Teufelskreis und Gotteszirkel: Fausts Scheitern als philosophische Herausforderung 9783495998939, 9783495998922


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Table of contents :
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Zueignung
Vorspiel hinter den Kulissen
Prolog im Philosophenhimmel
Der Faustischen Philosophie erster Teil
1. Gelehrtendrama
2. Gretchentragödie
3. Scheiternsgeschichten
Der Faustischen Philosophie zweiter Teil
1. Lebensfreude
2. Liebesglück
3. Selbstorientierung
Aneignung
Literatur
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Teufelskreis und Gotteszirkel: Fausts Scheitern als philosophische Herausforderung
 9783495998939, 9783495998922

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Wolfgang Mölkner | Rolf Gröschner

Teufelskreis und Gotteszirkel Fausts Scheitern als philosophische Herausforderung

https://doi.org/10.5771/9783495998939 .

https://doi.org/10.5771/9783495998939 .

Philosophie erzählt Band 8

https://doi.org/10.5771/9783495998939 .

Wolfgang Mölkner | Rolf Gröschner

Teufelskreis und Gotteszirkel Fausts Scheitern als philosophische Herausforderung Mit Illustrationen von Martin Turner

https://doi.org/10.5771/9783495998939 .

Gedruckt mit Unterstützung der Schulze-Fielitz-Stiftung Berlin.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99892-2 (Print) ISBN 978-3-495-99893-9 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998939 .

Inhaltsverzeichnis

Zueignung

Was uns die schwankenden Gestalten Goethes bedeuten . . . .

Vorspiel hinter den Kulissen

Worauf Goethe in einer Talkshow geachtet hätte . . . . . . . .

Prolog im Philosophenhimmel

Warum Gott und Teufel nur zirkulär bestimmbar sind . . . . . .

7 12 25

Der Faustischen Philosophie erster Teil

Wodurch Fausts Scheitern zu einer philosophischen Herausforderung wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1. Gelehrtendrama

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

2. Gretchentragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

3. Scheiternsgeschichten

81

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

Der Faustischen Philosophie zweiter Teil

Wie ein Leben auf eigene(n) Faust gelingen kann . . . . . . . .

117

1. Lebensfreude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

2. Liebesglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

3. Selbstorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Aneignung

Inwiefern Fausts literarische Figur für uns ein philosophisches Paradigma ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

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Zueignung Was uns die schwankenden Gestalten Goethes bedeuten

R (Rolf) »Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, / Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. / Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten? / … Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert / Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.« W (Wolfgang) So beginnt der mit »Zueignung« überschriebene Text der Fausttragödie, laut Tagebuchnotiz entstanden am 24. Juni 1797, im 49. Lebensjahr Goethes. R Noch bevor der Bühnenvorhang sich öffnet und das Schauspiel beginnt, tritt der Dichter selbst ins abgedunkelte Rampenlicht. W Aber zu wem spricht er und was kündigt er an? R Zu erwarten wäre, dass er sich dem Publikum im Saal zuwendet und erklärt, welches Stück gespielt wird. W Das ist aber nicht der Fall. Stattdessen spricht er die schwankenden Gestalten an, die ihn seit seiner Jugend begleitet haben und denen in seinem »Busen« offenbar ein Eigenleben gestattet war. R Insofern führt der Dichter ein Gespräch mit sich selbst, das durch­ aus auch der Selbststilisierung dient. Er vergleicht sich nämlich mit einer »Äolsharfe« … W ... die der Wind zum Klingen bringt, der durch ihre Saiten streicht. Goethe war sich seines dichterischen Genies sicher genug, um den Vergleich mit einem Instrument wagen zu können, das den Geist der Dichtung in Versform erklingen lässt.

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R Die Wiederaufnahme der Faustdichtung nach 26 Jahren stilisierte er daher zu einer Art Selbstverwirklichung des durch ihn zum Spre­ chen gebrachten Geistes: »Und was verschwand, wird mir zu Wirk­ lichkeiten.« Aber was bedeuten uns die »schwankenden Gestalten« des ersten Verses? W Zunächst einmal gesteht Goethe sich ein gewisses literarisches Scheitern ein, da es ihm nicht oder noch nicht gelungen ist, die Gestalten »festzuhalten«. R Für mich verstärkt die irrlichternde, mehr verhüllende als enthül­ lende Sprache der Zueignung das Schwanken des Dichters in der erneuten Begegnung mit den Gestalten seiner frühreifen Dichtung. Den »Urfaust« hatte Goethe im Alter von 22 Jahren begonnen. W Mir erscheint die erneute Zuwendung als ein wechselseitiges Geschehen, denn nur weil die Gestalten sich »nahen«, ja ihm sich sogar »zudrängen«, ergreift ihn »ein längst entwöhntes Sehnen« nach jenem »Geisterreich« … R ... das nun zu neuen Wirklichkeiten kommen kann und soll. Die scheinbar verschwundenen Geister und schwankenden Gestalten rufen den Dichter herbei, der sie auf die Bühne bringen soll. W Und da er ihr Rufen vernimmt, will er sie sich erneut zueignen. R Insofern ist die Zueignung zugleich als Aneignung zu verstehen. Wir werden im letzten Kapitel unsere eigene Form einer solchen »Aneignung« erläutern. W Bis dahin sollten wir das Schwanken der Gestalten in einem doppelten Sinn verstehen: Die von ihm aufgegriffene Faustsage ist für den Dichter noch nicht in seinem Sinne ausgeschöpft, der Schaffens­ prozess erscheint ihm noch nicht abgeschlossen. Zugleich bekräftigt er die Klage über »des Lebens labyrinthisch irren Lauf«. R Dieser in der Tat in eine labyrinthische Verirrung führende Lauf ist ja bekanntlich nach dem ersten Teil der Faustdichtung nicht beendet. Im zweiten Teil, den Goethe zwar als vollendet ansieht, aber der Veröffentlichung vorenthält …

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W ... er wurde 1832 erst nach dem Tode des Autors veröffentlicht. R Im zweiten Teil also geraten die ohnehin schwankenden Hauptge­ stalten noch mehr in das literarische Labyrinth. W Und wir, die wir mit ihnen ringen – als Interpreten ihres Cha­ rakters, ihrer Stellung im Schauspiel und ihrer Wirkung auf die Mitspieler –, kommen mit unseren Interpretationen immer wieder selbst ins Schwanken. R Denn nicht nur Faust und Mephisto sind in ständiger Wand­ lungsbewegung, sondern das gesamte Handlungsgeschehen nimmt daran teil. W Weil der Dichter sich der Vorgabe eines festen Rahmens verwei­ gert und die prosaische Wirklichkeit in poetische Wirklichkeiten verwandelt, ist der Wandel das einzig Feststehende der Faustdichtung. R Für mich schlägt damit das Prinzip des Gestaltwandels durch, zu dem es in Goethes morphologischen Studien heißt: »Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, dass nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlos­ senes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewe­ gung schwanke.« W Ein solches Schwanken hat Goethes dichterische Kreativität aber gewissermaßen am Leben gehalten. Bis kurz vor seinem Tod ließen ihn die schwankenden Gestalten nicht mehr los. R Weil die Figuren und das Handlungsgeschehen in einer ständigen Bewegung sind, in der die Ambivalenzen des Lebens sich widerspie­ geln, können starre Deutungsmuster sie nicht abschließend erfassen. W Wenn es selbst dem Dichter nicht gelungen ist, seine Gestalten »festzuhalten«, dann höre ich aus der Zueignung die Mahnung heraus, für die Interpretation der dichterisch gestalteten Figuren einen gewissen Spielraum offen zu halten und sie nicht in ein zu enges Rollenkorsett zu zwängen.

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R Dennoch legen wir uns mit dem Untertitel unseres Buches in zwei Hinsichten fest: Erstens sehen wir das strebende Bemühen der literarischen Figur Fausts als gescheitert an und zweitens erklären wir dieses Scheitern zur philosophischen Herausforderung. W Herausgefordert fühlen wir uns insbesondere durch den »Zauber­ hauch« im »Zug« der literarischen Gestalten, in deren Geschichten Faust verstrickt wird. Diese Geschichten handeln vom »erfüllten Augenblick« und werfen die Frage auf, ob und wie derartige Augenbli­ cke in Glücksmomenten zur Erfüllung kommen können. R Faust und die mitverstrickten Figuren der Tragödie spielen das Spiel von Glück und Unglück oder vom Gelingen und Scheitern des Lebens. W Das ist für uns kein »Glücksspiel« im heutigen Verständnis, sondern ein Spiel mit einer ernsthaften philosophischen Herausforde­ rung im Sinne der Sokratischen Frage, »wie zu leben sei«. R Im Geiste unserer philosophischen Herkunft aus der Tradition Sokratischer Dialogik erörtern wir das ewige philosophische Problem guten oder gelingenden Lebens und fragen uns, ob Goethe mit seiner Faustdichtung eine überzeugende Lösung bereithält. W Wir begleiten Faust bei seinem Lauf durch die kleine und die große Welt, untersuchen die verschiedenen Varianten seines Scheiterns und fragen uns, »wie ein Leben auf eigene(n) Faust gelingen kann«. R So lautet der Untertitel des zweiten Teils unseres Gesprächs. W In dessen Verlauf arbeiten wir drei Kriterien des Gelingens heraus: »Lebensfreude«, »Liebesglück« und »Selbstorientierung« – komple­ mentär zu ihrem Fehlen in Goethes Fausttragödie. R Es sind die drei Gelingenskriterien unserer Antworten auf die Fragen, die wir im ersten Teil als »Faustisch« qualifiziert haben. W Im Sprachspiel des Reihentitels »Philosophie erzählt« sind es die Narrative unserer Faustischen Philosophie.

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R Noch nicht angesprochen haben wir den Titel »Teufelskreis und Gotteszirkel«. W Hier in der Zueignung können wir noch an der Oberfläche bleiben und uns darauf beschränken, den »Teufelskreis« auf Fausts Pakt mit Mephisto zu beziehen und den »Gotteszirkel« auf Mephistos Wette mit seinem göttlichen »Herrn«. Eine tiefergehende Erklärung für unseren Buchtitel liefern wir unter der Überschrift »Warum Gott und der Teufel nur zirkulär bestimmbar sind« im »Prolog im Philosophen­ himmel«. R Dort prüfen wir auch den Wahrheitsanspruch des Satzes: »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.« W Wäre dieser Satz, den der »Herr« im »Prolog im Himmel« spricht, wahr, könnte ein gelingendes Leben philosophisch prinzipiell – also von allem Anfang an und von Grund auf – in Frage gestellt sein. R Diese Herausforderung gilt es anzunehmen.

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Vorspiel hinter den Kulissen Worauf Goethe in einer Talkshow geachtet hätte

R Vor dem Beginn des theatralischen Handlungsgeschehens werden die Theaterbesucher beziehungsweise die Leser mit Überlegungen zur richtigen Gestaltung eines erfolgversprechenden dichterischen Werkes konfrontiert, die Goethe im Gespräch zwischen drei Personen entwickeln lässt. W Es handelt sich um einen Dichter, einen Theaterdirektor und eine lustige Person. Man wird kaum fehlgehen mit der Vermutung, dass Goethe sich selbst in diesen drei Personen spiegelt: Als Dichter vertritt er die Interessen guter Literatur, als Direktor das Interesse am unternehmerischen Erfolg und als lustige Person das Unterhaltungs­ interesse des Publikums. Die drei streiten darüber, welches wohl das beste und geeignetste Stück sei. Es soll sowohl der »Menge« behagen als auch »mit Bedeutung auch gefällig« sein. R Der Dichter vertritt den hohen Anspruch der Kunst, die lustige Person glaubt zu wissen, was »alle Welt erquickt und auferbaut«: »In bunten Bildern wenig Klarheit, / Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit …«. W Insofern der Dichter »Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug« als Maßstab der Behandlung setzt, sind beide Kontrahenten nicht weit auseinander. Aber »Das tiefe, schmerzensvolle Glück / Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe« dürfen auch nicht fehlen. R Der Direktor, auch auf den finanziellen Ertrag seines Theaters achtend, empfiehlt: »Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! / Solch ein Ragout, es muss Euch glücken.«

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W Er beendet die Debatte mit der bekannten Forderung: »So schreitet in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus / Und wandelt mit bedächt‘ger Schnelle / Vom Himmel durch die Welt zur Hölle!« R Entsprechend dieser Anweisung lässt Goethe dem Vorspiel einen »Prolog im Himmel« folgen. Die Hölle vertritt Mephistopheles als Repräsentant des Teufels. W Die beiden Titelbegriffe unseres Buches – »Teufelskreis« und »Gotteszirkel« – weisen rein äußerlich betrachtet auf das Bühnenge­ schehen dieses Himmels-, Welt- und Höllen-Theaters hin. Bei nähe­ rer Betrachtung zeigt sich ein innerer Verweisungszusammenhang zwischen dem teuflischen Kreis und dem göttlichen Zirkel, dem wir unsere besondere philosophische Aufmerksamkeit widmen werden. R Die Inszenierung eines Theaterstückes, das nicht weniger als den »gesamten Kreis der Schöpfung« umfassen soll, entspricht durchaus dem ausgeprägten Selbstbewusstsein Goethes. In der Zueignung kommt es, wie erläutert, als Teil einer Selbstinszenierung zum Aus­ druck. Wir aktualisieren deren gedruckte Fassung, indem wir uns Goethe als Gast einer der vielen »Talkshows« in den vielen Fernseh­ sendern unserer Tage vorstellen und uns fragen, worauf er bei seinem TV-Auftritt besonders geachtet hätte. W Was die Talkshow betrifft, würde der berühmte Dichter eine Livesendung sicher ablehnen und auf einer Aufzeichnung bestehen, um die Kontrolle über das »Talk«-Geschehen nicht aus der Hand zu geben. R Als weitere Kontrollbedingungen könnte ich mir vorstellen: als einziger Gast eingeladen zu werden und aus dem aufgezeichneten Gespräch mit der von ihm ausgesuchten Moderatorin nur die von ihm autorisierten Passagen zu senden. W Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass er darauf achten würde, gut geschminkt, ins rechte Licht gesetzt und von seiner besseren Seite gezeigt zu werden. Schließlich wissen wir aus Berichten seiner Zeitgenossen, wie er sich geradezu selbst inszeniert hat.

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R Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der er im gewohnten Stil seiner Zeit die eigenen Publikationen angekündigt und sogar besprochen hat, würde er die Gelegenheit einer Talkshow nutzen, um sein Faustdrama einem breiten Publikum bekannt zu machen. Sein Bestreben wäre dabei, als Autor zur lebenden Legende zu werden. W Tatsächlich hat Goethe eine solche Legende buchstäblich ins Bild setzen lassen: durch Johann Heinrich Tischbeins berühmtes Gemälde »Goethe in der Campagna« – diese Art der »Legenden-Bildung« darf also durchaus beim Wort genommen werden. Unser Fernsehin­ terview brächte das betreffende »Bild« Goethes in Bewegung. R Die Pose, die der überlebensgroß Porträtierte in Tischbeins unbe­ wegtem Bild einnimmt, wird gern als Ausdruck von Geistesgröße, Zeichen der Macht des Wissens und Signum der Überlegenheit eines Universalgelehrten interpretiert. W Mit Verlaub: Auf mich wirkt das Porträt, das Goethe als »glück­ lich« bezeichnete – »es gleicht sehr« –, in fast aufdringlicher Weise anbiedernd. Hinter vorgehaltener Hand würde ich sogar sagen: So posiert eine Person, die sich prostituiert … R Hoffentlich hat dies niemand gehört, der Goethes Dichtung für heilig hält und des Dichters Hut auf dem Porträt für einen Heiligen­ schein. W Was die Größe des Gemäldes betrifft – dessen Leinwand über drei Quadratmeter misst – wird man dem Porträtierten jedenfalls kein mangelndes Selbstbewusstsein andichten können. R Allerdings dürfen wir nicht übersehen, dass die Initiative für das Großporträt von Tischbein ausging, in dessen Wohnung in Rom Goethe im Herbst 1786 als Gast logierte. Weil er dem Maler ein Stipendium vermittelt hatte, liegt die Annahme nahe, das Porträt sei zumindest auch Ausdruck einer gewissen Dankbarkeit. W Gut. Das verlangt eine leichte Relativierung unserer These der Selbststilisierung und Selbstinszenierung …

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R ... auch insofern, als die glorifizierende Fremdinszenierung eines Dichterfürsten durchaus dem Geniekult des Sturm und Drang und damit dem Geist der Goethezeit entsprach. W Der »Geist der Zeiten« ist bekanntlich »ein Buch mit sieben Siegeln« und im Grund »der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.« R Schön. Auch im Sinne dieses Faust-Zitats hat Goethe die Gunst des Zeitgeists zu nutzen gewusst. Das zeigt sich auch im Wohnhaus am Frauenplan in Weimar. In dieses Haus, das er ein halbes Jahrhun­ dert lang bis zu seinem Tode bewohnte, hat er mit größtem Aufwand eine langgestreckte Treppe einbauen lassen … W ... durch die alle Zimmer »kleiner ausgefallen sind, als sie hätten sollen«, wie er gegenüber Eckermann äußerte. R Den »Begriff der schönen Treppe« hatte Goethe aus Italien mit­ gebracht. In seinem Hause sollte sie nicht nur schön anzuschauen sein, sondern auch schönes Schreiten begünstigen. Die flachen Stufen luden aufgrund ihrer Tiefe nämlich dazu ein, nur in gemessener Geschwindigkeit emporzusteigen. W Einerseits sollte dadurch ein erhebendes Gefühl erzeugt, anderer­ seits jede Eile im Aufstieg zu einem Fürsten vermieden werden, der seinen Gast am Ende der Treppe huldvoll zur Audienz erwartete. R Was mir als Besucher des Hauses auffiel: Beim Blick durch das Treppenhaus nach oben auf die Tür, in deren Rahmen der Herr des Hauses vor meinem geistigen Auge in fürstlicher Haltung erschien, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Türrahmen niedriger und schmaler war als üblich … W ... um den Hausherrn, der mit einem Meter und vierundsiebzig körperlich nicht der Größte war, wuchtiger und damit suggestiv wichtiger erscheinen zu lassen.

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R Wenn wir dieses Interesse Goethes an der Darstellung der eigenen Größe auf unser Gedankenexperiment einer Talkshow übertragen, wäre die Moderatorin gut beraten, den »Faust« als das weltweit bekannteste und am häufigsten zitierte Werk der deutschen Litera­ tur vorzustellen. W Für jene Zuschauer, die wenig Sinn für Poesie haben, könnte sie kommentieren, dass das Weltgedicht auf dem Niveau eines Groschen­ romans schnell erzählt werden kann. R Etwa so: Alternder Wissenschaftler verführt eine Vierzehnjährige, leistet Beihilfe zur Tötung ihrer Mutter, ermordet ihren Bruder und tötet fahrlässig zwei hochbetagte Menschen – um dennoch erlöst zu werden. Wir würden unserer Moderatorin aber einen anderen Einstieg vorschlagen. W Zum Beispiel ein Schiller-Zitat, das die Größe von Werk und Dichter betont: In den Szenen des »Faust« herrsche »eine Kraft und eine Fülle des Genies, die den besten Meister unverkennbar zeigt«. R Dass Goethe seinen »Faust« für ein Meisterwerk hielt, steht außer Zweifel. W Ich frage mich jedoch, wenn dies so wäre, warum er seinen zweiten Teil unter Verschluss hielt und vor der Weltöffentlichkeit verbarg. R Dies wird wohl ein Rätsel bleiben, vor allem im Hinblick auf die briefliche Bemerkung nach Abschluss des Manuskripts im September 1831: »Ich durfte nicht hinter mir selbst bleiben und musste also über mich selbst hinausgehen … Nun darf ich sagen, dass mir das Gewonnene Lust und Freude« bereitet. W Andere Zeugnisse belegen jedoch, dass ihm das Fragmentarische des Werkes durchaus bewusst war. So zum Beispiel im Brief an Wilhelm von Humboldt aus dem Jahr 1831: »Die Schwierigkeit des Gelingens bestand darin, dass der zweite Teil des,Faust‘ … seit fünfzig Jahren in seinen Zwecken und Motiven durchgedacht und fragmenta­ risch, wie mir eine oder die andere Situation gefiel, durchgearbeitet war, das Ganze aber lückenhaft blieb.«

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R Dafür glaubt er dem vernünftigen Leser etwas bieten zu können: »Nun hat der Verstand an dem zweiten Teile mehr Forderung als an dem ersten, und in diesem Sinne musste dem vernünftigen Leser mehr entgegengearbeitet werden, wenn ihm auch noch an Übergän­ gen zu supplieren genug übrig blieb.« W Das Fragmentarische hat seinen Grund im Charakter des »Faust«, des Werkes wie der Figur. Goethe kennzeichnet diesen Charakter wie folgt: »Der ›Faust‹ ist doch ganz etwas Inkommensurables, und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu bringen, sind vergeblich.« R Soll das heißen, dass der Dichter unsere philosophischen Bemü­ hungen als untaugliche Versuche für »vergeblich« halten würde? W Zumindest scheint er Philosophen nicht besonders wohlgeson­ nen. R Woraus schließt du das? W Er lässt Mephisto spötteln: »Denn wo Gespenster Platz genom­ men, / Ist auch der Philosoph willkommen. / Damit man seiner Kunst und Gunst sich freue, / Erschafft er gleich ein Dutzend neue.« R Unsere Absicht besteht aber gerade im Verjagen von Gespenstern. W Deshalb ist Goethes Geringschätzung für uns durchaus Motiv einer philosophischen Herausforderung. Und er gibt im zweiten Teil des Zitats einen Wink für unser Bestreben: »Auch muss man bedenken, dass der erste Teil aus einem etwas dunkelen Zustand des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauflösba­ ren Problemen.« R Wir lassen uns auch nicht abschrecken, wenn das Faustische Problem für den Verstand angeblich unauflösbar sei. Zu beachten sind nämlich auch andere Äußerungen Goethes. Im Brief an Schiller schrieb er 1797: »Ich werde sorgen, dass die Teile anmutig und unterhaltend sind und etwas denken lassen; bei dem Ganzen, das immer ein Fragment bleiben wird …«.

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W Auch hier betont Goethe den fragmentarischen Charakter seines Werkes und beabsichtigt offensichtlich, dem Rat seiner »lustigen Figur« zu folgen: »In bunten Bildern wenig Klarheit, / Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit ...«. R Die Bemerkung zum fragmentarischen Charakter des Werkes findet im Helena-Akt eine ganz grundsätzliche Bestätigung. W Die eigentümliche Zeitenthobenheit dieses Aktes, durch die Goe­ the eine spezifische Poesie des Augenblicks zur Geltung bringt, bleibt ein literarisches Fragment, allerdings mit einer philosophischen Botschaft, die wir in der Diskussion der Rolle Helenas als »Idol« gebührend würdigen werden. R Rückblickend auf das Gesamtwerk notiert der Dichter: »Aber doch ist alles (besonders im Helena-Teil von »Faust II«) sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, dass die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und anderen Dingen der Fall ist.« W Die Bedeutung des »Sinnlichen«, das den Theaterbesuchern auf­ fallen und Freude bereiten soll, steht also an erster Stelle, der »höhere Sinn« nur an zweiter. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir die Faustdichtung – wie der Untertitel unseres Buches verspricht und verlangt – als philosophische Herausforderung behandeln. R Zu Goethes Widerwillen gegen unsinnliche, gefühllose Interpre­ tationen des Lebens im allgemeinen und der Literatur im besonderen findet sich ein deutliches Wort bei Eckermann: »Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! – Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. – Ei! so habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassen, Euch rühren zu lassen, Euch erheben zu lassen, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen.«

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W Im speziellen Falle sagt er dies so: »… aber denkt nur nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre! Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem ›Faust‹ zu verkörpern gesucht? – Als ob ich das selber wüsste und aussprechen könnte! … Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.« R Den Mittelteil des Zitats hast du leider ausgespart. In diesem problematisiert Goethe seine Vorstellung von Idee. Ich zitiere: »Vom Himmel durch die Welt zur Hölle – das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, dass der Teufel die Wette verliert und dass ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im besonderen zugrunde liege.« W Gegen Schiller, der eine leitende Idee des Stückes anmahnte, bestand Goethe auf Vielfältigkeit bzw. Pluralität; er sah die Einheit nicht als eine Einheit der Idee, sondern eher als Einheit durch Zusam­ menhang. R Dies bringt er im selben Zitat auf ironische Weise zum Ausdruck: »Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im,Faust‘ zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!« W Ich erinnere an die Devise des Theaterdirektors : »Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!« R Dessen Redeweise übersetzt Goethe in die Formulierung, ihm möge »die neue Theorie des epischen Gedichts zustatten kommen«. Die herrschende Idee löst er in eine epische Reihung auf, durch die er »ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben« seiner Faustfigur zur Anschauung bringen konnte. W Zum Verhältnis der beiden Teile der Tragödie hat Goethe sich später wie folgt geäußert: »Der erste Teil ist fast ganz subjektiv; es ist alles aus einem befangeneren, leidenschaftlicheren Individuum her­

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vorgegangen … Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt, und wer sich nicht etwas umgetan und einiges erlebt hat, wird nichts damit anzufangen wissen.« R Das ist eine Differenzierung, die für unsere »Faustische Phi­ losophie« wichtig werden wird: das »befangenere, leidenschaftli­ chere Individuum« einerseits und die »höhere, leidenschaftslosere Welt« andererseits. W Ich frage mich, ob wir mit Faust überhaupt ein Individuum vor uns haben oder ob der Dichter eine literarische Figur auf die Bühne bringt, deren abenteuerliche Verirrungen er in aller Breite erzählen will, denn besonders im zweiten Teil nimmt das Epische überhand und verdrängt das Dramatische. R Ich schließe mich dem Urteil Gernot Böhmes an, der den »Faust« als ein Weltgedicht bezeichnet, das nicht nur erzählerische Funktion hat, sondern durchaus auch als Lehrgedicht beurteilt werden kann … W ... das eher eine Weltanschauung vermittelt als eine systematische philosophische Position. R Dann bitte ich um ein konkretes Beispiel! W Ich erinnere an Goethes Differenzierung in einer der berühmtes­ ten Passagen des ersten Teils: »Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen; / Die eine hält, in derber Liebeslust, / Sich an die Welt mit klammernden Orga­ nen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust / Zu den Gefilden hoher Ahnen.« R Gut! Die »derbe Liebeslust« – eines bloß körperlichen Interesses Fausts an Gretchen – spielt im ersten Teil eine entscheidende Rolle, während die Liebe im zweiten Teil dann in die »Gefilde hoher Ahnen« transformiert wird: Helena ist nicht mehr Objekt sexueller Begierde, sondern vor allem Verkörperung klassischer Schönheit – als schönste Gestalt der Antike nennt sie sich im vereinigten Raum von Klassik und Romantik ein »Idol«.

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W Der »höhere« zweite Teil enthält nach Eckermanns Bericht »einige Denkübungen« und »es möchte auch mitunter einige Gelehrsam­ keit erfordert werden … ›Ich habe immer gefunden‹, sagte Goethe lachend, ›dass es gut sei etwas zu wissen‹.« Das Lachen dürfte Ausdruck der Gewissheit sein, mit großer Geste etwas ganz Selbstver­ ständliches zu sagen. R Das Lachen Goethes kann uns motivieren, vom Raum hinter den Kulissen nach vorn auf die Bühne zu treten, um unsere philosophi­ sche Herausforderung zu erläutern, die im Untertitel zum Ausdruck kommt: das Scheitern Fausts. W Da Goethe selbst von »schweren Verirrungen« seines Protago­ nisten spricht, würde er unserem Interpretationsansatz wohl nicht grundsätzlich widersprechen, da das Scheitern für uns keine Idee dar­ stellt. R Der Unterschied zu seinem Verständnis Fausts in der größeren, »höheren, leidenschaftsloseren Welt« liegt in unserem Urteil, dass das Scheitern auch den zweiten Teil bestimmt. W Mit der Bezeichnung der Faustdichtung als »Eine Tragödie« hat Goethe das Scheitern seines Protagonisten gewissermaßen auf den Begriff gebracht. R Zugleich gibt der Spruch des Herrn den »Teufelszirkel« vor, aus dem Faust nicht entrissen werden kann: »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.« Der alte, erblindete Faust erliegt am Schluss einem letzten Irrtum, indem er das Schaufeln seines Grabes für ein Schaufeln am Graben des Deichbauprojekts hält. W Goethe hat diesen Irrtum mit wohlüberlegter Absicht gestaltet. Denn die Unterwerfung der Natur zum Zwecke ihrer Ausbeutung und technischen Umgestaltung sollte nicht als Idee des Dichters missverstanden werden.

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R Wie überhaupt die Vorstellung, Goethe sei mit der heroischen Figur Fausts irgendwie gleichzusetzen, ein Irrtum ist, den all jene begangen haben, die in Faust das Helden-Ideal des deutschen Mannes gesehen haben – eine Sichtweise, die wir angesichts eines »Helden« für unannehmbar halten, der immer »irrt, solang er strebt«. W Die philosophisch entscheidende Frage wird sein, ob »Irren« mit »Scheitern« gleichzusetzen ist… R ... und ob ein gescheitertes Projekt nicht auch neue Möglichkeiten freisetzt, die wir philosophisch als Freiheit im Nicht-Gelingen begrei­ fen können. W Wir werden zunächst die schwankende Faustfigur auf ihrem Weg der labyrinthischen Verirrungen begleiten … R ... und indem wir »Fausts Scheitern als philosophische Herausfor­ derung« annehmen, führen wir die Figur des Goethe’schen Meister­ werks aus der literarischen Tragödie eines gescheiterten Gelehrten hinaus und hinüber in eine Philosophie gelingenden Lebens … W ... heraus aus dem Kreis der schwankenden literarischen Gestalten Goethes und hinüber in einen mit philosophischen Argumenten geführten Dialog in der Tradition des unsterblichen Sokrates. R Ein Wort noch zum Umgang mit der Literatur: Was zu Goethes »Faust« an Monographien, Aufsätzen, Artikeln, Essays oder sonstigen gedruckten Äußerungen publiziert wurde, ist unüberschaubar. Wir haben daher von vornherein darauf verzichtet, uns an Äußerungen von wirklichen oder vermeintlichen Faust-Experten zu orientieren. W Die wenigen Titel, die wir in unser Literaturverzeichnis aufgenom­ men haben, sind auch nicht repräsentativ, sondern dokumentieren eine Auswahl von Veröffentlichungen, die mit den Grundgedanken unserer Faustischen Philosophie übereinstimmen. Die Philosophie selbst ergibt sich für uns aus den gereimten Versen des Goethe’schen Originals, nicht aus ungereimten Texten der Sekundärliteratur. R Zu unserer Zitierweise sollten wir vielleicht noch kurz Stel­ lung nehmen.

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W Kurz und hoffentlich bündig: Wir haben die Zitate behutsam an heutige Schreibgewohnheiten angeglichen und insbesondere reimbe­ dingte Auslassungen von Buchstaben oder Silben nicht zwingend mit Apostroph gekennzeichnet. R Dem zweiten Teil der hier vorgelegten Philosophie liegen eigene Publikationen zugrunde, aus denen einige Passagen übernommen wurden. Sie unterscheiden sich vom Original durch den dialogischen Modus, in dem wir sie vortragen. Mit anderen Worten: Wir wie­ derholen nicht einfach schon einmal Gesagtes, sondern greifen es gemeinsam auf, um es miteinander zu besprechen.

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Prolog im Philosophenhimmel Warum Gott und Teufel nur zirkulär bestimmbar sind

R Der »Prolog im Himmel« beginnt mit einem Lobpreis der Schöp­ fung. Im Chor preisen die drei Erzengel die »hohen Werke« ihres Herrn als »herrlich wie am ersten Tag«. W Auf diese – wörtlich zu nehmende – Verherrlichung göttlichen Wirkens entgegnet Mephistopheles: »Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen; / Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.« R Damit präsentiert Mephisto sich als Geist des Widerspruchs, der dem Engelsschein die irdische Realität entgegenhält. W Völlig unbekümmert um die theologisch geschiedenen Welten zwischen Himmel und Hölle, Gott und Teufel, gestaltet Goethe einen Wortwechsel zwischen dem »Herrn« und seinem Widerpart, die einander auf du und du begegnen. R Mephisto wirft dem herrlichen Schöpfer vor: »Der kleine Gott der Welt« würde »ein wenig besser leben, / Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.« W Der Herr ist dieses Klagegeistes überdrüssig: »Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?« – »Nein, Herr! Ich find‘ es dort, wie immer, herzlich schlecht, / Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen.« R Seine Schöpfung »schlecht«reden und das Menschenleben als jämmerlich verspotten zu lassen, kann der Herr nicht dulden. Er kommt deshalb auf Faust zu sprechen. W Offensichtlich gilt er dem Herrn als Präsentation seiner prächtigen Schöpfung, als Parademensch, der über jeden Zweifel erhaben ist.

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R Mephisto scheint besser informiert zu sein: »Ihn treibt die Gärung in die Ferne, / Er ist sich seiner Tollheit halb bewusst; / Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne / Und von der Erde jede höchste Lust, / Und alle Näh‘ und alle Ferne / Befriedigt nicht die tiefbe­ wegte Brust.« W Aufgrund dieser Einschätzung muss der Herr zugeben, dass der Vorzeigekandidat so glänzend makellos nicht ist: »Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, / So werd’ ich ihn bald in die Klarheit füh­ ren.« R Der Herr setzt auf das Prinzip Hoffnung. Das fordert den Wider­ part heraus: »Was wettet Ihr? / Den sollt Ihr noch verlieren, / Wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt, / Ihn meine Straße sacht zu führen.« W Im göttlichen Glauben an den Menschen als Krone seiner Schöp­ fung geht der Herr darauf ein: »Solang’ er auf der Erde lebt, / Solange sei dir‘s nicht verboten.« R Der Herr will Mephisto gewähren lassen, denn: »Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt.« Weil er Faust als Strebenden zu kennen glaubt, weiß er um dessen Irrtumsanfälligkeit. Sie schafft den Spiel­ raum für das Wettangebot Mephistos. W In der Zueignung haben wir das vielzitierte Wort des Herrn über das Irren des strebenden Menschen erwähnt. In theologischer Hin­ sicht sehe ich darin eine verweltlichte Modifikation der lutherischen Grundthese: Der Mensch vermag nichts anderes als zu sündigen. R Für den Herrn des Prologs ist der Mensch als Strebender immer auch ein Irrender. Streben und Irren gehören für ihn notwendig zusammen. Damit vollzieht er einen Gotteszirkel, durch den er den Menschen einkreist und eingrenzt. Im Streben mag dieser seine Freiheit gebrauchen, aber er wird nicht frei, dem Gotteszirkel zu ent­ kommen. W Weil Irren menschlich ist, wird zugleich ein Teufelskreis möglich, denn ohne die Irrtumsanfälligkeit hätte der Teufel keine Macht über den Menschen.

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R Der Herr selbst kreiert einen Teufelskreis, indem er dem Men­ schen den schalkhaften Gesellen zuführt, »der reizt und wirkt« und »als Teufel schaffen« muss. Der Teufelskreis liegt insofern innerhalb des Gotteszirkels. W Und deshalb kann der Herr die Wette in selbstsicherer Gewissheit und scheinbarer Souveränität annehmen: »Nun gut, es sei dir über­ lassen! / Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab / Und führ ihn, kannst du ihn erfassen, / Auf deinem Wege mit herab …«. R Aber in vermeintlicher Allwissenheit um den Ausgang der Wette antizipiert der Herr: »Und steh beschämt, wenn du bekennen musst: / Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewusst.« W Damit unterstellt er, dass Faust ein guter Mensch ist; auch wenn er ihm vorerst noch verworren dient, wird er den rechten Weg doch finden. R Der Handlungsverlauf wird zeigen, wer über Faust besser infor­ miert ist und ob die Hoffnungen des Schöpfers sich erfüllen. Die Bezeichnung »Eine Tragödie« lässt Böses ahnen. W Die Frage ist, für wen es eine Tragödie sein wird: für Faust, für die Beteiligten am Leben Fausts oder gar für den Herrn selbst. R Mephisto gibt sich ebenso siegessicher wie der Herr: »Schon gut, nur dauert es nicht lange. / Mir ist für meine Wette gar nicht bange.« W Nicht wenige Interpreten sehen in dieser Wette eine Analogie zur biblischen Geschichte um Hiob. Und auch Goethe ist sich dieser Entsprechung sehr bewusst. R Gegenüber Eckermann bekennt er: »Hat daher auch die Exposition meines ›Faust‹ mit der des ›Hiob‹ einige Ähnlichkeit, so ist das wiede­ rum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.« W Im biblischen Dialog zwischen Satan und Jahwe lobt dieser seinen Knecht Hiob für dessen Untadeligkeit und Rechtschaffenheit: »Es gibt niemanden auf der Erde wie ihn.«

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R Satan bezweifelt dessen Glaubenstreue. Er sei nur deshalb so gottesfürchtig, weil er seinen immensen Reichtum und sein Ansehen göttlichem Segen verdanke. Würde ihm dieser entzogen, würde er Jahwe verfluchen. W Gott willigt in die Glaubensprüfung ein. Obwohl Hiob daraufhin all sein Vermögen, seine Gesundheit und sogar seine Söhne verliert, bleibt er Gott treu. Für seinen Glaubensgehorsam wird er deshalb doppelt belohnt. R Trotz der gewissen Ähnlichkeit, die Goethe konstatiert, unter­ scheiden sich beide Expositionen in ihrer Prüfungsintention doch grundsätzlich: Der biblische Hiob hat alles in Fülle, Faust hingegen hat nichts, wonach er elementar strebt. Dem ersten soll alles genommen werden, dem zweiten alles gegeben, wonach ihm gelüstet. W Satan bzw. Mephistopheles übernimmt jeweils die Rolle des Prü­ fers, darin liegt die einzige Gemeinsamkeit. Der Prüfung durch Entzug steht die Prüfung durch Erfüllung gegenüber. Trotz dieser gewissen Entsprechung handelt es sich nicht ausdrücklich um eine Wette. R Schauen wir uns den Text genau an: »Solang’ er auf der Erde lebt, / Solange sei dir’s nicht verboten. / Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.« Durch diese eindeutig formulierte Festlegung auf Fausts Erdenleben war sein Seelenheil im jenseitigen Leben ausdrücklich von der Abmachung ausgenommen. W»Triumph aus voller Brust« war dem Teufel nur zu Lebzeiten Fausts erlaubt: »Staub soll er fressen, und mit Lust, / Wie meine Muhme, die berühmte Schlange.« Der Hinweis auf die im Staube kriechende Schlange schließt den Irrtum aus, hier werde auf das christliche Beer­ digungsritual »Staub zum Staube« angespielt. Der Triumph bezieht sich auf die der Vereinbarung mit Wettcharakter zugrundeliegende teuflische Strategie. R Wir sollten aber genauer hinsehen, ob es bei diesem Wettstreit wirklich um Faust als Person und um seinen Charakter als individuelle Persönlichkeit ging. Dagegen spricht die gesamte Gestaltung des

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Geschehens im Prolog: Der Gelehrte Heinrich Faust wird dort als Exempel für die Güte der Schöpfung ins Spiel gebracht, und zwar von dem Herrn des »herrlichen« Schöpfungswerkes selbst. W Als Teil der Schöpfung repräsentiert Faust im Prolog das Ganze jenes Schöpfungswerkes. Philosophisch besonders bemerkenswert ist dabei die Bezeichnung des Menschen als »kleiner Gott der Welt«. Denn sie findet sich in der »Theodizee« von Gottfried Wilhelm Leibniz – einem Werk, das die von Gott geschaffene Welt als »die beste aller möglichen Welten« rechtfertigt. R Da die Gespräche mit Eckermann Goethes Leibniz-Kenntnisse belegen, dürfen wir annehmen, dass der »kleine Gott« den Menschen in der besten aller Welten bezeichnet. Das gibt der Verherrlichung der Schöpfung durch den Engelschor einen philosophischen Grundton, der deine Interpretation noch überzeugender klingen lässt: Faust steht pars pro toto für das herrliche Schöpfungswerk. Auf seine individuellen Charaktereigenschaften – die durchschlagende Zweifel an seiner Rolle als Repräsentant der besten Welt begründen – kommt es erst im sogenannten Teufelspakt mit Mephisto an. W Darf ich den Juristen in dir erst einmal fragen, wie die von Goethes Teufel »Wette« genannte Absprache juristisch zu qualifizieren ist und was die Rechtsfolge dieser Qualifizierung wäre. R Nach dem »Bürgerlichen Gesetzbuch« gilt in Deutschland: »Durch Spiel oder durch Wette wird eine Verbindlichkeit nicht begründet.« Juristische Laien nennen Wettschulden daher »Ehrenschulden«. W Bei den heute so beliebten Sportwetten ist das aber anders. R Sie sind spezialgesetzlich geregelt und für unser Thema irrelevant. Was Goethes juristische Kompetenz in Sachen Wette betrifft, konnte er die Ehrenschulden-Regelung nicht kennen, weil das BGB erst am 1. Januar 1900 in Kraft getreten ist. Vorher war die Wette ein Rechts­ institut, das ein einklagbares Recht gewährte. Man konnte auf den Eintritt eines Ereignisses wetten und dafür einen Wetteinsatz bieten.

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W Aber welchen Einsatz hat der Herr dem Teufel geboten? Nach landläufiger Auffassung ging es bei der Wette um nichts Geringeres als um Fausts Seele. Wenn dies zuträfe, hätte der Herr des Himmels das »Heil« Fausts im Falle der verlorenen Wette dem Herrn der Hölle überlassen. Kann das sein? R Nach der bislang nur skizzierten Logik von Teufelskreis und Gotteszirkel ist dies ausgeschlossen, sofern der Teufelskreis »nur« ein Inkreis des Gotteszirkels ist. Inwiefern dies der Fall ist, werden wir noch genauer zu erläutern haben. W Andere sprechen auch hinsichtlich der Vereinbarung zwischen dem Herrn und Mephisto von einer Wette. R Juristisch ist zu unterscheiden: Ein »Pakt« ist eine vertragliche Vereinbarung, nach der die paktierenden Partner zusammenwirken, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Bei einer »Wette« treten die Beteiligten gegeneinander an und der eine gewinnt, der andere verliert. Jacob Grimm belehrt uns in seinen »Deutschen Rechtsalter­ tümern« darüber, dass die Wettenden früher nicht »dasselbe setzen« mussten: »einer durfte höheres, der andere geringeres verwetten.« W Wenn dies zutrifft, bleibt zu fragen, was Mephisto als Gegenwert einsetzt. Er kann nur gewinnen und hat nichts zu verlieren. Nur als Herausforderer hat er zu verlieren und der Preis des Herrn ist die Scham des gescheiterten Besiegten: »Und steh beschämt, wenn du bekennen musst«, dass Faust in seinem »dunklen Drange« sich »des rechten Weges wohl bewusst« sein wird. R Die Ironie des Dichters zeigt am Ende, dass der Herr zwar der Beschämte sein wird, aber dann doch nicht zulässt, dass Mephisto Fausts Seele erwischen kann. W Der Teufelskreis mag immer größer werden, er wird den Gotteszir­ kel nicht sprengen können, wage ich zu behaupten. R Von einer möglichen Verpfändung der Seele Fausts kann nicht die Rede sein, wenn wir den Zeitrahmen beachten: »Solang’ er auf der Erde lebt« wäre dann die Bedingung des Herrn für das Recht Mephistos gewesen, Faust vom rechten Weg abzubringen.

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W Es geht folglich nur um die Prüfung, ob es Mephisto gelingt, den vorbildlichen Knecht zu verführen, ähnlich der Prüfung Hiobs. R Exakt: Ein solches Recht war Mephisto für das Leben nach dem Tode Fausts nicht eingeräumt – und zwar expressis verbis. Der mit »Solang‘“ beginnende Satz formuliert klar und eindeutig, dass Goethes Herrgott die Entscheidung über Fausts Seelenheil nicht dem Teufel überlassen hat. W So viel zur Interpretation des originalen Prologs und zum Verhält­ nis der beiden Wetten. Unser »Prolog im Philosophenhimmel« sieht laut Untertitel jetzt eine Antwort auf die Frage vor, »warum Gott und Teufel nur zirkulär bestimmbar sind«. R Ich schlage vor, unser Gespräch darüber mit der Überlegung zu beginnen, welchen Gott uns Goethe in seiner Fausttragödie präsen­ tiert. W Zunächst einmal fällt auf, dass der »Herr« als Gottesfigur nur im ersten Teil der Tragödie auftritt und in einer eigenen Rolle nur am zitierten Anfang. Am Ende des ersten Teils hört man »von oben« lediglich eine Stimme, die Gretchen für »gerettet« erklärt. R Eine andere Stimme als die des Herrn könnte dies mit Wirkung für die Ewigkeit nicht verkünden. W Entsprechend der Wettsituation im himmlischen Prolog wäre es dramaturgisch erforderlich gewesen, Sieger und Besiegten am Schluss gegenübertreten zu lassen. Aber gemäß seiner Rolle weidet sich der Herr nicht an der Scham des Unterlegenen. Die Rettung des Gescheiterten überlässt er einer Frau, die Goethe zur Göttin erhebt, Mater Gloriosa. R Dennoch setzt der Dichter in der Exposition ein Spannungsmo­ ment, das erst im zweiten Teil zur Auflösung kommen könnte. W Der Prolog im Himmel hat auch die Funktion, die Figur des Prüflings Faust vorzustellen. Dies geschieht durch Mephisto mit den bereits zitierten Eigenschaften der »Gärung«, der »Tollheit« und der unbefriedigt »tiefbewegten Brust«.

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R Gerade diese Extreme seiner Persönlichkeit sind Angriffspunkte für die große Verführung des irrend strebenden Faust. W Dann darf ich kurz auf die Karikatur Gottes hinweisen, mit der Mephisto als großer Ironiker den Prolog beendet: »Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern, / Und hüte mich, mit ihm zu brechen. / Es ist gar hübsch von einem großen Herrn, / So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.« R Die Bezeichnung der »Alte« zeigt die dichterische Kunst, mit leichter literarischer Hand auf die kindliche Vorstellung Gottes als eines alten Mannes mit weißem Bart anzuspielen. W Ich verbinde mit dem Wort »der Alte« eher die Rolle des Chefs. Denn der Mephisto Goethes ist nicht der Satan christlicher Lehre. Er ist eine literarische Kunstfigur, die unter anderem den Teufel spielt. Mephisto ist nicht der absolute Widerpart des Herrn, die Personifika­ tion des Bösen schlechthin, sondern er erfüllt eine Funktion im Plan Gottes. Darauf werden wir noch eingehen. R Die Karikatur eines »Herrn«, der als schlecht informierter Chef über seine Schöpfung vorgeführt wird, entspricht der Karikatur des Teufels in der Gestalt Mephistos. W Beide Figuren sind letzten Endes »so menschlich« und entsprechen in keiner Weise den üblichen theologisch-religiösen Vorstellungen. Der Herr und sein Teufel, der »Alte« und Mephisto, haben den Pup­ penspielcharakter nicht gänzlich abgelegt. In gewisser Weise sind sie auf der Goethe’schen Bühne aufeinander angewiesen wie Teufelskreis und Gotteszirkel. R Spätestens an dieser Stelle sollten wir erklären, welchen zweiten Sinn wir mit dem »Gotteszirkel« im Titel unseres Buches verbinden und worin genau die zirkuläre Begründung Gottes liegt: in der Über­ tragung menschlicher Prädikate auf Eigenschaften Gottes. W Goethe hat das Problem gesehen, aber nur auf den »Missbrauch« in der Rede vom »lieben« oder »guten« Gott bezogen. Denn dabei würden die Prädikate so gewählt, als sei Gott verglichen mit den Menschen »nicht viel mehr als ihresgleichen«.

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R Prominent vertreten wird diese Position in der »Projektionsthese« Ludwig Feuerbachs, die er in drei Auflagen seines opus magnum über »Das Wesen des Christentums« zwischen 1841 und 1849 vertreten hat. Im Kern des »demagogenpolizeilich« verbotenen Buches geht es um das »religiöse Gefühl« des Menschen. W Der »gefühlte« Gott erhält alle seine Eigenschaften durch eine Projektion menschlicher Prädikate. Anders ließen sich Glaubenssätze wie »Gott ist gerecht«, »Gott ist gütig« oder »Gott liebt die Menschen« nicht mit inhaltlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Güte und Liebe verbinden. R Um Feuerbachs Kritik mit meinen eigenen Worten so klar und verständlich wie möglich zu artikulieren: Was die drei beispielhaft genannten Eigenschaften bedeuten, wissen wir Menschen nicht aus der Begegnung mit Gott, sondern mit unseresgleichen. Und dieses menschliche Erfahrungswissen übertragen wir auf ein unbekanntes göttliches Wesen, das wir uns als gerecht, gütig und liebend vorstellen. W Vielleicht auch als strafend oder gnädig, zumindest spielt die Gnade am Ende der Tragödie eine wichtige Rolle. Was die Strafe für Fausts Verbrechen betrifft: Von der Beihilfe zur Tötung der Mutter Gretchens über den Mord an ihrem Bruder Valentin bis zur fahrlässi­ gen Tötung von Philemon und Baucis bleiben sie ungesühnt. R Das erfahren wir kurz vor dem Ende des zweiten Teils der Tra­ gödie durch den Chor der Engel, »schwebend in der höheren Atmo­ sphäre, Faustens Unsterbliches tragend«: »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.« W Es liegt in der Freiheit des Dichters, die Tragödie Fausts durch Erlösung zu beenden. Er gewährt diese Freiheit Mater Gloriosa, die das Erlösungswerk vollendet. R Philosophisch streng genommen kann der Mensch über Gott nichts anderes aussagen als das, was er mit seinem Verstand erkennen und aufgrund seiner Vernunft verstehen kann. Nach einem kurzen und bündigen Urteil Goethes hat dies »ohne allen Zweifel« Kant auf das »vorzüglichste« begründet: »indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei«.

