Friedrich Christian Laukhard (1757-1822): Schriftsteller, Radikalaufklärer und Gelehrter Soldat 3506779672, 9783506779670

Friedrich Christian Laukhards (1757-1822) Schriften werden im vorliegenden Band erstmals von einer Gruppe von Forschern

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German Pages 218 [219] Year 2017

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Table of contents :
Friedrich Christian Laukhard(1757–1822): Schriftsteller, Radikalaufklärer und gelehrter Soldat
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung: Friedrich Christian Laukhard – Schriftsteller, Radikalaufklärer und gelehrter Soldat
Hinweis zur Zitation
I. STUDENTISCHE PROVOKATIONEN
Laukhard und die Hallesche Aufklärungstheologie
Laukhards Dissertation über Giordano Bruno im Kontext der frühneuzeitlichen Bruno-Rezeption
Appendix: Laukhards Historisch-Philosophische Dissertation über Giordano Bruno
II. RADIKALAUFKLÄRUNG UND SOLDATENLEBEN
Laukhard und die Radikalaufklärung. Eine Fallstudie über Gründe, Motive und Faktoren ›aufgeklärter‹ Radikalisierung
Appendix: A. Verzeichnis von Studenten, die zwischen 1776 und 1779 von Gießen nach Göttingen wechselten
B. Laukhards »Winke zum pro und contra« einer Reform der deutschen Reichsverfassung
Spion oder Parlamentär? Der Schriftsteller Laukhard 1793 in der belagerten Festung Landau
III. THEMATISCHE LEKTÜREN
›Für feinere Leser ist der Vortrag nicht.‹ Zu den Autobiographien der ›Nonkonformisten‹ Edelmann, Laukhard und Seume
Verschwiegenheit und Indiskretion in Autobiographien der Spätaufklärung
Gebrian, der Anti-Émile: Aristokratiekritik und politische Bildung in Friedrich Christian Laukhards Marki von Gebrian
Karte: Laukhards Leben und Schicksale, 1792–1795
Zeittafel
Namensverzeichnis
Abbildungsnachweise
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Friedrich Christian Laukhard (1757-1822): Schriftsteller, Radikalaufklärer und Gelehrter Soldat
 3506779672, 9783506779670

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Guido Naschert (Hg.) Friedrich Christian Laukhard (1757–1822)

Guido Naschert (Hg.)

Friedrich Christian Laukhard (1757–1822) Schriftsteller, Radikalaufklärer und gelehrter Soldat

Ferdinand Schöningh

Umschlagabbildung: Friedrich Christian Laukhard, Scherenschnitt aus dem Stammbuch von Zacharias Vogel (1762–1803), Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-77967-0

INHALTSVERZEICHNIS

Guido Naschert Einleitung: Friedrich Christian Laukhard – Schriftsteller, Radikalaufklärer und gelehrter Soldat ..............................................................

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Hinweis zur Zitation .............................................................................

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I. STUDENTISCHE PROVOKATIONEN Malte van Spankeren Laukhard und die Hallesche Aufklärungstheologie .............................

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Pietro Daniel Omodeo Laukhards Dissertation über Giordano Bruno im Kontext der frühneuzeitlichen Bruno-Rezeption .....................................................

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Appendix: Laukhards Historisch-Philosophische Dissertation über Giordano Bruno ...................................................................................

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II. RADIKALAUFKLÄRUNG UND SOLDATENLEBEN Guido Naschert Laukhard und die Radikalaufklärung. Eine Fallstudie über Gründe, Motive und Faktoren ›aufgeklärter‹ Radikalisierung ...........................

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Appendix: A. Verzeichnis von Studenten, die zwischen 1776 und 1779 von Gießen nach Göttingen wechselten ......................................................

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B. Laukhards »Winke zum pro und contra« einer Reform der deutschen Reichsverfassung .................................................................

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Anne-Simone Rous Spion oder Parlamentär? Der Schriftsteller Laukhard 1793 in der belagerten Festung Landau ........................................................

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INHALTSVERZEICHNIS

III. THEMATISCHE LEKTÜREN Michael Multhammer ›Für feinere Leser ist der Vortrag nicht.‹ Zu den Autobiographien der ›Nonkonformisten‹ Edelmann, Laukhard und Seume .................... 113 Andrew McKenzie-McHarg Verschwiegenheit und Indiskretion in Autobiographien der Spätaufklärung ...................................................................................... 145 Oliver Bach Gebrian, der Anti-Émile: Aristokratiekritik und politische Bildung in Friedrich Christian Laukhards Marki von Gebrian ........................... 183 Karte: Laukhards Leben und Schicksale, 1792–1795 ............................... Zeittafel ..................................................................................................... Namensverzeichnis .................................................................................... Abbildungsnachweise ................................................................................

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EINLEITUNG Friedrich Christian Laukhard – Schriftsteller, Radikalaufklärer und gelehrter Soldat Vorliegender Sammelband stellt mit Friedrich Christian Laukhard (1757– 1822) einen Autor in den Mittelpunkt, der zum ›literarischen Souterrain‹ der deutschen Literaturgeschichte um 1800 gezählt werden kann. Sein vielseitiges Œuvre ist jedoch nie in einer Weise verschollen, dass wir Laukhard heute geradezu wiederentdecken müssten. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Teile seiner Schriften neu herausgegeben,1 und das Interesse an seinem ungewöhnlichen sozialen Abstieg führte sogar schon früh zu einer ersten biographischen Studie.2 Anfang des 20. Jahrhunderts fanden vor allem seine Schilderungen des Studenten- und Soldatenlebens der Aufklärungszeit Beachtung.3 Wer immer sich für die Geschichte bestimmter Revolutionskriege, Burschenschaften oder Akademien interessierte, griff zu den lebensnahen Beobachtungen dieses Zeitzeugen. Die Wahrnehmung seiner Person wurde dabei jedoch lange auf das Stereotyp des ›fahrenden Magisters‹ und ›berüchtigten Burschen‹ reduziert, so dass sich erst Ende der 1960er Jahre mit den bis heute grundlegenden Beiträgen von Richard Wilhelm ein komplexeres Bild dieses Aufklärers abzuzeichnen begann.4 Es folgten die Neubewertung von Laukhards Leben und Schicksale in der Autobiographie-Forschung5 sowie die Herausgabe einer dreibändigen Reprint-Ausgabe, die unter vordigitalen Bedingungen die vollständige Textfassung der Lebensbeschreibung einer breiteren Leserschaft zur Ver-

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Martin von Geismar [Edgar Bauer]: Die politische Literatur der Deutschen im 18. Jahrhundert. Leipzig: Wigand, 1847, Bd. II, S. 45–63 u. Bd. III (94 S.). Robert Prutz: Friedrich Karl [!] Laukhard. In: Ders.: Menschen und Bücher. Biographische Beiträge zur deutschen Literatur- und Sittengeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig: Wagner, 1862, S. 371–496. Magister F. Ch. Laukhards Leben und Schicksale. Von ihm selbst beschrieben. Deutsche und französische Kultur- und Sittenbilder aus dem 18. Jahrhundert. Bearbeitet von Viktor Petersen. Mit einer Einleitung von Paul Holzhausen. 2 Bde. Stuttgart 1908. Richard Wilhelm: Friedrich Christian Laukhard 1757–1822. Beiträge aus Alzeyer Geschichtsblätter. Hg. von der Gemeinde Wendelsheim. Alzey 2002. – Auch die Rezeption Laukhards in der Deutschen Demokratischen Republik hat zur Aufwertung des Autors beigetragen. Wirksam war hier die Auswahlausgabe: Friedrich Christian Laukhard Leben und Schicksale von ihm selbst beschrieben. Hg. von Wolfgang Becker. Leipzig 1955 (Neuausgabe Leipzig 1989). Siehe z. B. Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976.

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fügung stellte und durch wichtige Dokumente und Erläuterungen erschloss.6 Mit der Analyse seiner politischen Romane durch Christoph Weiß erweiterte sich das Interesse an Laukhards Gesamtwerk. Endlich erhielten auch die in literarischer Qualität und gedanklichem Gehalt sehr unterschiedlichen Romane eine intensivere Zuwendung, und Mutmaßungen bezüglich seiner Verfasserschaft bestimmter Texte konnten geklärt werden.7 Seit 2002 fördert die Laukhard-Gesellschaft in Wendelsheim die Neuausgabe und Erschließung seiner Schriften.8 Auszüge aus Laukhards Werken werden also bis heute gelesen. Besonders populär sind seine Schilderungen des 1. Koalitionskriegs, welche die Zeitgeschichte aus einer zu Goethe komplementären Perspektive darstellen. Dieser hatte »im leichten offenen Wägelchen« die Hauptarmee angeführt. Er war als Schlachtenbummler durch Kriegsgebiete geeilt, in denen Laukhard am eigenen Leib das Elend des einfachen Soldaten erlebte.9 Während Goethes Bericht auf den allgemeinen Gehalt der Ereignisse abzielt, schildert Laukhard konkret und realitätsnah.10 Gerhard R. Kaiser hat einmal treffend bemerkt, dass seine »auch aus der grobianischen Tradition und aus der des Sturm und Drang genährte polemisch-zupackende Sprache an den besten Stellen seiner Werke ihre Frische bewahrt« habe.11 Das gilt längst nicht für alle Autoren aus dem ›Souter6

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Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. 5 Theile in 3 Bdn. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt am Main 1987. – Der Reprint erfolgte bezeichnenderweise in der Reihe ›Haidnische Alterthümer‹, die Lieblingswerke und literarische Entdeckungen Arno Schmidts wieder zugänglich machte. Christoph Weiß: Friedrich Christian Laukhard (1757–1822). 3 Bde. St. Ingbert 1992. – Siehe ferner: Hans-Werner Engels: Zu Friedrich Laukhards Spätwerk. In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS für Günter Mühlpfort. Bd. 2: Frühmoderne. Hg. von Erich Donnert. Weimar, Köln, Wien 1997, S. 439–453; H. Peter Brandt: Friedrich Christian Laukhards Leben und Leiden. Idar-Oberstein 2001. Nähere Informationen unter der URL: http://www.laukhard.de. Johann Wolfgang von Goethe: Campagne in Frankreich. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. 10., durchges. Aufl. München 1994, S. 199. – Siehe Thomas Price Saine: Black bread – white bread. German intellectuals and the French Revolution. Columbia S. C. 1988; Wilhelm Kühlmann: Kutsche oder Stiefeldreck? Goethe und Laukhard über ihre »Campagne in Frankreich« (1792). In: Frank Fürbeth, Bernd Zegowitz (Hg.): Vorausdeutung und Rückblicke. Goethe und Goethe-Rezeption zwischen Klassik und Moderne. Heidelberg 2013, S. 95–108; Edith Zehm: Der Frankreichfeldzug von 1792. Formen seiner Literarisierung im Tagebuch Johann Conrad Wagners und in Goethes Campagne in Frankreich. Frankfurt am Main 1985. Zum Zusammenhang von Krieg und Autobiographie siehe Jan Röhnert: Selbstbehauptung. Autobiographisches Schreiben vom Krieg bei Goethe, Heine, Fontane, Benn, Jünger, Handke. Frankfurt am Main 2014. Thematisch einschlägig (wenngleich ohne direkten Bezug zu Laukhard) sind ebenfalls die Beiträge des vom Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Osnabrück herausgegebenen Jahrbuchs Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung. Siehe etwa den Band: Dichtung und Wahrheit. Literarische Kriegsverarbeitung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. von Claudia Glunz u. Thomas F. Schneider. Göttingen 2015. Gerhard R. Kaiser: Friedrich Christian Laukhard. Porträt eines Verlierers. In: Literarisches Leben in Oberhessen. Hg. von dems. und Gerhard Kurz. Gießen 1993, S. 73–103, hier S. 81.

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rain‹. Laukhards schriftstellerisches Talent gibt sich vor allem bei der Wiedergabe mündlicher Gespräche zu erkennen, in denen man quasi O-Töne der Geschichte zu vernehmen meint. Warum aber haben große Teile der Forschung seine Texte bis heute nur am Rande oder gar nicht zur Kenntnis genommen? In der Vergangenheit dürften es vor allem moralische Vorbehalte gewesen sein, die eine positive Identifikation mit diesem Schriftsteller verhinderten. Sein Alkoholismus und seine gescheiterten akademischen Ambitionen erschienen wenig vorbildlich. Darüber hinaus ist dem Wahrheitsgehalt seines umfangreichen Werks, es soll nach der Zählung von Christoph Weiß rund 15.000 Seiten umfassen,12 immer wieder zu misstrauen. Durch Zwangslügen, ein extremes Geltungsbedürfnis und eine Lust an der Injurie hat Laukhard seine Glaubwürdigkeit immer wieder untergraben. Man muss also seine Texte stets auch gegen ihn lesen. Gerade das aber ist oftmals schwierig, da seine Biographie außerhalb seiner Selbstzeugnisse nur unzureichend dokumentiert ist. Neben moralischen Bedenken haben ästhetische Vorbehalte die Rezeption erschwert. Laukhards Hauptwerk ist von der Gattung her nur eine Autobiographie, und seine Romane und Erzählungen standen lange im Ruf, ›Trivialliteratur‹ zu sein. Dass im Feld der Brotschriftstellerei gedankliche Schätze verborgen liegen, erschließt sich erst bei genauerem Hinsehen. Interessanterweise wurde in seinem Fall die künstlerische Abwertung durch etwas Anderes aufgewogen – durch die respektvolle Titulierung seiner Person als ›Magister‹.13 Gelehrsamkeit wollte man diesem Autor nie absprechen. Laukhard selbst bezeichnete sich Ende der 1790er Jahre nüchtern als »armselige[n] Hallische[n] Sprachmeister«,14 zu dem ihn die Umstände gemacht hatten. Er lebte viele Jahre hauptsächlich vom Geschichts- und Sprachunterricht (insbesondere im Französischen). Seine Schriften verraten jedoch – und dies nicht nur in ihren Fußnoten –, dass er selbst während seiner Militärzeit die intellektuellen Debatten der Gelehrtenrepublik genau verfolgt hatte. Als ›gelehrter Soldat‹ war er ein höchst ungewöhnlicher Akademiker. In der Forschung ist darauf hingewiesen worden, dass seine Autobiographie keine Gelehrtenbiographie im engeren Sinne sei.15 Die anerkannten Leistungen im wissenschaftlichen Feld waren zu geringfügig. Dafür konnte Laukhard umso mehr mit der Rolle des Gelehrten spielen: »Doch ich bin ein dummer Kerl, will ein Buch machen, das 12 13 14

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Weiß: Laukhard (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 14. »[D]ieser Musketier war ein gebildeter Mann«, heißt es etwa im Nachwort zur LaukhardAusgabe (1989) von Karl Wolfgang Becker (wie Anm. 4), S. 431. Friedrich Christian Laukhard: Vorrede des Herausgebers. In: Rudolf Eickenmeyer: Denkschrift über die Einnahme der Festung Mainz durch die fränkischen Truppen im Jahre 1792. Hg. und mit einigen Anmerkungen versehen von F. C. Laukhard. Hamburg: Mutzenbecher 1798, S. IX. Müller: Autobiographie und Roman (wie Anm. 5), S. 197: »Nicht Individualität kommt hier zur Erscheinung, sondern die intellektuelle Physiognomie des Autors, die wiederum nicht – wie in der Gelehrtenbiographie – auf die im Werk vorliegende wissenschaftliche Leistung bezogen ist, sondern unmittelbar in der Reflexion der selbsterlebten Geschichte sichtbar wird.«

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jeder lesen soll, und räsonnire von Kirchenvätern.«16 Es gehört zur ironischen Bescheidenheitstopik seiner Texte, die überdurchschnittliche Bildung zu dementieren – »denn einmal bin ich kein Gelehrter, und fühle nur zu sehr, wie manches ich versäumt habe«17 –, um sie dann wiederum durch Anekdoten, Kommentare und Lesefrüchte eindrucksvoll zur Schau zu stellen.18 Der mit einer provokativen Dissertation über den Ketzer Giordano Bruno habilitierte Magister, der gezwungenermaßen vom Gelehrtenstand zum Militär übergetreten war und der im Anschluss an die Soldatenzeit keine seiner Geistesgaben angemessene Stelle mehr gefunden hatte, richtete sich dennoch weiterhin an ein akademisches, studentisches Publikum und infiltrierte es mit einem freimütigen Diskurs und den Schilderungen der sozialen Situation von Gesellschaftsschichten, die sonst wenig Beachtung fanden.19 Die hier skizzierte Grauzone zwischen etabliertem Gelehrtentum und ›niederer‹ Literatur können wir heute aus historischer Perspektive nicht mehr abschätzig beurteilen. Es hat sich längst gezeigt, dass dieses Feld produktive Einblicke eröffnet. Dazu gehört zum Beispiel, dass Laukhard wie viele radikale Schriftsteller seiner Epoche vor dem Dilemma stand, ein werbewirksames Bild von sich für den Literaturmarkt entwerfen und gleichzeitig immer wieder ins Dunkel der Anonymität abtauchen zu müssen. Er teilte damit den schon von Robert Darnton beschriebenen Widerspruch der ›niederen‹ Autoren: Sie hatten größere Freiheiten, konsequent und radikal zu sein, und konnten sich diese Konsequenz und Radikalität doch oftmals gar nicht oder nur punktuell leisten.20 Im Falle Laukhards hatten die ersten Radikalisierungen schon in seiner Jugend, weit vor der Französischen Revolution stattgefunden. Damals hatte er sich eine zynisch-aufgeklärte Religions- und Kirchenkritik zu eigen gemacht, die den Spott dem argumentativen Diskurs vorzog.21 Im Anschluss an Voltaire gab Laukhard die Forderung, der Vernunft zu folgen, gerne dort auf, wo er mit einem schwächeren Argument, mit Satire oder mit einem tatkräftigen Streich mehr Erfolg erzielen konnte als mit Disputieren. Dieser offen zynische Umgang mit dem Rechtfertigungsprinzip kann im systematischen Sinne kaum als 16 17 18

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Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 6), Th. V, S. 188. Ebd., Th. I, S. 35. Zum Typus des gelehrten Dichters im 18. und 19. Jahrhundert siehe neuerdings: Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert. Hg. von Mark-Georg Dehrmann u. Alexander Nebrig. Bern [u. a.] 2010; Mark-Georg Dehrmann: Studierte Dichter. Zum Spannungsverhältnis von Dichtung und philologisch-historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Berlin [u. a.] 2015. Kaiser: Laukhard (wie Anm. 11), S. 92: »Laukhard war sich bewußt, daß er als hochgelehrter Mann den Erfahrungen von Menschen Ausdruck verlieh, die ohne ihn für die Schriftkultur verloren und damit fast schon dem kollektiven Gedächtnis entzogen waren.« Vgl. Robert Darnton: The Literary Underground of the Old Regime. Cambridge, MA 1982 (dt. 1988). Siehe zu den Problemlagen der 1770er und 1780er Jahre: Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Einzelschicksale – Konstellationen – Netzwerke. Hg. von Martin Mulsow u. Guido Naschert. Hamburg 2012 (Jb. Aufklärung 24).

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›aufgeklärt‹ gelten, selbst wenn Ziele und Leitideen der Aufklärung damit zur Durchsetzung gebracht werden sollten. Widersprüchliche und ambivalente Autoren wie Laukhard markieren hier beispielhaft Grenzen der Aufklärungsbewegung, indem sie in besonderer Weise Fragen danach herausfordern, wie ›aufgeklärt‹ die Aufklärer eigentlich handelten und dachten, wie sehr überholte Überzeugungen im Schatten der Vernunft weiterleben konnten, wie leicht die Institutionenkritik und das Streben, eine bessere Gesellschaftsordnung zu etablieren, wieder in Repression, Gewalt und ›Unvernunft‹ münden konnten. Kann sogar die Suspendierung der Aufklärung eine Konsequenz der Radikalaufklärung sein?22 »Es giebt einige Menschen,« formulierte Friedrich Carl Forberg einmal in einem ›anthropologischen‹ Fragment, »die in vielen Stücken aufgeklärt sind: aber es giebt Niemand, der es in allen wäre.«23 Dies mag für alle Aufklärer gelten, für die kleinen wie für die großen, wird aber bei Schriftstellern vom Schlage Laukhards besonders sinnfällig. Sie bieten daher einen hervorragenden Gegenstand, um die Grenzen der Aufklärung und ihres Anspruchs auf Rationalität, Fortschritt und Tugend zu diskutieren. 24 Neben derartigen Fragen bildeten noch weitere Beobachtungen den Ausgangspunkt der in diesem Band vereinten Beiträge. So fiel auf, dass die außergewöhnliche Bedeutung der Laukhardschen Schriften in Teilen der Aufklärungsforschung bis heute unerkannt geblieben war. Jonathan Israels große Kompendien zur Geschichte der radikalen Aufklärung zum Beispiel kennen ihn nicht. Dabei dokumentiert Laukhard in seiner Autobiographie die Radikalisierung der Aufklärung über einen Zeitraum von über fünfzig Jahren, und seine eigene Biographie könnte als Beleg für die Leitthesen Israels herhalten.25 Als Sohn eines Spinozisten führt sein Weg vom Deismus und Naturalismus in die Französische Revolution und sogar in die zeitweise Anhängerschaft an den charismatischen Tyrannen Robespierre. Und Laukhards Texte eröffnen noch eine andere wichtige Perspektive: Wer waren eigentlich in den deutschsprachigen Territorien die affirmativen Leser radikalaufklärerischer Literatur? Für wen wurden die oftmals anonymen und pseudonymen Texte gedruckt, wenn das ›gepflegte‹ akademische Milieu als 22

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Mit Blick auf die durch aufklärerische Kritik erzeugten ›Verluste‹ hat Winfried Schröder jüngst formuliert: »Die Sichtung der einschlägigen Theoriebestände der Aufklärung muss wenigstens mit der Möglichkeit rechnen, dass das aufklärerische Kritikprogramm problematische oder gar fatale Folgen gezeitigt hat.« Winfried Schröder: Radikalaufklärung in philosophiehistorischer Perspektive. In: Radikalaufklärung. Hg. von Jonathan I. Israel u. Martin Mulsow. Berlin 2014, S. 187–202, hier S. 201. [Friedrich Carl Forberg:] Fragmente aus meinen Papieren. Jena 1796 [recte 1795], S. 29. Siehe den Forschungsbericht: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013. Siehe z. B. Jonathan I. Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity, 1650–1750. Oxford 2001. – Zur Diskussion von Israels Thesen siehe: Israel/Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung (wie Anm. 22); Concepts of (radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion. Hg. von Frank Grunert für das IZEA. Halle a. d. S. 2014 (Kleine Schriften des IZEA 5/2014).

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Rezeptionsort weitgehend ausfiel? Eine Antwort darauf wird man nur erhalten, wenn man mit Robert Darnton und seinen Nachfolgern26 den Blick auf den literarischen ›Untergrund‹ der Ideen-, Literatur- oder Philosophiegeschichte lenkt und tiefer in die Zwielichtzonen der Autoren, Drucker und Verleger ›klandestiner‹ Literatur eintaucht.27 Die Schriften Laukhards bieten sich hier durch ihren außergewöhnlichen Detailreichtum an. Sie belegen, dass zu den wichtigen Leserschichten radikaler Literatur insbesondere der niedere Adel und das Militär gehörten. Gerade das, was seine Rezensenten am meisten beanstandeten, »daß er nur im niedrigsten Zirkel zu Hause zu seyn scheint«,28 macht uns Laukhards Texte heute zur Vervollständigung unseres historischen Bildes so wertvoll. Ob als ›Spion‹, Pamphletschreiber oder Nutzer des Geheimbuchhandels, Laukhard kennt die dunklen Ecken des literarischen Lebens 26

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Siehe neben den bereits angeführten Schriften u. a. Ian McCalman: Radical Underworld. Prophets, Revolutionaries, and Pornographers in London, 1795–1840. Oxford 1988; Gudrun Gersmann: Im Schatten der Bastille. Die Welt der Schriftsteller, Kolpoteure und Buchhändler am Vorabend der Französischen Revolution. Stuttgart 1993; Peter Burke: A Map of the Underground. Clandestine Communication in Early Modern Europe. In: Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres. Hg. von Günter Gawlick u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1996, S. 59–71; David Pike: Metropolis on the Styx. The Underworlds of Modern Urban Culture 1800–2001. Ithaca 2007; Christine Haug: Einleitung. Topographie des literarischen Untergrunds im Europa des 18. Jahrhunderts: Produktion, Distribution und Konsumption von ›verbotenen Lesestoffen‹. In: Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Hg. von ders., Franziska Mayer u. Winfried Schröder. Wiesbaden 2011, S. 9–47. An anderem Ort habe ich versucht, einen Zugang zum Begriff des ›Untergrunds‹ als historiographischer Kategorie zu skizzieren; vgl. Guido Naschert: Netzwerkbildung und Ideenzirkulation. Johann Benjamin Erhards Reisen durch das Europa der französischen Revolution. In: Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hg. von Martin Mulsow. Wien, Köln, Weimar 2014, S. 503–553, hier S. 505–507. An dieser Stelle seien eine Differenzierung und ein terminologischer Vorschlag nachgetragen. Es lassen sich fünf Verwendungsweisen des Begriffs unterscheiden: Untergrund1: (a) Reale Räume und (b) imaginäre Vorstellungskomplexe des Unterirdischen; Untergrund2: Klandestine Kulturen und Praktiken; Untergrund3: Sub- und Protestkulturen; Untergrund4: Verbrechen und Kriminalität; Untergrund5: Das sog. ›literarische Souterrain‹, die oftmals unbekannte, anonyme, teilanonyme oder pseudonyme Literaturproduktion einer Zeit. Zwischen diesen Phänomenen gibt es zahlreiche Überschneidungen. Die Spannbreite des Sprachgebrauchs deutet jedoch darauf hin, dass der vor allem im Angelsächsischen verbreitete Begriff des ›Underground‹ aufgrund seiner notwendig subterrestrischen Konnotationen Nachteile hat, wenn man ihn dazu verwenden möchte, die Gesamtheit der Phänomene von Untergrund1–5 zusammenzufassen. Deswegen scheint es mir inzwischen ratsamer, die romanische Tradition im Deutschen fester zu etablieren, die hier von ›clandestinidad‹, ›clandestinité‹ oder ›clandestinità‹ spricht, um soziale Heimlichkeit, Verborgenheit und Intransparenz zu bezeichnen. Der weite Begriff der ›Klandestinität‹ ist im Deutschen bereits vorhanden, aber noch wenig gebräuchlich und nicht theoretisiert. Auch wird seine Ausweitung in der Forschung ab und an noch ausdrücklich abgelehnt, um den Begriff weiterhin auf den Bereich der ›litterature clandestine‹ eingeschränkt zu halten. Sollte das Feld der ›Klandestinitätstheorien‹ einmal genauer abgesteckt sein, könnte der Begriff zur Bezeichnung des Heimlichen, Verschwiegenen und Verborgenen ebenso selbstverständlich in der Wissenschaftssprache Verwendung finden, wie es beim Begriff der ›Fiktionalität‹ inzwischen der Fall ist. Anonymus: [Rez.] Erzählungen und Novellen von Laukhard; Marki von Gebrian. In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 66 (1801), S. 352–354, hier S. 353.

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vom Augenschein. Dies gilt für religionskritische und politisch radikale Schriften ebenso wie für die Pornographie. Laukhard war ein bekennender Leser des »Schofelzeugs«,29 wenngleich, soweit wir wissen, kein Verfasser desselben. Er stellte lediglich ein gelehrtes Kompendium des erotischen Volksmundes zusammen30 und provozierte gerne durch Unanständigkeit und Obszönität.31 Gerade an diesem Punkt ist eine Abgrenzung zu anderen Formationen der Radikalaufklärung aufschlussreich. Laukhards Schilderungen geben uns deutliche Unterschiede zu erkennen, die etwa zwischen den ›beflissenen‹ und den ›burschikosen‹ Studenten der Spätaufklärung bestanden. Hier geht ein Riss durch das Feld der Radikalaufklärer, der sich weniger an ihren Ideen als an ihrem Habitus und ihrer Lebensform festmachen lässt. Während ein Kantianer wie Immanuel Carl Diez anlässlich der Jenaer Unruhen im Sommer 1792 an seine Eltern schreibt: »Ich hatte so viele Gelegenheit gehabt, den Studenten in seiner ganzen Erbärmlichkeit zu sehen«,32 grenzt sich Laukhard als Renommist und Soldat entschieden von den eifrigen Studenten ab, die sich z. B. in Jena als »Gesellschaft freier Männer« eigens konstituiert hatten. Über diesen neuen Typus unter den Kommilitonen bemerkt er einmal: »Sehr viele der jetzigen Studenten sind verwöhnte litterärische Weichlinge, die die Dornen der eigentlichen Litteratur scheuen, dazu auch nicht gezogen sind, und vor lauter langer Weile sich in den Sümpfen der Romanwelt ersäufen.«33 Wer hier Weichling und wer Renommist war, darf uns heute gleichgültig sein. Interessant bleibt jedoch, welche intellektuellen und sprachlich-literarischen Entscheidungen durch die verschiedenen Lebensformen und Habitus’ provoziert werden. Laukhards Bemerkung über das ›Sich-Ersäufen in den Sümpfen der Romanwelt‹ verdeutlicht darüber hinaus, dass ihm als Schriftsteller ein tieferes Verständnis für die neuen Möglichkeiten der Romanform versagt blieb. Und so wurde es zum Dilemma seiner Ästhetik, dass der Blick auf die unteren Bevölkerungsschichten und die soziale Frage nicht mit einem zukunftsweisenden Verständnis literarischer Fiktionalität einherging. Laukhard blieb wohl auch deswegen ein weniger beachteter Autor, weil er das Potenzial einer aus den 29 30

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Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 6), Th. II, S. 469: »Ich spreche aus Erfahrung.« Es sollte noch eine Weile dauern, bis derartige Manuskripte in Buchform erscheinen konnten: Pierre Pierrugues: Glossarium eroticum linguae Latinae. Paris 1826; Ernest Borneman: Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1974 (mehrere Neuauflagen). Laukhard gehört in das von Martin Mulsow beschriebene Feld der unanständigen Gelehrtenrepublik, siehe: Unanständigkeit. Mißachtung und Verteidigung der guten Sitten in der Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit. In: Ders.: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar 2007, S. 1–26. Brief von Immanuel Carl Diez an seine Eltern, Jena, den 24.–27. Juli 1792. In: Immanuel Carl Diez: Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen–Jena (1790–1792). Hg. von Dieter Henrich. Stuttgart 1997, S. 296–308, hier S. 301. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 6), Th. IV/2, S. 311, Fn.

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Zwängen der Moral befreiten Kunst nicht erkennen konnte, so sehr er in anderen Fragen die Zwänge der Moral hinter sich zu lassen versuchte. Das bedeutet allerdings nicht, dass die scheinbar überholte Ästhetik vieler Spätaufklärer folgenlos geblieben wäre. Vielmehr tut sich hier ein Fragekomplex zur Ästhetik der Radikalaufklärung auf, der bislang fast ausschließlich von literaturwissenschaftlicher Seite und nur an prominenten Einzelfällen behandelt wurde:34 Welches war der Beitrag der Radikalaufklärung zur ästhetischen und literarischen Moderne? Wie wichtig waren atheistische, materialistische, naturalistische Überzeugungen für die Herausbildung neuer Erzählmuster, für die Konstitution neuer ästhetischer Programme, für neue Konzeptionen von ›Wirklichkeit‹ und die auf sie bezogenen Fiktionalitäts- und Autonomisierungsschübe, welche die Literatur um 1800 erfahren hat? Wie wichtig sind der spezifische Ton der Radikalaufklärung, ihr Hang zum Spott und zum Schlüpfrigen gewesen, um feinere Tonlagen der Ironie und des Humors hervorzurufen, welche den Wahrheitsgehalt des Radikalen aufgreifen können, ohne in seine sprachlichen Plattitüden zu verfallen? Eine Literaturgeschichte der Radikalaufklärung, die den Fokus über einschlägige Einzelfälle wie z. B. Wezel oder Wieland35 ausweitet und das ganze Spektrum von Autoren in den Blick nimmt, das in den letzten Jahren von Seiten der historischen Forschung ans Tageslicht gebracht worden ist, muss allerdings mehr sein als eine Geschichte klandestiner, anonymer oder pseudonymer Literaturproduktion. Sie muss auch danach fragen, welchen Beitrag radikale Ideen für die Entstehung neuer Gestaltungsmöglichkeiten leisteten – gerade auch deswegen, weil Untergrundtexte oftmals nicht zu den ästhetisch innovativen zählen.

