ›normal times‹.«106 Führer fundamentalistischer Bewegungen rechtfertigen Gewalt gegen Andersgläubige, Ungläubige oder schlichtweg alle anderen,107 indem sie die Gegenwart mit modernen Strukturen oder besonderen Ereignissen (Kriege, Vordringen bestimmter Kulturen) als Ausnahmezeiten umdeuten, welche Ausnahmen vom Gewohnten, von den Traditionen erfordern. Somit sind zwei wichtige Punkte bei der Habitusänderung benannt: Zum einen ist die Rolle der religiös-fundamentalistischen Organisationen zu beachten, die ihre Mitglieder durch politische und religiöse Erziehung prägen. Sie nehmen gezielt Einfluss auf das Verhalten und die Einstellungen ihrer Mitglieder, sie versuchen also explizit, den Habitus zu verändern. Zum anderen wird durch die fundamentalistische Umdeutung der Religion erreicht, dass bestimmte gesellschaftliche Normen an Bedeutung verlieren, da die »wahre Lehre« bzw. die »wahre Religion« und die »besondere Zeit« nur noch die Handlungsoptionen zählen, die organisational vorgegeben werden. Tötungsverbote und auch Selbsttötungsverbote verlieren aufgrund der fundamentalistischen Auslegung der Religion an Bedeutung, sodass Selbstmordattentate möglich werden.
Eigendynamik sozialer Felder und die Legitimierung von Praktiken Ein großer Vorteil der Praxistheorie Bourdieus ist die Aufhebung des Dualismus von System- und Handlungstheorien (oder vom Subjektivismus und Objektivismus) im Konzept des Habitus; denn der Habitus eines Akteurs ist nicht nur die leibgewordene Geschichte der Sozialisation, sondern auch soziale Felder können den Habitus ändern.108 Die Funktionsweise des Habitus ist nämlich »nicht zu begreifen, wenn man ihn – und damit das soziale Subjekt – für sich, ohne den sozialen Kontext, betrachtet«109. Insofern ist verständlich, dass Bour105 106 107 108 109
Appleby, 2000: 88. Appleby, 2000: 88. Appleby, 2000: 95. Bongaerts, 2008: 31 f. Krais u. Gebauer, 2002: 31.
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dieu den Habitus als strukturierende und strukturierte Struktur beschreibt:110 Eine Handlung strukturierend ist der Habitus, da er wie bereits beschrieben als Set von Dispositionen Handlungsoptionen vorgibt. Strukturiert ist der Habitus, indem er sowohl durch die primäre Sozialisation in der Familie als auch durch die sozialen Felder geprägt wird.111 Unter Feldern sind bei Bourdieu die verschiedenen Teilbereiche der modernen Gesellschaft wie Politik, Wissenschaft, Ökonomie oder auch Religion zu sehen; daher ist Bourdieus Feldtheorie sein Beitrag zur Theorie der Differenzierung der Gesellschaft.112 Felder werden definiert durch interne Kämpfe113, und zwar Kämpfe darum, wer legitimer Akteur im Feld und was legitime Praxis im Feld ist.114 Für das religiöse Feld, dass uns hier im Besonderen interessiert, heißt dies: »Das Kampfgeschehen im Feld gilt […] dem Monopol legitimer religiöser Deutung«115. Die Dynamik eines Feldes verständlich zu machen bedeutet daher, die internen Kämpfe zu rekonstruieren und sie insofern als emergenten Sinnzusammenhang zu sehen.116 Die Kämpfe, die in den Feldern stattfinden, haben Einfluss auf den Habitus der Akteure, da sie Handlungsmöglichkeiten eröffnen, indem feldintern definiert wird, was legitim ist und was nicht. Oder anders: »Die bestehenden kulturellen Formen des jeweiligen Feldes [als Ergebnis der Kämpfe; A. A.] begrenzen den Raum des Möglichen; und der Habitus des Akteurs entscheidet lediglich darüber, welche der Möglichkeiten er tendenziell aktualisiert oder modifiziert«117.
Die Felder geben den Akteuren vermittelt durch den Habitus Handlungsoptionen vor, die sie aktualisieren können oder auch nicht. In der Wissenschaft ist beispielsweise eine legitime Handlung die Veröffentlichung von Beiträgen in wissenschaftlichen Sammelbänden. Die ausschließliche Publikation im Feuilleton der Tageszeitungen ist hingegen keine anerkannte Strategie, mit der wissenschaftsintern viel zu gewinnen wäre. Auch Felder sind komplexe Phänomene, in deren Analyse eine ganze Reihe von Faktoren berücksichtigt werden muss. Da dies den Rahmen dieses Beitrags deutlich sprengen würde, werde ich in diesem Abschnitt auf die Legitimität von Selbstmordattentaten im religiösen Feld eingehen, da die Anschläge 1982/83 die 110 111 112 113 114 115 116 117
Bourdieu, 1993: 98 f.; Bourdieu u. Wacquant, 2006: 173. Bourdieu u. Wacquant, 2006: 160 f. Bongaerts, 2008. Gemeint sind hier symbolische Kämpfe, die im religiösen Feld z. B. durch Predigten, Bücher oder religiöse/weltliche Wohltaten zu führen sind. Bourdieu, 2001: 354 f.; siehe auch allgemein zur Feldtheorie Martin, 2003. Petzke, 2013: 85. Zur Emergenz-Debatte in der Soziologie und Philosophie siehe die Beiträge in Greve und Schnabel, 2011, zur Emergenz sozialer Felder Kneer, 2004: 50. Bongaerts, 2008: 128.
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ersten Selbstmordanschläge im schiitischen Islam waren. Ich will hier der Frage nachgehen, wie es zu der Umdeutung des Attentats vom Selbstmord zum Martyrium kam. Leider kann auch diese Analyse nur in Ansätzen geschehen, da es sich um erste Erkenntnisse aus einem laufenden Forschungsprojekt handelt. Dass es aber eine religiöse – und keine politische – Frage ist, ist daran zu sehen, dass religionsintern mit Mitteln der islamischen Theologie, sprich der Auslegung des Korans, um die Legitimität der Selbstmordanschläge gekämpft wird. Das bedeutet nicht, dass politische Erwägungen – wen genau greift man an, wie gewinnt man mit den Anschlägen Sympathien in der Bevölkerung – keine Rolle spielen, sondern nur, dass beides analytisch zu trennen ist, will man die Komplexität der Attentate fassen. Die klassische Lesart zum Suizid im Islam ist eindeutig: Er wird als Sünde gesehen. Ausgangspunkt für diese theologische Überzeugung ist zum einen die Koransure 4:29, in der es heißt, dass man sich selbst nicht töten solle,118 und zum anderen ein Ausspruch (Hadith) des Propheten Mohammed. Dort heißt es beispielsweise, dass diejenigen, die selbst Gift trinken und dadurch sterben, ewiglich im Feuer der Hölle Gift trinken müssen.119 Eine andere, entgegengesetzte Lesart des Islam vertrat Mohammed Hussein Fadlallah120, der einer der wichtigsten religiösen Führer des Libanons werden sollte. Fadlallah wurde 1936 in der Gelehrtenstadt Nadschaf im Irak geboren, in der er auch studierte. Dort erlebte er die Repressionen des irakischen Regimes unter Saddam Hussein, und sie hinterließen »their mark on Fadlallah’s character, his beliefs, his understanding of the world«121. Diese Erlebnisse bildeten auch die Grundlage seiner Theologie, die darauf ausgerichtet war, den Islam von seinen »Feinden« zu befreien, und die letztendlich zur Legitimierung von Selbstmordattentaten führten. Als Feinde sah Fadlallah Säkularisierung, Unglauben und Entfremdung. Fadlallahs Befreiungstheologie verband traditionelle islamische Themen mit einer antiimperialistischen Rhetorik. Der Imperialismus war nach Fadlallah das größte Hindernis zur Selbstbestimmung der Schiiten im Libanon. Damit verband er die marginale Situation der schiitischen Bevölkerung in den Städten, die von Arbeitslosigkeit sowie einem Mangel an politischer Mitsprache und gesellschaftlicher Achtung bestimmt war, mit der Situation der Besatzung und des Krieges, sodass beides durch eine Rückbesinnung auf den Islam verändert werden konnte. Fadlallahs Theologie war attraktiv für die Laien, da sie einen Ausweg aus politischer Marginalität und Armut versprach. Ein Rückhalt unter 118 Siehe hierzu auch Rosenthal, 1946. 119 Clarke, 2009: 245 f. 120 Bei den Aussagen über Fadlallah und seine Theologie stütze ich mich vor allem auf die Aussagen von Martin Kramer (1997) und Stephan Rosiny (2006). 121 Kramer, 1997: 5.
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den religiösen Laien ist bei Kämpfen im religiösen Feld besonders wichtig, da die Laien »bei den Kämpfen zwischen […] Mitgliedern des Felds[ ] sozusagen das letzte Wort« haben.122 Wer möglichst viele Laien an sich binden kann, kann dadurch seine Stellung im Feld festigen bzw. ausbauen.123 Und je mehr Laien Fadlallah unterstützten, desto stärker bzw. dominanter war seine Stellung im religiösen Feld. Jedoch brach die Befreiungstheologie Fadlallahs mit einer weiteren schiitischen Vorstellung, nämlich dem Quietismus, der Trennung von religiöser und politischer Führung.124 Als Erlösungsreligion, die auf die Wiederkehr des verschwundenen Imam, des Mahdi, wartete, werden die Schiiten eher als passiv denn als aktiv gesehen; es heißt, sie nehmen Leid in der Gewissheit hin, dass sie demnächst erlöst werden. Aber Fadlallah und andere Geistliche, die in Nadschaf studiert hatten, wollten dies ändern, indem die Schiiten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und nicht auf die Erlösung warten.125 Fadlallah forderte eine aktive Rolle für eine Veränderung der Welt.126 Damit stellte er sich gegen die orthodoxe – weil bestehende – Auffassung des Quietismus im schiitischen Islam, sodass hier klar ein feldinterner Kampf rekonstruiert werden kann. Im Bourdieu’schen Sinne war Fadlallah damit ein »Häretiker«, für den »es so nicht weitergehen« kann und der deshalb Veränderungen herbeiführen will.127 Die Befreiungstheologie, die Fadlallah entwickelte und die zur Legitimierung von Gewalt führen sollte, ist damit nicht in erster Linie als Leistung eines Theologen zu sehen, da es feldintern weniger auf die Person als um die Art und Weise der Theologie ankommt, die das Feld dominieren wird.128 Fadlallah kämpfte mit seiner Befreiungstheologie, die im Kern aus einer Rückbesinnung auf den Islam, Befreiung von der Unterdrückung (sozial wie militärisch) und die Änderung vom Passiven zum Aktiven bestand, gegen andere Theologien und durch die Unterstützung der Laien konnte er eine feldintern dominante Position einnehmen. Er verfügte damit um ausreichend religiöses Kapital, um mitbestimmen zu können, was im religiösen Feld als legitim gilt. So war er also in der Position, die Umdeutung eines Selbstmordattentats vom 122 Bourdieu, 2013: 106. 123 Bourdieu denkt die Beziehung zwischen Geistlichen und Laien jedoch deutlich komplexer als ein einfaches Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Er benutzt hierfür das Konzept der strukturellen Homologie. Siehe dazu Bourdieu, 2011; Bourdieu und Saint Martin, 2011; Bongaerts, 2008: 93 ff.; Petzke, 2009. 124 Heine, 2009: 79. 125 Auch zur Erklärung dieser religiösen Dynamik wäre eine feldtheoretische Analyse, die die religiösen Kämpfe rekonstruiert, erkenntnisreich. 126 Kramer, 1997: 5. Hier trifft sich übrigens Fadlallah mit einem anderen wichtigen schiitischen Führer bzw. Theologen: dem iranischen Revolutionsführer Khomeini. 127 Bourdieu, 2013: 110. 128 Martin, 2003: 23.
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sündhaften Suizid zum Martyrium vornehmen zu können. Aber wie hat er dies begründet? Als Fadlallah im christlich-muslimischen Bürgerkrieg 1976 aus Beirut fliehen musste, könnte bei ihm die Einsicht entstanden sein, dass Gewalt ein legitimes Mittel zur Befreiung ist, da die Flucht als ein bedeutendes Ergebnis gesehen werden kann – Fadlallah hatte sich eine Gemeinde aufgebaut, die er komplett aufgeben musste. In der Folge schrieb er das Buch »Islam and the Logic of Power«, in dem er Gewalt gegen Unterdrücker und Besatzer rechtfertigte. Der Islam sei laut »Islam and the Logic of Power« die einzige Möglichkeit, Besatzung und Krieg zu überwinden. Es handele sich um einen globalen Kampf des Islam mit dem Imperialismus (= Unglauben),129 und die Schiiten befänden sich in einer »Situation der extremen Unterdrückung«.130 Daher hätten nach »Islam and the Logic of Power« die Schiiten die Pflicht, gegen die Unterdrücker aufzubegehren. Dies müsse auch mit Gewalt geschehen. Da die Schiiten jedoch nicht über dieselben Waffen oder Möglichkeiten wie die sogenannten Imperialisten verfügen, sind auch Selbstmordattentate als Form der Selbstverteidigung erlaubt. Die Umdeutung von Selbstmordattentaten als Sünde hin zum Martyrium erreicht Fadlallah nun dadurch, dass sie als religiöse Pflicht gedeutet werden, da man für den Islam und gegen den Unglauben kämpfe.131 Damit waren Selbstmordattentate eine legitime religiöse Praxis – zumindest, wenn man Anhänger der Theologie Fadlallahs war –, allerdings waren sie auch unter bestimmte Bedingungen gestellt, etwa dass die Zahl der getöteten Feinde die eigenen Verluste überwog und dass nur Feinde, aber keine Frauen oder Kinder als legitime Anschlagsziele dienten. Fadlallah hatte Selbstmordattentate legitimiert, aber auch reglementiert, was durch seine dominante Stellung im religiösen Feld geschehen konnte.
Fazit: Selbstmordattentate als methodische Herausforderung Mit dem Fokus auf die Veränderung des Habitus der Akteure hin zu einem Selbstmordattentäter sowie der gleichzeitigen Berücksichtigung der feldtheoretischen Dynamiken kann eine Analyse religiös-fundamentalistischer Gewalt angeleitet werden. Mit dem vorgeschlagenen Forschungsprogramm kann auch 129 Kramer, 1997: 10. 130 Avon u. Khatchadourian, 2012: 27 f. An dieser Stelle wird besonders gut deutlich, dass es sich bei Fadlallahs Befreiungstheologie um eine fundamentalistische Auslegung des Islams handelt. Man erinnere sich nur an die Aussagen Applebys, dass es im Fundamentalismus eine Art Rückbesinnung auf die religiöse Identität gibt, um die Gemeinschaft zu festigen. Und eine Situation der extremen Unterdrückung kann durchaus als besondere Zeit gelesen werden. 131 Malthaner, 2011: 205.