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W Bezogen auf »übersinnliche vernünftige Wesen« sei die Übertra­ gung menschlicher Eigenschaften unvermeidbar – schreibt Kant –, »weil wir, um unseren Begriffen« von solchen Wesen »Anschauung unterzulegen, nicht anders verfahren als sie zu anthropomorphi­ sieren«. Das heißt: Wir geben den übersinnlichen Wesen mensch­ liche Gestalt. Das ist die »morphologische« Fassung der Feuer­ bach’schen Projektionsthese. R Mit Kant, Feuerbach und Goethe zusammen können wir unsere Metapher vom »Gotteszirkel« in präzisen philosophischen Begriffen zum Ausdruck bringen: Weil Gott mit dem Geistesvermögen des Menschen – nach Kant: Verstand, Vernunft und Urteilskraft – nicht zu erfassen ist, werden menschliche Eigenschaften auf Gott projiziert, laut Feuerbach, oder die göttlichen Gestalten werden vermenschlicht wie bei Goethe. W Der vitiöse Zirkel dabei ist evident: Ein per definitionem nichtmenschlicher Gott wird mit menschlichen Eigenschaften ausgestattet, aus denen dann göttliche Urteile deduziert werden: Der »gnädige« Gott lässt Gnade walten, der »gerechte« Gott straftdie Bösen und belohnt die Guten und so weiter … R Wie verhält es sich mit dem »Teufelskreis«? Auf den ersten Blick liegt bei der Begründung teuflischer Eigenschaften derselbe vitiöse Zirkel vor wie bei den Projektionen im »Gotteszirkel«, nur werden eben nicht die guten, sondern die bösen Prädikate projiziert. W Der Teufel täuscht über seine Erscheinung – gegenüber Faust verwandelt er sich in einen schwarzen Pudel, gegenüber dem Schüler in Faust, und im zweiten Teil nimmt er verschiedenste Rollen ein. R Dabei drängt sich die Frage auf, ob ein Teufel in Menschengestalt überhaupt mit dem Pantheismus Goethes vereinbar ist. W Wie anders hätte er diese Figur auf die Bühne bringen kön­ nen? Dichtung und persönliche religiöse Vorstellung müssen nicht deckungsgleich sein. Die pantheistische Kraft der göttlichen Schöp­ fung liegt für Goethe im Wesen der Natur und im Wesen des Men­ schen. Ein personifizierter Gott und ein personifizierter Teufel sind Figuren eines Schauspiels.

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R Gleichwohl gelingt es Goethe spielerisch, in der karikierten Figur Gottes am Ende des Prologs eine philosophische Botschaft zu verste­ cken: »So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen« ist ein theatralisch in Szene gesetzter Anthropomorphismus. W Das gibt mir Gelegenheit, auf die schauspielerische Variante eines Teufelsbeweises aufmerksam zu machen, die Goethe im »Walpurgis­ nachtstraum« plaziert hat. Ein »Dogmatiker« trägt dort vor: »Ich lasse mich nicht irre schrein, / Nicht durch Kritik noch Zweifel. / Der Teufel muss doch etwas sein; / Wie gäb’s denn sonst auch Teufel?« R Wie im ontologischen Gottesbeweis vom Begriff auf die Existenz Gottes geschlossen wird, so schließt der Dogmatiker hier: Weil »Teu­ fel« als solche benannt werden, muss das Benannte auch »etwas sein«, also existieren. W Kants Kritik am ontologischen Gottesbeweis lautet pointiert: »Existenz« ist keine Eigenschaft, sondern deren Bedingung. Durch die Zuschreibung von Eigenschaften kann deshalb nicht begründet werden, dass ein Träger der zugeschriebenen Eigenschaften existiert. R Oder um nochmals unseren Buchtitel zu bemühen: Jeder »Gottes­ zirkel« ist auch ein »Teufelskreis«, wenn er einem »Gott« oder »Teu­ fel« genannten Phänomen Eigenschaften zuschreibt, die er aus den erfahrbaren Eigenschaften menschlicher Existenz entnommen hat. W Dieser Zirkel der Zuschreibung ist als »circulus vitiosus« ein logi­ scher Fehler, mit dem nichts bewiesen werden kann. Es bleibt dabei: Alle Qualitäten übersinnlicher Wesen sind Projektionen menschli­ cher Eigenschaften. R Solche Eigenschaften Gott und dem Teufel zuzuschreiben, stellt eine petitio principii dar – das ist nur ein anderer Name für den Zir­ kelschluss, der die zu begründende Eigenschaft, etwa Barmherzigkeit oder Listigkeit, in die Begründung hineinlegt: Gott ist barmherzig, der Teufel ist listig.

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W Unseren Titel sollten wir noch mit einem religionsgeschichtlichen Aspekt erläutern. Der Dualismus zwischen einem guten und einem bösen Prinzip beherrscht mehrere religiöse Vorstellungen. Dabei spielen persische Einflüsse eine entscheidende Rolle, die sich zur Zeit des Babylonischen Exils auch im Judentum niederschlagen. R Zuletzt wurde ein Dualismus von dem Perser Mani vertreten, auf den der Manichäismus zurückgeht. Der christliche Kirchenvater Augustinus war in seinen jungen Jahren glühender Anhänger dieser Anschauung. Aber auch nach seiner Bekehrung zum Christentum vertritt er in seinen Schriften einen Kampf zwischen Gott und dem Satan bzw. dem Teufel. W Noch der Reformator Martin Luther predigt diesen Glauben. Legendär ist die Geschichte mit dem Tintenfass, das er nach dem Teufel geworfen haben soll. R Gott und der Teufel werden durch Personifikation zu Gegenspie­ lern, denen zwei getrennte Reiche zukommen. Der Teufel zieht zwar seine eigenen Kreise, bleibt jedoch letztlich vom Gotteszirkel umgrif­ fen. W Das hebräische Substantiv ›Satan‹ bedeutet Widersacher, Gegner. Der Satan vertritt kein dualistisches Gegenprinzip zu Gott, sondern er nimmt im Judentum verschiedene Rollen ein. Als Hauptankläger gegen den Menschen und Zweifler haben wir ihn im Zusammenhang mit Hiob kennengelernt. R Selbstverständlich vertritt auch Goethe kein dualistisches Prinzip. Auch im »Faust« spielt Mephisto den Teufel in verschiedenen Funktio­ nen, bleibt damit aber immer innerhalb des umgreifenden Gotteszir­ kels. W Daher: »Von Zeit zu Zeit« sieht Mephisto »den Alten gern«. Gar mit ihm zu brechen liegt ihm fern. R Aus göttlicher Perspektive verhält es sich entsprechend, spricht doch der Herr: »Ich habe deinesgleichen nie gehasst. / Von allen Geistern, die verneinen, / Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.«

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W Auch die Funktion Mephistos im Gotteszirkel kommt zur Sprache: »Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, / … Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, / Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.« R Das teuflische Schaffen soll positive Wirkung erzielen. So erkennt es auch Mephisto in seiner Rolle als Teufel. Auf Faustens Frage: »Nun gut, wer bist du denn?« antwortet dieser: »Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« W Auf der Bühne der Welt kämpfen Teufel und Gott zwar schein­ bar gegeneinander um den Menschen, arbeiten dabei aber auch gewollt-ungewollt zusammen und lassen den Teufelskreis Anteil am Gotteszirkel haben.

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Der Faustischen Philosophie erster Teil Wodurch Fausts Scheitern zu einer philosophischen Herausforderung wird

1. Gelehrtendrama W Am Anfang unserer »Faustischen Philosophie« steht die Ausein­ andersetzung mit Fausts Gelehrtendasein. Durch Mephisto sind uns schon einige Grundzüge dieses Daseins bekannt. R Doktor Heinrich Faust, der tragische Held des Dramas, ist ein akademisch gebildeter Mensch vom Typ eines Universalgelehrten im Sinne des frühneuzeitlichen Humanismus, der durch Geistesgrößen wie Pico della Mirandola, Giannozzo Manetti, Paracelsus oder Gior­ dano Bruno repräsentiert wird. W Der Stoff für die Tragödie stammt aus Volksbüchern und Pup­ penspielen des späten Mittelalters. Der schon dort vorkommende Teufelspakt stellt zwar ein mittelalterliches Motiv dar, Goethe hat den Pakt aber – wie erläutert – zu einer bedingten Wette umgestaltet, die den Wetteinsatz auf das diesseitige Leben Fausts beschränkte … R ... und dadurch Fausts Leben im Jenseits oder sein Seelenheil unangetastet ließ. Das ist eine auffallende Veränderung gegenüber den mittelalterlichen Quellen. Sie stimmt mit dem Unterschied zwi­ schen dem Menschenbild des Mittelalters und dem der Neuzeit überein: Stand dort die Erlösung von der Erbsünde im Zentrum eines vom Kirchenglauben bestimmten Lebens, ist für Fausts Biographie zunächst das unbedingte Streben nach Erkenntnis bestimmend. W Der Faust des mittelalterlichen Volksbuches diente als Warnung, sich nicht mit dem Teufel einzulassen, weil dann der Weg zwangsläu­ fig in die Hölle führt.

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R Goethe nennt sein Werk zwar »Eine Tragödie«, doch endet Faust trotz »schwerer Verirrungen« nicht in der Hölle, sondern findet Gnade und Erlösung. Die Gründe dafür werden wir im Kapitel über die »Scheiternsgeschichten« diskutieren. W Faust hat »Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie« studiert und damit ein Studium an allen vier Fakultäten der spätmittelalterlichen Universität absolviert, an der Philosophie in den »artes liberales« der »Artistenfakultät« gelehrt wurde. R Er führt ein einsames Leben ohne Familie und Freunde; zu seinem Famulus hat er ein distanziertes Verhältnis. Das Volk verehrt ihn als erfolgreichen Mediziner und erinnert lobend an seinen Vater. W Faust selbst hat eine andere Erinnerung: »Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann / … Der in Gesellschaft von Adepten / Sich in die schwarze Küche schloss / Und nach unendlichen Rezepten / Das Widrige zusammengoss. / … Hier war die Arzenei, die Patienten starben, / Und niemand fragte, wer genas. / So haben wir mit hölli­ schen Latwergen / In diesen Tälern, diesen Bergen / Weit schlimmer als die Pest getobt. / Ich habe selbst den (sic!) Gift an Tausende gegeben, / Sie welkten hin, ich muss erleben, / Dass man die frechen Mörder lobt.« R Fausts medizinische bzw. pharmakologische Kenntnisse sind kein Anlass zur moralischen Erhebung. Und sein umfassendes akademi­ sches Wissen führte ihn immer nur an die Grenzen menschlicher Erkenntnismöglichkeiten: »Und sehe, dass wir nichts wissen kön­ nen! / Das will mir schier das Herz verbrennen.« W Es handelt sich wohl schon um Hybris, wenn Faust nicht bereit ist, die Grenzen der Erkenntnis anzuerkennen. Denn in der Endlichkeit des Menschen liegt beschlossen, dass er nicht über gottgleiches Wissen verfügen kann. In Fausts titanischem Begehren liegt sein fundamentaler Irrtum als Gelehrter. R Aber er hat ein ähnliches Gespür wie Descartes, der gleichfalls am akademischen Wissen zweifelte und das gesamte Wissensgebäude umstürzen wollte.

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W Im Unterschied zu Faust findet er jedoch im Denken ein letztes Fundament, das Gewissheit garantiert. Der Weisheit letzter Schluss liegt für ihn in der Erkenntnis, dass der zweifelnde Denker sein Zweifeln nicht bezweifeln kann. Daraus zieht er die Einsicht: »cogito, ergo sum« – ich denke, also bin ich. R Kant, der Zeitgenosse Goethes, würde hingegen Fausts Anspruch auf totale Erkenntnis für absurd erklären, weil er die Endlichkeit des Menschen und die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellt. W Schon allein die grundsätzliche Fragestellung »Was kann ich wis­ sen?« impliziert ein aufgeklärtes Bewusstsein über die Begrenztheit menschlicher Erkenntnismöglichkeiten. R Aber Goethes Faust versteht sich noch titanenhaft: »Ich, Ebenbild der Gottheit!« bzw. »Ich, mehr als Cherub«, d. h. mehr als ein natürli­ ches Wesen. Und nach dem Pakt mit Mephisto fordert er noch immer: »Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen.« W Mephistos ironische Antwort lautet: »Glaub unsereinem: dieses Ganze / Ist nur für einen Gott gemacht!« R Fausts Totalitätsanspruch, zu erkennen »was die Welt im Innersten zusammenhält«, musste scheitern. Es handelt sich jedoch nicht nur um das Zerplatzen eines Wissenschaftstraums. Denn Fausts Erkennt­ nisanspruch ist für ihn existentiell. W Quasi in Umkehrung zu Descartes bedeutet dies für ihn: Ich denke nicht, also bin ich nicht. Aus der Negation absoluter Erkenntnis folgt die Negation seiner Seinsmöglichkeit. Er fühlt sich genichtet, ihm ist »alle Freud entrissen«. Und später im Dialog mit Mephisto bekennt er: »Und so ist mir das Dasein eine Last, / Der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst.« R Dass Fausts Erkenntnisstreben auf das Erfassen des Unendlichen gerichtet war, bekennt er im späteren Dialog mit Mephisto: »Ich fühl’s, vergebens hab ich alle Schätze / Des Menschengeists auf mich

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herbeigeschafft, / Und wenn ich mich am Ende niedersetze, / Quillt innerlich doch keine neue Kraft; / Ich bin nicht um ein Haarbreit höher, / Bin dem Unendlichen nicht näher.« W Hätte er die Worte des Herrn im Prolog hören können, würde er eines Besseren belehrt: Das Innerste der Welt ist kein substantielles Sein, sondern ein stetiges Werden: »Das Werdende, das ewig wirkt und lebt, / Umfass’ euch mit der Liebe holden Schranken, / Und was in schwankender Erscheinung schwebt, / Befestiget mit dauern­ den Gedanken!« R Das ewig Werdende in schwankenden Erscheinungen lässt an Goethes Morphologie erinnern, auf die wir schon in der Zueignung kurz eingegangen sind. Insofern der Schaffensprozess ewig ist, bleibt nichts konstant, alles ist im Wandel begriffen. W Aber in den jeweiligen wechselnden Gestalten ist das Ganze präsent und nicht nur bloße Erscheinung. R Goethe versteht sich in diesem Punkt durchaus als Kontrahent der Kantischen Philosophie, nach der wir die Dinge »an sich« nicht erkennen können, sondern nur ihre Erscheinungen. W Dazu äußerte sich der Naturwissenschaftler in »Maximen und Reflexionen« wie folgt: »Das Höchste wäre: zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist … Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre.« R Zurück in Fausts Studierzimmer, das ihm zum Kerker wurde, ein »verfluchtes dumpfes Mauerloch« / … Mit Instrumenten vollge­ pfropft – / Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!« W Diese eine und für Faust einzige Welt ist abgestorben: »Statt der lebendigen Natur, / Da Gott die Menschen schuf hinein, / Umgibt in Rauch und Moder nur / Dich Tiergeripp’ und Totenbein.«

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R In seinem verzweifelten Bemühen, die innerste Substanz der Welt zu erkennen, ergibt er sich der »Magie«. Denn durch kluge Bücher und eigene Wissenschaft »Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben, / Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, / Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.« W Trockenes Wissen befriedigt ihn nicht, er verlangt nach über­ wältigender Offenbarung, nach einer »Schau« aller »Wirkenskraft und Samen«. R Es bleibt nur ein Mittel: »Drum hab ich mich der Magie ergeben, / Ob mir durch Geistes Kraft und Mund / Nicht manch Geheimnis würde kund.« W Die Beschwörung von Geistern ist eine Technik der Magie. Faust scheint mit dieser Methode vertraut: »Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir; / Antwortet mir, wenn ihr mich hört!« R Indem er das alchemistische Buch von Nostradamus aufschlägt und das Zeichen des Makrokosmos erblickt, erkennt er, »was der Weise spricht: / ›Die Geisterwelt ist nicht verschlossen‹.« W Das Zeichen des Makrokosmos erschließt ihm die Einsicht des wesentlichen Zusammenhangs aller Dinge: »Wie alles sich zum Gan­ zen webt, / Eins in dem andern wirkt und lebt! / Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen / Und sich die goldnen Eimer reichen! / Mit segenduftenden Schwingen / Vom Himmel durch die Erde dringen, / Harmonisch all das All durchklingen!« R Im »Philosophenhimmel« haben wir von Goethes Weltanschau­ ung gesprochen. Ich bin sicher, dass die makrokosmische Betrachtung dazu gehört. Während wir in mikrokosmischer Kurzsicht nicht einmal die einzelnen Dinge »an sich« erfassen, um mit Kant zu sprechen, geht in makrokosmischer Perspektive der Strukturzusammenhang des Ganzen auf. W Besteht hier nicht ein unmittelbarer Zusammenhang mit Goethes Studien zur Metamorphose allen organischen Lebens? Zitat: »Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erheben­ der Typus gehe durch die sämtlichen Organe der Geschöpfe durch

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… und müsse auch noch da anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurück­ zieht.« R Goethes berühmter Gedanke einer »Urpflanze« gehört in das Ganze eines geradezu kosmischen Zusammenhangs. W Gut, kommen wir zur Szene zurück! Im alchemistischen Zeichen des Makrokosmos erfasst er die genannte großartige Einsicht: »Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!« R Erst der nachfolgende Vers verdeutlicht das Schmerzliche der Äußerung: »Wo fass ich dich, unendliche Natur?« Die bloße Einsicht in den Wirkungszusammenhang aller Wesen kann das überwälti­ gende Erleben der »Quellen alles Lebens« nicht vermitteln, nach der er bislang »so vergebens« schmachtet. W Faust will eine Einheit von magischer Welterkenntnis und quasi mystischem Einheitsleben der »unendlichen Natur« erzwingen. Des­ halb sucht er nach anderen Zeichen im alchemistischen Buch und »erblickt das Zeichen des Erdgeistes«. R Das Ganze der Natur entsteht nach Empedokles durch das Zusam­ menwirken der vier Elemente: Feuer, Wasser, Licht und Erde. W Vor dem Hintergrund dieser vorsokratischen Naturphilosophie scheint es Faust um eine Art mystisch-naturphilosophischer Got­ teserfahrung zu gehen. R Als möglichen Vermittler einer solchen Erfahrung sieht er den Erdgeist : »Du, Geist der Erde, bist mir näher.« Und er ruft diesen Geist herbei: »… erflehter Geist / Enthülle dich! / … Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben! / Du musst! du musst! und kostet‘ es mein Leben!« W All seine glühend existentielle Kraft legt er in diese Beschwörung, die zu gelingen scheint, denn: »Es zuckt eine rötliche Flamme, der Geist erscheint in der Flamme«, vor der Faust wie ein »furchtsam weggekrümmter Wurm« zurückweicht: »Weh! ich ertrag dich nicht!«

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R Noch glaubt er dem Erdgeist gewachsen zu sein: »Ich bin’s, bin Faust, bin deinesgleichen«, was von diesem jedoch kategorisch zurückgewiesen wird: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!« – »Nicht dir? / Wem denn? / Ich Ebenbild der Gottheit! / Und nicht einmal dir!« Die Regieanweisung »Faust zusammenstürzend« verdeutlicht die Verzweiflung: Nicht nur in seinem wissenschaftlichen Erkenntnisvermögen, sondern auch in seiner Geisterbeschwörung ist er an die Grenzen seiner Möglichkeiten gelangt. W Wie wollen wir die Gestalt des Erdgeistes interpretieren? In den Kommentaren heißt es, Goethe habe ihn als eigene mythische Gestalt erfunden. Zunächst einmal ist er »Geist« und kein »Gespenst«. R Hören wir auf die Worte, in denen sich der Geist der Erde vorstellt: »In Lebensfluten, im Tatensturm / Wall‘ ich auf und ab, / Wehe hin und her! / Geburt und Grab, / Ein ewiges Meer, / Ein wechselnd Weben, / Ein glühend Leben, / So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.« W Wenn wir auch noch vernehmen, wie Faust die Erscheinung später einordnet, werden wir etwas schlauer: »Geheimnisvoll am lichten Tag, / Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben«. Aus beiden Bemerkungen könnten wir schließen, dass es sich um den Geist der Natur handelt. R Eine weitere Information kann hilfreich sein: Nach Emanuel von Swedenborg besteht das himmlische Universum aus einer Gemein­ schaft unterschiedlicher Geister. Jeder Planet habe einen eigenen Geist. Die Erde regiere der Erdgeist. Goethe lernte diese Auffassung im Kreise der Susanna von Klettenberg kennen. W Ich schließe auch nicht aus, dass Goethe mit dem Erdgeist seiner pantheistischen Gottesvorstellung dichterischen Ausdruck verliehen hat: Es ist der Geist, der die gesamte Natur göttlich erscheinen lässt. R Eine Präzisierung würde ich dazu gern noch vornehmen: »Pan«theistisch ist eine Gottesvorstellung erst dann, wenn sie Gott in allem und nicht nur in der Natur präsent sieht. Insofern ist Goethes Erdgeist

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nur ein Teil seines Pantheismus – jener Teil, den Paracelsus »spiritus terrae« und Giordano Bruno »anima terrae« nannte –, Geist und Seele des Irdischen. W Der »kleine Gott der Welt« erdreiste sich »uns, den Geistern, gleichzuheben«. Aber er hat sich überhoben, der sich für ein »Ebenbild der Gottheit« hält. Der Geist der Erde lässt sich nicht vom menschli­ chen Geist fassen. Und Faust muss wiederum verzweifelt erkennen: »Ach! Die Erscheinung war so riesengroß, / Dass ich mich recht als Zwerg empfinden sollte.« R Er muss seine Vermessenheit eingestehen, dem Erdgeist gleichen zu können: »Nicht darf ich dir zu gleichen mich vermessen! / … Den Göttern gleich’ ich nicht! zu tief ist es gefühlt! / Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt«. W Fausts Verzweiflung ist abgründig. Ihm schwant: »Mit Lust nach Wahrheit, jämmerlich geirret« zu haben. Er sieht keinen Ausweg, fühlt sich am Ende. Die Klangfarbe verdunkelt sich in der Absicht, Suizid zu begehen. Er holt die Phiole mit einem »Auszug aller tödlich feinen Kräfte.« R Dass er tatsächlich entschlossen ist, sein Leben zu beenden, geht aus dem folgenden Monolog hervor: »Vermesse dich, die Pforten aufzureißen, / Vor denen jeder gern vorüber schleicht. / Hier ist es Zeit, durch Taten zu beweisen, / Dass Manneswürde nicht der Götterhöhe weicht, / Vor jener dunkeln Höhle nicht zu beben, / … Nach jenem Durchgang hinzustreben, / Um dessen engen Mund die ganze Hölle flammt; / Zu diesem Schritt sich heiter zu entschließen, / Und wär‘ es mit Gefahr, ins Nichts dahinzufließen.« W Trotz der Verzweiflung herrscht ein heroischer Ton. Offensichtlich verbindet Faust Suizid mit Manneswürde. In dieser Tat bekundet sich ungebundene Freiheit. Faust zieht einen Bogen von der Hölle bis zum Nichts. Was danach kommt, scheint ihn nicht wesentlich zu interessieren.

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R Auf alle Fälle kommt ihm nicht in den Sinn, den Suizid als Todsünde zu verstehen, die der Selbstmord nach christlicher Lehre darstellt. Von möglicher Höllenstrafe lässt er sich nicht schrecken, ist sie doch »Phantasie«, die »zu eigner Qual verdammt«. W Schon vorher erklärte er ja: »Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel.« Diese Furchtlosigkeit gibt ihm die Kraft, den Entschluss zu vollziehen. R Aber es bleibt beim Versuch. Als Faust die Schale mit dem Gift an den Mund setzt, ertönt »Glockenklang und Chorgesang« und Faust hört den »Chor der Engel«, die den Beginn des Osterfestes feiern: »Christ ist erstanden.« W Seine im Selbstgespräch gegebene Antwort darauf ist zum geflü­ gelten Wort geworden: »Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.« R Und in skeptischer Manier kommentiert er: »Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.« An das Wunder der Auferstehung vermag er nicht zu glauben – er, der es eher mit dem Glauben an den Erdgeist hält. W Und beim anschließenden Osterspaziergang kommen ihm eben­ falls religionskritische Überlegungen bezüglich des bunten Gewim­ mels der Menge: »Sie feiern die Auferstehung des Herrn, / Denn sie sind selber auferstanden: / Aus niedriger Häuser dumpfen Gemä­ chern, / … Aus der Straßen quetschender Enge, / Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht / Sind sie alle ans Licht gebracht.« Im Wider­ spruch zum liturgischen Ritus, die Auferstehung Christi mit dem Anzünden der Osterkerze zu symbolisieren, bezieht sich Faust auf das Licht der Sonne. R Was hält Faust »vom letzten, ernsten Schritt zurück«: die Erinne­ rung an Kindheit und Jugend. Weil dies – soweit ersichtlich – die einzige Stelle der beiden Teile des Dramas ist, an der Faust sich »mit kindlichem Gefühle« an glückliche Zeiten erinnert, sollten wir uns im Hinblick auf das Hauptthema unseres zweiten Teils – ein glückendes oder gelingendes Leben – dafür besonders interessieren.

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W So sehe ich das auch. Das »kindliche Gefühl« spielt übrigens in einer aktuellen Diskussion über die Motive zum Besuch von Gottes­ diensten eine Rolle: Psychologen sprechen vom »Kinder-Ich«, das die Menschen in die Kirche begleitet, während das »Erwachsenen-Ich« zuhause bleibt. R Fausts Erwachsenen-Ich fragt: »Was sucht ihr, mächtig und gelind, / Ihr Himmelstöne, mich im Staube? / Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind. / Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.« W Die »Himmelstöne« des Engelschores stammen aus Sphären, zu denen Faust nicht wagt, »zu streben«. »Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt, / Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.« Danach scheint es, als hätte die äußerliche Gewöhnung an religiöse Rituale den Suizid verhindert, nicht die innere Glaubensüberzeugung – wie zweifach zitiert, »fehlt« sie ihm ja gerade. R Goethe präsentiert das Verhältnis von äußerlicher Gewöhnung und innerer Überzeugung aber nicht als Schwarz-Weiß-Malerei, wenn er Faust bekennen lässt »Und ein Gebet war brünstiger Genuss«. Auch das liturgisch gesungene »Lied« löste Emotionen aus, die »der Jugend muntre Spiele« und »der Frühlingsfeier freies Glück« verkündeten. W Die kindlichen Gefühle sind nicht nur bloße Erinnerung, sondern ganz lebendig in ihm: »O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder! / Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!« R Aber Faust erfährt keine Art von Auferstehung, selbst wenn er später über sich sagt: »Entschlafen sind nun die wilden Triebe / Mit jedem ungestümen Tun; / Es reget sich die Menschenliebe, / Die Liebe Gottes regt sich nun.« W Die Ineinssetzung von Gottes- und Menschenliebe offenbart viel­ mehr seinen religionskritischen Geist, der sich auch darin ausdrückt, dass das irdische Jammertal und die Erfahrung des Mangels zum Motiv für religiöse Sehnsucht werden kann.

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R So räsoniert er: »Doch dieser Mangel lässt sich ersetzen: / Wir ler­ nen das Überirdische schätzen, / Wir sehnen uns nach Offenbarung.« W Die religiöse Offenbarung steht jedoch in krassem Widerspruch zu seinem Wunsch nach magisch-alchemistischer Offenbarung. Ironie bestimmt auch den Zusammenhang zwischen Fausts Pseudorettung vor dem Suizid durch Christi Auferstehungsbotschaft und der Freiset­ zung des Protagonisten für die Verführungen Mephistos. R Die gewisse Erquickung durch den Osterspaziergang in der freien Natur hält im Folgenden nicht lange an: »Aber ach! schon fühl’ ich, bei dem besten Willen, / Befriedigung nicht mehr aus dem Busen quillen.« W Diese Gemütslage wird zur Voraussetzung für die mephistopheli­ sche Versuchung. Der Pudel hat Faust »in weitem Schneckenkreise« schon umzirkelt. Im Sinne unseres Buchtitels ist Faust damit erst­ mals in jenen »Teufelskreis« geraten, der sein literarisches Schicksal bestimmen wird. R Bei der Verwandlung des Pudels, den er mit in sein Haus gebracht hat, versucht Faust einen Geisterexorzismus, indem er den alchemis­ tischen »Spruch der Viere« anwendet, denn »Wer sie nicht kennte, / Die Elemente, / Ihre Kraft / Und Eigenschaft / Wäre kein Meister / Über die Geister.« W Der Spruch der Viere soll bewirken: »Verschwind in Flammen, / Salamander! / Rauschend fließe zusammen, / Undene! / Leucht in Meteorenschöne, / Sylphe! / Bring häusliche Hilfe, / Incubus! Incubus! / Tritt hervor und mache den Schluss.« R Salamander vertritt mit den Flammen das Element Feuer, Undines rauschendes Fließen symbolisiert den Wassergeist, Sylphe steht für das Element Luft. W Da ihm die Beschwörung auf diese Weise nicht gelingt, konfron­ tiert Faust den möglichen Gesellen, »Flüchtling der Hölle«, mit dem Kreuzzeichen: »So sieh dies Zeichen, / Dem sie sich beugen, / Die schwarzen Scharen!«

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R Woraus schließt du, dass es sich um das christliche Kreuz handelt? W Faust spricht: »Kannst du ihn lesen? / Den nie Entsprossnen, / Unausgesprochnen, / Durch alle Himmel Gegossnen, / Frevent­ lich Durchstochnen?« R Nach Auffassung des christlich geübten Exorzismus flieht der böse Geist aus dem Körper des Betroffenen, sobald er die Wirkung des christlichen Symbols spürt. W Das Kreuz verfehlt offensichtlich seine Wirkung nicht, denn als­ bald tritt Mephistopheles, »gekleidet wie ein fahrender Scholastikus, hinter dem Ofen hervor« und Faust erkennt: »Das also war des Pudels Kern!« R Da Fausts magische Versuche gescheitert sind, sieht er jetzt eine neue Gelegenheit: »Den Teufel halte, wer ihn hält!«. Denn: »Da ließe sich ein Pakt, / Und sicher wohl, mit euch, ihr Herren, schließen«. W Die mögliche Situation einer Versuchung geht nicht direkt von Mephisto aus, auch wenn er durch seine Gegenwart versuchend wirkt. Der Unterschied zur biblischen Geschichte vom Sündenfall ist evident. Dort wurde der Mensch, Eva, durch die Schlange versucht. Dass Goethe entfernt auf diese Geschichte verweist, bringt er bereits im Prolog zum Ausdruck: »Staub soll er fressen, und mit Lust, / Wie meine Muhme, die berühmte Schlange.« R Ihre Berühmtheit geht allein auf die Schlange im Paradiesgarten zurück. Insofern gebe ich dir recht. W Faust begreift sich als den Agierenden, der die Fähigkeit besitzt, den Teufel festzuhalten und ihn wie ein Werkzeug für seine Zwe­ cke einzusetzen. R Aber darin besteht sein zweiter Irrtum. Denn schon in dieser Szene zeigt sich, dass Mephisto der Überlegene ist, indem er Faust durch seine Geister in einen tiefen Schlaf fallen lässt.

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W Er triumphiert: »Du bist noch nicht der Mann, den Teufel festzu­ halten!« R Die Parallele zwischen dem Erdgeist und dem Teufel hinsicht­ lich des Festhaltens finde ich auffällig. Faust erkannte nach dem Verschwinden des Erdgeistes: »Hab’ ich die Kraft dich anzuziehn besessen, / So hatt’ ich dich zu halten keine Kraft.« W Den Teufel aber glaubt er festhalten zu können. Übersetzt man das Festhalten als Fähigkeit der Machtausübung über den Teufel, dann wird ihm das auch später nicht gelingen. Bis es aber schließlich zum Pakt kommt, muss Mephisto allerlei Überredungskunst aufbringen. Als erstes bietet er an, Faust »die Grillen zu verjagen«. R Auf das Angebot: »Damit du, losgebunden, frei, / Erfahrest, was das Leben sei«, reagiert Faust nahezu ablehnend: »In jedem Kleide werd’ ich wohl die Pein / Des engen Erdenlebens fühlen. / … Was kann die Welt mir wohl gewähren?« W Ja, er bedauert fast, noch am Leben zu sein: »Der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst.« Am liebsten wäre er nach der Begegnung mit dem Erdgeist schon gestorben: »O wär’ ich vor des hohen Geistes Kraft / Entzückt, entseelt dahingesunken!« R Hatte er sich durch den Chor der Engel von seinem Freitod abhal­ ten lassen, und im kindlichen Gefühl die »süßen Himmelslieder« genossen, kehrt sich jetzt sein Sinn völlig um: »Wenn aus dem schrecklichen Gewühle / Ein süß bekannter Ton mich zog, / Den Rest von kindlichem Gefühle / Mit Anklang froher Zeit betrog, / So fluch’ ich allem, was die Seele / Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt / Und sie in diese Trauerhöhle / Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!« W Er zerreißt gewissermaßen den letzten dünnen Faden seiner reli­ giösen Bindung, die er als Erinnerung verwahrte. Durch die Explosion weiterer Flüche vernichtet er alles, was ihm früher hoch und heilig war. R Beachte, dass Faust hier eindeutig religionskritisch spricht. Reli­ giöse Versprechungen seien nur »Lock- und Gaukelwerk«, um die Situation im Jammertal irdischen Daseins durch »Blend- und Schmei­ chelkräfte« erträglich zu machen.

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W Damit sagt er im Grunde, dass ihm nicht nur der Glaube fehlt, sondern dass die Botschaft falscher Zauber sei. R In religiöser Perspektive findet hier die bewusste Abwendung von der eigenen Menschenliebe statt, die Faust ja mit der Gottesliebe gleichsetzt, und somit eine Abwendung von Gott. W Mit dieser Kehre hat sich Faust bereit gemacht für Mephisto und dessen Lock- und Gaukelwerke … R ... und durch diese Kehre wendet er sich von seinem Gelehrtenda­ sein ab. Er verflucht sich als gescheiterter Gelehrter, der jetzt aber auf den Teufel hereinfällt. W Fassen wir noch einmal zusammen, worin das »Gelehrtendrama« besteht: Das erste Scheitern erfährt Faust in der Einsicht, »dass wir nichts wissen können«. Den Verlust von Lebensfreude erlebt er in Verzweiflung. R Weiterhin scheitert er an magischen Versuchen, die in der misslungenen Beschwörung des Erdgeistes gipfeln. Und selbst der Abbruch seines Suizidversuchs ist als Scheitern zu beurteilen. W Der so Gescheiterte setzt nun auf den Teufel. Mit dem Teufelspakt endet das eigentliche Gelehrtendrama: »Des Denkens Faden ist zer­ rissen, / Mir ekelt lange vor allem Wissen.« Gleich anschließend formuliert er mit ähnlichen Worten: »Mein Busen, der vom Wissens­ drang geheilt ist …«. R Immer wieder gelingt es dem Dichter, mit Widersprüchen im Handlungsgeschehen Spannung zu erzeugen. Während der teuflische Pudel Faust umkreist, fühlt sich dieser gerade bemüßigt, das Neue Testament aufzuschlagen, um »Mit redlichem Gefühl einmal das heilige Original / In mein geliebtes Deutsch zu übertragen«. W Die Übersetzung wird von Fausts pantheistischem Gottesver­ ständnis geleitet, das wir in der Gretchentragödie ausführlich beleuch­ ten werden. »Geschrieben steht: Im Anfang war das Wort!«

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R Bibelkundige werden wissen, dass Faust sich auf den Prolog des Johannesevangeliums bezieht, das im Original in griechischer Spra­ che verfasst ist. In radikaler Weise setzt er das Neue Testament mit dem Johannesevangelium gleich. W Für den Gelehrten stellt der Logos-Begriff des Prologs eine intel­ lektuelle Herausforderung dar, weil Johannes den vieldeutigen Begriff gerade wegen seiner Vieldeutigkeit benutzt. R Das griechische Original wurde erstmals von Erasmus von Rot­ terdam zusammen mit seiner Übertragung des lateinischen Textes, Vulgata, vorgelegt. Faust zitiert nicht die Originalworte, sondern bereits die Lutherische Übersetzung, aber er übernimmt gewisserma­ ßen dessen Übersetzerrolle. W Das Wort »logos« hat im Griechischen eine große Bedeutungsviel­ falt, auf die Faust zurückgreift. Aus »Wort« wird »Sinn«, dann »Kraft« und schließlich heißt es: »Im Anfang war die Tat!« R Im theologischen Verständnis greift er zwei unterschiedliche Aus­ sagen der Bibel zusammen. Das Alte Testament beginnt mit den Worten: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Gott wird hier sozusagen als Schaffender vorgestellt. Dieser Auffassung kommt Fausts Übersetzung relativ nahe: Die »Tat« steht am Anfang. W Wenn wir einen Blick auf den vierten Akt des zweiten Teiles der Tragödie werfen, begreift sich Faust als der Schaffende: »Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.« R So hat bereits der Schaffensgeist des später Rastlosen Einzug in die Bibelübersetzung gefunden, die Faust allerdings abbricht, weil der Pudel seine Aufmerksamkeit auf sich lenkt. W Einen weiteren Höhepunkt innerhalb des Gelehrtenkapitels bildet die Wette Fausts mit Mephisto. R Betrachten wir zunächst, wie das faustische Teufelchen auf die Frage: »Nun gut, wer bist du denn?« antwortet, und vergleichen sein Selbstverständnis mit der Rede des Herrn über seinen Herausforde­ rer, die wir schon zitiert haben!

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W Zwei Antworten sind wichtig. Er sei »Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will, und stets das Gute schafft.« Und: »Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, / Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar, / Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht / Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht.« R Mephisto ist nicht der personifizierte Teufel, sondern nur ein Teil der teuflischen Kraft, die jedoch »stets das Gute schafft«. Er verkörpert die verkleinerte Version negativer Kräfte mit positiven Wirkungen. Insofern ist er wichtig für das Werdende. W Der Herr schickt ihn als Gesellen des Menschen, der »reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen«. Die negative Kraft hat kreative Wirkungen. Sie hält schließlich auch den Todeswütigen ab, sein lästig gewordenes Leben tatsächlich zu beenden. R Rein dramaturgisch hätte es nach dem Suizid keine Fortsetzung der Fausterzählung gegeben. Und damit Goethe »ein so reiches, buntes und so höchst mannigfaltiges Leben« mit seiner Faustfigur entwickeln konnte, wurde die Mitwirkung Mephistos erforderlich. W In einer Welt des Menschen, der irrt, solang er strebt, ist mit Irren und Streben natürlich die negative Kraft bedeutsam, besonders wenn sie schaffend wirkt. R Hinzu kommen Goethes Kenntnisse gnostisch-theosophischer Spekulationen bzw. einer Angelologie, deren Rückseite die Dämono­ logie darstellt. W In »Dichtung und Wahrheit« gibt er dazu preis: »Der neue Plato­ nismus lag zu Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab seinen Beitrag her … so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah.« R Dann wird er konkret: »Ich mochte mir wohl eine Gottheit vorstel­ len, die sich von Ewigkeit her selbst produziert.« Der Schaffensprozess bezieht sich erst später auf die Welt, primär liegt er im Wesen des Göttlichen. Als ein Produkt unendlichen Werdens entsteht Luzifer,

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»welchem von nun an die ganze Schöpfungskraft übertragen war, und von dem alles übrige Sein ausgehen sollte«. Luzifer ist der Lichtbringer; er gebiert das Licht, wie Mephisto erklärt. W Warum aus ihm eine negative Kraft wird, erklärt Goethe wie folgt: »Er bewies sogleich eine unendliche Tätigkeit, indem er die sämtlichen Engel erschuf, alle wieder nach seinem Gleichnis, unbedingt, aber in ihm enthalten und durch ihn begrenzt. Umgeben von einer solchen Glorie vergaß er seines höheren Ursprungs und glaubte ihn in sich selbst zu finden, und aus diesem ersten Undank entsprang alles, was uns mit dem Sinne und den Absichten der Gottheit übereinzustimmen scheint … Und so ereignete sich das, was uns unter der Form des Abfalls der Engel bezeichnet wird.« R In seiner Dichtung erhält Mephisto nach dieser Vorstellung sowohl eine untergeordnete Rolle, zugleich wird seine Funktion verändert. Faust glaubt, Mephistos teuflische Funktion zu kennen, wenn er sagt: »So setzest du der ewig regen, / Der heilsam schaffen­ den Gewalt / Die kalte Teufelsfaust entgegen, / Die sich vergebens tückisch ballt! / Was anders suche zu beginnen, / Des Chaos wunder­ licher Sohn!« W Auch wenn Mephisto von sich sagt: »So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element«, ist sein Wirken doch nicht zerstörerisch, sondern eine Kraft, die zwar das Böse will, aber »stets das Gute schafft«. Der scheinbare Dualismus ist nicht dichotomisch; es handelt sich nicht um einen kontradiktorischen Gegensatz, sondern um einen dialektischen Widerspruch, der das eine aus dem anderen hervorgehen lässt und so das Werden ermöglicht. R Für die Handlung ist ausschlaggebend, dass Faust sich »weder vor Hölle noch Teufel« fürchtet, sondern auf die »böse« Idee verfällt, mit letzterem einen Pakt zu schließen. Wie dieser faktisch zustande kommt, ist nun genauer zu untersuchen. W Zunächst wollen wir überlegen: Wer könnte in der fatalen Situa­ tion, in die sich Faust verstrickt hat, dem Angebot Mephistos wider­ stehen: »Damit du, losgebunden, frei, / Erfahrest, was das Leben sei.«

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R Losgebunden von der Verstrickung zu sein, ist eine große Verlo­ ckung … W ... doch noch mehr lockt, zu erfahren, »was das Leben sei«. R Sein bisheriges Dasein wurde Faust zur Last, das Leben selbst ist ihm »verhasst«. Andere Lebensmöglichkeiten hat er nie gekostet. Doch noch ist er aufgrund seiner depressiven Grundgestimmtheit nicht in der Lage, den Ritt mit dem Teufel zu wagen. W Zuerst muss er seinen bisherigen Lebensfaden abreißen. Durch die Fluchattacke beendet er seine frühere Existenzweise. Wir haben sie schon ins Spiel gebracht. R Mephisto bezieht sich dann auf Fausts Idee: »… da ließe sich ein Pakt, / Und sicher wohl, mit euch, ihr Herren, schließen?« und macht folgendes Angebot: »Doch willst du mit mir vereint / Deine Schritte durchs Leben nehmen; / … Bin ich dein Diener, bin dein Knecht.« W Entsprechend der Paktsituation dringt Faust auf Klarheit: »Und was soll ich dagegen dir erfüllen?« – »Sprich die Bedingung deutlich aus!« Darauf präzisiert der Verführer: »Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, / … Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun.« R Darauf Faust: »Das Drüben kann mich wenig kümmern, / … Davon will ich nichts weiter hören, / Und ob es auch in jenen Sphären / Ein Oben oder Unten gibt.« Auf den ersten Blick scheint er also Mephistos Vertragsangebot anzunehmen, »drüben« – in der jenseitigen Welt von Himmel und Hölle – zum »Dienst« für Mephisto bereit zu sein. W Und dieses scheinbare Einverständnis, zum höllischen Diener des Teufels zu werden, wird dann nicht selten als Verzicht auf Fausts Seelenheil verstanden – in diesem Falle aber nicht in der Wette des Teufels mit dem Herrn, sondern im Pakt mit Faust. Für mich als juristischen Laien liegt eine solche Interpretation durchaus im Bereich des Möglichen.

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R Das Prozedere einer Paktvereinbarung nimmt erst seinen Anfang. Faust zeigt sich zumindest in strategischer Hinsicht skeptisch: »Was willst du armer Teufel geben? / Ward eines Menschen Geist in seinem hohen Streben / Von deinesgleichen je gefasst?« W Faust benennt quasi unmögliche Bedingungen, von denen er nicht glaubt, dass Mephisto sie erfüllen kann, bzw. er lockt ihn zu gesteiger­ ten Versprechungen: »Hast du Speise, die nicht sättigt? hast / Du rotes Gold, das ohne Rast, / Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt?« R Mephistos Antwort: »Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht, / Mit solchen Schätzen kann ich dienen.« W Deshalb muss Faust seine Bedingung optimieren: »Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, / So sei es gleich um mich getan!« – »Kannst du mich mit Genuss betrügen, / Das sei für mich der letzte Tag! / Die Wette biet’ ich!« R Aus juristischer Sicht erfährt das Geschehen eine ganz entschei­ dende Wendung aufgrund der Umwandlung des Paktes in eine Wette, auf die wir gleich noch eingehen. W Mit Mephistos »Topp!« scheint die Wette vollzogen, doch Faust pokert noch weiter: »Und Schlag auf Schlag!« Erst jetzt nennt er die maximale Bedingung, die alle konkreten Inhalte transzendiert: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!« R In der Goetheforschung gilt es als geniale Idee, das alte literarische Motiv des Teufelspaktes zu variieren und dem ursprünglichen Pakt die Gestalt einer Wette zu geben. Anders als der Faust der Sage verschreibt sich der Faust Goethes dem Teufel nur bedingungsweise. Und in eben dieser Bedingung stimmen die beiden Wetten überein: Der Herr nennt die Bedingung »solang’ er auf der Erde lebt«, und für Faust ist das »Verweile doch« mit dem »Augenblicke« diesseitiger Lebenslust verbunden und dadurch bedingt.

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W Es bedarf aber schon juristischer Akribie, um die Beschränkung auf das Erdenleben als Wettbedingung zu verstehen. Ich räume allerdings ein, dass Mephistos Versprechen auf der Basis dieser Bedingung durchaus Sinn ergibt: »Du sollst, in diesen Tagen« – also im gegenwärtigen »Hier« und nicht erst im zukünftigen »Drüben« – »Mit Freuden meine Künste sehn, / Ich gebe dir, was noch kein Mensch gesehn.« R Wenn wir einen auf das diesseitige Leben bezogenen Sinn der Vereinbarung zugrunde legen, ist der Wetteinsatz nicht Fausts Seele, sondern »nur« sein Leben: In aller Klarheit heißt es nach dem zitierten »gern zugrunde gehen«: »Dann mag die Totenglocke schallen, / Dann bist du deines Dienstes frei, / Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, / Es sei die Zeit für mich vorbei!« W Im Bewusstsein der Tragweite dieses Einsatzes mahnt Mephisto: »Bedenk es wohl, wir werden’s nicht vergessen« – worauf Faust bekräftigt: »Dazu hast du ein volles Recht.« R Das ist zugleich eine Bekräftigung unserer Überlegungen zur Verbindlichkeit von Wettschulden vor Inkrafttreten des BGB, die wir im »Prolog im Philosophenhimmel« angestellt haben. W Das wäre also geklärt. Unklar bleibt für mich jedoch, welchen Profit Mephisto vom Tode Fausts haben sollte, wenn er nicht zugleich Anspruch auf dessen Seele hat. Und nach Fausts Tod im zweiten Teil der Tragödie will sich Mephisto seine Seele schnappen. Ebenso unklar ist der Ausgang der Wette. Im ersten Teil gibt es keinen »Augenblick«, der mit Fausts Ausruf »Verweile doch! du bist so schön!« verbunden ist. Und am Ende des zweiten Teils hören wir zwar genau diese Worte, sie stehen aber im Konjunktiv: »Zum Augenblicke dürft’ ich sagen …« R ... und sie gelten einer Zukunft, von der es in der Sterbeszene heißt: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick.« Das »Vorgefühl« könnte ein dramatischer Kunstgriff Goethes sein, der den Ausgang der Wette durch einen gewissermaßen teuflischen Trick offenhält.