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In der Philosophiegeschichte liefert der in letzter Zeit wiederentdeckte Göttinger Materialist Michael Hißmann (1752–1784) ein gutes Beispiel, an dem sich die Komplexität der Problemlage diskutieren lässt. Siehe Falk Wunderlich: Empirismus und Materialismus an der Göttinger Georgia Augusta. Radikalaufklärung im Hörsaal? In: Mulsow/Naschert (Hg.): Radikale Spätaufklärung in Deutschland (wie Anm. 21), S. 65–90; Gideon Stiening: »Die Nerven deines Schönheitsgefühls.« Hißmann als materialistischer Ästhetiker und Theoretiker des Sturm und Drang? In: Michael Hißmann (1752–1784). Ein materialistischer Philosoph der deutschen Aufklärung. Hg. von Heiner F. Klemme [u. a.]. Berlin 2013, S. 253–276. Siehe etwa die Beiträge über Wieland von Peter-Henning Haischer und Hans-Peter Nowitzki: »... gegen alles Nachtheilige bestens verwahrt«. Wielands clandestine Publikationsstrategien. In: Mulsow/Naschert (Hg.): Radikale Spätaufklärung in Deutschland (wie Anm. 21), S. 251– 316, und Martin Schmeisser: Aufklärung und Deismus bei Christipoh Martin Wieland. »Die Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glauben zu philosophieren« (1788). In: Wieland-Studien 7 (2012), S. 19–42.

EINLEITUNG

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Der vorliegende Sammelband ist der erste seiner Art. Erstmals widmet sich eine Gruppe von Forschern aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam den Laukhardschen Schriften, um ein neues Interesse an ihnen anzustoßen. MALTE VAN SPANKEREN stellt Laukhards Aufenthalt an der Universität Halle dar und untersucht insbesondere sein Verhältnis zu Semler. Er arbeitet Laukhards eigene theologische Position deutlicher heraus und verortet ihn im Rahmen der Hallenser Aufklärungstheologie. Laukhards Insistieren auf einem freieren Urteil in Fragen der Religion konnte, so das Fazit, bei den ihn umgebenden Theologen in Halle Rückhalt finden. PIETRO DANIEL OMODEO analysiert Laukhards Habilitationsschrift (Dissertation, Diatribe, Disputationsschrift) im Kontext der frühneuzeitlichen BrunoRezeption und schließt dadurch eine wichtige Lücke in der Rezeptionsgeschichte dieses Denkers vor Jacobi und Schelling. Laukhards Dissertation wird von der Auffassung getragen, dass es »die Aufgabe eines Philosophen [sei], alle diejenigen zu verteidigen, die jemals des Atheismus angeklagt worden sind, da allgemein feststeht, dass dieser Vorwurf vielen mit der Absicht gemacht worden ist, um sie verhasst zu machen.«36 Wie Omodeo zeigen kann, sind Laukhard allerdings bei seiner Verteidigung Brunos zahlreiche Fehler und Nachlässigkeiten unterlaufen. GUIDO NASCHERT diskutiert radikalaufklärerische Aspekte aus Laukhards Leben und Werk und fragt nach den Gründen, Motiven und Faktoren von Radikalisierungen im Namen der Aufklärung. Der Beitrag versucht zu zeigen, dass Laukhards Radikalisierungen nicht in erster Linie mit seiner ›Deklassierung‹ zusammenhängen, sondern vor allem aus frühneuzeitlichen Traditionslinien des Nonkonformismus verstanden werden müssen. ANNE-SIMONE ROUS plädiert in ihrem Beitrag für eine ›Entzauberung‹ von Laukhards Schilderung seiner angeblichen Spionagetätigkeit auf der Festung Landau. Seine Mission dürfte nicht der friedlichen Übergabe der Festung gedient haben, wie Laukhard vorgab; vielmehr habe er versucht, durch eine übertriebene Darstellung seine Desertion zu vertuschen. Im Anschluss an die Studien von Müller, Kaiser und Weiß interpretieren die folgenden Beiträge Laukhards autobiographischen und literarischen Schriften neu. Während die ältere Forschung Autoren wie Laukhard gerne als Randfiguren des literarischen Feldes oder als gesellschaftlich gescheiterte Außenseiter betrachtete, sehen wir ihre Lebensläufe heute stärker in Traditionslinien des frühneuzeitlichen Nonkonformismus und der Heterodoxie. So selbstverschuldet das ›Scheitern‹ Laukhards in manchen Momenten war, so sehr ähnelt es den Mustern gesellschaftlichen Abstiegs, die nonkonforme Biographien in der Frühen Neuzeit oftmals aufweisen. Davon ausgehend fragt MICHAEL MULTHAMMER nach dem Besonderen der Autobiographie von Dissidenten. Erzählen sie ihr Leben anders, weil sie einem größeren Legitimationsdruck ausgesetzt sind? 36

Siehe unten, S. 60.

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GUIDO NASCHERT

ANDREW MCKENZIE-MCHARG untersucht demgegenüber dezidiert ›klandestine‹ Aspekte und greift vertiefend die Problematik des Verschweigens und der Indiskretion auf, um dahingehend weiter zu fragen, welche Auswirkungen der Akt des Schreibens und Publizierens einer Autobiographie auf den anschließenden Lebensverlauf haben kann. OLIVER BACH thematisiert Laukhards widersprüchliche Rousseau-Rezeption und diskutiert die politische Philosophie seines Emigrantenromans Marki von Gebrian, der Laukhards vorübergehende Zustimmung zu den Idealen der Französischen Revolution wieder zurücknimmt. Statt sich an der Idee des ›Volonté generale‹ zu orientieren, wird, wie Bach argumentiert, nach 1800 ein Staatsverständnis erkennbar, welches den Gedanken des Gemeinwohls (›bonum commune‹) in den Mittelpunkt stelle und damit gewissermaßen wieder zu einer ›aristotelischen‹ Staatslehre zurückkehre. Einige dieser Beiträge wurden erstmals auf dem Colloquium Laukhard im Untergrund. Zur Situation der deutschen Radikalaufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts am 8. und 9. Juli 2010 im Forschungszentrum Gotha auf Schloss Friedenstein zur Diskussion gestellt und für dieses Buch erheblich ausgearbeitet. Andere Aufsätze sind später ergänzend hinzugekommen. Das Colloquium fand im Kontext des Gothaer Graduiertenkollegs Untergrundkommunikation 1600–1800 statt. Ein besonderer Dank geht daher an den Leiter des Kollegs, Martin Mulsow (Erfurt), für die Finanzierung der Tagung aus Mitteln des Gothaer Forschungszentrums und die Unterstützung des ganzen Projekts. Ein ursprünglich für diesen Band vorgesehener Beitrag von Dirk Sangmeister (Nikosia/Zypern) wurde sehr umfangreich ausgearbeitet und erscheint parallel als eigenständige Monographie.37 Ich danke Dirk Sangmeister für zahlreiche Hinweise und meiner Frau Catalina Giraldo Vélez für die Gestaltung der auf S. 210 abgedruckten Karte. »[D]ie Schicksale der Menschen, zumal von meiner Art,« hat Laukhard einmal bemerkt, »sind mit einer Nacht bedeckt, die keiner durchschaut«.38 Dieser Aufsatzband will Licht ins Dunkel bringen, indem er Werkzugänge eröffnet, Hilfestellungen bei der Erschließung anbietet und Anschlüsse zur neueren Forschung herstellt – alles im Bewusstsein, dass Laukhards Schriften mehr Aufmerksamkeit verdienen und in der Hoffnung, dass wir auch ihn dereinst mit den ›Vorschusslorbeeren für Außenseiter‹39 bedenken, die andere Autoren längst mit größerer Selbstverständlichkeit erhalten.

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Dirk Sangmeister: Vertrieben vom Feld der Literatur. Verbreitung und Unterdrückung der Werke von Friedrich Christian Laukhard. Bremen 2017. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 6), Th. IV/2, S. 345–346. Bernd Gräfrath: Ketzer, Dilettanten und Genies. Grenzgänger der Philosophie. Hamburg 1993.

Hinweis zur Zitation Stellen aus Laukhards Autobiographie werden in diesem Buch nach folgender Ausgabe nachgewiesen: Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. Fünf Theile in drei Bänden. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. 3 Bde. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1987. 1. Band: Th. I

Ein Beitrag zur Charakteristik der Universitäten in Deutschland. Erster Theil. Halle: Michaelis & Bispink 1792. 396 S.

Th. II

Ein Beitrag zur Charakteristik der Universitäten in Deutschland. Zweiter Theil. Halle: Michaelis & Bispink 1792. 512 S.

2. Band: Th. III

Dritter Theil, welcher dessen Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen Frankreich von Anfang bis zur Blokade von Landau enthält. Leipzig: Gerhard Fleischer d. J. 1796. 528 S.

Th. IV/1

Vierter Theil erste Abtheilung, welche die Fortsetzung von dessen Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen Frankreich enthält. Leipzig: Gerhard Fleischer d. J. 1797. 508 S.

3. Band: Th. IV/2

Vierter Theil zweite Abtheilung, welche die Fortsetzung von dessen Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen Frankreich enthält. Leipzig: Gerhard Fleischer d. J. 1797. 362 S.

Th. V

Fünfter Theil, welcher dessen Begebenheiten und Erfahrungen bis gegen das Ende des Jahres 1802 enthält. Leipzig: Gerhard Fleischer d. J. 1802. 318 S.

Hans-Werner Engels u. Andreas Harms: Nachwort und Materialien. 202 S. Die Erstdrucke sind im Internet z. B. über das Portal VD18 digital einsehbar.

Abb. 1 Friedrich Christian Laukhard (1757–1822) Kupferstich von Johann Gottfried Schmidt, Dresden 1796

I. STUDENTISCHE PROVOKATIONEN

MALTE VAN SPANKEREN

Laukhard und die Hallesche Aufklärungstheologie

Friedrich Christian Laukhard ist mit der Halleschen Aufklärungstheologie vor allem während seines ersten Aufenthalts in der Saalestadt zwischen Frühjahr 1782 und Winter 1783 in intensiven Kontakt gekommen. Diese ersten knapp zwei Jahre in Halle sind für Laukhards Werdegang von entscheidender Bedeutung gewesen. Er hat in dieser Zeit erstmals als akademischer Dozent gearbeitet und darüber hinaus als Lehrer an den Franckeschen Stiftungen pädagogische Erfahrungen gesammelt. Nicht zuletzt hat er in Halle auch einen ausführlichen und intimen Einblick in das dortige facettenreiche Studentenleben gewonnen und damit in einen thematischen Schwerpunkt, dessen literarische Darstellung er langfristig mit prägen sollte.1 In Halle wurden ferner indirekt die Weichen dafür gestellt, dass Laukhard kein Dozent der FriedrichsUniversität blieb, sondern ein Schriftsteller der Spätaufklärung wurde, der sich trotz kleinerer Erfolge zeitlebens durchschlagen musste. Im Weiteren wird deshalb Laukhards Halle-Aufenthalt bis zu seiner Entscheidung Soldat zu werden – und damit bis zum Winter 1783 – in den Blick genommen und dabei insbesondere auf seine Wahrnehmung der Halleschen Aufklärungstheologie eingegangen.2 Dafür wurde folgender Aufbau gewählt: Zunächst wird Laukhards Ankunft in Halle geschildert (1) und anschließend auf seine akademische Tätigkeit näher eingegangen (2). Sein Leben in Halle wird ebenso dargestellt (3) wie sein Verhältnis zu den Halleschen Aufklärungstheologen, zumal zu deren wichtigstem Vertreter Johann Salomo Semler (4). Abschließend wird ein kurzes Resümee über Laukhards ersten Halle-Aufenthalt gezogen (5).

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Laut Wolfgang Hecht hat Laukhard mit seiner Schilderung des studentischen Lebens in seiner Lebensbeschreibung die Darstellung dieses Sujets im 19. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst; vgl. Wolfgang Hecht: Friedrich Christian Laukhards Erstlingsroman »Baldrian Weitmaul«. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Jg. 2 (1952–1953), Heft 3, S. 139–146, hier S. 139. Die entscheidenden Kapitel für Laukhards Wahrnehmung der Halleschen Aufklärungstheologen finden sich im zweiten Band seiner Lebensbeschreibung in den Kapiteln 13 bis 17. Daneben wurden sachdienliche Ausführungen aus dem ersten und fünften Band seiner Lebensbeschreibung berücksichtigt.

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MALTE VAN SPANKEREN

I. Laukhards Ankunft in Halle Vermutlich zu Ostern 1782,3 pünktlich zu Beginn des Sommersemesters, kam Laukhard zum ersten Mal nach Halle an der Saale. Sein Theologiestudium, das er in Gießen begonnen hatte, hatte er zwischen 1779 und 1782 für einen Aufenthalt im elterlichen Pfarrhause unterbrochen. Anscheinend ist Laukhard von den in Gießen lehrenden Dozenten mehrheitlich enttäuscht worden. Lediglich der progressive Aufklärungstheologe Carl Friedrich Bahrdt (1741– 1792)4 hatte auf Laukhard in Gießen Eindruck gemacht.5 Nachdem Bahrdt von dort 1775 wegen seiner theologisch progressiven Ansichten ins Direktorat einer philanthropischen Bildungsanstalt nach Marschlins gewechselt war, wirkten an Laukhards altem Studienort überwiegend theologisch konservative Theologen, die, wie der Nachfolger Bahrdts, Johann Michael Lobstein (1740– 1794) noch die Teufelslehre vom Katheder gelehrt haben sollen.6 Insofern dürfte Laukhards Wechsel nach Halle und damit in die zusammen mit Göttingen führende Hochschule der Aufklärungstheologie für ihn einem theologischen Weltenwechsel gleichgekommen sein. Wahrscheinlich hatte der Vater, Philipp Burkhardt Laukhard (1722–1789), seinem Sohn den Wechsel nach Halle nahegelegt.7 Der Vater kannte die Stadt 3

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Wann Laukhard in Halle eintraf ist durchaus fraglich; vgl. Hecht: Laukhard (wie Anm. 1), S. 140. Hecht gibt das Frühjahr 1782 für Laukhards Ankunft in Halle an, während Kertscher auf den Juni 1782 verweist; vgl. Hans Joachim Kertscher: Friedrich Christian Laukhard und die Universitätsstadt Halle. Wendelsheim 2007, S. 1. Carl Friedrich Bahrdt, das enfant terrible der Aufklärungstheologie, hatte seit 1757 in Leipzig studiert, wurde dort 1761 Magister und 1766 ao. Professor. 1768 veröffentlichte er seinen Versuch eines biblischen Systems der Dogmatik, in dem er die Verbalinspirationslehre verwarf und gleichzeitig den unbedingten Vorrang der Bibel gegenüber den Symbolischen Büchern betonte. 1771 wechselte er nach Gießen und veröffentlichte dort zwischen 1773 und 1774 sein Werk Die Neuesten Offenbarungen Gottes in Briefen und Erzählungen, wodurch er eine publizistische Kontroverse auslöste. Von seinen Publikationen sorgte insbesondere der Kirchen- und Ketzeralmanach aufs Jahr 1781 für Aufregung unter den Zeitgenossen, weil er darin die führenden Theologen seiner Zeit, unter ihnen auch Semler, in einer Kurzcharakteristik, teilweise sehr kritisch, porträtierte. – Zu Bahrdt siehe Gerhard Sauder [u. a.]: Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792). St. Ingbert 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, 34); Thomas Kuhn: Carl Friedrich Bahrdt. Provokativer Aufklärer und philanthropischer Pädagoge. In: Peter Walter, Martin Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Darmstadt 2003, S. 204–225; Hans-Joachim Kertscher: Carl Friedrich Bahrdt im Urteil seiner Zeitgenossen. In: Ders.: Literatur und Kultur in Halle im Zeitalter der Aufklärung. Aufsätze zum geselligen Leben in einer deutschen Universitätsstadt. Hamburg 2007, S. 247–257; Andrew McKenzie-McHarg: Überlegungen zur Radikalaufklärung am Beispiel von Carl Friedrich Bahrdt. In: Martin Mulsow, Guido Naschert (Hg.): Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Einzelschicksale – Konstellationen – Netzwerke. Hamburg 2012 (Jb. Aufklärung, Bd. 24), S. 207–240, sowie dessen Beitrag in diesem Band. Vgl. Richard Wilhelm: Friedrich Christian Laukhard 1757–1822. Alzey 2002, S. 28. Vgl. Ebd., S. 29. Ein Beweggrund des Vaters dürfte wohl gewesen sein, den bereits mehrere Jahre umfassenden Aufenthalt des Sohnes im Elternhaus zu beenden.

LAUKHARD UND DIE HALLESCHE AUFKLÄRUNGSTHEOLOGIE

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noch aus eigenen Studienzeiten. Hier hatte er zu Beginn der 1740er Jahre zusammen mit dem seit 1752 in Halle als Theologieprofessor lehrenden Johann Salomo Semler (1725–1791) studiert und dabei insbesondere die Seminare Christian Wolffs, der 1740 nach Halle zurückgekehrt war,8 besucht. Auch durch Semlers Wirken war die Friedrichs-Universität in Halle mittlerweile zu einer der Hochburgen der Aufklärungstheologie avanciert. Die Hochschule stand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wegen der Leistungen ihrer Professoren in Lehre und Forschung in einem herausragenden Ruf.9 Sie bildete überdies einen Schmelztiegel, in dem sich Studenten10 aus unterschiedlichen Regionen Preußens und darüber hinaus zusammenfanden, ihre Prägungen und Überzeugungen einbrachten, ihre Interessen austauschten und damit den Prozess der Aufklärung nachhaltig beförderten.11 In der Theologischen Fakultät hatte neben Semler insbesondere der seit 1764 als ordentlicher Professor wirkende Johann August Nösselt (1734–1807) Anteil daran, dass Halle als eine der ausstrahlungskräftigsten Theologischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum galt. Nösselt hatte als neutestamentlicher Exeget die von Semler mit etablierte historisch-kritische Methode konsequent auf einzelne neutestamentliche Schriftstellen angewandt. Seit 1769 konzentrierte er sich verstärkt auf den Ausbau einer neuen Disziplin, der Theologischen Enzyklopädie. In seinen dazu gehaltenen Vorlesungen, die er unter anderem 1783 hielt, fasste er die theologischen Überzeugungen der Neologie, die insbesondere seit dem Schlüsseljahr 1748, in dem Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Men8

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Zu Wolffs Vertreibung aus Halle siehe Albrecht Beutel: Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie. In: Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus. Tübingen 2007, S. 125–169. Friedrich Schiller klagte, angesichts des Ruhmes der Friederiziana drohe »die alte Universität in Jena über den Haufen zu fallen«; vgl. Heinz Kathe: Geist und Macht im absolutistischen Preußen. Zur Geschichte der Universität Halle von 1740 bis 1806. Halle an der Saale 1980, S. 287. Über das Studentenleben seit der Jahrhundertmitte informiert Wolfgang Hardtwig: Auf dem Weg zum Bildungsbürgertum. Die Lebensführungsart der jugendlichen Bildungsschicht 1750–1819. In: Ders.: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 3. Lebensführung und ständische Vergesellschaftung. Stuttgart 1992, S. 9–41. – Zu Halle siehe Heinz Kathe: Die hallesche Studentenschaft zur Zeit Friedrichs des Großen 1740–1786. In: Holger Zaunstöck (Hg.): Halle zwischen 806 und 2006. Neue Beiträge zur Geschichte der Stadt. Halle an der Saale 2001, S. 129–141. Der gegenseitige Gedankenaustausch speziell unter den Theologiestudenten muss hoch und anregend gewesen sein. Dafür sorgten nicht nur die numerisch hohe Zahl an Studenten, die vom Ruf der theologischen Fakultät über Jahrzehnte angelockt wurden, sondern auch die internationalen Farbtupfer, die die theologische Studentenschaft Halles bereicherten. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier an Friedrich August Mühlenberg (1750–1801) erinnert, der 1763 aus Pennsylvania zur Erziehung in die Franckeschen Stiftungen nach Halle gesandt worden war und 1769 Theologie studierte. 1770 nach Nordamerika zurückgekehrt, arbeitete er dort zunächst als Pfarrer, bevor er sich dem Unabhängigkeitskampf anschloss und erster Sprecher des US-Repräsentantenhauses wurde. Die Bill of Rights trägt die Unterschrift dieses in Halle ausgebildeten Theologen.

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MALTE VAN SPANKEREN

schen12 und August Friedrich Wilhelm Sacks Vertheidigter Glaube der Christen,13 ihren Siegeszug innerhalb der deutschsprachigen Theologie angetreten hatten, ausführlich zusammen. Dabei fand er im konkreten Bezug auf die pfarramtliche Tätigkeit den entscheidenden Nexus für den Zusammenhalt der einzelnen theologischen Disziplinen.14 Nösselt vertrat ein Theologieverständnis, das sich durch ein wissenschaftsspezifisches Urteilsvermögen auszeichnete und mit dessen Hilfe die Plausibilität einzelner traditioneller Theologoumena hinsichtlich ihrer neutestamentlichen und dogmatischen Belegstellen kritisch überprüft werden konnte. Dies führte bei ihm unter anderem zu einer Ablehnung der Erbsündenvorstellung als angeborener und damit nicht überwindbarer conditio humana und zu einer Infragestellung der traditionellen Trinitätslehre. Als Laukhard nach Halle zum Studium kam, war die Zahl der in Halle Immatrikulierten vergleichsweise hoch15 und lag im Durchschnitt der Jahre zwischen 1775 und 1790 über 1.000 Studenten.16 Eine zeitgenössische Charakterisierung der Universitätsstädte gibt Laukhard mit einem Sinnspruch wieder: [Halle] [Leipzig] [Jena] [Gießen]

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Ach Gott, wie ist die Welt so blind! Ich lobe mir ein schönes Kind! Wer mir noch spricht ein Wort, den soll der Teufel fressen, A bonne amitiè, so spricht der Bursch in Hessen.17

Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen. Hg. von Albrecht Beutel, Daniela Kirschkowski u. Dennis Prause. Tübingen 2006 (Kritische Ausgabe, Abt. I, Bd. 1). Zu Spalding siehe Albrecht Beutel: Johann Joachim Spalding. Populartheologie und Kirchenreform im Zeitalter der Aufklärung. In: Peter Walter, Martin Jung (Hg.): Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung. Darmstadt 2003, S. 226–243. August Friedrich Wilhelm Sack: Vertheidigter Glaube der Christen. 8 Stücke. Berlin 1748– 1751. Zu Sack siehe die trotz irreführendem Titel gründliche Arbeit von Mark Pockrandt: Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817). Berlin, New York 2003. Nösselt hat seine Vorlesungen zur Theologischen Enzyklopädie Mitte der 1780er publiziert. Siehe dazu Johann August Nösselt: Anweisung zur Bildung angehender Theologen. Halle 1786–1789 (2. Aufl. 1791). – Zu Nösselt siehe: Malte van Spankeren: Johann August Nösselt (1734–1807). Ein Theologe der Aufklärung. Tübingen, Halle 2012. Laukhards Zeitgenosse Schwartz schlussfolgerte: »Halle wäre ein nahrloser Ort, wenn die Universität nicht hier wäre.« [Johann L. G. Schwartz:] Eine Frühlingsreise über Halle, Leipzig und Altenburg nach Dresden im Jahre 1784. In: Deutsches Museum 1 (1785), S. 346–373, hier S. 350f. Vgl. Franz Eulenburg: Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Leipzig 1904 (ND Berlin 1994), S. 146. – Allerdings muss man anmerken, dass die Zahl der Immatrikulierten kaum exakt ermittelt werden kann. Auch Eulenburgs Standardwerk ist in dieser Hinsicht nicht immer zuverlässig und mittlerweile überholt. Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. 5 Theile in 3 Bdn. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt am Main 1987, Th. II, S. 125.

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Auf Anraten seines Vaters wandte sich Laukhard gleich nach seiner Ankunft an Semler. Unregelmäßig schrieben sich Semler und Laukhards Vater noch Briefe18 und tauschten sich darin über theologische Fragestellungen aus.19 Semler überprüfte zunächst, ob Laukhard auch über die obligatorischen Fähigkeiten für ein Theologiestudium verfügte: »Semler sprach endlich lateinisch mit mir, um, wie er sagte, zu sehen, ob ich fleißig in dieser Sprache gelesen hätte: [...] und er war mit mir zufrieden.«20 Anschließend stellte sich Laukhard beim damaligen Direktor der Franckeschen Stiftungen, Gottlieb Anastasius Freylinghausen (1719–1785), und dessen Vize Johann Ludewig Schulze (1734–1799) vor und bezog dann auf dem Waisenhaus seine erste Wohnung in Halle.

II. Erste Tätigkeiten als Dozent Laukhard berichtet lediglich vage, er habe in Halle »mehrere Kollegia« gehört. Wahrscheinlich besuchte er neben Semlers Seminaren die damals zeitgenössisch nachgefragte Vorlesung über Theologische Enzyklopädie bei Nösselt,21 die einen instruktiven Überblick über die einzelnen theologischen Disziplinen bot und von Berlin aus ausdrücklich als Studieninhalt gefordert wurde.22 Um sich das Studium leisten zu können – neben den obligatorischen Hörergeldern musste im Winter zusätzlich Heizgeld gezahlt werden23 – nahm Laukhard alsbald eine Tätigkeit als Lehrer am Halleschen Waisenhaus auf. Dies war eine für Theologiestudenten in Halle seit Jahrzehnten übliche Methode 18 19 20 21

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Bei ihrem ersten Treffen erkundigte sich Semler bei Laukhard nach dessen Vater und freute sich, »daß der alte Metaphysikus noch recht gesund wäre«. Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 89f. Ebd., S. 90. So hielt Nösselt beispielsweise 1783 eine Vorlesung zur Theologischen Enzyklopädie. Ende der 1780er Jahre sollte Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher diese Vorlesungen besuchen und später die diesbezüglichen Publikationen Nösselts bei seiner eigenen Ausarbeitung der Theologischen Enzyklopädie zugrunde legen. Diese Vorlesung bot eine sachgerechte Vorbereitung auf die später vor dem Berliner Oberkonsistorium abzulegende Prüfung für angehende Pfarrer. – Für viele Theologiestudenten schloss sich nach dem Studium oftmals eine lange Überbrückungsphase bis zum Eintritt in eine Pfarrstelle an. Die Voraussetzung, um als Pfarrer tätig zu sein, waren in Preußen unter anderem ein mindestens zweijähriges Theologiestudium, ein Mindestalter von 25 Jahren, eine erfolgreiche Prüfung vor dem Konsistorium in Berlin sowie eine Probepredigt vor der Gemeinde. Vgl. Balthassar Haussmann: Zwischen Verbauerung und Volksaufklärung. Kurmärkische Landprediger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1999, S. 87. Der Mindestbedarf eines Studenten an der Friederiziana wurde 1787 mit 150 Talern pro Jahr veranschlagt; vgl. Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle 1. Berlin 1894, S. 559. Anders dagegen Hecht, der für dieselbe Zeit die doppelte Summe angibt; vgl. Hecht: Laukhard (wie Anm. 1), S. 141.

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des Einkommenserwerbs.24 Man unterrichtete die Schüler dabei nicht nur, sondern lebte oft – wie auch Laukhard – mit ihnen zusammen.25 Im Unterricht trugen die Lehrer den zu lernenden Wissensstoff mündlich vor und fragten ihn am Ende der Stunde ab. Während der gemeinsamen Mahlzeiten wurde den Schülern aus Zeitungen vorgelesen, um sie mit Informationen zu versorgen.26 Zu Ostern und Michaelis wurden öffentliche Prüfungen abgehalten, und wer auf die Universität gehen wollte, musste sich einer zusätzlichen Prüfung unterziehen, um das testimonio honestae dimissioni zu erwerben. Laukhard erteilte vor allem altsprachlichen Unterricht und erwarb so seine ersten Erfahrungen als Pädagoge. Über die aus seiner Sicht mittlerweile überwundenen, früheren Mängel des Lebens und Lernens im Waisenhaus schreibt er: Seitdem ich die Studenten in Halle kenne, waren sie zwar keine Atheisten, aber auch keine pietistischen Kopfhänger. Die Kopfhängerei hat ehedem ihren Ursprung zu Leipzig in den frommen Zusammenkünften einiger superfrommen Magister gehabt, und wuchs hernach auf dem hallischen Waisenhause zu einer solchen Größe heran, daß man alle für Satanskinder ausschrie, die den Kopf gerade trugen, und ihre freie unbefangene Mine jederman hinzeigten. Lustigkeit und aufgewektes Wesen hießen grobe Sünden, und nur der war Gott, oder was gleich viel galt, den Vorstehern der heiligen Waisen=Anstalten angenehm, welcher aussah, wie ein Büßender.27

Laukhard stellt fest, dass seit Amtsantritt Friedrichs II. 1740 diese »Frömmelei« zunehmend obsolet geworden sei: »Die Singereien, die Stuben=Betstunden und andre sogenannten Andachtsübungen wurden als Fratzen und Possen angesehen, woran nur ein Schwindelkopf oder ein Heuchler Gefallen finden könnte. [...] Studenten können auch keine Heilige seyn.«28 Dieses positive Urteil Laukhards ist insofern bemerkenswert, als gerade in den 1780er Jahren die Perzeption des Waisenhauses und des darin erteilten Unterrichts vielfach Gegenstand einer kontrovers geführten Debatte geworden war.29 Im Zuge der

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Vgl. Axel Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption. Halle an der Saale 2006, S. 145. Vgl. Thomas Müller-Bahlke: Die Geschichte der Lateinschule in den Franckeschen Stiftungen. In: Penelope Willard (Hg.): Die Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale. 300 Jahre Latina. Jahresprogramm 1997. Halle an der Saale 1996, S. 40–58, hier S. 45. Vgl. ebd., S. 43. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 125f. Ebd., S. 126f. Der schlesische Pfarrer Johann Georg Brieger (1764–nach 1796) kritisierte 1788: »Auswärtige halten dafür, das Hallische Waysenhaus sey eine bewährte Tugendschule und mit dem Unterricht darinn könne keine bessere Einrichtung getroffen werden; allein die Erfahrung hat es gelehrt und lehret es täglich, daß Sittenverderbniß der Jugend nirgends so im Schwange sey, als eben in dieser Tugendschule, – die Erfahrung lehret es, daß hier Laster geübt werden, für denen der Menschenfreund sich entsetzt!« Ders.: Historisch-topographische Beschreibung der Stadt Halle im Magdeburgischen. Grottkau 1788 (ND 1990), S. 177. – Siehe dazu meinen Beitrag: Halle in den 1780er Jahren – Johann Georg Briegers »Historisch-topogra-

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von Rousseaus Èmile beeinflussten philanthropischen Bildungsbewegung waren die Franckeschen Stiftungen und die dort mutmaßlich praktizierte Pädagogik zunehmend heftig kritisiert worden.30 Während sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch als eine fortschrittliche, sehr erfolgreiche und weithin angesehene Bildungsanstalt gegolten hatten, wurden sie verstärkt seit den 1770er Jahren als vermeintlich pädagogisch rückständige Erziehungseinrichtung publizistisch attackiert.31 Noch während seines Studiums begann Laukhard damit, auf einen Rat Semlers hin,32 seine ersten akademischen Veranstaltungen abzuhalten. Laukhard dozierte 1782 über die Schriften von Johann Christian Heinrich von Selchow (1732–1795).33 Er berichtet: »Ich hatte zwölf Zuhörer, und las auf einer Stube im Hause des sel. Buchbinders Münnich.«34 Diese Vorlesung ging bis zum Februar 1783. Zusätzlich las er über Kirchengeschichte.35 Dass sich seine finanzielle Situation dadurch nicht wesentlich besserte – eine für die Zeit häufige Erscheinung bei Dozenten ohne fixes Einkommen – beklagte Laukhard: Daß ich mit meinen Collegien wenig werde verdient haben, versteht sich für mich als Anfänger schon von selbst. Einmal ist in Halle das Freirennen der Collegien gar sehr gewöhnlich: da denken viele Studierende, das Geld könne in Lauchstädt, Leipzig, auf den Dörfern und beim Spiel besser angewandt werden, als zum Honorar für die Docenten. Zu dem war ich von jeher nachgiebig, und

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phische Beschreibung der Stadt Halle im Magdeburgischen«. In: Hallesches Jb. für Stadtgeschichte 2012, S. 117–133. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ebd., S. 178: »Die übergrosse Strenge mit der man den Alumnen begegnet, ist zum Theil mit das Verderben derselben; sie artet, so bald sie dem Waysenhause entlaufen sind, in die grösseste Zügellosigkeit aus. Für die menschliche Gesellschaft sind die Zöglinge des Waysenhauses gänzlich unbrauchbar – sie sind ungeschliffen, menschenscheu und tückisch.« – Siehe die Auflistung einiger zeitgenössischer Kritiken am Halleschen Waisenhaus bei Christian Soboth: Ein »Wunder unsers Jahrhunderts« oder »ein Hauß für Diebe und Mörder«? Innen- und Außenansichten von den Glauchaschen Anstalten im 18. und 19. Jahrhundert. In: Holger Zaunstöck (Hg.): Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe. Halle an der Saale 2010 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 25), S. 145–151, sowie Malte van Spankeren: Die Krise der Franckeschen Stiftungen. In: Albrecht Beutel, Thomas Kuhn und Markus Wriedt (Hg.): Glaube und Vernunft. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte des späten 18. Jahrhunderts. Leipzig 2013, S. 47–56. Vgl. beispielsweise Schwartz: Eine Frühlingsreise (wie Anm. 15), S. 354: »Das hiesige Waisenhaus hat sehr viel von seiner ehemaligen Celebrität verloren, und das ist kein Wunder, da es seine alte Konstitution unverändert beibehalten hat, und nicht mit der steigenden Aufklärung fortgerückt ist.« Semler hatte Laukhard den Rat gegeben, Vorlesungen zu halten: »›Man lernt da viel [...] und fühlt die Lücken besser, als wenn man so bloß für sich studiert; man setzt sich auch in den Prinzipien fester.‹« Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 207. Vgl. ebd., S. 208. – Er las nach Johann Heinrich Christian Selchow: Grundriß einer pragmatischen Geschichte des Durchlauchigsten Hauses Braunschweig-Lüneburg. 2. Aufl. Göttingen 1767. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 139. Vgl. ebd.