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der Komplexität der Attentate Rechnung getragen werden, woran die anderen dargestellten Analysewege gescheitert sind. Allerdings ist das aufgezeigte Programm mit methodischen Herausforderungen verbunden: Es ist fraglich, wie der jeweilige Habitus der einzelnen Attentäter adäquat dargestellt werden kann, da kaum Informationen verfügbar sind. Bourdieu132 selbst hat vor allem statistische Daten zur Entwicklung seines Raummodells herangezogen und es müsste noch einmal explizit gefragt werden, wie ein Einzelhabitus empirisch erhoben werden kann. Hier wären qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung angebracht,133 die den Aufwand noch einmal erhöhen. Auch die Frage, wie terrorbereite Organisationen wie die Hisbollah den Habitus verändern, ist methodisch äußerst schwierig zu erheben, da der Feldzugang kaum zu bekommen ist. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Organisationen sich befragen lassen, wie sie Selbstmordattentäter ausbilden. Auch teilnehmende Beobachtungen sind nahezu ausgeschlossen. Konzentrieren müsste man sich also auf Aussteiger oder auf Verhöre von Gefangenen, die einen Anschlag geplant haben, ihn aber aufgrund der Verhaftung nicht durchführen konnten. Das vorgeschlagene Vorgehen ist somit auch in seiner Durchführung eine komplexe Angelegenheit. Ein Ausweg wäre, das von Bourdieu inspirierte Forschungsprogramm nur als einen ersten Schritt zu sehen, da es sich dem Phänomen Selbstmordattentat nur aus soziologischer Sichtweise nähert. Der anschließende zweite Schritt wäre, interdisziplinär zu arbeiten. Selbst wenn man die Habitusveränderung als Leitfrage beibehalten würde, könnten andere Wissenschaften weitere Einsichten beitragen. Die Psychologie bzw. die Psychoanalyse könnte dazu beitragen, den Habitus des Attentäters weiter zu erhellen. Die Verbindung mit politischen und historischen Wissenschaften könnte neue Erkenntnisse in den Betrachtungen der Felder beitragen, da die Eigendynamik des politischen Feldes und die geschichtliche Entwicklung ergänzt werden können. Und nicht zuletzt ist natürlich die islamische Theologie zu nennen, die die Kämpfe im religiösen Feld klarer darstellen könnte. Die Komplexität der Selbstmordattentate und die daraus resultierenden methodischen Schwierigkeiten zwingen insofern zu einem interdisziplinären Vorgehen.
132 Bourdieu, 1982. 133 Lange-Vester u. Teiwes-Kügler, 2013; Bohnsack, 2013; Brake, 2006b.
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4. Fundamentalismus in medientheorethischer und politologischer Sicht
Stefan Piasecki
Medien und Fundamentalismus – eine Herausforderung für die Jugendarbeit
Zusammenfassung Mediale Darstellungen prägen das Bild von der Welt und inspirieren die aktive Auseinandersetzung mit einem Thema, dessen Zeugen Zuschauer geworden sind. Empfangene Nachrichten sind jedoch niemals neutrale Nachrichten: Sie wurden zuvor von Medienmachern und Nachrichtenerzeugern erzeugt oder ausgewählt und verbreitet, sie werden von Menschen und vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation, der eigenen kulturellen Prägung und ihres Weltbildes empfangen und können ihr persönliches Verhalten und ihre Kommunikation mit der Umwelt beeinflussen. Nicht aufgrund eigener Erlebnisse oder Anschauungen, sondern anhand der medialen Berichterstattung radikalisierten sich in der Vergangenheit extremistische Einzeltäter oder brechen Jugendliche aus Europa nach Syrien und in den Irak auf, um sich dem »Kampf gegen die Ungläubigen« anzuschließen. Wenn Jugend- oder Sozialarbeiter nicht über eigene medienpädagogische Kompetenzen verfügen, bleiben ihnen wertvolle Indizien für medial induzierte Radikalisierungsprozesse in ihren Zielgruppen möglicherweise verborgen.
Fundamentalismus und Medien – eine unheilige Allianz? Mit dem Begriff des »Fundamentalismus« werden Phänomene umschrieben, von denen Beinert sagte, sie seien »eine Erscheinung im Bereich weltanschaulicher Systeme, die beanspruchen, unter Rückbezug auf verbindliche Grundlagen die Wirklichkeit zu deuten, zu werten und zu ordnen«1. Längst sind sie wichtige Medienereignisse geworden. Der Begriff steht für grundlegende Überzeugungen religiöser wie nichtreligiöser Gruppen und wird als Etikett für politische, religiöse wie auch charakterliche Einstellungen genutzt. »Fundamentalismus« steht 1 Beinert, 1995: 224.
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jedoch ebenso für actionlastige Bilder, journalistischen Voyeurismus und auflagenträchtige Schlagzeilen. Fundamentalistische Wortführer brauchen breitestmögliche Öffentlichkeit; diese können nur Medien bieten, die im Gegenzug von der Kraft und Sogwirkung radikaler Thesen oder grobschlächtiger und rohester Gewalt profitieren. Artikel über Bombenexplosionen oder Videos von Enthauptungen gehören zu den am meisten angeklickten Beiträgen im Internet. Riesebrodt meint, den Fundamentalismus-Begriff auf Curtis Lee Laws zurückführen zu können, den Herausgeber der baptistischen Zeitschrift Watchman-Examiner, der damit 1920 eine konservative Sammlungsbewegung innerhalb des amerikanischen Protestantismus bezeichnete.2 Auch Marty verortet den Ursprung des Begriffes dort.3 In westlichen Ländern und Medienkulturen erhielt er eine erste größere Verbreitung in der Öffentlichkeit im Zusammenhang mit der Iranischen Revolution 1979; von noch größerer politischer und gesellschaftlicher Auswirkung besonders auf den Westen war 1988 die vom iranischen Revolutionsführer Khomeini ausgesprochene Fatwa4 gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, der in seinem Buch »Die satanischen Verse« angeblich den Islam beleidigt hatte und der darum zur Ermordung freigegeben worden war. Rushdie, der sich in Großbritannien versteckt halten musste und auch dort seines Lebens nicht sicher sein konnte, zeigte den westlichen Gesellschaften, dass sie mit ihren Rechtstraditionen gegenüber derart argumentierter Gewalt zunächst hilflos waren. Damit hatte sich besonders das Thema religiös fundierter und tradierter Gewalt zu einem »sozialen Problem« entwickelt; nach Godenzi ist solches ein »Sachverhalt, der bei vielen Menschen große Besorgnis auslöst und gegen den etwas unternommen werden sollte«5. »Probleme sind nicht die Probleme, die wir vorfinden, sondern die Probleme, die wir als Probleme bezeichnen. Probleme werden auf einem Markt ausgehandelt. Es gibt einen nicht gerade freien, aber auch nicht gänzlich kontrollierbaren Wettbewerb um Probleme.«6
Wirkungen und Auswirkungen von Öffentlichkeit Sachverhalte werden demnach dann zu Problemen, wenn sie von einer hinreichend großen Zahl von Menschen als solche anerkannt und bezeichnet werden. Zweifellos sind spektakuläre islamistische Anschläge wie jene auf die US-Bot2 3 4 5 6
Riesebrodt, 1990: 12. Marty u. Appleby, 1996: 9 f. Vgl. Rohe, 2001: 47 f. Godenzi, 1997: 13 f. Godenzi, 1997: 14.
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schaften in Kenia und Tansania im August 1998 oder das World Trade Center 2001 gesellschaftlich anerkannte »Probleme« – wie aber auch jener Angriff von US-Extremisten auf das Murrah Federal Building im April 1995 in Oklahoma City oder die gewalttätige Erstürmung des Hauptquartiers der Davidianer-Sekte im texanischen Waco im Februar 1993 mit 82 Toten durch das amerikanische FBI. Diese Beispiele zeigen zudem die ideologischen Zusammenhänge zwischen einzelnen Terrorakten: Der Anschlag in Oklahoma City wurde von seinen Initiatoren in Bezug gesetzt zu der Erstürmung von Waco, die Anschläge in Afrika wurden wie auch jener des Jahres 2001 oder der erste Angriff auf das World Trade Center im Jahre 1993 oder der Bombenanschlag auf die Vorortzüge in Madrid 2004 bzw. das Londoner U-Bahn-System in 2005 von Sympathisanten der islamistischen al-Qaida verantwortet. Was aber macht sie zu einem »Problem«, für das sich unbeteiligte Menschen interessieren? Woran genau sind sie interessiert? An der Gewalt an sich? Den Opferschicksalen? Den Tätern? Außerdem stellt sich die Frage: Inwieweit sind Medienberichte geeignet, bis dahin Unbeteiligte sogar ihrerseits zu extremistischen Taten anzustiften? Die jungen Muslime, die 2006 in Nordrhein-Westfalen Bombenanschläge auf Vorortzüge in NRW geplant hatten und nur aufgrund eines technischen Defekts des Zünders mit ihrem Vorhaben scheiterten, bezogen sich in ihrer Begründung auf den kurz zuvor entbrannten Karikaturenstreit: »Ich wollte niemanden töten, sondern die Leute nur davon abhalten, den Propheten zu verunglimpfen«7, wird einer der mutmaßlichen Täter, Jihad Hamad, zitiert. Ihr Vorbild waren die Bombenanschläge auf Madrider Vorortzüge vom 11. März 2004. Die öffentliche und gesellschaftliche Auswirkung der Anschläge bezeichnete der Spiegel8 damals als ein »terroristisches Urerlebnis« für Europa mit genügend politischer und historischer Wucht, die Grundlagen der EU zu verändern und das transatlantische Verhältnis »neu zu justieren«.9 Reaktualisiert wurde dieses »Urerlebnis« durch die Terroranschläge von Paris im Januar 2015. Nachdem islamistische Attentäter in der Redaktion der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris 12 Redaktionsmitglieder töteten, nahmen Sympathisanten wenig später Geiseln in einem jüdischen Supermarkt. Auch hier kam es zu Toten. Die öffentliche Rezeption ist zentral für die Frage nach der Wirkung, welche die Berichterstattung von Ereignissen auf die möglicherweise nur mittelbar beteiligten Zuschauer ausübt und welche Spuren sie beispielsweise im täglichen Zusammenleben von Kulturen hinterlässt.
7 O.V., 2007: 5. 8 Cziesche, Mascolo, Röbel, Schimmöller u. Stark, 2004: 23. 9 Piasecki, 2008: 252.
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Dem »Fundamentalismus« zur Seite ist der Begriff des »Extremisten« getreten. Im Schwerpunkt werden politische Ansichten als »extremistisch« und religiöse Ansichten als »fundamentalistisch« markiert, wenn sie sich aus Sicht politischer, gesetzlicher und publizistischer Meinungsführer gegen etablierte gesellschaftliche oder politische Einstellungen richten und ihre Wortführer sowohl zu extremen Mitteln der Durchsetzung ihrer Ansichten greifen und gleichzeitig zur Hinnahme großer persönlicher Nachteile im Kampf um eben solche Durchsetzung bereit sind.10 Zentrale Interessen und Ziele sowohl politischer wie auch religiöser Extremisten sind die Wirkung nach außen wie auch nach innen. Nach außen müssen im Sinne eines meistens inhärenten Sendungsbewusstseins Botschaften verbreitet, Mehrheiten erzielt und beeinflusst oder sollen Einschüchterungen vorgenommen werden, um die angestrebten Ziele zu erreichen oder ihnen den Weg zu ebnen. Nicht zu unterschlagen sind wichtige Finanzinteressen: Auch im »Geschäftsfeld Extremismus« muss um Sponsoring geworben und müssen hierfür Ergebnisse im Sinne möglicher Befürworter präsentiert werden.11 Nach innen muss Gefolgschaft organisiert und gefestigt werden. Abweichler und Zweifelnde sollen vereinnahmt oder notfalls eingeschüchtert werden. Probates Mittel sind hier Feindbilder, die dazu förderlich sind, Grenzen von Gruppen zu markieren, Meinungsführerschaft und Führungsstärke zu beweisen sowie die »Schlagfertigkeit nach außen hin zu festigen«.12 Auch Staaten teilen demzufolge die genannten Motive: Sie verfügen über Sendungsbewusstsein/Großmachtstreben oder verspüren völkische Verantwortung gegenüber Auslandspopulationen (wie beispielsweise der »Panturkismus« türkischer Nationalisten), nutzen Drohkulissen, um nach innen die Macht der herrschenden Parteien und Politiker zu sichern wie auch nach außen zu provozieren – hierdurch können entweder bereits eigene Ziele erreicht oder vorbereitet werden bzw. mag der als Reaktion auftretende Druck der provozierten Außenwelt genügen, um intern neue Solidaritätseffekte zu generieren und »die Reihen zu schließen« und so Kritik aus dem eigenen Land zum Verstummen zu bringen. Die wiederholten Auftritte des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan zu (türkischen) Wahlkampfzwecken in Deutschland oder auch die antieuropäische Rhetorik als Antwort auf internationale Vorhaltungen hinsichtlich des massiven staatlichen Vorgehens gegen Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park13 zeigen dies anschaulich.
10 11 12 13
Vgl. Glück, 2008: 73. Hierzu insbesondere: Görg, 2010: 13 ff. Zeino-Mahmalat, 2006: 20. Kálnoky, 2014.
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Aufmerksamkeit erzeugen: Handlungsmöglichkeiten der Akteure Extremistisch oder fundamentalistisch Handelnde können Einzelpersonen oder in Gruppen Agierende sein, die direkt oder indirekt gefördert werden (durch Staaten, Geheimdienste, getarnte Organisationen etc.) und die neben harten und gewalttätigen Aktionen auch »weiche« Ziele verfolgen, beispielsweise indem sie propagandistisch in der Öffentlichkeit oder im Untergrund wirken oder bisweilen mittels »legaler Arme« politisch agieren (wie z. B. »Sinn Fein« in Irland, die als legaler politischer Arm der IRA gilt).14 Ein Problem für Gruppen oder Einzelpersonen, die als »extrem« stigmatisiert sind, bleibt indes die Erzielung von Öffentlichkeit. Während bereits die interne direkte Kommunikation behindert ist (durch Spitzel, Konkurrenten um Positionen innerhalb des Gruppengefüges oder immanenten Fahndungsdruck) ist die äußere Kommunikation diskreditiert: Auf eine faire Berichterstattung kann nicht gehofft werden. Um trotzdem eine Außenwirkung erzielen zu können und damit auch nach innen Solidaritätseffekte zu fördern und eine kontinuierliche finanzielle Ausstattung sicherzustellen, ist »Werbung« in eigener Sache unabdingbar. Untrennbar verbunden mit allen Formen regulärer oder politisch/religiös determinierter Öffentlichkeitsarbeit ist also die Bedeutung von Werkzeugen der Publizität: Gerade durch soziale Netzwerke und Internetmedien wächst wieder die Macht von kleinen Gruppen und Einzelpersonen, die sich in der vermeintlichen Anonymität der Virtualität unbeobachteter wähnen als im direkten Gespräch und gleichzeitig eine Vielzahl von Menschen erreichen können.15 Die von ihnen angesprochenen und angezogenen Nutzer selektieren die ihnen genehmen Informationen, ohne Widerspruch fürchten zu müssen, und können sich als Teil einer »schweigenden Mehrheit« fühlen. Um öffentlich wirksam zu sein, bedarf es also nicht mehr notwendig eines ungehinderten Zugangs zu Journalisten oder großen Redaktionen. Interessierte nutzen Videoportale, Blogs oder auch nur die Kommentarspalten von Mainstreammedien, um ihre Meinung zu verbreiten. Die Terrorgruppe IS betreibt ein eigenes Online-Magazin16 und produziert Werbeclips mit Videospielästhetik17. Extreme Minderheitenmeinungen kommen den klassischen Medien mitunter nicht ungelegen: Immer schon dienten Leserbriefspalten von Tageszeitungen als Ventil für Unzufriedenheit oder konnten sogar transportieren, was eine Redaktion selbst nicht schreiben wollte oder durfte. Dadurch können auch Min14 15 16 17
Dingley, 2012: 176. Piasecki, 2013: 67 – 71. Musharbash, 2014. O.V., 2014.