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W Einen noch teuflischeren Trick sehe ich in der maximalen Wett­ bedingung, denn es bleibt völlig offen, worin Faust den »schönen Augenblick« zu erfassen glaubt. Mit dieser Formulierung legt er sich nicht fest und bleibt letztlich Herr über die Wette. R Der Pakt ist folglich nicht klar definiert und der Teufel kann seinen Zirkel nicht um Faust ziehen, ohne dass dieser zustimmend sagt: »Verweile doch! du bist so schön!« W Jedenfalls braucht Fausts Tod nicht als Einlösung einer Wettschuld interpretiert zu werden. Für Mephisto selbst bleibt er derjenige, »Der mir so kräftig widerstand«. Und der Chor konstatiert das Lebens­ ende lapidar mit »Es ist vorbei«. Nicht übersehen dürfen wir jedoch folgendes: Als die Engel »Faustens Unsterbliches entführend« – so die Regieanweisung – sich erheben, beklagt Mephisto: »Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet: / Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepascht.« R Wie so oft bei vertraglichen Vereinbarungen legen die Vertrags­ partner ihre Erklärungen unterschiedlich aus: Mephisto deutet Fausts Satz »Das Drüben kann mich wenig kümmern« als Annahme des Angebots »Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun« – nämlich sich zu Mephistos »Dienst verbinden«. W Die Ironie dieser Wette besteht in den unterschiedlichen Vorstell­ ungen von »drüben«. Mephisto wird zum Glaubenden und Gläubiger eines Drüben, während Faust dessen Existenz zu bezweifeln scheint. Die Rolle des Zweiflers kehrt sich um. R Ich möchte abschließend nochmals auf Goethes Rätselwort einge­ hen: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen, / Verweile doch! du bist so schön!« Es ist eine Formulierung, hinter der höchstes Glück hervor­ blitzt. Ziel seines neuen Strebens ist maximale Glückserfüllung. Aber worin es besteht, bleibt wie gesagt unbestimmt. Insofern können wir von einem »offenen Telos« sprechen. W Und es bleibt Faust vorbehalten zu sagen, wann und wie dieses Ziel erreicht ist.

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R Aus dem ursprünglich »schönen« wird im zweiten Teil der »höchste« Augenblick. Gründe für diese Verwandlung werden wir im Kapitel »Scheiternsgeschichten« untersuchen. W Wie unausschöpflich jener Augenblick ist, wird deutlich durch die Zusatzbedingungen, die Faust an den Pakt stellt: »Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen, / Mit meinem Geist das Höchst‘ und Tiefste greifen.« R Hier kommen Mephisto erste Bedenken: »Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt.« Und später: »Glaub unsereinem: dieses Ganze / Ist nur für einen Gott gemacht!« W Es bleibt mir rätselhaft, warum der gescheiterte Gelehrte seinen Verbündeten nicht als mephistophelischen Magier funktionalisiert, der ihm hilft, zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusam­ menhält«, sondern mit ihm in die »Tiefen der Sinnlichkeit« eintau­ chen will. R Vermutlich ist er nicht der rechte Vermittler für das Reich der Erkenntnis, wohl aber ein Hermes für das Reich der glühenden Leidenschaften. Mit seiner Umkehr will Faust die ganz andere Seite der Welt erfahren: statt Wissen und Erkenntnis nun Lust, Taumel und schmerzlichen Genuss. W Wir erinnern uns an die Worte Fausts zu Wagner während des Osterspaziergangs: »Du bist dir nur des einen Triebs bewusst; / O lerne nie den andern kennen! / Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen; / Die eine hält in derber Liebeslust / Sich an die Welt mit klammernden Organen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust / Zu den Gefilden hoher Ahnen.« R Als Gelehrter hat Faust nur nach der zweiten Seele gelebt, nun gilt es die andere auszuleben: »Liebeslust«! W Aber die Schlussworte Mephistos in dieser Szene lassen Zweifel aufkommen, ob Faust den Ritt auf dem Teufel durchstehen wird: »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Des Menschen aller­ höchste Kraft, / Lass nur in Blend- und Zauberwerken / Dich von

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dem Lügengeist bestärken, / So hab’ ich dich schon unbedingt! / … Und hätt’ er sich auch nicht dem Teufel übergeben, / Er müsste doch zugrunde gehn!« R In unserer Interpretation gefährdet der Teufelspakt zwar nicht Fausts Seelenheil, sehr wohl besteht aber die Gefahr weiteren Schei­ terns. Diese Gefahr ist Gegenstand unseres Gesprächs über die »Gret­ chentragödie« im nächsten und über die »Scheiternsgeschichten« im darauffolgenden Kapitel.

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2. Gretchentragödie R Gretchens Tragödie beginnt in der Hexenküche. Denn dort wird der Zaubertrank für Faust gebraut, der ihm »Wohl dreißig Jahre … vom Leibe« schaffen soll. So wird aus ihm ein Mann Mitte zwanzig, dem Mephisto entsprechende Manneskraft verspricht: »Und bald empfindest du mit innigem Ergetzen, / Wie sich Cupido regt und hin und wider springt.« W Umgeben von dem »seltsamsten Hexenhausrat« und merkwür­ digen »Meerkatzen« hat er vorher in einem Zauberspiegel »Das schönste Bild von einem Weibe« erblickt: »Weh mir! Ich werde schier verrückt. / … Mein Busen fängt mir an zu brennen!« – worauf Mephisto »leise« prophezeit: »Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weibe.« R Ob Helena in dieser Prophezeiung als Vorgriff auf die Figur aus dem zweiten Teil der Tragödie zu verstehen ist, brauchen wir nicht zu entscheiden. In jedem Falle stellt das Spiegelbild sozusagen das »Weibsbild« schlechthin dar: die Idealgestalt weiblicher Schönheit. W Der durch den Zaubertrank aus der Hexenküche verjüngte und sexuell stimulierte Faust spricht Gretchen auf der Straße an: »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?« Georg Büchmann hat diese Frage in seine Sammlung »Geflügelte Worte« aufgenommen. Es fehlt aber die Antwort: »Bin weder Fräulein, weder schön, / Kann ungeleitet nach Hause gehn.« R Versteht man heute noch, warum sie nicht »Fräulein« genannt werden wollte? W Weil dies die Anrede für junge ledige Frauen aus der Adelsschicht war; stammten sie aus bürgerlichen Kreisen, wurden sie mit »Jung­ fer« angeredet. R Fausts »Entzücken«, wie »schön« dieses »Kind« ist, »so sitt- und tugendreich / Und etwas schnippisch doch zugleich«, veranlasst ihn zu der in der Motivation triebhaft-banalen und in der Sprache gossen­ haft-primitiven Aufforderung an Mephisto: »Hör, du musst mir die Dirne schaffen!« Verstärkt durch die vorhergesagte Cupido erreichen

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Banalität und Primitivität ihren Höhe- oder besser Tiefpunkt in Fausts Reaktion auf Mephistos »ein gar unschuldig Ding« – »Über die hab’ ich keine Gewalt«: »Ist über vierzehn Jahr doch alt.« W Bevor wir auf das weitere Geschehen eingehen, sollten wir die Voraussetzungen klären, die für das Verständnis der Gretchentragödie literarische Bedingungen sind. Warum Faust aus der Hexenküche verjüngt und mit sexueller Triebenergie aufgeladen hervorgeht, blieb bisher unberücksichtigt. R Das ist richtig. Daher müssen wir nochmals in das Studierzimmer, in dem Pakt und Wette geschlossen wurden, zurückschauen. Nach der Verfluchung seines bisherigen Lebens erklärt Faust: »Des Denkens Faden ist zerrissen, / Mir ekelt lange vor allem Wissen.« W Und entsprechend seiner Kehre strebt er nicht mehr nach Erkennt­ nis, sondern nach sinnlicher Lust und Leidenschaft: »Lass in den Tiefen der Sinnlichkeit / Uns glühende Leidenschaften stillen! / … Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss.« R Um diese Forderungen Fausts zu erfüllen, führt der Weg über die Hexenküche und die erwähnten Maßnahmen. Seine sexuelle Triebenergie richtet er auf die erste weibliche Person, die ihm wie zufällig auf der Straße begegnet. W Mephistos Prophezeiung scheint sich zu erfüllen: Faust sieht Helenen im erstbesten Weibe und fordert »kurz und gut«: »Wenn nicht das süße junge Blut / Heut nacht in meinen Armen ruht, / So sind wir um Mitternacht geschieden.« R Mephisto scheint sich in bestimmten Liebesdingen auszukennen: »Die Freud’ ist lange nicht so groß, / Als wenn Ihr erst herauf, herum, / Durch allerlei Brimborium, / Das Püppchen geknetet und zugericht’, / Wie’s lehret manche welsche Geschicht’.« W Darauf Faust: »Hab’ Appetit auch ohne das.« Sein sexueller Drang ist ungebremst. Er fordert: »Schaff mir ein Halstuch von ihrer Brust, / Ein Strumpfband meiner Liebeslust!«

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R Mephisto rät angesichts Fausts »Lüsternheit«, entsprechende Köder auszuwerfen, damit die Auserwählte anbeißen wird. W Auf den Schmuck, den der Kuppler Mephisto zwecks Bestechung des »unschuldig Ding« in einem Kästchen in ihr »kleines, reinli­ ches Zimmer« verbracht hat, reagiert Gretchen mit dem bekannten Seufzer: »Nach Golde drängt / Am Golde hängt / Doch alles. Ach wir Armen.« R In einem »Gartenhäuschen« kommt es zum ersten Kuss – und das schon nach der zweiten Begegnung. W Deshalb frage ich mich, wie sittsam und unschuldig dieses Mäd­ chen ist, wenn sie den Kuss erwidert. R Womöglich geht es dem Dichter um eine Beschleunigung der Handlung. Tragischerweise verliebt Gretchen sich ernsthaft in einen Mann, der sie mit dem Teufel im Bunde als Objekt seines Geschlechts­ triebes betrachtet. W Aber so eindeutig ist die Sache nicht. Noch bevor es zum Beischlaf kommt, zieht Faust sich in »Wald und Höhle« zurück. Hier begegnet uns ein anderer Faust, der in der Tonart der Empfindsamkeit erhabene Gefühle äußert. Es stellt sich daher die Frage, was mit Faust nach dem Liebesbekenntnis passiert ist. Spürt er Liebe und echte Gefühle für sie? R Betrachten wir die Szene: Es springt ins Auge, dass sie nicht in vier­ hebigen Knittelversen verfasst ist, sondern in fünffüßigen Jamben. Die Abweichung vom typischen Faustrhythmus bedarf der Erklärung. W Wie in einem Dankgebet wendet er sich an den erhabenen Geist: »… du gabst mir, gabst mir alles, / Warum ich bat. – Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, / Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht / Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur / Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust / Wie in den Busen eines Freunds zu schauen. / Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst / Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust / Geheime tiefe Wunder öffnen sich.«

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R Bevor wir klären, um wen es sich bei dem erhabenen Geist handelt, halten wir fest, dass Faust eine Wandlung erfahren hat. Die Abweichung in der äußeren Form kann sehr gut mit der inneren Wandlung begründet werden, durch die Faust zu einem liebesfähigen Menschen geworden ist, der die Nähe zur Natur so spürt wie die Nähe zu einem »Busenfreund«. W Das von Goethe gern gebrauchte Wort »Busen« bezeichnet den Sitz der Seele und der Seelenregungen tiefster menschlicher Gefühle. R Fausts Ergriffenheit steigert sich zu einer Selbstbegegnung, durch die er seine innere Entfremdung überwindet. Fremdheit wandelt sich in Nähe. Die gewonnene Fähigkeit zu tiefer Empfindung bringt ihn »den Göttern nah und näher«. Die innige Beziehung zur Natur ver­ leiht ihm »neue Lebenskraft«. Auch er selbst spricht von »Wandel«. W Aufgrund dieser neuen Sensibilität fühlt er den Abstand zu seinem »Gefährten« Mephisto, der »kalt und frech« ihn vor sich »selbst erniedrigt und zu Nichts … deine Gaben wandelt«. Vor der Begegnung mit Gretchen war Faust weder zu Dank fähig noch zur Erkenntnis der Erniedrigung, die er durch Mephistos teuflisches Tun erlitt. R So bereit er zunächst war, die Kontrolle zu verlieren – was wir als banal, primitiv und gossenhaft kritisiert haben –, so stark setzt er sich nun gegen die Wirkung der Cupidodroge zur Wehr, indem er seine liebende Nähe zu Gretchen betont: »Ich bin ihr nah, und wär’ ich noch so fern, / Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren.« W Alle Momente seines Bekenntnisses deuten darauf hin, dass Gret­ chen für ihn mehr ist als nur bloßes Objekt seiner Begierde. Das zeigt sich auch an der Art, wie er Mephisto anherrscht: »Bring die Begier zu ihrem süßen Leib / Nicht wieder vor die halb verrückten Sinnen!« Und in der Kerkerszene am Ende des ersten Teiles gesteht er der verurteilten Kindsmörderin Gretchen: »Ein Liebender liegt dir zu Füßen!« R Dann können wir zur Erklärung übergehen, wer der erhabene Geist ist. Die Ansprache an den »Erhabnen Geist« wirft ein Inter­ pretationsproblem auf, das in der Faustforschung kontrovers disku­ tiert wird. Wenn der Dank nämlich dem Erdgeist gilt, hat dieser

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auch Mephisto geschickt: »Du gabst zu dieser Wonne / … Mir den Gefährten, den ich schon nicht mehr / Entbehren kann, wenn er gleich, kalt und frech, / Mich vor mir selbst erniedrigt …«. Der Erdgeist passt nicht in diesen anderen, von Empfindsamkeit geprägten theatralischen Rahmen. W Wie man nachlesen kann, war »Wald und Höhle« in einer kürzeren Fassung und an anderer Stelle schon 1773 im »Urfaust« enthalten, dort mit der Ansprache »Großer, herrlicher Geist«, während der Prolog erst um 1800 entstanden ist. R Und Goethe habe es nicht für notwendig erachtet, die beiden Szenen aufeinander abzustimmen. W Nehmen wir das als Teil seiner dichterischen Freiheit einfach hin. Unsere philosophische These ist davon unabhängig. R Sie lautet: Es lässt sich stringent begründen, dass der »Erhabne Geist«, dem Faust ausdrücklich sein »Glück« verdankt, nur der Erd­ geist sein kann. Darüber hinaus werden wir eine Begründung für die geradezu aufdringliche Ambivalenz finden, die Mephisto zugleich als Glücksbringer und Sendboten des Unglücks erscheinen lässt. W Das Stichwort Ambivalenz trifft den philosophischen Kern des Gesamtkunstwerks: Es bezeichnet als terminus technicus unserer Faustischen Philosophie die Zwiespältigkeit der Charaktere, Gefühle und Stimmungen der Hauptfiguren des Schauspiels. Von der Grund­ ambivalenz in Fausts Persönlichkeit war ja schon die Rede: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust …«. R Gretchens Ambivalenz liegt im Zwiespalt zwischen der braven, sittsamen und gläubigen Christenjungfer und der Frau, die Faust verfällt: »Mein Busen drängt sich nach ihm hin. / Ach dürft‘ ich fassen und halten ihn, / Und küssen ihn, / So wie ich wollt’, / An seinen Küssen / Vergehen sollt’!«

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W Auch unsere Auseinandersetzung mit dem Erdgeist wird eine Art Ur-Ambivalenz ergeben, die das Verhältnis zwischen Faust und Gretchen bestimmt. Beginnen wir mit der Beschwörung »Du, Geist der Erde, bist mir näher« in der »Nacht«-Szene: »Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen« … R ... die Urambivalenz des Erdenlebens – die der Erdgeist wenig später in die Worte fasst: »Geburt und Grab, / Ein ewiges Meer, / Ein wechselnd Weben, / Ein glühend Leben, / So schaff‘ ich am sausen­ den Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.« W Auf der Grundlage unserer eindeutigen Bestimmung seines Pan­ theismus zweifeln wir nicht daran, dass Goethe mit der Erfindung des Erdgeistes das schöpferische Moment des Göttlichen allen natürlichen irdischen Lebens in Szene gesetzt hat. R Moment: In der »Nacht«-Szene verschwindet der Erdgeist, weil Faust ihn nicht erträgt. In »Wald und Höhle« dankt er ihm aber und wir sollten versuchen, diesen Dank philosophisch zu erläutern. Äußerlich betrachtet gilt er der Differenz zwischen dem Unglück des Scheiterns in der ersten und dem Glück des Gelingens in der zweiten Szene: »Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert …« zuerst, die »neue Lebenskraft« und ein Mephisto, der »Teufel genug« wäre, »mein Glück mir nicht zu gönnen«, danach. W Das letzte Zitat bringt die Ambivalenz des mephistophelischen Wirkens zum Ausdruck: Ohne ihn hätte Faust sein Glück als Lieben­ der nicht gefunden und mit ihm wurde die Liebesbeziehung zum tragischen Schicksal Gretchens. R In Fausts Dank an den Erdgeist kommt eine Einstellung gegenüber der Natur zur Sprache, die uns vielleicht hilft, Mephistos Ambivalenz philosophisch überzeugend zu begründen: »Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt, / Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste / Und Nachbarstämme, quetschend, niederstreift, / … Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst / Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust / Geheime tiefe Wunder öffnen sich.«

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W Hier wird deutlich, wofür Faust dem pantheistischen Gott dankt, den Goethe als Erdgeist mitspielen lässt: für das Glück, mit der Liebe zu Gretchen gelernt zu haben, die Natur zu lieben oder ihr schlicht nah zu sein. Aufgrund dieser Naturnähe wird der Sturm im Wald nicht als Werk des Teufels empfunden, sondern als Zeichen der Gegenwart des »Allumfassers« in Erdgeistgestalt. R Diese – wohlgemerkt mythische – Gestalt weist dann den Weg in die vor dem Sturm schützende Höhle. Metaphorisch führt der Weg über die »eigne Brust« in die Tiefe der Seele, die dann bildlich gespro­ chen zur Höhle des Selbstschutzes vor den Stürmen des Lebens wird. W Blicken wir auf Gretchen. Während Faust in erhabenen Gefühlen badet, brütet sie geradezu schwermütig in ihrem Liebeskummer, weil sie meint, er sei entflohen. Durch Faust hat sie ihre Ruhe verloren: »Meine Ruh’ ist hin, / Mein Herz ist schwer; / Ich finde sie nimmer / Und nimmermehr.« R Sie hat sich auf etwas eingelassen, das ihr geordnetes, gesittetes Leben durcheinander bringt. Sie fragt sich: »Bin doch ein arm unwis­ send Kind / Begreife nicht, was er an mir find’t.« – »Ich weiß zu gut, dass solch erfahrnen Mann / Mein arm Gespräch nicht unterhalten kann.« Dennoch hat sie Ahnungen, die sich bewahrheiten werden: Sie ahnt – wie zitiert –, ihn nicht »fassen« und nicht »halten« zu können. W Nachdem Faust durch Mephisto von ihrer Situation unterrichtet wurde, begreift er sich als »Unmensch ohne Zweck und Ruh’“ – »… ihren Frieden musst’ ich untergraben! / Du, Hölle, musstest dieses Opfer haben!« R Das klingt nach Reue und Mitgefühl. Aber das Blatt wendet sich wieder: »Was muss geschehen, mag’s gleich geschehen! / Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen / Und sie mit mir zugrunde gehen!« W Einen anderen Ausgang schließt Faust aus. Auch ahnt er, was sich anbahnt, aber er unternimmt nichts dagegen. Dazu passen die Worte Mephistos: »Du bist doch sonst so ziemlich eingeteufelt, / Nichts Abgeschmackters find’ ich auf der Welt, / Als einen Teufel, der verzweifelt.«

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R Der enthusiastisch Liebende und der von Begierde nach Gretchens »süßem Leib« Geplagte verdeutlichen die zwei Seelen in Fausts Brust. W Die eine bringt Mephisto zur Sprache: Er, Faust, sei »ziemlich eingeteufelt«. Und sein sexueller Drang überwindet die mögliche Sorge um die Angebetete. R Bevor Margarete sich auf weitere Liebesdinge einlässt, nimmt sie ihn ins Gebet: »Versprich mir, Heinrich! / … Nun sag: wie hast du’s mit der Religion? / Du bist ein herzlich guter Mann, / Allein ich glaub’, du hältst nicht viel davon.« Wenn ich kurz an meinen Ärger über das verbreitete Fehlzitat erinnern darf: »hast« und »hältst« kommt nacheinander vor, die Gretchenfrage ist aber im ersten Vers enthalten und dort heißt es eben nicht »hältst«. W Fehlzitate sind immer ärgerlich, im Falle der Gretchenfrage aber besonders, weil mit ihr ein Dialog beginnt, der in seiner Verbindung von sprachlicher Gestalt und philosophischem Gehalt zu den Meister­ erzählungen der Weltliteratur gehört. R Meisterlich ist insbesondere die dialogische Entwicklung der Ant­ wort Fausts, der Gretchen nicht im Monolog mit einem vorgefertigten Religionsbegriff zu überreden, sondern in der argumentativen Reak­ tion auf ihre Zwischenfragen im Dialog zu überzeugen versucht. W Du hast von einer dialogischen »Entwicklung« der Antwort gesprochen. Sie betrifft drei Gesprächsgegenstände: zunächst die »Religion«, dann den »Glauben an Gott« und schließlich das »Chris­ tentum«. Da Gretchen in den vorangegangenen Szenen als streng­ gläubige und ihren Kirchenglauben praktizierende Christin präsen­ tiert wurde, hat Goethe Faust mit einer Dialogpartnerin konfrontiert, die ihn ernsthaft herausfordert. R Zunächst weicht er ihrer Frage aus: »Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.« – »Das ist nicht recht, man muss dran glauben!« – »Muss man?« – »Ach! Wenn ich etwas auf dich könnte! / Du ehrst auch nicht die heil’gen Sakramente.« – »Ich ehre sie.« – »Doch ohne Verlangen. / Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen. / Glaubst du an Gott?«

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W Man beachte: »Gott« wird nicht etwa als Reimwort eingeführt, also nicht als bloßer Reim auf ein vorgegebenes Wort, sondern gibt selbst den Reim vor: den »Spott« der Priester oder Weisen über den Frager. – »So glaubst du nicht?« – »Misshör mich nicht« … Wer darf »sich unterwinden / Zu sagen: ich glaub’ ihn nicht?« R In der anschließenden Passage bekennt Faust sich mit den gro­ ßen Namensprädikaten »Der Allumfasser« und »Der Allerhalter« zum pantheistischen Gottesbild Goethes, das als Gefühl im Herzen getragen »selig« macht. Dem Bild eines allumfassenden, in der Erha­ benheit der Natur und der Seelengröße des Menschen gefühlten Gottes entspricht es, dass dieses Bekenntnis nicht in die Fesseln eines festen Versmaßes eingebunden, sondern im freien Rhythmus vorgetragen wird. W Der Reim und die vier Hebungen werden erst von Gretchen wieder aufgenommen: »Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, / Nur mit ein bisschen andern Worten.« – »Es sagen’s allerorten / Alle Herzen unter dem himmlischen Tage, / Jedes in seiner Sprache; / Warum nicht ich in der meinen?« – »Steht aber doch immer schief darum; / Denn du hast kein Christentum.« R Jetzt darf ich um Beachtung bitten: »Christentum« reimt sich hier auf »darum«, bleibt also anders als der den Reim vorgebende »Gott« abhängig von einer Vorgabe – ein kleines, aber feines Kunststück der Poesie Goethes. W Der christliche Gehalt der Passage wird mit Gretchens »heimlich Grauen« eingeführt, das Mephisto ihr bereitet: »Wo er nur mag zu uns treten, / Mein’ ich sogar, ich liebte dich nicht mehr. / Auch, wenn er da ist, könnt’ ich nimmer beten …«. R So fein das poetische Kunststück mit dem Reimwort »Christen­ tum« ist, so gelungen wird die Wirkung Mephistos auf Gretchens Grundgefühle der Liebe und des Glaubens geschildert: Der »Geist, der stets verneint«, ist eine ernste Bedrohung dieser Gefühle. Indem Gretchen die Bedrohung bewältigt, stärkt sie beide Gefühle – ein wei­ teres Beispiel für die Dialektik der mephistophelischen Verneinung.

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W Wichtig ist mir noch der Hinweis auf die Motivation, aus der sich Gretchens berühmte Frage – die wir jetzt ja als dreiteilige Frage ken­ nengelernt haben – ergibt: Sie will sich vom Charakter des Mannes überzeugen, dem sie sich erst nach einer Charakterprüfung hingeben wird – und im Vertrauen auf eine versprochene Ehe. R Woher nimmst du die Geschichte mit dem Eheversprechen? W Im Kerker ruft Gretchen verzweifelt: »… der letzte Tag dringt herein; / Mein Hochzeitstag sollt’ es sein.« Und dass sie als lamm­ frommes Mädchen ihre Unschuld geopfert hat – »Zerrissen liegt der Kranz« –, ist nur im Hinblick auf das Heiratsversprechen plausibel. R »Plausibel« heißt so viel wie applauswürdig. Mein Applaus für diese Interpretation ist dir sicher. Ohne die entstandene Vertrauens­ beziehung wäre Gretchens Bereitschaft am Ende der Passage nicht zu erklären, das Fläschchen mit dem Schlafmittel anzunehmen, um der Mutter »drei Tropfen nur« in ihren Trank zu geben: »Es wird ihr hoffentlich nicht schaden!« – »Würd’ ich sonst, Liebchen, dir es raten?« W Mephisto spottet über die Vertrauensprüfung: »Die Mädels sind doch sehr interessiert, / Ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch. / Sie denken: duckt er da, folgt er uns eben auch. / … Du übersinnlicher sinnlicher Freier, / Ein Mägdelein nasführet dich.« – »Du Spottgeburt von Dreck und Feuer!« R Faust als »übersinnlicher sinnlicher« Freier ist ein weiteres Bei­ spiel für die in der Struktur seiner Persönlichkeit liegende Ambiva­ lenz. In der finalen Szene der »Bergschluchten« sprechen die »vollen­ deteren Engel« von einer »Zwienatur«, die am Ende eine »Geeinte Zwienatur« werden müsse. So viel sei an Begründung vorweggenom­ men: Die entelechiale Strebekraft, die – wie schon erläutert – in Goethes Naturkonzeption die Eigenenergie allen organischen Lebens bestimmt, ist auf Vollendung angelegt. Und diese Vollendung gibt es für Goethe nicht im Endlichen, sondern – wie wir noch genauer darlegen werden – nur im Unendlichen.

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W Kehren wir zur Handlung zurück! Die rein enthusiastische Liebe zu Margarete reicht Faust nicht. Er will mehr, er stürzt sich und sie in ein Abenteuer, das, wie bekannt, tragisch endet. Faust drängt: »Ach, kann ich nie / Ein Stündchen ruhig dir am Busen hängen / Und Brust an Brust und Seel’ in Seele drängen?« R Überraschenderweise antwortet die sittsam Kirchengläubige mit dem gleichen Ach: »Ach, wenn ich nur alleine schlief‘! / Ich ließ’ dir gern heut nacht den Riegel offen, / Doch meine Mutter schläft nicht tief, / Und würden wir von ihr betroffen / Ich wär’ gleich auf der Stelle tot!« W Um vor der Entdeckung des Beischlafs sicher zu sein, hat Faust bereits ein »Fläschchen« mit einem Schlafmittel besorgt, von dem sie der Mutter »drei Tropfen nur in ihren Trank« geben soll. R Die ahnungsvoll Ahnungslose kann Faust keinen Widerstand entgegenbringen: »Seh’ ich dich, bester Mann, nur an, / Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt; / Ich habe schon so viel für dich getan, / Dass mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt.« Nach­ dem Faust die Religionsprüfung bestanden hat, gibt es auch für sie kein Halten. W Die Tropfen wirken tödlich. Und der Beischlaf hat tragische Fol­ gen. Wir haben schon erwähnt, dass sich der junge Goethe für das Schicksal der Frankfurter Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt interessierte, die ihr uneheliches Kind getötet hatte und im Januar 1772 enthauptet wurde. Ihre Geschichte verarbeitet der Dichter in dem nun beginnenden Niedergang. R Goethe beweist sensibles psychologisches Gespür für die gesell­ schaftlich Entehrte, indem er sie in ihrem Gebet zur »Mater dolorosa« ihre Seelennot aussprechen lässt: »Hilf! Rette mich von Schmach und Tod! / Ach neige / Du Schmerzensreiche, / Dein Antlitz gnädig meiner Not!« W Böse Geister bedrängen sie im Dom. Sie hört den Chor: »Dies irae, dies illa«, der den Tag göttlichen Zornes androht, worauf sie in Ohnmacht fällt. Faust lässt sie mit ihrem Schicksal allein, während Mephisto ihn zum Hexensabbat auf den Harz führt.

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R Ihr Bruder Valentin will ihre Ehre retten, wird jedoch von Faust mit Mephistos Hilfe im Duell erstochen. W Nach dem »Walpurgisnachtstraum« wechselt die Szene und damit die Tonart abrupt. Reimlos beklagt Faust Gretchens Elend: »Im unwie­ derbringlichen Elend! Bösen Geistern übergeben und der richtenden gefühllosen Menschheit!« Dieser weltlichen Gerechtigkeit stellt er den »Ewig-Verzeihenden« entgegen. R Da Mephisto sich weigert, die Unselige aus dem Kerker zu befreien, entschließt Faust sich zur Befreiung. Als er sie in ihrem Elend erblickt, bekennt er: »Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an./ … Und ihr Verbrechen war ein guter Wahn!« W In ihrer Angst und Verzweiflung hält Gretchen den Befreier für ihren Henker. Goethe lässt sie »die Gräber beschreiben«, für die Faust sorgen soll: »Der Mutter den besten Platz geben, / Meinen Bruder sogleich darneben, / Mich ein wenig beiseit’, / Nur nicht gar zu weit! / Und das Kleine mir an die rechte Brust.« R Den Versuch Fausts, sie durch gemeinsame Flucht vor dem Henker zu bewahren, der auf sie als Kindsmörderin wartet, weist die durch ihr Schicksal phasenweise in Wahnsinn verfallende Margarete mit den Worten zurück: »Gericht Gottes! Dir hab’ ich mich übergeben!« W Der letzte Ausruf gegenüber Faust offenbart die tragische Ver­ wandlung ihrer wärmsten Liebe in das kälteste Grauen: »Heinrich! Mir graut’s vor dir!« Und wie schon erwähnt, wird Mephistos Urteil »Sie ist gerichtet« durch eine Stimme »von oben« revidiert: »Ist geret­ tet!« R Du sagst »revidiert«. Für mein juristisches Ohr klingt dies nach dem Rechtsmittel der Revision. Die Regieanweisung »von oben« wäre dann der Hinweis auf eine höchste Instanz mit der Kompetenz zur Aufhebung von Urteilen niedrigerer Instanzen. W Hast du etwas dagegen, das Gericht Gottes als höchstes Gericht der jenseitigen Gerichtsbarkeit mit der Revisionsinstanz in der diesseiti­ gen Gerichtsverfassung zu vergleichen?

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R Mit dem Fachterminus »Gerichtsverfassung« hast du bereits das Stichwort für meine juristische Antwort geliefert: Das sogenannte Jenseits kennt eben keine rechtsverbindliche »Gerichtsverfassung«. Wie schon zitiert, will auch Goethes Faust davon »nichts weiter hören«, ob es »drüben« »Ein Oben oder Unten gibt«. Und bei der ersten Begegnung mit Mephisto fragt er überrascht: »Die Hölle selbst hat ihre Rechte?« W Die Frage konfrontiert uns wieder ganz unmittelbar mit dem Thema »Teufelskreis und Gotteszirkel«: Dieser Zirkel und jener Kreis besagen: Beide Sphären können nicht bewiesen werden. Deshalb »gibt« es in ihnen auch kein Oben und Unten, keine Rechte und keine Gerichtsbarkeit. Auch an das »Jüngste Gericht« kann man nur glauben – oder nicht. R Was bedeutet dies für unsere Frage nach der Rettung Gretchens? W Auch diese Rettung ist eine Glaubensfrage. Im Kirchenglauben des Christentums hat der gnädige Gott die Seele der gläubigen Christin Margarete »gerettet« und damit das teuflische Urteil »gerichtet« so aufgehoben, wie wir das Wörtchen »revidiert« erläutert haben. Das Christentum kennt also durchaus eine Art sakraler Gerichtsbarkeit. R Nur ist sie auf andere Weise »geregelt« als die säkulare Gerichts­ verfassung: nicht in Rechtssätzen, sondern in Glaubenssätzen. Wir sollten uns deshalb darüber klar werden, was diese Glaubenssätze für Gretchens Rettung im pantheistischen Gotteszirkel des Goethe’schen Faust bedeuten. W Das ist schnell erklärt. Fausts »Allumfasser« und »Allerhalter« entspricht dem Gott des Pantheismus. Bezogen auf die Rettung Gretchens wird er zum Allverzeiher. In der Szene »Trüber Tag. Feld« nennt Faust ihn ganz in diesem Sinne den »ewig Verzeihenden«. R Im direkten Anschluss daran greift er Mephisto gewissermaßen als Ausgeburt eines Allverachters an: »Mir wühlt es Mark und Leben durch, das Elend dieser Einzigen; du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin!« Nachdem Mephisto sich geweigert hat, sie aus dem Kerker zu befreien, will Faust selbst der Befreier sein.

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W Noch haben wir die Frage nach der Rolle Mephistos nicht beant­ wortet. Literaturgeschichtlich weiß man, dass der Name »Mephisto­ pheles« schon in den Volksbüchern und Puppenspielen des späten Mittelalters vorkam. R 1829 schrieb Goethe an Zelter: »Woher der Name Mephistopheles entstanden wüsste ich direkt nicht zu beantworten; beiliegende Blätter jedoch mögen die Vermutung bestätigen, welche demselben gleich­ zeitig-phantastischen Ursprung mit der Faustischen Legende gibt.« W Wegen des Namens müssen wir uns also nicht bekümmern. Die Frage richtete sich auf seine Rolle. R Wenn wir den ersten und den zweiten Teil der Tragödie verglei­ chen, nimmt Mephisto verschiedene Rollen ein. Während er im ersten Teil noch ziemlich als Schatten Fausts auftritt und beide durch den Pakt aneinander gebunden sind, erfährt er – wie auch Faust – eine gewisse Emanzipation. Beide beginnen eine Art Eigenleben zu führen; sie finden aber immer wieder zusammen. W Darin sehe ich eine Entsprechung zum Verhältnis von Teufelskreis und Gotteszirkel. R Entgegen der religiösen Vorstellung vom Teufel hat Goethe ihn vom satanischen Geist gereinigt und in eine literarische Figur verwan­ delt. Er ist nicht die Personifikation des Bösen schlechthin. W Denn der junge Goethe wusste: »… das, was wir bös nennen, ist nur die andre Seite vom Guten, die … notwendig zu seiner Existenz, und in das Ganze gehört.« In abgewandelter Weise könnte man sagen: Mephisto gehört zum Ganzen, ohne ihn fehlt etwas. R Im Prolog erscheint er im Gesinde als nicht ernst zu nehmender Gegenspieler des Herrn und gehört nach dessen Urteil zu den Geis­ tern, die verneinen, die man wie er jedoch nicht hassen muss. An seinem »Schalk« findet er sogar Gefallen. W Mephisto mimt eine Parodie des Teuflischen; er spielt den skep­ tischen Widerpart, den bösgewitzten Fallensteller, den kritischen Spötter, Zauberer und Hexenmeister, den Verwandlungskünstler, den

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zynischen Kommentator mit Zukunftswissen: »… morgen wirst, in allen Ehren, / Das arme Gretchen nicht betören? / Und alle Seelenlieb ihr schwören?« R Am Ende der Tragödie lässt er sich von den Engeln übertölpeln, die ihm die Seele Fausts wegschnappen. Er verfügt über etliche Zauberkräfte, aber seine Macht ist durchaus beschränkt. W Auf der Bühne möchten wir ihn keinesfalls vermissen. Er ist das Salz in der Suppe der angebotenen Theaterspeise. R Beachten wir, welche Rolle ihm der Herr zuweist: »Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen, / Er liebt sich bald die unbe­ dingte Ruh’; / Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, / Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.« W Wiederum handelt es sich um eine für das Gesamtwerk typische Ambivalenz, die Mephisto bei der ersten Begegnung mit Faust in die Worte fasst, er sei »Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Weil er nur ein »Teil« der Kraft des pantheistischen Gottes der Tragödie ist, hat sein Werk nicht nur zerstörerische Wirkung, sondern bewirkt in einer Art theatralischer Dialektik auch Positives. R Frei nach Hegels Dialektik der Strafe als »Negation der Negation des Rechts« können wir das Urteil »Ist gerettet« durch die »Stimme von oben« so interpretieren: Die Zerstörung der äußeren Existenz – durch den Verlust der Unschuld – ist eine Negation, die Gretchen im inneren Bekenntnis der Schuld negiert, wodurch dialektisch die Position der Rettung begründbar wird. W Auf Faust bezogen bekennt sie noch im Kerker – nachdem sie in ihm nicht mehr den Henker gesehen, sondern ihren Heinrich erkannt hat –: »Mich an deine Seite zu schmiegen, / Das war ein süßes, ein holdes Glück!« Auch dabei handelt es sich um ein dialektisches Geschehen: Die Negation der Reinheit Gretchens durch Faust wird von ihr liebend negiert, wodurch sie die Position eigenen Glücks gewinnt. Wie dieses Glück durch das Wirken des Erdgeistes Fausts Liebesfähigkeit befördert hat, haben wir bereits erläutert.

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R Das Verhältnis des »erhabenen« Erdgeistes zum »Geist, der stets verneint« bleibt letztlich ambivalent. In seiner Erhabenheit nimmt er in Fausts Gottesvorstellung einen höheren Rang ein als Mephisto: »In deinen Rang gehör’ ich nur. / Der große Geist hat mich verschmäht, / Vor mir verschließt sich die Natur.« W Nach dem Urteil des Literaturwissenschaftlers und Goetheexper­ ten Karl Eibl gehört die Szene »Wald und Höhle« zu den »rätselhaf­ testen Teilen der Faustdichtung«. Wenn Faust sagt: »Du hast mir nicht umsonst / Dein Angesicht im Feuer zugewendet«, scheint der Adressat seines Dankes der Erdgeist zu sein. R Dazu steht im Widerspruch die Rede: »Du gabst zu dieser Wonne, / … Mir den Gefährten, den ich schon nicht mehr / Ent­ behren kann«. W Erdgeist und Mephisto wollen konzeptionell nicht zusammenpas­ sen, besonders wenn man bedenkt, was Faust in der Szene »Trüber Tag. Feld« erbittet: »Wandle ihn, du unendlicher Geist! Wandle den Wurm wieder in seine Hundsgestalt … Großer herrlicher Geist, der du mir zu erscheinen würdigtest, der du mein Herz kenntest und meine Seele, warum an den Schandgesellen mich schmieden, der sich am Schaden weidet und am Verderben sich lechzt?« R Womöglich lässt sich dieser unendliche Geist selbst nicht mit dem Erdgeist identifizieren. Für den Dichter kommt es nicht primär auf logische Genauigkeit und klare Konsistenz an. Das Ambivalente ist sein Metier. W Blicken wir zurück. Auch als Liebender ist Faust gescheitert. Sein Liebesstreben hat eine Katastrophe angerichtet. Bevor er mit Mephisto aus dem Kerker flieht und Gretchen ihrem Henker über­ lässt, hinterlässt er mit ihr drei Leichen. R Woran er als Liebender gescheitert ist, werden wir im zweiten Teil erörtern.

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3. Scheiternsgeschichten R Wenn ich ein wenig aus der Werkstatt unseres Faust-Projekts berichten darf: Die ursprünglich geplante Überschrift des vorliegen­ den Gesprächskapitels lautete »Schaffenskatastrophe«. Die Begrün­ dung, warum daraus »Scheiternsgeschichten« wurden, erklärt die Konzeption des Kapitels. W Mit der »Schaffenskatastrophe« wollten wir uns die Möglichkeit eröffnen, den Bereich des Schauspiels – in dem wir das »Gelehrten­ drama« und die »Gretchentragödie« diskutiert haben – zu verlassen und den zweiten Teil des Faust zu interpretieren »als Katastrophe der modernen Zivilisation« – so der Klappentext zu Michael Jaegers Buch »Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart«. R »Denn was Faust imaginierte – das Bild einer Gesellschaft, in der es keinen Augenblick der Ruhe mehr gibt – scheint heute beklem­ mende Realität zu sein.« Jedermann weiß oder sollte zumindest wissen, wie stark unsere ökonomisch orientierte Welt durch immer höhere Geschwindigkeiten globalisierter Daten-, Finanz-, Handelsund Verkehrsbewegungen bestimmt und bedroht ist. W Und in unserer Interpretation der literarischen Vorlage Goethes wird dieser »Bewegungsfuror« – Jägers Begriff – nicht nur durch das Faustische »Streben« nach Erkenntnis verursacht, sondern auch durch einen Wahn des »Schaffens« am Ende des zweiten Teils. Goethe als Kritiker eines technizistischen Fortschrittsglaubens hat am Groß­ projekt der Landgewinnung aus dem Meer ein literarisches Exempel für die Hybris des Glaubens an die unbegrenzten Möglichkeiten der Technik statuiert … R ... die Mephisto sarkastisch als Selbsttäuschung kommentiert: »Denn du bereitest schon Neptunen, / Dem Wasserteufel, großen Schmaus.« Und unmittelbar nach Fausts Tod polemisiert er: »Was soll uns denn das ew’ge Schaffen! / Geschaffenes zu nichts hinwegzuraf­ fen! / … Es ist so gut, als wär’ es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. / Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.«

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W Wie das Zitat zeigt, bildet die Faustdichtung auch in diesem Kapitel die Grundlage unseres Gesprächs. Deshalb sind wir von der »Katastrophen«-Konzeption abgekommen, die nicht textorientiert, sondern realitätsbezogen gewesen wäre. Mit Blick auf den Untertitel »Fausts Scheitern als philosophische Herausforderung« untersuchen wir jetzt die betreffenden »Scheiternsgeschichten«. R Da wäre zunächst das Scheitern des Gelehrten als Scheitern seines Erkenntnisstrebens und dann das Scheitern des euphorisch Liebeswü­ tigen als Scheitern seiner Beziehung zu Gretchen. W Insofern der zweite Teil der Tragödie mit dem Vers endet: »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen«, ist das Streben als thematischer Rahmen zu verstehen, der den Bannspruch des Herrn im Prolog aufgreift und sich abschließend auf ihn bezieht: »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.« R In beiden Versen bleibt das Streben seltsam unbestimmt. Weder die Art noch das Ziel des Strebens werden benannt. W Ist denn Streben notwendigerweise zielorientiert und damit teleo­ logisch, oder ist auch ein vagabundierendes Streben möglich? R Weil Faust im zweiten Teil größtenteils nicht zielbewusst agiert, sondern in wechselnde Episoden und Welten eintaucht, scheint dir diese Art vagabundierend? W Zumindest würde ich dies als These wagen. Auch weil ich im Irren so etwas wie vagabundieren sehe. Dann käme dem Bannspruch des Herrn eine prognostische Kraft zu. R Durch die Wette richtet sich das Streben auf ein besonderes Telos: den »schönen Augenblick« … W ... der jedoch wie das Streben unbestimmt bleibt. Erst durch die Erfüllung dieses Augenblicks gewinnt er seine Bestimmung.

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R Das scheiternde Streben im ersten Teil zielt auf Erkenntnis und sinnliche Leidenschaft. Aber der Dichter lässt Faust nicht nur in der kleinen Welt irren. Im zweiten Teil führt ihn Mephisto durch die große Welt. W Offensichtlich gelingt kein Übergang von der kleinen in die große Welt. Der gescheiterte Liebeswütige muss von seinen Verstrickungen befreit werden, damit ein Neuanfang möglich wird. R Faust erfährt den Heilschlaf des Vergessens. Ariel singt, »von Äolsharfen begleitet«, im Kreis der Elfen: »Besänftiget des Herzens grimmen Strauß, / Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile, / Sein Innres reinigt von erlebtem Graus. / … Dann badet ihn im Tau aus Lethes Flut; / … Hingeschwunden Schmerz und Glück; / Fühl es vor! Du wirst gesunden.« W Auffällig an dieser Szene ist der Umstand, dass nicht von Schuld, sondern nur von Schmerz die Rede ist. Obwohl Faust immer wieder schuldig wird, kommt dieses Wort nicht vor. Und im fünften Akt des zweiten Teiles bekommt die Schuld im Unterschied zur Sorge keinen Zutritt in Fausts Palast. R Die dichterische Freiheit manifestiert sich in einer neu gewonne­ nen Freiheit Fausts: Befreit von seiner Vergangenheit darf er einen Neuanfang wagen und neue Ziele seines Strebens finden. W Goethe sah Anlass, sich hierfür zu rechtfertigen: »Wenn man bedenkt, welche Greuel … auf Gretchen einstürmen und rückwirkend Fausts ganze Seele erschüttern mussten, so konnt’ ich mir nicht anders helfen, als den Helden, wie ich’s getan, völlig zu paralysieren und als vernichtet zu betrachten, und als solch scheinbarem Tode ein neues Leben anzuzünden. Ich musste hiebei eine Zuflucht zu wohltätigen mächtigen Geistern nehmen, wie sie uns in der Gestalt und im Wesen von Elfen überliefert sind. Es ist alles Mitleid und das tiefste Erbarmen. Da wird kein Gericht gehalten und da ist keine Frage, ob er es verdient oder nicht verdient habe, wie es etwa von Menschen-Richtern geschehen könnte.« R Die letzten Sätze könnten wohl auch als Erklärung für Fausts Erlösung am Schluss der Tragödie herangezogen werden.

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W Dies werden wir eingehend zu untersuchen haben! R Eine Vermittlung zwischen dem ersten und dem zweiten Teil bzw. einen Bezug zur alten Identität sehe ich in folgender Rede: »Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen, / Zum höchsten Dasein immerfort zu streben.« W Hier tönt der alte Faust in seinem Totalitätsanspruch. Die Rede vom »höchsten Dasein« drückt einerseits ein Steigern im Streben aus und hat bereits das Schlusswort Fausts im Blick, wenn er den »höchsten Augenblick« illusioniert. R Der Wechsel vom »schönen« in den »höchsten« Augenblick mar­ kiert eine Richtungsänderung im Streben. W Sein anfängliches Streben nach Erkenntnis und Lust wandelt sich in ein Streben nach Taten. Schon der Chor nimmt diese Richtung vor­ weg: »Alles kann der Edle leisten, / Der versteht und rasch ergreift.« R Aus dem Strebensdrama des ersten Teils werden im zweiten Teil Scheiternsgeschichten. Mephistos Urteil zum Erkenntnisstreben Fausts gilt auch für den Tatenmenschen: »Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben, / Der ungebändigt vorwärts dringt, / Und dessen übereiltes Streben / Der Erden Freuden überspringt.« W Diese drei Kennzeichen Faustischen Tuns erscheinen mir nicht etwa teuflisch verzerrt, sondern durchaus sachgerecht: Es dringt »ungebändigt« vorwärts, ist »übereilt« und »überspringt« der Erde Freuden. Wer in dieser Art und Weise strebt und schafft, ist grundsätz­ lich in Gefahr, zu irren. R Das Streben des Gelehrten suchte im Erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, höchste Erfüllung, das Glück des Erken­ nenden. Dass es ihm versagt blieb, stürzte ihn in die verzweifelte Situation eines Suizidversuchs.

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W Das Überspringen der Erdenfreuden ist die Hauptursache des Pak­ tes: Mephisto soll Faust jenen »Augenblick« des Glücks verschaffen, in dem er »verweilen« möchte. Das Glück, das er »auf Teufel komm heraus« erstrebt, liegt in rein weltlicher Lusterfüllung. Etwas anderes hat Mephisto Faust im ersten Teil der Tragödie nicht zu bieten. R In einer Explosion von Flüchen kommt zum Ausdruck, dass er sei­ nen bisherigen Idealen abschwört und sich dadurch selbst verflucht: »Fluch jener höchsten Liebeshuld! / Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben, / Und Fluch vor allen der Geduld.« W Der Geisterchor ist entsetzt: »Weh! Weh! Du hast sie zerstört, / Die schöne Welt, / Mit mächtiger Faust; / Sie stürzt, sie zerfällt!« Mit dem Fluch der Geduld bestätigt Faust das Urteil Mephistos: Sein Streben ist übereilt. R Erst im zweiten Teil lässt Goethe seinen Glückssucher aktiv tätig werden. Im Anfang war nicht die Tat, sondern die Erkenntnis. In der großen Welt, durch die Mephisto Faust nun führt, kann er sich durch Taten verwirklichen. W Mit ›verwirklichen‹ bringst du zum Ausdruck, dass Fausts Wege durch die große Welt als andersgeartete Versuche einer Selbstverwirk­ lichung verstanden werden können. R Ja, aber nur in eingeschränkter Hinsicht, denn die neuen Selbstent­ würfe durch Taten werden ja nicht wirklich von ihm selbst geleistet, sondern er lässt sie von Mephisto besorgen. Und nicht Faust schaut sich um in der Welt, um dann seinen Entwurf zu wählen, wie Pico della Mirandola empfiehlt, sondern Mephisto vermittelt ihm die Rollen, die er dann übernimmt. W Einverstanden. Dann blicken wir auf die erste Rolle im zweiten Teil. Zuerst wird Faust durch Mephistos Zauber am kaiserlichen Hof erfolgreich. Es handelt sich jedoch um einen faulen Zauber, denn die mephistophelische Erfindung des Papiergeldes kurbelt den Wirt­ schaftskreislauf zwar kurzfristig an, erzeugt aber letztlich Inflation und wirft das Reich zurück in Anarchie.