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wer mich um etwas bath, dem konnte ich nichts abschlagen. Und so hatte ich von dreißig Zuhörern kaum zehne, die bezahlen wollten; und unter diesen Zehnen waren doch einige, die es hernach ganz und gar vergaßen.36

Diese eigenen Erfahrungen als akademischer Dozent veranlassten Laukhard auch, das studentische Leben in bestimmten Punkten zu kritisieren.37 »[D]er Hallische Student muß einmal Dörfer besuchen, und wenns auch nur wäre, um gekünstelte Gesichter zu begaffen, Merseburger Bier zu trinken, mit dieser oder jener Schneidertochter, Stiefelwichserinn oder Perückenmacherhure zu tanzen, oder des Sommers irgend einer Kornnymphe nachzuwittern [...].«38 Mit seiner Kritik am Verhalten der Halleschen Studenten war Laukhard im Übrigen in prominenter Gesellschaft.39

III. Das Leben in Halle Halle bot in den 1780er Jahren für diejenigen, die es sich leisten konnten, eine Vielzahl an Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Man ging in Gaststätten wie die ›Schwarze Schürze‹ oder in die marktnahen Lokale ›Goldener Löwe‹ und ›Kronprinz‹, oder man besuchte in der kleinen Ulrichstraße die Weinstube ›Ressource‹. Beliebt waren auch Spazierfahrten ins Grüne, die man mit dem Pferdegespann unternahm, insbesondere nach Lauchstädt. Über die teils ruinö36 37

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Ebd., S. 229f. Die meisten der an der rechten Wand des Waagegebäudes ausgehangenen Edikte befassten sich übrigens mit Verordnungen bezüglich der studentischen Disziplin; vgl. Kathe: Studentenschaft (wie Anm. 10), S. 140. So erging am 3. Februar 1782 zum wiederholten Mal ein Reskript an die Friederiziana mit der Anweisung, den Besuch der Bierdörfer zu untersagen. Als Strafe drohen jedem drei Tage Karzer oder zehn Taler Strafe, der sich folgender Vergehen schuldig macht: »[A]uf die Dörfer zum Besuch der Comedien oder Spiele gehen, oder auch daselbst beym Biertrincken, oder bey dem Gebrauch starker Getränke, bey Absingung der so genannten Commerce Lieder getroffen werden, oder sonst auf andere dergleichen Art excediren, oder wohl gar daselbst übernachten, oder zu etlichen Tagen sich aufhalten, oder wöchentlich zu mehren Tagen die Dörfer besuchen, oder mit lüderlichen oder berüchtigten Frauenspersonen ausschweifen«. Wöchentliche Hallesche Anzeigen vom 15. April 1782, Sp. 225. Leider ist nicht überliefert, wie lange dieser Aushang unversehrt am Schwarzen Brett gehangen hat. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 113. Über die allgemeine Disziplin und den Lebenswandel der halleschen Studenten berichtete bekanntlich auch Johann Wolfgang von Goethe kritisch: »In Jena und Halle war die Roheit aufs höchste gestiegen, körperliche Stärke, Fechtergewandtheit, die wildeste Selbsthülfe war dort an der Tagesordnung; und ein solcher Zustand kann sich nur durch den gemeinsten Saus und Braus erhalten und fortpflanzen. Das Verhältnis der Studierenden zu den Einwohnern jener Städte, so verschieden es auch sein mochte, kam doch darin überein, daß der wilde Fremdling keine Achtung vor dem Bürger hatte und sich als ein eignes, zu aller Freiheit und Frechheit privilegiertes Wesen ansah.« Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil. Sechstes Buch. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bde. Hg. von Erich Trunz. 16., durchges. Aufl. München 1996, Bd. 9, S. 252.

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sen Ausgaben der Studenten, die ihn als Dozent, der auf die Hörergelder zwingend angewiesen war, tangierten, hält Laukhard fest: »Viele ruiniren gleich den ersten Sommer ihre Kasse durch das Rennen nach Lauchstädt40 dergestalt, daß sie die Zeit ihres Studierens über nicht wieder zu Kräften kommen können, und immer große Schulden haben.«41 Laukhard glaubt, die Studenten gäben damit den Hallensern ein schlechtes Vorbild und erkennt in der Nachahmung studentischen Freizeitvergnügens durch die Halleschen Bürger eine wesentliche Ursache für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Halles: »Lauchstädt ist des Sommers ein wahres Verderben für die hallische Universität, ja selbst für die Bürgerschaft.«42 Obwohl Laukhard mit seinem Quartier im Waisenhaus durchaus zufrieden war, nahm er gerne das Angebot Semlers vom Oktober 1782 an, von dort in Semlers Haus zu ziehen. Dieses lag in der oberen Großen Steinstraße und damit in einem höher gelegenen Teil Halles und bot somit willkommene Frischluftveränderung von der mit reichhaltig Kohlenstaub geschwängerten Hallenser Luft43 der Stadtmitte.44 Aber nicht nur die bessere Luft, sondern insbesondere Semlers umfangreiche Bibliothek, deren Benutzung Laukhard nun ausgiebig möglich wurde, dürfte ein Motiv für die Ortsveränderung gewesen sein. In der Folge bediente sich Laukhard dort häufig, um seine Studien zu intensivieren.45 Laukhards bisheriger Vermieter, der Direktor des Waisenhauses, Freylinghausen,46 betrachtete im Übrigen diesen Umzug mit Skepsis: »Herr Freylinghausen mißbilligte zwar meinen Abzug vom Waisenhause nicht, doch setzte er, gleichsam ahndend, hinzu: es wäre schon mancher in der Stadt verdorben worden, der sich auf dem Waisenhause recht gut betragen 40

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Eine besondere Attraktion in der Umgebung von Halle war das Lauchstädter Theater, das seit Anfang der 1790er Jahre von Goethe geleitet werden sollte und nicht nur für zahlreiche Studenten, sondern auch für manchen Hochschullehrer ein kultureller Höhepunkt des Umlandes darstellte. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 115. Ebd., S. 114. – In der Tat gelang es Halle im Gegensatz zu vielen anderen preußischen Städten während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht, wirtschaftlich zu prosperieren. Die Verschmutzung der Halleschen Luft zu kritisieren, war ein Topos zeitgenössischer Stadtbeschreibungen. Vgl. z. B. Brieger: Historisch-topographische Beschreibung (wie Anm. 29), S. 11: »Kohlendampfe, Schweinmiste, den die Bäcker ungeahndet auf die Straßen befördern dürfen – und die ausgeleerten Nachttöpfe verursachen zuweilen einen unleidlichen Gestank.« Semler erläutert, der Umzug sei notwendig geworden, weil »[d]is Haus mit in dem höchsten und reinsten Theile der Stadt lag, und so viel freie Luft gewärete: [deshalb] hatte meine Frau dis Haus, aus Liebe und Sorge für meine Gesundheit, gewälet.« Johann Salomo Semler: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Halle 1781–1782, Bd. 1, S. 288. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 140. Gottlieb Anastasius Freylinghausen, der Sohn des bekannten Theologen Johann Anastasius Freylinghausen, war seit 1752 ao. und seit o. 1771 Professor der Theologie in Halle. Im selben Jahr übernahm er das Direktorat der Franckeschen Stiftungen in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Es gelang ihm allerdings kaum, die Rückständigkeit der Stiftungen gegenüber anderen zeitgenössischen Erziehungsanstalten aufzuholen; vgl. August Hermann Niemeyer: Leben und Charakter des D. und Prof. G. A. Freylinghausen. In dem von J. L. Schulze herausgegebenen Denkmahl auf denselben. Halle 1786.

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hätte.«47 Kurz darauf gab Laukhard auch seine Unterrichtsstunden auf dem Waisenhaus auf, um sich ganz seinen akademischen Forschungen widmen zu können. Das Leben im Hause Semlers verlief durchaus lebhaft: Regelmäßig kamen um 12 Uhr zum Mittagessen ein Dutzend Gäste bei Laukhard vorbei. Um ein Uhr jagte ich, auf den Schlag, alle Gäste aus der Stube, damit ich[] mich auf meine Lectionen vorbereiten könnte, und diese fuhren dann mit der größten Eile auf ihren behufeiseten Stiefeln zur Treppe hinab, daß das Haus erbebte. D. Semler litt diesen Tumult einige Wochen, dann aber ward es ihm zu viel: er ließ mich kommen, und stellte mir vor, daß es ihm allemal vor dem Schlage ein Uhr graute [...].48

Semler soll ihm deshalb vorgeworfen haben, Laukhard habe durch seine Gäste aus einem »Haus des Friedens und der Ruhe« eine »Garküche« gemacht.49 Eine weitere Anekdote aus dem Semlerschen Hause berichtet Laukhard: Ein aus Berlin stammender Student, den Laukhard nur mit ›Z.‹ abkürzt, wohnte bei Semler und verhielt sich plötzlich eines Tages ungewöhnlich: Er saß da ohne Beinkleider in der warmen Stube, und zeigte sich nicht selten in puris naturalibus. Wenn nun Ein Narre ist, so machen gleich ihrer zehn die Thorheit nach, und so ging es auch hier: die Gewohnheit, sich nicht anzuziehen, riß im ganzen Semlerischen Hause ein – mich ausgenommen: denn an dieser Säuerei fand ich trotz meiner zotologischen Ideen doch keinen Geschmack.50

Semler verfasste daraufhin eine Notiz: »[E]r wundre sich sehr, wie Leute, quorum alii bonas litteras discere se dicerent, quidam et docere so weit sich vergessen könnten, in seinem Hause den honestatem publicam zu beleidigen, und den Mädchen, quae essenta servitiis, quin et suis interdum filiabus partes corporis hinzuweisen, quas melior mos verdeckt wissen wollte.«51 Auf Semlers Initiative hin ergriff Laukhard die Möglichkeit zu promovieren und bat am 3. Januar 1783 um Zulassung zur Promotion und um einen Termin für die Abhaltung der Disputation.52 Letztere erfolgte kurze Zeit später im Wagegebäude, dem Hauptgebäude der Friedrichs-Universität. Dort hatte Laukhard, wie er rückblickend berichtet, »die schönste Gelegenheit, öffentlich zu bezeugen, wie viel ich Semlern schuldig war, wie sehr ich ihn verehrte: und

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Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 153. Ebd., S. 162f. Ebd. Ebd., S. 189. Ebd., S. 189f. Im Januar 1783 wurde Laukhard mit einer Schrift über den Pfalzgrafen Ruprecht zum Magister der Philosophie in Halle promoviert; vgl. Kertscher: Laukhard (wie Anm. 3), S. 10. Im August 1783 verteidigte er zusätzlich eine Dissertation über Giordano Bruno (siehe dazu den folgenden Beitrag von Pietro Omodeo) und durfte anschließend an der Philosophischen Fakultät Vorlesungen halten. Kertscher verweist darauf, dass dies im Jahr 1783 und nicht, wie Laukhard irrtümlich glaubt, erst 1784 geschah; vgl. ebd., S. 11.

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das that ich mit einem mir sonst ungewöhnlichen Feuer.«53 Tatsächlich scheint Semler auf Laukhard gehörigen Eindruck gemacht zu haben. Insofern erscheint es berechtigt, das Verhältnis Laukhards zu Semler ausführlicher zu beleuchten.

IV. Laukhard und Johann Salomo Semler An der Theologischen Fakultät der Friedrichs-Universität war in den 1780er Jahren bemerkenswert, dass hier in der Regel ein halbes Dutzend ordentliche Professoren lehrten, während an den übrigen deutschen Universitäten im Durchschnitt nur drei oder vier Theologieprofessoren unterrichteten. Damit wurde nicht nur der größeren Anzahl der Theologiestudenten in Halle Rechnung getragen, sondern auch der besondere Status der Theologischen Fakultät nach außen symbolisiert.54 Das Professorenkollegium setzte sich neben den erwähnten Semler und Nösselt aus folgenden Ordinarien zusammen: Johann Ludewig Schulze55 und Gotthilf Anastasius Freylinghausen, zu denen 1784 noch Georg Christian Knapp (1753–1825)56 und August Hermann Niemeyer (1754–1828)57 hinzutraten. Laukhards Wahrnehmung der in Halle vorherrschenden Aufklärungstheologie ist im Wesentlichen durch sein persönlich intensives Verhältnis zu deren führendem Vertreter Semler geprägt worden. In seiner Lebensbeschreibung erwähnt er Semler öfter als alle anderen halleschen Theologen zusammen.

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Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 168f. Vgl. Schwartz: Frühlingsreise (wie Anm. 15), S. 350f: »Alle Fächer der Gelehrsamkeit, sind mit einsichtsvollen, fleißigen, aufgeklärten und sehr gelehrten Männern besetzt.« Johann Ludewig Schulze war ein pietistischer Theologe, der 1771 Mitdirektor und 1785 Direktor der Franckeschen Stiftungen wurde. Seit 1769 war er als Professor in Halle tätig. Georg Christian Knapp wurde als Sohn des Theologieprofessors Johann Georg Knapp (1705– 1771) in Halle geboren. 1777 wurde er zum ao. und 1784 zum o. Professor der Theologie an der Friedrichs-Universität berufen. 1789 erlangte er die theologische Doktorwürde, und von 1792 bis 1793 versah er das Amt des Prorektors. Zu ihm siehe in aller Kürze Angela Nüsseler: Knapp, Georg Christian. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 4., völlig neu bearb. Aufl. Hg. von Hans Dieter Betz [u. a.]. Tübingen 2001, Bd. 4, Sp. 1462. August Hermann Niemeyer, der Urenkel A. H. Franckes studierte seit 1771 in Halle Theologie, vornehmlich bei Nösselt sowie Philologie und Philosophie. 1779 wurde er zum ao., 1784 zum o. Professor für Theologie ernannt. Seit 1785 war er Mitdirektor des Waisenhauses, seit 1799 Direktor der Franckeschen Stiftungen. – Zu ihm siehe Brigitte Klosterberg (Hg.): Licht und Schatten. August Hermann Niemeyer. Ein Leben an der Epochenwende um 1800. Halle 2004 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 23). – Christian Soboth (Hg.): »Seyd nicht träge in dem was ihr thun sollt.« August Hermann Niemeyer (1754–1828). Erneuerung durch Erfahrung. Tübingen 2007 (Hallesche Forschungen, 24).

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Abb. 2 Johann Salomo Semler (1725–1791) Kupferstich von Johann Heinrich Lips

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Semler war ohne Zweifel einer, wenn nicht der bedeutendste protestantische Aufklärungstheologe des 18. Jahrhunderts.58 Semler präzisierte und popularisierte die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religion innerhalb der deutschen Theologie.59 Mit seiner bahnbrechenden Abhandlung von freier Untersuchung des Canon hat Semler ferner die historisch-kritische Bibelforschung mitbegründet60 und die Differenz zwischen Altem und Neuem Testament zukunftsweisend neu bestimmt.61 In dieser Schrift legte er mit philologischer Akribie die Spezifika der biblischen Schriften offen und deplausibilisierte dabei unter anderem die Lehre von der Verbalinspiration der Bibel. In seiner Institutio ad doctrinam christianam liberaliter discendam62 propagierte er dem Titel gemäß eine freiere theologische Lehrart, die sich durch eine historisch-kritische Darstellung zentraler theologischer Lehrvorstellungen auszeichnete, ohne dabei die Grundwahrheiten der christlichen Religion aufzugeben. Neben Semler hat Laukhard insbesondere von Nösselts Seminaren profitiert. So legte er bei seiner eigenen Lehrtätigkeit im Waisenhaus, zumal bei exegetischen Erörterungen, Nösselts Schriften zugrunde. Laukhard kritisiert mit Nachdruck diejenigen Studenten, die ein Geschäft daraus gemacht hatten, diese exegetischen Schriften Nösselts, den er als ›bessernd‹ und ›reinlehrend‹63 bezeichnete, wortwörtlich mitzuschreiben, um sie anschließend als Raubdruck zu verkaufen.64 Über seinen Unterricht fasste Laukhard zusammen: »Mir blieb immer mein freies Urtheil unbefangen, und meine Scholaren lernten das, was 58

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Zu Semler siehe Botho Ahlers: Die Unterscheidung von Theologie und Religion. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der praktischen Theologie im 18. Jahrhundert. Gütersloh 1980; Ulrich Barth: Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips. Francke – Baumgarten – Semler. In: Ders.: Aufgeklärter Protestantismus. Tübingen 2004, S. 167–199; Gottfried Hornig: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996. – Hartmut Schulz: Johann Salomo Semlers Wesensbestimmung des Christentums. Ein Beitrag zur Erforschung der Theologie Semlers. Würzburg 1988. Zu diesem Aspekt siehe u. a. Gottfried Hornig: Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 21 (1979), S. 198–211. Zu dieser Schrift siehe Albrecht Beutel: [Art.] Johann Salomo Semler: Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (4 Bde.) 1771–1775. In: Michael Eckert [u. a.] (Hg.): Lexikon der theologischen Werke. Stuttgart 2003, S. 1f. Siehe hierzu Andreas Lüder: Historie und Dogmatik. Ein Beitrag zur Genese und Entfaltung von Johann Salomo Semlers Verständnis des Alten Testaments. Berlin [u. a.] 1995. Vor allem angesichts dieser zahlreichen Verdienste, die er freilich mit anderen Aufklärungstheologen teilt, ist die theologische Aufklärungsforschung seit Jahrzehnten auf Semler konzentriert gewesen. Johann Salomo Semler: Institutio ad doctrinam christianam liberaliter discendam. Halle 1774. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. V, S. 184: »Große Männer hat Halle zu allen Zeiten gehabt, [...] da traf ich den großen Semler, den bessernden Nösselt, den in omni jure vel curatissimum Woltär [d. i. Johann Christian Woltär (1744–1815); MvS]; […] einen Knapp – Geister meiner Lehrer, und Sie noch im Leben, Sie, großer Woltär, und sie reinlehrender Nösselt.« Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. I, S. 103.

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die Theologen lehren, historisch dogmatisch: und das war ja der Hauptzweck unsrer Lektionen.«65 Das von Laukhard hier angesprochene »freie[] Urtheil« dürfte durchaus von Semlers ›freierer‹ theologischer Lehrart substantiell beeinflusst worden sein. Mit Semler pflegte Laukhard in Halle den engsten und häufigsten Kontakt, und in der Folge wurde Semler über Jahre hinweg Laukhards Mentor und Förderer. Laukhard schildert seine erste Begegnung mit Ehrfurcht: »Am andern Tag begab ich mich zu Herrn D. Semler. Ich hatte mir schon längst eine große Idee von diesem wichtigen Mann gemacht; und diese Idee wurde immer größer, je genauer ich ihn kennen lernte [...].«66 In der Folge gestaltete sich Laukhards Kontakt zum führenden Halleschen Aufklärungstheologen regelmäßig und intensiv. Laukhard behauptet von sich, Semler gut gekannt zu haben,67 wofür ihm ihre zahlreichen Spaziergänge ausgiebig Gelegenheit boten. Auf diesen Ausflügen tauschten sie sich mehrfach in der Woche 68 nicht nur über theologische, sondern auch über naturkundliche Thematiken aus. Semler erläutert über den Erholungswert dieser Spaziergänge: »Hier in Halle, wo es an der Elster und Saale so viele Felsen und Steinarten gibt, und in manchen Gegenden grosse Sandplätze, habe ich diese Neigung [des Steinesammelns; MvS] recht sehr unterhalten; indem ich mir selbst das Gesez gemacht hatte, die Aufmerksamkeit ja von Zeit zu Zeit ganz aus der theologischen Sphäre wegzuheben.«69 Semler berichtet, er habe später in Halle auf seinen Spaziergängen »oft stundenlang an der Erde geseßen, um die kleinern Steine, Dendriten und Petrefacta genauer aufzusuchen. Ich trug immer sehr viel mit zu Hause.«70 Vor allem unter Semlers Einfluss wandelte sich Laukhards Verständnis von Theologie. Er begriff sie fortan nicht mehr als ein System von Lehrsätzen, sondern als »Kritik« und »Räsonnement«.71 Laukhard urteilt über seine in Halle erzielten theologischen Erkenntnisfortschritte: »Da entstand aus Theologie wahre Gelehrsamkeit und nützliche Wissenschaft [...].«72 Es zeigt sich an dieser Selbsteinschätzung, dass Laukhard von dem wissenschaftsspezifischen Theologieverständnis, das Semler und Nösselt zu Laukhards Zeit in Halle vertraten, und auf dessen Basis eine kritische Überprüfung traditioneller Theologoumena zunehmend möglich wurde, durchaus beeinflusst worden ist.

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Ebd., Th. II, S. 471. Ebd., S. 88. Vgl. ebd.: »[I]ch kann mich wohl rühmen, den Mann genau gekannt zu haben.« Vgl. ebd., S. 99f.: »Fast täglich, wenigstens viermal die Woche, besuchte ich den treflichen Semler, und begleitete ihn zuweilen auf seinen Spaziergängen, die er alle Tage anstellte.« Semler: Lebensbeschreibung (wie Anm. 44), Bd. 1, S. 322. Ebd., S. 322f. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 137. – Vgl. Kertscher: Laukhard (wie Anm. 3), S. 9. Ebd.

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Wie nachhaltig Laukhard von den in Halle gelehrten, theologisch modernen Ideen geprägt worden ist, kommt auch in einem Zitat Laukhards zum Ausdruck, in dem er über einige für ihn zentrale theologische Grundüberzeugungen reflektiert: »Es mag aber immer seyn, daß ich so nach meiner von gewissen Lehren, z. B. von der Erbsünde, von der Trinität, von der reellen Gegenwart des Leibes u. s. w. welche ich nebst mehrern andern für Hirngespinnste halte […], räsonnirt habe [...].«73 Die Erbsündenlehre war in Halle aus dem theologischen Lehrbestand suspendiert worden. Und auch die Trinitätslehre wurde beispielsweise von Nösselt mehr als intellektuelle Spitzfindigkeit und nicht mehr als relevantes Theologoumenon aufgefasst. Trotz aller persönlichen Wertschätzung, die Laukhard Semler entgegenbrachte, und trotz der vielfältigen Förderung, die Semler Laukhard angedeihen ließ, sollte sich ihre Beziehung allmählich verschlechtern. Dafür waren insbesondere drei Begebenheiten ursächlich, die auch in unglücklichen privaten Konstellationen begründet lagen. So war Laukhard erstens offensichtlich von Semler dafür gerügt worden, dass er mit dem Pädagogikprofessor Ernst Christian Trapp (1745–1818)74 kurzzeitig engeren persönlichen Umgang gepflegt hatte.75 Trapp war im Mai 1779 als Nachfolger eines Semler-Schülers Inspektor eines neu konzipierten Erziehungsinstituts innerhalb des Theologischen Seminars, dessen Leiter Semler war, geworden und trat gleichzeitig die erste ordentliche Professur für Pädagogik an der Friedrichs-Universität an – ein Novum der halleschen Hochschulgeschichte. Allerdings begegnete man Trapp in Halle mit Misstrauen, wofür Trapp – wohl nicht ganz zu Unrecht76 – Semler verantwortlich machte.77 Insbesondere zwischen Semler und Trapp entstanden Spannungen,78 unter denen in der 73 74

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Ebd., Th. V, S. 258. Ernst Christian Trapp studierte seit 1765 zunächst in Göttingen Theologie, vor allem bei Johann Peter Miller (1725–1789). Neben intensiver Tätigkeit als Rezensent für erziehungswissenschaftliche Literatur in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek unterrichtete er seit 1777 im Dessauer Philanthropin. Für die Professur in Halle hatte ihn Friedrich Nicolai (1733–1811) gegenüber von Zedlitz empfohlen. Trapp stellte eine schillernde Gestalt dar und erklärte bei seiner Installierung programmatisch: »Ein praktischer Mann ist besser als 100 Maul–pädagogen.« Theodor Fritzsch: Ernst Christian Trapp. Sein Leben und seine Lehre. Dresden 1900, S. 38. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 184f. Neben fachlichen Differenzen – vor allem bezüglich der Frage, wie die pädagogische Ausbildung der Studenten im Theologischen Seminar zu praktizieren sei – wurde das Verhältnis zwischen Semler und Trapp bereits von Anfang an dadurch belastet, dass Semlers vormaliger Inspektor und Protegè Christian Gottfried Schütz (1747–1832) infolge einer unglücklichen, hauptsächlich von Zedlitz zu verantwortenden Entscheidung aus Halle geradezu vertrieben worden war, um eine Stelle für Trapp zu schaffen. Vgl. Fritzsch: Trapp (wie Anm. 74), S. 39. Trapp forderte die Distanzierung von theologischen Prämissen innerhalb der Pädagogik und geriet dadurch mit Semler in einen Konflikt. Semler schien darüber hinaus große persönliche Schwierigkeiten mit Trapp gehabt zu haben. In seiner Lebensbeschreibung schreibt er über diesen: »Ich weis nicht, wie es seyn konte, daß Herr Trapp, so bald er sich zum erstenmal bey mir gesezt hatte, zu mir sagte, ihr Institut muß aufliegen. Gleichwol kante er weder das Institut

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Folge das Erziehungsinstitut litt, so dass der Minister des Geistlichen Departements, der für die Universitätsangelegenheiten zuständige Karl Abraham von Zedlitz (1731–1793), schließlich Semler im Dezember 1779 das Direktorat des Theologischen Seminars entzog.79 In der Folge waren Trapp und Semler erbitterte Gegner geworden, und Semler missbilligte nachdrücklich Laukhards Umgang mit diesem. Erschwerend hinzu kam zweitens, dass Laukhard eine Schrift mit dem Titel Deutsche Synonymen veröffentlicht hatte, in der er einige sehr umgangsprachliche Ausdrücke bezüglich zwischenmenschlicher Beziehungen zusammengestellt hatte.80 Semler war davon wenig begeistert.81 Man kann sich vorstellen, mit welcher Sorge Semler die Gerüchte über seinen Protegé, die auch in der Fakultät rasch die Runde gemacht haben dürften, betrachtet hat. Drittens scheinen auch die unterstellten oder tatsächlichen Verhaltensweisen, die Laukhard offenbar bei verschiedenen Ausflügen außerhalb der Stadt gezeigt hatte, zu Semlers Verdruß über seinen Schützling beigetragen zu haben. Als Laukhard beispielsweise bei einem auswärtigen Kommers das Präsidium inne hatte, drang diese Neuigkeit alsbald bis an Semlers Ohren.82 »Zwei Tage nachher wußte mein Semler schon alles: er nahm mich vor und las mir den Text nach Noten.«83 Und nach einer Reise nach Jena, konfrontierte ihn Semler erneut mit Gerüchten, die er über Laukhard gehört hatte. Laukhard war über Semlers Vorhaltungen so erzürnt, dass er beschloss dessen Haus zu verlassen.84 Trotz dieser Streitpunkte blieb das persönliche Verhältnis aber, so berichtet Laukhard, von gegenseitigem Respekt getragen, und hat anscheinend nicht zu einem längerfristigen Zerwürfnis geführt. Im Gegenteil: Als Laukhard

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und die Kinder, die wir schon mit täglichem Beifal der Eltern so gebessert hatten.« Semler: Lebensbeschreibung (wie Anm. 44), Bd. 1, S. 346. – Trapp schrieb seinerseits über Semler: »Wie soll ich den Mann nennen […] der alle Federn stumpf schreibt, nach Berlin, nach Dessau hin unaufhörlich schreibt, daß ich bei ihm einkehren, daß ich sein Gast in Halle sein möge; und der, indem ich sein Gast bin, und kurz vorher, und gleich nachher, indem er mir alle mögliche Freundschaft aufzudringen scheint, mich von seinem Katheder verächtlich zu machen, mich in Dessau zu verkleinern und in Berlin üble Eindrücke von mir zu machen sucht.« Fritzsch: Trapp (wie Anm. 74), S. 39f. Die Direktion des Theologischen Seminars übertrug von Zedlitz an Nösselt, der die Aufgabe zwar übernahm, allerdings das Gehalt für seine Arbeit, immerhin 190 Taler, an Semler weiterleitete; vgl. Universitätsarchiv Halle, Rep. 27. Nr. 807, 9. – Siehe auch Christian Gottfried Schütz: Geschichte des Erziehungsinstituts bei dem theol. Seminarium zu Halle. An den Hn. Kirchenrat Stroth zur Apologie des Herrn D. Semler. Jena 1781. »Da brachte ich alle mir bekannten Wörter zusammen, welche die Besoffenheit und den unflätigen Umgang mit Frauenzimmern auf deutsch bezeichnen.« Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 17), Th. II, S. 179. Vgl. ebd.: »Herr Semler erfuhr das und koramirte mich nicht schlecht [...].« Vgl. ebd., S. 182f. Ebd., S. 183. Vgl. ebd., S. 201: »Semler machte mir, wie billig, ernstliche Vorwürfe: und ich Thor ward empfindlich; aber nicht zu meiner Besserung: vielmehr beschloß ich, Semlers Haus zu verlassen, um mir die beständigen Vorwürfe zu ersparen. Herr Semler sah dies freilich gern. Ich miethete mich also ein in das Haus des Buchbinders Münnich.«

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sich entschloss, sein akademisches Leben gegen das eines Soldaten zu vertauschen, sich aber fürchtete seinem Vater diesen lebensverändernden Entschluss mitzuteilen, wandte sich Laukhard, der alten Beziehung zwischen seinem Vater und Semler eingedenk, an diesen mit der Bitte, »meinem Vater meinen Schritt zum Soldatenstande auf die glimpflichste Art beizubringen.«85 Laukhards Einverständnis einfach voraussetzend hatte Semler bereits den Kontakt zum Vater aufgenommen.86 In einem freundschaftlichen Brief erklärte Semler Laukhard gegenüber außerdem, auch wenn er dessen Entschluss Soldat zu werden missbillige, insbesondere weil dadurch offensichtlich werde, dass Laukhard wohl jeden Glauben an eine göttliche Vorsehung verloren habe,87 verspreche er ihm, auf ihn könne sich Laukhard stets verlassen.88 Laukhard ist tief bewegt von diesen Zeilen.89 Und in der Tat sollte Laukhard in späteren Jahren immer wieder gern in Semlers Haus einkehren, wenn er in Halle war.

V. Resümee Laukhards erster Aufenthalt in Halle dürfte seine Kenntnisse beträchtlich vermehrt haben, und dies nicht nur im Hinblick auf seine theologischen Überzeugungen. Laukhard hat in diesen knapp zwei Jahren nicht nur einen instruktiven Einblick in die Gedankenwelt der Halleschen Aufklärungstheologie gewonnen, sondern darüber hinaus in Halle seine ersten Erfahrungen als akademischer Dozent gemacht. Außerdem fand Laukhard während seiner ersten Zeit in Halle in Semler seinen bis dato wichtigsten Förderer. Auf dessen Anregung hin begann er seine Dozententätigkeit, wurde promoviert und hat auch in den Folgejahren, während seiner Soldatentätigkeit seine wissenschaftlichen Studien perpetuiert. Seine Arbeit als Dozent öffnete Laukhard den Blick für ein Berufsfeld, gegen das er sich schließlich entscheiden sollte. Ferner wurde ihm dadurch ein kritischerer Blick auf das studentische Leben möglich. In der Kritik am Lebenswandel der Studenten kommt allerdings zweifellos auch ein Stück weit Selbstkritik zum Ausdruck. Denn Laukhard hat sich offenbar nicht dergestalt verhalten, wie man es von einem akademischen Dozenten erwartet hat. Insofern dürfte Laukhard in Halle auch die Erfahrung gemacht haben, umstritten gewesen zu sein.

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Ebd., S. 273. Vgl. ebd: »Der gute Mann antwortete mir, das sey schon geschehen: er hoffe, mein Vater würde mich mehr bedauren, als über mich zürnen.« Vgl. ebd., S. 243. Vgl. ebd: »[E]r würde mir immer Freund und Beistand seyn [...].« Vgl. ebd., S. 244: »Semlers Brief rührte mich im Innern meiner Seele: ich kannte den Mann und wußte, daß seine Worte Realitäten bezeichneten.«

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MALTE VAN SPANKEREN

Die bei den Halleschen Aufklärungstheologen gewonnenen Kenntnisse hat Laukhard in mehrfacher Hinsicht zu nutzen gewusst. Zum einen hat er insbesondere die exegetischen Forschungen eines Nösselt und die grundlegenden theologischen Begriffsprägungen und Distinktionen eines Semler an seine eigenen Studenten und Schüler weitergegeben. Zum andern ist durch die Begegnung mit der Halleschen Aufklärungstheologie sein eigenes theologisches Denken modernisiert worden.90 Laukhard gab antiquierte Theologoumena auf und verstand Theologie fortan nicht mehr als ein System, dessen Lehrsätze möglichst auswendig gelernt werden sollten, sondern als eine kritische Wissenschaft, welche die eigene Urteilsbildung befördern sollte. Sein theologisches Denken hat durch die Begegnung mit der Halleschen Aufklärungstheologie demnach durchaus eine grundlegende Modernisierung erfahren. Die Relevanz eines ›freieren Urteils‹, auch und gerade in theologischen Sachfragen, wurde in Halle zumal von Semler vom Katheder und wohl auch in dem ein oder anderen Privatgespräch betont und hat allem Anschein nach auch auf Laukhard Eindruck gemacht.