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derheitenmeinungen zu Wort kommen oder Facetten eines gesellschaftlich brisanten Themas zugelassen werden, die ansonsten unterdrückt würden.18 Die Möglichkeit von Autoren, in Internetblogs oder Kommentarspalten offen ihre Ansichten zu posten, hat möglicherweise auch – aber nicht nur – einen kathartischen bzw. entlastenden (»reinigenden«) Effekt: Endlich können Nutzer ihre Meinung zu allen Themen öffentlich loswerden, dürfen mitreden, Frust und Wut ausleben.19 Anbieter stellen aber nicht mehr nur Informationen zur Verfügung, sie dürfen und müssen durchaus auch mit Reaktionen der Rezipienten rechnen, da Mediennutzer mit ihren »Motiven, Vorstellungen, Vorerfahrungen, der konkreten Rezeptionssituation« sich in das »Gewebe von Faktizität« (Gaye Tuchman) begeben.20 Redaktionsbesetzungen von Umwelt- oder Flüchtlingsgruppen sind hier ebenso als Beispiele zu nennen wie Wut- und Proteststürme in sozialen Netzwerken oder singuläre Gewaltspitzen: Der als »Attentäter von Frankfurt« bekannt gewordene 21-jährige Arid Uka, der am 2. März 2011 in Frankfurt zwei USSoldaten erschoss und drei weitere zu töten versuchte, wurde als Einzeltäter im Internet radikalisiert. Uka gab an, das Video der Vergewaltigung einer Afghanin durch US-Soldaten habe ihm hierzu den letzten Motivationsschub vermittelt (dabei war das Video nicht einmal authentisch, sondern entstammte einem USSpielfilm). Er hat die Botschaft eines fiktiven Clips geglaubt, weil er von der Existenz einer solchen Realität überzeugt war.21 Die islamistischen Attentäter von Paris übten nach ihren Angaben Vergeltung für die Veröffentlichung islamkritischer Karikaturen durch das angegriffene Blatt aus. Während Politiker und Vertreter der Islamverbände beschwichtigten, islamistische Terroristen handelten nicht im Namen des Islam,22 begrüßten alQaida-Anhänger und fundamentalistische islamische Geistliche die Tat, die »schlechte Manieren beim Umgang mit dem Propheten« bestrafe und die Grenzen der Meinungsfreiheit aufzeige.23
18 Heupel, 2007: 21 ff. 19 Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass die Medienpsychologie die Katharsisthese als widerlegt ansieht: Kunczik u. Zipfel, 2008: 449. 20 Pirner, 2001: 224. 21 Reinbold, 2014. 22 hba/nin (Deutschlandfunk) (2015). 23 Seiffert, P. (2015) und kiru (focus) (2015).
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Die Rolle von Medien als Gestalter und Verzerrer von Wahrnehmung Meistens sind es klassische Medien (Print, TV, Radio), die auch Online-Medien in ihrer Themenwahl beeinflussen.24 Deren Informationen jedoch, die gerade durch »Echtzeit«- (Online-) Medien jederzeit und von jedem bezogen werden können, sind nicht leicht auf ihre Validität hin zu überprüfen, da ihre Herkunft nicht immer klar ist, der Inhalt aber notwendig immer durch den Verfasser geprägt ist. Intention und Themenwahl der Nachrichtenanbieter sind weder in klassischen noch in Onlinemedien immer transparent, die tiefe emotionale Berührtheit vieler Mediennutzer hingegen ist es.25 Journalisten berichten auch dann, wenn sie, wie im Falle von 9/11, eigentlich nichts zu berichten haben: »Erst drei Tage nach den Anschlägen konnten die Journalisten und Korrespondenten vor Ort nach eigener Aussage erstmals wirklich auf Hintergründe des Geschehens eingehen.«26 Der Eindruck der drastischen Bilder von den Anschlägen und die Wirkung der unterlegten Musik (tagelang wurde nur gesendet, aber nicht berichtet) gingen über die bloße Nachrichtenvermittlung hinaus; sie sollten informieren, aber auch trösten und einen Kanal bereiten für die Wut angesichts der Geschehnisse in New York – sie folgten so nicht zuletzt den Event-Erwartungen der Konsumenten, die an das seitens der Medien gestaltete Identifikationsangebot des kontrollierten Blicks hinter die Kulissen27 gewohnt sind: Mit den Worten Pelinkas wird die kommunikative Qualität auf die quantitative Fähigkeit reduziert, möglichst viele Leser und Seher zu erreichen. »Quotenjagd um jeden Preis ersetzt einen auch nur vagen Kriterien der Aufklärung verpflichteten Journalismus, Marketingqualitäten besitzen oberste Priorität«28. Erfolgreiche Kommunikation nach innen und außen ist die Voraussetzung dafür, dass Ideen und Kulturen sich halten, durchsetzen, verbreiten und weiterentwickeln können. Durch die Effizienz und Schnelligkeit der modernen Massenmedien wird dauerhaft ein Überangebot an Informationen erzeugt. Der Wert einer Nachricht wird beständig neu definiert. Medienerzeuger und Mediennutzer verlangen nach Botschaften, die sich etwa durch Neuigkeit oder Andersartigkeit von eben jenem Überangebot klar abheben. Nur dann ist eine Nachricht mediengerecht und hat eine Chance, vermittelt zu werden. Eine Nachricht muss demnach bestimmte Kriterien aufweisen, die auf eine größere Relevanz schließen lassen, damit sie an den Entscheidern (auch Gatekeeper29 24 25 26 27 28 29
Hierzu Berens, 2001: 223 ff. Step, Finucane u. Horvath, 2002: 261. Brosda, 2002: 69. Kepplinger u. Staab, 1992: 46. Pelinka, 1997: 41. In der Kommunikationswissenschaft sind Gatekeeper meist personelle Einflussfaktoren, die
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Stefan Piasecki
genannt) vorbei und in die Öffentlichkeit gelangt – bisweilen werden dadurch Wahrnehmungsverzerrungen hervorgerufen, die, einem Zerrspiegel gleich, Probleme über- oder unterdimensionieren und zu von der jeweiligen Wahrnehmung abhängigen mentalen Konstruktionen von Subjekten machen30.
Symbiose von Extremismus und Öffentlichkeit Ebenso wie Extremisten auf Öffentlichkeit angewiesen sind, sind Medien auf Extremisten angewiesen. Diese bieten ihnen die brisanten »Geschichten«, aufgrund derer Kunden ein Medienprodukt kaufen.31 Der »Scoop«, die Sensation, wird zur Maxime der publizistischen Entscheidung.32 Zwei Aspekte sind bei der Behandlung des vorliegenden Themas von besonderer Relevanz: – die Arbeitsweise von Medienmachern und – die Arbeitsweise von Extremisten. Medienmacher und -entscheider befinden sich in einem Zwiespalt, wenn sie Tatsachen berichten wollen, gleichzeitig Extremisten nicht dienlich sein und zudem dem Druck von Regierungsstellen und Geheimdiensten standhalten müssen: Die einen wollen sich in den Medien wiederfinden, die anderen bestimmte Inhalte aus ihnen heraushalten, ohne dass offen von Zensur gesprochen werden muss.33 Dennoch sind Nachrichten immer auch kommerziable Ware. Insbesondere Tages- und Wochenzeitungen, aber auch das Fernsehen oder der Rundfunk (gerade die privaten Anbieter) sind von massiven Rationalisierungen betroffen. Zeitungen werden eingestellt oder erscheinen als »Mäntel«, die von wenigen Redakteuren einzelner Redaktionen oder zunehmend von freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erstellt werden. Die Konkurrenz durch kostenlose oder kostengünstige Onlineangebote ist drängend, die als Allheilmittel erwartete »Bezahlschranke« etwa des Springer-Verlages für Online-Content kann sich nicht durchsetzen. Mediennutzer haben sich heute daran gewöhnt, ihre Informationen selbst zu selektieren und abzuwägen, inwiefern sie den Quellen vertrauen können. Die jüngsten Skandale um manipulierte Ranglisten sowohl in der Zeitschrift des ADAC wie auch in Sendungen des öffentlich-rechtlichen
30 31 32 33
darüber entscheiden können, welche Nachricht erscheint. Siehe zur Gatekeeper-Forschung auch: Staab, 1990: 12 ff. Beispielhaft zum Verschwindenlassen des Phänomens der Arbeitslosigkeit durch Neu- und Umdefinitionen als »mentales Konstrukt«: Staub-Bernasconi, 1997: 200 f. Vgl. Staab, 1990: 205. Teichert, 1996: 751. Linder, 2011: 118 ff.
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Fernsehens dürfte den seit Jahren zu beobachtenden Trend zur Individualisierung der Informationsselektion und bewussten Auswahl des Trägerkanals (Print, Funk, Internet etc.) verstärken. Das veränderte Nutzungsverhalten hat auch die Vermittlungsformen der klassischen Medien selbst verändert. Text und Inhalt haben gegenüber Bild und Ton an Bedeutung verloren.34 Journalisten stehen unter wirtschaftlichem Druck. Sie müssen einen permanent hohen Ausstoß von Zeilen unter wirtschaftlich drängenden Rahmenbedingungen erzeugen. Dies führt einerseits dazu, dass die Recherche vernachlässigt und Meldungen gänzlich oder teilweise von Agenturen oder anderen Zeitungen übernommen werden, die ihrerseits ihre Bedeutung mit der Häufigkeit unterstreichen können, mit der sie in anderen Periodika zitiert werden.35 Blum spricht folgerichtig von »Meinungsführermedien«36. Andererseits werden die Selektionskriterien, wie sie etwa die »Nachrichtenwerttheorie«37 formuliert hat, nicht mehr allein an der Bedeutung einer Nachricht, sondern verstärkt daran gemessen, wie schlagzeilenträchtig eine Meldung ist. Solche klassischen Selektionskriterien, nach denen die journalistischen »Gatekeeper« ausgewählt haben, waren schon bei Schulz etwa »Nähe« des Geschehens zum Mediennutzer, »Prominenz« von Tätern oder Opfern, »Überraschungseffekte« der Ereignisse, ermittelbare oder absehbare »Schäden«, »Identifikation« mit Tätern oder Opfern eines Ereignisses und andere mehr. Vor dem Hintergrund dieser Liste hat ein Verkehrsunfall in der lokalen Umgebung höheres Gewicht als einer in der Ferne, die Gewalttat gegenüber einem Kind wirkt stärker als gegenüber einem Erwachsenen, der Ladendiebstahl eines Prominenten mehr als derjenige eines Beamten. Sowohl Anbieter von Nachrichten als auch ihre Rezipienten orientieren sich nach Meinung der Vertreter der Nachrichtenwerttheorie bei der Nachrichtenauswahl an diesen Faktoren. Je mehr dieser Faktoren von einer Nachricht erfüllt werden, umso größer soll das Interesse an der Selektion des Themas sein. »Ereignisse werden erst dadurch zu Nachrichten, daß sie aus der Totalität und Komplexität des Geschehens ausgewählt werden. Nur durch die Unterbrechung und Reduktion der raum-zeitlichen Kontinuität und der Ganzheit des Weltgeschehens lässt sich Realität umsetzen in Nachrichten«38.
Extremisten nun vertrauen darauf, dass sie mit gezielten Einzelaktionen eine größere Aufmerksamkeit erzielen können als mit langfristigen politischen Prozessen, die noch dazu ungewissen Ausgangs sind. 34 35 36 37 38
Schweiger, 2007: 347 ff. Hierzu: Scholz & Friends, 2014. Blum, 2011: 10. Grundlegend: Schulz, 1976: 31 ff. Schulz, 1976: 9.
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Mit welchen Argumenten wird eine gesellschaftliche Relevanz begründet und wie gerinnen subjektive Betrachtungen von Journalisten und Meinungen von Augenzeugen und Interviewpartnern gemeinsam mit den Reaktionen und Sichtweisen der Zuschauer und Leser zu einem Abbild der öffentlichen Meinung diesen Konflikt betreffend? Hall stellt fest: »Das Publikum oder der Empfänger muss auch einen Interpretationsrahmen entwickeln, damit die ›Botschaft ankommt‹ und die ›Bedeutung begriffen‹ wird.«39
Der Interpretationsrahmen aus Sicht von Zuschauern bildet den Verstehenshintergrund, in den eine Nachricht eingebettet wird. Je größer die Nähe zu geteilten Ängsten oder Hoffnungen, um die emotionale Ebene zu benennen, umso stärker wird eine Nachricht einen Rezipienten berühren, selbst wenn er sich an einem gänzlich anderen Ort und in einem vollkommen anderen Kontext befindet. Medien formieren den »Spiegel einer öffentlichen Erwartungshaltung und eines allgemeinen Informationsstandes«.40 Der Anspruch der jeweiligen Autoren und Herausgeber und ihr journalistisches Interesse sind entscheidend für die Veröffentlichung eines Themas41 und verbinden sich mit der vermuteten Erwartungshaltung der Rezipienten, wodurch sie sich der erfolgs- und auflagendeterminierten Erfüllungshoffnung und den Gewinnerwartungen des Verlegers unterwerfen.42 Der öffentliche Diskurs wird demnach sowohl bestimmt von einer Informationserwartung (der Mediennutzer) als auch der Selbstverwirklichung (der Autoren) und dem Gewinninteresse (der Verleger). Die nach Mead als Kommunikationsgemeinschaft43 adressierbare Zielgruppe erhält durch eine das Massenbewusstsein beeinflussende, verstärkende und steuernde Berichterstattung, welche die Problemlagen möglicherweise verharmlost oder überzeichnet, einen verzerrten Zugang zu den Quellen und dem Verlauf von gesellschaftlichen Prozessen. Print-, Funk- und Onlinemedien dominieren die gesellschaftliche Problemwahrnehmung vieler Menschen zur gleichen Zeit – Elemente der gesellschaftlichen Gruppenkommunikation bleiben jedoch auch dann wirkmächtig, wenn der Empfänger einer Kommunikation im Moment der Rezeption physisch alleine ist, sich aber psychologisch als Teil einer Kommunikationsgemeinschaft empfindet,44 die sich den gleichen (medial vermittelten) Wert- und Denkschablonen unterwirft: Die »schweigende Mehrheit
39 40 41 42 43 44
Hall, 1989: 135. Rey, 1995: 53. Staab, 1990: 193. Siehe auch: Kepplinger, 1999: 698. Mead, 2005: 299 ff. Petkovic, 2003: 162 ff.