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R Der eigentliche Erfinder des »falschen Reichtums«, wie Mephisto später einräumt, ist er selbst. »Wo fehlt’s nicht irgendwo auf dieser Welt? / Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld. / … In Berges­ adern, Mauergründen, ist Gold gemünzt und ungemünzt zu finden, / Und fragt ihr mich, wer es zutage schafft: / Begabten Manns Naturund Geisteskraft.« W Der Kaiser lässt sich dies nicht dreimal sagen: »Es fehlt an Geld, nun gut, so schaff es denn.« Darauf Mephisto: »Ich schaffe, was ihr wollt, und schaffe mehr«. R Und schon wird spekuliert: »Zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt; / Das übrige ist alles zu erlangen: / Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen, / Das alles schafft der hochgelahrte Mann, / Der das vermag, was unser keiner kann.« Als dieser tritt dann Faust auf die Bühne, wenn der »Mummenschanz«, das »Flammengaukelspiel« schon im Laufen ist. W Der Marschall des Kaisers ist »hoch beglückt«, denn »Rechnung für Rechnung ist berichtigt, / … Im Himmel kann’s nicht heitrer sein.« R Ungläubig liest der Kanzler: »Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. / Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand, / Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland. / Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz, / Sogleich gehoben, diene zum Ersatz.« W Obwohl der Kaiser den »ungeheuren Trug« ahnt, lässt er es dabei bewenden: »Und meinen Leuten gilt’s für gutes Gold? / Dem Heer, dem Hofe gnügt’s zu vollem Sold?« Schließlich glaubt er zu erkennen: »Das hohe Wohl verdankt euch unser Reich.« R Der Glaube an den Wert des Papiers bringt zauberhaftes Regen, jedoch keinen wirklichen Segen. W Auf das Schaffen von falschem Reichtum folgt das Herbei-Schaf­ fen von Helena im Auftrag des Kaisers: »Der Kaiser will, es muss sogleich geschehn, / Will Helena und Paris vor sich sehn; / Das Musterbild der Männer so der Frauen / In deutlichen Gestalten will er schauen. / Geschwind ans Werk! Ich darf mein Wort nicht brechen.«

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R Wieder ist Faust auf Mephistos Hilfe angewiesen. Doch dieser zögert: »Du wähnst, es füge sich sogleich; / Hier stehen wir vor steilern Stufen, / … Denkst Helenen so leicht hervorzurufen / Wie das Papiergespenst der Gulden.« W Die Erweckung Helenas als Gestalt liegt nicht in der Macht Mephistos. »Doch gibt’s ein Mittel.« Mit einem Schlüssel könnte Faust in das Reich der Mütter hinabsteigen und den Dreifuß Apolls mit ihm berühren. »So rufst du Held und Heldin aus der Nacht. / Der erste, der sich jener Tat erdreistet; / Sie ist getan und du hast es geleistet. / Dann muss fortan, nach magischem Behandeln, / Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.« R Das Flammengaukelspiel kann beginnen. Schließlich treten Paris und Helena hervor. Beim Anblick der Schönheitsgöttin verschlägt es Faust den Atem und er bekennt: »Die Wohlgestalt, die mich voreinst entzückte, / In Zauberspiegelung beglückte, / War nur ein Schaumbild solcher Schöne! / Du bist’s, der ich die Regung aller Kraft, / Den Inbegriff der Leidenschaft, / Dir Neigung, Lieb‘, Anbe­ tung, Wahnsinn zolle.« W Der Astrolog des Kaisers nennt »das Stück den Raub der Helena«. Er vermag Spiel und Wirklichkeit zu unterscheiden. Nicht aber Faust: »Hier sind es Wirklichkeiten, / Von hier aus darf der Geist mit Geistern streiten, / Das Doppelreich, das große sich bereiten. / So fern sie war, wie kann sie näher sein! / … Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren.« R Da Faust Helena mit Gewalt festhalten will, kommt es zur »Explo­ sion, Faust liegt am Boden. Die Geister gehen in Dunst auf«. W Weil Faust auch hier »ungebändigt vorwärts dringt« und das Spiel mit der Wirklichkeit verwechselt, verdirbt er alles. Ein Spiel-Verder­ ber ist Faust auch mit weiteren Taten des zweiten Teils. R Gegen Ende entwirft er ein immenses Deichbauprojekt, in dem er auf einer Großbaustelle – »Arbeiter schaffe Meng’ auf Menge« – Teile des Meeres trockenlegen lässt, um ein geschenktes Stück Land zu vergrößern und für »Millionen« bewohnbar zu machen.

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W Aber wie in der Gretchentragödie gibt es auch hier Opfer – Phile­ mon und Baucis, deren Schicksal wir noch genauer betrachten werden. R Weitere »Taten« überspringen wir, wenn Faust nicht als ihr Akteur auftritt. Nicht er, sondern Wagner schafft in seinem Labo­ ratorium »ein herrlich Werk«, den Homunculus: »Es wird ein Mensch gemacht.« W Nur eine kurze Bemerkung dazu: Obwohl die Rolle eines »Men­ schenmachers« auch zu Faust passen würde, überlässt Goethe sie dem »trockenen Schleicher« Wagner – eine subtile Kritik an »Machern«, denen die humane Seele fehlt. R Eckermann bemerkt: »Ich kann mich des Gedankens nicht erweh­ ren, dass er (Mephisto) zur Entstehung des Homunculus heimlich mitgewirkt hat.« Da Goethe dies bestätigt, ist dieses Machwerk durchaus teuflischen Ursprungs. W Ein literarisches Kunstwerk der besonderen Art stellt der Auftritt Helenas dar. 1827 hatte Goethe einen isolierten Helena-Akt als »Zwischenspiel zu Faust« veröffentlicht und dann später in den dritten Akt integriert. R Die Handlung führt von der Antike über das Mittelalter in die klassisch-romantische Epoche, womit ein Zeitbogen von etwa 3000 Jahren geschlagen wird. Die poetische Fiktion der Fausthandlung verliert sich in einem mythologischen Utopia, aus dem nur ein Sprung in den vierten Akt befreit. W Goethe hat sich zur Komposition des Helena-Akts gegenüber Eckermann wie folgt geäußert: »Dieser Akt bekommt wieder einen ganz eigenen Charakter, so dass er, wie eine für sich bestehende kleine Welt, das übrige nicht berührt und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vorhergehenden und Folgenden sich dem Ganzen anschließt.« R Und Eckermann bestätigt die Problematik der Gesamtkomposi­ tion des »Faust«: »Es wird also, sagte ich, völlig im Charakter des übrigen sein; denn im Grunde sind doch der Auerbach-Keller, die Hexenküche, der Blocksberg, der Reichstag, das Papiergeld, das Labo­ ratorium, die Klassische Walpurgisnacht, die Helena, lauter für sich

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bestehende kleine Weltenkreise, die, in sich geschlossen, wohl aufein­ ander wirken, aber doch einander wenig angehen. Dem Dichter liegt daran, eine mannigfaltige Welt auszusprechen, und er benutzt die Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur, um darauf aneinander zu reihen, was er Lust hat.« W Damit bringt Eckermann das Fabulöse des dichterischen Werkes auf den Punkt. Ich schlage vor, den letzten Satz im Zusammenhang der Frage, ob bei Faust eine Entwicklung, ein Höherstreben zu beob­ achten ist, nochmals aufzugreifen. R Selbstverständlich ist Goethe sich der »polyzentrischen Anlage des Faust«, so formuliert bei Peter Matussek, bewusst. Es komme »bei einer solchen Komposition bloß darauf an, dass die einzelnen Massen bedeutend und klar seien, während es als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber eben deswegen, gleich einem unaufge­ lösten Problem, die Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder anlockt«. W Nur ein dünner roter Faden verbindet den Wunsch Fausts, die Helenafigur des Flammengaukelspiels festzuhalten, mit seinem Bestreben, sie aus der Unterwelt zu befreien, schließlich ist sie sein »einziges Begehren«. »Und sollt’ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, / Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt? / … Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erlangen.« R Chiron, der mythische Mensch mit Pferdeleib, soll Faust nach Utopia tragen. Goethe mischt sich in ironischer Weise in die Rede des Kentaurus: »Ich seh’, die Philologen, / Sie haben dich so wie sich selbst betrogen. / Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau, / Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht, zur Schau: / Nie wird sie mündig, wird nicht alt, / Stets appetitlicher Gestalt, / Wird jung entführt, im Alter noch umfreit; / Gnug, den Poeten bindet keine Zeit.« W Die Zeitenthobenheit dieser Faustischen Episode gipfelt in einem utopischen Arkadien, das Goethe zur Lösung eines konzeptionellen Problems benötigt. Dazu schreibt er im Herbst 1800 an Schiller: »Meine Helena ist wirklich aufgetreten.«

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R Ihre Funktion besteht daher nicht – wie im ersten Teil – in der theatralisch inszenierten Begegnung Fausts mit dem Trugbild eines Zauberspiegels, sondern sie begegnet ihm in der leibhaftigen Gestalt des klassisch griechischen Schönheitsideals. W Mit dieser Konzeption gelingt Goethe, was ihm in der Botanik verwehrt bleiben musste: die sinnliche Anschauung des Urbildes. Wohl wissend, dass eine Idee in Bildern immer »unerreichbar bleibt« – wie es in den »Maximen und Reflexionen« heißt –, begnügt er sich nicht mit einer Beschwörung der »Mütter«, deren Haupt »Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben« als ewige Ideen umschweben, sondern er bringt Helena auf die Bühne … R ... und lässt sie mit jenen berühmten Versen auftreten, deren Rhythmus die Schönheit ihrer Erscheinung in genialer Weise unter­ streicht. Umgeben vom Chor gefangener Trojanerinnen stellt sie sich selbst nach dem Muster Euripideischer Prologe vor: »Bewundert viel und viel gescholten, Helena, / Vom Strande komm’ ich, wo wir erst gelandet sind«. Anders als die ratternden, von Zäsuren unterbroche­ nen Alexandriner-Verse, in denen der Erzbischof zum Kaiser spricht, hört man hier den bruchlosen, feierlich schreitenden Rhythmus des antiken Versmaßes jambischer Trimeter. W Im selben Maß – nach dem der griechische Chor sich bewegte, daher ja die Bezeichnung als Vers-»fuß« – ist Helenas Abschied nach dem Tode Euphorions gehalten: »Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir: / Dass Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht ver­ eint.« Stellen wir die Bedeutung dieses Wortes für die Interpretation des Goethe’schen Glücksbegriffs zunächst zurück … R ... und bleiben wir bei der Schönheit des schauspielerischen Auf­ tritts Helenas. Sie bekundet Interesse an einem »Unterricht«, der sie lehrt, »auch so schön« wie Faust zu sprechen, nämlich in Reimen, von denen sie sagt: »Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, / Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.« Ich höre hier die »Liebkosungen« heraus, die für Goethes literarische Liaison Fausts mit Helena konsti­ tutiv sind.

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W »Wir üben’s gleich« war zunächst auf die sprachliche Einübung der »Wechselrede« bezogen: »Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, / Die Gegenwart allein« – / (Helena:) »ist unser Glück«. »Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand; / Bestätigung, wer gibt sie?« / (Helena): »Meine Hand.« R Weil sie von ihm gelernt hat, in »liebkosenden« Reimen zu sprechen, kann Helena Fausts Sätze poetisch zu einer dialogischen Sinneinheit vollenden. Jene Einheit symbolisiert auf eleganteste Weise mehr und anderes als eine rein verbalerotische Vereinigung der beiden Liebenden. W In Helenas Ergänzung, »die Gegenwart allein« sei »unser Glück«, ist ein Glücksmoment enthalten, das dem berühmten Augenblick ent­ spricht. Faust bekennt in geradezu philosophischem Impetus: »Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick.« R Die Synchronität von reiner Gegenwart und unmittelbarer Prä­ senz der Schönheit in der Gestalt Helenas könnte als jener »schöne Augenblick« gelten, von dem in der Wette die Rede ist. Aber da es sich um ein utopisches Arkadien handelt – »arkadisch frei sei unser Glück« –, findet der betreffende Glücksaugenblick nicht auf der Ebene der sonstigen Handlungszusammenhänge der Tragödie statt. W Die Helena-Episode verharrt in hermetischer Abgeschlossenheit gegenüber der »großen Welt«, in die Faust wieder zurückkehren wird. Goethe lässt die Göttin in selbstreflektierter Weise als Idol auftreten: »Ich als Idol, ihm dem Idol, verband ich mich. / Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. / Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol.« R »Helena«, Goethes Urbild weiblicher Schönheit, wäre in der Konzeption einer körperlosen »Idee« nicht zu einem leibhaftigen Auftritt fähig gewesen. Dass sie sich selbst ein »Idol« nennt, darf aus philosophischer Perspektive daher als gelungen bezeichnet werden – ist ein Idol doch eine umschwärmte Persönlichkeit, in der ihre Bewunderer ein Ideal verkörpert sehen.

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W Wir sollten noch erklären, wie sich die hermetische Welt ihre eige­ nen Grenzen setzt. Das arkadische Glück vollendet sich in der Geburt Euphorions, des gemeinsamen Sohnes von Faust und Helena. Doch währt dieses Glück nur kurz, denn als maßlos himmelstürmender Titan wirft sich Euphorion, ein »Genius ohne Flügel«, in die Lüfte und stürzt wie Ikarus tödlich zur Erde. R Goethe erklärt: »Der Euphorion … ist kein menschliches, sondern nur ein allegorisches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personifiziert.« W Insofern hast du mit den »liebkosenden« Reimen den Kern getrof­ fen. R Alle Warnungen seiner Eltern in den Wind schlagend, triumphiert er: »Das leicht Errungene, das widert mir, / Nur das Erzwungene ergetzt mich schier.« In gewisser Weise verkörpert er auch die Wesensart seines Vaters, der angesichts der euphorisch ungebändig­ ten Dynamik Euphorions ausruft: »Welch ein Mutwill! welch ein Rasen! / Keine Mäßigung ist zu hoffen.« W Der Chor reflektiert das tragische Geschehen: »Doch zuletzt das höchste Sinnen gab dem reinen Mut Gewicht, / Wolltest Herrliches gewinnen, aber es gelang dir nicht.« R Man könnte sich fragen, wem diese Worte gelten: Euphorion oder Faust? W Natürlich ist die Rede auf den ersten bezogen. Doch du meinst, darin läge eine Antizipation von Fausts Schicksal? R Durchaus. Denn auch die folgenden Verse weisen in die Richtung des »schönen« Augenblicks, der Einheit von Glück und Schönheit in einem paradiesischen Arkadien. W Nach »völliger Pause« löst sich diese Einheit. Wir haben bereits zitiert, wie Helena dies deutet: »Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir: / Dass Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht ver­ eint.«

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R Durch die Auflösung dieser Einheit wird auch die Helena-Episode aufgelöst: »Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band; / Bejam­ mernd beide, sag’ ich schmerzlich Lebewohl«. W Die Regieanweisung lautet: »Sie umarmt Faust, das Körperliche verschwindet, Kleid und Schleier bleiben ihm in den Armen.« Eine weitere folgt: »Helenens Gewande lösen sich in Wolken auf, umgeben Faust, heben ihn in die Höhe und ziehen mit ihm vorüber.« R Deutet dieses Ende auf ein Scheitern Fausts hin? W Das würde ich bejahen: Da er Helena nicht halten kann, ist darin ein Scheitern der erstrebten Beziehung zu sehen. Der »schöne Augen­ blick«, die Einheit von Glück und Schönheit, gewährte kein Verweilen. R Aber das »Ewig-Weibliche«, findet es in Helena, dem Idol der Schönheit, eine Erklärung? W Wie das »Ewig-Weibliche« ist der »schöne Augenblick« Metapher eines Rätsels, das wohl ungelöst bleiben wird. R Der allerletzte Vers, gesprochen vom Chorus Mysticus, lautet: »Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.« »Hinan« hat hier eindeutig den Sinn von »hinauf«. Helena hat sich jedoch zurück zu Persephona in den Hades gezogen. Somit dürfte sie nicht Inbegriff des »EwigWeiblichen« sein. Wir werden aber auf den Schluss des Werkes noch ausführlich zu sprechen kommen. W Einverstanden, dann blicken wir auf den vierten Akt, in dem Faust unvermittelt im Hochgebirge auftaucht. Im Unterschied zur Gretchentragödie bleibt ihm die wolkenhafte Erinnerung an Hele­ nas »Seelenschönheit«. R Weil Mephisto im dritten Akt nur in der Gestalt Phorkyas‘ auftrat, muss er Faust in die neue Szene mit Siebenmeilenstiefeln folgen. In einer Art Rückblick auf die durcheilten Stationen konfrontiert er den wieder weltzugewandten Faust mit der alten Frage: »Gefiel dir nichts an unserer Oberfläche? / Du übersahst in ungemessnen Weiten / Die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten. / Doch, ungenügsam, wie du bist, / Empfandest du wohl kein Gelüst?«

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W Diese Frage kann nur rhetorisch gemeint sein, denn das Wort vom »schönen Augenblick« ist nicht gefallen. R Hinter dieser Frage versteckt er sein eigenes Scheitern. Denn all seine Versuche, Faust diesen Augenblick zu besorgen, sind geschei­ tert. Er schiebt die Schuld jedoch auf Fausts Ungenügsamkeit. W Dessen Antwort kommt überraschend: »Und doch! ein Großes zog mich an. / Errate!« R In dieser Antwort erkenne ich einen Wendepunkt. Bislang war Mephisto aktiv, Fausts »Gelüst« zu wecken. Nun gibt er zu erkennen, dass er selbst tätig wird. W Auf das Ratespiel eingehend präsentiert Mephisto allerlei Ange­ bote: »Am lustigen Ort ein Schloss zur Lust. / Wald, Hügel, Flä­ chen, Wiesen, Feld / Zum Garten prächtig umbestellt. / … Dann aber ließ’ ich allerschönsten Frauen / Vertraut-bequeme Häuslein bauen; / Verbrächte da grenzenlose Zeit / In allerliebst-geselliger Einsamkeit. / Ich sage Frau’n; denn ein für allemal / Denk’ ich die Schönen im Plural.« R Derartige Sinnenlust ist nicht Fausts »Gelüst«. Er hält Mephistos Angebote für »schlecht und modern! Sardanapal!« Nach antiker Legende prasste der Assyrerkönig Sardanapal mit maßlosem Luxus, lebte in Vielweiberei und war für seine wüsten sexuellen Ausschwei­ fungen bekannt. In der Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles: »Die Menge erweist sich als ganz sklavisch, indem sie der Lebens­ weise des lieben Viehs den Vorzug gibt; sie hat dafür allerdings insofern eine gewisse Rechtfertigung, als auch viele Mächtige die Vorlieben des Sardanapal teilen.« W Möglicherweise hätte Mephisto Faust im ersten Teil zu dieser Lebensweise verführen können, doch ihn gelüstet es nicht mehr danach, in sinnlicher Lust zu schwelgen. »Mit nichten!«, ihn drängt es zu Taten: »Dieser Erdenkreis / Gewährt noch Raum zu großen Taten. / Erstaunenswürdiges soll geraten, / Ich fühle Kraft zu küh­ nem Fleiß.«

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R Weil es Erstaunenswürdiges sein soll, vermutet Mephisto Ruhm­ sucht. Die Reaktion Fausts gibt zunächst Rätsel auf: »Herrschaft gewinn’ ich, Eigentum! / Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.« W Rätselhaft erscheint mir vorrangig nicht der Zusammenhang von Tat und Herrschaft, wohl aber der Bezug zu Eigentum und Besitz. R Rechtsgeschichtlich können Land und Güter als Voraussetzung für Herrschaft gelten. Wer über nichts verfügt, kann auch nicht herrschen. W Halten wir zunächst fest: Faust spürt Tatendrang, der dann im Schaffensrausch endet. Zum ersten Mal weiß er, was er will, weiß er, wonach er strebt: nach Herrschaft. Diesen Wesens-Umschlag gilt es in unserer Betrachtung Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Daher werden wir den Fortgang der Handlung genau verfolgen. R Erst im weiteren Verlauf wird klar, welche Art von Herrschaft er beabsichtigt. Ich zitiere: »Mein Auge war aufs hohe Meer gezogen; / Es schwoll empor, sich in sich selbst zu türmen, / Dann ließ es nach und schüttete die Wogen / Des flachen Ufers Breite zu bestürmen. / Und das verdross mich; wie der Übermut / Den freien Geist, der alle Rechte schätzt, / Durch leidenschaftlich aufgeregtes Blut / Ins Missbehagen des Gefühls versetzt.« W Verdruss steigert sich zu Verzweiflung: »Da herrschet Well’ auf Welle kraftbegeistet, / Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet / Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte!« R Das scheinbar sinnlose Spiel der Wellen und die ungenutzte Kraft des Meeres fordern den Tatendrang Fausts heraus. Wo er vorher die Natur beschaulich bewunderte und sich ihr nahe fühlte, will er sie jetzt bezwingen und beherrschen. W Zur Veranschaulichung stelle ich die beiden konträren Haltungen einander gegenüber. In der Szene »Wald und Höhle« monologisiert Faust: »Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, / Kraft, sie zu fühlen, zu genießen.« Jetzt tönt er in herrschaftlicher Manier: »Zweck­ lose Kraft unbändiger Elemente! / Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen; / Hier möcht’ ich kämpfen, dies möcht’ ich besiegen.«

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R Faust will sich zum Herrn der Natur aufschwingen und sie unter seine Zwecke zwingen. Das ehemalige geradezu brüderliche Nähever­ hältnis zum Königreich der Natur scheint verloren, jetzt will Faust sich zum König der Natur krönen. W Unterwerfung statt Dialog ist angesagt. Faust lernte seine Brüder »im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen«. Sein Wille zur Macht über die Natur sieht in der Kraft des Meeres den Gegner, ja den Feind, den es zu besiegen gilt. R Der Zweck ist gesetzt, nun müssen die Mittel überlegt werden: »Da fasst’ ich schnell im Geiste Plan auf Plan: / Erlange dir das köstliche Genießen, / Das herrische Meer vom Ufer auszuschließen …«. Die Idee zum Deichbauprojekt ist geboren, im fünften Akt wird sie realisiert. W Während wir den Gelehrten Faust etwa im 16. Jahrhundert ver­ orten können, scheint der technische Planer im 19. Jahrhundert angekommen zu sein. R Zwar gibt Goethe für den alten Faust ein Alter von hundert Jahren an, die Zeit der Handlung ist jedoch deutlich umgreifender. Gegenüber Eckermann erklärt er: »Der Faust, wie er im fünften Akt erscheint … soll nach meiner Intention gerade hundert Jahre alt sein.« W Ich frage mich, an wen sich der unternehmerische Faust wendet, wenn er sagt: »Von Schritt zu Schritt wusst’ ich mir’s zu erörtern; / Das ist mein Wunsch, den wage zu befördern!« R Beides ist denkbar: ein Monolog, aber auch eine Hinwendung zu Mephisto, dem er seinen Wunsch präsentiert; denn er weiß, dass er für seinen Plan auf dessen übermenschliche Kräfte angewiesen ist. Mephistos Reaktion scheint die zweite Variante zu bestätigen: »Wie leicht ist das!« W Auch wenn Faust ein eigenes Ziel benennt, nach dem er strebt, ist nur der unternehmerische Plan sein eigen. Die praktische Umsetzung dieser »Tat« muss Mephisto schaffen. R Und der weiß, wie »leicht« dies zu bewerkstelligen ist.

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W Der sich abzeichnende Krieg zwischen dem Kaiser und dem Gegenkaiser bietet eine doppelte Gelegenheit: Faust kann sich als Feldherr betätigen und aus seinem Tun Profit ziehen. Mephisto antizipiert: »Krieg oder Frieden. Klug ist das Bemühen, / Zu seinem Vorteil etwas auszuziehen. / Man passt, man merkt auf jedes günstige Nu. / Gelegenheit ist da, nun, Fauste, greife zu!« R Da Faust den guten Kaiser bejammert, »er war so gut und offen«, schlägt Mephisto vor, ihm zur Seite zu stehen: »Komm, sehn wir zu, der Lebende soll hoffen. / Befrein wir ihn aus diesem engen Tale! / Einmal gerettet, ist’s für tausend Male.« Hier sehen wir einen Mephisto, der nicht »stets das Böse will«. Nicht nur Faust, sondern auch er unterliegt Wandlungen. W Zur weiteren Motivation Fausts rät er: »Befestige dich bei großen Sinnen, / Indem zu deinen Zweck bedenkst. / Erhalten wir dem Kaiser Thron und Lande, / So kniest du nieder und empfängst / Die Lehn von grenzenlosem Strande.« R Der Anspruch Fausts auf Eigentum und Besitz kann Realität wer­ den. Mit Hilfe der drei mephistophelischen Gewaltigen Raufebold, Habebald und Haltefest gelingt es, die Schlacht zu gewinnen. Faust, dem »sehr verrufnen Mann«, wird »des Reiches Strand verliehn«. Dem Deichbauprojekt steht nichts mehr im Wege. W Im fünften Akt treten Philemon und Baucis auf, Figuren, die Goethe seit seiner Jugend aus den »Metamorphosen« Ovids kennt. Sie berichten, was sich inzwischen ereignet hat: »Kluger Herren kühne Knechte / Gruben Gräben, dämmten ein, / Schmälerten des Meeres Rechte, / Herrn an seiner Statt zu sein.« R Aber all dies scheint ihnen mehr als rätselhaft: »Wohl! ein Wunder ist’s gewesen! / Lässt mich heute nicht in Ruh’; / Denn es ging das ganze Wesen / Nicht mit rechten Dingen zu.« W Kaum waren Zelte und Hütten gebaut, wurde auch schon ein Palast errichtet, in dem Faust fürstlich residiert.

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R Die Gewaltsamkeit der Unternehmung betrifft nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen. Es ist nicht von Arbeitern die Rede, sondern von Knechten. »Tags umsonst die Knechte lärmten, / Hack’ und Schaufel, Schlag um Schlag …«. W Dass es sich dabei um Ausbeutung handelt, ist nicht zu überse­ hen. Auch des Nachts wird geschuftet. »Wo die Flämmchen nächtig schwärmten, / Stand ein Damm den andern Tag. / Menschenopfer mussten bluten, / Nachts erscholl des Jammers Qual; / Meerab flossen Feuergluten, / Morgens war es ein Kanal.« R Verbirgt sich hinter Baucis’ Urteil etwa der Dichter selbst, der sie über Faust sagen lässt: »Gottlos ist er …«. Ähnlich wie Gretchen hat sie ein Gespür für falschen Zauber. W Und sie ahnt, worauf Faust in seinem egomanischen Machtstreben aus ist: »… ihn gelüstet / Unsre Hütte, unser Hain« – eine Ahnung, die sich bewahrheiten wird. R Sein Auftreten ist gebieterisch auf Gehorsam angelegt: »Wie er sich als Nachbar brüstet, / Soll man untertänig sein.« W Die beiden Alten reflektieren Fausts Gebaren, sie repräsentieren die Außenansicht eines ungebärdig Herrschsüchtigen, der sich alles einverleiben will, wonach ihn gelüstet. R Die Außenansicht entspricht haargenau der Innenansicht Fausts. »Vor Augen ist mein Reich unendlich, / Im Rücken neckt mich der Verdruss, / … Mein Hochbesitz, er ist nicht rein, / Der Lindenraum, die braune Baute / Das morsche Kirchlein ist nicht mein.« W Mephisto, von der Piraterie in den Hafen zurückgekehrt, trifft auf einen unzufriedenen, mürrischen Faust. »Mit ernster Stirn, mit düstrem Blick / Vernimmst du dein erhaben Glück.« R Doch Faust kann sein Glück nicht genießen. Die Alten stören, er bietet Umsiedlung an. »Die Alten droben sollten weichen, / Die Linden wünscht’ ich mir zum Sitz; / Die wenig Bäume, nicht mein eigen, / Verderben mir den Weltbesitz.«

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W Vorher haben wir überlegt, ob sein Begehren nach Herrschaft und Eigentum primär dem Deichbauprojekt dient, doch nun verselbst­ ständigt sich sein Besitzanspruch. R Ich stimme dir zu. Der selbstherrliche Genuss von Besitz und Macht wird erst vollkommen, wenn er sagen kann: Das alles ist mein! Fausts Sein ist abhängig vom Haben. Was er begehrt, muss er haben. W Entsprechend erklärt er: »So sind am härtsten wir gequält: / Im Reichtum fühlend, was uns fehlt!« R Es verwundert nicht, dass Mephisto ihn darin bestärkt: »Natür­ lich! dass ein Hauptverdruss / Das Leben dir vergällen muss!« Und provozierend fragt er: »Was willst du dich denn hier genieren? / Musst du nicht längst kolonisieren?« W Faust tappt in die Falle. Sein Befehl ist missverständlich: »So geht und schafft sie mir zur Seite!« Eine Gelegenheit, die Mephisto nicht ungenutzt lassen wird, obwohl Faust ergänzt: »Das schöne Gütchen kennst du ja, / Das ich den Alten ausersah.« R Mir erscheint es wichtig, den Plural des Befehls zu beachten: geht und schafft! Faust spricht damit Mephisto und seine drei Helfershelfer an, die dieser auch sogleich herbeipfeift. Wenn sie ins Spiel kommen, endet es in Gewalt. Sie legen Feuer und die Alten kommen jämmer­ lich um. W Für die Theaterzuschauer, »ad spectatores«, vergleicht Mephisto das Begehren Fausts mit dem Handeln des biblischen Königs Ahab, der sich Naboths Weinbergs bemächtigen wollte. R Die Geschichte endet mit dem Tod Naboths. Mephistos Hinweis darf als Ankündigung für das Kommende verstanden werden: »Auch hier geschieht, was längst geschah; / Denn Naboths Weinberg war schon da.« W Von Ferne erkennt der Türmer das unbarmherzig Schreckliche: »Ach! die innre Hütte lodert, / … Keine Rettung ist vorhanden. / Ach! die guten alten Leute, / Sonst so sorglich um das Feuer, / Wer­ den sie dem Qualm zur Beute! / Welch ein schrecklich Abenteuer!«

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R Aber auch Faust nimmt auf seinem Balkon das Geschehen wahr: »Mein Türmer jammert; mich im Innern / Verdrießt die unge­ duld’ge Tat.« W Schon sieht er in dem Schaden seinen Vorteil: »Ein Luginsland ist bald errichtet, / Um ins Unendliche zu schaun.« R Nachdem Faust erkennen muss, was Mephisto angerichtet hat, zeigt er kein Mitleid mit den Alten, von Schuldbewusstsein gar nicht zu sprechen. Es macht ihn allein wütend, dass man seinen Befehl missachtet hat. »Tausch wollt’ ich, wollte keinen Raub! / Dem unbesonnenen wilden Streich, / Ihm fluch’ ich!« W Die Tragödie nimmt weiter Fahrt auf, indem der Dichter allegori­ sche weibliche Figuren auftreten lässt: Mangel, Sorge, Schuld und Not. Allein der Sorge gelingt der Zutritt in Fausts Palast. R Das bestätigt, dass Faust keine Schuld erkennt. Das Raunen der »grauen Weiber« hat er jedoch vernommen: »Den Sinn der Rede konnt’ ich nicht verstehn. / Es klang so nach, als hieß’ es – Not, / Ein düstres Reimwort folgte – Tod. / Es tönte hohl, gespenster­ haft gedämpft.« W Zum ersten Mal erscheint Faust verunsichert und besorgt. Daher kann die »Sorge« an ihn herantreten. R Die Möglichkeit des Todes bewegt ihn zu einer Art Selbstbesin­ nung: »Noch hab’ ich mich ins Freie nicht gekämpft. / Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen, / Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, / Stünd’ ich, Natur, vor dir ein Mann allein, / Da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein!« W Hier stehe ich vor einem Problem. Was meint er mit dem ers­ ten Satz? R Wenn wir den zweiten hinzunehmen, wäre zu folgern, dass Faust sich von Mephisto emanzipieren möchte, aber es scheint ihm noch nicht gelungen.

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W Sein Verhältnis zur Natur, das zuletzt von Unterwerfung geprägt war, sollte ein anderes werden, dann könnte er wieder Mensch sein. Offensichtlich fühlt er sich vom Menschsein ebenso entfernt wie von der Natur. R Er denkt zurück an die Zeit vor dem »Spuk«: »Das war ich sonst, eh’ ich‘s im Düstern suchte, / Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte.« W In dieser Krisensituation spricht ihn die Sorge an: »Hast du die Sorge nie gekannt?« R Als Antwort kommt eine Art Lebensbeichte: »Ich bin nur durch die Welt gerannt; / Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren, / Was nicht genügte, ließ ich fahren, / Was mir entwischte, ließ ich ziehn. / Ich habe nur begehrt und nur vollbracht / Und abermals gewünscht und so mit Macht / Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig, / Nun aber geht es weise, geht bedächtig.« W Ich stelle fest, dass er nur von »begehren« und »wünschen« spricht, nicht aber von »streben«. Wieso es zuletzt »weise« und »bedächtig« zugehen soll, erschließt sich mir nicht, denn er ist doch gerade als Planer und Macher aktiv wie nie zuvor. R Vielleicht sind hier Worte des alten Goethe hineingerutscht. Die Lebensbeichte endet mit folgenden Worten: »Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang, / Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, / Er, unbefriedigt jeden Augenblick!« W Nicht nur der erstrebte »schöne Augenblick« ist noch fern, nein, Faust bekennt sein Unbefriedigtsein wie am Anfang der Tragödie. R Die düsteren Voraussagen der »Sorge« bedrängen ihn. Doch er will sich vor ihnen abschirmen: »Doch deine Macht, o Sorge, schleichend groß, / Ich werde sie nicht anerkennen.« W Die Macht der Sorge ist jedoch größer als seine eigene. Sie haucht ihn »mit Verwünschung« an, worauf er nach folgenden Worten erblindet: »Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun, Fauste, werde du’s am Ende!«

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R Die Analogie zwischen dem Prolog des ersten Teils, in dem es heißt: »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt«, und dem Spruch: »Die Menschen sind im ganzen Leben blind« ergibt zwei geradezu geome­ trisch konstruierte Parallelen, die einander nicht erst im Unendlichen, sondern in Goethes Meisterdichtung schon an deren Ende schneiden. W In unserer philosophischen Interpretation der Dichtung kommen wir deshalb zu dem Ergebnis, dass Faust zwar erst durch die Sorge physisch erblindet, dass er aber in seiner Art zu streben schon immer verblendet war. Der blinde Faust ist geradezu »Symbol« seiner lebenslangen Blindheit für das wahre und gute Leben. R Es ist typisch für Faust, dass die Schuld keinen Zutritt zu ihm findet, hat er sich doch im Laufe seines literarischen Lebens nie schuldig gefühlt. W »Nie« würde ich nicht sagen. Im Dialog mit der Sorge bekennt er, sich vom wahren Menschsein entfernt zu haben, weil er sich in verblendetem Wahn teuflischer Magie verschworen hat. R Auch wenn er den Bund mit Mephisto bereuen sollte, ist von der Anerkennung einer Schuld gegenüber anderen keine Rede, zuletzt auch nicht bei den Alten. W Sein Bekenntnis können wir nur so verstehen, dass er durch die Wette als solche schuldig wurde und mit dem Weg der Irrnis den rechten Weg verfehlte. In dieser Verfehlung sehe ich seine Schuld. R Der Verführung, den »schönen Augenblick« durch Magie und teuflischen Spuk zu erlangen, ist er erlegen, ja er hat sich ihr wissent­ lich und freiwillig ausgesetzt. W Ein Vergleich mit dem Odysseus-Mythos kann vielleicht den spezifisch Faustischen Schuldkomplex beleuchten. R Ist denn in diesem Mythos von Schuld die Rede? W Nur indirekt. Ich beziehe mich auf die Episode mit den Sirenen.

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R In dieser wird Odysseus von den Sirenen verführt, an Land zu gehen. Sie versprechen zauberhaftes Glück, das Glück des Allwissens: »Alles wissen wir dir, was im breiten Troja die Troer, was die Argaier dort litten nach göttlicher Fügung. Und allezeit wissen wir, was auf der Erde geschieht, die so vieles hervorbringt.« W Aber im Unterschied zu Faust erliegt Odysseus nicht dieser verlo­ ckenden Verführung. Er bindet sich an den Mast des Schiffes, weil er weiß, dass er im Prinzip verführbar ist. Er bezwingt sich selbst und zügelt sein Verlangen nach totalem Wissen und Glück. Er ist klug und vernünftig. Bescheidung ist Kriterium der Klugheit, die um das rechte Maß weiß. R Der Bezug auf die Odyssee mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, doch schon Eckermann hat diese Perspektive eingenom­ men: »Dem Dichter liegt daran, eine mannigfache Welt auszuspre­ chen, und er benutzt die Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur, um darauf aneinander zu reihen, was er Lust hat. Es ist mit der Odyssee und dem Gil Blas auch nicht anders.« W Odysseus ist auch der erste große Irrende, obwohl seine Irrfahrten nicht in einer Tragödie enden. Ich erinnere an die ersten Verse des Epos: »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung.« R Der Vergleich mit Odysseus legt darüber hinaus nahe, dass Fausts Reisen durch die kleine und die große Welt letztlich als Irrfahrten verstanden werden können. Während Homer seinen Helden glücklich in seine Heimat zurückkehren lässt, zielt die Reise des irrenden Faust auf den »schönen« bzw. »höchsten Augenblick«, ein Ziel, das er nicht ansteuern kann, weil er es nicht kennt. Insofern handelt es sich um ein Utopia. W Kehren wir zu Faust zurück. Im Unterschied zu Odysseus macht Faust sich keine Gedanken, was der Bund mit Mephisto letztlich bedeutet. Der Preis für den höchsten Augenblick ist der Tod. Faust wagt ein Risiko mit offenem Ausgang. Er flucht der Vernunft und ignoriert, ob es ein Drüben gibt. Insofern ist er blind für die Gesamt­ situation.

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R Seine Erblindung am Ende ist Ergebnis blinder Entscheidung am Anfang, wodurch er den Weg des Scheiterns beschreitet. W Aber selbst die Erblindung scheint Faust nicht aus der Fassung zu bringen. Normalerweise wäre zu erwarten, dass ihn dieser Schlag der Sorge in Verzweiflung stürzt, er reagiert aber fast so, als wäre nichts gewesen: »Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, / Allein im Innern leuchtet helles Licht.« R Anstelle von Stillstand und Zusammenbruch fühlt er weiterhin Schaffensimpulse: »Was ich gedacht, ich eil’ es zu vollbringen; / Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht. / Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann! / Lasst glücklich schauen, was ich kühn ersann. / Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten! / … Dass sich das größte Werk vollende …«. W Der blinde Faust erliegt am Ende einem letzten fatalen Irrtum. Während die Lemuren auf Mephistos Befehl Fausts Grab ausheben, meint er, sie arbeiteten am Wassergraben: »Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt! / Es ist die Menge, die mir frönet, / Die Erde mit sich selbst versöhnet, / Den Wellen ihre Grenze setzt, / Das Meer mit strengem Band umzieht.« Entsprechend ironisch kommentiert Mephisto: »Man spricht, wie man mir Nachricht gab, / Von keinem Graben, doch vom Grab.« R Mit seinem letzten Irrtum vollendet sich Fausts Scheitern bzw. sein scheiterndes Streben. W Und er bewahrheitet den Bannspruch des Herrn: »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.« R Obwohl Faust sich an seiner Großtat ergötzen möchte, will er vom Landgewinn nicht allein profitieren. In visionärer Blindheit erträumt er eine utopische Zukunft: »Eröffn’ ich Räume vielen Millionen, / Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. / … Solch ein Gewim­ mel möcht’ ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.« W Diese falsche, blinde Hoffnung, »dass sich das größte Werk voll­ ende«, lässt ihn im letzten Lebensmoment bekennen: »Zum Augen­ blicke dürft’ ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! / Es kann

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die Spur von meinen Erdetagen / nicht in Äonen untergehn. – / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.« Ist das der »Augenblick« der Wette? R Warten wir ab. In geradezu luziferischer Antithese entgegnet Mephisto: »Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glück, / So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten; / Den letzten, schlechten, leeren Augenblick, / Der Arme wünscht ihn festzuhalten.« W Wer von beiden die »Wahrheit« dieses bestimmten Augenblicks erfasst, überlässt der Dichter dem Betrachter. R Wenn wir aber bedenken, wie Faust endet, können wir erschließen, was der Dichter denkt: Lemuren schaufeln ein Grab, das niemand kennt und niemand besucht. Von seinen »Erdetagen« bleibt keine Spur. Er hat nur die teuflischen Gesellen als Erbe seiner Hinterlassen­ schaft, die bald »zu Nichts« hinweggeschafft sein wird. W Mit den letzten Worten triumphiert Mephisto über den Überliste­ ten: »Vorbei und reines Nichts: vollkommnes Einerlei! / Was soll uns denn das ew’ge Schaffen! / Geschaffenes zu Nichts hinwegzuraffen! / ›Da ist’s vorbei!‹ Was ist daran zu lesen? / Es ist so gut, als wär’ es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. / Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.« R Das Verweilen des »höchsten«, nicht des »schönsten« Augenblicks zerrinnt ins Nichts. Der Totalitätsanspruch von Schönheit, Vollkom­ menheit, Glück und Dauer ist bloße Schimäre. W Das zeitliche Ende des alten Faust fällt zusammen mit seinem letzten Wort. Kaum hat er verkündet, den »höchsten Augenblick« zu genießen, bricht er tot zusammen. R Gemäß der Logik der Wette geht Mephisto davon aus, sein Ziel erreicht zu haben. Er triumphiert: »Er fällt! Es ist vollbracht.« Goethe verwendet hier das Sterbenswort Jesu aus dem Johannesevangelium, lässt es jedoch sofort vom Chor relativieren: »Es ist vorbei.«

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W »Vorbei« steht im klaren Widerspruch zu »vollbracht«. Letzteres würde, auf Faust bezogen, heißen, dass sich in seinem unternehmeri­ schen Werk seine eigene Vollendung erfüllt. R »Vorbei« hingegen konterkariert die Vollendung als bloßes Enden. Damit wäre auch der vermeintliche »höchste Augenblick« nur einer in der Reihe vorausgegangener Augenblicke. W Die Verse »Es ist so gut, als wär’ es nicht gewesen« und »Es ist vorbei.« könnten die Schlussworte der Tragödie sein. Doch der Dichter will die Rettung Fausts … R ... die er aber als burleske Parodie darstellt. W Im relativierenden »Es ist vorbei« erkenne ich die Möglichkeit, Fausts Tod nicht als Folge des »Zauberwortes« vom Augenblick zu verstehen. Um es klar zu sagen: Faust stirbt eines natürlichen, nicht eines teuflischen Todes, das heißt, sein Tod stellt nicht die Einlösung der Wettschuld mit Mephisto dar. R Gibt es hierfür weitere Argumente? W Die allegorischen Weiber sehen, was kommt: »Dahinten, dahin­ ten! Von ferne, von ferne, / Da kommt er der Bruder, da kommt er der – – – Tod.« Des weiteren hat der Dichter seinen Faust »im höchsten Alter« ankommen lassen. R Dennoch fordert Mephisto seinen Wetteinsatz: »Der Körper liegt, und will der Geist entfliehn, / Ich zeig’ ihm rasch den blutgeschrieb­ nen Titel; / Doch leider hat man jetzt so viele Mittel, / Dem Teufel Seelen zu entziehn.« W Goethe gestaltet das Ringen der Engel mit den teuflischen Mäch­ ten um die Seele Fausts als Klamauk: »Sie kommen gleisnerisch, die Laffen! / So haben sie uns manchen weggeschnappt, / Bekriegen uns mit unsern eignen Waffen; / … Hier zu verlieren, wär’ euch ew’ge Schande; / Ans Grab heran und haltet fest am Rande!«

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R Der Täuscher und Betrüger fühlt sich selbst getäuscht und um seine »Beute« betrogen: »Sind mit der Beute himmelwärts entflo­ gen; / Drum haben sie an dieser Gruft genascht! / Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet: / Die hohe Seele, die sich mir verpfän­ det, / Die haben sie mir pfiffig weggepascht.« W Die Satire des betrogenen Teufels gipfelt im Wortgefecht zwischen teuflischen Sprüchen und religiös-mystischem Kauderwelsch, worauf sich die Engel erheben, »Faustens Unsterbliches entführend«, wie die Regieanweisung lautet. R Bevor wir die Erlösung diskutieren, werfen wir einen Blick zurück auf die beiden Formulierungen des Augenblicks. Die erste spricht vom »schönen«, die zweite vom »höchsten« Augenblick. Darin reflektiert sich sowohl die Duplizität der beiden Teile des Werkes wie der Wandel des Strebens vom Erkennen zum Schaffen. W Wenn wir beide behaupten, dass Faust seine Wette nicht gewon­ nen hat, sind wir nicht die einzigen. Adorno stellt lapidar fest: »Die Wette ist verloren. In der Welt, in der es mit rechten Dingen zugeht, in der Gleich um Gleich getauscht wird – und die Wette selbst ist ein mythisches Bild des Tauschs – hat Faust verspielt.« R Nicht nur für Adorno bleibt die Rettung Fausts in ambivalenter Schwebe. Er rätselt: »Ist nicht gar die Wette ›im höchsten Alter‹ Faustens vergessen, samt aller Untaten, die der Verstrickte beging … Wird nicht Faust darum gerettet, weil er überhaupt nicht mehr der ist, der den Pakt unterschrieb?« W Auch Adorno reflektiert philosophisch: »Hat nicht das Stück in Stücken seine Weisheit daran, wie wenig mit sich selbst identisch der Mensch ist?« R Diesen Überlegungen widerspricht der alte Dichter, wenn er gegenüber Eckermann erklärt, »dass der Teufel die Wette verliert«. W Dann ist es jetzt Zeit, die erlösenden Engelsworte zu zitieren: »Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen, / Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.«

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R Zunächst darf nicht übersehen werden, wer diese Erlösung aus­ spricht: »Engel« der »höheren Atmosphäre« – nicht wie bei der Rettung Gretchens eine »Stimme von oben«, die in der Komposition des ersten Teils nur die Stimme des Herrn aus dem »Prolog im Himmel« sein kann und damit Ausdruck der christlichen Vorstellung göttlicher Gnade, die das fromme Gretchen verdient hat. W Die Engel der »Bergschluchten« entstammen einer anderen, mys­ tischen Vorstellung, die auf Goethes Wertschätzung der Aristoteli­ schen Entelechie beruht: Die entelechiale Strebekraft, die in Goe­ thes Naturkonzeption die Eigenenergie allen organischen Lebens bestimmt, ist auf Vollendung angelegt, und zwar – wie bereits erwähnt – im Unendlichen. R Für die bereits in Aussicht gestellte Begründung können wir uns auf Eckermann berufen. W Am 4. Februar 1829 notiert er folgende Aussage Goethes: »Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß ...«. Denn »wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen«. In einem Brief an Zelter hatte er am 19. März 1827 geschrieben: »Die entelechische Monade muss sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten …«. R Wieviel Leibniz in der »entelechischen Monade« enthalten ist, brauchen wir nicht zu entscheiden. Denn Goethe verwendet das Wort »Entelechie« unabhängig von der Philosophie der Leibniz’schen Monadologie. Die für uns wichtigste Verwendung des Wortes findet sich in einer Handschrift zur Grablegungsszene: Dort lautete Goethes Regieanweisung: »Faustens Entelechie wird von den Engeln himmel­ wärts getragen«; später ist – wie zitiert – »Faustens Unsterbliches« daraus geworden. W Die spätere Fassung ist für das Publikum sicher die bessere. Phi­ losophisch fragt es sich allerdings, ob Goethes Position zur Unsterb­ lichkeit überzeugt. Zunächst ist festzuhalten, dass er im Gespräch mit Eckermann nicht davon spricht, Unsterblichkeit beweisen zu können. Er gerät also nicht von vornherein in jene vitiösen Zirkel, auf die wir mit dem Titel unseres Gesprächs Bezug nehmen.