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Es wäre sicherlich eine lohnenswerte Aufgabe, im Rahmen einer weiter ausgreifenden Studie zu prüfen, inwiefern in Laukhards schriftstellerischem Werk Rezeptionsspuren der späten Aufklärungstheologie, z. B. Überlegungen hinsichtlich der Unterscheidung von Theologie und Religion, bezüglich der Freiheit des privatreligiösen Urteils sowie Laukhards Einschätzung der Theologie als »Kritik« und »Räsonnement« (wie Anm. 71) direkt und indirekt zum Ausdruck kommen.

PIETRO DANIEL OMODEO

Laukhards Dissertation über Giordano Bruno im Kontext der frühneuzeitlichen Bruno-Rezeption

»Ich schrieb einige Bogen zusammen über den zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zu Rom wegen Atheisterei oder Pantheisterei verbrannten Aventuriers, Jordan Brunus,« schreibt Friedrich Christian Laukhard über seine Dissertation in der Autobiographie Leben und Schicksale (Halle 1792).1 Die Diatriba historico-philosophica de Jordano Bruno, Apologie der Person und des Denkens von Giordano Bruno, wurde am 27. August 1783 an der Universität Halle verteidigt und veröffentlicht. Fünf Jahre später erschienen Friedrich Heinrich Jacobis (1743–1819) Exzerpte aus De la causa in der zweiten Ausgabe seines berühmten Werkes Über die Lehre des Spinoza (Breslau 1789), das Brunos Erfolg im 19. Jahrhundert insbesondere bei den deutschen Idealisten bewirkte, Jacobis ursprünglichen Intentionen zum Trotz. Schelling wählte sogar den Philosophen als Befürworter seiner eigenen Konzeption in Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge (Berlin 1802).2 Wenn man Eugenio Canones Satz »In principio era Jacobi« zustimmt,3 kann man in einer ex post Perspektive Laukhards Schrift ›vor dem Anfang‹ der modernen Rezeption Brunos einordnen. Andererseits bezieht sich Laukhards Verteidigung des Bruno vor den Vorwürfen des Atheismus und Irrationalismus auf eine alte Debatte. Brunos Atheismus war schon von mehreren Autoren postuliert worden, unter anderem von Marin Mersenne (1588–1648) in seiner Schrift L’impiété des déistes, athées et libertins du temps (Paris 1624), von Pierre Bayle im Dictionaire historique et critique (1697), in dem Bruno und Spinoza gleichgestellt wurden, und auch vom königlichen Bibliothekar zu Berlin Mathurin Lacroze de la Veyssière (1661–1739) in seiner Dissertation sur l’athéisme et sur les athées 1

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Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. 5 Theile in 3 Bdn. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt am Main 1987, Th. II, S. 207f. Vgl. Saverio Ricci: Die Rezeption Giordano Brunos in Frankreich und Deutschland von der zweiten Hälfte des 18. bis zu den Anfang des 19. Jahrhunderts. In: Willi Hirdt (Hg.): Giordano Bruno. Tragik eines Unzeitgemäßen. Tübingen 1993, S. 151–163, und Paul Richard Blum: Franz Jacob Clemens e la lettura ultramontanistica di Bruno. In: Eugenio Canone (Hg.): Brunus redivivus. Momenti della fortuna di Giordano Bruno nel XIX secolo. Pisa, Roma 1998, S. 67–103. Als Überblick der Bruno-Rezeption ist immer noch zu empfehlen Virginio Spampanato: Vita di Giordano Bruno con documenti editi e inediti. Messina 1921, Introduzione, S. VII–XLII. Eugenio Canone: Introduzione zu ders.: Brunus redivivus (wie Anm. 2), S. XI–XLV, hier S. XVIII.

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modernes (in Entretiens sur divers sujets d’histoire, de littérature, de religion et de critique. Köln 1711) sowie in einem Aufsatz Vom Atheismo Jordani Bruni in den Acta Philosophorum.4 Zum Ruhm Brunos als Heterodoxem trug schließlich John Toland (1670–1722) wesentlich bei, indem er den Spaccio in gelehrten und höfischen Umkreisen bekannt machte.5 Im Frankreich des 18. Jahrhunderts war Brunos Gottlosigkeit zum Symbol des Rationalismus geworden, und er wurde sogar als Vorläufer des Materialismus betrachtet. Die Idee einer sich selbst erzeugenden Natur und der ewigen Materie-Bewegung sowie die Bezugnahme auf Demokrit und Epikur wurden vom Baron d’Holbach und den Materialisten seines Umkreises geschätzt. Sie unterstützten demzufolge das Bild Brunos als eines antikatholischen Empiristen durch die Verbreitung des klandestinen Büchleins Jordanus Brunus Redivivus (geschrieben vor 1738 und veröffentlicht 1771).6 Im Gegensatz zu solchen Deutungen und insbesondere zu denen von Lacroze betrachtete Christoph August Heumann (1681–1764) Bruno in mehreren in den Acta Philosophorum erschienenen Aufsätzen als einen protestantischen Märtyrer und gleichzeitig als einen Schwärmer oder ›enthusiastischen Philosophus‹. Jakob Brucker (1696–1770) widmete Bruno ein langes Kapitel im fünften Band der Historia critica philosophiae (Leipzig 1742–1744). In seiner Darstellung wurden der unklare Stil und der Eklektizismus einer epikureisch-phytagoräischen Philosophie angeklagt: »esse eius philosophia naturalem, nihil aliud, quam systema physicum Epicuri Pythagoreismo incrustatum.«7 Nichtsdestoweniger erkannte Brucker die Würde dieser Spekulationen als Vorbereitung späterer Systeme an, vor allem Descartes’ Kosmologie und Leibniz’ Monadologie.8 Wie man sehen wird, tauchen diese Themen in Laukhards Dissertation wieder auf. Die Diatriba [...] de Iordano Bruno ist ein universitärer Disput. Durch ihn promovierte der ›burschikose‹ Magister Laukhard und erwarb sich das Recht auf die Privatdozentur.9 Sein Name erschien auf dem Deckblatt als Präses. Als Respondens wählte er seinen jüngeren Bruder Karl Philipp (1762–1808). Das Familienbild wird durch die Widmung der Schrift an den Vater Philip Burkhard Laukhardt (1722–1789) vervollständigt. Dieser war ein lutherischer Pfarrer in Wendelsheim in der Pfalz. Er hatte in Halle studiert, als Wolff und Baumgarten 4 5

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Acta Philosophorum XI (1720), S. 792–809. Dazu Saverio Ricci: La fortuna del pensiero di Giordano Bruno 1600–1750. Firenze 1990, bes. Kap. V, 4: »Lacroze e Heumann«. Ricci: La fortuna (wie Anm. 4), und ders.: Il Bruno di Toland: aspetti politici. In: Michele Ciliberto, Nicholas Mann (Hg.): Giordano Bruno 1583–1585. The English Experience. Firenze 1997, S. 101–116. Siehe auch Giuseppe Ricuperati: L’esperienza civile e religiosa di Pietro Giannone. Milano, Napoli 1970. Vgl. Ricci: Die Rezeption (wie Anm. 2), S. 153f. Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. Lipsiae 1766, Bd. V, Kap. 2, »De Iordano Bruno Nolano«, S. 12–62, bes. S. 37. Ebd., § XI, »Brunus veritates quasdam detexit«, S. 31–33. Vgl. Hans-Joachim Kertscher: Friedrich Christian Laukhard und die Universität Halle. Alzey 2007, S. 11. – Deswegen wird der Text auch zugleich als Laukhards ›Habilitationsschrift‹ bezeichnet.

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dort unterrichteten, und war ein überzeugter Anhänger der Aufklärung. Über seine metaphysische Leidenschaft, insbesondere für den Spinozismus, erzählte sein Sohn nach seinem Tod: Er hatte in seiner Jugend sehr fleißig studirt, und hatte besonders die Wolffische Philosophie zu seinem Lieblingsstudium gemacht. Er bekannte mir oft, daß ihn die Grundsätze der Wolffischen Metaphysik dahin gebracht hätten, daß er an den Hauptdogmen der lutherischen Lehre gezweifelt hätte. In der Folge, da er sein Studium nicht nach Art so vieler geistlicher Herren, an den Nagel henkte, untersuchte er alle Dogmen seines Kompendiums, und verwarf sie alle, da er sie mit den Sätzen seiner lieben Metaphysik unvereinbar fand. Endlich fiel er gar auf die Bücher des berüchtigten Spinoza, wodurch er ein vollkommner Pantheist ward.10

Außer der Neigung zum Deismus und Pantheismus praktizierte er die Alchemie und die natürliche Magie. Der Widerspruch zwischen dem Beruf und den inneren Überzeugungen dieser unorthodoxen Lutheraner wurde schon in der Laukhard-Forschung betont: »Die private Glaubenskrise, die er vor der Öffentlichkeit so gut verbarg, nahm etwa den Weg von der liberalen Theologie Semlers zum radikalen Deismus eines Reimarus.«11 Unter diesen Umständen können die Sympathie seiner Söhne für Bruno und die Widmung der Diatriba de Iordano Bruno nicht überraschen. Die Schrift scheint von den kulturellen Richtlinien des Vaters durchdrungen zu sein: ein undogmatisches Luthertum, eine offene und tolerante Moral, Rationalismus und Aufklärung. Friedrich Christian Laukhard selbst verteidigte und verbreitete seinen deistischen Glauben.12 Das verschaffte ihm einen äußerst negativen Ruf in seiner Heimat: »[Er] sey als ein Mensch bekannt, der ganz und gar keine Religion habe – der über die heiligsten Geheimnisse der christlichen Lehre öffentlich spotte – überdies ausschweifend lebe [...].«13 Auf keinen Fall scheint er von seiner Dissertation profitiert zu haben, denn er trat nur vier Monate später ins Militär ein, wodurch er seine letzten Chancen auf eine akademische Karriere verspielte.

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Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. I, S. 2f. Richard Wilhelm: Friedrich Christian Laukhard 1757–1822. Ein bemerkenswerter Wendelsheimer. Alzey 2002, S. 18. Siehe insbesondere das Kapitel »Mein Apostolat des Deismus« in Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. I, S. 297–310. Ebd., S. 395.

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Abb. 3 Titelblatt von Laukhards Diatribe

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I. Zur Biographie Giordano Brunos Die Struktur der Diatriba ist schlicht. Sie behandelt der Reihe nach Brunos Leben, sein Denken (»quid in ipsius doctrina notandum est«14 ) und seine historisch-philosophische Bedeutung. Das Leben des Philosophen, das in den ersten sieben Paragraphen umrissen wird, beruht grundsätzlich auf Kaspar Schoppes (1576–1649) Brief an Konrad Rittershausen (Rom, 17. Februar 1600) über die Hinrichtung auf der Piazza Campo de’ Fiori. Diesen Brief kannte Laukhard aus Bayles Dictionaire, Lacrozes Entretiens und Bruckers Historia critica. Seine Übersicht weist jedoch Lücken und Ungenauigkeiten auf, die nur teilweise dem Stand der Forschung über Brunos Biographie am Ende des siebzehnten Jahrhunderts zugeschrieben werden können. Der merkwürdigste Fehler betrifft Brunos beiden Aufenthalte in Paris, die Laukhard als einen einzigen Aufenthalt von 1584 (in Realität von 1581) bis 1586 betrachtet, das heißt bis zur Ankunft in Wittenberg (das Datum ist hier richtig). Demzufolge leugnet er Brunos englischen Aufenthalt. Dieser war zwischen 1583 und 1585 in Oxford und London gewesen.15 Das hat beträchtliche Folgen für die Deutung von Brunos Werk, insbesondere durch die Verneinung der Echtheit des Spaccio, eine »gottlose« Schrift, die 1585 in London erschien: Hinc Scioppius, insanus ille Iordani hostis, ac calumniator audiendus non est, qui in Ep[istula]. alleg[ata]. scribit, Iordanum Parisiis prefectum esse in Angliam, ibique infamem edidisse libellum, il Spaccio della bestia trionfante, quodan Bruno possit adscribi, maxime dubitatur.16

Im Abschnitt »De Iordano Bruno Nolano« der Historia critica philosophiae hatte Brucker die Echtheit des Spaccio, jedoch nicht Brunos Aufenthalt in England bereits in Frage gestellt, da der letztere vom Widmungsbrief der Eroici furori nachgewiesen wird.17 Jedenfalls resultiert dieser Irrtum über das Spaccio aus der Tatsache, dass man die Zuverlässigkeit Kaspar Schoppes als Zeugen bezweifelt. Schoppe war ein Lutheraner, der zum Katholizismus konvertiert war und die antiprotestantische Allianzen seiner Zeit förderte. Aus diesem Grund war er bei seinen Landsleuten unbeliebt, seinen Lehrer Konrad Rittershausen (1560–1613) eingeschlossen. In Laukhards Dissertation findet man wiederholt verachtende Bemerkungen über ihn: Er sei ein »insanus«, »calumniator«, »mentitor« und »fabulator« gewesen. Als Augenzeuge der Hinrichtung war Schoppe in der Tat nicht schlecht über Bruno informiert, weil 14 15

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Friedrich Christian Laukhard: Diatriba historico-philosophica de Jordano Bruno. Halae: Typis Hellerianis [1783], S. 5. – Siehe die Übersetzung im Appendix. Ebd., S. 8: »In Anglia fuisse Iordanum 1586 verosimile non est at eundem dicto anno Vitebergam adiisse constat.« Ebd., S. 23–24. – Laukhard verneint auch Brunos Aufenthalt in Prag. Brucker bezweifelte ihn in seiner Historia (wie Anm. 7), Bd. V, S. 23f. Ebd., Fn. 9. – Schoppe schrieb: »Postea Londinum profectus, [Brunus] libellum istic edit de Bestia triumphante, h. e. de Papa.« Vgl. Spampanato: Vita (wie Anm. 2), S. 800. Brucker: Historia (wie Anm. 7), Bd. V, S. 19f. – Siehe auch ebd., S. 60–62.

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er der römischen Kurie und der Inquisition sehr nahestand. Die Prozessakten dokumentieren dies eindeutig.18 Man könnte sich aber auch überlegen, ob Laukhards Verdächtigung von Schoppes Bericht nicht eine apologetische Funktion erfüllt. Die Echtheit des Spaccio zu bestreiten, kann auch dazu dienen, den heterodoxen Philosophen in ein besseres Licht zu stellen. Schoppes Zeugnis wird in einigen Fällen nur unter Vorbehalt (»Scioppius [...] ne fidelis quidem testis«19) angenommen, vor allem wenn es um Brunos Kritik der religiösen Dogmen geht, die sich mit einer lutherischen Perspektive vereinen ließ. Man liest, dass Bruno gezwungen war, das dominikanische Kloster von Neapel und Italien zu verlassen, weil er die Lehren von der Transsubstantiation und der Jungfräulichkeit Marias verwarf.20 Außerdem wird Brunos Bann aus Genf durch seine Ablehnung der »dogmata« Calvins erklärt: Egressus ex patria sua Iordanus apud Protestantes sibi asylum fore sperans Genevam Calvinumque adiit: at cum Calvini dogmata non ut sacro sancta reciperet omnia, et contra ipsum Reformatorem quaedam diceret, a[nno] 1584 Geneva est ejectus.21

Das gibt Laukhard die Gelegenheit, Calvin als Verfolger des Michael Servetus (1511–1553) und als intoleranter Verfasser hasserregender Schriften (»Calvini quaedam scripta odium in dissentientes spirantia«22) zu kritisieren. Bruno ist nach Laukhard ein offener Denker, ein Kritiker der Tradition, ein ›novator‹ und ein Reformator der Philosophie (»infelicis ille Philosophiae Reformator«). Er wird als ein Aufklärer ›ante litteram‹ dargestellt, der wegen seiner radikalen Einstellungen von den meisten verdächtigt wurde: »Iordanus plurima ex receptis opinionibus rejecit, et hoc quidem adeo aperte, ut plurimos sibi inimicos redderet.«23 Unter den Intoleranten, die ihn bekämpften, werden die Katholiken, die Calvinisten und die Pariser Theologen hervorgehoben, die sich unkritisch an die Tradition (»recepta norma«) hielten. Der Stoizismus von Brunos Tod wird gepriesen: »Romae vivus est combustus, ac supplicium atrocissimum magna ac philosopho digna animi constantia subiit.«24

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Vgl. Luigi Firpo: Il processo di Giordano Bruno. Roma 1993, passim. – Über Brunos Reisen durch Europa siehe Eugenio Canone (Hg.): Giordano Bruno. Gli anni napoletani e la »peregrinatio« europea. Cassino 1992; Saverio Ricci: Giordano Bruno nell’Europa del Cinquecento. Roma 2000. Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 6, Fn. 3. Ebd. – Vgl. Schoppes Brief in Spampanato: Vita (wie Anm. 2), S. 799. Ebd., S. 7. Ebd., Fn. 5. – Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. I, S. 104: »Wer war froher als ich! Dreißig honorige Bursche, die ich von dem Augenblick an Du heißen durfte! Calvin mag sich kaum so gefreut haben, über die Quaalen des braven Servets in den Flammen […].« Ebd., S. 6. Ebd., S. 11.

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II. Die Anklage des Atheismus »Gravissimum crimen, quod Schoppius Iordano tribuit, Atheismus est.« Mit diesem Worten beginnt der siebte Paragraph der Diatriba, in dem Laukhard die Beschuldigung des Atheismus diskutiert.25 Eigentlich hatte Schoppe im bereits erwähnten Brief an Rittershausen geklärt, dass der Verurteilte als Häretiker und nicht als Atheist auf dem Scheiterhaufen hingerichtet wurde: »Iordanus Brunus propter haeresin visus vidensque publice in Campo Florae […] est combustus.«26 Höchstwahrscheinlich hatte Laukhard aus der Lektüre von Brucker erfahren, dass »ad hanc quidem epistolam velut fide dignam provocant, quotquot Brunum inter atheos numerant, et iusto eum supplicio ob horrenda dogmata sublatum contendunt«.27 Im Brief über Bruno fügte Schoppe hinzu, dass man in Rom dachte, Bruno sei als Lutheraner zum Tode verurteilt worden, da das italienische Volk die verschiedenen Häresien nicht präzise auseinanderhielt.28 Hingegen unterstrich er den Unterschied zwischen der Lehre Brunos und derjenigen Martin Luthers. Der Irrglauben des Zweiten sei viel gefährlicher gewesen: Hic quidem, mi Ritterhusi, modus est, quo contra homines, imo monstra huiusmodi a nobis procedi solet. […] Lutheranos talia non docere neque credere, ac proinde tractandos esse. Assentimur ergo tibi, et nullum prorsus Lutheranum comburimus. Sed de ipso Propheta vestro Luthero aliam forte rationem iniremus. […] Lutherum non eadem quidem qua Brunus, sed vel absurdiora magisque horrenda non dico convivialibus, sed in iis quos vivus edidit libris, tanquam sententias, dogmata et oracula docuisse.29

Laukhard ist sich dessen bewusst, dass die Historiker über Brunos angeblichen Atheismus uneinig waren. Als seine Ankläger erwähnt er Pierre Bayle, Richard Steele (1672–1729) und Johann Franz Buddèe (1667–1729).30 Andererseits nennt er als seine Verteidiger Daniel Georg Morhof (1639–1691)31 und Gottfried Arnold (1666–1714).32 Heumann und Reimmann hätten sich mit 25 26

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Ebd., S. 12. Spampanato: Vita (wie Anm. 2), S. 798. – Ebd., S. 800: »Uno verbo ut dicam, quicquid unquam ab etnicorum philosophis vel a nostris antiquie et recentioribus haereticis est assertum, id omne ipse propugnavit.« Brucker: Historia (wie Anm. 7), Bd. V, S. 13. Spampanato: Vita (wie Anm. 2), S. 800: »Si enim nunc Romae esses, ex plerisque omnibus Italis audires, Lutheranum esse combustus […]. Quicquid haereticum, illud Lutheranum esse putant.« Ebd., S. 802. Johann Franz Buddée: Theses theologicae de atheismo et superstitione. Traiecti ad Rhenum 1717, S. 109–116. – Vgl. Virgilio Salvestrini: Bibliografia delle opere di Giordano Bruno e degli scritti ad esso attinenti. Pisa 1926, S. 157, Fn. 236. Daniel Georg Morhof: Polyhistor, literarius, philosophicus et practicus. Lubecae 1747, passim. – Vgl. Salvestrini: Bibliografia (wie Anm. 30), S. 168, Fn. 267. Gottfried Arnold: Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie. Frankfurt am Main 1700, Bd. I, S. II. – Vgl. Salvestrini: Bibliografia (wie Anm. 30), S. 154, Fn. 226.

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dem Problem nicht auseinandergesetzt.33 Merkwürdig ist an dieser Stelle die Auslassung von Brucker, der sich am Ende des Abschnitts ›Nolanus‹ in seiner Historia der Frage ›Brunus an atheus‹ gewidmet hatte, um Bruno von der Anklage zu entlasten.34 Die Verleumder hätten Brunos Atheismus einige Thesen entnommen, die Laukhard auflistet. Zunächst kann die Gleichsetzung von Gott und Universum (»Universum esse Deum») als eine Art Pantheismus gelten, wenn man sie auf die Formel ›deus sive natura‹ zurückführt. Diesbezüglich beruft sich Laukhard auf Heumann, indem er den Mangel an Klarheit von Brunos ›Theologie‹ feststellen muss (»Iordanum quidem obscura de Deo protulisse«). Keinesfalls impliziert diese Unübersichtlichkeit aber die Ablehnung Gottes. Vielmehr spricht Bruno über Gott stets mit großer Hochachtung. Seine Verachtung aller Religionen (»Sprevisse omnem religionem«) könnte ein zweiter Grund sein, ihn für einen Atheisten zu halten. Nach Laukhard betrifft diese kritische Haltung jedoch nur den Katholizismus (»Romana religione«). Eine eventuelle Ablehnung der Offenbarung sollte hingegen nicht als eine Form des Atheismus betrachtet werden: »Et si quidem scripserit contra revelationem, exindeve sequatur, ut fuerit Atheus?«35 Drittens hätte Bruno die Ewigkeit der Materie (»aeternam materiam docuisse«) der Schöpfung entgegengestellt (»nullam esse creationem«). Dies reiche nicht einmal aus, um Brunos Verneinung Gottes zu beweisen. Das Gleiche gilt für die Pythagoräische Lehre der Seelenwanderung, welche die vierte und letzte Beschuldigung des Atheismus veranlasste. Die Quelle von Laukhards Überlegungen lässt sich durch einen textuellen Vergleich feststellen: Es ist Lacrozes Brief an Heumann Von Atheismo Jordani Bruni (Berlino, VIII. Calend. Novembr. 1718), der in den Acta philosophorum erschienen war.36 Folgende Tabelle zeigt Laukhards Bearbeitung:

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Lacroze: Von Atheismo Jordani Bruni

Laukhard: Diatriba

I. Jordanus naturam unam, seu universum unum esse Deum statuit. II. Adamum neque protoplasten fuisse, neque omnium hominum patrem III. Religionem Christianam fabulam esse rectae rationi contrariam

I. Ipsum statuisse Universum esse Deum II. Sprevisse omnem religionem

Jakob Friedrich Reimmann: Historia universalis atheismi et atheorum. Hildesiae 1725, S. 374–376. – Vgl. Salvestrini: Bibliografia (wie Anm. 30), S. 161, Fn. 249. Brucker: Historia (wie Anm. 7), Bd. V, S. 55–62. Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 13. Für Lacrozes Schrift siehe Christian August Heumann: Acta philosophorum. Bristol 1997 (Neue Ausg.), Bd. II, S. 792–809, bes. S. 794.

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IV. Nihil aliud affirmari posse de Mosaica, caeterisque religionibus V. Nullam esse creationem rerum, imo quicquid in infinitum extat, id aeternum esse et necessario existere VI. Animas hominum reliquorumque animalium e corporibus in corpora migrare

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III. Docuisse nullam esse creationem IV. Transmigrationem animarum favisse

Laukhard unterscheidet zwischen Atheismus und Heterodoxie: »Atheismus a pravis de Deitate conceptibus quam maxime differt.«37 Bruno gehört zu den Irrgläubigen. Implizit verteidigt Laukhard hier das freie Denken im Allgemeinen – insbesondere den Deismus und auch den Spinozismus – vor dem Verdacht der Gottlosigkeit. Die Atheismus-Anklage sei von jeher eine listige Strategie gewesen, Philosophen zu diskreditieren und anzugreifen. Der Fall Brunos bilde hier keine Ausnahme: Mihi certe philosophi esse videtur eos, qui atheismi unquam fuere accusati, defendere, cum constet inter omnes, istam criminis speciem multis esse obtrusa ea quidem mente, ut odio cumularentur, et inter hos Brunus noster me iudice numerandus est.38

Laukhard betont diese Auffassung auch in seiner Autobiographie: »[Ich] muste aber da eine Strafpredigt wegen meiner Atheisterei – so nennen diese Leute gemeiniglich alle freiere Urtheile über Religionssachen – anhören.«39 In der Diatriba bemerkt er, dass die theologischen Konzeptionen sich mit der Zeit ändern, wie die neuen Philosophen, die »Philosophi nostris Diebus«, zeigen. Auch die Häresieanklagen sollten historisiert und relativiert werden.

III. Das unsystematische System Nach der Verteidigung vor den Vorwürfen der Gottlosigkeit und des Atheismus beschäftigt sich Laukhard mit der Lehre des Philosophen. Bruno habe sein Werk als eine ›Reformatio philosophiae‹ betrachtet. In seinen Zeiten musste sie daher die Form einer antiaristotelischen Polemik annehmen. Die Eigenschaften, die er Brunos Schriften zuschrieb, könnten zunächst negativ erscheinen: Sein Stil gilt als verworren, obskur und poetisch (»intolerabile, absurdum, ac poeticum scribendi genus«). Seine Inspiration sei schwärmerisch (»ingenium enthusiasmo actum«).40 Außerdem wird er als ein Träumer darge37 38 39 40

Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 13. Ebd., S. 12. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. II, S. 18. Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 14f.

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stellt: »Iordanum inter eos numeremus, qui phantasmatibus capti philosophabantur.«41 Er sei außerdem einigermaßen inkonsequent und unsystematisch gewesen.42 Diese zunächst abwertend erscheinenden Eigenschaften sind jedoch nach Laukhards Urteil nicht unbedingt schlecht. In seiner Autobiographie gesteht er nämlich, dass er zeitlebens die Metaphysik verdächtigt habe, obwohl sein Vater sich ihr so leidenschaftlich gewidmet hatte: Mein Vater rieth mir immer, die Philosophie zu treiben, besonders Metaphysik; aber ich verabscheuete sie von jeher [...]. Ich blieb daher von dieser Wissenschaft weg und bin bisher immer davon weggeblieben. Ich bin nämlich der Meinung noch, daß Metaphysik der wahren Aufklärung stets geschadet und fast niemals genutzt habe. Die transcendentellen Ideen lassen sich drehen wie man will.43

Hinsichtlich Brunos Anlehnung an den Atomismus bemerkt Laukhard, dass sich Brunos Lehre von den klassischen Vorgängern Demokrit und Epikur weit entfernte, weil sie sich mit einem vitalistischen Naturalismus, mit der Annahme der Seele und der Sensibilität der Atome sowie mit der Pythagoräischen Metempsychose verband. Um die philosophischen Hauptthesen Brunos zu schildern, verwendet Laukhard vier Sekundarquellen: Lacroze (Kap. 10), Bayle (Kap. 11), Heumann (Kap. 12) und Brucker (Kap. 13). Die Ordnung der Darstellung folgt eigentlich Bruckers Historia critica, in der Brunos Thesen in einer inhaltlich ähnlichen Reihe von Kapiteln präsentiert werden: § XVI: »Bruni placita ex libro de Minimo«; § XVII: »Bruni cogitata ex libris de immenso«, aus Lacroze entnommen (es entspricht Diatriba, Kap. 10); § XVIII: Thesen aus De la Causa aus Bayle entnommen (Diatriba, Kap. 11) und § XIX: »Bruni φιλοσοφούµενα excerpta ab Heumanno« (Diatriba, Kap. 12).44 Laukhard zufolge stützte sich Lacroze auf De immenso, um die metaphysische Fundierung von Brunos unendlichem Universum zu zeigen. Diese Konzeption steht in Verbindung mit der unendlichen Allmacht Gottes, das heißt mit dem, was in jüngeren Zeiten »Principle of Plenitude« oder »die Ablehnung der Unterscheidung zwischen potentia absoluta und potentia ordinata« genannt wurde.45 Laukhard bemerkt, dass Brunos Sicht etwas problematisch sei, obwohl sie von der allgemein akzeptierten Annahme der Allmacht Gottes 41 42

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Ebd., S. 23. Ebd., S. 15: »In quo vero systema ipsum Iordani consistat, dictu est difficile: nullam vero systema ipsi fuisse, quod cohaereat, certum est.« – Brucker unterschied auf ähnliche Weise in der Historia (wie Anm. 7), Bd. V, S. 36–37, zwischen dem Atomismus von Bruno und dem von Demokrit und Epikur aufgrund von Brunos Lehre der ›anima mundi‹ und auch wegen seines Vitalismus (die Theorie der inneren Sinnlichkeit, Erkenntnisvermögen, Leben und Bewegung der ›minima‹). Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. II, S. 72f. Brucker: Historia (wie Anm. 7), Bd. V, 40–51. Vgl. Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. Cambridge (Mass.) 1936. – Miguel A. Granada: Il rifiuto della distinzione tra potentia absoluta e potentia ordinata di Dio e l’affermazione dell’universo infinito in Giordano Bruno. In: Rivista di storia della filosofia 49.3 (1994), S. 495–532.

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ausgehe; denn sie weist spinozistische Facetten auf: zunächst das Zusammenfallen von ›esse‹, ›posse‹ und ›velle‹ in Gott und zweitens die Idee, dass Gottes Wille notwendig und dass diese Notwendigkeit die höchste Form von Freiheit sei (»Voluntatem Dei esse necessariam, et hanc necessitatem summam esse libertatem«).46 In Bezug auf den ersten Punkt ist Laukhard mit Bruno einverstanden, obwohl der Philosoph sich mit etwas unpassenden Worten ausdrücke: »Iordanum recte sensisse, licet expressiones non adeo nostro systemati convenire videantur, per se patet.«47 Die zweite Behauptung nimmt Laukhard mit dem Vorbehalt an, dass die Nötigung durch die Handlung Gottes rein moralischer Natur sei: »moralis necessitas omnes actiones Dei comitatur«.48 Außerdem betont Laukhard die Schwäche der Argumente, welche von den Gegnern der kosmologischen Unendlichkeit vorgebracht werden.49 Um die Beziehung Gott-Welt zu schildern, stützt sich Laukhard auf Bayle, dessen Lexikoneintrag aus einer Interpretation von De la Causa stammt. Man liest in der Dissertation, dass Bruno die Unterscheidung zwischen ›Principium‹ und ›Principiatum‹ ausgeräumt und überholt habe. Dadurch hätte er sozusagen eine Philosophie der Immanenz entworfen. Laukhard bemerkt, dass ein solcher philosophischer Ansatz vielleicht absurd sei, aber keineswegs gottlos: Cum Dei voluntas sit ex sententia Bruni necessaria […] mundus quoque debet esse necessarius, Deo coaeternus, atque infinitum existens, et ratione omnitudinis, ut ita loquar, unicus, immobilis, et nullum fere inter Deum mundumque reale (ut unum possit esse sine altero) discrimen. Absurda sane thesis, sed nequaquam impia.50

Hier wie an vielen anderen Stellen der Diatriba lässt Laukhard die eigentlichen Argumente aus, die seine Thesen unterstützen. Das ist eine Gattungskonvention, denn es gehört zur Form der universitären Disputation, bloß die Thesen zu drucken, da die Argumente für die mündliche Prüfung bestimmt waren. Nach Laukhard hätte Bayle auch die Annahme der ›anima mundi‹ von De la causa entnommen: »Universum esse quadam anima praeditum«.51 Dazu schreibt er, dass diese falsche vitalistische Theorie als eine historisch-bedingte Hypothese gerechtfertigt werden kann, da sie aus einer Epoche stammt, in der die Physik noch sehr grob war (»cum physica adhuc esset rudis«) und unfähig die Bewegung zu erklären.52

46 47 48 49 50 51 52

Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 16. Ebd., S. 17. Ebd. Ebd.: »Ceterum notabo, demonstrationem impossibilitatis mundi infiniti arbitrariis supertrui definitionibus, ac maxime vacillare.« Ebd. Ebd. Ebd., S. 18.