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im Internet« trägt durch den Alltagszweifel; sie hört im Zweifel zu und widerspricht nicht.
Kritik an der medialen Wirklichkeitserzeugung Journalisten sind Gatekeeper, müssen sich dieser Funktion und Rolle jedoch bewusst sein und sie auch ausüben wollen, sich als solche »ins Gespräch bringen und unentbehrlich« machen.45 Dernbach schwebt ein »Leistungssystem Journalismus« vor. Dabei müssten aber bei der Definition »kollektiver Relevanzindikatoren«46 (die über die Wahrscheinlichkeit informieren, nach dem ein Ereignis vom Rezipienten ausgewählt, wahrgenommen und erinnert wird) tatsächlich Fakten über den Willen zur Sensation47 obsiegen und wirtschaftliche Erwägungen dürften nicht vorherrschend sein.48 Die Illustration von Artikeln mit eigentlich irrelevanten Horrorbildern49 oder die Erschaffung von Lesegeschichten mit personalisierten Schicksalsbeschreibungen ist allerdings ein Beispiel für die Definition bedenklicher Relevanzindikatoren und die Komposition einer möglicherweise im Nachhinein desorientierenden Wirklichkeitswahrnehmung. Abschließend ist noch auf unbeabsichtigte Solidarisierungseffekte zu verweisen. Schiffer warnt beispielsweise entschieden davor, durch die möglicherweise dramatisierende Darstellung von Horrorbildern von Attentaten und ihrer Opfer oder auch Gräueltaten gegenüber Extremisten selbst (z. B. durch staatliche Folterungen etc.) die Symbolik von Untergruppen (in diesem Fall Terroristen) zu verwenden und deren Argumente dadurch »wahr« zu machen.50 Weder die Mediennutzer noch in vielen Fällen die Berichterstatter können den Wahrheitsgehalt entsprechender Informationen überprüfen – und die Folgen noch weniger abschätzen. »Vier dumpfe Schläge, dann Schüsse: 55 Stunden auf der Fährte der Killer von Paris« – mit dieser je aktualisierten Schlagzeile berichtete Focus-Online-Redakteur Paul-Nikolas Hinz über Tage hinweg von den Geschehnissen rund um Paris. Neben verwackelten Fotos der Fahndung immer auch das blasse Gesicht des Autoren abgebildet, der sich zur Partei im Terror-Kampf macht und nicht minder leidet als alle anderen: »Anschlag in Paris, Tote in einer Satire-Redaktion: Mit dieser Meldung begann eine Terror-Serie, die Frankreich erfasste und die Welt erschütterte. Für mich war 45 46 47 48 49 50
Dernbach, 2009: 39. Höfner, 2003: 102. Teichert, 1996: 751. Teichert, 1996. Z. B. Seitz, 2006. Schiffer, 2007: 171.
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sie das Signal zum Aufbruch in einen Reporter-Einsatz. Es folgten 55 dramatische und erschütternde Stunden auf der Fährte der Frankreich-Killer.«51 Ein ungestelltes Selfie rahmt die Einleitung, das Dramatik und Übernächtigung visualisieren soll. Hinz bringt die Leser gleich hinein in die »Action«: »Plötzlich vier dumpfe Schläge. Boom. Boom. Boom. Boom. Die Menschen zucken zusammen. Schüsse rattern, fünf, zehn, zwanzig. Noch ein dumpfer Schlag. Dann kommen die Sirenen. Krankenwagen fahren los. Kurze Zeit später kommt einer wieder. Dann ein zweiter, eskortiert von zwei Motorrädern der Polizei. Dann ist es vorbei.«52 In der Sprache der Videospielgeneration wird hier auch Älteren schnell deutlich, welche Bedrohung der islamische Terrorismus für die Gesellschaft bedeutet. Gleichzeitig ist anerkennenswert, wie anstrengend und gefährlich das Reporterleben ist. Die absichtsvolle Komposition von Wirklichkeit zur Erzeugung einer Nachricht mag aus Sicht des Mediums begründet sein, kann aber Gefahren der Radikalisierung oder auch Gewöhnung für die Zukunft bergen. Schultz will die Berichtenden daher nicht aus ihrer Verantwortung dafür entlassen, wie und worüber sie berichten und was ihre Berichterstattung möglicherweise für Folgen zeitigt. »Ein Journalist ist ein Wichtigmacher. Das ist sein Beruf. Aber trotz unbestrittener Meriten unserer bundesdeutschen Publizistik scheint sie mir zur Zeit eher ein Nährboden für Wichtigtuer zu sein. Ein Trend der Bevorzugung, der Begünstigung der geläufigen, der attraktiven oder sensationellen, eben der verkäuflichen Information ist festzustellen. Information, von Haus aus im Dienst des Wahren, ist in die Nähe der Ware gerückt. Die Publizistik als Medium des Interessanten ist im Begriff, zu einem Instrument der Interessenten zu entarten.«53
Die Medien hinterfragen jedoch ihre eigene Rolle nur unzureichend, sodass ihnen die Diskrepanz zwischen beschriebener und echter Realität oft nicht auffällt: »Journalisten beschreiben die Missstände, sie führen vor, sie klagen an. Das ist richtig und wichtig. Ein seltsames, aber charakteristisches Phänomen ist jedoch, dass die Presse sich von der Kritik ausnimmt. Sie hat ihren blinden Fleck dort, wo sie mit sich selbst konfrontiert ist.«54
Medien stellen Öffentlichkeit her und moderieren diese Öffentlichkeitsvermittlung zwischen den Konstanten Politik, Gesellschaft und Medien. Sie sind keine reinen Übermittler von Nachrichten, sondern stellen ein Hintergrundwissen 51 52 53 54
Hinz, 2015. Hinz, 2015. Schultz, 1989: 21 (Hervorhebungen im Original kursiv, S.P.). Leyendecker, 2003: 151 f.
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bereit und schreiben es fort, von dem man in der Kommunikation ausgehen kann.55 Schulz nennt sie »Weltbildapparate«56, die den Informationsgehalt von Politik herstellen und überhaupt erst definieren, was ein politisches Ereignis und somit ein gesellschaftlich wahrzunehmendes Thema ist.57 Da sie hierbei keiner Kontrolle unterliegen, die der demokratischen Kontrolle politischer Institutionen vergleichbar wäre (ausgenommen durch die Selbstkontrolle mittels des Pressekodexes, den Pöttker allerdings als grobschlächtig ablehnt und der erst einem Öffentlichkeitsfetischismus Platz mache58), gleichzeitig aber die Pressefreiheit als hohes Gut von Verfassungsrang betrachtet wird, wird den Medien eine beträchtliche Macht zuteil.59 Festzustellen bleibt, dass der moderne religiöse Fundamentalismus und der politische Extremismus nach wie vor und wohl zunehmend angewiesen sind auf eine möglichst breite mediale Berichterstattung – diese erzeugt und lenkt öffentliches Interesse auf die virtuellen eigenen Informationskanäle, die dann ungestört ihre Wirkung entfalten können. Medienmacher und Kommunikatoren müssen sich vorsehen, dass sie durch eine möglicherweise unreflektierte Übernahme von Inhalten und Themen sowie die Bereitstellung von Online-Infrastrukturen wie Kommentarfeldern nicht zu Kolporteuren und unfreiwilligen Nutznießern und Verbreitern gesellschaftlich destabilisierender Propaganda und Gewalt werden.
Pädagogische Schlussfolgerungen zur medialen Sozialisation und möglichen Radikalisierung Allein auf die tatsächliche oder befürchtete Deutungsmacht von Medien zu rekurrieren erscheint bequem und ist tatsächlich ein nach wie vor gängiges Muster von Medienkritik. Für die Arbeit mit jungen oder gefährdeten Menschen reicht dies jedoch nicht aus. Spätestens durch die zunehmende multimediale Einwirkungsmöglichkeit von Nutzerinnen und Nutzern auf die subjektive Content55 56 57 58
Luhmann, 1996: 121 f. Schulz, 1997: 236. Zur Filterfunktion von Journalisten siehe auch: Staab, 1990: 202. »Der Kodex ist dazu da, gesellschaftliche Ansprüche auf rechtliche Regulierungen des Journalismus durch den Hinweis auf die dort festgeschriebenen Moralvorgaben abzuwehren, die Spruchpraxis sorgt dafür, dass das Mediengeschäft nicht durch allzu rigides Pochen auf diese Vorgaben beeinträchtigt wird. Was bei immanenter Analyse wie ein Widerspruch erscheint, ist durchaus im Interesse der Verleger und ihrer Verbände«. In Pöttker, 2007: 241. 59 Eine Kontrolle geht zwar auch von den Kollegen aus, doch Kepplinger vermutet, dass Journalisten erst dann öffentlicher Kritik ausgesetzt würden, wenn sie ein »politisch unbilliges Urteil gefällt« hätten und somit nach den Regeln der Politik behandelt werden könnten. In Mahle, 1993: 238.
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Auswahl, die Beeinflussung der Inhaltsproduktion durch immanentes Feedback und Viralität der Weiterverbreitung in sozialen Netzwerken (»Diffusion«: Extremereignisse verbreiten sich häufig abseits der Medien in interpersonaler Kommunikation60) müssen das rezipierende Individuum einerseits und betreuende und bildende Kontexte deutlich stärker berücksichtigt werden. Die Frage, wer oder was die Sozialisation von Menschen beeinflusst und wie nachhaltig dies ist, erhält ein neues Gewicht, denn zunehmend ersetzt offenkundig eine medial unterstützte oder vermittelte Selbstsozialisation den in der Vergangenheit die Persönlichkeit entwickelnden Umgang mit Institutionen (Schulen, Gemeinden), Peer oder Familie. Radikalität wird nicht mehr allein nur durch direkt verfügbare Personen vermittelt. Medien in ihrer breiten Vielfalt, damit sind eben nicht mehr nur TV-Nachrichten oder Zeitungen gemeint, sondern auch Videoplattformen etc., prägen die Lebenswelt von Menschen immer stärker – die Grenzen zwischen Unterhaltungs-, Konsum- und Bildungsangeboten verschwimmen. Sie treten neben die klassischen Sozialisationsagenturen61 und determinieren Weltanschauung und Weltwahrnehmung und damit auch Sicht auf und Empfinden von Gesellschaft. Gefühle von Hass und Marginalisierung müssen nicht selbst erlebt werden, sondern lassen sich auch medial vermitteln bzw. einflüstern und nachempfinden durch aufwühlende Videobotschaften sowie durch tatsächliche oder vermeintliche Tatsachenberichte von Augenzeugen. Betreuerinnen und Betreuer bzw. Handelnde in Schulen und Jugendgruppen müssen die häufig weitgehend unbegleitete mediale Selbstsozialisation62 vieler Kinder, Jugendlicher (aber auch zunehmend älterer Menschen) zur Kenntnis nehmen und entsprechend integrieren. Ansätze können hier eine aktive Medienarbeit sein, die auch die Genese von Nachrichten und die Informationsproduktion in den Mittelpunkt stellt und über die Erlebens- und Erfahrungsangebote informieren, die letztlich eine Selbstsozialisation durch Medien befördern.63 Wichtig erscheint aber auch, sich stets der Prägewirkung von medialen Inhalten bewusst zu sein, die sich nicht zuletzt auch auf die Identitätskonstruktion und -rekonstruktion und damit die Sozialisationswirkungen von Medien auswirken können,64 da ansonsten wichtige Kategorien sowohl intentionaler wie auch nichtintentionaler Sozialisation ohne ausreichende Berücksichtigung blieben.65
60 61 62 63 64 65
Hierzu: Emmer, Kuhlmann, Vowe u. Wolling, 2002: 166 – 177. Kübler, 2010: 17. Siehe auch: Pirner, 2012: 159. Vgl. zum Ganzen mit einer Vielzahl denkbarer Zugänge: Mikos, Hoffmann u. Winter, 2007. Hierzu: Kübler, 2010: 21. Kübler, 2010: 23.
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Zu etablieren ist mithin verstärkt eine medienbewusste und -kritische pädagogische Jugend- und Sozialarbeit (präziser: Menschenarbeit, um alle sozialen, kulturellen und Altersgruppen berücksichtigen zu können), die Medien und ihre Inhalte als wichtige Komponenten für die Prägung von Bewusstsein, Selbstund Weltwahrnehmung anerkennt und berücksichtigt. Alleine dann können Dritt-Personen-Effekte durch ihrerseits medienpädagogisch geschulte Betreuungspersonen erkannt und abgefedert werden. Solche Effekte treten ein, wenn medial beeinflusste Individuen aus bestimmten Gründen66 davon ausgehen, dass Medien auf andere einen noch größeren Einfluss haben als auf sie selbst, und sie daraus für sich bestimmte Verpflichtungen zum Handeln, Verhaltensweisen oder Schlussfolgerungen ableiten (Verbieten, Protest, Schutz von vermeintlich Schwächeren, Gewalt etc.).
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66 hierzu: Schenk, 2007: 550 ff.
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Dietmar Molthagen
Fundamentalismus und Demokratie – am Beispiel des Salafismus und des Rechtsextremismus in Deutschland
Einleitung »Wir Demokraten stehen weiter zusammen und bekräftigen unser Versprechen: Wir schenken denen, die Gewalt und Hass verbreiten, nicht unsere Angst. […] Wir wissen: Es sind nur wenige. Doch was sie zerstören wollen, das ist uns unendlich wertvoll. Es ist das, was unser Land ausmacht – der Respekt vor der Würde des Menschen, das ›Ja‹ zu den Menschenrechten, zur Achtung des Rechts und zu einem Leben in Pluralismus und Offenheit. Und wer Menschen, die hier leben, dies abspricht oder ihnen sogar Gewalt antut oder androht, der spricht nicht für dieses, für unser Deutschland!«1
Mit diesen Worten bekräftigte Bundespräsident Joachim Gauck bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds am 9. Juni 2014 in Köln eine Grundüberzeugung, die viele teilen werden: Demokratie geht nicht mit Hass und Gewalt zusammen. Wer Pluralismus, Menschenrechte und Offenheit ablehnt, dabei sogar noch Gewalt ausübt, stellt sich außerhalb des demokratischen Konsens. Das eine – die Demokratie – ist gut, das andere schlecht. Aber was genau ist dieses andere? Im Fall der Rede des Bundespräsidenten ist dieses andere der gewalttätige Rechtsextremismus. In anderen Zusammenhängen wird auch Islamismus zu diesem anderen, das aus demokratischer Perspektive abgelehnt wird. Zusammenfassend nennt man diese Phänomene Extremismus oder Terrorismus, bisweilen auch Fundamentalismus – der Begriff, der im Rahmen dieses Sammelbandes im Mittelpunkt steht. Der folgende Artikel will das Verhältnis von Demokratie und Fundamentalismus beleuchten. Fundamentalismus ist – wie am Eingangsbeispiel gezeigt – in der Demokratie ein schwerwiegender Vorwurf. Dabei wird die Waffe des Fundamentalismusbegriffs jedoch schnell zu einem stumpfen Schwert, da er nicht trennscharf verwendet werden kann. Was für den einen Fundamentalismus, ist für den anderen möglicherweise noch tolerable Meinungsäußerung. Und wo genau sich die Grenze zwischen einer in der Demokratie akzeptablen und einer 1 Gauck, 2014.