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R Zunächst vermeidet er einen Zirkelschluss, weil er sagt, der Mensch solle an Unsterblichkeit »glauben«. Und bei der Begrün­ dung des Glauben-»Sollens« liegt die Gefahr einer petitio principii zwar nahe, die Aussage, der Glaube an die Unsterblichkeit sei der »Natur« des Menschen »gemäß«, muss aber nicht notwendig auf die »Natur« im Sinne einer pantheistischen Gottesvorstellung bezogen werden. Goethe könnte damit schlicht das Wesen des Menschen gemeint haben. W Das Wesen des »Wesens« zu bestimmen, führt uns in denselben Zirkel wie die Bestimmung der Natur der »Natur«. Beide Begriffe entstammen einer metaphysischen Tradition, in der aus ihnen immer nur herausgeschlossen werden konnte, was vorher in sie ihn hinein­ gelegt worden war. Nicht nur »Gottes«-Zirkel haben sich in der Phi­ losophiegeschichte als Teufelskreise erwiesen, sondern auch »Natur«und »Wesens«-Zirkel. R Wir sind sozusagen umzirkelt von den Grenzen unserer Erkennt­ nis. »Was die Welt im Innersten zusammenhält« und worin das Göttliche Gottes, das Natürliche der Natur und das Menschliche des Menschen besteht, bleibt für uns unerkennbar oder genauer: Es entzieht sich im Sinne Sokratischen Nichtwissens einer monologisch letztbegründbaren und »die« Wahrheit beanspruchenden Definition. W Dazu darf ich auf die in unserer »Zueignung« vorgenommene Sokrates-Interpretation verweisen. Auf einen Sokratiker wirkt Goe­ thes Erläuterung, »die Natur« sei »verpflichtet«, mir »eine andere Form des Daseins zuzuweisen«, wenn ich »bis an mein Ende rastlos wirke«, – mit Verlaub – fast peinlich. Mensch und Natur stehen nicht in der wechselseitigen Beziehung eines Rechte- und Pflichtenverhält­ nisses zueinander. Allerdings ist zu berücksichtigen, was er Ecker­ mann zu seiner philosophischen Kompetenz anvertraut hat: »Von der Philosophie habe ich mich selbst immer frei erhalten; der Standpunkt des gesunden Menschenverstandes war auch der meinige.« R Weil wir uns darüber einig sind, in der Fausttragödie ein literari­ sches Meisterwerk zu sehen, das bei allen philosophischen Gehalten keinen philosophischen Anspruch erhebt, versprechen wir im Unter­ titel unseres Gesprächs, in Fausts Scheitern eine »philosophische Herausforderung« zu sehen.

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W Dann wird es jetzt Zeit, dieses Versprechen einzulösen. R Fausts Wette mit Mephisto ist als zentrales Motiv des gesamten Geschehens auf der Schauspielbühne auch der philosophische Kern der Tragödie. Das Wort, das diesen Kern bezeichnet, heißt »Augen­ blick«. W Der »Augenblick« ist sozusagen unser philosophisches »Kern­ wort« – und wenn es an »des Pudels Kern« erinnert, soll es uns recht sein. Denn zur Philosophie des »Faust« gehört gewiss auch Mephisto. R Im ersten Teil bestimmt unser Kernwort den Gegenstand der Wette: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! …« Und im zweiten Teil kehrt es wieder mit einem kleinen, aber sehr wichtigen Unterschied: »Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön!« W In beiden Sätzen wird dasselbe Verbum, »sagen«, auf denselben Inhalt, »Verweile doch …«, bezogen. Der Unterschied ergibt sich aus der Verschiedenheit des Sagen-»Werdens« und des Sagen-»Dürfens«: »Werden« kommt in der Wettszene zuerst so vor: »Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen …«. Faust verwendet das Wort »werden« hier ebenso wie kurz darauf im Satz »Werd’ ich zum Augenblicke sagen …« im Futur I und im Indikativ: auf die Zukunft bezogen und in der Wirklichkeitsform. R Dann darf ich es übernehmen, den grammatikalischen Unter­ schied zur Verwendung des Wortes »dürfen« herauszuarbeiten: »dürft’ ich sagen« ist Konjunktiv II und damit die Möglichkeitsform einer Aussage über ein zukünftiges Ereignis, das einem Wunsch oder einer Hoffnung entspricht: »Dass sich das größte Werk vollende, / Genügt ein Geist für tausend Hände.« Die Vollendung des durch seinen »Geist« initiierten Deichbaus und die Landgewinnung für Millionen wären für Faust »der allerschönste Preis«. W Erst und nur im Falle der Vollendung seines visionären Werkes »dürfte« er »zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön!« Der Konjunktiv wird hier als »Konditionalis« verwendet: Er bezieht sich auf die Bedingungen, bei deren Eintritt die gehegte Hoffnung erfüllt und »Verweile doch …« gesagt werden »dürfte«.

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R Die geradezu atemlose Wandlung des maßlos herrscherlichen Faust, vor dem die beiden Alten weichen müssen, weil er seinen »Weltbesitz« durch deren Hütte verdorben fühlt, in einen spendablen Gönner, der »vielen Millionen« Räume eröffnen will, erscheint mir ebenso willkürlich wie die Rettung des Gescheiterten. W Buchstäblich mit dem letzten Atemzug bringt Faust zum Aus­ druck, was ihm die visionäre Erfüllung seiner Hoffnung bedeutet: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.« R Dieses vorweggenommene Genießen des »höchsten« Augenblicks kann nicht anders als paradox genannt werden. W Die Paradoxie entsteht aus der Verbindung des Glücks, das ewig währen soll, mit dem Ende des Strebens. Der erreichte Augenblick hebt in seiner Intensität die Zeit auf. Es handelt sich demnach um eine philosophisch anspruchsvolle Paradoxie eines Zusammentreffens von Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit. R Damit können wir auf die Kritik des Faustischen Strebens zurück­ kommen. Mit Mephisto haben wir gesagt, es dringt »ungebändigt« vorwärts, ist »übereilt« und »überspringt« der Erde Freuden. Auch sein Schaffensdrang kennt am Schluss keine Grenzen. Sein Wille zur Macht, zur Herrschaft über ein Weltreich, scheut keine Opfer. W Trotzdem sollten wir uns fragen, ob Faust am Ende der Tragödie nicht doch ein anderer ist als am Anfang. Ein Indiz dafür ist sein Wunsch, »Magie« von »seinem Pfad« zu entfernen, die »Zaubersprü­ che« zu verlernen, um »ein Mann allein« und »der Mühe wert, ein Mensch zu sein«. R Wir haben ja schon erwähnt, dass Faust angesichts seines bevor­ stehenden Endes, dessen er sich aufgrund des düstren »Reimwort Tod« wohl bewusst ist, sein zukünftiges »paradiesisch Land« »vielen Millionen« eröffnen möchte.

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W Ist es denn vorstellbar, dass er alt geworden, ohne Ausgriff auf etwas, das ihn »Äonen« überdauert, einfach abtritt, indem er tot zusammensinkt? Nur mit dieser Vision kann er illusionieren, sein Leben vollendet zu haben. R Und der Dichter muss ein plausiblen Grund anführen, damit er Faust die erfüllenden Worte vom »höchsten Augenblick« sprechen lassen kann. Insofern ist der Dichter der Retter Fausts, weil er ihm die vollendende Vision gönnt. W Dann stellt sich aber die Frage, was es bedeutet, auf dem grü­ nen »Gefilde« des neu geschaffenen »fruchtbaren« Marschlandes »Räume« zu eröffnen, die »vielen Millionen … tätig-frei zu woh­ nen« erlauben. R Wer dort wohnt, wird durch Tätigkeit frei: durch Pflege des Dei­ ches, der Äcker und Felder. Die Wortverbindung »tätig-frei« schließt für mich ein anderes Freiheitsverständnis aus. W Vor allem hielte ich es für verfehlt, in den wenig später folgenden Vers, der zum geflügelten Wort wurde, ein Bekenntnis zu politischer Freiheit hineinzudeuten. R Volle Zustimmung: »Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn« bedeutet für die »Millionen« Bewohner keinesfalls, zu den »Millionen Königen« zu werden, die in Schillers »Don Karlos« ein leidenschaftli­ ches Bekenntnis zu einem politischen Freiheitsbegriff im Geiste des Republikanismus darstellen: Der Appell des Marquis Posa, »Ich kann kein Fürstendiener sein«, gegenüber Philipp von Spanien, »von Mil­ lionen Königen ein König« zu werden, galt den Millionen Spaniern, die aus ihrer bisherigen Rolle befreit werden sollten, bloße Diener zu sein. W Goethe war ein Leben lang überzeugter Monarchist. Dazu mag hier ein Zitat aus »Herrmann und Dorothea« genügen: »Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein / Und für den Edeln ist kein schöner Glück / Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen.« Daher kann dem »freien Volke« an dieser Stelle nicht der Charakter einer republikani­

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schen Bürgerschaft zugesprochen werden. Es sind schlicht und einfach die Millionen Menschen, die dort wohnen und aus eigenem Antrieb »tätig-frei« sind. R Dieser »eigene Antrieb« stellt den wesentlichen Unterschied zu Faust dar: Bis zuletzt blieb er ein Getriebener Mephistos. Auch an seinem Lebensende ist er nicht in der Lage, den sichtbaren Erfolg des Deichbaus zu genießen. W Wir können also keine wesentliche Wandlung Fausts konstatieren. Letztlich hat er im Bund mit dem Teufel verlernt, Mensch zu sein. Er ist – um es mit unserem ersten Titelbegriff zu sagen – dem Teufels­ kreis nicht entronnen, in den er sich durch den Bund mit Mephisto begeben hat. Auch die Ursachen seiner Irrtümer liegen innerhalb dieses teuflischen Kreises: Er irrt darin, die Magie beherrschen, die Welt erkennen, Gretchen retten, Helena festhalten und sich selbst orientieren zu können. R Fragen wir uns rückblickend, inwieweit sich innerhalb dieses teuf­ lischen Kreises, den zunächst ein schwarzer Pudel um Faust gezogen hatte, Mephistos Rätselwort erfüllt hat, er sei »Ein Teil von jener Kraft/ Die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. W Von Gutem im Schaffen Mephistos kann in der gesamten Tragödie nicht ernsthaft die Rede sein, selbst wenn er in Gestalt Phorkyas’ Helena vor dem tödlichen Zugriff Menelaos’ rettet und Faust zuführt. R Im Gegenteil: der listige Betrüger war letztlich nur darauf aus, Fausts Seele zu erhaschen. Nur wenn sich sein Rätselwort bewahr­ heitet hätte, könnte ich auch die Erlösungsworte der Engel für bare Münze nehmen. W Aber auch sie täuschen – in irritierend ähnlicher Weise wie Mephisto –, wenn sie die Taten Fausts als immerwährendes Stre­ ben ausgeben. R Was sagt Goethe selbst zu der für uns unerklärlichen Rettung des verstrickt Irrenden? Eckermann notiert 1831: »Wir sprachen sodann über den Schluss, und Goethe machte mich auf die Stelle aufmerksam, wo es heißt: Gerettet ist das edle Glied … mit herzlichem Willkom­

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men. ›In diesen Versen‹, sagte er, ›ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten. In Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hülfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.‹“ W Mit diesem Urteil des alten Goethe bin ich keineswegs einverstan­ den. Eine »immer höhere und reinere Tätigkeit« kann ich auch im zweiten Teil der Tragödie nicht erkennen. Zwar könnten wir Goethes Erklärung, »dass ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besse­ ren aufstrebender Mensch zu erlösen sei«, durchaus zustimmen, doch widerspricht das poetische Handlungsgeschehen einer solchen Deu­ tung. R Bis zuletzt beharrt der Dichter jedoch auf dieser Deutung. Das Verhältnis der beiden Teile seiner Tragödie bestimmt er wie folgt: »Der erste Teil ist fast ganz subjektiv; es ist alles aus einem befan­ generen, leidenschaftlicheren Individuum hervorgegangen, welches Halbdunkel den Menschen auch so wohl tun mag. Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt …«. W Es steht uns jedoch frei, in Fausts Schaffen ein geradezu sich stei­ gerndes Scheitern zu erkennen, das eine Erlösung nicht begünstigt. Ich gebe auch zu bedenken, dass eine Erlösung mit der poetologischen Bezeichnung »Tragödie« konfligiert. R Zu fragen ist auch, wovon denn Faust erlöst werden soll: von seiner Schuld, vom Irrtum, aus seinen Verstrickungen oder vom Scheitern? W Erlösung ist nicht irgendeine christliche Kategorie, sondern das Kernwort der christlichen Religion. In beiden Teilen der Tragödie spielt Religion keine entscheidende Rolle, mit Ausnahme des Dialogs in der Gretchentragödie. R Und selbst dort bekennt sich Faust nicht zur kirchlich-christli­ chen Auffassung.

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W Im Unterschied zu Gretchen wird Faust nicht wie sie »gerettet«, sondern erlöst. Entsprechend ihrem Kirchenglauben wäre Erlösung für sie das treffendere Wort. R Und angesichts der pantheistischen Vorstellung des Dichters wäre für Faust eine Rettung angemessen, eine Erlösung hingegen äußerst problematisch. W Und dennoch hat sich Goethe für die Erlösung entschieden … R ... die jedoch in banal-blasphemischer Weise beginnt als kämpfe­ rische Auseinandersetzung der Satane Mephistos mit den Engeln, die ihm zuletzt seine »Beute« »pfiffig weggepascht« haben und »himmel­ wärts entflogen« sind. W Bedenken wir trotzdem noch eine andere Alternative, die eine Erlösung rechtfertigen könnte. Ich halte den Vers im Prolog für Goethes Grundüberzeugung: »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt.« Philosophisch bedeutet dies, dass Irren konstitutiv für Menschsein ist. R Irren ist dann nicht als Verfehlen zu verstehen, sondern es wird im Zusammenhang mit Streben positiv bewertet. In theologische Sprache übersetzt, heißt dies: Irren ist keine Sünde. W Weil Goethe Faust als Paradigma des irrend Strebenden gestaltet, wird für den Dichtervater die Erlösung seines literarischen Sohnes möglich. Goethe dichtet damit das menschliche Paradoxon, dass zur sonnenhaften Größe auch lange Schatten zu erwarten sind. Reines Gelingen gehört nicht zur menschlichen Natur. Heilige sind vermut­ lich langweilig. R Weshalb es Goethe nicht irritiert hat, seine pantheistischen Vor­ stellungen mit göttlicher Gnade zu verbinden, bleibt trotzdem rätsel­ haft. W Goethe bekennt sich ausdrücklich zur Ambivalenz seines Werkes. Gegenüber Eckermann gibt er offen zu – und hier möchte ich die Äußerung, auf die wir im zweiten Kapitel bereits eingegangen sind, noch einmal im Ganzen zitieren –: »Der ›Faust‹ ist doch ganz etwas Inkommensurables, und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu

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bringen, sind vergeblich. Auch muss man bedenken, dass der erste Teil aus einem etwas dunkelen Zustand des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen.« R Und genau dies reizt uns, philosophisches Licht ins literarische Dunkel zu bringen. In kritischer Distanz zu Fausts Selbsttäuschung wird die Interpretation – »auf eigene(n) Faust« – in einer Philosophie der »Selbstorientierung« enden.

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Der Faustischen Philosophie zweiter Teil Wie ein Leben auf eigene(n) Faust gelingen kann

1. Lebensfreude W Im ersten Teil unserer »Faustischen Philosophie« lieferte Goethes Schauspiel den literarischen Stoff für drei Themen: das Drama des Gelehrten, die Tragödie Gretchens und die Geschichten des Schei­ terns. Im zweiten Teil behandeln wir komplementär dazu die Themen Lebensfreude, Liebesglück und Selbstorientierung. R »Komplementär« ist diese Behandlung, weil wir das Gelehrten­ drama, die Gretchentragödie und die Scheiternsgeschichten um den philosophischen Gehalt ergänzen, der sich nach unserer Interpreta­ tion aus der dichterischen Gestalt der drei Themen ergibt. Angesichts der klaren Aussage Goethes, sich »von der Philosophie immer frei erhalten« zu haben, kann diese Interpretation nicht »authentisch« sein. Was sie beansprucht, sagt der Untertitel des zweiten Teils unse­ rer Faustischen Philosophie: ein philosophisches Gespräch darüber zu führen, »Wie ein Leben auf eigene(n) Faust gelingen kann«. W Um konkret zu werden: »Lebensfreude« als Gegenstand des vor­ liegenden Kapitels ist die philosophische Komplementärkonzeption zum Gelehrtendrama, in dem Faust selbst beklagt, ihm sei »alle Freud’ entrissen«, »alle Lebensregung« gehemmt und »die leichte Lebens­ art« verloren gegangen. Psychologisch gesprochen leidet der Gelehrte des Dramas in »Faust I« unter einer schweren depressiven Verstim­ mung. R Wir nehmen das Thema der Lebensfreude aber nicht in psycho­ logischer, sondern in philosophischer Absicht in Angriff. Im Sinne der Komplementarität gehen wir dabei von Fausts eigener Lust-Kon­ zeption aus: »Lass in den Tiefen der Sinnlichkeit / Uns glühende

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Leidenschaften stillen! / … Da mag dann Schmerz und Genuss, / Gelingen und Verdruss / Mit einander wechseln, wie es kann; / Nur rastlos betätigt sich der Mann.« W Die Rastlosigkeit seines Erkenntnis- und Schaffensstrebens bestimmt also zunächst auch die Vorstellung des Genusses sinnlicher Lust. Erst Mephisto stellt ruhiges Genießen in Aussicht: »Die Zeit kommt auch heran, / Wo wir was Guts in Ruhe schmausen mögen.« Und eben darauf reagiert Faust mit den beiden eingehend erläuterten Sätzen »Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen …« und »Werd’ ich zum Augenblicke sagen …«. R Fausts Vorstellung, dass »der Mann« sich »nur rastlos« betätige, ist höchst aktuell: Unser gesamtes Leben gleicht einem Konkurrenz­ kampf eines jeden gegen jeden, in dem es nicht nur darum geht, wer der Bessere ist, sondern immer auch darauf ankommt, der Schnellere zu sein. Als »Macher« wird bewundert, wer sich seine Ziele so setzt, dass er sie als erster erreicht. Der Homo faber unserer Tage ist auch in seiner Freizeit ziel- und zweckorientiert. Selbst die Lust, Sport zu treiben, unterwirft er dem Diktat seines Fitness-Armbands. W Vom genauen Gegenteil dieser »verzweckten« Lust geht Aris­ toteles als Altmeister der Philosophie eines gelingenden Lebens, »eudaimonia«, aus. Er behandelt die Lust, die ganz wesentlich zum Glück der Eudämonie gehört, im Zusammenhang eines Tätigseins, das kein Mittel zur Erfüllung bestimmter Zwecke ist und nicht dem Erreichen eines gesetzten Zieles dient, sondern um seiner selbst willen praktiziert wird. R Die hier zugrundeliegende Unterscheidung ist diejenige zwischen »praxis« und »poiesis«: In der »praxis« geht es um das »reine Tätig-Sein«, in der »poiesis« um das Ergebnis einer Tätigkeit: das hergestellte Werk, »ergon«. Poietische Tätigkeiten bezwecken die Herstellung eines Werkes, während in der »praxis« das Ziel im Handeln selbst liegt. W »Praktisches« Tätig-Sein verfolgt keine äußeren Zwecke, sondern ist selbstzweckhaft. Da das telos innerhalb des Handelns liegt, prägt Aristoteles dafür wie erwähnt das Kunstwort entelecheia. Als Beispiel nenne ich ein »zweckloses« Wandern, das weder der Erholung noch

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der Fitness dienen soll, sondern schlicht und einfach dem Wandern als solchem: dem Wandern um des Wanderns willen. Wer wandert, um zu wandern, kann dabei eine Lust am Wandern erleben, die so zwecklos ist wie das Wandern selbst. R Aristoteles charakterisiert diese Art des zwecklosen oder »reinen« Tätigseins durch den Begriff »energeia«. Damit umschreibt er die Vollzugsform einer Tätigkeit, die in sich erfüllt und vollkommen ist. Reines Tätigsein ist zweckfrei und ziellos und wird aus Lust vollzogen. Dabei liegt der Fokus auf der Lust als Quelle des selbstzweckhaften, des entelechialen Handelns. W Deshalb nennen wir diese Art der Lust in Aristotelischer Tradi­ tion »entelechiale Lust«. Sie entsteht nicht erst dadurch, dass das strebende Handeln sein Ziel erreicht, sondern umgekehrt, das Streben entsteht dadurch, dass Lust erfahren wird. R Der zentrale Satz lautet: »Die Lust erhebt das Tätig-Sein zu einem vollkommenen Akt … als eine am Tätig-Sein sich entwickelnde Vollendung.« Die Lust ist »in dem Tätigsein enthalten«. Sie ergibt sich nicht durch die Handlung, sondern liegt in ihr selbst. Um gegen die herkömmliche Auffassung der Entstehung von Lust geradezu anzu­ schreiben, wiederholt Aristoteles diese Redewendung mehrmals: »Und es ist die Lust, die das Wirken zu einem vollkommenen Akt erhebt.« Und an anderer Stelle: »Nun ist es aber die Lust, die jedes Wirken zu einem vollkommenen Akt erhebt.« W In heutiger Alltagssprache könnte man sagen: Was ohne Lust getan wird, geschieht nur »halbherzig« und ist damit nicht vollkom­ men. Die fehlende Lust mindert das Wirken und macht es unvoll­ kommen. Und umgekehrt: Die Lust bewirkt, dass Halbherzigkeit vermieden wird. Lustlosigkeit taugt nicht zu Vollkommenheit. R Die zweite Hälfte des von dir nur halb zitierten Satzes lautet: »Nun ist es aber die Lust, die jedes Wirken zu einem vollkommenen Akt erhebt und somit auch das Leben, wonach die Menschen begehren.« Die Lust lässt also nicht nur einzelne Handlungen gelingen, sondern das Leben insgesamt. Sobald wir von einem gelingenden Leben sprechen, meinen wir ein geglücktes und daher glückliches Leben. Ein glückliches Leben ohne Lust ist nicht vorstellbar.

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W Daher spricht Aristoteles von der allgemeinen Überzeugung, dass »das glückliche Leben ein lustvolles Leben« ist, »und man verflicht die Lust mit dem Begriff des Glückes, mit gutem Grund, denn keine Form der Aktivität ist vollendet, wenn sie sich nicht ungehindert entfalten kann«. R Diese Gelingens-Lust macht Leben lebenswert und bereichert es. Das gelingende Leben ist ein lustvolles Leben. Lust und Leben gehören wie im guten und schönen Wort »Lebenslust« buchstäb­ lich zusammen. W Dazu schreibt Aristoteles: »Ob wir aber das Leben um der Lust willen oder die Lust um des Lebens willen wählen, das sei im Augenblick dahingestellt. Denn offenbar ist beides eng miteinander verbunden und lässt keine Trennung zu.« Es kommt aber darauf an, zu erfassen, dass Aristoteles die Gelingens-Lust nicht als eine Lust »zum« Gelingen versteht, sondern als Lust »im« Gelingen. Sie ergibt sich aus diesem: Sie »folgt« der Tätigkeit und vollendet das gelingende Wirken. R Der Philosoph Wolfgang Welsch spricht bezüglich dieser Lust von »der Art einer hinzukommenden Erfüllung«, einem »Übererfül­ lungs-Moment erfüllter Wirklichkeit … als Zugabe … als ein im Gelingen geschenkter Mehrwert«. Welche Art der Bereicherung die Lust im gelingenden Handeln bewirkt, erörtert er im Fortgang seiner Betrachtung. Ich zitiere: »Die Intensität des Wirkens wird durch die zugehörige Lust erhöht. Denn wer sein Werk mit Lust und Liebe tut, der gewinnt in jeder Einzelheit das bessere Urteil und die größere Genauigkeit.« W Gleich anschließend ist zu lesen: »Und wer mit Lust und Liebe der Musik oder der Baukunst ergeben ist, macht entsprechende Fortschritte in seinem eigensten Bereich, indem er daran seine Freude hat. Also: Lust intensiviert.« R Entelechiale Lust ist mit dem Glück der Aristotelischen »eudaimo­ nia« eng verwandt. Seine berühmte Formel »Alle Menschen streben nach Glück« hat deshalb auch die Bedeutung: Alle Menschen streben nach Lust. Denn in Aristotelischer Tradition ist Lust notwendige Bedingung und als solche integrales Moment von Glück. Lust und

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Glück sind also weder identisch, noch ist Lust hinreichende Bedin­ gung von Glück. Wenn aber die Menschen nach beidem streben, dann sollten wir klären, was Aristoteles mit Streben meint und wie es sich von jenem übertriebenen und übereilten Streben unterscheidet, das Fausts Schicksal bestimmt. W Streben im Aristotelischen Sinne fällt nicht in den Bereich der poiesis und hat nicht den Sinn des Herstellens. Das lässt vermuten, dass es gewissermaßen zielüberschreitend ist. Es überschreitet die Ziele poietischen Herstellens in Richtung auf ein Ziel anderer und höherer Art. R Meistens wird es als »Endziel« bezeichnet, manchmal auch als »letztes Strebensziel«. Lass mich dazu das Aristotelische Original in einer Übersetzung zitieren, die sehr schön betont, worauf es ankommt: »Als Endziel in höherem Sinne gilt uns das seiner selbst wegen Erstrebte«, also das, »was allezeit seinetwegen und niemals eines anderen wegen gewollt wird.« W Noch deutlicher wird er an anderer Stelle: »Wenn es nun wirklich für die verschiedenen Formen des Handelns ein Endziel gibt, das wir um seiner selbst willen erstreben, während das übrige nur in Richtung auf dieses Endziel gewollt wird … dann ist offenbar dieses Endziel das Gut, und zwar das oberste Gut.« R Seine Argumentation gipfelt in der Einheit von Glück und Endziel des Handelns: »Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Glück. Denn das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck.« W Und ich ergänze: »So erweist sich denn das Glück als etwas Vollendetes, für sich allein Genügendes: Es ist das Endziel des uns möglichen Handelns.« R Jetzt kommt es darauf an, wie wir dieses Streben nach dem Endziel des Glücks interpretieren. Wenn es richtig ist, dass Lust integrales Moment des Glücks ist, dann kann man das Gefühl gelingenden oder eben glückenden Handelns als Lust bezeichnen.

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W Dabei ist der entelechiale Aspekt des Glücksstrebens unbedingt zu berücksichtigen. Ich meine damit die innere Zielstrebigkeit, in der ein als lustvoll und beglückend empfundenes Handeln sich selbst ver­ wirklicht. R Damit bin ich völlig einverstanden. Das bedeutet, der Mensch strebt bei Aristoteles wie alles Lebendige nach der Erfüllung seines Seins. Glücksstreben könnten wir in diesem Sinn als Ganz-sein-Wol­ len verstehen. Für Aristoteles bedeutet Eudämonie ein gelingendes Leben beziehungsweise ein Leben, das im Höchstmaß des Vollendens gelingt. Die große Frage ist jedoch, wie, auf welche besondere Weise das Leben in einem solchen Höchstmaß gelingen kann. W Darauf hat Aristoteles eine Antwort, die heutzutage gewiss nicht jedem einfällt und die auch nicht jedem gefallen wird. Auf eine einfache Formel gebracht: Gelingendes Leben ohne tugendhaftes Handeln ist nicht möglich. Umgekehrt formuliert und zugespitzt gesagt: Nach Aristoteles kann ein tugendloser Mensch kein vollende­ tes Glück genießen. R Blicken wir kurz zurück auf Faust: Er hat die Tugend ausgeblendet. Schließlich hat er sich mit Mephisto verbündet, den man in die­ sem Zusammenhang als Personifikation der Tugendlosigkeit bezeich­ nen könnte. W Fausts egomanisches Streben hat keinen Sinn für ein zu verant­ wortendes Gegenüber, weder im ersten noch im zweiten Teil. Sein Glücksverständnis hat er nebulös im »schönen Augenblick« versteckt, den er im Genuss verewigen möchte. R Dazu sollten wir nochmals den originär Aristotelischen Terminus für Glück aufgreifen: »eudaimonia«. In dieser Zusammensetzung findet sich die Vorsilbe »eu«, auf Deutsch »gut«, und das Haupt­ wort »daimonion«, das man am besten als »Geistigkeit« interpre­ tiert. Eudaimonia wäre somit als Gutgeistigkeit oder Gutgesinntheit zu verstehen. W Glück und Gutgesinntheit sind folglich nicht zu trennen. Bei der Umkehrung des Wortpaares bekommt das Glück eine besondere Note: Wenn es sich um eine Gesinntheit handelt, die das Glück

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ermöglicht, oder gar, wenn das Glück in der Gutgesinntheit liegt, dann ist es kein erstrebenswerter Endzustand, sondern eine erstre­ benswerte Grundhaltung, aus der »Glück« erwächst. Eudaimonia wäre dann ein Grundhandlungsvollzug, kein Endzustand und kein Ergebnis von Handlungen. R Wenn Aristoteles die eudaimonia als Endziel allen Tätigseins definiert, dann ist damit nicht gemeint, dass ein Ende erreicht ist, sondern »endigen« ist hier als »vollendigen« zu verstehen. W Die Verbindung von eudaimonia und Endziel kann zu der falschen Vorstellung verleiten, dass das Streben endet, wenn das Glück erreicht ist. Glück erfüllt sich in Tätigkeiten, die in sich erfüllend sind, sozusa­ gen sinn-erfüllend und deshalb auch lustvoll. R Was wir dann als »gelingen« interpretieren können. Aber sie, die eudaimonia, realisiert sich vorzüglich in tugendhaften Handlungen. Und diese haben – wie gesehen – nicht die eudaimonia zum Ergebnis, sondern in ihnen vollzieht sich eudaimonia als Gut der Seele. Da Aristoteles gelingende oder sinnerfüllende Tätigkeiten als lustvoll begreift, können wir die Glückslust der eudaimonia dem seelischen Bereich zuordnen. W Weiterhin legt Aristoteles Wert darauf, dass eudaimonia kein Habitus ist. Dazu sagt er: »Nur möchte es keinen kleinen Unterschied machen, ob man das höchste Gut in ein Besitzen oder ein Gebrauchen, in einen bloßen Habitus oder in eine Tätigkeit setzt. Der Habitus kann ja, wie z. B. bei einem, der schläft oder sonstwie ganz untätig ist, vorhanden sein, ohne irgend etwas Gutes zu verrichten, der Aktus, die Tätigkeit, aber nicht. Denn sie wird notwendig handeln und gut handeln.« R Tugendhaftigkeit als Habitus reicht folglich nicht aus, sondern es kommt auf das Handeln an. Nur in Tätigkeiten, die das Gute vollziehen, erfährt der Gutgesinnte jene Lust und innere Erfüllung, die Aristoteles ›eudaimonia‹ nennt. W Womit wir erneut rückschließen und bekräftigen können, dass diese Lust seelisch verfasst ist.

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R Das betont Aristoteles ausdrücklich: »Lust genießen ist etwas Seelisches, und lustbringend ist für jeden dasjenige, wovon er ein Liebhaber ist … und überhaupt [ist] das Tugendgemäße für den Freund der Tugend lustbringend.« Aristoteles’ philosophische These lautet nach dieser Betrachtung: Tugendhaftes Handeln ist aus sich selbst heraus lustvoll und erfüllend. Es beglückt. W Mir fällt dazu eine Stelle aus der Nikomachischen Ethik ein: »Sitt­ lich wertvolle, d. h. tugendhafte Handlungen müssen … gleichzeitig für den Tugendhaften … mit Lust verbunden sein. Daher bedarf auch sein Leben der Lust nicht wie einer äußern Zugabe, sondern es hat dieselbe schon in sich. Denn abgesehen von dem Gesagten ist der nicht wahrhaft tugendhaft, der an sittlich guten Handlungen keine Freude hat, und niemand wird einen Mann gerecht nennen, wenn er an gerechten … Handlungen keine Freude hat.« R Wenn dem aber so ist, müssen tugendgemäße Handlungen nach Aristoteles nicht nur »an sich lustvoll«, sondern auch noch »schön und gut« sein, »und zwar dieses alles im höchsten Maße«. »Schön und gut«, altgriechisch »kalos kai agathos«, ist in der Gebrauchssprache der Gegenwart zu einer banalen Floskel geworden, die nichts mehr von der Größe der »kalokagathia« enthält – jener Seelengröße des Gutgesinnten, die ihn charakterlich als »Schönguten«, »kaloskaga­ thos«, auszeichnet. W Wie weit wir heute von einer solchen Auszeichnung des vollende­ ten Charakters eines ganz und gar tugendhaften Menschen entfernt sind, zeigt schon die Tatsache, dass der oder das »Schöngute« im Deutschen wie ein Fremdwort wirkt … R … als Wort aus einer Vergangenheit von Charaktereigenschaften des Ehrenmannes, die den Erfolgsmenschen in den Leistungsgesell­ schaften unserer globalisierten Welt fremd geworden sind. W Wir erinnern an diese Vergangenheit der »kalokagathia«, weil sie für uns eine vom Versiegen bedrohte Quelle der Lust und des Glücks enthält. Mir drängt sich bei dieser Erinnerung ein Vergleich mit Kant auf. Im ersten Abschnitt der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« wählt er ein markantes Beispiel, um die Lust, Gutes zu tun, zu schmähen und dagegen die Pflicht zum Wohltun zu preisen.

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R Ja, ich erinnere mich mit Schrecken, denn er wählt als Beispiel einen verdrießlich vergrämten Menschen, der von kaltem Tempera­ ment gleichgültig gegen die Leiden anderer ist und keine Freude am guten Tun hat, aber aus Pflicht dennoch wohltut. W Die Freudlosigkeit dieses Tuns wird bei Kant geradezu ein Krite­ rium für sittliches Handeln aus Pflicht. R Einen größeren Unterschied als zwischen Kantischer Pflichten­ ethik und Aristotelischer Glücksethik kann man sich kaum vorstellen. Kants Pflichtkonzeption schließt Glücksstreben kategorisch aus. W Dagegen geht es in der Glücksethik des Aristoteles um das Ganz­ werden des Menschen. Wer glücklich werden will, und das wollen ihm zufolge alle Menschen, will – nicht muss oder soll – gut handeln und aus Lust handeln. Weil der Aristotelische Begriff der eudaimonia auf das »Ganzwerden« des Menschen abstellt, enthält er keine allgemein­ gültige Inhaltsbestimmung des guten Lebens. Eben deshalb konnte eudaimonia zum zentralen Begriff der griechischen Ethik werden … R … und wiederum deshalb können wir noch heute daran anknüp­ fen. W Beim Wort »kalokagathia« bin ich im positiven Sinne gestolpert und habe mich an den »schönen Augenblick« erinnert. Vielleicht ist in dieser Formel die Einheit von Lust und Schönheit angesprochen. Und im Geiste des Aristoteles stellt ja die Lust etwas Gutes dar. R Allerdings darf die Lust nicht wie bei Faust auf Tugend verzichten. W Um sein wahres Glück zu erfahren, reicht es jedoch nicht aus, über einzelne Tugenden zu verfügen. Die vollkommene Tugendhaftigkeit im Hinblick auf ein im ganzen gelingendes Leben liegt nach Aristote­ les in der »megalopsychia«. Wörtlich bedeutet dies so viel wie Groß­ beseeltheit oder Seelengröße. Die von uns erläuterte »kalokagathia« ist dafür Voraussetzung. Ich finde den Ausdruck »Großgesinntheit« am treffendsten.

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R Dann befindest du dich in bester Gesellschaft mit dem Wörterbuch der antiken Philosophie, in dem »megalopsychia« mit »Großgesinnt­ heit« übersetzt wird. Weiter heißt es dort: »Der Großgesinnte zeich­ net sich durch ausgeprägtes, aber angemessenes Selbstbewusstsein aus, sowie durch Gelassenheit und Souveränität.« W Mit der Gelassenheit haben wir den Gegenbegriff zu Fausts rast­ losem Streben. Die alten Griechen sprachen von »ataraxia«, die alten Römer von »tranquillitas animi«. »Seelenruhe« oder »Gemütsruhe« wäre zwar eine korrekte Übersetzung, fraglich ist aber, ob ein so altertümliches Wort heute noch sinnvoll gebraucht werden kann. R Wenn wir Epikur folgen, der ersten Autorität der Antike in Sachen »ataraxia«, können wir diesem altgriechischen Begriff einen durchaus aktuellen Sinn geben. In einem Brief an seinen Schüler Menoikeus schreibt er, dass »die Freude (»hedone«) das A und O des glückselig gestalteten Lebens ist«. Dabei betont er ausdrücklich, »nicht die Freuden der Prasser« zu meinen, die dem »Wahn« grober Sinnenlust verfallen sind, der »wie ein Wirbelsturm die Seelen erschüttert«. W Das »klare Denken«, das solche Stürme meidet, führt zum ruhigen Genuss des Daseins in einem »vernünftigen, sittlich hochstehenden und gerechten Leben«. Denn die Tugenden sind »mit dem freudevol­ len Leben eng verwachsen«. Einfach »cool« sein zu wollen, reicht für diese Verbindung eines tugendhaften Lebens mit der Daseinsfreude und der Lebenslust eines wohlverstandenen Epikureismus nicht aus. R Im Original ist Epikurs »ataraxia« nur mit jenem »sittlich hoch­ stehenden« Anspruch zu haben, den Aristoteles mit dem Begriff der »megalopsychia« erhoben hat. Die Größe des Großgesinnten liegt dabei darin, tugendhaftes Handeln in einem Leben zu praktizieren, das gerade deshalb gelingt, weil es in vollendeter Tugendhaftigkeit gegenüber anderen, »pros heteron«, gelebt wird. W In dieser philosophischen Tradition kann ein tugendloses Leben kein gelingendes und damit auch kein glückliches Leben sein. R Das mag heute nicht mehr jedermann einleuchten, sollte in einer aus den Fugen Aristotelischer und Epikureischer Tugendhaftigkeit geratenen Welt aber einmal ernsthaft bedacht werden.

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W Der Großgesinnte lebt aus der Grunderfahrung einer Dankbar­ keit, die niemandem etwas schuldet. Aber diese nicht-geschuldete Dankbarkeit gründet in der Erfahrung des Gelingens. Und der im Gelingen gesprochene schlichte Satz »Ich bin dankbar« reicht mit seinem »bin« in die existenzphilosophische Tiefendimension des Seins. In solcher Dankbarkeit atmet das große Glück des Gelingens. Der auf diese Weise Glückliche erfährt die Fülle des Seins. R Mir erschiene es ratsam, dazu nochmals den Meister zu hören. W Dann lass ihn sprechen! R »Dem Großgesinnten geht es um das Edle und er handelt mit Lust und überströmend … Notwendigerweise ist der Großgesinnte auch großzügig … Das Eigentümliche der megalopsychia scheint das Große in jeder Tugend zu sein … So erweist sich also der hohe Sinn gleichsam als krönende Zierde jeglicher Trefflichkeit.« Aus diesen Formulierungen schließe ich, dass Großgesinntheit nicht eine unter den anderen Tugenden ist, sondern die vollendende Form aller Tugenden, »das Große in jeder Tugend«. W Folglich ist der Großgesinnte ein Ehrenmann, der nicht nach Ehre giert, weil er über Applaus erhaben ist. »Es ist nicht seine Art, sich an Dinge heranzumachen, die zu Ansehen bringen oder wo andere die erste Rolle spielen … Ihm steht die Wahrheit unvermeidlich höher als Menschenmeinung, und er kann nicht anders als offen reden und handeln, denn er ist voller Freimut.« Seine Großgesinntheit ehrt ihn. Die betreffende Ehre kommt aber nicht von außen, sie liegt in ihm selbst. R Man kann die Großgesinntheit, den großen Sinn, auch als den hohen Sinn übersetzen. Das Hohe liegt nicht in einer virtuellen jenseitigen Höhe, sondern es ist eine reale Möglichkeit, zu sein. Und sogar die vortrefflichste Seinsmöglichkeit, das Leben gelingen oder in vollendeter Weise glücken zu lassen. W Unbedingt! Der Großgesinnte hat nicht nur den hohen Sinn entwickelt, sondern er strebt auch nach dem Hohen, moralisch – für sich selbst – und ethisch – für die anderen – Guten. Sein groß- und gutgesinntes Handeln lässt ihn groß werden und edel.

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R Offensichtlich ist diese Sichtweise nicht gänzlich verlorengegan­ gen, wenn ich kurz an Goethes Wort erinnern darf: »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.« Auch damit steht Goethe – wie in seiner Wertschätzung der Entelechie – in Aristotelischer Tradition. W Sicherlich, aber mir scheint, dass Goethe damit ein Ideal des Menschen zeichnet. So »soll« er sein, der Mensch, so »ist« er in der Regel aber nicht. R Und im Anschluss an diese Überlegung stellt sich die Skepsis ein, ob Aristoteles mit dem Großgesinnten nicht ebenfalls ein ideales Sollen entworfen hat, nach dem es zu streben gilt. W Du meinst, er habe nicht in empirischer Manier Menschen beschrieben, die von »großer« Art und Gesinnung waren, sondern einen Typus idealisiert, in dem eudaimonia als Endziel seiner Ethik philosophische Gestalt gewinnen konnte. R Ja, du hast meine Vermutung treffend beschrieben. W Warum sollte ausgerechnet der Großgesinnte der wahrhaft Glück­ liche sein, wenn die Philosophie der megalopsychia nicht auf lebens­ gesättigter Erfahrung beruhte. Natürlich stellen die Großgesinnten keine Mehrheit dar. Aber jemand von ihrer Art zu sein verwirklicht jenes Menschsein, nach dem jeder Einzelne streben kann. R Die Aristotelische Glücksethik hat insoweit appellative Züge, ist aber von einer Sollensethik im Platonisch-Kantischen Sinne deutlich zu unterscheiden. Schließlich war Aristoteles der erste namhafte Kritiker der Ideenlehre Platons. W Wenn es bei ihm heißt: »Wir philosophieren nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden«, dann ist damit eigentlich alles gesagt. R In dieser Weise zu philosophieren liegt der ethische Anspruch des Aristoteles. Der tugendhafte Mensch, der diesen Anspruch erfüllt, braucht kein »philosophos« zu sein, kein Freund der Weisheit; Aris­

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toteles verlangt aber von ihm, ein Freund, »philos«, der Tugend, »arete«, zu sein, und nennt ihn deshalb mit einem von ihm erfundenen Wort »philaretos«. W Das ist ein schöner Name – zumal in der Aristotelischen Verbin­ dung mit jenem tugendhaften Handeln, das für den Tugendfreund, analog dem Freund der Gerechtigkeit: philodikaios, mit Lust und Freude, »hedone«, verbunden ist. R Du hast »hedone« nicht nur mit »Lust« übersetzt, sondern »Freude« hinzugefügt und damit den Aristotelischen Gebrauch des Wortes genau getroffen. Was heute unter »Hedonismus« verstanden wird – die Sucht nach sinnlichen Genüssen –, findet sich bei Aristo­ teles ebenso wenig wie bei Epikur. W Zu Epikur sollten wir noch seine Bedeutung für die Stoa erwäh­ nen – eine in Athen gegründete und stark auf Rom ausstrahlende Philosophenschule, deren Wirkung nicht auf die Antike beschränkt blieb. »Stoiker« im ernsthaft philosophisch verstandenen Sinne dieses Etiketts gibt es bis heute. Unser Thema der »ataraxia« hat der ameri­ kanische Theologe und Philosoph Reinhold Niebuhr in einem recht bekannt gewordenen »Gelassenheitsgebet« behandelt … R … in dem es um die »Gelassenheit« geht, Dinge hinzunehmen, die nicht zu ändern sind, den »Mut«, Dinge zu ändern, die man ändern kann, und die »Weisheit«, beides zu unterscheiden. Im Original heißt die erste Tugend »serenity«. Das ist das englische Lehnwort für die lateinische »serenitas«. W »Serenitas caeli« bezeichnete im klassischen Latein die Heiterkeit des Himmels, die wir sehr gut als Metapher gebrauchen können, um die Grundgestimmtheit heiterer Gelassenheit in einem anschaulichen Bild zu beschreiben. Insofern finde ich bedauerlich, dass »Serenität« im Deutschen ein weitgehend unbekanntes Fremdwort geblieben ist. R Spätlateinisch wurde »serenitas« auch zur Bezeichnung für die Majestät des Kaisers. Übertragen auf deine »Grundgestimmtheit« könnte man den Liedvers »Und wer froh ist, ist ein König« so ergänzen: »Aber ein Kaiser ist, wer dazu noch heiter und gelassen ist.« So viel zur epikureischen »ataraxia« und zur stoischen »serenitas«.

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W Eine aktuelle Phänomenologie heiter-gelassener Lebensfreude findet sich in der Strukturphilosophie Heinrich Rombachs. Unter der Überschrift »Das Ich, das Selbst und das Bin« heißt es in seinem Buch »Die Welt als lebendige Struktur« zunächst, es sei »hoffnungslos falsch«, von »einem einzigen Ich auszugehen«. R Die »Multiegoität« des Ich als phänomenologischer Ausgangs­ punkt verlange, das »Selbst« zum »Zentral- und Orientierungspunkt« für die vielen Iche zu erklären. Als dynamische Grundkategorie der Rombach’schen »Strukturanthropologie« sorgt das einheitsstiftende »Selbst« dafür, dass die vielen Iche nicht auseinanderfallen. W Faustisch formuliert: Die vielen Iche bilden eine Welt, die ein starkes Selbst im Innersten zusammenhält. Fragen wir uns einmal nach den verschiedenen Ichen Fausts: Im ersten Teil der Tragödie ist er Magister der Wissenschaft, Liebhaber Gretchens und Mörder Valentins; im zweiten Teil wird er Ökonom, Militär und Ingenieur. Warum er in diesen verschiedenen Ich-Rollen sein Selbst nicht findet, liegt auf der Hand: Weil er sich dem Teufel verschrieben hat, konnte sich jene »lebendige Struktur« des Selbst im Sinne Rombachs nicht eigenständig aus Fausts Persönlichkeit herausbilden. R Es handelt sich nur um eine chronologische Abfolge von einzelnen Ichen, in denen sich Faust verwirklicht, aber eben nicht um eine aufbauende Struktur im Sinne einer Selbst-Bildung. W »Das Bin« ist die Kategorie in Rombachs Strukturanthropologie, die das jeweilige Ich in seinem Selbst-Sein aktualisiert, und zwar in einer konkreten Situation, in der beispielsweise ein Freund in einem Gespräch unter Freunden seine Freundschaft durch rückhalt­ lose Offenheit offenbart. R Sein »Bin« beantwortet beispielswiese die Frage, warum er eine für den anderen schmerzhafte Wahrheit nicht verschwiegen hat, mit dem schlichten Satz »Ich bin (!) doch dein Freund«. W In der Triade »Ich – Selbst – Bin« ist das »Selbst« mit der verbreiteten Rede von der »Selbstverwirklichung« nicht zu erfassen. Denn es geht nicht um eine sozusagen am Reißbrett entworfene Idee einer Persönlichkeit, die es entwurfsgemäß zu realisieren gilt, son­

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dern um eine »lebendige Struktur«, die im Gesamtzusammenhang der Lebenswirklichkeit und in konkreativer Auseinandersetzung mit anderen Gestalt annimmt. R Dem Dichter Goethe könnten wir vorwerfen, dass er die verschie­ denen Iche der Faustfigur wie auf dem poetischen Reißbrett – wenn dieser vielleicht etwas schiefe Ausdruck erlaubt ist – entworfen hat. Goethe selbst hat die entsprechenden Episoden als »inkommensura­ bel« bezeichnet. W Lass uns noch einmal auf den Modus der Sinnfindung zurück­ kommen. Rombach spricht in diesem Zusammenhang von einem »Sinn-Fluidum«, »das alle Einzelbedeutungen in einem fließenden Gesamtgeschehen hält«. Es gebe aber auch »Sinnfelder«, auf denen der »Sinnfluss« zu »Stauungen und Behinderungen« führe. Weiter: »An diesem Sinnfluss liegt vieles, man möchte sagen, alles.« R Die Kräfte des Menschen »stellen keine vorhandene Energie­ menge dar«, sondern »wachsen oder schwinden je nach den Vorgän­ gen im Sinnfluidum«. Wer einen Sinnfluss erfahren hat, spürt, dass dem Menschen Kräfte zuwachsen, die nicht aus ihm selbst kommen. W Vermutlich verbindet sich Faust mit Mephisto um solcher Kräfte willen, die aber dann diabolischen Ursprungs sind. R Weil Kräfte wachsen oder verschwinden, wird verständlich, warum eine Persönlichkeit »aufgebaut« oder »abgebaut« werden und in der Empfindung des Sinnflusses im Ganzen eine »Stimmung« entstehen könne, die das Leben in heiterer Gelassenheit gelingen lasse. Dazu formuliert Rombach den schönen Aphorismus »Dem Heiteren ist alles heiter, dem Düsteren alles düster.« Das würden Aristoteles, Epikur und heutige Stoiker ohne weiteres unterschreiben. W Die Metapher des »Sinnfeldes« bezieht sich auf die äußeren Lebensverhältnisse der Sinnfindung, der metaphorische Gebrauch des »Sinnflusses« dagegen auf ihre inneren Energien. R Hat Rombach außer dem prägnanten Bild des »Sinnflusses« auch einen präzisen Begriff des Sinns zu bieten?