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IV. Brunos Stelle in der Philosophiegeschichte Die historisch-philosophische Rehabilitierung Brunos besteht in der Gleichstellung seiner metaphysischen und physikalischen Lehren mit denen seiner Nachfolger, insbesondere mit denen von Leibniz, teilweise auch von Descartes. Der Vergleich mit dem Ersteren erfolgt in zwei Punkten: der Monadologie (Kap. 15) und dem metaphysischen Optimismus (Kap. 16). Leibniz hätte auf eine klare und distinkte Weise das gedacht, was Bruno nur konfus begriff: »Leibnizius distinctis gaudebat conceptis, Iordano vero confuse tantum res perspiciebat.«53 Nichtsdestoweniger gäbe es eine grundlegende Übereinstimmung zwischen den mit einer ›vis representativa‹ ausgestatteten Monaden des Ersteren und den beseelten Atomen des Letzteren. Wären auch Leibniz’ Monaden nur Träume, wieso sollte man Bruno vorwerfen, ähnliche Thesen vertreten zu haben?54 Auch der metaphysische Optimismus (»Mundus esse optimus«), eine im Grunde genommen platonische Idee (»Iam olim Platonicis [...] visus est«), vereinige die beiden. Deshalb solle man den Vorläufer nicht vergessen, wenn man den großen deutschen Philosophen lobe: »Leibnizius, vir ille ingenio ac inventorum nobilitate immortalis, Germaniae decus, ac Sapientiae summus sacerdos, in Monadologia sua fere docuit eadem, quae Iordanus.«55 Mit Bezug auf Descartes (Kap. 17) behauptet Laukhard, dieser hätte von Bruno vor allem physikalische und astronomische Thesen übernommen. Auf diese Verbindung wurde seit dem siebzehnten Jahrhundert – zum Beispiel von Pierre-Daniel Huet (1630–1721) – als anticartesianischer Einwand hingewiesen.56 Es sei bemerkt, dass Laukhard auf die Lehre der ›tourbillions‹ verweist, anstatt auf die kosmologische Unendlichkeit und die Pluralität der Welten, worüber Descartes und Bruno in der Tat einig sind: »Cartesii sententia turbinibus cuncta in universo aguntur, hoc et Iordano placet.«57 Dieser vereinfachte Vergleich ist wahrscheinlich mit einer bloß mittelbaren Kenntnis der Werke Brunos zu erklären. Eventuell leitete Laukhard seine Informationen von Brucker ab, der Descartes’ Wirbel und andere Ideen (»quae ille pro novis venditavit«) als unausgewiesene Überarbeitungen von Brunianischen Thesen betrachtete.58 Die Lehre der ›tourbillions‹, so Laukhard, sei falsch, trotzdem sollte man sie nicht verachten, weil sie ein physikalischer 53 54 55 56

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Ebd., S. 21. Ebd. Ebd. Vgl. Salvestrini: Bibliografia (wie Anm. 30), S. 153, Fn. 224 und S. 154, Fn. 225. – Vgl. Pierre Daniel Huet: Censura philosophiae Cartesianae. Editio quarta. Paris 1694, Kap. VIII, S. 256ff. Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 22. – Vgl. Saverio Ricci: La fortuna di Giordano Bruno in Francia al tempo di Descartes. In: Giornale critico della filosofia italiana LXXV (1996), S. 20–51. Brucker: Historia (wie Anm. 7), Bd. V, S. 32.

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Erklärungsversuch seien, der aus einer Naturphilosophie stamme, die in Descartes’ Zeiten und noch mehr in Brunos noch sehr unentwickelt war. Es ist also eine rhetorische Frage: Warum sollte man den Ersteren entschuldigen und nicht auch den Letzteren? Cartesii temporibus physica cognitio multis naevis ac imperfectionibus sat crassis laborabat, Iordano aevo longe pluribus. Hinc uterque erravit, sed ut in Cartesio errorem excusamus, cur Iordanum accusemus? 59

Zusammengefasst verteidigt Laukhard Bruno vor allem mit dem Hinweis auf dessen philosophische Antizipationen der Metaphysik von Leibniz und der Physik von Descartes. Hinten »hing ich aus dem System der brunischen Metaphysik einige Sätze an, welche ich glaubte mit andern schon bekannten Systemen vereinigen zu können, ja, es sollte nach meiner Meinung zwischen den Sätzen des Brunus und denen des Herrn von Leibniz einige Aehnlichkeit statt finden.«60 Die Zusammenstellung von Bruno und Spinoza, die schon bei Bayle zu finden ist und durch Friedrich Heinrich Jacobi zu einer Art Topos der Philosophiegeschichte wurde, wird hier nicht explizit thematisiert. Trotzdem kann man sagen, dass sie auch in Laukhards Diatriba verschleiert vorhanden ist, wenn er auf den genötigten Willen Gottes, auf die Nicht-Unterscheidung zwischen Gott und Welt und auf die Übereinstimmung von Gott und Natur hinweist. Laukhard unterscheidet sich deshalb von denjenigen, die Bruno verteidigen wollten, indem sie die Nähe zu Spinoza leugneten und die platonische Inspiration betonten. In diese Richtung ging Bruckers Darstellung der Philosophie Brunos als eines ›systema emanativum‹, um ihn vor der Anklage des ›Spinozismus‹ freizusprechen: Brunum non Spinozisticum sed emanativum systema secutum esse; secundum quod ex uno immenso et infinito fonte mediante principiato aliquo effluxerunt et ab aeterno orta sunt cuncta, adeoque ita inesse et existere suo, quod dicunt, ab eo dependent, ut quicquid sunt et existunt, ex illo fonte habeant. Haec innumeris philosophis olim deamata si Bruno tribuimus, tota eius metaphysica recte cohaeret: et verisimillimum est, Brunum, admiratione scholae Pythagoricae, praecipue Semipythagoreorum, et Eleaticorum, quos comtius de rebus naturalibus differere, quam Stagiritam, censebat, seductum, eorum principia physica et metaphysica recepisse, et Democriti atque Epicuri, et ex recentioribus Copernici cothurnis miro connubio adaptavisse. 61

Davon ist Laukhard weit entfernt. Spinozismus und Naturalismus sind für ihn keine Formen der Gottlosigkeit und des Atheismus. Seine Ideale nähern sich vielmehr denen der französischen Radikalaufklärung an. Es lohnt sich daher in diesem Zusammenhang, einen Blick in den Lexikoneintrag »Jordanus Brunus« der Encyclopédie (1773) zu werfen. Nach Diderot war Bruno mehr fantasievoll als systematisch: »heureux s’il eût su moins 59 60 61

Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 23. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. II, S. 208. Brucker: Historia (wie Anm. 7), Bd. V, S. 52.

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d’imagination et plus de raison!«62 Der französische Philosoph verurteilt mit Entsetzen Schoppes triumphalen Ton in seinem Bericht über Brunos Tod: »Je suis indigné de la manière indécente dont Scioppius s’est exprimé sur un événement qui ne devait exciter que la terreur ou la pitié.«63 Er betrachtet Bruno als den Umstürzler der mittelalterlichen Scholastik (»on ne pourra lui refuser la gloire d’avoir osé le premier attaquer l’idole de l’école, s’affranchir du despotisme d’Aristote«)64 und überdies als den Vorläufer großer moderner Denker. Von ihm leitete Leibniz den Satz vom zureichenden Grund, die Monadologie, den Optimismus und die prästabilierte Harmonie ab, »en un mot, [le germe] de toute philosophie leibnizienne«.65 Leibniz verfeinerte das, was sein Vorgänger nutzlos anfing: »A comparer la philosophie de Nole et celui de Leipsick [sic!] l’un me semble un fou qui jette son argent dans la rue, et l’autre un sage qui le suit et qui le ramasse«.66 Die Zusammenstellung mit Spinoza findet sich explizit bei Diderot, anders als bei Laukhard, aber die Thesen, die diese Zusammenstellung unterstützen, sind die gleichen, die auch beim jungen Deutschen auftauchen: »l’essence divine est infinie. La volonté de Dieu, c’est la nécessité même. La nécessité et la liberté ne sont qu’un. […] le monde est donc éternel; il est un; […] la nature, c’est Dieu.«67

V. Zur Bewertung der Diatriba Laukhards Bild von Bruno ist in vielerlei Hinsicht ungenau und stützt sich im Wesentlichen auf Sekundärquellen. Die Aufzählung der Schriften des italienischen Philosophen (Kap. 18) ist lückenhaft: De la causa,68 Acrotismus, Eroici furori (dessen Echtheit in Frage gestellt wird), Oratio valedictoria, De specierum scrutinio et lampade combinatoria Raymundi Lullii sowie der Frankfurter Gedichte (De minimo, De monade und De immenso). Die Zuschreibung des Spaccio wird als eine Unterstellung Schoppes abgelehnt. Sogar die Urheberschaft 62

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Denis Diderot: Œuvres complètes. Hg. von John Lough und Jacques Proust. Paris 1976, Bd. 7, S. 558–559. – Vgl. auch S. 562: »Il y aurait peu de philosophes qu’on pût lui comparer, si l’impétuosité de son imagination lui avait permis d’ordonner ses idées, et de les ranger dans un ordre systématique; mais il était né poète.« Ebd., S. 562. – Man liest weiter: »Ce Scioppius avait sans doute l’âme atroce.« Ebd., S. 558. Ebd., S. 561. Ebd. – Diderot bemerkt: »Il ne faut pas oublier que Jordan Brun a séjourné et professé la philosophie en Allemagne.« Ebd. Laukhard war unbekannt, dass De la causa in London gedruckt wurde, vielmehr dachte er, dass der Dialog in Venedig 1584 erschienen war, wie man durch falsche Informationen auf dem Deckblatt annehmen konnte; vgl. Firpo: Il processo (wie Anm. 18), und Tiziana Provvidenza: John Charlewood, Printer of Giordano Bruno’s Italian Dialogues, and his Book Production. In: Hilary Gatti (Ed.): G. Bruno. Philosopher of the Renaissance. Aldershot 2002, S. 167–186.

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von Eroici furori wird bezweifelt und die Lullischen und mnemotechnischen Werke werden vernachlässigt. Daher richtet sich die Deutung von Brunos Denken vor allem auf die metaphysische Dimension seines Werkes. Laukhard selbst schätzte seine akademischen Thesen gering ein und gestand in der Autobiographie, sich nur bei Sekundärquellen bedient zu haben: Wie viel hätte ich da nicht lesen müssen! Ich stoppelte also zusammen, was ich vorfand, und theilte das Zusammengestoppelte in §§ ein. Machens doch viele Dissertationen-Schmiede auch so! Und meiner Meinung nach sollte niemals eine wichtige Materie in einer Disputation verhandelt werden. Solche Kleinigkeiten werden auf den Jahrmärkten der Litteratur selten verhandelt, und ihr Inhalt geht mit ihnen verloren.69

Trotz dieses Geständnisses müsste Laukhard seine Universitätsschrift nicht herunterspielen, trug sie doch zur Ideenverbreitung bei. Aus seiner Autobiographie Leben und Schicksale erfahren wir, dass er einige außerordentliche – wahrscheinlich spinozistische – Thesen als Appendix an seine Arbeit anheftete und sich darüber freute, dass die Zensoren es nicht bemerkten: »Ich hatte am Ende meiner Dissertation einige Sätze aus meines Vaters System angehängt, und man hatte das nicht einmal bemerkt: ich war froh darüber; sonst hätte man sie vielleicht gestrichen.«70 Außerdem wünschte er sich, dass seine Dissertation außerhalb des akademischen Milieus wirken konnte: »Esse autem eiusmodi laborem [d. i. Diatribam de Iordano Bruno] inutilem ac supervacaneum, nemo nisi cultioris disciplinae expers, sibi persuadebit.«71 Abschließend kann man feststellen, dass die Diatriba wenig Aufschluss über Giordano Bruno bzw. über den Stand der Bruno-Forschung am Ende des achtzehnten Jahrhundert liefert. Sie dokumentiert vielmehr eine gewisse Rezeption, die wir als ›radikalaufklärerisch‹ bezeichnen können. An erster Stelle ist sie das Zeugnis eines erneuten Interesses für Bruno in der deutschen philosophischen Kultur. Laukhard lässt sich von der zeitgenössischen Debatte inspirieren, um zu einer Rehabilitierung dieses Autors zu gelangen, der seinem freien und entheiligenden Geist entsprach. Formell berief er sich dazu auf die wirksamsten und einflussreichsten Ideen des Philosophen, den er berühmten und undankbaren Nachfolgern im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert an die Seite stellte: Magnum adgressus opus Iordanus reformationis philosophiae, in tristibus istis temporibus non potuit non errare, et gravissime errare, sed neque impius neque malesanus habendus est: quin et philosophia homini multum et ipsa debet, inventiones scilicet quasdam, quibus postea magni nominis philosophi in suis usi fuere systematibus, tanquam novis. Sic saepius inventorum obliti, politores laudamus atque admiramur. 72 69 70 71 72

Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. II, S. 165. Ebd., S. 167. Laukhard: Diatriba (wie Anm. 14), S. 5. Ebd., S. 20f.

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Sein eigentliches, heimliches Interesse allerdings bezog sich auf das Leben des in Rom verbrannten ›Aventurier‹ und seinen angeblichen Deismus oder besser gesagt: seine ›Atheisterei‹ oder ›Pantheisterei‹. Trotz der Fehler und Lücken ist Laukhards Porträt von Bruno genau deswegen so lebendig geraten, weil es die Leidenschaften des jungen und turbulenten Verteidigers zeigt, der sich mit dem ›Märtyrer des freien Denkens‹ identifizierte. Bruno war für ihn der unruhige Denker, der Kritiker der Tradition und der Autorität, dessen Ideen und Schicksale den großen Themen des achtzehnten Jahrhundert vorangehen: Kritik, Toleranz und freies Denken. Dies schafft auch Platz für antikatholische Anmerkungen. Die angebliche Verurteilung von Bruno, weil er die Jungfräulichkeit Marias abgelehnt habe, gibt Laukhard die Gelegenheit, auf jüngere Fälle von Intoleranz und Verfolgung hinzuweisen.73 Die Grausamkeit der Inquisitoren gibt Anlass zur Ironie über die Frömmigkeit gewisser Kirchenleute: Extat in quodam coenobio prope Wormatiam epitaphium cuiiusdam Sellii Inquisitoris, ubi haec inter alia legas: Der war ein rechter frommer Mann Der hat manch Kezer brennen lahn Und manche Unhold auch dazu Dez geb ihm Gott die ewig Ruh.74

Die Verteidigung von Bruno, auch von dessen vordeistischen Thesen, sieht wie ein versteckter Feldzug für einen Rationalismus aus, den die Familie Laukhard förderte. Zunächst als Student, später als Doktorand und Schriftsteller trug Laukhard zum Mythos des rebellischen Bruno bei. Er deutete sogar seine eigenen Streitigkeiten gegen die Pedanten seiner Zeit als einen erneuten antiinquisitorischen Kampf für das ›ewige Recht‹ auf freies Denken: Diese Männer, von welchen ich erzähle, haben theils mit mir im Verhältniß gestanden, und haben mir nach ihrem Vermögen zu schaden gesucht, und wirklich geschadet: theils aber schadeten sie der guten Sache, den Rechten der Menschheit, besonders jenem unumstößlichen ewigen Recht, über alle intellectuelle Dinge völlig frei zu urtheilen, und seine Gedanken darüber zu entdecken. Wenn ich also die Professoren zu Mainz, Heidelberg und sonstige Meister als intolerante Leute beschreibe, welche gern Inquisitoren werden, und den heiligen Bonifacius, oder jenen abscheulichen Menschen, den Abschaum aller Bösewichter, den Erfinder der Inquisition und Hexenprozesse, ich meine den Pabst Innocentius III. nachmachen möchten: thu ich dann Unrecht, da die Sache sich durch Thaten bestätiget? Vielleicht schämen sich andre, und werden toleranter […].75

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Ebd., S. 6, Fn. 3: »Virginitas Mariae adeo inviolabilis omni tempore habita est, ut novissime (ni fallor 1769. vel 1770) in quendam contemtorem, qui tamen Imp. Comes erat, anidmadverteretur gravissime.« Ebd., S. 7, Fn. 4. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. I, S. XIIIf.

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Bruno und die Inquisition sind also für Laukhard Symbole des ewigen Kampfes der intellektuellen Freiheit gegen die Tyrannei der Dogmen und des Aberglaubens. Die Diatriba ist quasi ein Pamphlet, dessen historische Wahrheit im Ideenkampf und nicht in der philologischen Genauigkeit oder in der sorgfältigen Quellenanalyse beruht: Die Treue zum Autor besteht in der Aneignung seines Denkens dem ›Geiste‹ nach, nicht in der möglichst genauen Interpretation seiner ›Buchstaben‹.

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APPENDIX Laukhards Historisch-Philosophische Dissertation über Giordano Bruno*

Historisch-Philosophische Dissertation über Giordano Bruno, welche mit Beistand des allerhöchsten Gottes sowie mit Zustimmung und Genehmigung der hochachtbaren philosophischen Fakultät der König-Friedrichs-Universität, am 27. August 1783 Friedrich Christian Heinrich Laukhard, Magister der Philosophie, als Vorsitzender öffentlich verteidigen wird, wobei Karl Philipp Laukhard, Kandidat der hochheiligen Theologie aus Wendelsheim in der Pfalz, die Erwiderung halten wird. Halle, in der Hellerschen Druckerei * * *

Dem ehrwürdigen und überaus lauteren Philipp Burkhard Laukhard, Pfarrer der Lutherischen Kirche zu Wendelsheim in der Unterpfalz, seinem besten Vater, überreicht der Autor dieses Schriftchen als Zeichen seiner kindlichen Nachgiebigkeit.

*

Anm. d. Hrsg.: Die von uns durchgesehene und an einigen Stellen leicht verbesserte Übersetzung der Schrift wurde ursprünglich von Frau Pape aus Berlin für die Studie von Sieglinde Fischer: Friedrich Christian Laukhard als Autobiograph. [...] Diss. [Jena] 1983, S. 273–290, angefertigt. Die Übersetzerin war auch nach ausgiebiger Recherche nicht genauer zu ermitteln.

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[5] §. 1 Bei meinem Vorhaben, mich ein wenig mit Giordano Bruno, diesem vom Unglück verfolgten Reformator der Philosophie, zu beschäftigen, möchte ich dergestalt vorgehen, dass ich zunächst kurz, unter Anwendung einiger historischer Kritik, seinen Lebenslauf schildere; daran werde ich anschließen, was von seinen Lehren besondere Beachtung verdient, damit wir erkennen können, was die Philosophie Giordano zu verdanken hat. Dass aber eine derartige Arbeit nutzlos und überflüssig sei, wird wohl niemand meinen, der nicht völlig ungebildet ist.

§. 2 Der Neapolitaner Giordano Bruno1 wurde in Nola geboren: Über seine Eltern [6] sowie über sein Geburtsjahr ist kaum etwas Genaues bekannt, es ist auch gar nicht erforderlich, darüber eingehende Nachforschungen zu betreiben. Schon von früher Jugend an beschäftigte er sich mit Philosophie und Mathematik,2 und als er etwas älter geworden war, fand er Aufnahme im Dominikanerorden. Es sah jedoch, was hinreichend bekannt ist, in diesen stumpfsinnigen Zeiten (gegen Ende des 16. Jahrhunderts) mit der heiligen Lehre und Philosophie in Italien sehr schlimm aus; daher hat Giordano auch sehr viel von den überlieferten Lehren verworfen,3 und dies so offen, dass er sich sehr viele Feinde gemacht hat. So kam es dazu, dass er unter Hinterlassung seiner Mittel und Absage an seinen Orden im Jahre 1582 aus Italien ausgewandert ist.4

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Giordanos Leben schildern Kaspar Schoppe in seinem Brief an Konrad von Rittershausen (1600); Bayle: Dictionaire, Bd. I, Eintrag »Bruno«; Lacroze: Entretiens sur divers sujets d’histoire, de littérature, de religion et de critique, S. 287ff.; Brucker: Historia critica philosophiae, Bd. VI, S. 364, sowie mehrere andere. Dass Bruno die Schriften von Mathematikern und Philosophen gelesen hat, bezeugen seine Werke hinlänglich. Dass er die Transsubstantiation und die Jungfräulichkeit der allerheiligsten Jungfrau [Maria] geleugnet hat, behauptet Schoppe, der aber kein wahrhaftiger Zeuge ist, um ihn verhasst zu machen. Denn das Dogma von der Transsubstantiation stand zu dieser Zeit im höchsten Ansehen, und die Jungfräulichkeit Mariens wurde zu allen Zeiten für derart unverletzlich gehalten, dass sogar in jüngster Zeit (wenn ich mich nicht irre 1769 oder 1770) gegen einen Verdächtigmacher, der sogar ein Reichsgraf war, auf schärfste vorgegangen worden ist. Schoppe und von ihm abhängig Bayle behaupten, Giordano sei aus Italien verbannt worden (im oben genannten Werk, Anm. 4); es war aber damals nicht üblich, Ketzer zu verbannen, vielmehr mussten sie, gewiss in diesen Zeiten, eingekerkert und verbrannt werden. So existiert noch in irgendeinem Kloster bei Worms die Grabinschrift eines Inquisitors Namens Sellius, worin man unter anderem folgendes lesen kann: »Der war ein rechter frommer Mann/ Der hat manch Kezer brennen lahn/ Und manche Unhold auch dazu/ Dez geb ihm Gott die ewig Ruh.«

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[7] §. 3 Nach dem Verlassen seines Heimatlandes hat Giordano, in der Hoffnung bei den Protestanten eine Zuflucht zu finden, sich nach Genf zu Calvin begeben. Da er jedoch die Lehrmeinungen des Calvin nicht alle als hochheilige Dogmen annehmen wollte und an dem Reformator selbst mancherlei Kritik geübt hat, ist er 1584 aus Genf hinausgeworfen worden.5 Nachdem ihm dieses Unrecht widerfahren war, hat er sich nach Lyon und nach Toulouse begeben, und danach hat er in Paris durch seine Vorlesungen6 und die Veröffentlichung einer Dissertation7 gewaltigen Ruhm erworben. In Paris verfolgte er öffentlich den Plan, das Studium der Philosophie zu verbessern, [8] wozu er selbst König Heinrich III. um Beistand anging;8 aber ebenso wie wir von überlieferten Meinungen nur ungern abweichen, so hat auch unser Giordano durch seine Neuerungen sich Hass und Feindschaft der Pariser Professoren zugezogen, wodurch er sich gezwungen sah, Paris zu verlassen.

§. 4 Es ist wenig wahrscheinlich, dass Giordano sich 1586 in England aufgehalten hat;9 es steht jedoch fest, dass er in diesem Jahr nach Wittenberg gezogen ist.10 Hier [9] hielt er Privatvorlesungen11 und verhielt er sich wie ein Anhänger Luthers und schärfster Gegner des Papsttums. Am 8. März 1588 nahm er öffent-

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Calvin wollte nämlich in seinem Kreise als der einzige Weise gelten, was mehr als genug die traurige Hinrichtung des Servet bezeugt, die durch Calvins Einwirkung erfolgt ist. Siehe Schoppe a. a. O., und Mosheim in seiner Vita des Servet [d. i. Historia Michaelis Serveti] sowie manche Schriften von Calvin selbst, die von Hass gegen Andersdenkende voll sind. Wenn wir Schoppe, a. a. O., glauben, wurde Giordano eine außerordentliche Professur verliehen. De rationibus articulorum physicorum adversus Aristotelicos, hg. 1585 [d. i. Centum et viginti articuli de natura et mundo adversus Peripateticos]. Du Boulay in: Historia Universitas Parisiensis, Bd. VI, S. 786. Zu Pfingsten hielt sich Giordano bereits in Paris auf, (siehe Du Boulay, a. a. O.) und im selben Jahr 1586, in Juli oder August, kam er nach Wittenberg (siehe Acta Philosophorum, Bd. III, S. 432f.). Daher soll man auf Schoppe, diesen unsinnigen Feind und Verleumder Giordanos, nicht hören, der in dem genannten Brief schreibt, dass Giordano von Paris aus nach England gereist ist und dort eine schändliche kleine Schrift herausgebracht hat, Spaccio de la bestia trionfante, von der es höchst zweifelhaft ist, ob man sie Bruno zuschreiben kann. Von einigen wurde Bruno vorgeworfen, er habe in Wittenberg eine Lobrede auf den Teufel gehalten, aber zu Unrecht, wenn auch Lacroze selbst (a. a. O., S. 284), dieser Fabel Glauben schenkt. Denn wenn er dort von der Akademie öffentlich verabschiedet wurde und in Wittenberg einen gute Ruf hatte, wie kann er da den Teufel gelobt haben? Hätten denn die Professoren eine solche Dreistigkeit hingenommen? Wir können vielmehr sagen, dass dieses Märchen von Schoppe und anderen Leuten gleichen Schlages erfunden worden ist, ähnlich wie jenes [Märchen], in dem behauptet wurde, dass Luther in Italien vom Teufel geholt worden sei. Und zwar war er damals sehr arm (Acta Philosophorum, a. a. O.).

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lich Abschied von der Universität.12 Wohin sich Giordano danach begeben hat, steht nicht ganz fest.13 Wir wissen jedoch, dass er sich 1589, nach dem Tode des Julius, Herzogs von Braunschweig, in Helmstedt aufgehalten, und für Herzog Julius dort eine öffentliche Gedenkrede gehalten hat: Zweifellos hatte er sich, als er Wittenberg verließ, alsbald zu Herzog Julius begeben, und scheint auch von ihm viele Wohltaten empfangen zu haben.14

§. 5 Danach ging Giordano nach Frankfurt am Main, und hat dort einige seiner Schriften von dem berühmten Buchdrucker Johann Wechel [10] zum Druck bringen lassen und hat die Figuren, durch die er seine Bücher illustriert zu sehen wünschte, eigenhändig in Holz geschnitten.15 In Frankfurt hat er sich aber nicht lange aufgehalten, sondern durch irgendeinen traurigen Zufall veranlasst, hat er die Stadt verlassen16 und ist nach Italien zurückgekehrt, und soll 1592 in Padua gelehrt haben.17

§. 6 Aber das schwerste Schicksal stand Bruno noch bevor.18 Indem er nämlich viele Paradoxa in ziemlich unvorsichtiger Weise vortrug, und öfters den Papst und die römische Kurie angriff, wurde er 1598 von der Inquisition zu Venedig angeklagt und in den Kerker geworfen, in dem er ganze zwei Jahre lang [11]

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Nicht gezwungenermaßen, wie Lacroze, a. a. O., S. 285 sagt. Giordano spricht nämlich selbst davon, dass er sich etwa zwei Jahre lang in Wittenberg aufgehalten hat (Acta Philosophorum, Bd. II, S. 433); dies ist sehr dienlich, die Lüge des Schoppe zu widerlegen. Schoppe und Lacroze schreiben in den genannten Werken, dass Giordano von Wittenberg nach Prag gereist ist und dort einige Bücher drucken ließ. Aber hinsichtlich der Bücher werden wir später sehen, dass sie keineswegs in Prag gedruckt wurden und dort nicht gedruckt worden sein konnten. Schoppe hat also wiederum gelogen. Acta Philosophorum, Bd. III, S. 482. Dass Giordano von Herzog Julius Unterhalt bezogen hat, bezeugt Wechel, der Herausgeber des Buches De triplici minimo et mensura, in der Widmung. Wechel in der oben, §. 4. Anm. 14, genannten Vorrede. Es ist nicht bekannt, um was für ein Zufall es sich handelt, dass es aber ein trauriger gewesen sein muss, lässt sich aus Wechels Worten schließen; er schreibt nämlich a. a. O. wie folgt: »Durch einen plötzlichen Zufall von uns gerissen – hat (Giordano) uns in einem Brief ersucht, selbst auszuführen, was sein Geschick nicht erlaubt. Diese Vorrede wurde am 13. Februar 1591 verfasst.« Siehe Valens Acidalius’, eines schlesischen Mediziners, Brief Nr. 2, S. 10; obschon die Sache selbst nicht ganz gewiss ist. Welches allen guten und beherzten Männern in jener Zeit drohte, und auch in unseren Tagen drohen würde, wenn die Fürsten nicht den theologischen und philosophischen Hass inzwischen gebändigt hätten.

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gefangen gehalten wurde.19 Die Inquisitoren zu Venedig durchforschten inzwischen seine Schriften, und da sie überzeugt waren, darin viele irrige und gefährliche Meinungen gefunden zu haben, und vor allem, weil sie ihn wegen seiner Ordensflucht anklagten, so wurde Giordano eine Frist von 80 Tagen zum Widerruf gewährt. Da sich aber Giordano zu widerrufen weigerte, wurde er am 9. Februar 1600 dem Inquisitionsgericht zu Rom überstellt; dort wurde er ermahnt, von seinen Ansichten abzugehen, und als er das, was ihm befohlen wurde, nicht tun wollte, wurde er schließlich am 16. Februar des genannten Jahres in Rom lebendig verbrannt, und soll diesen schrecklichen Tod mit großer, und eines Philosophen würdiger Seelenstärke erduldet haben.20

[12] §. 7 Der schlimmste Vorwurf, den Schoppe21 dem Giordano macht, ist der des Atheismus. Sollten wir hier noch Betrachtungen anstellen, ob er zu Recht oder zu Unrecht der Gottesverleugnung anzuklagen ist? Meiner Ansicht nach ist es wahrlich die Aufgabe eines Philosophen, alle diejenigen zu verteidigen, die jemals des Atheismus angeklagt worden sind, da allgemein feststeht, dass dieser Vorwurf vielen mit der Absicht gemacht worden ist, um sie verhasst zu machen; und zu diesen ist nach meinem Urteil unser Bruno zu rechnen. Wir werden sehen, ob ich Recht habe. Zu denen, die Bruno einen Atheisten genannt haben, gehören nach Schoppe vor allem Bayle,22 Richard Steele,23 Buddèe;24 Giordano verteidigt haben Morhof,25 Arnold,26 sowie Heumann;27 einige, [13] z. B. Reimmann,28 haben diese Frage offen gelassen. Die Beweismittel, 19

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Man kann nicht sagen, wie Bruno nach Venedig gelangt ist; die Ursachen seiner Auslieferung jedoch waren einmal seine allzu freie Sprache, dann auch seine Schriften und besonders die Abtrünnigkeit des unseligen Mannes vom Dominikanerorden. Die Quelle von allen einschlägigen Berichten ist Schoppe (siehe §. 2, Anm. 1), der sagt, er sei Augenzeuge der Hinrichtung gewesen. Es hat allerdings einige gegeben, die bezweifelten, dass Giordano verbrannt worden ist, z. B. Pierre Bayle, a. a. O.; nach dem bewussten Brief des Schoppe steht dies aber fest; wenngleich die Glaubwürdigkeit des Schoppe nicht allzu verlässlich ist, so kann man sich doch in dieser Angelegenheit durchaus darauf verlassen. Dass Bruno aber hauptsächlich wegen seiner Ordensflucht zum Feuertode verurteilt wurde und Atheismus dabei überhaupt nicht zu Debatte stand, haben die Gelehrten schon seit langem festgestellt. A. a. O. Zu dieser Zeit haben alle verfügt, dass Atheisten zu verbrennen sind, auch die Protestanten; daher hat Schoppe Bruno Atheismus zur Last gelegt, damit das Vorgehen der Inquisition umso gerechtfertigter erscheinen solle. Dictionaire, Eintrag »Bruno«, Anm. C. In Le Spectateur, französische Ausgabe, Bd. IV, S. 157. In Theses de atheismo et superstitione, Kap. 1. Polyhistor, Bde. I, II, Kap. 8, §. 22 und anderswo. In der Kirchen- und Ketzer-Historie, P. II., B. XVII, Kap. 16, §. 8. Acta Philosophorum, Bd. II, S. 380ff.; er bemühte sich besonders, Lacroze zu widerlegen, welcher des Giordano schärfster Gegner war. Historia atheismi, Abschnitt III, Kap. 4, 5, 16.