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demokratiefeindlichen Position befindet, wird immer umstritten sein. Daher ist zu klären, ob Fundamentalismus per se unvereinbar mit der Demokratie ist oder ob sich Abstufungen im Grad der Demokratiefeindlichkeit entwickeln lassen. Nach einer Begriffsklärung der beiden Hautbegriffe dieses Artikels werden mit dem Salafismus und dem Rechtsextremismus zwei Beispiele für religiösen bzw. politischen Fundamentalismus untersucht. Der Anlage des gesamten Bandes folgend liegt ein besonderer Fokus der Betrachtung auf den fundamentalistischen Angeboten für Jugendliche; zudem interessiert das Demokratieverständnis in den untersuchten Bewegungen. Den Abschluss der Ausführungen bildet ein Ausblick auf mögliche Schlussfolgerungen für Interventionsund Präventionsstrategien, wobei auch auf die Rolle von Kirchen und Religionsgemeinschaften eingegangen wird.
Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform Die titelgebenden Begriffe des Aufsatzes haben beide eine lange Forschungstradition. Das griechische Wort Demokratie ist wörtlich als Volksherrschaft zu übersetzen. Nach weitgehendem Konsens in der politikwissenschaftlichen Debatte muss eine Demokratie Herrschaft nach dem Prinzip der Volkssouveränität vergeben, Grundrechte rechtsstaatlich garantieren, Partizipationsmöglichkeiten für alle Bürger eröffnen und soziale Gerechtigkeit gewährleisten.2 In einem berühmt gewordenen Ausspruch fasste US-Präsident Abraham Lincoln die Demokratie knapp zusammen als »das Regieren des Volkes durch das Volk und für das Volk«3. Dass sich Demokratien in einem permanenten Prozess verändern, zeigt schon die Veränderlichkeit der Definition des »Volkes«. In Deutschland zählt beispielsweise die weibliche Hälfte der Bevölkerung erst seit 1919 zum politisch entscheidenden Volk – also denjenigen, die über das Wahlrecht verfügen. Auch heute besteht eine Diskrepanz zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Bürgerinnen und Bürgern4, was sich im Juni 2014 am Berliner Volksentscheid zur Zukunft des ehemaligen Flughafengeländes auf dem Tempelhofer Feld gezeigt hat. Gerade unter den unmittelbaren Anwohnern waren viele mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die beim Volksentscheid entsprechend kein Wahlrecht hatten. Von der demokratischen Entscheidung über ihr unmittelbares Wohnumfeld waren sie somit ausgeschlossen. Diese wenigen Beispiele zeigen bereits, 2 Schultze, 2002: 51 f. 3 Zit. in Breit, 2011: 185. 4 Im Interesse des Leseflusses wird im Folgenden auf die Ausschreibung der weiblichen und männlichen Form verzichtet. Es sind jedoch unabhängig von der Schreibweise stets beide Geschlechter gemeint.
Fundamentalismus und Demokratie
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dass die Ideen und Praktiken der demokratischen Volksherrschaft etwas Veränderbares sind. Dabei ist positiv hervorzuheben, dass die Demokratie bislang tendenziell die politischen Beteiligungsmöglichkeiten kontinuierlich erweitert hat. Einen Überblick über die Vielzahl der Demokratietheorien zu geben, würde diesen Artikel sprengen.5 Mit Blick auf die deutsche Debatte und die hier interessierende Gegenüberstellung von demokratischer und fundamentalistischer Haltung muss allerdings noch auf die »freiheilich-demokratische Grundordnung« eingegangen werden. Eine solche ist zwar nicht im Grundgesetz definiert, hat sich aber aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt und gilt heute als Grundkonsens der Demokraten, von dem Extremisten und fundamentalistische Demokratiefeinde abweichen. Dazu gehören: – die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, – die Volkssouveränität, – die Gewaltenteilung, – die Verantwortlichkeit der Regierung, – die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, – die Unabhängigkeit der Gerichte, – das Mehrparteienprinzip und – die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Ausübung einer Opposition.6 Mit Blick auf die pädagogische Perspektive des vorliegenden Sammelbandes ist abschließend noch auf die Differenzierung des Demokratiebegriffs von Gerhard Himmelmann hinzuweisen. Er hat für die pädagogische Arbeit unterschieden in Demokratie als Herrschaftsform, als Gesellschaftsform und als Lebensform und betont, dass alle drei Bereiche im pädagogischen Handeln eine Rolle spielen sollten. Damit verweist Himmelmann darauf, dass Demokratie mehr ist als eine rein politische Organisation der Machtvergabe und -ausübung. Demokratie hat immer auch den Anspruch, sich auf das Leben ihrer Bewohner positiv auszuwirken. Wichtig ist diese Differenzierung, da die drei Demokratieformen nicht miteinander im Einklang stehen müssen. So werden Ämter in der rechtsextremen und demokratiefeindlichen Partei NPD durchaus per demokratischer Wahl vergeben. Demokratie als interne Herrschaftsform wird somit auch von einer Partei praktiziert, die sich gegen die Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform ausspricht.7 5 Für einen Überblick siehe Massing, Breit und Buchstein, 2011. 6 BpB, o. J. 7 Himmelmann, 2001.
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Fundamentalismus – Annäherung an einen schillernden Begriff Für den Begriff »Fundamentalismus« gibt es eine Vielzahl von Verwendungen, die die Genauigkeit des Begriffs erheblich einschränken. Das Lexikon für Soziologie beginnt die Begriffserklärung mit den Worten: »das kompromisslose, dogmatische Festhalten an bestimmten, insbes. religiösen und polit. Überzeugungen«8. Ergänzt werden im Folgenden der Hinweis auf ein kämpferisches und fanatisches Eintreten für die eigene Überzeugung sowie das Vorhandensein fundamentalistischer Strömungen in Religionen, sozialen Bewegungen und politischen Parteien. Einen religiösen Bezug impliziert die Herkunft des Begriffs aus einer christlichen Bewegung in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich gegen die historisch-kritische Bibelexegese wandte und stattdessen ein wortwörtliches Verständnis der Bibel forderte.9 Thomas Meyer verweist auf die andauernde Fachdebatte der Frage, ob Fundamentalismus auf religiöse Erscheinungsformen beschränkt bleiben sollte oder auch auf säkulare angewendet werden kann. Er selbst spricht sich für Letzteres aus, denn »innerhalb aller Kulturen und Religionen gibt es fundamentalistische und nicht-fundamentalistische Positionen«10. Als Wesensmerkmale des Fundamentalismus lassen sich nennen: – ein wörtliches Verständnis der (eigenen) heiligen Schrift oder die Verabsolutierung der eigenen weltanschaulichen Position, – das unbedingte und unhinterfragte Festhalten an bestehenden Regeln der eigenen Gemeinschaft, – das Verweigern eines Diskurses über Erkenntnisse, die der heiligen Schrift bzw. den weltanschaulichen Positionen sowie den aus beiden abgeleiteten Regeln widersprechen, – der Anspruch, das eigene Denken auf alle Menschen bzw. alle Mitglieder einer Gesellschaft auszuweiten, – das Denken in Freund-Feind-Kategorien unter Negierung fundamentaler Menschenrechte. Einigkeit besteht in der Forschung dahingehend, dass ausgehend von der iranischen Revolution 1979 der Begriff Fundamentalismus insbesondere auf islamische Bewegungen angewendet wird – mit einer erneuten Zunahme dieses Diskurses seit den Anschlägen vom 11. September 2001. Als Bestandteile des islamischen Fundamentalismus werden ein wörtliches Koranverständnis, die Rückbesinnung auf eine vermeintlich ideale frühislamische Gesellschaft des 7. 8 Hillmann, 2007: 254. 9 Vgl. Böttcher, 2002. 10 Meyer, 2002: 153.
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und 8. Jahrhunderts, das Ziel der Durchsetzung der Scharia als Rechtsnorm und das Streben nach einem islamischen Staat genannt. Die von den Terroranschlägen des 11. September 2011 ausgelöste »Islamisierung der Integrationsdebatte«11 hat das Entstehen weit verbreiteter Vorbehalte gegenüber dem Islam in der deutschen Bevölkerung befördert.12 Dies erschwert die Analyse islamischen Fundamentalismus, da entsprechende Diskussionen schnell emotionalisiert werden und Netzwerke sowie Online-Medien entstanden sind, die eine wiederum selbst fundamentalistische Islamkritik üben.13 In der Politikwissenschaft werden für fundamentalistische Phänomene zumeist andere Begriffe verwendet, in erster Linie Rechts-, Links- oder islamischer Extremismus. Bedeutsam für den hier vorliegenden Kontext ist, dass der Extremismusbegriff zwar nicht im politikwissenschaftlichen Diskurs – in dem er hoch umstritten ist –,14 aber für das Handeln der Sicherheitsbehörden von entscheidender Bedeutung ist. Denn extremistische Gruppierungen bewegen sich in der Definition von Polizei, Justiz und Verfassungsschutzbehörden außerhalb der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit dem entsprechenden Repressionsdruck der Sicherheitsbehörden. Der Fundamentalismus-Begriff wird aber auch im politischen Kontext verwendet, man erinnere sich beispielsweise an die jahrzehntelange Binnendifferenzierung in der Partei Die Grünen in »Realos« und »Fundis«. Auch innerhalb von Parteien oder sozialen Bewegungen lassen sich fundamentalistische Strömungen erkennen, etwa im Falle von Untergruppen in sozialistischen Parteien, die sich explizit auf Marx, Lenin, Mao oder andere beziehen oder von radikalen bzw. metaphysischen Strömungen in der Ökologiebewegung.15 Betrachtet man die oben genannten Kriterien für fundamentalistische Bewegungen, lassen sich mit Ausnahme einer heiligen Schrift entsprechende Verhaltensweisen auch bei der in diesem Artikel interessierenden rechtsextremen Bewegung finden: Sie zeigt einen absoluten Wahrheitsanspruch der eigenen Ideologie, hält kompromisslos an Dogmen fest (etwa einer natürlichen Überlegenheit der Deutschen), wehrt Erkenntnisse ab, die den eigenen Ideen widersprechen (etwa in Bezug auf die Falsifizierung des Konstrukts verschiedener Rassen) und sie verweigert universelle Menschenrechte (etwa in Bezug auf Minderheitenschutz bis hin zur Aberkennung des Rechts auf Leben).
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Ceylan u. Kiefer, 2013: 73. Vgl. Decker, Kiess u. Brähler, 2013: 86 – 101. Vgl. Bahners, 2011; Shooman, 2012. Vgl. Neugebauer, 2010a. Meyer, 2002: 151.
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Die salafistische Bewegung Die in den vergangenen Jahren am stärksten wachsende islamistische Bewegung in Deutschland sind die Salafisten, die vor allem unter jungen Muslimen populär sind. Dies hat jedoch auch zu einer medialen und politischen Fokussierung auf die salafistische Bewegung geführt, die ihre geringe Größe übersteigt. Zugleich ist eine inflationäre Verwendung des Begriffs »Salafismus« zu beobachten. Gerade in den Medien werden die Begriffe Islamist und Salafist oft synonym verwendet,16 was für eine genaue Analyse der Bewegung hinderlich ist. Das arabische Wort »salaf« meint »Altvordere« und ist ein im Islam positiv besetztes Wort. Die daraus im späten 19. Jahrhundert entstandene Bewegung war zunächst eine religiöse Erneuerungsbewegung, die zu den als vorbildlich angesehenen Praktiken der ersten drei Generationen von Muslimen im 7. Jahrhundert zurückkehren wollte.17 Eine solche Orientierung an einem vermeintlich idealen Urzustand kennt man auch aus fundamentalistisch-christlichen Kreisen, man denke nur an die Gruppe »12 Stämme«, die in den vergangenen Jahren immer wieder durch Schulverweigerung und andere Praktiken mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist.18 Der Anspruch, einen möglichst originalen Islam sehr ernsthaft auch in der Gegenwart zu leben, wird von etlichen nicht-salafistischen Muslimen durchaus positiv gesehen. Dies wiederum erklärt, warum auch der Begriff »Salafiyya« für Muslime nicht unbedingt negativ klingt. Deutsche Muslime differenzieren daher häuig zwischen »Salafiyya« und »Salafismus«. Bisweilen wird auch zwischen einem klassischen Salafismus, der die im späten 19. Jahrhundert begonnene Erneuerungsbewegung meint, und dem aktuellen »Neo-Salafismus« differenziert.19 Als konkrete Ziele wollen Salafisten die Scharia als gottgewollte Ordnung durchsetzen und als Endziel einen »Gottesstaat« auch in Deutschland errichten. Weitere Ideologieelemente sind die Ungleichheit der Geschlechter zulasten der Frau, die Ungleichwertigkeit verschiedener Religionen – oft einhergehend mit einem expliziten Antisemitismus – sowie eine gewaltaffine Rhetorik.20 Dabei verstehen sich Salafisten als elitäre Vorkämpfer, die dadurch durchaus auch mit anderen Muslimen in Konflikt geraten können. Die salafistische Bewegung unterteilt sich in drei Strömungen, – eine radikal-religiöse, die jedoch unpolitisch ist,
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Hummel u. Logvinov, 2013. Farschid, 2013. Spiegel-Online, 2014. Spiegel-Online, 2014: 41 f.; Ceylan u. Kiefer, 2014: 71. Farschid, 2013: 50 – 61.