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W Es wäre vermessen, ein so verschieden verwendbares Wort wie Sinn exakt definieren zu wollen. Was Rombach aber bietet, ist ein Satz, der in seiner Entschiedenheit gleichermaßen fasziniert wie irritiert: »Der Sinn des Lebens ist Freude.« Faszinierend finde ich die Festlegung als solche, irritierend die Festlegung auf Freude. R Wegen der Abstraktheit des Satzes kann ich keine »Festlegung« erkennen, die mich irritieren würde. Denn die Triade »Ich – Selbst – Bin« erlaubt eine Konkretisierung, die ich wiederum faszinierend finde. Fragen wir uns zunächst, welchem Moment der Triade der Satz zuzuordnen ist: Korreliert er mit der Pluralität der Iche, mit der Struktur des Selbst oder mit der Situativität des Bin? W Du hast so gefragt, dass die Antwort sich wie von selbst ergibt: Es ist die lebendige Struktur des Selbst, durch die im Gesamtgeschehen eines Sinnfluidums Freude entstehen kann. Pointiert: Das Selbst ist die Quelle der Lebensfreude. Die Energien, die aus ihr entspringen, sind Grundbedingung für ein gelingendes Leben. R Das »individuelle Sinnfluidum« und das »soziale« hängen also miteinander zusammen, denn irgendwie ist »jeder Mensch getragen von dem Sinnfluidum, das in der Lebensgemeinschaft fließt, zu der er gehört«. W Freude wird in diesen Lebensgemeinschaften nicht abstrakt artiku­ liert, sondern in konkreten Situationen mit »Bin«-Sätzen von der Art »Ich bin glücklich«. Das Deutsche kennt allerdings keine Aussage, in der Freude als Adverb im Prädikat eines Satzes der Struktur »Ich bin …« erscheint. R Etymologisch ist »Freude« als Abstraktum zu »froh« entstanden. »Ich bin froh« war also ursprünglich durchaus ein Satz mit der von dir angesprochenen Struktur. Heute bedeutet der Satz wesentlich weniger, nämlich so viel wie »Ich bin erleichtert«. W An Freude im tieferen philosophischen Sinne der Lebensfreude denkt man dabei nicht.

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R Dieser tiefere Sinn unterscheidet die Lebensfreude als innere Freude des Selbst von den äußeren Freuden der verschiedenen Iche. Letztere haben den Charakter eines Antwortgeschehens, in dem es nicht heißt »Ich freue mich«, sondern »Das freut mich« oder »Ich freue mich über …«. W Rombachs Satz bezieht sich natürlich auf die innere Freude – eine lebensbejahende Freude dessen, der lebt, um zu leben, der also in jener spezifischen Weise »zwecklos« lebt, mit der wir uns im Rahmen »entelechialer Lust« beschäftigt haben. Lebensfreude ist nicht weni­ ger zwecklos als Lebenslust. Sinnlos sind beide aber keinesfalls. R Für das Glück ist nach Aristoteles unbedingt ein Freund nötig. Die Frage, ob Faust einen Freund hat, erübrigt sich. Mephisto ist sein falscher Freund, der ihm zwar zu Dingen verhilft, die ohne ihn nicht möglich wären, aber er handelt ja stets zweckhaft. W Als Voraussetzung für Freundschaft ist eine gewisse Symmetrie erforderlich, aber auch Vertrauen. Beides gilt nicht für Faust und Mephisto. Sie praktizieren ein asymmetrisches Verhältnis. R Faust ist aufgrund seiner Selbstbezogenheit nicht in der Lage, ein Wir aufzubauen. »Was der ganzen Menschheit zugeteilt« ist, möchte er für sich allein genießen. W Die innere Lebensfreude im Sinne Rombachs erlaubt jedem Ich, nach Maßgabe der Sinnorientierung seines Selbst zu bestimmen, was in einer konkreten Situation des »Bin« als erfreulich empfunden und mit welchem Ausdruck der Freude es bedacht wird. R »Ausdruck der Freude« gefällt mir als Hinweis auf die verschie­ denen Varianten, in denen das Phänomen der Freude zur Sprache gebracht werden kann. Denn das Verbum »freuen« wird reflexiv gebraucht, und »sich« zu freuen bedeutet, das Substantiv Freude im grammatikalischen Regelfall erst nach einer gedanklichen Reflexion zu verwenden – nämlich erst dann, wenn man sich »re-flexiv« auf sich selbst zurückgebeugt und »re-flektierend« ein freudvolles Erleben verspürt hat.

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W Und du behauptest, diese Reflexivität der Freude sei nicht nur ein grammatikalischer, sondern auch ein phänomenologischer Befund. Willst du damit ein spontanes Empfinden von Freude ausschließen? R Natürlich nicht. Wer spontan ein Gefühl der Freude empfindet, muss aber schon darüber nachgedacht haben, was Freude ist. Dann reicht eine gewissermaßen philosophische Sekunde aus, um reflek­ tierte Freude zu verspüren. W Entschuldige: Deine »philosophische Sekunde« ist eine akademi­ sche Konstruktion, mit der du diejenigen, die einfach nur ihren »Spaß« haben wollen, nicht erreichst. R Das weiß ich. Mir kommt es aber darauf an, den Unterschied zwi­ schen einer spontanen Empfindung und der reflektierten Benennung der betreffenden Empfindung deutlich zu machen. Bei Kleinkindern können wir zwar nonverbale Äußerungen freudiger Erregung feststel­ len; von reflektierter Freude kann aber erst viel später die Rede sein – bei »Spaß-Machern« vielleicht nie. W Wer »Freude« in seinem Wörterbuch der Gefühle eingetragen oder auf seiner Festplatte der Emotionen gespeichert hat, braucht keine philosophische Sekunde, um ein freudiges Ereignis als solches bezeichnen und sagen zu können, in welcher Weise die betreffende Freude als lustvoll oder beglückend erlebt wird. R Nehmen wir als Paradigma die Leselust: Solange man in der grammatischen Form des Partizips Aktiv Präsens – die als Form entelechialer Lust ausgezeichnet werden kann – »lesend« ist, ist man nichts als ein Lesender. Gefragt, was man als solcher empfunden habe, kann man spontan mit »Lust« oder nach kurzem Reflektieren mit »Freude« antworten. Ich würde von der Freude empfundener Leselust sprechen. W Wir sollten wenigstens kurz auch verschiedene Varianten der Freude erwähnen: Stille Freude ist etwas anderes als klammheimliche Freude, stolze Freude ist nicht notwendig überheblich und jubelnde Freude braucht nicht arrogant zu sein.

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R Wollen wir weiter nach »kleinem« und »großem« Glück differen­ zieren und entsprechend kleine und große Freude unterscheiden? Eine kleine Freude ist es beispielsweise, wenn mir jemand die Tür aufhält, eine große Freude, wenn ein Rezensent mein Buch lobt, weil er es gelesen und für gut befunden hat. W Das große Glück ist das gelingende Leben, die große Freude die Lebensfreude. Wir meinen mit dem großen Glück nicht einzelne Glücksepisoden, sondern ein Leben, das in seiner Gesamtheit als gut und schön – durchaus im Sinne der »kalokagathia« der alten Griechen, die wir mit Aristoteles behandelt haben – und insofern als gelungen bezeichnet werden kann. R Rombach gibt für ein solches Gelingen zwei Orientierungen vor: die Orientierung am Sinn und an der Freude. In wechselseitiger Ver­ stärkung beider Orientierungen kann jenes Sinnfluidum entstehen, das Lebensenergie erzeugt und mit ihr Lebenslust und Lebensfreude – spontan und vital und vor aller philosophischen Reflexion. W Nur noch ein Wort zur »Gestimmtheit«, die das Gelingen eines selbstbestimmten, von Freude getragenen und in heiterer Gelassen­ heit geführten Lebens ermöglicht: durch »Einstimmung« auf das je eigene Leben und »Übereinstimmung« mit ihm in einem »vielstim­ migen«, die Vielheit der Iche zum Klingen bringenden modus vivendi, der als Grundgestimmtheit oder mit einem musikalischen Vergleich als Grundmelodie des Lebens bezeichnet werden kann. R Wenn der Vergleich nicht hinken soll, gehört zur Grundmelodie des Lebens der passende Grundrhythmus und ein Taktgefühl, dessen spezifischen sensus Novalis mit dem Satz adelte: »Rhythmischer Sinn ist Genie.« Faust hätte diesen Sinn für seinen Lebensrhythmus selbst entwickeln müssen und den Taktstock nicht dem Teufel überlas­ sen dürfen. W In unseren Überlegungen haben wir uns paradigmatisch auf Aris­ toteles bezogen. Seine Welt ist die der griechischen Antike. Goethe präsentiert uns im »Faust« aber nicht den Großgesinnten als Ideal, den Goethe ja auch kennt, sondern den getriebenen modernen Menschen, zerrissen in verschiedene Rollen und Entwürfe von Existenzen.

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R Natürlich, aber wir haben doch ausdrücklich eine Gegenposition bezogen, aus der man, wie auf der Rückseite eines Spiegels, erkennen kann, warum Faust letztlich eine tragische Figur ist. W Die Phänomene der Egomanie, der hedonistischen Lust, des fal­ schen Reichtums, der gesellschaftlichen Maskerade, der technischen Naturbewältigung, um nur die wichtigsten zu nennen, sind in der heutigen Zeit noch viel ausgeprägter, als Goethe sie im Faust erah­ nen lässt. R Insofern ist sein Weltepos von unerschöpflicher Aktualität.

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2. Liebesglück R Im Kapitel »Gretchentragödie« blieb offen, woran Faust als Lie­ bender gescheitert ist. Der philosophischen Herausforderung dieser Frage wollen wir uns im vorliegenden Kapitel stellen. W Der Fokus richtet sich nach Maßgabe unseres KomplementärAnsatzes aber nicht allein auf das Scheitern Fausts in der Liebe, sondern – eben komplementär – auf das Phänomen Liebesglück als Thema der Philosophie. R Zuerst sollten wir nochmals zusammenfassen, worin Fausts Schei­ tern in der Beziehung zu Gretchen besteht. W Es wäre absurd, den Dichter dafür verantwortlich zu machen, wie Faust mit Margarete, seiner Geliebten, umgeht. Schließlich gab das Schicksal der historischen Susanna Margaretha Brandt den entschei­ denden Anlass für Goethe, die Faustgeschichte mit der Gretchentra­ gödie zu verbinden. R Die historische Vorlage hatte für Goethes Tragödie eine Art Bin­ dungswirkung. Dadurch stand die literarische Liaison Fausts mit Gretchen von vornherein unter dem Signum der Todesstrafe. Die Kerkerszene war dementsprechend eine der ersten, die Goethe – zunächst in Prosa – niederschrieb. W Aber warum er die Fausterzählung mit der Geschichte der Kinds­ mörderin verbunden hat, bleibt ein Rätsel. Denn die Liebesbeziehung zwischen Faust und Margarete umfasst ja nur etwa ein Drittel des ersten Teils und im zweiten Teil spielt sie keine Rolle mehr. R Wir sollten darüber nicht spekulieren und uns auf eine schlichte Feststellung beschränken: Goethe hat dem schrecklichen Schicksal der Susanna Margaretha Brandt ein dichterisches Denkmal gesetzt und sie gewissermaßen rehabilitiert. W Zunächst gewährte er ihr Rettung von oben. Wie bekannt gewor­ den, war der damals zweiundzwanzigjährige Rechtsanwalt von der mitleidslosen Grausamkeit der Behandlung der jungen Frau, die am 14. Januar 1772 öffentlich enthauptet wurde, so erschüttert, dass er

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sich Abschriften der Prozessakten anfertigen ließ – wir haben das schon erwähnt. Die Umstände, die zur Kindstötung führten, fanden nach seiner Ansicht keine humane Berücksichtigung. R Aber dennoch hat ihn dieser Fall nicht davon abhalten können, später als Mitglied des »Geheimen Consiliums« für die Todesstrafe zu votieren, weshalb die Dienstmagd Johanna Catharina Höhn 1783 als Kindsmörderin hingerichtet wurde. W Aber dies ist eine andere Geschichte. Im Fall der poetischen Figur demonstriert der Dichter, wie ein unschuldiges, braves Mäd­ chen durch verführerische Tricks zum Beischlaf überredet wurde und schließlich »ins Verderben stürzte«. Er bringt ihr ganzes Leid und Elend so lebendig auf die Bühne, dass Mitleid nicht ausbleiben kann. Selbst Faust muss gestehen, als er sie im Kerker erblickt: »Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an.« Und er erkennt: »… ihr Verbrechen war ein guter Wahn!« R Zur Einbindung der Gretchentragödie in die Faustdichtung ist noch etwas nachzutragen: Goethe konnte den Prozessakten die Aus­ sage der Angeklagten Brandt entnehmen, es sei möglich, dass ihr ein Pulver in den Wein gemischt worden sei, denn »es sei ihr so seltsam zumute geworden, sie habe sich nicht mehr erwehren können, der Teufel müsse seine Hand im Spiel gehabt haben«. W Willst du damit sagen, dass der Teufel das Verbindungsglied zwischen dem Fauststoff und der Gretchengeschichte sein könnte? R Ich möchte es zumindest nicht ausschließen. W Zurück zum Scheitern Fausts als Liebhaber und Geliebter! Der wesentliche Grund für die Katastrophe, die er anrichtet, liegt in der ursprünglichen Zweckhaftigkeit seines Liebesansinnens. R Selbst wenn Faust sich vom Triebtäter zum Liebenden wandelt, wie es in »Wald und Höhle« den Anschein hat, überwiegt die sexuelle Zweckorientierung seines Werbens. Diese wiederum ist in Fausts Willen fundiert, seinen neuen Lebensinhalt in sinnlicher Lust und Leidenschaft zu suchen.

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W Eine feste Liebesbeziehung, die sich im bürgerlichen Ehebund vollendet, hat er nicht im Sinn, selbst wenn vom Hochzeitsverspre­ chen die Rede ist. R Die euphorische Liebe, die er vielleicht spüren mag, flammt kurzzeitig auf und verlischt nach der Liebesnacht. Spätestens bei der Begegnung mit Valentin, Gretchens Bruder, hätte er die Ehre seiner Geliebten retten und sich als Kindsvater bekennen können. W Doch bevor es zu entsprechenden Erklärungen kommen kann, erliegt Valentin dem von Mephisto initiierten tödlichen Hieb Fausts. R Anstatt sich nun um die ehemalige Angebetete zu kümmern, verzieht Faust sich mit Mephisto ins Harzgebirge, um die Walpurgis­ nacht zu feiern. Nach ausgelassenem Tanz mit einer Schönen kippt die Stimmung. W In einem blassen schönen Kind glaubt er zu erkennen, »Dass sie dem guten Gretchen gleicht«. Doch lässt er sich von Mephisto beschwichtigen: »Es ist ein Zauberbild, ist leblos, ein Idol. / Ihm zu begegnen, ist nicht gut …«. R Diese Aussage wirft ein neues Licht auf Helena als Idol – ein Thema, das wir noch nicht ausgeschöpft haben. W Fausts Wahrnehmung deutet auf das Schicksal Gretchens: »Für­ wahr, es sind die Augen einer Toten, / Die eine liebende Hand nicht schloss. / Das ist die Brust, die Gretchen mir geboten, / Das ist der süße Leib, den ich genoss.« R Trotz weiterer Beschwichtigung: »Das ist die Zauberei, du leicht verführter Tor!«, kann Faust den Blick nicht von der Gestalt abwen­ den. Seine Anspielung auf eine Enthauptung ist nur zu deutlich: »Wie sonderbar muss diesen schönen Hals / Ein einzig rotes Schnürchen schmücken, / Nicht breiter als ein Messerrücken!« W Diese Vorahnungen halten ihn jedoch nicht davon ab, das Gesche­ hen auf dem Blocksberg weiter zu verfolgen.

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R Selbst wenn die euphorisch bestimmte Zuneigung zu Gretchen grundsätzlich durch Zauberei bewirkt ist, sind die trennenden Unter­ schiede zwischen den Liebenden zu groß, um ein liebendes Paar zu ermöglichen. W Allein durch Paarung entsteht noch kein Paar. Die große Alters­ differenz muss kein Hindernis für echte Partnerschaft in der Liebe sein. Doch sehe ich im enormen Unterschied des Bildungsniveaus so gut wie keine Möglichkeit, eine partnerschaftliche Liebesbeziehung zu führen. R Auch Gretchen war sich wohl dieser Tatsache bewusst: »Ich weiß zu gut, dass solch erfahrnen Mann / Mein arm Gespräch nicht unter­ halten kann.« Und: »Bin doch ein arm unwissend Kind, / Begreife nicht, was er an mir find’t.« W Es fällt unangenehm auf, dass Faust sein Gegenüber mit »Kind« und »Puppe« anspricht. Darin spiegelt sich doch eine gewisse Abwer­ tung der Person. R Ich stimme dir zu: Das völlig asymmetrische Verhältnis der beiden ist nicht geeignet, in einem Liebesbund zu enden. Für Faust ist die Affäre nur eine Station auf der Reise durch die kleine Welt. W Andererseits schwört er ihr ewige Liebe, »Sich hinzugeben ganz und eine Wonne / Zu fühlen, die ewig sein muss! / Ewig! – Ihr Ende würde Verzweiflung sein. / Nein, kein Ende! Kein Ende!« R Beachten wir die Situation: Fausts Überschwang des Gefühls ist Gretchen nicht gewachsen, deshalb macht sie sich los und läuft weg. Ihr bürgerliches Verliebtsein steht ebenfalls in einem asymmetrischen Verhältnis zum Liebessturm des hormonell Entfesselten. W Du glaubst also nicht, dass Fausts Liebesschwur aus wahrer Liebe erfolgt? R Wenn ich bedenke, wie Mephisto das Liebesgeständnis vorher­ sagt, kommen Zweifel auf: »Denn morgen wirst, in allen Ehren, / Das arme Gretchen nicht betören / Und alle Seelenlieb ihr schwören?«

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W Dann wäre das Geständnis nur Mittel zum Zweck. Aber bedenke, wie Faust antwortet: »Und zwar von Herzen gern.« Was von Herzen kommt, kann doch keine Lüge sein. R Mephisto scheint es besser zu wissen, wenn er das Bekenntnis von »ewiger Treu und Liebe« vom »einzig überallmächtigen Triebe« verursacht sieht. W Für Faust ist das, was er Liebe nennt, Gefühl. Aber was für ein Gefühl? R Er spricht von brennender Glut … W … die dann Gretchen verbrennen wird. R Dieses Gefühl ist wohl echt und deshalb kein »teuflisch Lügen­ spiel«. Aber wir erinnern uns an das künstlich erzeugte Gefühl durch den Hexentrank. W Mephisto behält den objektiven Überblick: »Ich hab’ doch recht!« Und schließlich weiß auch Faust: »Denn du hast recht, vorzüglich, weil ich muss!« R Die Begründung kann er offen lassen, weil Mephisto sie bereits gegeben hat. W Vor Fausts »Weil ich muss!« kann man erschrecken. Es offenbart die Triebkraft in ihm, die ihn zum Glühen bringt, ein Glühen, das nach Abkühlung drängt … R … aber auch die Schicksalshaftigkeit, derer er sich bewusst wird. Er bringt sie in »Wald und Höhle« zum Ausdruck: »Sie, ihren Frieden musst’ ich untergraben! / Du, Hölle, musstest dieses Opfer haben! /… Was muss geschehn, mag’s gleich geschehn! / Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen / Und sie mit mir zugrunde gehn!«. W Die Verstrickung Fausts durch den Pakt mit Mephisto lässt sich nicht durch diese Liebe lösen, weil sie teuflisch eingefädelt wurde.

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R Du verweist damit indirekt auf eine weitere entscheidende Proble­ matik dieses Verhältnisses, die besonders im Religionsgespräch zum Ausdruck kommt. Die Gegenwart Mephistos in Fausts Gesellschaft schnürt Gretchen »das Innre zu« und sie gesteht: »… wo er nur mag zu uns treten, / Mein’ ich sogar, ich liebte dich nicht mehr.« W Mephisto ist ein unüberwindliches Hindernis für das Gelingen dieser Beziehung. Da Faust im Bund mit dem Teufel steht, kann es keine Verbindung mit der religiös gebundenen Margarete geben. R Ihre Befragung, wie er es mit der Religion habe, zielt letzten Endes darauf, den Dritten im Bund zu thematisieren, gegenüber dem sie tiefe Abscheu empfindet. W Insofern Faust nicht auf ihr Problem eingeht, hintergeht er sie. Stattdessen kommt er mit seinem Begehren und überredet sie, ihrer Mutter den teuflisch-tödlichen Schlaftrunk aufzudrängen. Weil er sich nicht von Mephisto lösen kann, muss die Beziehung scheitern. R Faust opfert für sein erotisches Abenteuer das »süße, junge Blut« und nennt es selbst ein »Opfer«, das die »Hölle« haben musste. W Wir erleben jedoch noch eine anders geartete Liebesbeziehung im zweiten Teil der Tragödie. Helena heißt das Objekt einer ande­ ren Begierde. R Obwohl Gretchen bei der Reise Fausts durch die große Welt keine Rolle mehr spielt, findet in Goethes Text eine subtile Annäherung Helenas an Margarete statt. Sie erfolgt zunächst durch das bekannte Wort in »Wald und Höhle«: »Ich bin ihr nah, und wär’ ich noch so fern.« In der Theaterphantasmagorie glaubt er, Spiel mit Wirklichkeit verwechselnd: »So fern sie war, wie kann sie näher sein!« W Zweimal gebraucht Faust das semantische Raster von Nähe und Ferne. In einer dritten Weise ist es nun Helena, die dieses Raster moduliert: »Ich fühle mich so fern und doch so nah …«.

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R Die innere Spannung zwischen Nah- und Fernsein hat in jeder dieser drei Sprechweisen eine eigene Nuance. Im ersten Satz wird die faktische Raumdistanz in ihrer trennenden Wirkung überwunden. Im »nah«-Sein kommt tiefe Zuneigung zum Ausdruck. W Die zweite Version thematisiert den raumzeitlichen Aspekt und den Wunsch, das Illusionäre wirklich werden zu lassen; das ferne Bild rückt in greifbare Nähe. Indem er gewaltsam nach dem Bild greift, zerstört Faust die Aufführung und wird paralysiert. R Entscheidend ist aber, was Helena für ihn bedeutet und wie diese Bedeutung in Szene gesetzt wird – beginnend mit dem Spiegel in der Hexenküche und gesteigert im dritten Akt, der das Spiegel-Bild in die Wirklichkeit Fausts holt. W Als sie im Feuergaukelspiel erscheint, ruft er verzückt: »Die Wohlgestalt, die mich voreinst entzückte, / In Zauberspiegelung beglückte, / War nur ein Schaumbild solcher Schöne! / Du bist’s, der ich die Regung aller Kraft, / Den Inbegriff der Leidenschaft, / Dir Neigung, Lieb’, Anbetung, Wahnsinn zolle!« R Wem die Schönheit dieser Gestalt begegnet, der »wird aus sich selbst entrückt« und in Faust entbrennt der leidenschaftliche Wunsch, sie sich anzueignen: »Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren.« Ihre Schönheit entzündet Leidenschaft und den Drang, sie zu besit­ zen. W Während der Zauberspiegel und die Phantasmagorie Helena nur virtuell sichtbar machen, kommt sie nun im dritten Akt leibhaftig auf die Bühne und tritt in die Wirklichkeit Fausts. Aber welcher Helena begegnet er und wie wandelt sich sein Sinn? R Auf die Bühne tritt eine reflektierte Person. Ihr ist bewusst, in eine Erzählung verstrickt zu sein, von der »die Sage wachsend sich zum Märchen spann«. Obwohl sie jetzt aus ihrer Sagenvergangenheit heraustritt, muss sie bekennen: »Selbst jetzo, welche ich sei, ich weiß es nicht.«

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W Diese Identitätsirritation äußert sich im Bekenntnis: »Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol.« Auf die tiefere Bedeu­ tung dieses Satzes werden wir später eingehen. Zunächst greifen wir die Zuschreibung des Chores auf: »… das größte Glück ist dir einzig beschert …«. Das entspricht in keiner Weise ihrer eigenen Erfahrung und Empfindung. R Denn ihre Schönheit wurde zum schrecklichen Schicksal: »Wehe mir! welch streng Geschick / Verfolgt mich, überall der Männer Busen / So zu betören, dass sie weder sich / Noch sonst ein Würdiges verschonten. /… Sie führten mich im Irren her und hin. / Einfach die Welt verwirrt ich, doppelt mehr; / Nun dreifach, vierfach bring’ ich Not auf Not.« W Bei der Begegnung mit dem Idol spürt Faust zwar unmittelbar die Pfeile des Eros, die ihn verwundend treffen, aber ihm kommen sofort Zweifel an seiner Stellung und seiner Macht: »Was bin ich nun? Auf einmal machst du mir / Rebellisch die Getreuesten, meine Mauern / Unsicher. Also fürcht’ ich schon: mein Heer / Gehorcht der siegend unbesiegten Frau.« R Seine Leidenschaft wird von der Unsicherheit um seine Regent­ schaft gedämpft und besiegt. Eine Unsichere trifft auf einen durch sie Verunsicherten. Aber wie geht er mit dieser Situation um? Will er sie wie zuvor besitzen? Wie könnte dies sein? W Eruptive Leidenschaft besiegend entscheidet er klug und weitsich­ tig: »Was bleibt mir übrig, als mich selbst und alles, / Im Wahn das Meine, dir anheim zu geben? / Zu deinen Füßen lass mich, frei und treu, / Dich Herrin anerkennen, die sogleich / Auftretend sich Besitz und Thron erwarb.« R Der ursprünglich gewaltsam Leidenschaftliche, der sie wie seine Vorgänger raubend in Besitz nehmen wollte, wandelt sich zum Vereh­ rer seiner Herrin, wodurch er sie gewinnen kann. W Gestillte Leidenschaft ermöglicht ein neues Bewusstsein für das Spannungsverhältnis von Schönheit und Macht. Stellvertretend für Faust lässt der Dichter den Turmwächter Lynkeus sagen: »Denn du bestiegest kaum den Thron, / So neigen schon, so beugen schon /

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Verstand und Reichtum und Gewalt / Sich vor der einzigen Gestalt.« Durch diese stellvertretende Anerkennung gewinnt die Aussage eine objektive Dimension. R Helenas Schönheit lässt vermeinte Schätze und Werte relativieren. Und Faust unterwirft seinen Machtanspruch ihrer Größe. W Durch diese Art der Anerkennung tritt er in ein anderes Verhältnis zu Helena. Begehren wandelt sich in anerkennende Verehrung. R Dies hat Helena bislang noch nie erfahren. Stets wurde sie Opfer ihrer Schönheit und ihres Ruhms, den sich die um sie Streitenden mit erwerben wollten. W So auch Menelaos, der als Gegenbild zu Faust fungiert. Phorkyas weiß, dass er kommt, um seine Eifersucht zu befriedigen. Sie »krallt sich« im »Busen fest des Mannes, der das nie vergisst, / Was einst er besaß und nun verlor, nicht mehr besitzt.« R Menelaos ist Repräsentant all jener, die Helenas Schönheit besit­ zen wollten, nicht sie als Person, sondern als Objekt. Allein im Besitzenwollen dieses Objekts ist seine Rückkehr begründet. W Mephisto in der Gestalt Phorkyas findet das entsprechende Urteil: »Unteilbar ist die Schönheit; der sie ganz besaß, / Zerstört sie lieber, fluchend jedem Teilbesitz.« R Aber sind es nicht vielleicht taktische Überlegungen, die Faust dazu veranlassen, ihr den Thron zu übergeben, in der Hoffnung auf entsprechende Gegenleistung? W Ich möchte dies nicht ausschließen. Betrachten wir deshalb, wie Helena reagiert. Sie sagt großmütig: »An meine Seite komm! der leere Platz / Beruft den Herrn und sichert meinen.« R Die wechselseitige Anerkennung dient primär der Statussiche­ rung, nicht der Liebe. Diese kommt erst danach zur Geltung.

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W Und zwar in einer poetischen Wechselrede, deren Verse im Vers­ maß des antiken Chores wir bereits interpretiert haben. Die Poesie wird Ausdruck einer liebenden Annäherung und ist zugleich Quell­ grund dieser Liebe. R Sie überwindet trennende Vergangenheiten und vermittelt Gegenwart. Daher kann Faust sagen: »Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück; / Die Gegenwart allein« – »Ist unser Glück«, ergänzt Helena. W Im Vergleich zur leidenschaftlichen »Liebeswut«, wie Mephisto sagt, die dynamisch auf sexuelle Erfüllung drängt, tritt dieses Liebes­ verhältnis gleichsam in einen Raum entrückter Zeitlosigkeit. Poesie offenbart und verhüllt zugleich die liebende Vereinigung. R Nur der Chor kommentiert, was ungesehen geschieht: »Nah und näher sitzen sie schon, / An einander gelehnet, / Schulter an Schulter, Knie an Knie; / … Nicht versagt sich die Majestät / Heimlicher Freuden / Vor den Augen des Volkes / Übermütiges Offenbarsein.« W Durch die Anerkennung ihrer Person als Subjekt befreit Faust sich von seiner besitzergreifenden, Helena zum Objekt degradierenden Grundhaltung. Sie selbst wiederum wird aus ihrer Rolle als Idol entlassen, sodass beide partnerschaftlich zueinander finden können. R Solange Helena in der idolisierten Rolle der Schönheit gefangen war, konnte sie Person und Mythos nur entfremdet erleben. Diese Fremdheit, die sich im Fern-Sein artikuliert, kann nun schwinden: »Ich fühle mich so fern und doch so nah.« W Nähe ist Ausdruck gefühlten Daseins: »Und sage nur zu gern: Da bin ich! da!« Sie ist bei sich und in der Gegenwart angekommen. Jetzt kann sie auch ihre Schönheit ungebrochen annehmen. R Durch Faust erfährt sie sich verwandelt: »Ich scheine mir verlebt und doch so neu, / In dich verwebt, dem Unbekannten treu.«

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W Ihre magische Präsenz und ihre poetischen Worte erscheinen Faust wie ein Traum. Utopia ist Realität: »verschwunden Tag und Ort.« Und doch ist Faust nicht völlig in der Lage, diesen utopischen Augenblick rein zu genießen. Er will ihm Dauer verleihen und hat damit den Bann gebrochen: »Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick«, erklärt er. R Indirekt nimmt Faust damit Bezug auf den »Augenblick« der Wette, die in der geglückten Beziehung zu Helena in Erfüllung zu gehen scheint. Zwischen »Verweile doch« und »Pflicht« liegen jedoch Welten. Und der Dichter verhindert zunächst, dass der Augenblick genossen werden kann. Denn die innere Distanz von Pflicht und Augenblick wird durch äußere Ereignisse noch gesteigert. W Phorkyas kündet: »Das Verderben ist nicht weit. / Menelaos mit Volkeswogen / Kommt auf euch herangezogen.« Und der Chor mahnt: »Wer die Schönste für sich begehrt, / Tüchtig vor allen Dingen / Seh’ er nach Waffen weise sich um!« R Der Chor übernimmt auch die Rolle des Kritikers an Faust, indem er seine Werbung um Helena als Strategie denunziert: »Schmeichelnd wohl gewann er sich, / Was auf Erden das Höchste; / Aber ruhig besitzt er’s nicht / … Denn wer entreißet sie jetzt / Dem gewalt’gen Besitzer? / Ihm gehört sie, ihm sei sie gegönnt.« W Aber der Chor repräsentiert das von Faust schon überwundene Verhältnis zu Helena als Besitzer des einzigartigen Schönheitsob­ jekts. Er selbst versteht sich nicht als ihr Eigentümer, doch wird ihm nun die Rolle des Beschützers aufgedrängt. R Die krisenhafte Bedrängnis durch Menelaos scheint abgewehrt. Wir finden Helena und Faust nebeneinander sitzend und er verkün­ det: »So ist es mir, so ist es dir gelungen, / Vergangenheit sei hinter uns getan!« W Die Doppelbedeutung dieses Wortes besteht darin, dass die sagen­ hafte Vergangenheit Helenas von ihr geschieden ist und dass er seine bisherige Rolle als Besitzer der Schönheit, mit der er all seine Leidenschaft verwirklichen wollte, abgestreift hat.

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R Das sinnliche Moment ist zwar nicht völlig getilgt, doch überwiegt das Geistige dieses neu gefundenen Glücks: »Nicht feste Burg soll dich umschreiben! / Noch zirkt in ewiger Jugendkraft / Für uns, zu wonnevollem Bleiben, / Arkadien in Spartas Nachbarschaft.« W Die traumhafte Realität steigert sich zur Idylle: »Zur Laube wan­ deln sich die Thronen – / Arkadisch frei sei unser Glück!« Man höre den optativen Imperativ! Dieses arkadische Glück ist pures Hoff­ nungsglück. R Ich höre noch etwas anderes: Arkadien, die Gegend ungetrübten Glücks, vollendet sich nur im Reich der Freiheit, die auch elementar ist für eine glückende Liebesbeziehung. Nicht leidenschaftlicher Besitz lässt Liebe blühen, sondern partnerschaftliche Freiheit bzw. freie Part­ nerschaft. W Die Redeweise: »Arkadisch frei sei unser Glück!« hat große Ähnlichkeit mit Fausts Schlussworten: »Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön!« In beiden Worten drückt der Konjunktiv das irreale Moment der Erfüllung aus. R Aus der poetisch geglückten Vereinigung Fausts mit Helena, der Vereinigung von Antike und Mittelalter, entspringt das Wunderkind Euphorion, die lebendige Repräsentation der Poesie. W Ist nun doch der schöne Augenblick Realität geworden? R Es scheint so. Denn Faust triumphiert: »Alles ist sodann gefun­ den: / Ich bin dein, und du bist mein; / Und so stehen wir verbun­ den, / Dürft’ es doch nicht anders sein!« W Aber es kommt anders. Das Elternglück ist nur von kurzer Dauer. Den poetischen Sprössling drängt es in immer höhere Höhen. »Über­ mut und Gefahr« werden sein »Tödliches Los«. R In seinem Übermut ergreift er ein »junges Mädchen« und tri­ umphiert: »Schlepp’ ich her die derbe Kleine / Zu erzwungenem Genusse: / Mir zur Wonne, mir zur Lust / Drück’ ich widerspenstige Brust, / Küss’ ich widerwärtigen Mund, / Tue Kraft und Willen kund.«

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W Dabei verhält er sich ganz ähnlich wie sein poetischer Vater Faust, der zwar nicht direkt gewalttätig wurde, dessen Liebessturm jedoch über Gretchen hinwegfegte, sodass sie nur noch flüstern konnte: »Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt …«. R Noch aber fragen sich die entsetzten Eltern: »Ist der holde Bund ein Traum?« Doch dieser Traum zerplatzt, wenn Euphorion wie Ikarus abstürzt »zu der Eltern Füße«. Sein Körperliches »verschwindet sogleich« und »steigt wie ein Komet zum Himmel auf«. W Auch reine Poesie kann reales Glück nicht auf Dauer stellen. Der poetische Liebestraum bewährt sich nicht. Helena und Faust könnten in gemeinsamer Bewältigung ihrer Trauer um den verlorenen Sohn wachsen und ihre Beziehung auf eine andere Ebene heben. R Doch Helena will nicht bei Faust bleiben. Er kann ihr keinen Halt geben, denn Euphorions Ende ist zugleich das Ende des poetischen Liebesbandes, das er allegorisch versinnbildlichte. Zum Abschied sagt sie zu Faust: »Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir: / Dass Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint.« W In gewisser Hinsicht könnte man hier zustimmen. Doch finde ich es bedenklich, dass sie sich weiterhin durch Schönheit definiert, nicht durch ihre Mutterrolle oder als liebende Partnerin Fausts. Somit fällt sie zurück in die Rolle des Idols. R Ihre Erkenntnis der problematischen Beziehung von Schönheit und Glück muss nicht notwendigerweise zum Scheitern der Liebe füh­ ren. Doch es fügt sich anders. Die Trennung ist endgültig. »Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band …«. Helena folgt ihrem Sohn in den Hades. W Solange alles eitel Sonnenschein war, konnte dieser idyllische Liebestraum schwelgen. Die harte Realität bringt ihn zum Platzen. In Analogie zu ihrer Einsicht, »dass Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint«, könnte man für sie formulieren: dass Leid und Liebe sich nicht vereint, beweist die Kraftlosigkeit dieser Beziehung.

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R Auch wenn die gesamte Szenerie des dritten Akts mehr Realitäts­ sinn entwickelt als beim Auftritt Helenas im Zaubergaukelspiel, ist das Geschehen doch seltsam entrückt. Die Figuren verlebendigen sich nur als Traumgestalten … W … und insofern der Traum zerplatzt, lösen sie sich im »Tageslicht« auf. Daher kann der ganze Chor sagen: »Zurückgegeben sind wir dem Tageslicht …«. R Die Begegnung Fausts mit Helena findet im Reich der Poesie statt. Ihr fehlt die Bodenhaftung und die irdische Schwerkraft. W Aber hat der Dichter vielleicht doch eine mögliche Idee von Liebe entworfen? R Bevor wir uns dieser Frage stellen, möchte ich einen Blick auf den Schluss des zweiten Teils werfen. In die Rettungsaktion Fausts sind verschiedene Figuren einbezogen, darunter auch »Una Poenitentium, sonst Gretchen genannt«. – Von der Göttin der Schönheit, Helena, keine Spur! W Die Liebe Gretchens hat Anteil an Fausts Rettung und sie bit­ tet Mater Gloriosa, ihn oben belehren zu dürfen. Diese erwidert: »Komm! hebe dich zu höhern Sphären! / Wenn er dich ahnet, folgt er nach.« Gretchens Liebe wirkt begnadigend und erlösend. R Und nun zum berühmten letzten Vers. Er lautet: »Das Ewig-Weib­ liche / Zieht uns hinan.« Aus dem Kontext können wir schließen, dass es jedenfalls nicht Helena ist, die das Ewig-Weibliche verkörpert. Denn als Schönheitsgöttin zieht sie nur männliche Leidenschaft an. Schönheit besitzt keine Kraft zur Seelenrettung. W Helena fehlt die Eigenschaft der Sorge um den anderen, die Faust bei Gretchen kennengelernt hat. Das Ewig-Weibliche liegt nicht in der Schönheit, sondern in der umsorgenden Weiblichkeit. R Man könnte diese typisch männliche Vorstellung des ewig Weib­ lichen wohl zu den kollektiven Archetypen C. G. Jungs rechnen. Aber das wäre ein Thema für sich. Deshalb zurück zu unserer Frage.

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W Der Helena-Akt – eine poetische Konzeption der Liebe? Beginnen wir mit der Formel Fausts »Ich bin dein, und du bist mein«. Würde sie nicht von Goethe stammen, hielte ich sie für Kitsch. R Auch der Kontext befreit sie nicht von deinem berechtigten Vor­ wurf des Kitsches. Aber blicken wir auf andere Liebesworte, die ins Faustische Lied der Liebe Eingang gefunden haben. Ich greife sie heraus: »In dich verwebt«, »ich scheine mir … so neu«, »wenn die Brust von Sehnsucht überfließt« und zuletzt: »arkadisch frei«. W Du meinst, aus diesen dünnen Fäden ließe sich ein Netz der Liebe weben? R Einen Versuch wäre es durchaus wert. Ob das Netz dann wirklich hält, werden wir ja sehen! W Im Überblick betrachtet, beginnt die Helena-Liebes-Geschichte schon in der Hexenküche. Dort vernarrt Faust sich in das Bildnis der Schönheitsgöttin, dem »Muster aller Frauen«. Wie vom Liebesblitz getroffen, entzündet das Bildnis in ihm die Flamme der Leidenschaft. R Cupido ist doch die Wirkung des Hexentranks! W Unbestritten, doch sollten wir der Interpretation Gernot Böhmes Beachtung schenken. »Ich würde behaupten, dass die eigentliche Verjüngung des Faust in der Hexenküche durch das Bild der Helena geschieht … Faust ist durch den Anblick der Helena schon so angeregt und motiviert, dass es eigentlich bedeutungslos ist, ob er nun diesen Trank trinkt oder nicht.« R Mephisto bräuchte insofern nicht zu sagen: »Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem Weibe.« W So sehe ich es tatsächlich. Das Bildnis hat verzaubernde Wirkung auf Faust und Gretchen wird zum Projektionsobjekt seines sexuellerotischen Begehrens, das auf Befriedigung und Genuss drängt.

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R Auf der nächsten Stufe während des »Fratzengeisterspiels« geschieht ähnliches. Auch hier hat das Bildnis die entflammende Wirkung. Durch den Anblick verliert Faust den Verstand und wird durch Leidenschaft »paralysiert«. W Das Bildnis der Helena vermittelt den »Inbegriff der Leiden­ schaft«, die glühendes Begehren auslöst. Aber aus Begehren wird Ergreifen: »Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren.« – »Mit Gewalt fasst er sie an.« R Im Hinblick auf die magische Bedeutung des Bildnisses können wir auf das Liebeskonzept von Max Frisch eingehen, das er unter dem Titel »Du sollst dir kein Bildnis machen« entwickelt. W Zunächst stellt er fest: »Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach.« R Nicht weil wir ihn zu kennen glauben oder vermeinen, ihn durch unsere Liebe zu erkennen, lieben wir ihn, sondern: »… unfassbar ist der Mensch, den man liebt – Nur die Liebe erträgt ihn so.« W Liebe verzichtet auf Bild und Projektion. Schönheit darf nicht Grund und Motiv der Liebe werden. Im Falle Helenas bewirkt die äußere Erscheinung die Attraktion, die leicht mit Liebe verwechselt werden kann. R Hören wir noch einmal Frisch: »Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe« – „ … nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns.« – »Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.« W Während Frisch das Ende der Liebe durch das Bildnis im Blick hat, geht es im Faust darum, dass das Bild das Liebesobjekt als solches fixiert, sein Geheimnis zerstört und damit die Möglichkeit der Liebe verhindert.

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R Wenn sich Helena als Idol erfährt, bringt sie ihre bloße Bildnis­ haftigkeit zum Ausdruck. Idol geht auf das lateinische Wort idolum zurück und bedeutet Bildnis, Abbild, Trugbild. W Die letzte Bedeutung weist in die Richtung, dass derjenige, der ein Idol zu verehren, zu lieben glaubt, sich selbst betrügt. Er täuscht sich wie Faust im »Fratzengeisterspiel«, in der Verwechslung von Realität mit Schimäre. R Die Beziehung zwischen Faust und Helena entsteht jedoch nicht durch die Entdeckung des unfassbar anderen, sondern die Schönheit Helenas gibt den Ausschlag. Ihre äußere Erscheinung bildet den Grund seiner Zuneigung. Wir haben schon erwähnt, dass von den Pfeilen des Eros die Rede ist. W Dies geschieht aber im Vorfeld. Die eigentliche gegenseitige Ent­ deckung ereignet sich im poetischen Liebesspiel, in der Paarung des Reims. Helena beschreibt das kommunikative Geschehen des Rei­ mens: »Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor.«– »Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt, / Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.« R Es handelt sich aber um Worte, die »von Herzen gehn«. Durch diese sprachliche Liebkosung weiß sich Helena schließlich in den »Unbekannten«, »In dich verwebt«. W Insofern er ihr unbekannt ist, hat sie kein Bild von ihm entworfen, auf das sich ihre Erwartung richten würde. R Ob das in gleicher Weise für Faust gilt, kann vielleicht bezweifelt werden. Helena beherrscht ihn durch ihre Schönheit. »Vor dem Reich­ tum des Gesichts / Alles leer und alles nichts.« Fausts Macht und sein irdisch Gut ist wertlos ohne ihre Bestätigung. Er fragt rhetorisch: »Bestätigung, wer gibt sie?« Helenas Antwort: »Meine Hand.« W So völlig interesselos ist sein Werben nicht. Er hat durchaus elementare Motive, Helena als seine »Herrin« anzuerkennen: »… die Hand, die mich / An deine Seite hebt, lass mich sie küssen! / Bestärke mich als Mitregenten deines / Grenzunbewussten Reichs ...«.

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R So anerkennt er sie als Rollenträgerin und liebt darin eben jenes »Weibs-Bild«, das ihn durch die Macht seiner Schönheit betört. W Auch wenn die poetische Annäherung in vermuteter Innigkeit gipfelt, ist Faust nicht völlig frei von äußeren Bedingungen, die Helena umgeben. R Dies klingt nun so, als sei wahre Liebe in einem radikalen Sinne bedingungslos. Aber wäre dies nicht eine idealisierte romanti­ sche Vorstellung? W So meine ich es nicht. Ich würde nicht von Bedingungen, aber von bestimmten Gegebenheiten sprechen. Zu ihnen zählen beispielsweise alle jene kleinen und großen Dinge, die gegeben sein müssen, damit eine andere Person ansprechend wirkt: die Stimme, der Gang, die Aura und vieles andere. R Das sind mehr oder weniger sinnliche Eindrücke. W Zumeist beginnt eine erotische Spannung oder Liebelei mittels sinnlicher Wahrnehmung, einschließlich des Olfaktorischen – wenn man jemanden gut riechen kann. R Das ist unbestritten. All diese individuellen Gegebenheiten sind aber in erster Linie als Resonanzen bedeutsam. Wer für sie keinen Sensus oder keinen Resonanzboden hat, der ihn sozusagen mit­ schwingen lässt, bleibt davon unberührt. W Können wir folglich annehmen, dass man ein inneres Bild in sich trägt, das dann wirksam wird, wenn ein Mensch diesem annä­ hernd entspricht? R Bild ist nicht der geeignete Ausdruck, weil er zu statisch und zu wenig lebendig ist. Eher würde ich von Skizze sprechen, die keine bestimmten Konturen hat. Möglicherweise ist der Vergleich über das Optische, obwohl er sich aufdrängt, nicht adäquat. W Vielleicht ist es eine innere Stimme, die dann zu sprechen beginnt, wenn eine persönliche Ent-sprechung mit dem Gegenüber eintritt.

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R Dann hätte Goethe für dieses Phänomen ein gelungenes Beispiel gegeben, indem er Faust und Helena das Band reimender Entspre­ chung knüpfen lässt. W Das einzigartige Resonanzgeschehen, das der Liebe eignet, hat Rainer Maria Rilke auf ähnliche Weise in seinem »Liebeslied« erfasst: »Doch alles, was uns anrührt, dich und mich, nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.« R Diese Einheitserfahrung bringt Rilke treffender zum Ausdruck als Goethes »Ich bin dein und du bist mein«, weil hier ungesagt Besitzverhältnisse mitschwingen. W Die eine Stimme birgt das Wir der Liebenden, das im konkreativen Ereignis der Liebe entsteht. R Nach Frisch können wir »von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen, wer er sei«. Ähnlich unerklärlich bleibt, warum wir gerade diesen einen Menschen lieben, selbst wenn uns die innere Stimme scheinbar bewusst ist. W Die Frage »warum« zielt auf den Grund. Wenn kein Grund ange­ geben werden kann, wäre Liebe grundlos. Wie steht es mit dem philosophischen Prinzip: »Nichts ist ohne Grund«? R Wenn wir uns auf grundlos einigen, dann aber mit Binde­ strich: grund-los. Diese Deutung entspricht unserem philosophischen Motto: Freiheit ist zweck-los. Freiheit kann man ebensowenig bezwe­ cken wie Liebe. Beide Phänomene sind selbstzweckhaft im Aristoteli­ schen Sinne der Entelechie: Sie folgen keiner äußeren Zweckvorgabe, sondern einer inneren Eigenenergie des Gelingens von Freiheitsund Liebesverhältnissen. W Das Grund-lose eines gelingenden Liebesverhältnisses liegt darin, dass die Liebe der Grund ist, aus dem sie entspringt. Es wäre falsch anzunehmen, dass es Gründe für die Liebe gäbe, sondern es verhält sich gerade umgekehrt: Die Liebe schafft Gründe. R Liebe gehorcht nicht den Regeln der Logik; daher findet das disku­ tierte philosophische Prinzip des Grundes hier keine Anwendung.

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W Das Unerklärliche der Liebe ist in ihrem konkreativen Ursprung zu suchen. Nicht weil man durch den Liebenden als wertvoll erkannt wird, liebt man zurück, sondern die Liebe erweist sich auf beiden Seiten eines Liebesverhältnisses als gleichursprünglich. R In solcher Gleichursprünglichkeit ist das Nacheinander von Grund und Folge aufgehoben. Und genau dies kennzeichnet den Ereignischa­ rakter der Liebe in seinem konkreativen Zusammenspiel von Ich und Du, aus dem beide wie verändert hervorgehen. W Auch Helena weiß davon ein Lied zu singen: »Ich erscheine mir … so neu«. R Und Faust findet dafür die Metapher des Traums. W Wenn Helena bekennt: »Da bin ich! da!«, dann äußert sie zum einen die überwundene Distanz zwischen Rolle und Person. Sie ist sich selbst nah gekommen, so nah, dass diese Nähe in unmittelbarem Da-Sein sich vollendet. Zum anderen erfährt sie durch die verwan­ delnde Liebe ihr Dasein zuhöchst gesteigert. R Nicht umsonst zitiert Faust die Magie des Augenblicks. Ich möchte aber auf einen scheinbaren Widerspruch hinweisen. Zuerst haben wir von bestimmten Gegebenheiten gesprochen, die eine erotische Attraktion möglich machen. Danach behaupten wir die Grundlosig­ keit der Liebe. W Das ist richtig. Den Anschein eines Widerspruchs können wir durch die Unterscheidung von Eros und Liebe aufheben. Die anfäng­ lich erotische Spannung kann zur Liebe reifen und damit ihren eigenen Grund schöpfen. R Zur reifen Liebe gehört die freie freundschaftliche Beziehung in wechselseitiger Anerkennung der ganzen Person. Die aristotelische »philia« macht zwischen Freundschaft und Liebe keinen exakten Unterschied. Dies könnte bedeuten, dass Aristoteles Freundschaft als Integral der Liebe versteht.