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deren sich die Ankläger des Giordano bedienen, sind folgende: 1. Er selber habe erklärt, dass das Universum Gott sei. 2. Er hat jegliche Religion verachtet. 3. Er hat gelehrt, es gäbe keine Schöpfung. 4. Er neigte zur Annahme einer Seelenwanderung. Wir können aber mit Heumann sagen, dass Giordano zwar unklare Ansichten über Gott geäußert hat, aus denen man jedoch keineswegs auf Atheismus schließen kann. Denn zwischen Atheismus und schiefen Vorstellungen von der Gottheit besteht ein immenser Unterschied; es kann doch jemand eine andere Gottesvorstellung haben als unsere zeitgenössischen Philosophen – bekannt ist, dass alle in vergangenen Zeiten eine andere Vorstellung hatten. Giordano hat wahrlich oft genug, und zwar mit großer Ehrfurcht, von Gott und seiner Geistigkeit [spiritualitas] gesprochen, und man kann ihm nicht vorwerfen, dass er dies nur der Form halber gesagt habe. Was das zweite Beweismittel angeht, so muss man das, was Giordano gegen die Religion geschrieben hat, nicht gegen den christlichen Glauben an sich, sondern gegen die römische Konfession gerichtet sehen. Und wenn er selbst gegen die Offenbarung geschrieben haben sollte, folgt denn daraus, dass er ein Atheist war? Was den ewigen Bestand der Materie angeht, so müssen wir zugeben, dass Giordano ihn behauptet hat, aber auch von dieser Stelle aus kann man ihn nicht des Atheismus beschuldigen, noch viel weniger [14] von der Seelenwanderung her, die er von Pythagoras übernommen hat.29

§. 8 Dass Giordano ein Reformator der Philosophie sein wollte, das steht zweifelsfrei fest. In Paris hat er öffentlich gegen Aristoteles disputiert, wie oben gesagt; und in Wittenberg, wo die Lehre des Aristoteles doch auch in Geltung war, hat er sich nicht gescheut, Albertus Magnus und Palingenius über den Philosophen aus Stagira zu stellen.30 Wir geben nun auch bereitwillig zu, dass, obwohl Giordano mit seinem Hass und seiner Verachtung für Aristoteles keine Sünde begangen hat, er nichts desto weniger ein schlechter Reformator der Philosophie war. Er war nämlich nicht genug mit gelehrten Kenntnissen ausgestattet, und hat auch nicht genügend lange Zeit auf die Ausarbeitung seiner Schriften sowie auf die Erkenntnis und Darstellung der Wahrheit angewandt.31 Dazu kommt sein vom Enthusiasmus getriebener Geist [ingenium] und sein unerträglicher, verrückter und dichterischer Ausdruck beim [15]

29 30 31

Siehe darüber Brucker in seiner Historia philosophiae, Teil VII. Siehe Acta Philosophorum, an den zitierten Stellen. So bezeugt Raphael Egli in der Einleitung zur Summa terminorum metaphisicorum Brunos, Bruno hätte das ganze Buch, auf einem Bein stehend auswendig diktiert. Acta Philosophorum, Bd. III, S. 425.

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Schreiben.32 Von einem Philosophen solcher Prägung konnte man nicht viel Vernünftiges erwarten.33

§. 9 Worin das System des Giordano besteht, ist schwer zu sagen: feststeht, dass es sich um kein zusammenhängendes System handelt, an das er sich gehalten hätte. Seither sind die Gelehrten der Meinung,34 dass er die Philosophie des Demokrit und Epikur wieder aufgenommen hat, besonders in Hinsicht auf die Atomlehre. Er weicht aber darin von Epikur ab, dass er sagt, es müsse außer den Atomen und der Leere noch eine Materie geben, um die Atome miteinander zu verbinden. Er hat den Atomen auch Sinneswahrnehmung und Beseeltheit zugeschrieben.35 In vielen Dingen, besonders hinsichtlich der Seelenwanderung, nimmt er Partei für Pythagoras.36 [16] Von denen, welche das System der Lehre Giordanos, das aber eher ein verworrenes Durcheinander ist, aus seinen Büchern herauszufinden bemüht waren, sind die bedeutendsten Lacroze, Bayle, Heumann und Brucker: wir wollen in den folgenden Abschnitten hinzusetzen, was Giordano nach Ansicht dieser Autoren gelehrt hat.

§. 10 Nach Ansicht von Lacroze37 hat Giordano folgende Behauptungen aufgestellt. 1. Das Wesen Gottes ist unendlich. 2. Gott wirkt mächtig in allen Dingen. 3. Das Sein, Vermögen, Handeln und Wollen sind in Gott ein und dasselbe. 4. Der Wille Gottes ist notwendig, und diese Notwendigkeit ist höchste Freiheit. 5. Die Welt ist von unendlicher Ausdehnung. Dies sind nach dem Urteil von Lacroze die Hauptpunkte in Brunos System, sie verdienen einige Bemerkungen. 1. Die erste Behauptung ist nach übereinstimmender Meinung aller wahr. 2. Die zweite ist, wenn sie richtig erklärt wird, gar nicht so unvernünftig; denn da Gott unbegrenzte Macht hat, so steht von selbst fest, dass er uneingeschränkt handeln kann, da aber das Unendliche nicht teilbar ist, so handelt Gott in keiner Weise mit geteilter Macht, er handelt daher entspre32 33

34 35 36 37

Viele seiner Bücher sind in Versen geschrieben. Er selbst jedoch schrieb sich viel Licht zu, denn so sagt er in seinem Buch De numero, Kap. 1, S. 97: »Mir ward durch Inspiration bewusst, woher die Elemente [kommen], damit das Antlitz der Weisheit, das für eine ewige Zeit verdunkelt war, wieder leuchtend zutage träte und mit wiedergekehrtem heiterem Anblick die traurigen Gemüter tröste und die peinigenden Nebel der Irrtümer zerstreue.« Buddèe in den Anmerkungen zur Hist. Phil., Kap. VI, §. 3. Acta Philosophorum, Bd. II, S. 796. Siehe seine eigene Aussage in De numero, Kap. 2, S. 24. A. a. O. Er entnahm aber die Hypothesen Giordanos aus dessen Buch De innumerabilibus et immenso, Kap. 10, S. 183ff.

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chend seiner unendlichen Macht: Das ist es, was Giordano offenbar behaupten wollte. 3. Da Gott ein Wesen ist, das frei von jedweder Zusammensetzung, Verbindung [17] oder Nachfolge ist, sowohl in der Ideenwelt wie auch in der Zeitlichkeit, so hat Giordano die richtige Ansicht vertreten, wie selbstverständlich ist, obschon seine Ausdrücke nicht ganz in unser philosophisches System zu passen scheinen. 4. Gott handelt nach dem größten Maß an Güte, dass er selber genau weiß, daher begleitet die sittliche Notwendigkeit alle Handlungen Gottes. 5. Selbst diese fünfte These kann nicht gefährlich sein, da es zur Wahrheitsfindung wenig beiträgt [zu fragen], ob das Weltall der Ausdehnung nach unendlich ist oder nicht. Übrigens will ich bemerken, dass der Beweis der Unmöglichkeit einer unendlichen Welt auf willkürlichen Festlegungen beruht, und äußerst unsicher ist.

§. 11 Bayle38 schreibt Giordano folgende Lehrsätze zu. 1. Es gibt nur eine einzige existierende, unveränderliche und unteilbare Substanz, und es besteht kein Unterschied zwischen dem Prinzip [principium] und dem Prinzipatum [principiatum]. 2. Materie und Form unterscheiden sich wie Möglichkeit und Wirklichkeit, daher kann die wesentliche Form nicht vergehen; daraus folgt, dass das Universum einmalig ist. 3. Die Materie der Geister [spiritus] unterscheidet sich nicht von der Materie der Körper. 4. Das Universum besitzt eine Art von Seele. Dies und einiges Andere [verzeichnet] Bayle. Aber auch aus diesen Behauptungen [18] ergeben sich keine gefährlichen Folgerungen. 1. Da der Wille Gottes nach der Aussage Brunos (§. 10) notwendig ist, muss auch das Weltall mit Notwendigkeit bestehen, gleich ewig wie Gott und von unendlicher Ausdehnung sein; und in Hinsicht seiner, um es so zu nennen, »Allumfassendheit« (omnitudo) muss es einmalig und unbeweglich sein, und es kann zwischen Gott und dem Weltall auch kaum eine wirkliche Trennung bestehen (dass eins ohne das andere bestehen könnte). Dies ist freilich eine absurde Behauptung, doch ist sie keineswegs gottlos. 2. Dasselbe, was ich zu der ersten Behauptung gesagt habe, muss man auch für diese gelten lassen. 3. Es ist zur Genüge bekannt, dass viele diese Ansicht geteilt haben, und zwar sowohl namhafte Philosophen wie auch viele fromme Kirchenväter. 4. Dasselbe sage ich hinsichtlich der Weltseele: Als nämlich die Naturwissenschaft noch so unentwickelt war, da war es verständlich, dass die Philosophen zur Erklärung der Bewegungen und vielfältigen Veränderungen im Weltall zu der Annahme einer Art Weltseele ihre Zuflucht nahmen.

38

Dictionaire, Eintrag »Bruno«, Anm. D. Er entnahm diese Dinge aus Brunos Buch De la causa, principio e uno.

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§. 12 Heumann39 schreibt, dass Bruno folgendes gelehrt hat: 1. Zahlen und Gestalten stimmen derart miteinander überein, dass jene aus diesen, diese aus jenen ableitbar sind. 2. Die Einheit ist das Wesen aller Dinge. 3. Die Zweiheit ist der Ursprung allen Übels. 4. Es gibt Magier. 5. Der Mensch besteht aus drei substantiellen Teilen. 6. Die Sonne ist bewohnt. 7. In allen Teilen des Universums existieren Dämonen. 8. Gott kann in den natürlichen Dingen als [19] [deren] Natur bezeichnet werden. Das ist eine durchaus harmlose Lehre; denn wie viele andere, so hat auch Bruno 1. vielerlei über Zahl und Gestalt phantasiert, was natürlich verkehrt aber keineswegs gottlos ist. 2. Giordano scheint gelehrt zu haben, dass Einheit und Vollkommenheit dasselbe sind, und dies zurecht. 3. Die Zweiheit ist eine Vollkommenheit, die beschränkt oder mit der Unvollkommenheit verbunden ist, so erscheint es mir. 4. An der Existenz von Magiern hat zu jener Zeit niemand gezweifelt, was ist es da verwunderlich, dass Giordano sie für existent hielt? 5. Dies konnte er aus manchen Kirchenvätern oder aus der Bibel selbst (die er vielleicht falsch verstand) entnommen haben. 6. Dies ist zwar eine unwahrscheinliche Behauptung, die man aber noch durchgehen lassen kann. 7. Das ist eine Phantasterei, aber eine tolerierbare. 8. Es kommt öfters vor, dass das Bewirkte den Namen der Ursache übernimmt, und daher kann wohl auch, wenn auch nicht angemessen, die Welt als Gott bezeichnet werden, oder besser, damit niemand dies Übel auslegen kann, als Abbild Gottes, wie es auch der große Newton gesagt hat.

§. 13 Brucker40 ist der Meinung, dass Giordano folgende Lehrsätze herausgebracht hat: 1. Gott ist der höchste Geist, Ursprung aller Dinge, eine Einheit (Monade) und zurecht von den Menschen anzuerkennen. 2. Ein Philosoph soll an allem zweifeln. 3. Alle Dinge sind aus kleinsten Einheiten oder Monaden zusammengesetzt, auch die Philosophie. 4. Das Wesen der Dinge ist unzerstörbar [20], es kann auch nicht neu erzeugt werden. 5. Der menschliche Geist ist unsterblich. 6. Er geht aber nach dem Tode in andere Körper über. 7. Alle Dinge in der Welt bewegen sich in Wirbeln. 8. Das gegenwärtige Zeitalter wird dereinst wiederkehren. 9. Die Zeit ist ein ewig sich wiederholender Ablauf. 10. Alle Dinge im Universum streben hin zur Vollendung des Höchsten. 11. Daher gibt es nichts Böses in der Welt. Auch diese Sätze kann man durchaus gelten lassen, wenn sie nur richtig verstanden werden.

39 40

A. a. O. Historia philosophiae, Bd. 6. Brucker entnahm diese Dinge aus Brunos Abhandlung De minimo.

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1. Die erste Behauptung ist wahr, ebenso wie 2. die zweite. 3. Diese hat einen zweifachen Sinn, in beiden Richtungen von Leibniz aufgenommen. 4. Diese Behauptung entspringt, wie wir sehen, daraus, dass die Welt hinsichtlich ihrer Materie ewig ist; er begründet seine Ansicht aber damit, dass aus Nichts Nichts entstehen kann usw. 5. Das stimmt wirklich. 6. Diese Behauptung kommt aus den Ansichten des Pythagoras, sie ist nicht so unvernünftig, wenngleich falsch. 7. Siehe da! ein Vorläufer von Descartes. 8. Dies ist eine Behauptung Platos, wenigstens zu einem gewissen Teil. 9. Ist die unmittelbare Folgerung aus der vorangehenden. 10. Diese Behauptung hat Leibniz derart gut gefallen, dass er nahezu alle seine metaphysischen und ethischen Aussagen darauf zurückgeführt hat. 11. Nämlich absolut oder aufs Ganze gesehen; denn die Leibniz-Schüler meinten erwiesen zu haben, dass aus allen Übeln Gutes hervorginge.

§. 14 Aus den von uns aufgeführten Aussagen, welche, von den Naturwissenschaften abgesehen, Brunos wichtigste Lehrmeinungen sind, die von verschiedenen gelehrten Männern herausgearbeitet wurden, ist es klar, dass Giordano von der Schuld des Atheismus weitestgehend frei ist. Giordano, der sich das große Werk vorgenommen hatte, [21] die Philosophie zu erneuern, konnte in diesen trüben Zeiten nicht anders als in Irrtümer, und zwar schwerwiegende Irrtümer, verfallen, dennoch darf man ihn nicht für gottlos oder geistesgestört halten: Vielmehr verdankt die Philosophie diesem Manne sehr viel, nämlich mehrere Entdeckungen, derer sich später namhafte Philosophen für die Errichtung ihrer Lehrgebäude bedient haben, gleich als ob sie ganz neu wären. So vergessen wir oft die Erfinder, loben und bewundern aber die Verbesserer.

§. 15 Leibniz, jener Mann, der durch seinen Geist und seine großartigen Entdeckungen unsterblich geworden ist, die Zierde Deutschlands und der höchste Priester der Wissenschaften [sapientiae], hat in seiner Lehre von den Monaden in etwa dasselbe gelehrt wie Giordano. Leibniz erfreut sich präziser Vorstellungen, Giordano sah die Dinge nur verworren. Leibniz legte den Monaden oder Elementen das Vorstellungsvermögen [vis repraesentativa] bei, Giordano hat vor ihm gesagt, dass die Atome eine Seele [anima] aber keinen Geist [spiritus] haben. Wenn dies aber Phantastereien sind – ich behaupte das nicht, aber viele sagen das, die heutzutage, der mühseligen Forschung überdrüssig, die Philosophie im neuartigen und verfeinerten Gewande darstellen,41 – wenn das also 41

Vortrefflich äußert sich dazu der berühmte Dorat in der Einleitung seines kleinen Werkes Ma philosophie. »Die Philosophie,« sagt er, »war voreinst eine alte Dame, sehr traurig, zornmütig

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Phantastereien sind, was bei Leibniz über die Monaden gesagt wird, warum macht man diese Phantastereien Giordano zum Vorwurf? Aber vielleicht sind die Atome bei Bruno dieselben Atome, [22] von denen Epikur spricht? Ich bejahe dies teilweise, doch unterscheiden sie sich darin von ihnen, dass die Atome Epikurs des Vorstellungsvermögens [vis repraesentativa] ermangeln: dennoch ist deutlich, dass die Atome oder Monaden bei Leibniz denen bei Epikur bis zu einem gewissen Grade ähneln, wenn wir uns beider System genau ansehen.

§. 16 Die Welt ist die bestmögliche, hat Leibniz auf Grund seiner Überlegungen gelehrt: und vor ihm hat Giordano dieselbe Meinung gehabt.42 Diese Idee hat eine große Fruchtbarkeit und stammt auch nicht aus trüber Quelle. Denn bereits die Platoniker und andere waren der Überzeugung, dass diese Welt sich der höchsten Vollkommenheit erfreut, daher will ich gewiss nicht sagen, dass Giordano der Urheber dieser Aussage ist: aber selbst wenn ich unserem Leibniz die meisten Lehrsätze, die von diesem Satz sozusagen zur Rechtfertigung der göttlichen Vorsehung ausgehen, zuschreiben will, so bleibt doch Giordano der unverminderte Ruhm, dieses Dogma selbst schon erkannt zu haben.

§. 17 Nach der Lehre Descartes’ bewegen sich alle Dinge im Universum in Wirbeln; damit war auch Giordano einer Meinung. Zur Zeit von Descartes litt die Naturwissenschaft (noch) an vielen Fehlern und recht handfesten Unvollkommenheiten [23], zur Zeit des Giordano an noch viel mehr davon. Daher haben beide geirrt, aber wenn wir bei Descartes den Irrtum entschuldigen, warum klagen wir Giordano an? Wahrlich, wenn Bruno irgendetwas Vernünftiges geliefert hat – dass er aber einiges geliefert hat, wer will es bestreiten? – so hat er dies vor allem auf dem Gebiet der Natur- und Sternenkunde geboten. Wir sehen also, selbst wenn wir Giordano zu denen zählen, deren Philosophie von phantastischen Vorstellungen beeinträchtigt ist, dass zahlreiche Auffassungen bedeutender Männer auch schon die seinen waren.

42

und wenig anziehend; sie erschien daher eine bescheidene Dame zu sein, reserviert und klug, aber sehr auf ihr Ansehen bedacht; heute jedoch tritt sie wie eine modisch gekleidete Komödiantin auf, und zugänglich sowohl für unsere Adligen wie auch für unsere jungen Geistlichen.« Wahrlich gut bemerkt! Oben §. 13, Nr. 10.

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§. 18 Über die Werke Giordanos will ich noch kurz etwas sagen. Die von ihm verfassten Bücher sind sehr selten und wenige haben sie in ihrem Besitz, obgleich er viele Bücher herausgebracht hat, unter denen die bedeutendsten folgende sind: 1. De la causa, principio e uno. Venedig 1584. 2. Camoeracensis Acrotismus. Wittenberg 1588. 3. De gli eroici furori (wenn dies Buch wirklich von Giordano ist, was ich sehr bezweifle). London 1586. 4. Oratio valedictoria. Wittenberg 1588. 5. De specierum scrutinio. Prag 1588. Dass dieses Buch von Giordano ist, bezweifle ich nicht; er hat nämlich, was hier nur erwähnt sein soll, die Lull’sche Kunst gewaltig bewundert: ob aber daraus zu folgern sei, dass er irgendwann in Prag war, mögen andere feststelle (s. §. 4. Anm. 13). Vielleicht ist dieses Buch woanders herausgegeben, vielleicht auch ohne Wissen des Autors in Prag [24] herausgekommen: Giordano hat sich sicher nie in Prag aufgehalten, was auch Schoppe für Märchen auftischen mag. 6. De triplici minimo et mensura. Frankfurt 1591. 7. De monade, numero et figura, zusammen mit De innumerabilibus et immenso (Frankfurt 1591). Diese Bücher machen Giordanos Hauptwerke aus. Dazu kommt Spaccio de la bestia trionfante, was aber fälschlich hinzugezählt wird (siehe §. 4. Anm. 9), dieses Buch ist nämlich, wie bei Schoppe steht, in England erschienen, doch Giordano ist niemals in England gewesen. Wenn also alle Beweismittel, da man Schoppe nicht alles glauben kann, so unsicher sind, so halten wir dies verdientermaßen für ein Märchen.

§. 1[9] Es steht fest, dass man Giordano zu den Philosophen zählen muss und dass er einige Verdienste aufzuweisen hat; es ist aber ebenso klar, dass er nichts Überragendes geleistet hat und dazu auch nicht befähigt gewesen ist. Darum wollen wir ihn entschuldigen und ihn weder für gottlos noch für närrisch erklären. Es gibt nämlich eine Art von menschlicher Einstellung [humanitas] und gerechter Beurteilung, die dem Philosophen wohl ansteht, und die jeder, der weise genannt sein will, haben sollte; und diese fordert, dass wir das Ansehen der lange verstorbenen Denker, soweit möglich, unverletzt erhalten. Die gesamte Philosophiegeschichte aber prägt einem Jeden, auch dem gelehrtesten, der sich für den einzigen wirklichen Philosophen halten mag, das goldene Wort des Persius ein: »Bleibe für dich und sei dir bewusst, wie unzulänglich dein Rüstzeug ist.« [vgl. Persius (34–62 n. Chr.): IV. Satire, Vers 48, Anm. d. Hrsg.]

Abb. 4 Laukhard vor der Werbekommission der preußischen Armee Kupferstich aus dem Jahr 1792 von Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld

II. RADIKALAUFKLÄRUNG UND SOLDATENLEBEN

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Laukhard und die Radikalaufklärung. Eine Fallstudie über Gründe, Motive und Faktoren ›aufgeklärter‹ Radikalisierung Radikalität ist eine mehrdeutige und oftmals fragwürdige Eigenschaft. Im religiösen und politischen Feld steht sie in schlechtem Ruf. Und die Frage nach den Gründen, Motiven und Faktoren, warum sich zumeist junge Menschen radikalisieren, ist wieder zu einer dringlichen gesellschaftlichen Gegenwartsfrage geworden. Anders sieht es im Bereich der Kunst aus. Hier gilt Radikalität auch heute noch ungebrochen als Gütesiegel, als Ausweis von Grenzen überschreitender Experimentierfreude und Innovationskraft. Die hässlichen Geschwister des Radikalen, der Fundamentalismus und Extremismus, spielen dagegen kaum ein Rolle. Die neueren Forschungen zur Radikalaufklärung haben sich um die ambivalente Konjunktur des Radikalen in den Medien wenig gekümmert und oftmals eher ein einseitig emanzipatorisches Bild desselben entworfen. Die gängige Engführung von Radikalität mit Fundamentalismus und Extremismus wird dabei für die Aufklärungszeit gerne zurückgewiesen. Auf der anderen Seite besteht wenig Zweifel, dass die Mächte des Ancien Régime ihren Platz nicht freiwillig geräumt haben. Ohne einen gewissen Extremismus, ohne den Terror der Revolution wäre dies möglicherweise gar nicht geschehen. Insofern scheinen radikale bis extremistische Eskalationen im Namen der Aufklärung eine Bedingung dafür gewesen zu sein, dass diese überhaupt in Teilen soziale Wirklichkeit werden konnte. Können aber ›Aufklärung‹ und ›Radikalisierung‹ zusammengehen? Ist nicht die radikale Denkweise und die ihr oftmals inhärente Intoleranz, ja verbale wie physische Gewalttätigkeit selbst ein Zeichen mangelnder Aufgeklärtheit? Wo verlaufen hier die Grenzen? Wo erfüllte die Radikalisierung einen legitimen Zweck? Wo führte sie zu Ungerechtigkeiten? Um derartige Fragen diskutieren zu können, kann man sich nicht nur auf die Ideen der impulsgebenden und diskursbestimmenden Autoren der Epoche beschränken. Es lohnt, den Blick auf solche Aufklärer zu werfen, die sich tatkräftig in die Konflikte einmischten und die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis lebten. In jüngerer Zeit hat vor allem das tragische Schicksal des Arztes und Radikalaufklärers Johann Friedrich Struensee (1737–1772) Aufmerksamkeit erfahren.1 Ähnlich bemerkenswert ist der Fall Friedrich Christian Laukhards, der uns hier beschäftigen soll. Laukhard war ein Freigeist der 1

Siehe etwa den Spielfilm: Die Königin und der Leibarzt. Regie: Nikolak Arcel. Deutschland/ Dänemark 2012. 128 min.

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zweiten Generation,2 der in einem vom Wolffschen Rationalismus geprägten Pfarrhaus im Pfälzischen Wendelsheim aufgewachsen war. Sein Schlachtruf: »Fort daher mit allem Kirchenplunder …«3 bringt lautstark zur Geltung, dass für ihn die Freigeisterei mehr war als ein momentanes Aufbegehren. Sie bildete die Grundlage für eine Lebensform, die sich Strategien der Persiflage, Satire und Parodie bediente, um verhasste Institutionen und ihre Vertreter anzugreifen. Laukhard war weder Atheist noch Materialist. Seine Radikalisierungen wurden von deistischen, antiklerikalen und libertinistischen Überzeugungen getragen.4 Neben Sachgründen spielten dabei oftmals Sympathien in der Motivlage mit anderen Vertretern der radikalen Aufklärung sowie äußere Faktoren, etwa ökonomische Zwänge oder Unrechtserfahrungen, eine ausschlaggebende Rolle. Ein öffentliches Bewusstsein von Radikalaufklärung entstand vor allem während der Französischen Revolution durch die Unterscheidung der ›Enragés‹ und der ›Moderantistes‹, der Bergpartei um Danton, Marat und Robespierre einerseits und der Gironde auf der anderen Seite. In früheren Jahrzehnten lagen die Dinge nicht immer so eindeutig zu Tage. Dennoch ist der Unterschied zwischen einer moderaten, auf Reform und einer radikalen, auf Abschaffung bestimmter Institutionen zielenden Kritik auch früher schon deutlich unterscheidbar. Nimmt man die frühneuzeitlichen Traditionen des religiösen Nonkonformismus und der radikalen Aufklärung ernster, lässt sich Laukhards Radikalität in einem etwas anderen Licht sehen, als dies lange üblich war. Sie ist dann nicht primär eine Folge seiner sozialen ›Deklassierung‹.5 Mit Blick auf die Viten frühneuzeitlicher Nonkonformisten erkennen wir an ihm bekannte Muster wieder: Ein dissidentes Elternhaus, die Überbietung der Vätergeneration, die Rückversicherung durch die Ketzereihistorie usw. Es ist geradezu ein Glücks2

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Der Begriff ist hier diachron, im Vergleich zur Vätergeneration, zu verstehen. Ich sehe an dieser Stelle davon ab, inwieweit man den Generationenbegriff in diesem Kontext als synchrone Kategorie anwenden kann; ob Laukhard also z. B. in einer Generationeneinheit mit dem 1759 geborenen Friedrich Schiller zu sehen ist. Siehe etwa Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Hg. von Ohad Arnes, Ulrike Vedder u. Stefan Willer. Frankfurt am Main 2008. Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. Fünf Theile in drei Bänden. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. 3 Bde. Frankfurt am Main 1987, Th. II, S. 377. Im Unterschied zu Jonathan I. Israel: Deist Against the Radical Enlightenment or, Can Deists Be Radical? In: Gestalten des Deismus in Europa. Günter Gawlick zum 80. Geb. Hg. von Winfried Schröder. Wiesbaden 2013 (Wolfenbütteler Forschungen 135), S. 113–136, gehe ich im Folgenden davon aus, dass deistische Positionen durchaus der Radikalaufklärung zugerechnet werden können, weil das Phänomen der Radikalaufklärung eben nicht nur von den Ideen her bestimmt werden kann und Motive und Faktoren die einzelnen Lager verbanden. – Siehe zur Begriffsbestimmung die einleitende Forschungsdiskussion Winfried Schröders: Der Deismus in der Philosophie der Neuzeit. In: Ebd., S. 7–27. Christoph Weiß: Friedrich Christian Laukhard (1757–1822). 3 Bde. Röhrig, St. Ingbert 1992, Bd. 1, S. 13: »Die Schärfe seiner Kritik steht wiederum in Verbindung mit Laukhards Deklassierung.«

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fall, wenn es im Feld des oftmals nur schlecht dokumentierten radikalen Denkens so explizit und ausführlich möglich ist, Traditionen und Gepflogenheiten zu identifizieren, die zugleich einen Blick zurück in die Geschichte erlauben und belegen, wie sehr die Frühe Neuzeit auch um 1800 noch weiterwirkte. Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden.6 Eine Liste von Laukhards radikalen Ideen zusammenzustellen, ist allerdings nur bedingt möglich.7 Zu schnell änderten sich die Diskurse und Konstellationen. In diesem Beitrag wird daher versucht, eine Analyse auszuprobieren, die Radikalisierung als ein kontextuelles Zusammenspiel von Sachgründen, Motivlagen und äußeren Faktoren untersucht und die Gleichzeitigkeit von emanzipatorischen und weniger emanzipatorischen Elementen aufdeckt. Dazu sollen Laukhards Radikalisierungen unter verschiedenen Aspekten dargestellt werden: Da ist zunächst die Studentenkultur als Kommunikationsraum radikaler Ideen zu erwähnen (1.). Es lassen sich Einflüsse von Sozinianismus und Deismus nachweisen, die eine legitimatorische Funktion erfüllten (2.). Geheimgesellschaften, insbesondere der Amicisten-Orden, bildeten einen verstärkenden Kommunikationsrahmen für Religionskritik und Libertinage (3.). Die Darstellung wechselt dann zu Laukhards in der Forschung vernachlässigtem Aufenthalt in Göttingen, von dem es heißt, dass es sich hier um ein »[r]uhiges und effektives Studienjahr« gehandelt habe.8 In Göttingen rezipierte er offenbar ausführlicher Texte der italienischen Renaissance, die ihm von einem riesenden Freigeist namens Philipp Badiggi vermittelt worden waren (4.). Nach eigener Auskunft hat dies den ›schlüpfrigen Ton‹ seiner späteren Schriften entscheidend geprägt. Literarisch wird in Göttingen außerdem der Einfluss der Schlözerschen Staatswissenschaft auf seine politische Publizistik wirksam. Sie wurde von Laukhard in den 1790er Jahren in Zusammenarbeit mit seinem Mentor Franz Heinrich Bispink und in Auseinandersetzung mit den ästhetischen Entwürfen der ›Weimarer Klassik‹ zu einem dezidiert politischen Literaturprogramm weitergedacht, das einen wichtigen Beitrag zu einer ›Literaturgeschichte der Radikalaufklärung‹ bildet (5.).9

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Dazu setze ich die älteren Studien Richard Wilhelms voraus und versuche, ihren Ertrag im aktuellen Forschungskontext neu zu diskutieren; siehe ders.: Friedrich Christian Laukhard 1757–1822. Alzey 2002, S. 8–47. Zur Orientierung siehe die Aufzählung radikaler Ideen durch Jonathan Israel: A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellecual Origins of Modern Democracy. Princeton, Oxford 2010, S. viiff. Harms/Engels: Anhang A. Das Leben Friedrich Christian Laukhards. In: Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 136. Vgl. Wilhelm: Laukhard (wie Anm. 6), S. 59f.

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Karzer, Kommers, Komödie. Elemente studentischer Kommunikationskultur Was den jungen Laukhard anbelangt, so nimmt sich das Gieser Consistorium pflichtenhalber die Erlaubnis, ihn als ein höchst unwürdiges Subjekt und als einen Abschaum der Menschheit nach dem Leben zu schildern, dessen Caracter und Wandel Euer hochfürstlichen Durchlaucht unmöglich hätte bekannt seyn können. Er hatte sich während seiner Universitätsjahren zu Giesen dreiste dem Müßiggang, dem Brandweintrinken, den ekelhaftesten Zoten, den Händeln und Schlägereyen und allem Bubenunfug der Studenten gewidmet und keine Collegia besucht. Er verübte so viele muthwillige Neckereyen, daß er manchen fast zur Verzweiflung brachte, verführte hauptsächlich die jungen Leuthe zum Brandweintrinken, begieng im Trunk so viele Ausschweifungen, daß er als ein Hauptanführer aller Sittenlosigkiet sehr oft und vergebens mit Carcerstrafe belegt werden mußte. Er war so roh und gegen alles moralische Gefühl so verhärtet, daß er Bücher, Tische und Wände mit den unflätigsten Zeichnungen besudelte, in Kirchen durch Anmahlen und Eingraben schmutziger Figuren und Worte seines Namens Gedächtnis stiftete, ganze Predigten über unreine Texte hielte, sich am Tage auf der Straße in lächerlicher Harlekinskleidung präsentierte und schrift- und mündlich als den Professor zottarum ausgab. Euer hoch-fürstliche Durchlaucht geruhen die Zeichnung eines so häßlichen Bildes gnädigst zu verzeihen.10

Der Bericht des Gießener Konsistoriums an den Landgrafen von HessenDarmstadt bringt vieles von dem zusammen, was Friedrich Christian Laukhard an moralischen Verfehlungen zeitlebens vorgehalten werden sollte und was immer wieder den Grund dafür lieferte, ihn institutionell zu verhindern. Die biographischen Umstände aus seiner frühen Kindheit und Jugend, die seinen schwierigen Charakter geprägt haben, sind bekannt. Er schildert sie selbst ausführlich: die Trunksucht der Tante, die ihn zum Alkoholiker machte; die frühzeitige sexuelle Aufklärung durch die Knechte; die religionskritische Freigeisterei und der Spinozismus des Vaters; das politische Aufbegehren gegen die fürstliche Verschwendungssucht und den Machtmissbrauch.11 Dies alles bildet einen komplizierten psychologischen Komplex, mit dem man sich gerne Laukhards ›ausschweifenden‹ Charakter erklärt hat. Auch die im Konsistorialbericht angesprochenen Ereignisse aus seiner Gießener Studentenzeit hat Laukhard aus eigener Perspektive dargestellt. Die einschlägigen Kapitel gehören zu den berüchtigten Lesestücken seiner Autobiographie. In diesen Anekdoten kommt immer wieder ein Geschehen zur Sprache, das Einblicke in die Situation der sich radikalisierenden Studentenschaft 10

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Auszug aus einem Bericht des Theol. Consistorium vom 23. Mai 1783 an den Landgrafen von Hessen-Darmstadt. In: Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 169 (Dokumente). Siehe H. Peter Brandt: Friedrich Christian Laukhards Leben und Leiden. Idar-Oberstein 2001, S. 7–12.