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– den politischen Salafismus, der versucht, als Partei oder Bewegung politischen Einfluss zu gewinnen, um das Gemeinwesen in einen islamischen Gottesstaat umzubauen, und – den dschihadistischen Salafismus, der ähnliche Ziele wie der politische Salafismus verfolgt, dabei aber ausdrücklich Gewalt akzeptiert bzw. selbst anwendet.21 Die Mehrzahl der in Deutschland bekannten Salafisten wird dem politischen Salafismus zugeordnet. Allerdings gab und gibt es auch die dschihadistische Ausrichtung, denn zumindest alle bislang in Deutschland bekannt gewordenen islamistischen Terroristen haben salafistische Moscheen besucht.22 Laut Verfassungsschutz gibt es in Deutschland momentan rund 5500 Salafisten mit in den vergangenen Jahren steigender Tendenz.23 Die Bewegung hat keine Hauptorganisation und ist nicht straff durchorganisiert, was nicht zuletzt mit den ausgesprochenen Organisationsverboten durch die Innenministerien des Bundes und der Länder zusammenhängt. Die Bewegung ist daher als Netzwerk zu verstehen, dessen Bestandteile unterschiedlich eng miteinander verbunden sind, das stark auf Online-Kommunikation beruht und punktuell Aktionen durchführt. Einen bundesweiten Anführer bzw. eine Führungsgruppe gibt es nicht, auch wenn einzelne Personen über einen hohen Bekanntheitsgrad verfügen, wie etwa der von Medien gern präsentierte Prediger Pierre Vogel. Die Hauptaktivitäten der Bewegung sind die Missionierung (arab. »Da’wa«), die Unterweisung der Anhänger und dazu Aktivitätsangebote wie beispielsweise Solidaritätsveranstaltungen für die Kämpfer in Syrien oder Kundgebungen bzw. Demonstrationen. Bundesweit bekannt geworden sind etwa die in vielen Städten durchgeführten kostenlosen Koran-Verteilaktionen der Kampagne »Lies!« mit Ständen in Fußgängerzonen. Gerade junge Menschen engagieren sich in der Kampagne, bisweilen ohne zu wissen, dass es eine salafistische ist.24 Ein wichtiges Betätigungsfeld ist zudem das Internet, in dem die salafistische Bewegung vielfältig aktiv ist.25
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Steinberg, 2012: 2 – 5. Vgl. Steinberg, 2012: 7. BMI, 2014: 221. BMI, 2014: 224. Vgl. Strunk, 2014.
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Die rechtsextreme Bewegung Rechtsextremismus ist als politikwissenschaftlicher Begriff eine zusammenfassende Bezeichnung für eine Einstellungs- und Verhaltensdimension.26 Zu den rechtsextremen Handlungen gehören etwa die Teilnahme an entsprechenden Demonstrationen oder Veranstaltungen, das Wählen einer rechtsextremen Partei, die Mitgliedschaft in einer rechtsextremen Organisation oder die Ausübung von Gewalt. Nach einer Konsensdefinition verschiedener Sozialforscher gehören zu rechtsextremen Einstellungen: – die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, – nationaler Chauvinismus, – Ausländerfeindlichkeit, – Antisemitismus, – Sozialdarwinismus, – Verharmlosung des Nationalsozialismus.27 Rechtsextreme Einstellungen – darunter vor allem Ausländerfeindlichkeit und andere Aspekte gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – sind in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet, wie zahlreiche Studien der vergangenen Jahre nachgewiesen haben.28 Demgegenüber ist die organisierte rechtsextreme Szene vergleichsweise klein – der Verfassungsschutz geht von rund 22 700 Personen aus,29 also weniger als 0,03 Prozent der deutschen Bevölkerung mit zuletzt sinkender Tendenz. Allerdings ist die rechtsextreme Bewegung seit vielen Jahren stark gewalttätig und hat allein seit 1990 nach Recherchen von Journalisten und zivilgesellschaftlichen Institutionen mehr als 180 Menschen ermordet.30 Die jahrelang unentdeckt gebliebene Mordserie des sogenannten »Nationalsozialistischen Untergrunds« hat die blutige Dimension des Rechtsextremismus endgültig dramatisch vor Augen geführt. Insofern ist die von der Bewegung ausgehende Gefahr nicht zu unterschätzen, ebenso wie die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Einstellungen eine Daueraufgabe der demokratischen Gesellschaft ist. Die größte rechtsextreme Organisation ist die NPD, die sich allerdings momentan in einer Schwächephase befindet, dessen Ausgang offen ist. Trotz sinkender Mitgliederzahlen, erheblicher finanzieller Probleme und zuletzt enttäu26 Vgl. Stöss, 2010: 21, für einen Überblick zur intensiven Forschungsdebatte zu diesem Begriff vgl. Neugebauer, 2010b. Einen umfassenden Überblick über die rechtsextreme Bewegung in Deutschland bietet Stöss, 2010. 27 Vgl. Decker u. Brähler, 2006: 20 f. 28 Vgl. Decker, Kiess, Brähler, 2013; Heitmeyer, 2011. 29 BMI, 2014: 70. 30 Mut-gegen-rechte-Gewalt.de, o. J.
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schender Wahlergebnisse darf man aber nicht übersehen, dass der NPD eine punktuelle lokale Verankerung gelungen ist, sie durchaus in bestimmten Regionen das politische Klima negativ beeinflusst und sich eine Stammwählerschaft erarbeitet hat.31 Die sogenannten freien Kräfte (Kameradschaften und andere nicht formal organisierte Zusammenschlüsse) sind demgegenüber quantitativ vergleichsweise stabil.32 Bedenklich ist, dass in den vergangenen Jahren eine zunehmende Gewaltaffinität in diesem Spektrum des deutschen Rechtsextremismus zu beobachten ist. Neue Bewegungen, wie beispielsweise die zuletzt medial stärker beachteten »Identitären«,33 haben zudem die Angebotslandschaft der Szene weiter ausdifferenziert und konnten die Attraktivität der Bewegung insbesondere für Jugendliche hochhalten. Insgesamt kann man die rechtsextreme Szene am besten als soziale Bewegung beschreiben:34 Sie bildet ein Netzwerk von Netzwerken, in dem einzelne Personen auch unterschiedliche Funktionen ausüben können. Der ideologische Durchdringungsgrad ist in den einzelnen Bestandteilen der Bewegung unterschiedlich hoch. Die Verbindung ist somit keine konsistente Ideologie, sondern nutzt Symbole, Idole und Slogans – somit »ausdeutbare Intergrationsmedien« (Thomas Grumke). Die Bewegung weist ein vielgestaltiges, aber unstrukturiertes Kommunikationsverhalten auf. Es gibt insgesamt keine zentrale Steuerung oder strategische Planung.
Angebote der fundamentalistischen Bewegungen an Jugendliche Sowohl der salafistischen als auch der rechtsextremen Bewegung schließen sich überwiegend junge Menschen an. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Ceylan und Kiefer nennen in Bezug auf den Salafismus die Vielfalt der deutschsprachigen Angebote, den Einsatz moderner Kommunikationsmittel vor allem im Internet, die einfache, aber radikale Religiosität, den universellen Anspruch der Bewegung im Vergleich zu den ethnisch oder kulturell einheitlicheren muslimischen Verbänden oder Moscheevereinen. Zudem werde das Selbstwertgefühl der Jugendlichen dadurch gefördert, dass sie sich als Teil einer weltweiten Bewegung verstehen, die eine überaus wichtige Mission erfülle. Der Salafismus fungiere als Gegenbewegung zu Moscheen, dem Elternhaus, der Gesellschaft und letztlich der Moderne und eigne sich daher als jugendliche Protestbewegung.35 Schließlich 31 Vgl. Henßler u. Overdieck, 2014. 32 Für einen Überblick dieses sich zuletzt stark verändernden Teil der rechtsextremen Bewegung vgl. Staud u. Radke, 2012. 33 Vgl. Hafeneger, 2014. 34 Vgl. Grumke, 2012: 374 – 376. 35 Ceylan u. Kiefer, 2013: 73 – 76.
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komme den Predigern eine hohe Bedeutung zu, die – zumindest in einigen Fällen – über charismatische Führungsqualitäten verfügten. Dass die Imame in den meisten Fällen in Deutschland sozialisiert sind, hilft zudem dabei, dass sie die Lebenswelt der hiesigen Jugendlichen kennen und ihre Botschaft lebensnah formulieren können.36 Der Salafismus ist ein gutes Beispiel für die antimoderne Modernität einer fundamentalistischen Bewegung. So werden digitale Kommunikationsmittel intensiv genutzt und schaffen eine Vernetzungsmöglichkeit der Szene. Die ganz überwiegend in deutscher Sprache verfassten Schriften und Predigten erfordern keine Arabischkenntnisse, was wiederum erklärt, weshalb speziell Konvertiten in überdurchschnittlicher Zahl in der salafistischen Bewegung zu finden sind.37 Die »Weiterbildung« der eigenen Anhänger in regelmäßigen »Islam-Seminaren« ist durchaus straff organisiert. Doch die Inhalte dieser vergleichsweise modern geführten Bewegung sind rückwärtsgewandt und greifen die Lebensweise der Moderne an. Neben den eben skizzierten Gründen für die Hinwendung junger Muslime zum Salafismus greifen auch klassische Begründungen für die Hinwendung zu fundamentalistischen Bewegungen: Die Ideologie bietet klare Regeln, eine Orientierung und eine eindeutige Unterscheidung in Freund und Feind. Der Salafismus ist eine Möglichkeit des jugendlichen Protestes gegen die Elterngeneration bzw. andere Autoritäten. In diesem Zusammenhang ist sicherlich die hohe mediale Präsenz des quantitativ vergleichsweise kleinen Phänomens Salafismus in Deutschland zu erwähnen. Aufgrund der intensiven medialen Berichterstattung über die salafistische Bewegung und ihre Aktivitäten ist der Anschluss an genau diese Bewegung eine umso größere Provokation. Inwieweit auch Diskriminierungserfahrungen junge Muslime der salafistischen Bewegung annähern, ist umstritten. Wobei es nicht von der Hand zu weisen ist, dass überzeugte Muslime in Deutschland speziell nach dem 11. September 2001 weitaus häufiger Opfer von Ressentiments oder Diskriminierung werden als etwa überzeugte Christen.38 In der Forschung ist bekannt, dass Diskriminierungserfahrungen zu einer Festigung der eigenen Überzeugung beitragen, sodass sich ein Zusammenhang von Diskriminierung und Radikalisierung nicht völlig leugnen lässt.39 Jugendliche sind auch die wichtigste Zielgruppe für rechtsextreme Gruppen. Bereits im Schulalter wird eine Anwerbung versucht und insbesondere für Jugendliche hält die Bewegung eine breite Angebotspalette vor. Musik wird immer wieder als Einstiegsmedium Nummer eins genannt.40 Eine mittlerweile große 36 37 38 39 40
Ceylan u. Kiefer, 2013: 93. Vgl. Strunk, 2014. Khorchide, 2014: 51 f. Vgl. Khorchide, 2014: 53. Vgl. Dornbusch u. Raabe, 2002; Kuban, 2012.
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Bandbreite an Musikstilen mit rechtsextremen Texten, ein funktionierender Internethandel auch mit in Deutschland verbotenen Tonträgern sowie BandDevotionalien und oftmals subversiv organisierte Konzerte bilden eine rechtsextreme Musikszene, die viele Jugendliche erreicht – ohne im Entferntesten an die Ausmaße der Mainstream-Musikszene heranzureichen. Umfangreiche Angebote im Internet und auf Social-Media-Plattformen erreichen ebenfalls viele junge Menschen. Hinzu kommen zumindest punktuelle Sport-Angebote (insbesondere Fußball und Kampfsportarten) sowie die Möglichkeit, über Kleidungsstil, Symbole und Codes auch eine optische Zugehörigkeit zur Szene herzustellen. Die damit entstandene »Erlebniswelt Rechtsextremismus«41 wird abgerundet durch aktionsorientierte Angebote wie die Teilnahme an Demonstrationen, Fahrten zu Zeltlagern oder Jugendfreizeiten. Insgesamt bietet die rechtsextreme Szene ein umfangreiches und in sich geschlossenes jugendkulturelles Angebot, das für Jugendliche – wenn auch insgesamt in einem erfreulich bescheidenen Ausmaß – durchaus attraktiv ist. Wobei neben aller Jugendkultur nach wie vor das Angebot einer festen Gemeinschaft in Verbindung mit einer ideologischen Weltdeutung nicht zu unterschätzen ist. Wie auch bei anderen Jugendszenen spielt die eigene Peer-Group eine zentrale Rolle. Studien mit Aussteigern haben belegt, dass die meisten Einstiegsprozesse von persönlichen Kontakten motiviert und durch das Gemeinschaftserlebnis gefestigt worden sind.42 Gerade Jugendliche mit niedriger sozialer Resonanz und aus Familien, die zu den Modernisierungsverlierern – in aller Regel mit niedriger Resilienz – zählen, lassen sich von rechtsextremen Angeboten überdurchschnittlich häufig ansprechen.43 Nicht verschwiegen werden darf, dass auch die Ausübung von Gewalt und deren Legitimierung durch die rechtsextreme Szene bestimmte Jugendliche anspricht. Die Möglichkeit, zu handeln und dabei möglicherweise auch Straf- und Gewalttaten zu verüben, bietet der aktionsorientierte Rechtsextremismus klar an.44 Zu beachten ist, dass ein Einstieg in eine Szene immer ein Prozess ist. Niemand ist vom ersten Tag an durch und durch Salafist oder Rechtsextremist. Äußere und innere Faktoren kommen bei Einstiegsprozessen zusammen, wobei keine Zwangsläufigkeit besteht, dass bestimmte Umstände in einen Szeneeinstieg münden. Letztlich ist es immer ein Zusammenspiel von gesellschaftlichen Faktoren, individuellen Faktoren und situativen Gelegenheiten.45 Der Einstiegsprozess in die entsprechende Szene beginnt mit der Kontaktaufnahme zu Szeneangehörigen. Nach einer Phase des Zuhörens geht der Jugendliche zu ersten 41 42 43 44 45
Glaser u. Pfeiffer, 2007. Rommelspacher, 2006: 16 – 23. Decker u. Bräher, 2006: 122 – 127 und 141 f. Stöss, 2010: 154 – 158. Köttig, 2004, bezogen auf rechtsextreme Einstellungen vgl. Decker u. Brähler, 2006.
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Veranstaltungen und wird im Wortsinne zum Mitläufer. In der Regel erst danach werden erste eigene Einstellungen geäußert und meist erst dann werden Eltern, Lehrer oder Mitarbeiter in Jugendeinrichtungen auf die Veränderungen aufmerksam. Weitere Radikalisierungsschritte sind dann das Mitmachen bei Aktionen – sei es bei einer salafistischen Missionierungsaktion oder bei einer rechtsextremen Demonstration –, das öffentliche Tragen entsprechender Zeichen oder Kleidung und schließlich möglicherweise auch das Begehen von Straftaten bis hin zu Gewalt. In den genannten Punkten unterscheiden sich Rekrutierungswege zwischen salafistischer und rechtsextremer Bewegung nicht entscheidend. Gemeinschaftsangebote, das Auffangen von Deprivationserfahrungen, niedrige Resilienz und Gewaltaffinität sind offenkundig generelle Gründe für eine überdurchschnittliche Affinität zu fundamentalistischen Bewegungen. Dies scheint bei einem letzten Aspekt anders zu sein: der familiären Prägung. Es ist bekannt, dass elterliche und insbesondere großelterliche Prägung – im letztgenannten Fall mit eigener Erfahrung in der NS-Zeit – Einfluss auf die Herausbildung rechtsextremer Einstellungen und den Einstieg in die Szene hat.46 Gleiches findet man bei Salafisten in Deutschland derzeit nicht.