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W In ähnlicher Weise bringt dies Brecht zum Ausdruck: »Es ist ein weit verbreiteter Unfug, dass die Liebe über die Freundschaft gestellt wird und außerdem als etwas völlig anderes betrachtet. Die Liebe ist aber nur so viel wert, als sie Freundschaft enthält, aus der allein sie sich immer wieder herstellen kann.« R Das Freundschaftliche der Liebe sehe ich in der bejahenden Aner­ kennung des Partners, die ihn nicht an ein Bildnis fesselt. Sie gibt den anderen frei. Der wahrhaft Liebende gewährt ihm die Freiheit, selbst sein zu dürfen und ein anderer werden zu können. W Darin liegt eine dauernde Herausforderung, die aber zugleich neue Kräfte entbinden kann. R Blicken wir abschließend auf den Helena-Akt: Auch dort ist von Freiheit die Rede, wenn auch in einer Wunschformel Fausts: »Arka­ disch frei sei unser Glück!« W Ich deute diese besondere Augenblicks-Formulierung als Aus­ druck einzigartigen Liebesglücks, das nur »freie Liebe« gewährt. R Womit sich der Kreis gewissermaßen schließt: Freie Liebe ist frei von Bildnissen. W Am Anfang des vierten Aktes steht Faust noch unter dem Eindruck der Ereignisse um Helena, die ihm als Wolke begegnet. In ihr erkennt er »ein göttergleiches Fraungebild«. Es ruft schöne Erinnerungen hervor: »Des tiefsten Herzens frühste Schätze quellen auf: / Aurorens Liebe …«. R Ergänzend trägt er vor, wie Eros sich in Liebe wandelte: »Den schnellempfundnen, ersten, kaum verstandnen Blick, / Der, festge­ halten, überglänzte jeden Schatz. / Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, / Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin / Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.« W In Helena, dem einstigen Idol der Schönheit, begegnet er jener Seelenschönheit, die sich nicht idolisieren, sondern nur durch Liebe entdecken lässt.

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R Nach all dem können wir unsere Ausgangsfrage, ob Goethe im Helena-Akt eine poetische Konzeption der Liebe gedichtet hat, beja­ hen.

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3. Selbstorientierung W Vom »Selbst« war im Kapitel »Lebensfreude« schon die Rede. In Anknüpfung an die Strukturanthropologie Heinrich Rombachs haben wir die verschiedenen »Iche« einer Person als eine »Welt« bezeichnet, »die ein starkes Selbst im Innersten zusammenhält«. Mit dieser Faus­ tisch formulierten Metapher war zunächst der Hinweis verbunden, dass unser »Selbst« nicht am Reißbrett einer Persönlichkeitsplanung entworfen wird, die es dann plangemäß zu verwirklichen gilt. R» Selbstorientierung« in der Kapitelüberschrift bedeutet also etwas anderes als »Selbstverwirklichung« – zumal unter diesem Titel auf dem Buch- und Seminarmarkt Glücksverheißungen zu finden sind, die seltsame esoterische Blüten treiben. Wir nehmen »Orientierung« als Entlehnung aus dem Lateinischen beim Wort und übertragen die ursprüngliche Bedeutung »nach Osten ausrichten« auf das reflexive »sich orientieren«: seinem Leben eine Richtung geben. W Ganz in diesem Sinne spricht Jorge Bucay, argentinischer Gestalt­ therapeut und international bekannter Schriftsteller, von »Lebensori­ entierung«. In der unprätentiösen Sprache eines guten Geschichten­ erzählers unterscheidet er »Richtung« und »Ziel«: Letzteres sei »ein Schild auf zwei Pfosten« mit der Aufschrift »Ziel« – bei ihm steht »Ankunft« darauf –, ersteres dagegen »ein Pfeil, der in eine bestimmte Richtung zeigt, wie die Nadel eines Kompasses, die stets unbeirrt gen Norden weist, egal wo wir uns in der Welt befinden«. R Auch wenn wir nicht vorhersagen können, »wohin es geht«, sollten wir wissen, »wo’s langgeht«, um die Richtung angeben zu können, die ein Leben gelingen lässt. Das sich in dieser Weise orien­ tierende »Selbst« ist aber nicht vom Tag der Geburt an vorhanden, sondern muss erworben, vielleicht sogar erkämpft werden, und zwar in Auseinandersetzung mit Personen, die ihr Selbst schon erworben haben, aber auch in Abgrenzung zu anderen, die erst noch um ihr Selbst kämpfen. W Um die Spannbreite zwischen Erwerb und Kampf möglichst neu­ tral zu bezeichnen, sprechen wir von der »Bildung« des Selbst, und zwar ganz im Sinne Goethes, für den »Bildung« – so sagt es Gernot Böhme – »das Sich-Herausbilden eines Charakters an Hindernissen«

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bedeutete. Zur Erläuterung ziehen wir zwei Autoren aus dem Huma­ nismus der italienischen Renaissance in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts heran. Ihre Texte erschließen das Bildungsphänomen, auf das es uns ankommt, in quellklarer Reinheit. R Der erste Autor ist Giannozzo Manetti. Sein Anliegen war eine praxistaugliche »Lebenslehre« oder – um dem Aristoteles-Übersetzer gerecht zu werden – eine Handlungslehre für ein gelingendes Leben. In der Lobrede »De dignitate et excellentia hominis« preist er die Leis­ tungen, die das gottgegebene »ingenium« des menschlichen Geistes hervorbringt. Der Appellcharakter all dieser Lobpreisungen wird in einer bekannten Passage des Dritten Buches deutlich. W Dort wechselt er den Stil und den Rhythmus, indem er durch­ gehend den Plural »unser« verwendet und dieses Unsere in einer Takt und Tempo bestimmenden Aneinanderreihung von Beispielen präsentiert: »Unser sind die Bilder, unser die Skulpturen, unser sind die Künste, unser die Wissenschaften, unser … die Weisheit; unser sind schließlich sämtliche Erfindungen«. Wenig später wird diese Betonung der Gemeinschaftsleistungen auf so gut wie alles ausgedehnt, was die Kultur des Menschen im weitesten Sinne des Begriffs ausmacht. R Schnell gelesen wird daraus ein literarischer Trommelwirbel. »Unser sind«: Länder, Äcker, Felder, Berge, Hügel, Täler, Weinstö­ cke, Öl- und Birnbäume, Apfel-, Feigen-, Pfirsichbäume, Kirsch-, Pflaumen- und Nussbäume, Orangen- und Mispelbäume, Kastanien, Eichen, Eschen, Platanen, Tannen, Zypressen und Pinien. Danach fol­ gen in ebenso wirbelnder Aufzählung Pferde, Maultiere, Esel, Rinder, Kamele, Hunde, Zugtiere, Schweine, Schafe, Ziegen, Lämmer, Böcke, Widder und so fort. Es heißt aber auch: »Unser sind die Menschen.« W Die Aufzählung erinnert an den Dank Fausts gegenüber dem Erdgeist in der Szene »Wald und Höhle«: »Du führst die Reihe der Lebendigen / Vor mir vorbei, und lehrest mich meine Brüder / Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.« Die Ähnlichkeit der »Brüder« bei Faust und der »Menschen« bei Manetti darf aber nicht dazu verleiten, den Unterschied zu übersehen: Faust sieht in der Natur

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– Goethes Pantheismus entsprechend – Lebendiges und insofern Brüderliches, Manetti betrachtet die Natur dagegen als kulturellen Bildungsauftrag für den Menschen. R Als typischer Vertreter der »studia humanitatis« will Manetti nicht mit Logik überzeugen, sondern mit Rhetorik, nicht mit Begriffen, sondern mit Topoi. Vor allem will er vor Augen führen, dass der Mensch als »animal sociale et civile« von Natur aus – das ist unver­ kennbar die Aristotelische »physis« – auf Gemeinschaft angelegt und angewiesen ist. W Für die »natur«-gemäße Angewiesenheit auf Gemeinschaft hat Faust keinen Sinn. Er glaubt, alles für sich allein – »solus ipse« – erkennen und alles »solipsistisch« schaffen zu können. Jener Solipsis­ mus ist der Hauptgrund seines Scheiterns und dieses Scheitern die Hauptursache seines Bundes mit Mephisto. R Dagegen gilt in der Aristotelischen Bildungstradition Manettis: In Gemeinschaft gestaltet der Mensch nicht nur seine Umwelt, sondern vor allem sich selbst, seine Sprache, sein Denken, sein Handeln und damit selbstverständlich auch: seinen Willen. Das ist der Kern des Appells zur Selbstbildung im humanistischen Sinne. W Es wäre deshalb völlig verkehrt, den Leitspruch der Humanisten, das delphische »Erkenne Dich selbst«, auf die rein reflexive Selbster­ kenntnis isolierter Individuen zu beziehen. Die humane Substanz humanistischen Philosophierens liegt in der Verbindung von Reflexi­ vität und Reziprozität: Der philosophische Appell an die Menschen lautet, »sich« zu erkennen, um »einander« gerecht werden zu können. R Wie Manettis Aufzählung zeigt, erstreckte sich dieser humanisti­ sche Bildungsappell auf viel mehr als auf den Bereich der – persönli­ chen – Moral und der – politischen – Ethik, nämlich auf alle Bereiche der gemeinsamen »cultura« pfleglichen Umgangs mit Gott und der Welt, was hier keine Alltagsfloskel ist. In einer ökonomisierten Lebenswelt, in der Wirtschaftssubjekte nach Umsatz, Gewinn und Verlust bewertet werden, sei daran erinnert, wie viel jeder Einzelne der Gemeinschaft verdankt, in der er zum »Selbst« werden konnte.

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W Ungefähr zur selben Zeit, in der Manetti das Aristotelische Gemeinschaftswesen neu entdeckte, erfand Pico della Mirandola als neuzeitliches Wesensmerkmal des Menschen dessen Würde. Die Genialität der Erfindung besteht darin, der Gattung Mensch erstmals in der europäischen Geistesgeschichte das Vermögen zugeschrieben zu haben, frei zu sein. R Das bedeutet in der Philosophie Picos: die Zuschreibung des Ver­ mögens, als »plastes et fictor«, schöpferischer Bildner seines Selbst, die freie Wahl, »liberam optionem«, für einen eigenen Lebensentwurf zu haben. In meiner kleinen Monographie über »Menschenwürde und Sepulkralkultur« habe ich dafür den Begriff »Entwurfsvermögen« vorgeschlagen. Dieses Vermögen wird jedem Menschen als Mitglied der Gattung Mensch zugesprochen, während die Einzelnen als Indivi­ duen über sehr verschiedene »Entwurfskompetenz« verfügen. W Trotz ihrer literarischen Leichtigkeit nimmt Picos Würdekonzep­ tion eine Grundthese der Aufklärungsphilosophie vorweg: Wir Men­ schen sind frei geboren, »damit wir das werden, was wir sein wollen«: »ut simus, quod esse volumus«. Das unspezifisch verwendete Verbum »wollen«, »velle«, besagt ohne jede Festlegung auf die Herkunft des Vermögens, etwas wollen zu können: Die würdevolle Freiheit des Menschen liegt in der Potenz, sich nach eigenem Willen zu bilden. R Damit beginnt eine freiheitsphilosophische Traditionslinie, die über Rousseaus emphatische These »L´homme est né libre« zu Kants Prinzip der »angebornen Freiheit« führt und von dort zu Hegels »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« – bei aller Unterschiedlich­ keit der philosophischen Systeme. Im Vergleich dieser Systeme ist Picos Position der »dignitas hominis« am wenigsten festgelegt. Das Christentum bleibt zwar hintergründig präsent, wird aber nicht im kirchlichen Gewand präsentiert. Ganz im Gegenteil: Das päpstliche Urteil der Ketzerei erhebt Pico in den Rang eines freiheitsphilosophi­ schen Aufklärers. W Ob man zur Charakterisierung seiner Position mit den Renais­ sancehumanisten von Selbst-Bildung spricht, im Sinne des grundge­ setzlichen Persönlichkeitsrechts von Selbst-Entfaltung oder in tradi­ tioneller Terminologie von Selbst-Bestimmung, macht im Prinzip

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keinen Unterschied. Prinzipiell geht es in all diesen Redeweisen um Anerkennung der Subjektqualität des Menschen mit Selbst-Bewusst­ sein, Selbst-Verständnis und Selbst-Verantwortung. R Epochal war diese philosophische Zuschreibung einer rein poten­ tiell bestimmten Fähigkeit freier Lebensgestaltung in ihrem syste­ matischen Bruch mit der Anthropologie des Mittelalters. Während die mittelalterliche »miseria hominis« dem Menschen vorspiegelte, seit dem Sündenfall aus eigener Kraft kein gelingendes Leben mehr führen zu können, sondern dafür auf göttliche Gnade angewiesen zu sein, vermittelt durch ein Leben nach den Lehren der Kirche, findet sich bei Pico – wie gesagt: in ketzerischer Art und Weise – von Erbsünde kein Wort. W Das Vermächtnis der »dignitas hominis« besteht darin, den Men­ schen von der schier unglaublichen theologischen Last der Erbsünde befreit, ihm damit aber auch die philosophische Verantwortung für sein Leben übertragen zu haben. Grundlage dieser Verantwortung war für Pico eine basale Ambivalenz des Menschseins: die Möglich­ keit, zum Niedrigsten zu entarten, »degenerare«, oder zum Höchsten erneuert zu werden, »regenerari«. R Die betreffende Ambivalenz ist Thema der Faustdichtung. Der Protagonist erliegt der Versuchung, mit magischen Mitteln und unter Führung Mephistos auf Irrwegen zum Höchsten zu gelangen, um »der Menschheit Krone« zu erringen. W Angesichts der an ihn herantretenden »Sorge« muss er jedoch bekennen, sich noch nicht »ins Freie … gekämpft« zu haben. R Pico spielt in der zitierten Passage rhetorisch brillant mit dem Wortstamm »genus«, Gattung, und dem Auf- oder Abstieg in einem »de-generativen« oder »re-generativen« Lebensentwurf. Wie tief der einzelne Mensch auch immer sinken mag: seine dignitas verliert er nie – weil sie ihm als Mitglied der Gattung Mensch zukommt. Und weil sie ihm in der Potenz eines Entwurfsvermögens zugesprochen wird, kann sie auch nicht angetastet werden.

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W Dieser Auffassung scheint Faust zu widersprechen. Im Dialog mit der Sorge gibt er indirekt zu, seine dignitas verloren zu haben: »Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen, / Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, / … Da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.« R Er muss erkennen, durch den Bund mit Mephisto de-generiert zu sein und keine Freiheit zu haben, sich zu regenerieren. W Picos Konzeption ist zwar nicht »existenzphilosophisch« interpre­ tierbar, erinnert aber doch entfernt an Sartres Philosophie der freien Wahl eines Existenzmodells. Damit konnte ich mich nie anfreunden, weil diese Wahl jederzeit widerrufen oder »genichtet« werden kann. Sartre verkennt dabei die Verstrickung der jeweils eigenen Existenz mit derjenigen anderer – namentlich der uns Nächst- und Naheste­ henden. R Ein Blick auf den Anfang von »Faust II« zeigt einen nur im Schauspiel möglichen Neubeginn ohne Spuren der bisherigen Ent­ würfe. Wir haben die »Reinigung« von »erlebtem Graus« ja zitiert. Im wirklichen Leben lassen sich solche Spuren – die Fußspuren unserer Existenz – nicht mit einem Federstrich beseitigen. Das gilt selbstverständlich auch für die Orientierung der eigenen Entwürfe an den Entwürfen anderer. W »Was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, will ich in meinem innern Selbst genießen«: Dieses Bestreben Fausts ist extrem selbstbe­ züglich oder – wie erläutert – solipsistisch. »Solus ipse«, je für sich allein sein zu können, ist sicher eine Kunst, die auch zum Gelingen des Lebens gehört; als Prinzip der Selbst-Bildung ist jede Art von Solipsismus – von ideologisch verabsolutierter Selbstbezüglichkeit – aber ebenso sicher ungeeignet. R Sein Selbst »selbstherrlich« bilden zu können, ist ein Irrtum in Form der Selbsttäuschung. Der Irrtum kann durch Verbindung der beiden Renaissancephilosophen Pico und Manetti vermieden werden, und zwar durch die Verbindung reflexiven Selbstbezugs mit reziproker Selbstbildung, ideengeschichtlich formuliert: durch die Kombination der Renaissancetradition der Subjektivität mit der humanistischen Tradition der Solidarität.

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W »Nostri sunt homines« ist mit »Unser sind die Menschen« zwar philologisch korrekt übersetzt, philosophisch aber höchst unzurei­ chend paraphrasiert. Vor allem darf »unser« nicht mit Besitz- oder Eigentumsassoziationen belastet und »sind« nicht als einfacher Indi­ kativ verstanden werden. Wie in jedem Beispiel Manettis – von der Weisheit bis zu den Widdern – der Appell zur Gemeinschaft enthalten ist, appelliert der Satz über die Unsrigkeit der Menschen an Bildung und Pflege des gemeinsam Menschlichen. R Insofern enthält er den Appell des Humanismus schlechthin: Erkenne dich selbst als Mensch, anerkenne das Menschliche der anderen und handle danach, und zwar gemeinsam mit deinen Mit­ menschen. Denn: Es ist an uns, das Humanum zu bilden und zu bewahren. Daher haben wir nicht nur uns selbst gerecht zu werden, sondern einander. W Zum humanistischen Geist dieses Bildungsideals findet Faust schon deshalb keinen Zugang, weil er sich nicht mit den Menschen verbunden, sondern mit dem Teufel verbündet hat. In der Grundun­ terscheidung Picos hat er seine Zugehörigkeit zur Gattung Mensch nicht genutzt, um sein Selbst zum Höchsten zu bilden. Insofern die Regeneration des Göttlichen bei Pico die höchste Stufe der Selbstbil­ dung ist, stellt Fausts Pakt mit dem Teufel das niedrigste Niveau der Degeneration dar. R Das ist vom Ergebnis her gesehen sicher richtig. Das Grundübel des Faustischen Teufelspaktes besteht aus Picos Perspektive aber darin, dass Faust sich nicht selbst in der Welt »umgeschaut« hat – »circumspicere« ist in der »Oratio« die Grundbedingung des Erwerbs von Entwurfskompetenz –, sondern die Führung durch die kleine und die große Welt Mephisto überließ. W Einen Rest von Freiheit hat Faust sich im Zusammenhang mit der Wette vorbehalten: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen:/ Verweile doch! du bist so schön!« Denn er entscheidet, wie und wann dieser Augenblick in Erfüllung geht.

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R Ich frage mich jedoch, woher Faust, der scheinbar in verschiedenen Identitäten auftritt, das Kriterium für das mögliche »Verweilen« nimmt. Denn je nach Identität verändert sich die Betrachtung und der Wertmaßstab. W Wieso sprichst du von verschiedenen Identitäten? Sagt doch schon Mephisto: »Du bist am Ende – was du bist. / … Du bleibst doch immer, was du bist.« R Das ist richtig, eine Metamorphose Fausts scheint dadurch aus­ geschlossen. Aber andererseits gratuliert Mephisto seinem Bündnis­ partner zu dessen »neuem Lebenslauf«. Das alte Leben liegt nach der Fluch-Tirade hinter ihm. Damit hat er sich von seiner bisherigen Identität losgesagt: »Mein Busen … vom Wissensdrang geheilt«. W Auf die Verfluchung, die einer Selbstverfluchung gleichkommt, reagiert der Geisterchor wie bereits zitiert mit Wehklagen: Faust habe die »schöne Welt« zerstört, die nun stürze und zerfalle. R Mephisto kann sich in Erinnerung an seine Prophezeiung die Hände reiben: »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Des Men­ schen allerhöchste Kraft, / Lass nur in Blend- und Zauberwerken / Dich von dem Lügengeist bestärken, / So hab’ ich dich schon unbe­ dingt.« W Ohne Vernunft und entsprechende Klugheit ist jede Möglich­ keit zur Selbstorientierung und verantworteten Selbstbestimmung vertan. Der Verführer lockt mit falschem Versprechen: »Damit du, losgebunden, frei, / Erfahrest, was das Leben sei.« Fausts bisheriges Dasein ist ihm »eine Last«, »… das Leben mir verhasst.« Ein anderer Lebensentwurf kündigt sich an. R Der diametral andere Entwurf trägt hedonistische Züge: »Des Denkens Faden ist zerrissen, /… Lass in den Tiefen der Sinnlichkeit/ Uns glühende Leidenschaften stillen! / … Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuss …«.

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W Es handelt sich aber nicht um einen Entwurf nach reiflicher Überlegung, sondern die lang unterdrückte sinnliche Lust schießt spontan wie ein unterirdischer Quell an die Oberfläche und bricht sich Bahn. Ein anderer Faust wird geboren, einer, der ausschließlich nach »Liebeslust« lechzt. R Verglichen mit Faust, dem Gelehrten, erkenne ich eine eindeu­ tige Degeneration im Sinne Picos. Auch Mephisto antizipiert: »Den schlepp’ ich durch das wilde Leben, / Durch flache Unbedeutenheit, / Er soll mir zappeln, starren, kleben …«. W Hatte Faust sein Lebensglück im Erkennen gesucht und nicht gefunden, so soll der schöne Augenblick womöglich im Liebesglück zu finden sein. Das vermeintliche Glück in der Liebe endet jedoch im radikalen Unglück Gretchens. R Von diesem Desaster kann nur ein Heilschlaf befreien, womit der zweite Teil des Werkes beginnt. Und zugleich nimmt Faust eine neue Identität an. W Jetzt sprichst du schon wieder von Identitätswechsel. Die Tragödie »Faust« hat zwar zwei Teile, aber nur einen Protagonisten. R Du forderst mich dazu heraus, meine These der pluralen Identität bei Faust mit dem Meister selbst zu verteidigen. Ich zitiere nochmals aus einem Gespräch mit Eckermann: »Dem Dichter liegt daran, eine mannigfaltige Welt auszusprechen, und er benutzt die Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur, um darauf aneinander zu reihen, was er Lust hat.« W Der Held heißt Faust. In den verschiedenen Welten, durch die ihn Mephisto führt, nimmt er zwar jeweils andere Identitäten an, verbindet sie jedoch nicht mit bereits erworbenen zu einer strukturel­ len Einheit. R Von Metamorphosen Fausts im engeren Sinn können wir des­ halb nicht sprechen. Der Gestaltwandel besteht nur im Wandel der verschiedenen Welten, an die das Faustische Selbst sich äußerlich anpasst, ohne eine innere Wandlung zu vollziehen.

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W Obwohl Faust mit Eckermanns Wort die Rolle des »Helden« spielt, dessen Lebensläufe Goethe im poetologischen Begriff »Tragödie« zusammenfasst, wird der »tragische Held« nicht handlungslogisches Opfer Mephistos, wodurch der Untertitel »Eine Tragödie« gerechtfer­ tigt wäre. R Das degenerierte Genie, dessen »ungebändigtes« und »übereiltes Streben« nicht nur eine Tragödie verursacht, stirbt nicht den Helden­ tod, sondern an Altersschwäche. W Sein Leben vollendet sich nicht, sondern es endet. Der letzte Augenblick wird in Verblendung zum »höchsten Augenblick« ver­ klärt. Der gealterte Held so vieler Tragödien wird anti-tragödial erlöst. Welch eine Zumutung, und doch wiederum genial! R Du hast die verschiedenen Identitäten Fausts angesprochen. »Plu­ rale Identität« ist ein zentraler Begriff der philosophischen Anthropo­ logie Heinrich Rombachs, mit der wir uns ja bereits beschäftigt haben. W Es kommt aber darauf an, den Unterschied zu Fausts Identitäten zu berücksichtigen. Bei Rombach lebt jeder Mensch mehrere Iche. Diese Pluralität besteht gleichzeitig, während sie bei Faust in einem Nacheinander wie bei den Perlen auf einer Schnur entsteht. R Die Eckermann’sche Schnur verbindet zwar die einzelnen Perlen bzw. Identitäten. Doch wo gibt es bei Faust eine durchgängige Struktur des Selbst? W Die verschiedenen Identitäten werden nur durch den Namen Faust verbunden. Von Selbst-Bildung im eigentlichen Sinne kann keine Rede sein. R Wenn wir Fausts literarisches Leben im Hinblick auf Selbst-Bil­ dung und Selbst-Orientierung betrachten, kommen wir um ein kriti­ sches Urteil nicht herum: Er hat die konkreative Auseinandersetzung mit seinesgleichen vermieden – paradigmatisch war Wagner für ihn nur »der trockene Schleicher« – und sich dem Teufel anvertraut.

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W Es ist deshalb literarisch provokativ und philosophisch unver­ ständlich, ihn durch die Engel »in der höheren Atmosphäre« »erlösen« zu lassen. R Goethes Bemerkung gegenüber Eckermann, »nicht bloß durch eigene Kraft selig werden« zu können, »sondern durch die hinzukom­ mende göttliche Gnade«, haben wir ja bereits kritisch kommentiert. W Die betreffende »religiöse Vorstellung« ist pseudo-lutherisch. Denn für Luther wird der Mensch »allein« durch die göttliche Gnade, »sola gratia«, »allein« durch den Glauben, »sola fide«, und »allein« durch die Schrift, »sola scriptura«, gerechtfertigt – und der »allein« zu dieser Rechtfertigung gegenüber Gott Berufene ist Christus, »solus Christus«. R Im Unterschied zu den drei Ablativen steht Christus im Nominativ – ein Zeichen für seine Stellung als Subjekt der Erlösung. Goethe lässt Faust jedoch durch die unendliche Liebeskraft der Mater Glo­ riosa erlösen. Sie übernimmt als »Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin« seine Position. W Bei Luther stimme ich dir vorbehaltlos zu, bei Goethe habe ich einen Vorbehalt: Er behauptet ja gar nicht, Lutheraner sein zu wollen. Und ich gönne ihm die dichterische Freiheit, seine eigene religiöse Vorstellungswelt in Szene zu setzen. Auch die »ewige Liebe«, die Faust »von oben« geschenkt wird, ist Ausdruck der Freiheit eines Dichter­ fürsten, die nicht von der Zustimmung seiner Untertanen abhängt. R Von der »Zustimmung der Untertanen« hast du bestimmt nicht ohne Hintersinn gesprochen und vielleicht sogar in der Absicht, den bekennenden Republikaner in mir zu provozieren. Goethe war bekennender Monarchist und überzeugter Gegner republikanischer Freiheit. Dazu mag hier ein Zitat aus »Herrmann und Dorothea« genügen: »Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein / Und für den Edeln ist kein schöner Glück / Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen.« W In einem Vortrag über Goethes Rechtsdenken hast du dich auch zu Goethes Monarchismus geäußert, und zwar in einem kräftigen Sprachbild, das ich gern zitieren würde: »Da man … republikanische

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Freiheit weder anschauen noch abbilden kann … Goethe das Gegen­ prinzip aber stets vor Augen hatte – in der Gestalt seines Herzogs Carl August, von Napoleon ganz zu schweigen –, bekam er das Freiheitsprinzip im Schatten hinter den großen Gestalten von Fürst und Kaiser nicht in den Blick.« R Das ist das Grundproblem für das Verständnis und die Vermitt­ lung des Prinzips republikanischer oder öffentlicher Freiheit bis heute geblieben: Es lässt sich nicht personifizieren, nicht in Paradeuniform präsentieren oder zu Pferde fotografieren. Deshalb fällt es vielen so schwer, sich mit ihm – dem unpersönlichen Prinzip öffentlicher Freiheit – zu identifizieren. W In seinem lesenswerten Buch über Goethes und Schillers Freund­ schaft schreibt Rüdiger Safranski treffend: »Sinn und Geschmack für das Öffentliche muss gelernt sein.« Das können wir hier aber nicht vertiefen. R Stattdessen sollten wir uns fragen, ob die Aristotelische »phrone­ sis« diejenige Fähigkeit vermittelt, die Selbstorientierung ermöglicht und mit ihr ein gelingendes Leben im Glück der »eudaimonia«. W Einverstanden. Auszugehen ist dabei von dem bereits behandelten Streben nach Vollendung. Wie alles Lebendige strebt der Mensch bei Aristoteles nach der Erfüllung seines Seins. R Gemäß dem Bannspruch: »Es irrt der Mensch, solang’ er strebt« ist für den Menschen ein gelingendes Leben, das sich im Gelingen vollendet, ausgeschlossen, weil »irren« im Kontext zu »streben« nicht epistemologisch zu verstehen ist. W Deshalb muss der Mensch wie Faust erlöst werden. Ihm ist ein glückliches Gelingen durch eigene Kraft versagt. Trotz seiner panthe­ istischen Grundhaltung hat Goethe den christlichen Erlösungsglau­ ben nicht verabschiedet. In gewisser Weise vergewaltigt er Faust durch die Erlösungstat, weil dieser nicht nach Erlösung strebte. R Glücksstreben haben wir im Sinn des Vollendens als Ganz-seinWollen verstanden. Ist ein derartiges Streben bei Faust erkennbar?

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W Seine Lebensentwürfe waren zuletzt auf den schönen bzw. höchs­ ten Augenblick gerichtet, nicht aber auf ein Ganz-Sein, das keine Erlösung notwendig machen würde. R Insofern Goethe seine Dichtung »Eine Tragödie« nennt, sind schon von vornherein Zweifel an der Vollendung angebracht. W Aber bleiben wir bei der Betrachtung Aristotelischer Aspekte. R Bei der »phronesis« handelt es sich um eine Art der Klugheit, die Aristoteles grundsätzlich den Verstandestugenden zuordnet, nicht jedoch den sittlichen Tugenden. W Das ist sicher richtig, aber die Phronesis ist kein rein theoretisches Vermögen des Verstandes, sondern sie hat eine praktische Dimension. Aristoteles ist sichtlich bemüht, die herkömmliche Auffassung der Phronesis als reines Verstandesvermögen zu überwinden. R Noch bin ich von deiner Aristoteles-Interpretation nicht ganz überzeugt. W Dann höre die folgende Überlegung: Für praktisches Handeln kommt es darauf an, im situativen Einzelfall richtig, treffend zu agie­ ren. Darin bekundet sich eine spezifische Intelligenz. Diese Art der Intelligenz unterscheidet sich jedoch von anderen Intelligenzweisen, bei denen das logische Schließen im Vordergrund steht. R Eine solche praktisch wirkende Intelligenz willst du mit Phrone­ sis gleichsetzen? W Nicht ich, sondern Aristoteles. Bei praktischem Handeln ist nicht das Allgemeine maßgebend, sondern das Einzelne, das Situative. Hier die richtigen Entscheidungen zu treffen, um die Situation im besten Sinne zu beantworten, erfordert ein praktisches Urteilsvermögen, nämlich das der sittlichen Einsicht bzw. der Phronesis. R Die Phronesis erfüllt also eine Doppelfunktion. Sie verfügt einer­ seits über praktisches Wissen, Kenntnis, um in Entscheidungspro­ zessen richtig und trefflich zu wählen, und andererseits über die Urteilsfähigkeit, im Einzelfall bestens handeln zu können.

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W Genau so sehe ich das auch. Aber lassen wir unseren Meister selbst sprechen: »Die phronesis ist aber auch nicht lediglich auf das Allgemeine gerichtet, sie muss vielmehr auch in den Einzelfällen klar sehen. Denn ihr Wesen ist Handeln … Man muss also beide Formen haben (die auf das Allgemeine und die auf das Besondere gerichtete Einsicht) oder die letztere in höherem Grade als die erste.« R Das finde ich höchst interessant. Die Leistung der Phronesis für das praktische und auch für das sittliche Handeln bewertet Aristoteles hier höher als ihre Verstandes-Leistung. W Und seine Reflexionen dienen dem praktischen Handeln. »Wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaf­ tigkeit sei, sondern um wertvolle Menschen zu werden.« R Ich unterbreche den Gedanken nur ungern, aber hat Faust sich bemüht, ein wertvoller Mensch zu werden – und zwar im Aristoteli­ schen Sinne »pros heteron«: für andere? W Sicher nicht. Von sittlicher Selbstorientierung sind in beiden Teilen des Werkes keine Spuren zu finden. Aber lass uns zu Aristote­ les zurückkehren! R Die Phronesis setzt eine gewisse Lebenserfahrung voraus, die Umsicht und Weitblick gewährt. Man muss bereits bestimmte Situa­ tionen erfahren und nach Möglichkeit gut beantwortet haben, um trefflich handeln zu können. Können setzt Kennen voraus. W Phronesis ist ein Vermögen, das durch den Erfahrungsschatz praktischen Handelns an Schärfe gewinnt. Die praktische Urteilskraft nimmt durch sittliches Urteilen zu. R Die Übersetzung der Phronesis mit sittlicher Einsicht erfasst primär den vernünftigen Aspekt, während die Übersetzung durch praktische Urteilskraft den tätigen Aspekt aufgreift. »Phronesis hat befehlende Kraft, ihr Ziel ist es, zu bestimmen, was zu tun und was zu lassen ist.«

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W Wir dürfen nicht vergessen, dass das praktische Urteilen der Phronesis sich als Mit-sich-zu-Rate-Gehen vollzieht. Dem Urteilen geht das Abwägen voraus. Weil der konkrete Einzelfall und das Situative des Falles im Zentrum stehen, sind generelle und vorgefer­ tigte Antworten fehl am Platze. Um bestens handeln zu können, müssen alle möglichen Aspekte einbezogen und an Alternativen gemessen werden. R Warum sagst du »gemessen«? W Um an die Aristotelische Mesotes-Lehre zu erinnern, die leider allzuoft missverstanden wird, auch von Kant, der sie als »Mittelstraße zwischen den Lastern« abqualifizierte. R Es geht nicht darum, ein Mittleres oder gar Mittelmäßiges zu finden. Mesotes hat bei Aristoteles den Sinn des Höherstehenden, für ein gelingendes Leben Richtigen. Im Vollzug des Mit-sich-zu-RateGehens ergibt sich dafür jeweils individuell und situativ das rechte Maß, die treffende Mitte oder kurz das Treffliche. W Ich erlaube mir, erneut zu unterbrechen. Auf das rechte Maß kommt es im Leben an. Dies hat Faust jedoch schon als Gelehrter verloren. Im Zusammenhang der Wette mahnt schon Mephisto: »Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt.« Und gleich darauf: »Glaub unsereinem: dieses Ganze / Ist nur für einen Gott gemacht!« R Unmittelbar nach Fausts Tod formuliert Mephisto: »Ihn sättigt keine Lust, ihm genügt kein Glück …«. Fausts Unersättlichkeit ist maßlos. W In den »Maximen und Reflexionen« verlangt Goethe für das Bestehen des Einzelnen im »Weltwesen« ein »unerlässlich gefordertes Ebenmaß« und spricht es jenen »klugtätigen Menschen« zu, »die ihre Kräfte kennen und sie mit Maß und Gescheitigkeit nutzen«. Und dennoch erdichtet er mit Faust eine Figur, die ihm, wie Michael Jaeger feststellt, »als Verehrer des Maßgedankens der klassischen Philosophie so suspekt sein musste«. Auf diesen Widerspruch müssen wir später noch eingehen.

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R» Klugtätigkeit« und »Gescheitigkeit« sind als Wörter aus der Mode gekommen, aber die »phronesis« ist als philosophischer Begriff in Aristotelischer Tradition wiederentdeckt worden. Das gilt namentlich für Andreas Luckners Taschenbuch mit dem Titel »Klugheit«. W Das Vorwort verrät, dass es sich um die gekürzte Version seiner Habilitationsschrift handelt. Das erklärt das Niveau der Argumenta­ tion, aber auch die sprachliche Qualität der Darstellung. »Phronesis« wird nicht einfach mit Klugheit übersetzt, sondern mit dem Terminus »Selbstorientierungskompetenz« paraphrasiert. R Das klingt zunächst etwas sperrig, die damit zum Ausdruck gebrachte Kritik an einem instrumentellen Verständnis von Klugheit ist aber treffend: »Sich selbst orientieren« heiße nämlich nicht in jedem Fall, »mit seinen Handlungen als probaten Mitteln Zwecke zu realisieren – im Gegenteil, dieser Instrumentalismus der Hand­ lungsorientierung ist irreführend«. Das Leben einer Person könne »eine Richtung aufweisen, d. h. orientiert sein, ohne bestimmbaren Zwecken zu dienen«. W Sich in seinem Handeln zu orientieren könne zwar auch bedeuten, auf Zwecke oder Ziele ausgerichtet zu sein, vorrangig gehe es aber darum, »sich über seine Präferenzen klar zu werden«. Ein glückendes oder gelingendes Leben im Sinne der Aristotelischen »eudaimonia« ist dabei »kein Zustand«, auf den »die Klugheit hinarbeitet, sondern die bestimmte Form des Lebens selbst«. Das Glück des Klugen ist also nach Luckner »kein intendierter Zustand«. R Der letzte Satz formuliert buchstäblich den Gegen-Satz zu Fausts Glücksintention. »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön!« In dieser Vorstellung ist der Glücksaugen­ blick ein momentaner Zustand, der wie ein Zweck erfüllt oder wie ein Ziel erreicht werden soll. Dazu schreibt Luckner ebenso pointiert wie präzise: »Das Glück, wenn überhaupt, stellt sich ein und zwar gerade in der Zweck- und Mittellosigkeit des Tuns.« W In diesem Zusammenhang rekonstruiert er die Aristotelische »phronesis« als »eine Existenzform«, also nicht als »eine bestimmte Anwendung von Wissen«, sondern als »die Weise, wie eine Person ist«. Dabei geht es nicht um das Befolgen von klugen Regeln. Das

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Charakteristikum des Klugen ist vielmehr, »dass er mit sich zu Rate geht, abwägt, die Besonderheiten der Situation sieht und damit auch beurteilen kann, wann der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort ist, in einer bestimmten Weise aktiv zu werden«. Das stimmt mit unseren Überlegungen zu Aristoteles sehr schön überein. R So wird aus der Aristotelischen Tugend der »phronesis« die aktu­ elle »Optimalform praktischer Vernunft und damit die vollgültige Selbstorientierungskompetenz in Denken, Handeln und im Leben einer Person«. Bezogen auf die kategoriale Differenz zwischen dem zweckhaften Herstellen der »poiesis« und dem zweckfreien Handeln der »praxis« heißt es bei Luckner kurz und bündig: »Das Leben ist Praxis, nicht Poiesis.« W Fausts Leben war dagegen im zweiten Teil der Tragödie ganz durch die Poesis des technischen Unternehmers oder – so sagt es Hannah Arendt in ihrem bekannten Werk »Vita Activa« – des »Homo faber« charakterisiert. Als »Macher« steht er für eine Gesellschaft, in der das menschliche Tätigsein vom »Herstellen« her verstanden wurde und die Aristotelische Bedeutung des »Handelns« in Vergessenheit geriet. R »Was wir tun, wenn wir tätig sind«. Dieses Thema ihres Buches behandelt die bekennende Aristotelikerin in der Absicht, die »praxis« zu rehabilitieren: »Dass die lebendige Tat und das gesprochene Wort das Größte sind, wessen Menschen fähig sind, findet sich theoretisch in dem Aristotelischen Begriff der ›energeia‹ ausgesprochen, also jener Aktualität, die allen Tätigkeiten eignet, die keinen Zweck verfol­ gen«, sondern ihr Ziel »in sich tragen und daher ›entelecheia‹ genannt werden können«. W Was noch aussteht, ist die nähere Bestimmung unseres Freiheits­ begriffs. R Angekündigt haben wir ihn mit der provokativen These »Freiheit ist zwecklos«. Sie spielt mit dem Doppelsinn des Wortes »zwecklos«: Es kann nicht nur »ohne Erfolgsaussicht« bedeuten – »Widerstand ist zwecklos« –, sondern auch »ohne Zielvorgabe«.

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W Unsere philosophische These geht von der zweiten, weniger gebräuchlichen Wortverwendung aus. Sie folgt dem Sprachgebrauch des Philosophen und Soziologen Georg Simmel. In seinem späten, im Todesjahr 1918 erschienenen Werk »Lebensanschauung« schreibt er, der Mensch habe als »unzweckmäßiges Wesen« eine Existenzstufe erlangt, die über dem Zweck stehe: »Es ist sein eigentlicher Wert, dass er zwecklos handeln kann.« R Im Rahmen dieser lebensphilosophischen Wesens- und Wertbe­ stimmung des Menschen gewinnt auch der Begriff der Freiheit eine andere Bedeutung als üblich: »Der Gegensatz zur Freiheit ist nicht der Zwang«, sondern »vielmehr die Zweckmäßigkeit«. W Simmel darin zu folgen, »zwecklos handeln« zu können, bedeu­ tet nicht, die heute herrschende Vorstellung »zweckrationalen Han­ delns« verabschieden zu müssen. Denn selbstverständlich leben wir in einer Gesellschaft, die Leistung und damit den rationalen Einsatz von Mitteln zur Erfüllung vorgegebener Zwecke verlangt. Unsere gesamte Wirtschaft funktioniert nach dem ökonomischen Prinzip, mit gege­ benen Mitteln den größtmöglichen Ertrag oder einen angestrebten Ertrag mit dem geringstmöglichen Mitteleinsatz zu erwirtschaften. R In beiden Spielarten, als »Maximalprinzip« auf den Ertrag und als »Minimalprinzip« auf den Mitteleinsatz bezogen, ist dieses Grund­ prinzip der Ökonomie ein teleologisches Prinzip: Es ist auf ein »telos«, einen Zweck, fixiert, für dessen Erfüllung bestimmte Mittel – wie die klassischen Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital – zur Verfügung stehen. W Auf einen Zweck »fixiert« ist teleologisches Handeln ganz in dem Sinne, in dem der »Zweck« ursprünglich der Nagel gewesen ist, mit dem die Zielscheibe beim Armbrust- oder Büchsenschießen im Idealfall exakt in ihrem Zentrum befestigt wurde. Wer ins Schwarze traf, hatte damit zugleich den Nagel auf den Kopf getroffen. R Abgesehen von ihrem sprachästhetischen Reiz bringt diese Wort­ herkunft – die in der »Reißzwecke« noch erkennbar ist – das Zweckhafte aller Teleologie bildhaft prägnant und begrifflich präzise zum Ausdruck: Der Zweck ist dem Handelnden vorgegeben und zu

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bestmöglicher Erfüllung aufgegeben. Wissenschaftstheoretisch for­ muliert stellt das teleologische Prinzip daher eine lineare Zweck-Mit­ tel-Relation dar, deren Kennzeichen ihr instrumenteller Charakter ist. W Der Grad der Zweckerfüllung liegt in dieser Grundrelation aus­ schließlich in der Hand des Handelnden und hängt nur von der Qualität des Instrumentariums und der Richtigkeit seines Einsatzes ab. Die Einseitigkeit dieser Relation ist unschwer zu erkennen: Es gibt nur einen handlungsfähigen Akteur, der sich allein auf den unab­ hängig von ihm existierenden Zweck und den richtigen Mitteleinsatz zu konzentrieren hat; eine wie auch immer geartete intersubjektive Wechselbeziehung besteht dabei nicht. Kurz: Es handelt sich um eine instrumentelle Relation, nicht um ein interpersonales Verhältnis. R Wissenschaftstheoretisch waltet dort die zweckrationale, nicht die kommunikative Vernunft im Sinne Habermas’ oder, wie hier gesagt werden soll: das teleologische, nicht das dialogische Prinzip. Beide Prinzipien müssen unterschieden, dürfen aber nicht vonein­ ander getrennt und gegeneinander ausgespielt werden. Denn selbst­ verständlich steht nicht nur unser Wirtschaftssystem, sondern auch unser Privatleben unter dem Zwang, Zwecke zu verfolgen. Aber: Wir wirtschaften und leben mit Menschen, die von der Verfolgung unserer Zwecke und vom Einsatz unserer Mittel betroffen sind. W In der eingehend erläuterten Aristotelischen Tradition der Phro­ nesis ist es ein Gebot der Klugheit, diese Betroffenen besonders dann nicht als Mittel zum Zweck zu behandeln, wenn sie von Rechts wegen zur Befolgung von Anweisungen verpflichtet sind. So und nur so kann eine freiheitliche Kultur in den Familien, der Gesellschaft und der Wirtschaft wachsen und gedeihen. Freiheit ist in dieser Kultur kein Status, sondern eine Struktur im Sinne der Philosophie Heinrich Rombachs. R Strukturontologisch sind die Subjekte dieser Freiheitskultur keine isolierten Individuen, die sich von allen Bindungen befreit haben, sondern sie stehen miteinander in Beziehungen, die außer Zweckver­ bänden auch Freiheitsverhältnisse ermöglichen.

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W Freiheitsverhältnisse sind interpersonale Wechselbeziehungen, die durch gegenseitiges Zutrauen und Zumuten von Freiheit charakte­ risiert sind. Zugetraute Freiheit ist ein Geschenk, zugemutete Freiheit eine Herausforderung. Im Ausgleich dieser Ambivalenz liegt eines der Geheimnisse glückender zwischenmenschlicher Beziehungen. R Die Zwecklosigkeit der Freiheit verlangt die Verabschiedung teleo­ logischer Konzeptionen gelingenden Lebens. Andreas Luckner hat dies pointiert so formuliert: »Das Leben als Ganzes … hat kein in ihm zu erreichendes Ziel, es ist in einem wichtigen Sinne ›zwecklos‹ und so kann es auch keine Versicherung für das Erreichen eines Lebenszieles namens ›Glück‹ geben. Das Glück findet sich am Rande, nicht am Ende des Weges.« W Das ist die Gegenposition zu Fausts Position am Ende seines Lebensweges: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.« Alles, was ein Leben gelingen lässt, das in heiterer Gelassenheit freudvoll geführt wird, ist dem ruhelos Strebenden und rastlos Schaffenden versagt geblieben. R Nicht einmal das letzte Genießen wird als lustvoll-gegenwärtig präsentiert. Als »Vorgefühl« bleibt es strebend, auf eine Zukunft bezogen, die nicht mehr selbst erlebt werden kann. Der Ruhm der Nachwelt wird zum Ersatz für das Glück im Leben. Das ist philoso­ phisch kein gleichwertiges Surrogat, weil es statt der Aristotelischen Vollendung des Seins ein bloßes »Vor-Gefühl« bietet … W … das als solches noch nicht einmal ein echtes Gefühl darstellt. R Literarisch setzt Goethe damit das Pünktchen auf das »i« oder besser: die beiden Pünktchen auf das »ö« der von ihm selbst so benannten »Tragödie«. W Durch die Wette mit Mephisto hat Faust sich seiner Freiheit beraubt und gerät in den Stand der selbstverschuldeten Unmündig­ keit, aus der nach Kant nur der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, herausführen kann.