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der 1770er Jahre gewährt. Dies soll hier kurz unter drei Aspekte der studentischen Kommunikationskultur skizziert werden: der Karzer, der Kommers und die Komödie. (1) Schlägereien waren in Gießen an der Tagesordnung, und Laukhard hat kräftig dabei mitgemischt. Er selbst gesteht »Schlägereien, welche ich ehedem selbst verübt habe«.12 Karzer war die Folge. Doch: »Auf dem Karzer studirte ich fleißig.«13 Einmal drohte ihm die Relegation, dank seiner Fürsprecher bekam er jedoch nur sechs Wochen Karzer, wovon ihm drei schließlich erlassen wurden.14 Zu seinem Glück fand der aus gelehrter Familie stammende Laukhard immer wieder die nötigen Mentoren, die ihn in prekären Situationen schützten. In Gießen war es Andreas Böhm (1720–1790), Professor der Philosophie und Mathematik, der ihn auf dem Karzer mit Büchern versorgte; in Göttingen später der Ketzereihistoriker Walch; in Halle bekanntlich Semler. 1777 kam es zu einem Höhepunkt in den Spannungen zwischen den Studenten und der Universitätsleitung, die eine starke Abwanderung Gießener Studenten zur Folge hatte.15 Die Universität drohte bei schweren Vergehen nicht mehr mit dem als Ehrenstrafe angesehenen Karzer, sondern fortan mit Geldstrafen. Diese aber wollten sich die Studenten nicht gefallen lassen. So kam es zu ihrem Auszug in den Ort Gleiberg und zur Gründung einer Art parodistischer Gegenuniversität, in der Laukhard als »Professor zottarum« auftrat. (2) Eine zweite Kommunikationsform ist der Kommers. Damit sind hier nicht in erster Linie die Trinklieder16 oder Stammbuch-Sprüche gemeint.17 Denn wie Laukhard selbst bemerkt, macht »eine bloße Saufgesellschaft [...] noch lange kein[en] Orden.«18 Vielmehr konstituiert das Ritual der Studentenordenskneipe eine hierarchisch gegliederte und zugleich geschlossene Gesellschaft. Der Kommers konnte, von den richtigen Leuten organisiert, sogar ein Ort ›klandestiner‹ Kommunikation sein, wenn es darum ging, Proselyten zu machen und Zoten über die Obrigkeit und die Pfaffen zu reißen. Laukhards Beschreibungen des Trinkens zielen in diese Richtung: Saufen ist überhaupt eine Art Fehler, worin junge Leute nur gar zu leicht verfallen. [...] Man sitzt da, und trinkt, nicht in der Absicht, sich zu betrinken – dieses ist selten der Fall, – sondern um seinen Appetit in munterer Gesellschaft zu vergnügen. Unter lustigen Gesprächen, Späßen und Possen laufen viele Gläser hin12 13 14 15 16

17 18

Friedrich Christian Laukhard: Der Mosellaner- oder Amicistenorden. Halle 1799, S. 39. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 213. Laukhard: Der Mosellaner- oder Amicistenorden (wie Anm. 12), S. 102. Einige von ihnen lassen sich noch namentlich nachweisen; siehe die Liste der Studenten im Anhang A zu diesem Beitrag. Ein wichtige Sammlung derselben gab Christian Wilhelm Kindleben in den Druck: Studentenlieder. Aus den hinterlassenen Papieren eines unglücklichen Philosophen Florido genannt. Halle 1781. Siehe z. B. Laukhard: Der Mosellaner- oder Amicistenorden (wie Anm. 12), S. 59. Ebd, S. 11.

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ein, der Kopf wird heroisch, und nun kennt der junge Mensch keine Mäßigung mehr.19

Seine Schilderungen erwecken den Eindruck, dass er in Gießen ein gewöhnliches Ordensmitglied der Amicisten gewesen sei, dessen Leitung sich aus Senior, Subsenior und Sekretär zusammensetzte.20 Das Konsistorium hatte allerdings durchaus Richtiges im Blick, wenn es Laukhard als »Anführer aller Sittenlosigkeit« bezeichnete. Aus der Verteidigungsschrift von 1799 über den Mosellaner- und Amicistenorden geht hervor, dass er in Gießen die Stellung eines Subseniors inne hatte,21 also in Abwesenheit des Seniors der Chef des Ordens war. Und das geschah häufiger: »Obgleich die Hauptanführer nicht in Gießen waren, so fehlte es doch nicht an solchen, welche den Aufruhr verbreiteten und unterhielten.«22 Laukhards Bemerkung bezieht sich also in Wirklichkeit auf ihn selbst. So wundert es nicht, dass er während des Studentenstreiks die Collegia störte und die ›Beflissenen‹ rüde zum Streik ermahnte.23 Außerdem organisierte Laukhard den Kommers und sorgte für die Beredsamkeit desselben. (3) Einen charakteristischen Aspekt der Kommunikationskultur in Gießen stellte außerdem das Studententheater dar. Laukhards Gruppe inszenierte eine Reihe von Komödien. Sie wollten dafür das theologische Auditorium benutzen. Das wurde abgelehnt. Man wich schließlich zu den Philosophen aus. Die Gruppe führte unter anderem Stücke von Johann Christian Brandes: Der Gasthof oder Trau, schau, wem. Ein Lustspiel in 5 Aufzügen (Braunschweig 1769), Lessings Der junge Gelehrte, Gottlieb Stephanie Der Deserteur aus Kindesliebe (1774), Ludwig von Holbergs Bramarbas oder der großsprecherische Offizier (dt. Titel, 1724) und das Wienerische Stück von Cornelius von Ayrenhoff Der Postzug oder die noblen Passionen (1770) auf.24 Karzerstrafe als Ehrensache, eine hedonistische Lebensart und freigeistige Reden im Kommers, das Auditorium als Raum für Gelehrtenkomödie, wo Realität und Fiktion zusammenfallen sollen – im Rahmen der studentischen Kommunikationskultur betrieb Laukhard offenbar ganz bewusst eine freigeistige ›Umwertung‹ des Tugendsystems.25

19 20 21 22 23 24 25

Ebd., S. 36. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 35. Laukhard: Der Mosellaner- oder Amicistenorden (wie Anm. 12), S. 101f. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 182. Vgl. ebd., S. 182f. Vgl. ebd., S. 232. Siehe zu anderen Aspekten Marian Füssel: Studentenkultur als Ort hegemonialer Männlichkeit? Überlegungen zum Wandel akademischer Habitusformen vom Ancien Régime zur Moderne. In: Martin Dinges (Hg.): Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main 2005, S. 85–100, bes. S. 90ff. (zu Laukhard).

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Crell, Tindal, Voltaire. Einflüsse von Sozinianismus und Deismus Versucht man das ›freigeistige‹ Moment, das hier antreibend war, genauer zu bestimmen, so sollte man zunächst auf das Elternhaus blicken. Bereits der Vater Philipp Burkhard Laukhard (1722–1789) ist ein eifriger Leser der Schriften Edelmanns,26 Wolffs und Spinozas gewesen, der seinen Spinozismus mit alchemischen Neigungen verband.27 In Gießen dann, darauf hat bereits Rolf Haaser aufmerksam gemacht, hielt der Theologe Johann Hermann Benner (1699–1782) im Sommersemester 1772 »öffentliche Disputirübungen gegen den Socianismus«, die er im Wintersemester fortsetzte: »Bey der Erklärung der Geschichte des Socianismi, worinn er fortfahren wird, wird er sich bemühen, die Apostel dieser Sekte, und die entgegengesetzte Schriften zu nennen, auch die beste Methode angeben, wie diesem Unsinn zu steuren seye.«28 Im Kontext dieses Streits, der zugleich ein Streit um den Theologen Carl Friedrich Bahrdt war, leiht Laukhards Vater dem Sohn die Schrift De uno Deo Patre (Rackow 1631) von Johannes Crell (1590–1631), den Laukhard allerdings in seiner Autobiographie mit seinem Enkel Samuel Crell (1660– 1747) verwechselt: »Sociniani, pflegte mein Alter [d. i. Philipp Burkhard Laukhard] zu sagen, in eo reliquis Christianis praestant, quod ibi philosophantur, ubi ceteri credunt.«29

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29

Siehe z. B. die Lebensbeschreibung Johann Christian Edelmanns: Selbstbiographie 1749– 1752. Faksimile-Neudruck mit einer Einleitung von Walter Grossmann (Sämtliche Schriften in Einzelausgaben, Bd XII). Stuttgart-Bad Cannstatt 1976. – Laukhard überliefert die Anekdote einer Leichenschändung des Edelmannianers Schüttehelm vom Mörsfeld. Gerald P. R. Martin hat seine historischen Spuren zusammengetragen: Berg-Inspektor Johann Peter Schüttehelm. Ein Kapitel aus der kurpfälzischen Bergbau-Geschichte des 18. Jahrhunderts. In: Alzeyer Geschichtsblätter 3 (1966), S. 96–119. Leider gelang es ihm nicht, die Beziehung Schüttehelms zu Edelmann genauer aufzuhellen. Laukhards Ausführungen sind zu kurz geraten, um uns ein angemessenes Bild der väterlichen Alchemie machen zu können, die Konstellation von bibelkritischem Wolffianismus und alchemischer Naturphilosophie verweist auf vergleichbare Spekulationen bei Philipp Laukhards Freund Semler; siehe dazu z. B. die Beiträge von Christian Soboth: Die Alchimie auf dem Abtritt – Johann Salomo Semler und die hermetische Kehrseite der Neologie. In: Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Hans-Georg Kemper zum 60. Geb. Hg. von Nicola Kaminski [u. a.]. Tübingen 2002, S. 67–99, und Markus Meumann: Hermetik als Privatreligion? Johann Salomo Semler und die esoterische Tradition. In: Atlantic Understandings: Essays on European and American History in Honor of Hermann Wellenreuther. Hg. von Claudia Schnurmann u. Hartmut Lehmann. Hamburg 2006, S. 185–199. Giesser Wochenblatt 1772, S. 319. Zit. n. Rolf Haaser: Spätaufklärung und Gegenaufklärung: Bedingungen und Auswirkungen der religiösen, politischen und ästhetischen Streitkultur in Gießen zwischen 1770 und 1830. Darmstadt, Marburg 1997, S. 32. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 155.

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Für Laukhard wird die Auseinandersetzung mit dem Antitrinitarismus der Rackower Sozinianer zum Ausgangspunkt seines Selbstdenkens, das sich nun in schneller Folge weiter radikalisiert. In wertvollen Anekdoten, in denen er seine Diskurse mit der Gießener Professorenschaft und den einfachen Landpfarrern wiedergibt, die er mit seinem neuen Ideengut provozierte, spricht Laukhard Klartext. Noch bei seinem Abstecher nach Jena wird er vom Dogmatiker Ernst Jakob Danow (1741–1782) deswegen ermahnt: »das Lesen der Schriften von Socinianern sey sehr verführerisch, und einem jungen Menschen höchlich zu misrathen.«30 Doch als Laukhard Danow um apologetische Schriften bittet, erhält er nur noch ein Bedauern zur Antwort. Eine weitere Lektüreerfahrung schließt sich hier nahtlos an – Matthew Tindals (1657–1733)31 Christianity as old as Creation (1730): »Gott, mit welchem Vergnügen und Anhalten las ich dies merkwürdige Buch! wie änderten sich nun auf einmal alle meine Gedanken über Geheimnisse und Offenbarung.«32 Hatte Crell die Trinitätslehre wankend gemacht, bestand die Sprengkraft dieses Textes vor allem in der vehementen Überzeugung, dass das Christentum als offenbarte Religion insgesamt für das Glück des Menschen entbehrlich sei, da dem Menschen die christlichen Grundlehren als natürliche Religion von Anfang an zur Einsicht mitgegeben wurden. Laukhard schreibt: Ich überzeugte mich gleichsam mit mathematischer Gewißheit, daß Geheimnisse nicht einmal der Gegenstand des Glaubens seyn können: daß sie als unbegreifliche Dinge, den Willen nicht bestimmen, und folglich die Moralität nicht befördern helfen: daß sie vielmehr eine Mißtimmung in dem Gebrauch unsrer Vorstellungskraft hervorbringen, den gesunden Menschenverstand nothzüchtigen, und den Weg zum Wahn und Aberglauben bahnen: daß eben darum Jesus und die Apostel dergleichen auch nicht gelehrt haben; sondern blos natürliche Religion, hier und da geschmückt mit Bildern aus der ältern orientalischen Bildersprache, woraus hernach die finstere hierarchische christliche Kirchenparthei solche Raritäten, wie die Geheimnisse sind, gebildet, und zu Glaubensartikeln erhoben hat: daß die moralische Religion, wie die Einsicht der Menschen, eines stäten Fortschrittes und folglich der Verbesserung fähig sey: dass es also gar nicht nöthig, ja pflichtwidrig sey, bei den Lehren des neuen Testaments und den kirchlichen Bestimmungen darüber stehen zu bleiben: daß eben dies Buch nur localen und temporellen Werth gehabt habe, und der Ethik des Aristoteles, den Pflichtbüchern des Cicero, und andern moralischen Schriften der sogenannten Heiden nachstehen müsse. – Das war so das Resultat von meiner Lectüre der Tindalischen Schrift. […] ich [wurde] in meinem naturalistischen Denken bestätiget.33 30 31

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Ebd., S. 194. Siehe zu Tindal etwa Gotthard Victor Lechler: Geschichte des englischen Deismus. Stuttgart 1841; Henning Graf Reventlow: Bibelautorität und Geist der Moderne. Die Bedeutung des Bibelverständnisses für die geistesgeschichtliche und politische Entwicklung in England von der Reformation bis zur Aufklärung. Göttingen 1980; Stephen Lalor: Matthew Tindal, Freethinker. An Eighteenth-century Assault on Religion. London, New York 2006. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 203. Ebd., S. 204f.

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Tindals Buch wird ihn in seinem Antiklerikalismus noch viele Jahre unterstützen. 1797 kündigt Laukhard an, einen Auszug daraus veröffentlichen zu wollen.34 David Hume und Immanuel Kant sollte er später zustimmend lesen. Bereits jetzt hatte er aber schon Klarheit darüber gewonnen, dass sich über theologische Fragen nichts entscheiden lässt: »Ich sah dergleichen Auftritte gern: sie erinnerten mich an die Zänkereien und die Spektakel der ältern und neuern Theologen und Philosophen, welche oft über Dinge disputirten, die kein Mensch bejahend oder verneinend entscheiden kann.«35 Gerade der Umgang mit dem Rechtfertigungsprinzip zeigt für Laukhard die Schwäche des englischen und deutschen Deismus im Gegensatz zur Stärke des französischen: Die englischen gehen von Gründen aus, und suchen ihre Leser durch philosophische Argumente zu überzeugen: die Deutschen machen es beinahe eben so, und habens auch mit unter mit der Philosophie zu thun. Zudem reduciren letztere alles auf Geschichte, und verursachen dadurch, dass die Leser ihre gelehrten Werke nicht anders verstehen, als wenn sie selbst gelehrt sind. Der französische Deist hingegen wirft einige flüchtige Gründe leicht hin, schlüpft über die Streitfrage selbst weg, und spöttelt hernach über das Ganze, als wenn er seine Behauptungen noch so gründlich demonstrirt hätte. Ich weis wohl, daß das nicht überzeugt; aber Tausende, die es lesen, halten sich von nun an für überzeugt, und beehren den Philosophen mit ihrem ganzen Beifall. So war es auch möglich, daß Voltaire so viel Proselyten des Unglaubens anwarb. Er schrieb nicht für Gelehrte: die, dachte er, mögen die Berichtigung ihrer Denkungsart anderwärts suchen, wenn sie klug sind. Er schrieb für Ungelehrte, für Frauenzimmer, für Fürsten und für Kaufmannsdiener: diesen sollten die Schuppen von den Augen wegfallen. Und wenn das so Voltaire’s Zweck war, so hat er seine Sachen wirklich klug eingerichtet.36

Auf Semlers späteren Einwand, »Spötterei in Religionssachen wäre überall nichts«, entgegnet Laukhard: »Furcht [da]vor beschämt oder belacht zu werden, wirkt oft mehr, als alle Logik.«37 Nur zu deutlich hatte er erlebt, wie die aufgeklärte Theologie selbst bereits »Zuflucht zu Machtsprüchen« suchte.38 Argumentative Widerlegung war jetzt kein Ziel mehr. Laukhard und seine Gesinnungsfreunde wollten vielmehr der Orthodoxie Angst machen, ausgelacht zu werden. Laukhards Freigeisterei in Sachen Religion ist zwar ›naturalistisch‹, aber sicher nicht atheistisch. Er glaubt an eine überzeitliche, natürliche Religion der Vernunft, die alle ausreichenden Morallehren vereint. Ihre Ausgestaltung ist für ihn Privatsache:39 34 35 36 37 38 39

Ebd., Th. 4/1, S. 373. Ebd., Th. II, S. 435f. Ebd., Th. I, S. 268f. Ebd., Th. II, S. 102. Ebd., Th. I, S. 154. Es bleibt zu prüfen, inwieweit hier auch eine positive Rezeption des Zopfpredigers Schulz vorliegt, den Laukhard mehrfach zustimmend erwähnt; zu Schulz siehe Andreas Merk: Johann Heinrich Schulz – »Meteor an dem Kirchenhimmel der Mark von Deutschland«. Über

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Meine orthodoxen Leser werden doch nicht böse, daß ich so geradezu mich zu denen bekenne, die von Priester-Grillen nichts glauben? […] Jeder hat indeß seinen eignen Gott, seine eigne Welt, seinen eignen Himmel, Hölle, Glauben, seine Meinungen, seine Narrheit, seine Philosophie, seine – und wer ihn darin irre macht, ohne ihm etwas Brauchbarers dafür an die Hand zu geben, hat Unrecht – er sey, wer er wolle.40

Die Amicisten An Laukhards Schriften fällt der für ›deutsche‹ Verhältnisse besonders radikale Antiklerikalismus auf. Mit Tindal allein wird man dies nicht erklären können. Eine Rezeption französischer Materialisten etwa, die hier einschlägig wären, lässt sich erst später gesichert nachweisen.41 Martin Mulsow hat darauf hingewiesen, dass in der ›Geheimgesellschaft‹ der Amicisten schon in den späten 1760er Jahren »materialistische Philosophie die Prämissen vorgab, [auf] welche das kritische Denken aufbaute.«42 Der preußische Gesandte und Privatgelehrte Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) etwa, Verfasser der Schrift Vortheile geheimer Gesellschaften für die Welt (Halle 1772), ist hier zu nennen. Er stand mit dem braunschweigischen religionskritischen Offizier Jakob Mauvillon (1743–1794) in Kontakt. So könnte man vermuten, dass auch zehn Jahre später, zu Laukhards aktiver Zeit, im Netzwerk der Amicisten radikale Schriften zirkulierten. Staatliche Behörden betrachteten den Orden in den 1790er Jahren als Pflanzstätte künftiger Staatsverbrecher, weswegen Laukhard als Insider die Amicisten verteidigte und sich gleichzeitig von ihnen dis-

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eine personelle Konstellation der Ermöglichung radikaler Religionskritik im spätfriderizianischen Preußen. In: Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Einzelschicksale – Konstellationen – Netzwerke. Hg. von Martin Mulsow u. Guido Naschert. Hamburg 2012 (Jb. Aufklärung 24), S. 135–171. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 40. Vgl. ebd., Th. IV/1, S. 289f., wo z. B. die Lektüre einer d’Holbach-Übersetzung Die gesunde Vernunft, oder die übernatürlichen Begriffe im Widerspruche mit den natürlichen (London 1788) erwähnt wird. Vgl. zur Rezeption radikaler Philosophie im Amicisten-Orden Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740– 1745. Göttingen 2007, S. 112f.; siehe außerdem Walter Richter: Zur Frühgeschichte des Amicistenordens. In: Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung 22 (1977), S. 19ff.; Maria Josef Bopp: Die elsässischen Studenten im Amicistenorden zu Jena. In: Elsaß-Lothringische Jahrbuch 21 (1943), S. 245–290; Hans Joachim Schoeps: Zur Geschichte der studentischen Orden des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte 2 (1949), S. 264–271; Rainer A. Müller: Landsmannsschaften und studentische Orden an den deutschen Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts. Würzburg 1997 (Studentica Academia, 36); Otto Götze: Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden des XVIII. Jahrhunderts. Jena 1932; Otto Deneke: Göttinger Studenten-Orden. Göttingen 1938.

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tanzierte. Das Geheimnisvolle derartiger Geheimgesellschaften darf man nicht überbewerten oder gar mystifizieren: Alles, was den Anstrich von Geheimniß hat, gefällt allemal lieber, und erhält Anhänger: wäre es öffentlich nach allen seinen Theilen und Namen bekannt: so würde man sich wenig darum bekümmern. Ohne der christlichen Religion zu nahe treten zu wollen, glaube ich doch, daß der Grund ihres schnellen Wachsthums vorzüglich in dem Dunkel und in der heiligen Decke zu suchen ist, worin ihre ersten Lehrer dasselbe einzuhüllen wußten, oder womit sie es vielmehr zu verhüllen gezwungen waren. Jedes versteckte Geheimniß macht diejenigen, welche nicht eingeweiht sind, neugierig, und die Eingeweihten macht es stolz. Neugierde aber und Stolz sind mächtige Triebfedern. Die Herren Freymaurer möchten auch gewiß nicht so vielen Anhang erhalten haben, wenn sie ihre Nullitäten nicht für Geheimnisse ausgäben; und dennoch ist es wunderbar, daß diese Nullitäten noch immer für Geheimnisse bey Unwissenden gelten können, da es doch beynahe augenscheinlich bewiesen ist, daß wenigstens in dieser ansehnlichen Gesellschaft kein Mysterium seyn kann.43

Dass das Konzept der Geheimgesellschaft für Laukhard von Bedeutung gewesen ist, steht jedoch außer Zweifel. In den Jahren 1780 oder 1781 gründet er in der Pfalz eine eigene deistische Geheimgesellschaft, von der man allerdings nicht weiß, inwieweit sie von den Regeln und Ritualen des Amicisten-Bundes beeinflusst war: Ob wir gleich unsre Sache ziemlich geheim anfangs hielten; so waren doch verschiedene Pfaffen auf unsre Spur gekommen, und hatten uns, besonders mich und meinen ehrlich Haag44, als Erzfreigeister ausgeschrieen. Um diesem üblen Gerüchte zu entgehen, fertigte ich auf Anrathen meines Vaters eine kleine Schrift aus, und ließ sie im Manuskript zirkulieren. Das Ding war lateinisch und hieß: Dissertatiuncula de veritate Religionis Christ. argumentum morale. Es enthielt die gewöhlichen moralischen Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion, und that ziemlich gute Würkung. In meinen Zirkeln widerlegte ich, nach Art so manches andern gezwungenen Schriftstellers, mein eignes Schriftchen, und machte es lächerlich.45

Die Referenz auf andere Autoren ist bemerkenswert. Es war Gepflogenheit. Es kam vor allem darauf an, einen eigenen Zirkel zu schaffen, in dem man sich selbst parodieren konnte und der ein Publikum bot, das sonst nicht zu finden war. Weniger das Geheimnis als vielmehr die abgeschottete Gesellschaft scheint also das Wesentliche derartiger Zirkelbildungen gewesen zu sein. Hier war auch ein Ort für gelehrte Libertinage. Der Professor Zottarum und Verfasser eines angeblich vielfach abgeschriebenen Kompendiums »Elementa Zotologiae sive Aeschrologiae tam theoreticae quam practicae« kennt sich in 43

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Annalen der Universität zu Schilda oder Bocksstreiche und Harlekinaden der gelehrten Handwerksinnungen in Deutschland. Zur Auflösung der Frage: Woher das viele Elend durch so manche Herrn Theologen, Aerzte, Juristen, Kameralisten und Minister? Leipzig 1798, Th. 1, S. 237f. Jakob Haag, Revierförster in Wendelsheim. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 301.

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diesem Feld aus.46 Er liest z. B. Voltaires Mädchen von Orleans47 und Nicholas Choriers (1612–1692) Aloisia Sigaea von 1659. Laukhard liefert uns in seiner Autobiographie ein seltenes innerfamiliäres Rezeptionszeugnis für dieses infame Buch, das sonst so gerne verschwiegen wurde: Meines Bruders Bibliothek musterte ich damals auch: ich fand unter andern die berüchtigte Aloysia Sigaea, ein Buch, nach welchem mich schon lange verlangt hatte. Ich nahm es mit, las es zu Hause durch und bewunderte die unselige Mühe des gewiß geschickten Verfassers, welcher in dem feinsten lateinischen Styl die allerabscheulichsten Zoten und Schweinigeleien hingestellt hat. Gegen diese Aloysia sind einige unserer neuern verfänglichen Bücher dieser Art, noch sehr erträgliche Bücher.48 Es wundert mich, dass man sie in unsern zotologischen Zeiten noch nicht übersetzt hat.49 Vielleicht macht das die Seltenheit des Buchs, das man oft mit drei bis vier Karolinen [der Kurpfälzische Karolin entspricht etwa 10–11 Gulden, G. N.] bezahlt hat, oder auch die Unerfahrenheit unsrer Zotologen in der lateinischen Sprache.50

Badiggi und die italienische Renaissance Um das hier angeschnittene Thema ›Pornographie‹ nicht auf das historische Skandalon oder den Männlichkeitswahn der Aufklärer zu verengen, lohnt es, die Studien Stefan Brüdermanns heranzuziehen. Er hat die sozialgeschichtliche Dimension des Sexualthemas auf der Grundlage der Göttinger Universitätsakten untersucht und die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit legitimer sexueller Kontakte der Studenten hervorgehoben. Die Lektüre erotischer Texte und das Gefallen an ihren Obszönitäten erscheinen unter dieser Perspektive als Ausweichstrategien und Kompensationsmechanismen.51 Zweitens kann man 46 47 48

49

50 51

Ebd., S. 216. Vgl. Ebd., S. 225. Siehe zum Kontext z. B. die Studien von Julia Bohnengel: Sade in Deutschland. Eine Spurensuche im 18. und 19. Jahrhundert. Mit einer Dokumentation deutschsprachiger Rezeptionszeugnisse zu Sade 1768–1899. St. Ingbert 2003; Young-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730 bis 1800). Mit einer kommentierten Übersetzungsbibliographie. Tübingen 2006. Was Laukhard nicht weiß: Eine deutsche Übersetzung war bereits im Berliner Himburg-Verlag erschienen: Priapische Romane. 2. Bd. (Die Frauenzimmer-Schule in sieben Gesprächen nach Meursius). Rom. Bei Seraph Cazzovulva [d. i. Berlin: Himburg] 1792. Siehe dazu Claudia Taszus: Ein Refugium freisinniger Bücher. Die zensurfreie Rudolstädter Hofbuchdruckerei als Produzent maskierter Literatur. In: Subversive Literatur. Erfurter Autoren und Verlage im Zeitalter der Französischen Revolution (1780–1806). Hg. von Dirk Sangmeister u. Martin Mulsow. Göttingen 2014, S. 252–274, hier S. 263f. − Siehe zu Chorier und zur Thematik insgesamt: Margaret C. Jakob: Die materialistische Welt der Pornographie. In: Lynn Hunt (Hg.): Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne. Frankfurt am Main 1994, S. 132–182. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. II, S. 342f. Siehe Stefan Brüdermann: Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jh. Göttingen 1990, Kap. 15: Der Student und die Sexualität. Prostitution, Alimente, Heiraten.

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ideengeschichtlich fragen, inwieweit sich Laukhards Gefallen an Obszönitäten als Ausdruck eines radikalaufklärerischen Agierens interpretieren lässt, das ein bereits bekanntes Muster fortsetzt: »Es handelt sich [...] nicht um das simple Faktum einer Bejahung von Sinnlichkeit und Sexualität [...]. Es handelt sich um die komplexe Verbindung von Sexualitätsdiskurs, normativem Naturalismus und gelehrter oder literarischer Darstellung.«52 Die hier angesprochene Konstellation lässt sich seit der italienischen Renaissance untersuchen. Was bislang nicht genug berücksichtigt wurde: Auch für Laukhard wurden Renaissance-Texte stilbildend. Laukhards schlüpfriger Ton hat nach eigener Aussage sogar einen konkreten Urheber. Sein Name lautet Badiggi. Laukhard führt diesen unbekannten Italiener im Göttingen-Kapitel seiner Autobiographie ein. Damals, in den Jahren 1778–1779, wohnte Laukhard bei der Frau des Lübecker Privatgelehrten Johann Bernhard Köhler (1742–1802), der von 1766 bis 1769 als außerordentlicher Professor der Philosophie und Geschichte in Kiel und von 1770 bis 1773 als Professor der orientalischen Sprachen in Göttingen unterrichtet hatte. (Später, ab 1781, sollte er ein Kollege Immanuel Kants in Königsberg werden.) Laukhards Mentor in Göttingen war der Theologe und Ketzereihistoriker Christian Wilhelm Franz Walch (1726–1784); sein Freundeskreis bestand aus Studenten, die wie er selbst von Gießen nach Göttingen gekommen waren. Und zu diesen gehörte der erwähnte Badiggi.53 Laukhard schreibt: Ich fand auch in Göttingen einen gewissen Italiäner, Badiggi, einen Exjesuiten, mit dem ich schon in Gießen Umgang gepflogen hatte. Dieser Badiggi war ein Mensch von viel Kopf und viel Erfahrung; aber auch ohne Religion, ohne Sitten und ohne Gesetze, kurz, ein wahres moralisches Ungeheuer. Er erzählte von sich alle mögliche Schandthaten, ohne Erröthen.54

Man könnte ihn für eine Erfindung Laukhards halten. Doch sind einige Laukhard-externe Spuren von ihm überliefert: Philipp Badiggi (auch: Battiggi, Baticci) stammte aus Görz/Gorizia in Italien an der slowenischen Grenze, nördlich von Trieste gelegen und früher zu Innerösterreich gehörig. Am 5. Mai 1777 schreibt er sich als Philippus Battiggi »Goritiensis ex Austria interiore« in die Gießener Matrikel ein.55 Die Göttinger Matrikel weist ihn abweichend als Mailänder aus. Auf Empfehlung des Staatsrechtlers Johann Stephan Pütter (1725–1807) wurde er gratis immatrikuliert. Neben den beiden Matrikeleinträgen findet sich noch ein drittes, eher selten anzutreffendes Fundstück: Badiggi lässt sich in August Ludwig Schlözers Hörerverzeichnis nachweisen, wo er im Sommer 1779 die »Statistik« belegte.56 52 53 54 55 56

Martin Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik. Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart 2007, S. 7. Siehe die Namensliste der Studenten im Anhang A zu diesem Beitrag. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 257. Die Matrikel der Universität Gießen. Gießen 1957, Bd. 2, S. 22. Vgl. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abt. Handschriften und seltene Drucke. Cod. Ms. A. L. Schlözer I, 2: 4, Bl. 40v (siehe Abb. 5, S. 91).

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Dem Anschein nach war er 1773 nach dem Verbot des Jesuitenordens ins Reich gekommen. »Latein konnte Badiggi reden wie Wasser, und Latein, das sich immer hören ließ, das keine Schnitzer hatte. Beiher hatte er eine große Belesenheit in jenen freiern Schriften der Italiäner, welche das sechzehnte Jahrhundert erleuchtet haben, z. B. in denen des Aretin, Pulci, Ariosto, Pallavicino, u. a. m.«57 Badiggi unterrichtete Laukhard über die italienische Renaissance. Die Aufzählung lässt an Texte wie Pietro Aretinos (1492–1556) Sonnetti lussuriosi (1527) und die Ragionamenti (1534–1536) oder Ferrante Pallavicinos (1615–1644) La Retorica delle puttane (Venedig 1642) oder dessen Himmlische Ehescheidung, veranlaßt durch die lüderliche Aufführung der römischen Braut denken, die wenige Jahre später, 1787, in einer deutschen Übersetzung bei Unger in Berlin erscheinen sollte. Auch der damals noch fälschlich Pallavicino zugeschriebene Traktat Alkibiades als Schüler könnte Laukhard durch Badiggi bekannt geworden sein. Einen größern Zotenreisser und Lästerer aller Religion, aller Sitten und aller Moral hab’ ich nie gehört. Das waren aber in meinen Augen damals Tugenden, und verbanden mich um so mehr mit Badiggi, oder um besser zu sagen, sie machten, daß ich seinen Umgang fleißig suchte, ohne jedoch seine Person zu lieben oder zu schätzen.58

Bei Philipp Badiggi handelt es sich um einen jener reisenden Freigeister, die in Göttingen Bücher aus der Bibliothek mitgehen ließen und Kommilitonen mit ihrer anstößigen Belesenheit infiltrierten, ohne selbst nennenswerte Spuren in der literarischen Überlieferung zu hinterlassen. An ihm interessieren uns hier weniger sein im Dunkeln liegender Lebensweg – es wäre sicher aufschlussreich, wenn er in Zukunft weiter rekonstruiert werden könnte – als vielmehr die intertextuellen Bezüge und die Auswirkungen in Stil und Habitus, die Laukhard an seiner Person festmacht: »Ich für meinen Theil gewöhnte mir in dem Umgange mit diesem Menschen einen äußerst freien und schlüpfrigen Ton, in Rücksicht auf die Religion und ihre Lehren an: einen Ton, der mir […] in meinem Vaterlande sehr viel geschadet, und mein ganzes theologisches Glück verdorben hat.«59 Wie sein späterer Mentor Semler in Halle so gab ihm bereits Walch in Göttingen den unmissverständlichen Rat: »Was Sie nicht glauben, müssen Sie mit Gründen widerlegen; aber nicht beschimpfen.«60 Der rehabilitierende Rückgriff auf die erotischen und ketzerischen Autoren der Renaissance bildet eine wichtige Abgrenzungsstrategie gegenüber der gemäßigten Aufklärung. In der Habilitation bei Semler in Halle über Giordano Bruno am 27. August 1783 findet dies seinen institutionellen Ausdruck. Auch sonst distanziert er sich, etwa von Johann Christoph Adelung (1732–1806), 57 58 59 60

Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. I, S. 258. Ebd. Ebd., S. 258f. Ebd., S. 259.