Fundamentalismus und das Verhältnis zur Demokratie Aufgrund der bereits ausgeführten verschiedenen salafistischen Strömungen sowie der Heterogenität der rechtsextremen Bewegung kann das Verhältnis zur Demokratie nicht pauschal bestimmt werden. Daher sollen die folgenden Ausführungen die Bandbreite der Positionen aufzeigen und einige Schlaglichter auf das Demokratieverständnis werfen. Gerade der politische Salafismus weist ein instrumentelles Verhältnis zur Demokratie auf. Salafistische Parteien nehmen an Wahlen teil – im Ausland teilweise durchaus mit Erfolg wie etwa in Ägypten 2012 –, verfolgen aber das Fernziel, die parlamentarische Demokratie zugunsten eines islamischen Gottesstaats zu überwinden. In Deutschland gibt es bislang keine salafistische Parteigründung und es ist auch keine erkennbar geplant. Ein instrumentelles Verhältnis zu den in der Demokratie garantierten Grundrechten findet man jedoch auch hierzulande. So betonen Salafisten gern die Religionsfreiheit und nutzen beispielsweise bei den Koran-Verteilaktionen oder bei eigenen Demonstrationen die Möglichkeiten der Versammlungsfreiheit.47 Wird jedoch die Meinungsfrei46 Vgl. Rommelspacher, 2006: 33 – 38, Decker, Rothe, Weissmann, Geißler u. Brähler, 2008: 377 – 389. 47 Strunk, 2014: 71 f.
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heit für die eigenen Positionen gern in Anspruch genommen, stößt das gleiche Recht schnell an Grenzen, wenn es Andersdenkenden gegenüber gewährt werden soll. Dies wurde etwa bei den am Ende gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Demonstranten der rechtsextremen Partei Pro-NRW sowie der Polizei anlässlich des Zeigens der umstrittenen Mohammed-Karikaturen im Mai 2012 deutlich. In der deutschsprachigen salafistischen Propaganda wird das Ziel einer Überwindung der Demokratie durchaus deutlich. So beispielsweise in einer auf YouTube verfügbaren Predigt »Abu Ibrahim spricht die Wahrheit über Ditib«. Dort heißt es: »Mir blutet das Herz wenn ich hier bin und sehe, liebe Geschwister, leider, dass viele noch am Laizismus hängen, dass viele noch an der Demokratie hängen, dass viele noch an Wahlen teilnehmen […] Das sind alles Sachen, die uns ins Höllenfeuer führen.«48
Die prinzipielle Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie – und zugleich die Gegnerschaft zu den etablierten muslimischen Verbänden – wird von salafistischen Predigern immer wieder betont. Auch Äußerungen, die zu Gewalt oder sogar Vernichtung von Feinden aufrufen, lassen keinen Zweifel an einer demokratiefeindlichen Gesinnung. So wurde das Verbot der Frankfurter Organisation »DawaFFM« begründet mit »gewaltverherrlichenden Kampfgesängen und Gebeten mit der Bitte um die Vernichtung von Amerikanern, Juden, Christen und Schiiten« (aus einer Urteilsbegründung der Bestätigung des Verbots durch den Bundesgerichtshof49). Ein weiteres Beispiel ist die Predigt des dänischen Imams Bilal Ismail in einer salafistischen Moschee in Berlin-Neukölln im Juli 2014, in der der Prediger angesichts der Kämpfe im Gaza-Streifen zitiert wird mit »Oh Allah, zerstöre die zionistischen Juden« und später »Töte sie bis zuletzt«50. Die verbale Aufforderung zur Gewalt steht im krassen Gegensatz zum Prinzip der Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform. Ähnlich wie bei den Salafisten zeigen auch Rechtsextremisten ein instrumentelles Verhältnis zur Demokratie. Gern inszeniert man sich als wahrer Hüter der Meinungsfreiheit und weist auf die angeblich undemokratische Ausgrenzung durch die Demokraten hin.51 Auch die Teilnahme rechtsextremer Parteien an demokratischen Wahlen und das Kassieren von staatlicher Wahlkampfkostenerstattung sowie Fraktionsgeldern belegt angesichts der gleichzeitig scharfen verbalen Angriffe auf die parlamentarische Demokratie das instrumentelle Demokratieverständnis. Stärker noch als Salafisten betonen viele rechtsextreme Organisationen, nicht verfassungsfeindlich zu sein, etwa die Pro-Bewegung. Die NPD nimmt für sich 48 49 50 51
Ibrahim, o. J. Vgl. FR vom 16. 05. 2014. Tagesspiegel, 2014. MBR, 2008.
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sogar in Anspruch, die wahre Demokratie im Sinne einer Herrschaft des deutschen Volkes erst errichten zu wollen: »Wir wollen das liberale Parteienregime – ganz demokratisch! – durch ein neues Gemeinwesen mit einem volksgewählten Präsidenten und Volksabstimmungen in allen Lebensfragen der Nation ablösen. Ein solches plebiszitäres Präsidialsystem würde die deutsche Politik aus dem Würgegriff der Blockparteien und der eigensüchtigen Interessengruppen befreien. […] Demokratisch sind wir nicht nur deshalb, weil wir eine wahre Volksherrschaft an die Stelle der liberalistischen Parteien- und Interessengruppenherrschaft setzen wollen, sondern auch, weil wir entschieden für eine deutsche Volksherrschaft statt einer multikulturellen Bevölkerungsherrschaft eintreten.«52
Demokratie verstehen Rechtsextremisten zwar durchaus als »Volks«-herrschaft, zu dem Volk gehören aber nur bestimmte Gruppen. Diejenigen, die in den Augen der Rechtsextremisten Ausländer sind, zählen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft ebenso wenig dazu wie politische Gegner. Insofern sprechen sie zwar davon, die »wahre Volksherrschaft« errichten zu wollen, verstehen darunter aber etwas fundamental anderes als das Grundgesetz. Auf der anderen Seite äußern sich Rechtsextremisten durchaus häufig explizit demokratiefeindlich und bejahen dabei mit zunehmendem Radikalisierungsgrad auch Gewalt als Mittel zum Systemwechsel. So sagte der damalige NPDBundesvorsitzende Udo Voigt im Interview mit der rechten Wochenzeitung »Junge Freiheit«: »Es ist unser Ziel, die BRD ebenso abzuwickeln, wie das Volk vor fünfzehn Jahren die DDR abgewickelt hat. Dies geht offensichtlich auch über die Wahlurne.«53 Das Grundgesetz bezeichnet die NPD in einem internen Schulungspapier als »Diktat der westlichen Siegermächte« und kritisiert: »die Grundrechtsbestimmungen triefen vor Menschenrechtstümelei und stellen Deutsche im eigenen Land de facto mit Ausländern gleich«54. Und der damalige sächsische NPD-Vorsitzende Winfried Petzold sagte im Januar 2006: »Erst die rücksichtslose und restlose Beseitigung des korrupten, liberal-kapitalistischen Systems kann den Weg freimachen für einen nationalen und sozialen Neuanfang in Frieden und Freiheit für unser Volk«55. Noch radikaler werden die Aussagen, wenn man in die Neo-Nazi-Szene blickt. In einem Liedtext der – mittlerweile nicht mehr aktiven – Band »Weiße Wölfe« aus dem Jahr 2002 heißt es: »Deutschland erwache, sei stolz auf deine Geschichte. Schmeiß’ endlich die Kanacken raus und mach die rote Brut zunichte.
52 53 54 55
NPD, 2007: 32. Junge Freiheit vom 24. September 2004. NPD, 2007: 29 f. Zit. in SPD, 2006: 10.
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Schon lange haben wir genug von dieser geheuchelten Demokratie und dem ganzen Volksbetrug.«56
Insgesamt zeigen sich somit sowohl die religiös als auch die politisch fundamentalistische Bewegung klar demokratiefeindlich. Dies gilt auf allen drei Ebenen der Demokratie als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform. Sowohl die parlamentarische Demokratie als auch Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, gewaltfreie Konfliktlösung und die Möglichkeit der Partizipation aller wird abgelehnt. So kann man die Eingangsfrage nach der grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Fundamentalismus und Demokratie bejahen. Sind also fundamentalistische Bewegungen grundsätzlich demokratiefeindlich, ist eine differenzierte Betrachtungsweise in Bezug auf die davon ausgehende Gefährdung der Demokratie dennoch notwendig und soll im Folgenden skizziert werden. Zunächst muss – wie zu Beginn des Kapitels ausgeführt – zwischen Einstellungen und Verhalten unterschieden werden. Denn es macht sehr wohl einen Unterschied, ob jemand demokratiefeindlich redet oder politisch entsprechend agiert. Demokratiefeindliche Äußerungen sind in der Demokratie durchaus vom Recht auf Meinungsfreiheit mit den in Art. 5,2 GG genannten Grenzen gedeckt. Demokratiefeindliche Handlungen hingegen haben eine höhere demokratiegefährdende Relevanz und haben den Repressionsdruck der Sicherheitsbehörden zur Folge. Mit Blick auf die puristisch-religiöse Strömung des Salafismus ist zweitens die Differenzierung zwischen einem »innerlichen« und einem nach außen gerichteten Fundamentalismus zu betonen.57 Auch wenn die salafistische Ideologie den Grundsätzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung entgegen steht, ist für die Beurteilung der von ihr ausgehenden Demokratiegefährdung zu unterscheiden, ob die Anhänger eine religiös-spirituelle Veränderung ihres eigenen Glaubens anstreben oder die Veränderung von Staat und Gesellschaft. Eine dritte Differenzierung erfordert der Aspekt der Legalität. Die um Wählerstimmen ringenden rechtsextremen Parteien bleiben in ihren Handlungen überwiegend im Rahmen der Legalität, was für Neo-Nazi-Kameradschaften eindeutig nicht gilt. Der politische Salafismus bleibt überwiegend im Rahmen der geltenden Gesetze, der dschihadistische schreckt auch vor Straf- und Gewalttaten nicht zurück. Und erst recht das Überschreiten der Schwelle zur Gewalt ist natürlich eine fundamentale Bedrohung für das demokratische Zusammenleben. Viertens sollte im Hinblick auf den Radikalsierungsgrad differenziert werden – nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, ob eine pädagogische Intervention erfolgversprechend ist. Sowohl die Dauer der Mitgliedschaft in einer fundamentalistischen Bewegung als auch die ideologische Bindung ist bei den Mit56 Zit. in Verfassungsschutz NRW, 2006: 61. 57 Steinberg, 2012: 1 f.
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gliedern höchst unterschiedlich. Das folgende Kapitel wird auf diesen Aspekt nochmal eingehen. Schließlich ist ein Unterschied zwischen Salafismus und Rechtsextremismus zu erwähnen, der eine differenzierte Betrachtungsweise erfordert: Weil wie eingangs geschildert der Begriff »Salafiyya« unter Muslimen durchaus positiv besetzt sein kann, wäre es voreilig, jeden als Verfassungsfeind abzustempeln, der sich nicht vollkommen davon distanzieren will. Dies ist beim Rechtsextremismus anders, da der Begriff in der Breite der deutschen Bevölkerung klar einen negativen Klang hat und entsprechend auch nicht als Selbstbezeichnung von Szeneangehörigen verwendet wird. Es ist eben nicht einfach möglich, sich ohne gesellschaftliche Konsequenzen als Mitglied einer Neo-Nazi-Kameradschaft oder als NPD-Mitglied zu erklären, da in Deutschland eine sehr weitgehende soziale Ächtung des organisierten Rechtsextremismus herrscht.
Mögliche Schlussfolgerungen für die Präventionsarbeit Die Präventionsarbeit gegen religiösen wie politischen Fundamentalismus muss mit einem Anfangswiderspruch leben: Politische Bildung wie auch Religionspädagogik in der Demokratie gehen von einem normativ positiven Demokratieverständnis aus. Dass die demokratische Grundordnung und die im Grundgesetz auf ewig garantierten Grundrechte nicht zur Disposition stehen, wird in der pädagogischen Arbeit von rechtsextrem orientierten Jugendlichen kritisiert. Die Demokraten werden dann selbst als intolerant und fundamentalistisch dargestellt.58 Als Gegenargument kann man demgegenüber jedoch darauf verweisen, dass Kritik in der freien Demokratie immer möglich ist und ja auch die Mehrzahl der rechtsextremen oder salafistischen Organisationen in der deutschen Demokratie nicht verboten ist. Man darf also auch in der Demokratie demokratiefeindlich sein, was umgekehrt in der fundamentalistischen Ideologie nicht geht. Sowohl bei Salafisten als auch bei Rechtsextremisten sind Kritiker Feinde und werden je nach Gruppierung aktiv verfolgt oder sogar angegriffen. Das Ziel, radikalisierte Jugendliche zurückzugewinnen und einen Ausstieg aus entsprechenden Bewegungen zu befördern, ist in den vergangenen Jahren stärker in den öffentlichen Blickpunkt gerückt. Der Präventionsarbeit mit Jugendlichen, die eine Affinität zu fundamentalistischen Bewegungen aufweisen, sind allerdings Grenzen gesetzt. So kann man pädagogisch nur bis zu einem gewissen Radikalisierungsgrad mit Jugendlichen arbeiten. Daher ist die bereits erwähnte differenzierte Betrachtung des Radikalisierungsgrades so wichtig. Weniger stark gebundene Mitglieder der Bewegung sind für pädagogische Angebote oft noch 58 Vgl. Baer, 2014.
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erreichbar und können bei einer starken Ausgrenzung erst in die Arme der Fundamentalisten getrieben werden. Andererseits können hochgradig ideologisch gebundene Jugendliche – möglicherweise entsprechend geschult – pädagogische Maßnahmen zur Fundamentalismusprävention sprengen und in ihr Gegenteil verkehren.59 Im Bereich des Rechtsextremismus gibt es mittlerweile langjährige Erfahrung mit Aussteigerprogrammen. Gegenwärtig erarbeitet die im März 2014 formierte »Bundesarbeitsgemeinschaft Ausstieg zum Einstieg« auf Grundlage der umfangreichen Praxiserfahrungen ihrer Mitgliedsinstitutionen Qualitätskriterien für die Ausstiegsorientierte Jugendarbeit.60 Auch für Salafisten wird an Ausstiegsprogrammen gearbeitet. So hat das Hessische Innenministerium im Juli 2014 die Gründung eines Netzwerks für Präventions- und Ausstiegsarbeit angekündigt. Nicht zufällig wird dieses Netzwerk an das zivilgesellschaftliche »Violence Prevention Network« angebunden, das über jahrelange Erfahrungen in der Arbeit mit Rechtsextremisten verfügt.61 Bei aller Bedeutung, die die Arbeit mit fundamentalistisch orientierten Menschen hat, sollte dabei nicht die Präventionsarbeit vergessen werden, denn die Erfahrung lehrt, dass es einfacher ist, den Einstieg zu verhindern als einen Ausstieg zu erreichen. In der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus kann man wiederum auf umfangreiche Erfahrungen und wissenschaftliche Begleitforschung zu den entsprechenden Bundes- und Landesprogrammen zurückblicken und daraus Schlüsse ziehen. So hat sich der 2001 gewählte zivilgesellschaftliche Ansatz der Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus insgesamt bewährt. Die Ziele, nicht-rechtsextreme (Jugend-)Kulturen zu fördern, indem man Beratungsangebote und Opferhilfeeinrichtungen aufbaut, Multiplikatoren ausbildet, Aufklärungsangebote unterstützt und kommunale Projekte anregt, ist – bei aller notwendigen Diskussion im Detail – insgesamt erreicht worden.62 Entsprechend stellt sich die Frage, inwiefern man auch dem Salafismus entsprechende Angebote entgegensetzen kann. Dies erscheint vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus sinnvoll und bedeutet in der Praxis, insbesondere Moscheevereine und andere muslimische Selbstorganisationen für diese Aufgabe zu befähigen. Es gilt weniger, ein Bundesprogramm gegen Islamismus wie das hoch umstrittene 2010 eingeführte Programm »Initiative Demokratie Stärken« auf den Weg zu bringen, sondern vielmehr, die muslimische Mehrheitsbevölkerung in Deutschland zu unterstützen. Betrachtet man das Missverhältnis von hohen Erwartungen speziell an Moscheegemeinden in Bezug auf die Integration von Neuzuwanderern, 59 60 61 62
Vgl. Haase, Murawa u. von Frommannshausen, 2014. Für einen ersten Beitrag dazu vgl. Drudel 11, 2014. FAZ, 2014. Um nur eine kurze Zusammenfassung mehrerer Evaluationsberichte zu nennen, vgl. Roth, 2010: 23 – 33.