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R Mephisto glaubt deshalb leichtes Spiel zu haben: »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Des Menschen allerhöchste Kraft, / … So hab’ ich dich schon unbedingt!« Die Wette mit dem Teufel einzugehen war folglich das Gegenteil der Klugheit. W Die Verlockung: »Damit du, losgebunden, frei, / Erfahrest, was das Leben sei.«, erweist sich jedoch als Lockruf in teuflische Verstri­ ckungen… R … aus denen nur eine Erlösung à la Goethe befreien kann. W Am Anfang dieses Kapitels haben wir Jorge Bucays Unterschei­ dung zwischen »Ziel« und »Richtung« zitiert. Sie findet sich in einem Buch mit dem Titel »Drei Fragen. Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?« unter der Überschrift »Lebensorientierung und Glück«. Fettgedruckt heißt es dort: »Glück ist die Ruhe desjenigen, der sicher weiß, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet.« R Insofern »richtig« hier auf »Richtung« und nicht auf »Ziel« bezo­ gen ist, bestätigt sich die Zielhaftigkeit der Faustischen Wettbedin­ gung »Werd’ ich zum Augenblicke sagen …«. Mit dieser Bedingung hat er das erstrebte Glück eines einzigen Augenblicks als ein Ziel vorgegeben, das ihm gerade nicht die Ruhe dessen bescheren konnte, der sich auf dem Weg in die richtige Richtung weiß. W Für eine wegweisende Richtungsangabe war das »Augenblicks«Ziel viel zu unbestimmt. Aus gutem Grund und mit voller Absicht hat Faust es in ein Rätselwort gekleidet. Man könnte vielleicht von einem »offenen telos« sprechen. Nur aufgrund der Offenheit wurde eine Reise durch die kleine und große Welt möglich. R Es handelte sich jedoch nicht um eine Bildungs-Reise, denn der alte Faust bekennt: »Ich habe nur begehrt und nur vollbracht / Und abermals gewünscht und so mit Macht / Mein Leben durchgestürmt …«. Auffälligerweise ist hier nicht vom Streben die Rede … W … und schon gar nicht nach Höherem, sondern: »Im Weiterschrei­ ten find‘ er Qual und Glück.«

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R Es bestätigt sich, was Faust schon zu Beginn wie eine Replik auf den Bannspruch des Herrn formuliert: »Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.« W Die Ruhelosigkeit seines Erkenntnisstrebens und die Rastlosigkeit seines Schaffenswahns, die wir eingehend erläutert haben, resultieren aus der Vorgabe zweier unerreichbarer Ziele: erkennen zu wollen, was die Welt »im Innersten« zusammenhält, in »Faust I«, und ein »para­ diesisch Land« für Millionen zu schaffen, dessen Ruhm die Zeiten überdauert, in »Faust II«. Beide Vorgaben – das »Innerste« ebenso wie das »Paradiesische« – sind so vermessen, dass die Zielerreichung von vornherein ausgeschlossen erscheint. R» Vermessen« ist ein gutes Stichwort: Faust hat nichts von der Lebensklugheit der Aristotelischen Phronesis und ihres Gespürs für das richtige Maß. Ganz im Gegenteil: Er leidet unter einer Selbst­ überhebung, die sich im Spiegel des Schauspiels als ver-teufelte Hybris zeigt. W Sein Scheitern erinnert an das Schicksal Luzifers, den Faust als mythologischen Ursprung aller Hybris in sich trägt. Aber auch im äußeren Bund mit Mephisto hat er keine Chance zu ernsthafter Selbstorientierung – Luzifer sitzt ihm in der Seele und Mephisto im Nacken. R Für unser Anliegen einer »auf eigene(n) Faust« betriebenen Phi­ losophie kann damit eine radikale Konsequenz gezogen werden: Die philosophische Wurzel des Gelehrtendramas und der Scheiternsge­ schichten ist eine Verzweckung des Lebens, die – im kontradiktori­ schen Gegensatz zu unserer These einer »Zwecklosigkeit der Freiheit« – Faust zum Sklaven seiner beiden vermessenen Zielvorgaben wer­ den ließ. W Vergleichen wir unser Ergebnis mit Fausts Fazit: »Das ist der Weisheit letzter Schluss: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muss.« Als Bedingung eines »Ver­ dienens« der Freiheit folgt deren »Erobern« Aristotelisch gesprochen dem »teleologischen« Modell der herstellenden Poiesis und nicht dem

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»entelechialen« Modell der handelnden Praxis. Wie am Ende des Kapitels über die »Scheiternsgeschichten« festgestellt, hat Faust sich letztlich nicht verändert. R Im Grundirrtum befangen, die Freiheit »erobern«, das Glück erzwingen und beides zweckhaft herstellen zu können, verfehlt er den Weg eines in »zweckloser Freiheit« gelingenden Lebens. W Dieses Glück haben wir in unserem Buch »Lust, Gutes zu tun« zum Gegenstand eines philosophischen Gesprächs gemacht. Dort findet sich je ein Kapitel über »Beglückende Freundschaft« und über »Glück in der Liebe«. Beides, Freundschaft und Liebe, hat Goethe dem tragischen Helden seines Schauspiels nicht gegönnt. R Gegenüber Famulus Wagner fehlt Faust die zur Freundschaft erforderliche Sympathie, gegenüber Gretchen kommt die erst wäh­ rend ihrer Kerkerhaft entstandene Liebe zu spät und gegenüber Helena hält eine traumhafte Liebesbeziehung der Wirklichkeit nicht stand. W Unter der Kapitelüberschrift »Glückende Beziehung im ›Zwi­ schen‹“ behandeln wir »das Zwischen« – das Hauptwort der dialogi­ schen Philosophie Martin Bubers – als Bedingung für gelingende interpersonale Beziehungen in bestimmten Näheverhältnissen. Das kann hier nicht weiter ausgeführt werden, soll aber einen letzten Mangel in Fausts Leben zum Ausdruck bringen: die Unfähigkeit, von sich abzusehen, andere als seinesgleichen anzusehen, auf sie zuzugehen und Nähe zuzulassen. R Für Will Quadflieg, der die Figur seiner Hauptrolle so verinner­ licht hatte wie kein anderer Darsteller, war Faust ein »überdimensio­ naler Egoist«. Diese Überdimensionalität des Egoismus können wir ohne weiteres im Sinne unserer Hybris-Kritik interpretieren: Faust überhob sich zum »Ebenbild der Gottheit«, ging aber im Bund mit Mephisto buchstäblich über Leichen, um seine Ziele zu erreichen und seine Zwecke zu erfüllen.

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W Der Bund wurde für ihn zum Teufelskreis, aus dem es kein Entkommen gab … R … aber auch der Gott, dem er zu gleichen glaubte, war nicht anders als zirkulär bestimmbar. W Ist damit schon alles gesagt, was wir unter der Überschrift »Teu­ felskreis und Gotteszirkel« diskutieren wollten? R Ein Blick auf die Inhaltsangabe zeigt, dass noch ein Kapitel mit der Überschrift»Aneignung« aussteht. W Eine Überlegung möchte ich noch vorher anstellen. Bisher haben wir Faust unter dem Motto »Scheitern« in kritischer Absicht betrach­ tet. Ich schlage vor, ihn probeweise aus der Perspektive der Moderne zu lesen. R Haben wir das nicht schon am Ende des Kapitels »Scheiternsge­ schichten« versucht? W Ja, aber nur en passant. Durch einen philosophisch wohlgesonne­ nen Blick auf die »inkommensurable« Figur kann man ihr vielleicht Positives abgewinnen. Kant fragte noch nach der Bestimmung des Menschen und danach, was wir tun sollen. Goethes Faust macht sich frei von solch fesselnden Fragen. R Im gleichen Augenblick fesselt er sich jedoch an Mephisto, von dem er sich, wie er selbst zugibt, nicht freikämpfen kann. W Aber Mephisto ist die vom Herrn tolerierte Figur, Faust über sich hinaus zu bringen. Er ist das Movens für die Selbstfindung Fausts. Er hat Katalysatorfunktion und wirkt als Energetikum für Fausts Selbstübersteigung. R Gut, ich bin bereit, diesem Gedanken zu folgen. Mephisto weckt die Weltneugier Fausts, der seinen »Kerker« und sein »verfluchtes dumpfes Mauerloch« satt hat, der sein Leben dem Wissen geopfert hat, ohne darin das Glück der Erfüllung zu empfinden.

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W Mit Hilfe Mephistos will er sich in moderner Weise neu erfinden und in der Weltreise neu entdecken. R Ohne Aufbruch und Wagnis keine Erneuerung, keine Entwick­ lung. W Dass damit die Möglichkeit des Irrtums und des Scheiterns gege­ ben ist, liegt auf der Hand. Es läuft nicht alles glatt und gut, sondern vieles läuft auch schief und schlecht. Wer aber das Laufen nicht wagt, kommt nicht voran. R Auf dem Weg, den das Streben nach innovativer Selbstverwirkli­ chung nimmt, sind Umwege, Holzwege und Sackgassen meist unver­ meidbar. Diese »Irrtümer« sind dann positiv zu bewerten, wenn der Strebende aus ihnen lernt. W Eine solche Einstellung finde ich in pointierter Weise in einer Keunergeschichte von Bertolt Brecht. Auf die Frage: »Woran arbeiten Sie?«, antwortet Keuner: »Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.« R Das von uns als Bannspruch des Herrn bezeichnete Wort: »Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt«, wäre nach dieser Auffassung nicht als Verfehlen zu verstehen, sondern im Zusammenhang mit Streben positiv zu werten. In theologische Sprache übersetzt, hieße dies: Irren ist keine Sünde. W Aus der Perspektive Fausts ist die Sokratische Frage, wie zu leben sei, neu zu stellen, denn für Sokrates war eine Orientierung an der Ordnung stiftenden Idee des Guten bestimmend. R Für den modernen Menschen ist diese Idee aber ebenso unbe­ stimmt wie der Faustische schöne Augenblick. Er kennt keinen Sokra­ tischen Ordnungsrahmen, an dem er sich orientieren könnte. W Bei Faust kommt erschwerend hinzu, dass er die Erfüllung seines Lebens in eine unbestimmte Zukunft verlegt, in Erfolge seines Schaf­ fens, die ihn überdauern.

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R Und gerade darin erweist er sich wiederum als moderne Gestalt, insofern der erstrebte Augenblick aus der Zukunft gewonnen wird. In ihm verkörpert sich die Manie der Moderne, nicht in der Gegenwart zu leben, sondern auf die Zukunft fixiert zu sein. In Analogie zu Chronos frisst die Zukunft die Gegenwart auf. W Dadurch entsteht jene permanente und geradezu exponentielle Beschleunigung des Lebens, die unser Zeitalter bestimmt. Bei Faust heißt es: »Ich bin nur durch die Welt gerannt« und habe »mein Leben durchgestürmt«. R Ich höre das Echo bei Hofmannsthal. Angesichts des Todes klagt »Jedermann«: »Ich habe noch gar nicht gelebt.« W Die permanenten Wechsel auf die Zukunft in einer die gesamte Ökonomie beherrschenden Wachstumsideologie verstellen den Blick auf die Grenzen des Wachstums aufgrund endlicher Ressourcen … R … und das Bewusstsein der Endlichkeit des Menschen. Für ihn gibt es noch keine Futures wie im Finanzbusiness. W Mancher Zeitgenosse träumt schon davon, andere Planeten bewohnbar zu machen, weil die Art unseres Wirtschaftens die Natur ausbeutet und zerstört. »Earth on fire!« lautet heute der Weckruf kritischer Jugend. R Auch in dieser Hinsicht hat Goethe ein prognostisches Gespür für die Gefahren einer Unterwerfung der Natur entwickelt, die noch immer euphemistisch als Naturbeherrschung ausgegeben wird. W Michael Jaeger liest den zweiten Teil der Tragödie »als eine Phä­ nomenologie der anbrechenden Moderne«. Aus dieser Perspektive, der wir uns anschließen, folgt seine Überlegung: »Als Wiedergänger der Jakobiner betrachtet Goethe die Anhänger des Industrie- und Arbeitspropheten Saint-Simon, und dem alten Faust verleiht Goethe dann die Züge Saint-Simons und der Saint-Simonisten, solcherma­ ßen den spezifisch modernen Charakter seines Dramenhelden in Szene setzend.«

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R Goethe selbst charakterisiert Faust als einen Mann, welcher »den Besitz des höchsten Wissens, den Genuss der schönsten Güter für unzulänglich achtet, seine Sehnsucht auch nur im mindesten zu befriedigen«, als »einen Geist, welcher deshalb nach allen Seiten hin sich wendend immer unglücklicher zurückkehrt … Diese Gesinnung ist der modernen … analog«. W Den schmerzlich empfundenen Epochenbruch gestaltet Goethe durch den szenischen Hiatus des dritten Aktes. Während im HelenaAkt eine Art Zeitlosigkeit herrscht, dominieren Dynamik und Rastlo­ sigkeit die weiteren Ereignisse. R Der Kontrast spiegelt sich in den Worten: »Die Gegenwart allein / Ist unser Glück.« und: »Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück, / Er! unbefriedigt jeden Augenblick.« W Der oben offen gelassene Widerspruch zwischen dem »Klassiker« Goethe, der am Maß der klassischen Antike orientiert war, und dem Erfinder der maß-los agierenden Faustfigur erklärt sich damit als Goethes Kritik an der Maßlosigkeit der Moderne. R Wir dürfen Faust also nicht als Sprachrohr Goethes missverstehen. W Wenn Goethe den Heilsversprechen der Moderne misstraut, könnte man vermuten, dass die Erlösung Fausts indirekt eine »Erlö­ sung« von diesen modernen Versprechen intendiert. Faust ist der scheiternde Glückssucher der Moderne. R Auf die Frage nach dem Wichtigsten im Leben antwortete Martin Buber: »Womit ich mich gerade abgebe.« Ich sehe darin eine philoso­ phische Heiligung der Gegenwart. W So interpretiert, liegt das Glück eines gelingenden Lebens immer im Hier und Jetzt. Dieses »Jetzt« ist der Augenblick, den wahrzuneh­ men und festzuhalten Faust nicht gelang. R Man könnte von einer Grammatik des Gelingens sprechen: Ihre Zeitform ist das permanente Präsens, die dauernde Gegenwart des Buber’schen Augenblicks.

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W Fausts Zeitform ist dagegen ein finales Futur: eine irrigerweise in die Zukunft verlegte Hoffnung, für deren Erfüllung es in der Gegenwart nur ein »Vorgefühl« des Glücks gibt. R Für uns ist das der große Irrtum Fausts, durch den das Schauspiel auch für ihn zur Tragödie wird. W Der gealterte Goethe kennt eine andere Art des »Augenblicks« als der rastlose Faust. Er schreibt im April 1823: »Lange leben heißt gar vieles überleben, geliebte, gehasste, gleichgültige Menschen, Königreiche, Hauptstädte, ja Wälder und Bäume, die wir jugendlich gesäet und gepflanzt … Alles dieses Vorübergehende lassen wir uns gefallen; bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegenwärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit.« R Dieses »Ewige« hat mit dem ewigen Leben des Christentums aber nichts zu tun! W Drei Generationen nach Goethe verkündet Nietzsche: »Gott ist tot.« Mit dieser Proklamation wurde der Gotteszirkel aufgehoben … R … aber nicht der Teufelskreis. W/R Angesichts teuflischer Verbrechen gegen die Menschheit im 20. und 21. Jahrhundert sind wir geneigt, uns einen Teufel zurück zu wünschen, der nichts von der bestialischen Natur von Schwerstver­ brechern hat, sondern »nur« die mephistophelische Energie repräsen­ tiert, das Leben nicht zur Ruhe kommen zu lassen.

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Aneignung Inwiefern Fausts literarische Figur für uns ein philosophisches Paradigma ist

R Nicht ohne wortspielerische Anknüpfung an die anfängliche »Zueignung« kündigt die Überschrift unseres letzten Kapitels eine abschließende »Aneignung« des Faust-Stoffes an. W Der Untertitel enthält das Programm dieser Aneignung: Wir inter­ pretieren das im Verlauf unseres Gesprächs näher untersuchte Schei­ tern der literarischen Figur Fausts als philosophisches Paradigma. R Mit dem Wort »Paradigma« greifen wir nicht so hoch wie Platon, der »paradeigma« als Urbild im Sinne seiner Ideenlehre bestimmt hat … W … und gehen wir nicht so weit wie Thomas S. Kuhn, der unter »Paradigma« in seinem Buch über »Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« das Weltbild einer Wissenschaft verstand. R Bei uns bedeutet »Paradigma« nur so viel wie Exempel, Modell oder Muster. Indem wir Faust als »philosophisches« Paradigma interpretieren, nehmen wir den Untertitel unseres Buches »Fausts Scheitern als philosophische Herausforderung« noch einmal auf und bemühen uns um eine bündige Zusammenfassung unseres Anlie­ gens. W Dabei sind wir uns der Schwierigkeit bewusst, Faust als philoso­ phisches Exempel für den Typus einer individuellen Persönlichkeit herauszuarbeiten – ist er doch nach Goethes eigenem Urteil gegen­ über Eckermann »ein so seltsames Individuum, dass nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können«. R Wir sollten ihn dazu selbst befragen.

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W Goethe? Wie soll das gehen? R Nein, Faust! W Ein so unberechenbarer Irrläufer wie er würde eine Zeitreise in unsere Gegenwart vielleicht sogar gern auf sich nehmen. R Es käme auf einen Versuch an. Wir sollten ihn einladen, um ihn mit dem Untertitel unseres Buches zu konfrontieren: »Fausts Scheitern als philosophische Herausforderung«. W Es klopft. Wer mag das sein? F (Faust)Ich bin’s, bin Faust und bin der Zeit enthoben. R Nun denn, herein! F Das muss man mir nicht dreimal sagen! W Dann kann es nicht Mephisto sein. R Willkommen, Doktor Faust! F Sie haben mir eine Zeitreise zugetraut – hier bin ich nun, um über das »seltsame Individuum« zu sprechen, das mein literarischer Schöpfer aus mir gemacht hat. R Entschuldigung: Welcher Faust redet jetzt gerade mit uns: der gelehrte, der liebende oder der schaffende Faust? F Das sind die drei Rollen, die Sie mir in Ihrer Interpretation der Tragödie zugeteilt haben. Eingeladen haben Sie mich aber zu einem Gespräch über mein angebliches »Scheitern« als »philosophische Herausforderung«. Wenn ich darüber mit Ihnen philosophisch und auf Augenhöhe diskutieren soll, müssen Sie mich von den Fesseln der jeweiligen Rolle befreien.

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R Einverstanden. Dann sprecht Ihr ab sofort als »Faust, der Philo­ soph«… F ... und in Fragen der Religion leider auch der Theologe. R Darauf sind wir besonders gespannt! W Beginnen wir unser philosophisch-theologisches Gespräch mit der Wette zwischen Mephisto und dem »Herrn«. Wir haben sie so interpretiert, dass dabei nicht die Seele verpfändet wurde, sondern »nur« das Leben. F Der »Prolog im Himmel« scheint mir in dieser Hinsicht eindeutig zu sein: »Solang‘ er auf der Erde lebt, / Solange sei dir’s nicht verbo­ ten.« Allerdings war meine Wette mit Mephisto nicht von solcher Eindeutigkeit, weshalb er in der »Grablegungs«-Szene behaupten konnte: »Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepascht.« R Mephisto hat hier von der Juristerei Goethes profitiert. Anwälte wissen, wie man Willenserklärungen zu Gunsten des Erklärenden auslegt: »Wenn wir uns drüben wiederfinden …«, solle Dienst für Mephisto geleistet werden. Dieses »Drüben« haben wir als Gegenwelt des »Hier« interpretiert, traditionell gesprochen als »Jenseits«. F Literarisch ist mir Hölle und Verdammnis erspart geblieben, weil die in der »höheren Atmosphäre« schwebenden Engel mein »Unsterb­ liches« in den Himmel trugen. W Dabei bekräftigten sie: »Gerettet ist das edle Glied / Der Geister­ welt vom Bösen, / Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.« R Diese Erlösungsart steht in keinem Zusammenhang mit dem christlichen Dogma der Erlösung von der Erbsünde durch den Kreu­ zestod Christi. Vielmehr ist sie Ausdruck einer »mystisch-kabbalisti­ schen Chemie«, von der Goethe selbst sagt, dass er sie in Gesprächen gern »verborgen« habe. F Dafür übernehme ich als literarische Figur keine Verantwortung.

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W Wir kommen gleich darauf zurück. Zunächst zum Autor: Sehr präsent ist diese »Chemie« in der letzten Szene der Tragödie. Dort tritt ein »chorus mysticus« auf, den Goethe handschriftlich als »chorus in excelsis«, Chor im Himmel, bezeichnet hat. Die acht kurzen Zeilen dieses Chores enthalten Goethes mystisches Glaubensbekenntnis: »Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird’s Ereignis; / Das Unbeschreibliche, / Hier ist’s getan; / Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan.« R In jedem aus zwei Zeilen bestehenden Satz werden die beiden Bereiche des Irdischen und des Göttlichen in Beziehung zueinander gesetzt: Alles Irdische ist ein vergängliches, unzulängliches, unbe­ schreibliches Gleichnis des ewigen, ereignishaften, tatkräftigen Gött­ lichen … W ... das aus einem einzigen Grunde weiblich sein muss: Weil es mit Liebe identifiziert wird. Die Häufung der Verse, in denen diese Identifikation vorgenommen wird, ist signifikant. Auch wenn die Formulierungen variieren, bleibt die poetische Liebesbotschaft doch stets dieselbe: »Heiliger Liebeshort«, »Glühendes Liebeband«, »Ewiger Liebe Kern«, »allmächtige Liebe«, »Liebesboten«, »ewigen Liebens Offenbarung«, »die Liebe gar von oben«, dazu noch »liebendheilige Büßerinnen«, »Liebesqual« der Geister und »die ewige Liebe nur«. Auch wenn die Formulierungen variieren, bleibt die poetische Liebesbotschaft doch stets dieselbe. R Am Ende steigert der Dichter seine Botschaft sogar zur »heiligen Liebeslust«. Für mich ist dies der Gipfel einer hypertrophen Anbetung der Liebe, die den Charakter eines Götzendienstes hat. F Ich möchte auch noch zu Wort kommen! W Moment bitte! Das Wort Götzendienst erscheint mir nicht tref­ fend, weil »Götze« die konkret-sinnliche Darstellung einer Gottheit bezeichnet. Liebe lässt sich nicht vergötzen. R Einverstanden, aber der Dichter huldigt der Liebe in einer gera­ dezu ekstatischen Hingabe.

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F Vergessen wir nicht, dass die liebende Rettungsidee ein 82-Jähriger dichtet und damit seiner Hoffnung Ausdruck verleiht. W Bevor wir dem Autor eine pseudoreligiöse Liebesekstase unter­ stellen, sollten wir überlegen, ob es sich nicht um einen legitimen Got­ tesdienst handelt, in dem die Liebe als kosmisches Prinzip fungiert. In Analogie zum Prinzip des Kampfes, »polemos«, der bei Heraklit die Bewegung des Kosmos bestimmt, wäre es bei Goethe die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält. R Bei der Analogie im kosmischen Prinzip gehe ich mit, nicht aber bei der Verbindung mit dem pantheistischen Gott Goethes: Obwohl dieser Gott theologisch nicht personifizierbar ist – das haben wir ja eingehend erläutert –, stattet der Dichter das in allem wirkende Göttliche durch das Prädikat »Liebe« mit einer menschlichen Eigen­ schaft aus. Feuerbachs Projektionsthese lässt sich hierauf nur in ganz spezieller Art und Weise anwenden. Denn die menschliche Liebe wird nicht auf eine Gottesperson projiziert, sondern auf das in aller Natur – auch der menschlichen Natur – wirkende Göttliche. In diesem speziellen Anthropomorphismus wird die Liebe aus einer insgesamt göttlichen Natur auf die Natur des Menschen übertragen. W Und diese Übertragung erscheint dir mit einigem Recht überstei­ gert. Die Vielzahl der Beschwörungen und die Heiligung der Liebe wirken wie eine – einigermaßen penetrante – Liebeshudelei, wenn du mir diese Wortbildung zugestehst. R Mir gefällt die Analogie zur »Lobhudelei« und ich hätte auch nichts gegen eine Kritik an Goethes »ultimativer Liebeshudelei«. »Ultimativ« würde ich sie nennen, weil sie das letzte Wort in der Erlösungsfrage ist. Goethes Antwort auf diese Frage stellt leider keine ultima ratio dar, sondern eine ultima irratio. Die »Liebe gar von oben«, die Faust erlöst, ist eine irrationale Konstruktion, da der pantheistische Gott Goethes nur in einer Natur wirken kann, die kein Oben und Unten kennt. F Dazu möchte ich auf ein entsprechendes Problembewusstsein meines literarischen Übervaters hinweisen: Zu den »Bergschluchten«, in denen es »mit der geretteten Seele nach oben geht«, hat er sich so geäußert: Die Szene sei »sehr schwer zu machen« gewesen und »bei

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so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen« hätte er sich »leicht im Vagen verlieren können«, wenn er seinen »poetischen Intentionen« nicht »durch die scharf umrissenen christlich kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte«. W Auf diese Figuren – die Patres, Knaben und Engel, den Doctor Marianus, die Maria Aegyptiaca und die Mater Gloriosa – können wir nicht näher eingehen, weil wir uns ja auf Euch als literarische Figur konzentrieren wollen. Allerdings hätte ich Schwierigkeiten, Goethe in der Einschätzung zu folgen, es handele sich um »scharf umrissene« Figuren der christlichen Tradition. F Nicht erwähnt haben Sie eine Figur, die aus meiner Sicht als Theologe entscheidend dafür ist, das Ende der Kerkerszene richtig zu verstehen. Goethe gibt ihr den lateinischen Namen »Una Poeni­ tentium« – eine der Büßenden – und fügt hinzu »sonst Gretchen genannt«. Damit wird deutlich, dass die Rettung am Ende des ersten Teils der Tragödie nach christlichem Glauben auf ihre Bußfertigkeit zurückzuführen ist. R Hier sprach der Theologe. Er wird aus seiner Interpretation der bußfertigen Margarete die zwingende Folgerung herleiten, Fausts »Erlösung« anders begründen zu müssen als Gretchens »Rettung«. Darauf werden wir am Ende der »Aneignung« zu sprechen kommen. Vorher möchte ich aber wissen, was der philosophische Faust zu seiner Gelehrten-Rolle sagt. F Für diese Rolle dürfte der Dichter von eigenen Erfahrungen ausge­ gangen sein. Im 10. Buch von »Dichtung und Wahrheit« schreibt er: »Auch ich hatte mich in allem Wissen herumgetrieben und war früh genug auf die Eitelkeit desselben hingewiesen worden. Ich hatte es auch im Leben auf allerlei Weise versucht und war immer unbefriedig­ ter und gequälter zurückgekommen.« Wie Sie vermuten können, hat mein Dichtervater seine Erfahrung auf mich projiziert. W Wir wären schlechte Sokratiker, wenn wir die »Eitelkeit« allen Wissens nicht mit dem berühmten Wissen um das Nichtwissen des historischen Sokrates in Beziehung brächten.

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F Dankenswerterweise haben Sie mir das Manuskript Ihres Gesprächs zur Verfügung gestellt. Aus dem »Vorspiel hinter den Kulissen« ist mir die »Zurückweisung eines bloß eingebildeten Wis­ sens« in den Fragen eines – wie Sie sagen – »gelingenden« Lebens als »philosophische Pointe« der Sokratischen Dialogik bekannt. R Der Sokrates der frühen Dialoge Platons entlarvt die Eitelkeit derer, die sich einbilden, letztbegründete Definitionen von Begriffen wie Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Freundschaft oder Fröm­ migkeit liefern und daraus monologische Schlüsse für das Gelingen des Lebens ziehen zu können. F In meinem Eingangsmonolog in der »Nacht«-Szene bekenne ich schon im elften Vers, »dass wir nichts wissen können«. Für den Schöpfer meiner literarischen Figur folgte aus dieser Einsicht aber nicht die Konsequenz eines dialogischen Modus des Philosophierens in der Tradition des ewigen Sokrates. Seine dichterische Phantasie hat ihn dazu verführt, mich als seinen Titelhelden »der Magie ergeben« zu lassen, damit »… ich nicht mehr mit saurem Schweiß / Zu sagen brauche, was ich nicht weiß«. W Unmittelbar danach lässt er die für das Gelehrtendrama schicksal­ hafte Parole des Erkenntnisstrebens verkünden: »Dass ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält«. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Hingabe an die Magie und der von ihr erwarteten Welterkenntnis ist die Ursache allen Übels im Drama des Gelehrten. R Aufgrund der Hingabe an die Magie, der Beschwörung des Erd­ geistes und der Vermessenheit, als »Ebenbild der Gottheit« die Welt­ formel entschlüsseln zu können, hat Faust sich so überhoben wie Luzifer in der betreffenden Legende. F Ihre Formulierung »Luzifer in der Seele und Mephisto im Nacken« hat mir nicht nur sprachlich, sondern auch in der Sache gefallen. Denn sachlich gesehen hat der Dichter mir gar keine Wahl eines eigenen Weges gelassen. Er hat mich auf eine luziferische Hybris der Gottgleichheit festgelegt und mir mit Mephisto einen Begleiter aufgezwungen, der mich permanent getäuscht und mein Bewusstsein »des rechten Weges« penetrant unterlaufen hat.

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W Ohne Mephisto wäre die klassische philosophische Einsicht mög­ lich gewesen, dass es nicht nur die Freuden der Sinnenlust gibt, sondern auch das Glück der geistigen Lust. Das Bewusstsein, dass die Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen keine monologische, sondern eine dialogische Angelegenheit ist, wäre ein weiterer Schritt auf dem »rechten Weg« gewesen. F Vielleicht können Sie mir erklären, was der tiefere Grund dafür ist, warum ich diesen Weg nicht gehen durfte. R Eine Bemerkung Goethes gegenüber Eckermann könnte den Ansatz einer Antwort liefern: »Die alte Walpurgisnacht … ist mon­ archisch, indem der Teufel dort überall als entschiedenes Oberhaupt respektiert wird. Die klassische aber ist durchaus republikanisch, indem alles in der Breite nebeneinander steht, so dass der eine so viel gilt wie der andere …«. W Diese Bemerkung bekräftigt trotz eines Lippenbekenntnisses zur Republik unsere Betonung der antirepublikanischen Grundeinstel­ lung Goethes: Eine »republikanische« Ordnung bedeutet für ihn lediglich die Abwesenheit eines monarchischen »Oberhaupts«. Das Legitimitätsprinzip einer Republik ist aber die politische oder öffent­ liche Freiheit aller, die in Schillers »Don Karlos« mit den »Millionen Königen« eines freien Volkes gemeint ist. Solange »der eine« nur »so viel gilt wie der andere«, weil er keinem Monarchen untertan ist, lebt er noch nicht in einer durch politische Freiheit legitimierten Republik. R Wenn wir dies auf die Erkenntnistheorie übertragen, landen wir in der Gelehrtenrepublik. Das ist unser republikanisches Gegenmodell der magischen Erkenntnis des Welteninneren. Letztere ist gewisser­ maßen monarchisch: In einer vom Geist eines pantheistischen Gottes geleiteten Erkenntnis ist der Erkennende das allgemein respektierte »Oberhaupt«, das mit seinem Herrschaftswissen einen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt. So monarchisch dieser Anspruch ist, so monologisch ist die Wahrheitsfindung und -verkündung. F Das bedeutet dann ja wohl, dass der Anspruch wahren Wissens, nach dem ich in meiner Gelehrtenrolle strebe, im erkenntnistheoreti­ schen Sinne absolutistisch ist.

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W In der Tat. Und mit Hannah Arendt halten wir alle Ideen verabso­ lutierten Wissens für eine »Tyrannei der Wahrheit«. So hat sie es in einer Sokrates-Vorlesung mit dem schönen Untertitel »Apologie der Pluralität« formuliert. Wir sollten uns nicht tyrannisch von selbster­ nannten Monarchen der Erkenntnis die eine, von oben verordnete Weltsicht oktroyieren lassen, sondern im Dialog der verschiedenen Weltsichten um deren verallgemeinerungsfähigen Wahrheitsgehalt streiten. Dieser Streit charakterisiert die Kultur des Umgangs freier, nach Erkenntnis strebender Menschen miteinander. R Das Wörtchen »frei« markiert den kategorialen Unterschied der Gelehrtenrepublik zur Wahrheitsmonarchie und verweist auf den Verlust der Freiheit eines Gelehrten, der sich erst der Magie und dann dem Teufel in Gestalt Mephistos ergeben hat. W Die Schwierigkeit, Euer Faustisches Erkenntnisstreben anhand philosophischer Kriterien zu beurteilen, besteht schlicht in diesem Freiheitsverlust. Denn die Aristotelische Grundunterscheidung zwi­ schen »poiesis« und »praxis«, Herstellen und Handeln, setzt eine freie Entscheidung für die eine oder die andere Tätigkeitsform voraus. R Handeln ist nicht teleologisch strukturiert, sondern entelechial. Das heißt: die Aristotelische »entelecheia« bestimmt die Eigenenergie eines Tätigseins, das in einem spezifischen Sinne »zwecklos« und eben dadurch frei ist. Diese Art der Freiheit haben wir im vorigen Kapitel mit Georg Simmel die »Freiheit vom Zweck« genannt. W Goethe hat Euch, seinem tragischen Helden, diese Freiheit nicht gegönnt, weil er Euer gesamtes Streben auf den Zweck fixiert hat, den »Augenblick« des Glücks zu genießen. Wir können es nur wieder­ holen: In Aristotelischer Tradition ist das Glück der »eudaimonia« nicht bezweckbar. R Philosophisch fehlt der literarischen Figur Fausts also das Glück eines in zweckloser Freiheit gelingenden Lebens. Und eben dieses Fehlen interpretieren wir als philosophisches Paradigma: In allen drei Rollen – als Gelehrter, Liebhaber und Werkschaffender – ist Faust kein freier Mann, sondern ein Getriebener seiner über allem stehenden Zwecksetzung des »Augenblicks«-Genusses.

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F Mir wurde erst im Dialog mit »Sorge« bewusst, dass ich meine Freiheit verloren und »mein Leben durchgestürmt« hatte. W Dass Ihr als Faust die Mittel zur Erfüllung dieser Zwecksetzung Mephisto überließet, kommt erschwerend hinzu. Aus Kantischer Perspektive verfielt Ihr in eine selbstverschuldete Unmündigkeit und brachtet nicht den erforderlichen Mut auf, Euch daraus zu befreien. R Das liegt daran, dass Ihr »Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft«, verachtetet, wie Mephisto tref­ fend bemerkte. F Ihre philosophische Interpretation meiner literarischen Rolle ist wenig schmeichelhaft. R Vielleicht tröstet Euch, was Euer Schöpfer dazu gesagt hat. Wir wiederholen das Zitat: »Der Faust ist doch ganz etwas Inkommen­ surables, und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu bringen, sind vergeblich.« W Wenn wir dieser authentischen Interpretation folgen, dürfen wir Faust nicht als Exempel menschlichen Scheiterns verstehen, sondern als rein dichterisches Unternehmen. Nicht nur die verschiedenen Welten und Zeiten, in die Faust eintaucht, sind Utopia, sondern auch er selbst ist eine »schwankende« Gestalt, die keine gereifte strukturierte Persönlichkeit ausbildet. R Deshalb verstehen wir seinen blinden Glauben, den »höchsten Augenblick« erreicht zu haben, als letzten Irrtum… W ... womit sich das Streben nicht vollendet. Statt von Vollendung sprechen wir vom bloßen Enden des Lebens. Und zu Recht konstatiert der Chor: »Es ist vorbei.« R Obwohl ein »Geisterkreis« Faust das Gelehrtendasein und die Gretchengeschichte vergessen ließ, blieb er weiterhin auf den »Augenblick« fixiert.

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F Ohne ihn hätte der erste und zweite Teil der Tragödie keinen thematischen Zusammenhang. Insofern bin ich das Opfer eines lite­ rarischen Kompositionszwangs. R Jetzt wird es bunt! Der Täter stilisiert sich als Opfer und missachtet all jene, die er in seinem Glücksstreben geopfert hat. W Zur Zeit der Wette mit Mephisto war Faust rund fünfzig Jahre jün­ ger als der blinde Hundertjährige am Ende seines Lebens. Das wirkt sich auch auf das Verständnis des Augenblicks als Wetteinsatz aus. R Während der verzweifelte Gelehrte des ersten Teils passiv bleibend die Gestaltung des Augenblicks Mephisto überlässt, geriert sich der schaffenswütige Unternehmer des zweiten Teils wie ein moderner Ausbeuter: »Bezahle, locke, presse bei! / Mit jedem Tage will ich Nachricht haben, / Wie sich verlängt der unternommene Graben.« F Goethe wollte die frühkapitalistische Mentalität brandmarken und hat mir ihre Verkörperung zugemutet! W Philosophisch könnten wir dann darin Goethes Technik-Skepsis erkennen, die Ähnlichkeit mit Horkheimers Kritik der instrumentel­ len Vernunft hat – der kritischen Auseinandersetzung mit einer Form der Rationalität, die sich allein über die Mittel definiert und die Natur zum bloßen Objekt des ausbeuterischen Menschen macht. R Das Stichwort lautet Landgewinnung. Auch dürfte Horkheimers These nicht ganz von der Hand zu weisen sein, dass es einen Zusam­ menhang zwischen der Ausbeutung der Natur und politischer Unter­ drückung in einer strukturell ausbeuterischen Gesellschaft geben könnte. Das ist aber nicht unser Thema. W Uns geht es um Fausts Plan, »das herrische Meer vom Ufer aus­ zuschließen« und insofern instrumentell als planender Unternehmer zum Herrn der Natur zu werden. F Was bedeutet dieser Herrschaftswille für Ihr philosophisches Paradigma meiner literarischen Figur?

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R Pardon: nichts Gutes. Der unbedingte Wille, die Natur zu beherr­ schen, tritt in »Faust II« an die Stelle des ungebändigten Strebens nach Erkenntnis in »Faust I«. Das Erkenntnisstreben war unfrei durch Absolutheit des Zwecks, der Herrschaftswille wurde es durch Absolutsetzung der Mittel. F In Ihrer Unterscheidung zwischen teleologischer und dialogischer Vernunft fehlt der Faustfigur Goethes also das Dialogische? W So ist es. Wir können Will Quadfliegs Kritik an Fausts Egoismus bekräftigen und sie zu einer Kritik des Solipsismus erweitern. Wenn ein aufmerksamer Zuschauer nach einer Aufführung der beiden Teile der Tragödie gefragt würde, welche Rollen Faust je für sich allein, »solus ipse«, in dem Schauspiel verkörpert, wäre die Antwort: die eines Universalgelehrten, eines Frauenhelden, eines Finanzgenies, eines Unternehmenskapitäns, eines Helenageliebten, eines Kriegsan­ führers, eines Burgherrn, eines Bauingenieurs, kurz: eines sich selbst genügenden Alleskönners. R Das ist eine literarische Utopie, die nur innerhalb des mephis­ tophelischen Teufelszirkels realisierbar erscheint. Ohne Mephistos Hilfe wäre Fausts Solipsismus nicht erst theatralisch unaufführbar, sondern schon philosophisch undenkbar. W Aber Faust macht sich keinerlei Gedanken darüber, was der Bund mit Mephisto letztlich bedeutet. Der Preis für den höchsten Augen­ blick ist der Tod. Meine Fragen dazu lauten: Rechnet Faust damit, dass ihm Mephisto den höchsten Augenblick vermitteln kann? Ist er sich dessen sicher, oder wagt er ein Risiko mit offenem Ausgang? F Warum fragen Sie mich nicht einfach? Meine Wette mit Mephisto haben Sie offensichtlich nicht ganz durchschaut. Sie war im Grund doppelbödig und meine Karten waren auch noch gezinkt. R Jetzt wird es spannend! F Die Worte: »Das Drüben kann mich wenig kümmern« habe ich wohlbedacht gesagt und ergänzt, »ob es auch in jenen Sphären ein Oben oder Unten gibt«. Die »Sorge« wollte mir Angst vor dem

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Jenseits machen. Sie kennen ja meine Antwort: »Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet, sich über Wolken seinesgleichen dichtet.« W Soll das heißen, dass Ihr die Wette im vollen betrügerischen Bewusstsein eingegangen seid, weil Ihr ein Drüben negiert? F Bei einer Wette mit dem mephistophelischen Betrüger ist Betrug erlaubt und sogar geboten. R Worin aber besteht der doppelte Boden? F Zum einen wettete ich darauf, dass es Mephisto nicht gelingt, mir den »schönen Augenblick« zu verschaffen, weil ich ihn selbst für utopisch gehalten habe. R Aber die Geschichte endet mit dem »höchsten Augenblick«. F Diesen hat jedoch nicht Mephisto besorgt, sondern er ist Produkt meines eigenen Gelingens. Daher ist es folgerichtig, dass meine Entelechie ihm nicht gegönnt wird. W Vom Gelingen kann nicht die Rede sein. Der höchste Augenblick wird einer Utopie angedichtet, die sich nicht erfüllen wird. Mephisto erweist sich als Realist, wenn er sagt: »Es ist so gut, als wär’ es nicht gewesen …«. F An meinem zweiten Wettmotiv scheinen Sie wohl nicht interes­ siert? R Wir bitten darum! F Gesetzt, der »schöne Augenblick« würde sich erfüllen, dann hätte es keine weiteren Konsequenzen für ein Drüben, das nicht existiert. Ich hätte ihn erlebt und würde dann »gern zugrunde gehn!« Im »höchsten Augenblick« wäre mein Leben »vollbracht« und ich an mein Ende gelangt. W Philosophisch bedeutet dies, dass Ihr den Teufelskreis nur zum Schein betreten und folglich auch den Gotteszirkel ignoriert habt.

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F Aber das Spiel mit Teufelskreis und Gotteszirkel habe ich gern mitgespielt. Wir wissen ja, dass Goethe »Faust« zwar eine Tragödie nennt, die aber im Grunde eine traurige Komödie ist. Meine insze­ nierte Odyssee durch die kleine und die große Welt hat jedenfalls ihr Ziel erreicht. W Apropos Odyssee: Vielleicht finden wir ein abschließendes Urteil anhand des Vergleichs mit dem literarischen Charakter des Odysseus, den wir im vorigen Kapitel vorgenommen haben: Im Unterschied zum literarischen Faust nimmt er sich selbst zurück, zügelt sein Verlangen nach absolutem Wissen und zweckhaft herstellbarem Glück. Im Aristotelischen Sinne der »phronesis« ist er klug und weiß um das rechte Maß seines Strebens nach »eudaimonia«. R Als philosophisches Paradigma ist Odysseus ein Muster der Selbstorientierung, Faust dagegen ein Exempel des Selbstbetrugs. F Einspruch, Euer Ehren! Ich habe mich nicht selbst betrogen, son­ dern bin der Betrogene einer Rolle, die ich spiele, ohne gefragt worden zu sein. Insofern bin ich im Sinne Ihres Buchtitels ohne mein Zutun in einen »Teufelskreis« geraten. Diesem Kreis konnte ich im »Gotteszir­ kel« meines pantheistischen Vaters zwar literarisch entfliehen, konnte erlöst werden, philosophisch gelte ich aber – wenn ich Sie richtig verstanden habe – als Paradigma eines unklugen Glückssuchers. W Dessen egomanes Streben jedoch als Scheitern zu bewerten ist. F Offensichtlich gönnen Sie mir kein literarisches Leben nach dem Tode? W Wir haben ja angekündigt, auf diese Frage am Ende unserer Überlegungen zurückzukommen. Uns geht es nicht darum, Euch etwas zu »gönnen«, sondern um die philosophische Plausibilität der »Erlösung« einer Figur, die nicht als gnädige »Rettung« einer christlichen Seele bzw. eines guten Menschen, der »sich des rechten Weges wohl bewusst« war, interpretiert werden kann.

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F Wenn ich an meine Seelenrettung glaubte, geriete ich aus dem Teufelskreis Mephistos in den Gotteszirkel Goethes. Und weil der Dichter einen von Engeln betrogenen Teufel inszeniert, wird auch der geschlossene Gotteszirkel aufgebrochen und durch den Teufels­ kreis erweitert. R Ich sehe hier, wie sich die ursprünglich zwei konzentrischen Kreise in einen verwandeln, der aber noch denselben Mittelpunkt hat … W ... nämlich einen literarischen Gott, der zwar der Herr des Teufels ist, aber mit ihm im Bund steht, denn Mephisto ist Teufel von Gottes Gnaden. R Warum wir der Rettung kritisch gegenüberstehen, haben wir als Einwand bereits formuliert: Der pantheistische Gott Goethes war als Gott-in-aller-Natur nicht personifizierbar; er hätte deshalb keine Gnade gewähren dürfen, die stellvertretend Mater Gloriosa walten ließ. F Und darin sehen Sie den Unterschied zwischen Gretchens gnä­ diger »Rettung« und meiner unverdienten »Erlösung«: Für letztere konnte der Dichter sich nicht auf einen Gott berufen, der einem reui­ gen Sünder gnädig ist. Im übrigen wäre es auch ein Widerspruch im Verständnis meiner Rolle als Faustisch Strebender, mir Bußfertigkeit im christlichen Sinne anzudichten. W Goethe verlangt von seiner Faustfigur am Ende nicht nur keine Buße, sondern rein gar nichts. Die Erlösung fällt von einem Himmel, der vor lauter Liebe nur so trieft, weshalb uns die gesamte Erlösungs­ szene nicht überzeugt. R Nicht die Liebesbotschaft als solche provoziert unsere Ablehnung, sondern es geht um die Würde der Poesie. Die Vielzahl der von uns zitierten Stellen, die wir als Liebeshudelei bezeichnet haben, sind des Dichters nicht würdig. Deshalb meine ich: Um Goethes Willen möge man die erlösende Liebeshudelei des letzten Aktes nicht ernst nehmen! F Trauen Sie dem Dichter keine ironische Persiflage auf die Kulte des Katholizismus zu?

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W Dies wäre ja fast eine teuflische Idee. F Ich erlaube mir Worte meines Dichtervaters aus einem Brief an Zelter vom 19. März 1827 zu zitieren: »Wirken wir fort, bis wir, vor oder nacheinander, vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkeh­ ren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten, denen ana­ log in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen! … Die entel­ echische Monade muss sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten; wird ihr diese zur anderen Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen.« Und nun kommt eine Wendung, die sich auch an Sie beide, in Vertretung von Zelter, richtet: »Verzeih diese abstru­ sen Ausdrücke! Man hat sich aber von jeher in diese Regionen ver­ loren, in solchen Sprecharten sich mitzuteilen versucht, da wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen.« R Nach Kant ist die Vernunft nicht hinreichend für die Erkenntnis jener Regionen, in denen Gott vermutet wird. W Daher kann er die Existenz Gottes und ein künftiges Leben nach dem Tod nur postulieren. Von Erlösung kann vernünftigerweise nicht gesprochen werden, und schon gar nicht als reinigende Himmelfahrt. R Was dann aber bedeutet, dass Goethe in der himmlischen Insze­ nierung der »Bergschluchten« Unvernunft walten lässt. F Auch aus meiner heutigen Sicht finde ich eine Erlösung absurd, schon allein, weil nur der »Tor« – »sich über Wolken seinesgleichen dichtet«. Aber gäbe es denn eine nicht-erlösende »Rettung« des Scheiterns, eine Lösung anstatt einer Erlösung? R Nur wer Nicht-Gelingen als Scheitern interpretiert, scheitert. W Die »Rettung« liegt im Bewusstsein, das Nicht-Gelingen als Mög­ lichkeit zu begreifen, um auf neue Möglichkeiten zu setzen. F Aber das habe ich doch getan! Nur einmal wurde mir mein Scheitern bewusst. Mit Grausen erinnere ich mich an jene Osternacht. Ansonsten habe ich kein Bewusstsein meines Scheiterns entwickelt, sondern stets neue Möglichkeiten gesucht.

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R Die aber bis auf die letzte von Mephisto besorgt wurden. Das Nicht-Gelingen habt Ihr jedoch nicht als eigene Möglichkeit ergriffen, sondern mit Mephistos Hilfe seid Ihr in dessen willkürliche Möglich­ keitsräume gestürzt. W Während der Faustischen Odyssee durch die große Welt hat Mephisto sich jeweils als Retter betätigt, indem er neue Spielräume für Euch eröffnete. Das Nicht-Gelingen wurde dabei je verschwiegen und überdeckt. R In der Begegnung mit der »Sorge« wurde eine wichtige Möglich­ keit verpasst und die Rückbesinnung auf ein bloß durchgestürmtes Leben nicht genutzt. W Es ist der Figur des Faust nicht gelungen, die mephistophelische Fremdenergie in positive Eigenenergie umzuwandeln. Stattdessen wurde weiter in blinder Schaffenswut agiert. F Warum sehen Sie nur die eine Seite des Faustischen Schaffens­ drangs? Ist dessen Scheitern nicht zugleich Ausdruck einer Kritik Goethes am Ungeist der Zeiten? R Ja. Euer geistiger Vater hat im Blick auf den empfundenen Epo­ chenbruch, eingeleitet durch die Französische Revolution und öko­ nomische Umwälzungen, in Fausts Figur sein Unbehagen an den Auswüchsen der beginnenden Moderne und der Fortschrittsideolo­ gie ausgedrückt. W Inflationäre Geldvermehrung durch Papiergeld und brachiale Ein­ griffe in die Natur durch Kolonisierung sollen dazu als Stichwörter aus der Tragödie genügen. R Mit Blick darauf kann Faust als Typus des modernen, rastlosen, unbehausten Menschen verstanden werden, dessen Lebensprinzip das Haben ist und nicht das Sein – um es mit der Grundunterschei­ dung Erich Fromms zu sagen.

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W Seine Hybris, seine Egomanie, sein Solipsismus, seine krankhafte Rastlosigkeit, sein ungezügelter Schaffenswahn und sein utopischer Glaube an eine ideale Zukunft wirken wie eine hellsichtige Pro­ gnose Goethes. F Mit dieser Deutung fühle ich mich doch mehr oder weniger rehabilitiert. Ich – als Typus des modernen Menschen! Solange ich nicht zum Idol werde, bin ich zufrieden. R »Mehr oder weniger rehabilitiert« … W ... Faust bleibt auch im Gespräch mit uns eine schwan­ kende Gestalt!

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