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die soziale Hilfe für Menschen mit Migrationshintergrund sowie die Islamismusprävention und den dafür zur Verfügung stehenden Ressourcen, erkennt man durchaus politischen Handlungsbedarf. In der praktischen Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus63 finden zum einen klassische Bildungsveranstaltungen wie Informationsforen, Publikationen, Ausstellungen für Jugendliche sowie Seminare64 statt. Dabei zeigt sich immer wieder, dass Bildung und Aufklärung tatsächlich präventiv wirken und das politische Denken positiv beeinflussen. Zum anderen werden Projekte der Demokratieförderung durchgeführt, die die Ermöglichung von Selbstwirksamkeitserfahrungen und positiven Erfahrungen mit politischer Beteiligung zum Ziel haben. Dazu arbeitet die FES mit Zukunftswerkstätten, Bürgerkonferenzen, Open-Space-Veranstaltungen, Planspielen und weiteren Methoden.65 Auch hierbei kann die Stiftung auf zahlreiche positive Erfahrungen zurückgreifen, sodass sich Erkenntnisse der Demokratiepädagogik in der Praxis bestätigen.66 In der Auseinandersetzung mit Salafismus und anderen islamistischen Bewegungen setzt die FES ebenfalls auf Aufklärung und entsprechende Bildungsangebote. Es werden dabei einerseits Fragen der politischen Bedeutung des Islam in Deutschland diskutiert, die Entwicklung der islamistischen Szene und Konflikte in der kulturell-religiösen Vielfalt einer Einwanderungsgesellschaft. Andererseits beschäftigen wir uns mit Fragen einer verbesserten politischen Teilhabe von Muslimen, der Entwicklung der muslimischen Zivilgesellschaft und islamophoben Vorurteilen. Zudem werden speziell für Jugendliche interkulturelle Trainings, Mediationsworkshops und Debattentrainings angeboten. Die Aktivitäten fördern eine sachliche öffentliche Diskussion über Integration und den Islam in Deutschland unter Vermeidung von Stereotypen und bei der Beteiligung vieler verschiedener Akteure.67 Abschließend soll der Blick auf Religionsgemeinschaften und deren Jugendarbeit gelenkt werden. Auch sie können viel zum Erlernen und Erfahren von Demokratie beitragen. Der erste Schritt ist sicherlich eine gute demokratische Kultur innerhalb der eigenen Gemeinde oder dem Jugendverband: Werden Gremien durch demokratische Wahlen legitimiert, bestehen Mitsprachemöglichkeiten für Jugendliche, werden Entscheidungen transparent begründet? Eine zweite Dimension der demokratischen Kultur ist die Frage nach dem Umgang mit Minderheiten und einem diskriminierungsfreien Miteinander – was in einer lebensweltlich heterogenen Gesellschaft gerade für religiöse Gruppen eine 63 64 65 66 67
Einen Überblick liefert was Themenportal www.fes-gegen-rechtsextremismus.de. Vgl. Langenbacher u. Molthagen, 2012: 44 – 49. Für einen Überblick siehe Molthagen, 2009. Riegel, 2011. Weitere Informationen unter www.fes-forumberlin.de.
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durchaus nicht kleine Herausforderung ist. Der Umgang mit Schwächeren in den eigenen Reihen und das Engagement für die Leidenden in der Gesellschaft ist seit jeher der Lackmustest für Religionsgemeinschaften. Zudem erhöht sich dabei auch die Sensibilität für fundamentalistische oder menschenverachtende Einstellungen in den eigenen Reihen. Dass dies eine wichtige Aufgabe ist, belegen Einstellungsuntersuchungen, die regelmäßig zum Ergebnis haben, dass die Kirchenmitgliedschaft nicht zu signifikant geringeren rechtsextremen Vorurteilen führt.68 Natürlich können Kirchen und Religionsgemeinschaften auch eigene Projekte starten, mit dem Ziel durch Bildung und Aufklärung, durch Netzwerkbildung und durch öffentliche Positionierung gegen Fundamentalismus aktiv zu werden. Unter den zahlreichen positiven Projekten, die sich dafür finden lassen, seien hier nur drei Beispiele aus Berlin genannt: das Projekt »Heroes« (Arbeit mit gewaltaffinen Jugendlichen mit Migrationshintergrund), die »Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA – ein überwiegend von Muslimen betriebenes Bildungsprojekt) sowie »JUGA – jung, gläubig, aktiv« (interreligiöse Vernetzung und gemeinsame Aktivitäten von Jugendlichen aus verschiedenen Religionen in der Stadt) genannt. Schließlich besteht auch für Kirchen, religiöse Gemeinden oder Jugendgruppen die Möglichkeit, sich an bestehenden Initiativen zu beteiligen, wie etwa an den vielerorts bestehenden Bürgerbündnissen gegen Rechtsextremismus. Die Gesellschaft im Einwanderungsland Deutschland ist religiös, kulturell und lebensweltlich vielfältig. Das erschwert bisweilen den demokratischen Entscheidungsprozess, da viele und oftmals widersprüchliche Interessen berücksichtigt werden müssen. Begreift man gesellschaftliche Integration als gelingendes Zusammenleben in Vielfalt, bieten sich gerade Religionsgemeinschaften dafür an, demokratische Aushandlungsprozesse einzuüben. Kirchen und Religionsgemeinschaften sind mitgliederstarke Organisationen, die vergleichsweise heterogene Gruppen in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss, sozialer Status, Herkunftskultur etc. zusammenbringen. In diesen heterogenen Gruppen gemeinsame Ziele zu entwickeln, Kompromisse zu suchen, Mehrheiten zu organisieren, Minderheiten zu achten, vielleicht sogar politische Positionen zu entwickeln und dann auch zu vertreten, ist – wenn es gelingt – überaus demokratisch. Insofern kann insbesondere die Jugendarbeit von Kirchen und Religionsgemeinschaften viel dazu beitragen, dass junge Menschen praktische und im Idealfall auch positive Erfahrungen mit der Demokratie machen. Dies wirkt dann auch präventiv gegenüber der Anfälligkeit für Fundamentalismus.
68 Decker, Kiess u. Brähler, 2013: 47.
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Die Autorinnen und Autoren
André Armbruster, M.A., studierte Soziologie in Bielefeld und Johannesburg, Südafrika. Im Jahr 2013 schloss er sein Studium mit einer interaktionstheoretischen Arbeit zur Ermöglichung von Gewalt ab. Seitdem ist André Armbruster wissenschaftlicher Mitarbeiter am Evangelische Bank Institut für Ethisches Management an der CVJM-Hochschule in Kassel. Dort führt er unterschiedliche Studien im Rahmen der Organisation von Kirche, Diakonie und Sozialwirtschaft durch. 2014 hat André Armbruster eine Promotion zur Soziologie religiöser Gewalt an der Universität Duisburg-Essen begonnen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Konflikt- und Gewaltsoziologie, den soziologischen Theorien sowie in der Organisations- und Religionssoziologie. Kontakt: [email protected] Micha Brumlik, emeritierter Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, von 2000 – 2005 Leiter des Fritz Bauer Instituts Frankfurt am Main – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust; Stadtverordneter der GRÜNEN in Frankfurt am Main von 1989 – 2001; seit 2013 Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg; Mitherausgeber der »Blätter für deutsche und internationale Politik«; Autor und regelmäßiger Kolumnist der taz: »Gott und die Welt«. Letzte Buchpublikationen: Innerlich beschnittene Juden, Hamburg, 2012; Messianisches Licht und menschliche Würde. Politische Theorie aus den Quellen des Judentums, Baden-Baden, 2013. Weitere Informationen: michabrumlik.de Friedrich Erich Dobberahn, Dr. theol. Dr. phil., geb. 1950, Pfarrer em., bis 1997 Professor für das Alte Testament und Semitische Sprachen in São Leopoldo-RS an der Escola Superior de Teologia der Igreja Evangélica de Confissa¯o Luterana no Brasil (BR). Seit 1997 Dozent für Altes Testament, Allg. Religionswissenschaft und Islamkunde in Hermannsburg, ab 2001 Principal des Missionsseminars Hermannsburg sowie Vorstandsmitglied des Ev.-Luth. Missionswerkes in Nie-
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Die Autorinnen und Autoren
dersachsen, Mitglied der Theologischen Kammer der Braunschweigischen Landeskirche, Recognized Lecturer of the University of Birmingham (UK) sowie der Misjonshøgskolen Stavanger (NO). Nach Emeritierung (2006) Lehraufträge in Kassel und Yerevan (AM). Kontakt: [email protected] Jürgen Eilert, Prof. Dr., Dipl.-Psychologe, Dipl.-Theologe, Systemischer Therapeut, 10 Jahre Berufserfahrung in Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit und Gemeinde-/Religionspädagogik, Professur für Theorien der Sozialen Arbeit an der CVJM-Hochschule in Kassel, Dissertation an der FU-Berlin »Psychologie der Menschenrechte – Menschenrechtsverletzungen im deutschen Heimsystem 1945 – 73« (V&R unipress) über den deutschen Heim-Skandal und seine kultur-, sozial- und evolutionstheoretischen Voraussetzungen. Wilhelm Eppler, Prof. Dr., Pfarrer, Jg.1955, Studium der ev. Theologie an den Universitäten Tübingen und Heidelberg. Nach Vikariat in der württ. Landeskirche (Ordination 1982) Assistent am Ev. Pfarrseminar Stuttgart-Birkach mit Schwerpunkt Homiletik und Liturgik. 1991 Dr. theol. (Neues Testament / Hermeneutik) an der Universität Tübingen, 1990 – 1995 Gemeindepfarrer in Stuttgart. 1995 Dozent am CVJM-Kolleg in Kassel-Wilhelmshöhe. 2009 Professor für Systematische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel-Wilhelmshöhe, Studiengangleiter des Studiengangs Religions- und Gemeindepädagogik / Soziale Arbeit. Florian Karcher, Dr., Jahrgang 1982, Kassel, theologische Ausbildung am CVJMKolleg, Dipl. Sozialpädagoge (FH), Dipl. Religionspädagoge (FH), Erziehungswissenschaftliches Promotionsstudium und Promotion an der Universität Bielefeld zum Thema »Jugendkultur und Religionspädagogik«, mehrere Jahre als Jugendreferent in CVJM und Kirche tätig, zurzeit Dozent für Sozial- und Religionspädagogik am CVJM-Kolleg. Mouhanad Khorchide, Prof. Dr., geb. 1971 in Beirut; 1999 – 2004 Studium der islamischen Theologie an der Al Ozaii-Imam-Fakultät für Islamische Studien im Libanon; 2002 – 2007 Studium der Soziologie an der Universität Wien; 2008 Promotion im Fach Religionssoziologie an der Universität Wien; 2009 – 2010 Post-Doc am Institut für Soziologie in Wien; seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; seit 2011 Koordinator des Graduiertenkollegs Islamische Theologie der Stiftung Mercator sowie Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der WWU Münster. Seit 2013 Principle Investigator des Exzellenzclusters »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne« an der WWU Münster.
Die Autorinnen und Autoren
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Dietmar Molthagen, Dr., leitet seit 2012 die Arbeitsbereiche Religion und Politik sowie Integration und Teilhabe der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin (www.fesforumberlin.de). In Hamburg und Leicester (GB) studierte er Geschichte, Evangelische Theologie sowie Politikwissenschaft und promovierte im Fach Geschichte. Seit 2010 ist er als Lehrbeauftragter an der Universität Erfurt sowie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin tätig. Kontakt: dietmar. [email protected] Stefan Piasecki, Prof. Dr., lehrt Soziale Arbeit und Medienpädagogik an der CVJM-Hochschule in Kassel. Wissenschaftlich bearbeitet er vornehmlich Fragen der Mediennutzung und Medienwirkung, unter anderem im Kontext der Extremismusforschung. Er ist Jugendschutzprüfer bei der FSK in Wiesbaden und der FSF in Berlin und hat zuvor mehr als 10 Jahre in der internationalen Computer- und Videospielbranche und nachfolgend über 5 Jahre in einer kommunalen Sozialverwaltung gearbeitet. Kontakt: [email protected] Thomas Pola, Prof. Dr., Pfarrer, geb. 1956 in Göttingen, Studium der ev. Theologie in Tübingen, Ordination 1984, seit 2002 Prof. für Ev. Theologie unter besonderer Berücksichtigung des Alten Testaments an der TU Dortmund, seit 2005 Initiator und Leiter des Pnuel/Amathous-Ausgrabungsprojekts im unteren Jabboktal (Jordanien). Christiane Schurian-Bremecker, Prof. Dr. habil., Professorin für Methoden Sozialer Arbeit an der CVJM-Hochschule Kassel und Privatdozentin mit der Nomination »Ethnizität und familiale Sozialisation« an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte im Bereich Kindheit und Familie, Migrationssoziologie sowie Ritualforschung. Habilitationsschrift über »Kindliche Einschlafrituale im Kontext sozialer und kultureller Heterogenität«. Kontakt: [email protected] Friedrich Schweitzer, Prof. Dr., Professor für Religionspädagogik an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Er ist Vorsitzender im Comenius-Institut, Münster sowie der Bildungskammer der Evangelischen Kirche in Deutschland. Forschungsprojekte zu Fragen der religiösen Erziehung und der Wertebildung, international-vergleichende Studien zur Konfirmandenarbeit, Religionsunterricht. Aktuelle Veröffentlichungen: Interreligiöse Bildung, Gütersloh 2014; Bildung, Neukirchen-Vluyn 2014.