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durch den Verweis auf Bruno: »Aber Herr Adelung hat auch andere Männer in die Klasse der Narren gebracht, die es nicht verdienten, z. B. den Jordan Brunus, wobei ihm das Bailische Wörterbuch hätte aushelfen können.«61 Außerdem liebte Laukhard die Geschichte Lucilio (Julius Cäsar) Vaninis (1585–1619), der in Toulouse im Februar 1619 bei lebendigem Leibe verbrannt worden war. Der Name dieses Ketzers war für ihn eine im Alkoholrausch leicht zu führende Waffe: Ich kam einmal mit einem gewissen Bürger aus einer Schenke, und räsonnirte gerade auf der Straße über Pfaffen, über sogenannten Gottesdienst und dergleichen. Ein hiesiger Schwarzrock, der hinter uns her kam, widersprach öffentlich, und drohte mir auf gut pfaffisch, mich zu verklagen, und mir durch meine Vorgesetzten das lästerliche Maul stopfen zu lassen. Diese Bravade brachte meinen ohnehin schon heroischen Kopf vollends in Harnisch, so daß ich dem Gottesmann mit Nachdruck vorwarf: Er, ja Er wäre der Rechte, der noch Ursache hätte, sich zu brüsten! Er möchte doch nur erst sein Haloren-Mensch fahren lassen, und durch die seine Frau nicht nöthigen, ihren Kummer in Brantewein zu versaufen. […] Jetzt wollte ich auf den gleißnerischen Hurenbengel mit geballter Faust los, und ich würde wahrscheinlich sehr unsanft mit ihm verfahren seyn, wenn mich mein Begleiter nicht abgehalten, und in eine nahe Kneipe geführt hätte. Hier saßen wir, bis ich vollends meine Ladung hatte, und endlich aufbrach. In der Märkerstraße begegnete mir der alte Magister von Sangerhausen, den ich aus Versehen schuppte, und der nun anfing loszuziehen. – »Was willst du alter Pfaffe,« schrie ich, und lief ihm nach. Er rettete sich in des Juden Josephs Haus, wohin ich ihn verfolgte: weil aber die Thür verschlossen wurde, so klopfte ich so stark an die Fenster, daß diese hineinstürzten und einige Scheiben zerbrachen. […] Doch was ist leichter, als kirchliche Schibolets papageienmäßig nachzubeten; und was ist schwerer, als als Mann von Einsicht und Ehre zu handeln? Zu jenem ließe sich gar ein Rabbi bestechen; und nur ein Vanini besteigt für dieses den Scheiterhaufen als – Mann.«62

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Ebd., S. 17; siehe auch Th. II, S. 207f. – Zu den von Laukhard angesprochenen ›anderen Männern‹ gehört ebenfalls der ihm durchaus geistesverwandte, gelehrte Wollüstling Adrian Beverland; vgl. Johann Christoph Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholde. Erster Theil. Leipzig 1785, S. 20−46. – Zu Beverland weiterführend: Eric John Dingwall: Hadrian Beverland, Lord of Zeeland. In: Ders.: Very Peculiar People. Portrait Studies in the Queer, the Abnormal, and the Uncanny. London 1950, S. 145−177; Willem Elias: Het spinozistisch erotisme van Adriaan Beverland. In: Tijdschrift voor de studie van de Verlichting 2 (1974), S. 288−320; Mulsow: Die unanständige Gelehrtenrepublik (wie Anm. 52). Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. II, S. 356–358.

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Das ›politische‹ Literaturprogramm von Bispink/Laukhard Derartige Anekdoten dürfen jedoch nicht übersehen lassen, dass der Göttingen-Aufenthalt Laukhards auch ein Studienaufenthalt war. Laukhard besaß zu namhaften Professoren ein insgesamt gutes Verhältnis: »Walch, Schlözer, Gatterer, Heyne und Michaelis würdigten mich ihrer Freundschaft, und die Namen dieser großen Männer werden mir immer teuer sein.«63 Für seine schriftstellerische Entwicklung sollte vor allem August Ludwig Schlözer wichtig werden.64 Bei Schlözer hörten Laukhard und seine Freunde Statistik, Politik und Staatswissenschaft.65 Statistik war damals zwar etwas Neues und Besonderes: »Eine eigenständige Disziplin kann man die von Schlözer gehandhabte Statistik jedoch nicht nennen. Seine engagierte Tätigkeit ist vielmehr in einem Grenzbereich anzusiedeln. Sie dient der aktuellen Information seiner Zuhörer und Leser, ergänzt durch Zeitungs- und Reisekollegs, und der Vermittlung von primär nützlichem Wissen.«66 Dies klingt fast wie eine Zusammenfassung von Laukhards eigenem Stil, der über weite Strecken von der Staatswissenschaft und ihrem spezifischen Informationsbedürfnis geprägt ist. Auch sonst zitiert Laukhard Schlözers Ideen, etwa dessen Geschichtsverständnis, zustimmend: Die Geschichte aller Zeiten und Völker – meynt Schlözer –, ist ja eine Leidensgeschichte der von den verworfensten, oft stupidesten Bösewichtern am Narrenseil herumgeführten Nationen. Der Forscher dieser Gräuelthaten läuft ja Gefahr, daß ihm darüber die ganze Menschheit verächtlich werde. Denn wer begreife es, daß sich Millionen Menschen von einzelnen Wütrichen haben schlachten, von einzelnen Räubern haben plündern lassen! Die Feigheit dieser Elenden ist ja noch rätselhafter, als die Unmenschlichkeit ihrer Tyrannen.67 63

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Helmut Eckert: Neues zur Selbstbiographie des Magisters Christian Friedrich [sic!] Laukhard. In: Einst und Jetzt. Jb. des Vereins für corpstudentische Forschung 11 (1966), S. 128– 131, hier S. 129. Vgl. August Ludwig (von) Schlözer in Europa. Hg. von Heinz Duchardt u. Martin Espenhorst. Göttingen [u. a.] 2012; Martin Peters: Altes Reich und Europa: der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809). Münster 2003; Robert Schelp: Das Allgemeine Staatsrecht – Staatsrecht der Aufklärung. Eine Untersuchung zu Inhalt, Anspruch und Geltung des naturrechtlichen Staatsrechts im 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 2001. Aus dem im Göttinger Universitätsarchiv befindlichen Hörerverzeichnis für das Wintersemester 1777–1778 geht hervor, dass auch Karl von Knoblauch aus Dillenburg und Carl Friedrich Weckherlin aus Stuttgart in diesem Semester die »Politik« betitelte Veranstaltung besuchten; vgl. Schlözer: Hörerverzeichnis (wie Anm. 56), 4,1–98. Michael Behnen: Statistik, Politik und Staatengeschichte von Spittler bis Heeren. In: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hg. von Hartmut Boockmann u. Hermann Wellenreuther. Göttingen 1987, S. 76–101, hier S. 83. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. III, S. 91f. − Vgl. August Ludwig Schlözer: Allgemeines StatsRecht (Staatsrecht) und StatsVerfassunglere (Staats-Verfassungslehre). Voran: Einleitung in alle Staats-Wissenschaften. Encyklopädie derselben. Metapolitik. Anhang:

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Klaus-Detlef Müller hat auf die Dominanz der Zeitgeschichte gegenüber der Lebensgeschichte bei Laukhard hingewiesen;68 Christoph Weiß die Bedeutung des faktualen Erzählens und der Realien unterstrichen, welche die Welthaltigkeit und das realistische Moment von Laukhard Texten ausmachen. Laukhards Romane seien, so Weiß, »Geschichtsschreibung im Rahmen politischer Publizistik«.69 Sein Roman Carl Magnus war bekanntlich als Beitrag zu Schlözers Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts (1778ff.) gedacht und, obschon zunächst abgelehnt, auch später noch von Schlözer eingefordert worden.70 Dieses ›realistische‹, an den Informationsbedürfnissen staatswissenschaftlich interessierter Leser orientierte Schreiben, das die aufklärende Information nicht einer ästhetischen Eigenwelt71 überlassen will, wird natürlich noch durch andere Wirkungsstrategien und Interessen begleitet: Zu nennen sind etwa der illusionslose Ekel, der anthropologische Blick in menschliche Abgründe, ein tabufreieres Sprechen über Religion, Sittlichkeit und politische Veränderungen, das volksaufklärerische Interesse an der Beseitigung sozialer Ungerechtigkeiten. Trotzdem muss man natürlich fragen, wie der Zusammenhang zwischen der Faktualität der Erzählens und der Radikalität des Denkens beschaffen ist. Zumal sich das, was in der Studienzeit begann, mit den Jahren zu einem literarischen Gegenprogramm zur ›Weimarer Klassik‹ weiterentwickelte, für das politische Realien, die Missstände aufzeigen, ein wesentliches Distinktionsmerkmal sind. Es gehört zu den besonderen Stärken Laukhards, dass er die ›soziale Frage‹ schon zu einer Zeit angesprochen hat, als der Großteil der deutschen Schriftsteller noch darüber hinwegsah. Unterstützt wurde er dabei von seinem Freund und mehrfachen Mitautor Franz Heinrich Bispink (1749– 1820). Dieser aus Westfalen geflüchtete und zum Protestantismus übergetretene Franziskanermönch betrieb in Halle eine Leihbibliothek und versorgte Laukhard regelmäßig mit der neuesten Literatur.72

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Prüfung der von Moser’schen Grundsätze des Allgemeinen Staats-Rechts. Göttingen 1793, S. 123. Vgl. Klaus-Detlef Müller: Laukhard: Zeitgeschichte als Lebensersatz. In: Ders.: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 190. Weiß: Laukhard (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 29. Vgl. Friedrich Christian Laukhard: Leben und Thaten des Rheingrafen Carl Magnus (ungekürzter Nachdruck der Erstausgabe von 1798). Wendelsheim 2006, o. S. (An die Leser!). Laukhard war wie andere seiner Zeitgenossen eigentlich kein Freund rein fiktionaler Unterhaltungsliteratur, auch wenn er selbst solche zum Gelderwerb schreiben musste; vgl. etwa seine Bemerkung: »Sehr viele der jetzigen Studenten sind verwöhnte litterärische Weichlinge, die die Dornen der eigentlichen Litteratur scheuen, dazu auch nicht gezogen sind, und vor lauter langer Weile sich in den Sümpfen der Romanwelt ersäufen.« Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. IV/2, S. 311, Fn. Zu Bispink siehe Ernst Raßmann: Nachrichten von dem Leben und den Schriften Münsterländischer Autoren des 18. u. 19. Jahrhunderts. Münster 1866, Bd. 1, S. 24f.; Wilhelm: Laukhard (wie Anm. 6), S. 59–61; Westfälisches Autorenlexikon 1750–1800. Im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe hg. und bearbeitet von Walter Gödden und Iris Nölle-

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In der Vorerinnerung zur Sammlung erbaulicher Gedichte aus dem Jahr 1796 (später als Zuchtspiegel für Fürsten und Hofleute neu aufgelegt) formulieren Bispink – und Laukhard?73 – in aller Deutlichkeit: Unser Magen ist nicht rein menschlich, noch weniger über allen Einfluß der Zeiten erhaben: er fodert reelle Befriedigung für den Darmsinn; und hat er die zur Genüge und sicher, dann erst hat unser Kopf und Herz Zeit und Geschmack für Ideenspeise. Sonst hat der hungrige Bauch keine Ohren weder für Logik, noch für Aesthetik, noch für Moral; wohl aber Fäuste zum Zugreifen.«74 Dies ist bewusst gegen das Weimarer Programm der Horen von Schiller und Goethe gerichtet, denen Bispink ins Gewissen redet: »Alles recht gut und löblich! Aber wie dieß [gemeint ist das ästhetische Erziehungsprojekt der Weimarer Klassik] zu Stande bringen? Wie irgend Leute zum Tanze oder Ball bestimmen, in deren Nachbarschaft es brennt? oder denen es an dem Nöthigen fehlt, um an dem Angenehmen Theil nehmen zu können? Wie ein Hauß oder Garten verschönern, wenn man weder Hauß noch Garten eigenthümlich besitzt, oder wenigstens nichts dazu übrig hat?75

Falls sie es nicht zusammen erdacht haben sollten, so schreibt Bispink hier doch ganz im Sinne Laukhards, der selbst seine literarische Existenz mehr dem Nötigen und Lebensnotwendigen als dem Angenehmen widmen musste. Das Literaturprogramm von Bispink/Laukhard verdeutlicht, dass es in den 1790er Jahren Teile der radikalen Aufklärung gab, die bereits eine explizite Gegenbewegung zur ästhetischen Moderne bildeten. Für diese ›politische‹ Literatur kommt ›erst das Fressen, dann die Moral‹, und die soziale Wirklichkeit und ihre Missstände bleiben der Bezugspunkt für die Wahrheit allen Fingierens. In diesem Literaturprogramm spielt die Rezeption und Verarbeitung politischer Literatur natürlich eine wichtige Rolle. Wer wissen will, was Laukhard in den 1790er Jahren davon zur Kenntnis nehmen konnte, findet in seinen Schriften neben einzelnen Referenzen sogar eine ›Bibliographie‹. In der Schilderung der jetzigen Reichsarmee, nach ihrer wahren Gestalt. Nebst Winken über Deutschlands künftiges Schicksal aus dem Jahr 1796 gibt Laukhard seinen Lesern »Winke zum pro und contra« einer Reform der deutschen Reichs-

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Hornkamp. Paderborn 1993, Bd. 1, 45. – Bispinks Frau war die Tochter des Hofbuchdruckers Conrad Jakob Leonhard Glüsing (1741–1812) aus Weimar, der die Druckerei seit 1759 führte, die später, im Jahr 1853, in den Böhlau-Verlag überging; vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. IV/2, S. 258. – Dazu siehe Konrad Marwinski: Von der Hofbuchdruckerei zum Verlag Böhlau. Geschichte der Hofbuchdruckerei Weimar von den Anfängen bis 1853. Weimar 1974. Siehe zur Verfasserfrage Christoph Weiß: Friedrich Christian Laukhard (1757–1822). Bd. II: Kommentierte Bibliographie und Materialien. St. Ingbert 1992, S. 87: »Verfasser der Vorerinnerung und Herausgeber ist wahrscheinlich Franz Heinrich Bispink; möglicherweise unter punktueller Beteiligung von Friedrich Christian Laukhard.« [Franz Heinrich Bispink/Friedrich Christian Laukhard (?):] Vorerinnerung. In: Sammlung erbaulicher Gedichte. [Leipzig] 1796, Th. 1, S. XXIIf. Ebd., S. XXII.

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verfassung, an denen man exemplarisch seine Literaturkenntnisse und sein Lektüreverhalten studieren kann.76 Auffallend ist, dass es »Winke zum pro und contra« sind, Laukhard also eine abwägende Einstellung einnimmt. Es ist bekannt, dass er während seiner Zeit in Frankreich Sympathien für das französischen Gleichheitssystem entwickelte. Die Radikalität dieser Sympathien reicht bis zur offenen Rechtfertigung des Revolutionsterrors: Daß der Jakobinismus an schrecklichen Auftritten Schuld war, ist außer allem Zweifel: ich selbst habe Scenen gesehen, und von andern, die ich nicht gesehen habe, Folgen wahrgenommen, bey deren Andenken mir die Haut noch schaudert. Also war der Jakobinismus allerdings ein Uebel, ein schreckliches Uebel: aber war er ein nothwendiges Uebel? Um diese Frage mit Unpartheilichkeit zu beantworten, muß man kaltblütig zu Werke gehen.77

Das war zu einer Zeit formuliert, wo er für einen machtpolitischen Realismus offen war: »Kant, Freund, ist abstract, aber Machiavelli und Hobbes sind concret.«78 Doch sollte dies nicht sein letztes Wort sein. Laukhard war kein politischer Philosoph. Sein Schwanken zwischen pro und contra ist oft von den äußeren tagespolitischen Umständen und der eigenen privaten Situation provoziert. Gleichwohl durchdachte er gestützt auf die Friedensideen Immanuel Kants seine persönlichen Erfahrungen auch unter der Perspektive eines politischen Idealismus.79

Zusammenfassung Können ›Aufklärung‹ und ›Radikalisierung‹ zusammengehen? Ist nicht die radikale Denkweise selbst ein Zeichen mangelnder Aufgeklärtheit? Wo verlaufen hier die Grenzen? Wo erfüllte die Radikalisierung einen legitimen Zweck? Wo schlug sie in Ungerechtigkeit um? Der Fall Laukhard mag verdeutlichen, wie schwierig es ist, ex post die Dinge sauber klären zu wollen. Blickt man nur auf die emanzipatorischen Ideen, so bleibt außen vor, wie oft die Implementierung derselben zu Problemen führte, die auch zu ihren Lasten gehen. Winfried Schröder hat Jonathan Israel in der Diskussion um das richtige Verständnis von Radikalaufklärung entgegengehalten: 76 77 78

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Siehe die Literaturliste im Anhang B zu diesem Beitrag. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. IV/1, S. 115. Friedrich Christian Laukhard: Briefe eines preußischen Augenzeugen über den Feldzug des Herzogs von Braunschweig gegen die Neufranken im Jahre 1792. 2. Pack. 2. Aufl. Germanien [d. i. Halle] 1794, S. 40. Siehe dazu Peter Brandt: »Was da diene zum Frieden«. Friedrich Christian Laukhards Plädoyer für Frieden und Völkerverständigung. In: Rupert Neudeck: Die Kirchenkrise(n) und die Menschenrechte. 2. Laukhard-Predigt gehalten am 29. April 2011 in der evangelischen Kirche Veitsrodt. Hg. von Axel Redmer. Idar-Oberstein 2011, S. 8–15.

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Israels Begriffsverständnis, das Radikalität mit einer emanzipatorischen Zielsetzung und einer Ausrichtung auf in der Moderne anerkannte normative Vorstellungen (Egalitarismus, Demokratie) verknüpft, schließt von vornherein die Möglichkeit aus, dass das von den Aufklärern betriebene kritische Geschäft zu Verlusten führen konnte.80

Man muss hier nicht gleich an eine ›Dialektik der Aufklärung‹ denken. Emanzipation und Verlust können auf sehr unterschiedliche Weise verbunden sein. Sobald man den Fokus erweitert und neben der Ebene intellektueller Überzeugungen auch allgemeine Motivlagen und externe Faktoren (wie Kommunikationsbedingungen, Ökonomie u. a. m.) berücksichtigt, kompliziert sich die Analyse erheblich. Am Beispiel Laukhards haben wir gesehen, dass neben familiären Startbedingungen die karnevaleske und gewaltbereite Studentenkultur, intellektuelle Einflüsse (italienische Renaissance, Sozinianismus, Deismus), die Ordensverbindungen mit ihrer möglichen Distribution radikalerer französischer Aufklärung bis zur Prägung durch das staatswissenschaftliche Denken Schlözers eine ganze Reihe von Elementen eine Rolle spielten, die die frühen Radikalisierungen sowie das Erzählprogramm Laukhards bedingten. (Und man könnte die Liste natürlich noch weiter fortsetzen!) Je mehr Faktoren hinzukamen, desto deutlicher zeigte sich aber, dass Laukhards Radikalisierungen mit dem Verweis auf seine ›Deklassierung‹ oder seine politischen Unrechtserfahrungen allein nur unzureichend erfasst werden und dass ein wesentlich größeres Tableau von Faktoren hinzugezogen werden muss, um ihnen in Zukunft gerechter zu werden.

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Winfried Schröder: Radikalaufklärung in philosophiehistorischer Perspektive. In: Radikalaufklärung. Hg. von Jonathan I. Israel u. Martin Mulsow. Berlin 2014, S. 187–202, hier S. 199.

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Abb. 5 Hörerverzeichnis August Ludwig Schlözers (SoSe 1779) Badiggi/Baticci-Eintrag (Pfeil)

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APPENDIX A. Verzeichnis von einigen Studenten, die zwischen 1776 und 1779 von Gießen nach Göttingen wechselten81 Das Sternchen [*] markiert weitere Göttinger ›Kommilitonen‹ Laukhards, die nicht aus Gießen kamen. SoSe 1776, Prorektor: Christian Friedrich Georg Meister Imler, Georg Christ., Darmstadt, jur. (9.4.76) Knoblauch, Karl von, jur., Dillenburg (17.4.76) Müller, Johann August Christoph, Arolsa-Waldeck, jur. (4.5.76) *Schlegel, Moritz, aus Hannover, jur. (26.4.76), S. 222 Schmalkalder, Georg Christian Philip, jur. (4.4.76) Schmalkalder, Ludwig Christian, jur. (4.4.76) Schmidt, Georg Friedrich, Hildesheim, jur. (28.4.76) *Spittler, Ludwig Timotheus, Stuttgart, theol., aus Tübingen kommend (22.4.76) Stoecker, Friedrich Adolph, jur., Waldeck (23.4.76) Sturtz, Simon Heinrich, Zweibrücken, jur. (9.4.76) WiSe 1776–1777, Prorektor: Christian Friedrich Georg Meister Busold, Carl Ludwig Friedrich, Waldeck, jur. (25.10.76) Eichhorn, Daniel Alexander, Waldeck, theol. (16.10.76)82 Kramer, Karl Heinrich Friedrich, Waldeck, theol. (17.10.76) Meyer, Johann Ludwig Salomon, Darmstadt, jur. (17.10.76) Vulpius, Johann Karl, Hannover, theol. (15.10.76) Vulpius, Johann Daniel, Hannover, theol. (15.10.76) SoSe 1777, Prorektor: Ernst Gottfried Baldinger (1. u. 2. Halbjahr) Buff, Johann Christian, Wetzlar, jur. (15.4.77) Burckhard, Ludwig, Hessen-Darmstadt, theol. (15.4.77) Dantz, Johannes Ernst Friedrich, »Gedera Stolbergensis«, jur. (15.4.77) Gröning, Christoph Heinrich, (schwed.) Wismar, jur. (11.4.77) *Weckhrlin, Carl Friedrich, Stuttgart, jur., aus Greifswald kommend (18.4.77) Schazmann, Franziskus Adam David, Friedberg, jur. (22.4.77) Schleiermacher, Ernst Christian Friedrich Adam, Darmstadt, jur. (15.4.77) Schmidt, Wilhelm Theophil, Hessen-Darmstadt, jur. (15.4.77) Wegener, Christian Heinrich Christoph, (schwed.) Wismar, jur. (11.4.77) de Wallbrunn, Friedrich, Hessen-Darmstadt, jur. (15.4.77) Weyl, Johann Wilhelm, Saarbrücken, theol. (19.4.77) Winhein, Ludwig, Hohen Solms, jur. (15.4.77) 81 82

Vgl. Die Matrikel der Georg-August-Universität zu Göttingen 1734–1837. Im Auftrag der Universität hg. von Götz von Selle. Hildesheim, Leipzig 1937, S. 220–248. Freund Laukhards, sein Pseudonym war »Dornensteeg«; vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 3), Th. V, S. 81ff.

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WiSe 1777–1778, Prorektor: Lüder Kulenkamp Battigi, Philippus Adam, Mailand, jur., »ex commend. ill. Pütteri gratis accepit« (3.10.77) Geyling von Altheim, Ludwig, Hanau, jur. (8.10.77) Schäffer, Adam Wilhelm, Gelnhausen, jur. (15.10.77) Weyl, Johann Wilhelm, Saarbrücken, jur. (21.10.77) SoSe 1778, Prorektor: Lüder Kulenkamp Würtenberger, Wilhelm Albert, Darmstadt, jur. (27.4.78) Hanckroth, Adolf Heinrich, Siegen, jur. (2.5.78) WiSe 1778–1779, Prorektor: Lüder Kulenkamp Dieffenbach, Georg Christian, Riedesel, jur. (20.10.78) Leopold, Georg Friedrich, »Palatinus«, theol. (16.10.78) Muhl, Johann Petrus Ludwig, Worms, theol. (20.10.78) Müller, Ludwig, Meisenheim, Zweibrücken, jur. (13.10.78) Strecker, Johann Friedrich, Rüsselsheim-Darmstadt, jur. (12.10.78) SoSe 1779, Prorektor: Lüder Kulenkamp Kugler, Ernestus Wilhelmus, Isenburg (26.4.79) de Nordecken in Rabenau, Friedrich Carl, Darmstadt, jur. (21.4.79) Schenck, Aemilius Wolfgang Christ., Isenburg (26.4.79) *Schlegel, Karl, aus Hannover, jur. (23.4.79) WiSe 1779–1780, Prorektor: Gottfried Less Bertolini, Johannes, »Rhaetus«, jur. (27.9.79) Freundenberg, Wilhelm Ludewig, Limburg (Westf.), jur. (9.10.78) Grambs, Johann Georg, Frankfurt, jur. (5.10.79) Sames, Johann Friedrich Otto Braunfels, jur. (16.10.79)

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B. Laukhards »Winke zum pro und contra« einer Reform der deutschen Reichsverfassung83

1. [Johann Alois Josef von Hügel:] Epistel an den jungen Mann, der an Deutschlands Reichstände ein Wort zu seiner Zeit verfasset hat. [Ihr sind beygefügt Briefe des Preussischen Ministers von Hardenberg, des Französischen Großbothschafters Barthelmy, und der Konventsdeputirten Merlin und Riveau. Regensburg [im August 1795. 94 S.]. 2. [Franz Josias von Hendrich:] Freymütige Gedanken über die allerwichtigsten Angelegenheiten Deutschlands. [Seinem und andern guten Fürsten desselben Ehrerbietig zur Prüfung und Beherzigung vorgelegt von einem Freunde seines Vaterlandes.]Neue stark vermehrte Ausg. 2 Bändchen. [Germanien, 1794. 350 S.]. 3. [Schack Hermann Ewald84:] Kritik der deutschen Reichsverfassung. [Bd. 1: Kritik der Regierungsform des deutschen Reichs.] Germanien [1796]. 4. Soll das deutsche Reich der politischen Auflösung nahe seyn? [s. l., 1795. 20 S.]. 5. Carl von Dalberg: Von Erhaltung der Staatsverfassungen. Erfurt bey Keyser. [1795. 28 S.]. 6. [Andreas Riem:] Die politische Lage und das Staatsinteresse Europens. Fünf Hefte. Speier [1795–1797.]. 7. [Carl Josef Hochheim:] Justus, Sincerus Veridicus, von der Europäischen Republik. Plan zu einem ewigen Frieden, nebst einem Abriß der Rechte der Völker und der Staaten, und einer Erklärung derselben. Altona bey Hammerich [1796]. 8. [Immanuel Kant:] A la paix eternelle. Essai philosophique par Em. Kant, trad. de l’Allemand, avec un nouv. suppl. de l’auteur à Königsberg. 9. Neue Vorschläge zum ewigen Frieden, als Anhang zu den Kantischen. Altona. 10. Bemerkungen eines Kosmopoliten über die interessantesten Gegenstände der Zeitgeschichte. Altona [und Upsala. 1796]. 11. [Karl Julius Weber:] Wekhrlin, der Jüngere, an die Völker Europens, vorzüglich an Franken und Deutsche. Strasburg [Germanien 1797]. 12. [Ernst Heinrich Simon:] Allgemeine Stimme des Volks in Hinsicht auf Regierung. Bürgerglück und Menschenwohl. [Kölln, bey Peter Hammer 1796].85 13. [Grundlinien der] Volksrechte bey Reichs-, insonderheit Reichskriegssteuern. [s. l., 1796]. 14. Ueber die Bewaffnung deutscher Bürger. [s. l., 1796. 60 S.].

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[Friedrich Christian Laukhard:] Schilderung der jetzigen Reichsarmee, nach ihrer wahren Gestalt. Nebst Winken über Deutschlands künftiges Schicksal. Kölln, bei Peter Hammer, 1796, S. 237–241. Siehe zur Verfasserfrage Horst Schröpfer: Schack Hermann Ewald (1745–1822). Ein Kantianer in der thüringischen Residenzstadt Gotha. Köln, Weimar, Wien 2015, S. 330f. Im Original ist ein Satzfehler unterlaufen, der aus einem Titel zwei gemacht hat.

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15. [Christoph Ludwig Pfeiffer:] Die Freyheit in Bezug auf das deutsche Staatsrecht. Mannheim bei Löfler [1796] 16. [Ernst Heinrich Simon:] Allerneueste Gedanken über die wichtigsten Angelegenheiten Deutschland. Germanien. [Kölln: Peter Hammer, 1796. 182 S.]. 17. An Deutschlands Reichsstädte: ein Wort zu seiner Zeit. 18. [Johann Georg] Büsch: Unpartheyische Erörterung der Frage: Was hat Deutschland in Ansehung seines Land- und Seehandels von den so nahen Friedensunterhandlungen zu erwarten, und was hat es selbst dabei zu thun? Hamburg bei Bohn [Benjamin Gottlob Hoffmann 1795]. 19. Ueber Preußens Interesse an dem Krieg gegen Frankreich. [s. l., 1795. 32 S.] 20. Traum des alten Weltbürgers Syrach, zur Beherzigung für die Wachenden. Kosmopolis. 21. Wichtige Frage über das Kriegs- und Friedensgeschäft mit Frankreich. [Dem Kaiser und Reich zur Beherzigung vorgelegt von Varemund á Regeno. 1795. 68 S.] 22. Frankreichs neueste Politik in Bezug auf Deutschland. Altona. 23. Einladung von Konfuz an den Weltbürger Syrach, zu seinen Vorlesungen über Europa. [Auch nach dem Frieden noch immer zu lesen. Peking, d. i. Thal-Ehrenbreitstein: Johann Ludwig Gehra, 1795].86 24. [Thomas Frey:] Das Königsrecht nach Georg Buchanan, ein Beitrag aus dem 16ten Jahrhundert., zur Beurtheilung der Ereignisse unserer Tage. [Nebst einer Biographie Buchanans und einigen historischen Anmerkungen.] Altona [bei der Verlagsgesellschaft 1796. 336 S.]. 25. Etwas über den Krieg in der öffentlichen Meynung: ein Wort zur Beherzigung bey den Kreuzzügen des 18then Jahrh[underts]. Palästina. [1796. 90 S.].

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Im Orginal irrtümlich: »Einladung des Confuz von dem Weltbürger Syrach« usw.

ANNE-SIMONE ROUS

Spion oder Parlamentär? Der Schriftsteller Friedrich Christian Laukhard 1793 in der belagerten Festung Landau I. Der Weg nach Landau Friedrich Christian Laukhard, der Sohn des evangelischen Pfarrers in einer pfälzisch-reformierten Gemeinde, war schon früh mit Widerständen in Kontakt gekommen und hatte gelernt, sich zu behaupten. Andererseits blieb er zeitlebens naiv und führte einen umtriebigen Lebenswandel. Lustige Soldaten in einer Gaststätte am Markt in Halle genügten, dass er sich für acht Louisdor Handgeld zum Militär verpflichtete. Der Kriegsdienst erschien dem verschuldeten Vagabunden, der in den Franckeschen Stiftungen in Halle lehrte, als spannendes Abenteuer, wie er in seinen Memoiren schrieb: »[…] es wäre doch hübsch für dich, wenn du Soldat würdest!«1 Da er soeben zur Lebensbeschreibung seines Gießener Professors Carl Friedrich Bahrdt veröffentlicht hatte, fiel Laukhard nicht nur durch seinen intellektuellen Lebensstil, sondern auch als Schriftsteller in der Truppe auf. Mit dem Regiment Johann von Thadden zog er 1792 in den Ersten Koalitionskrieg, der 1791 durch den Appell Kaiser Leopolds II. eingeleitet wurde, um »die Angriffe auf den Thron und den Altar zu beendigen«, wie der Herzog von Braunschweig in seinem Manifest vom 25. Juli schrieb.2 Preußen und Österreich hofften auf einen raschen Vormarsch 1

2

Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. 5 Theile in 3 Bdn. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt am Main 1987, Th. II, S. 232. Manifest an die Bewohner Frankreichs, 25. Juli 1792. In: Mainz zwischen Rot und Schwarz. Hg. von Claus Träger. Berlin 1963, S. 92–97, hier S. 95. – Zum historischen Hintergrund des Ersten Koalitionskrieges vgl. Sydney Seymour Biro: The german policy of revolutionary France. A study in French diplomacy during the war oft he first coalition 1792–1797. 2 Bde. Cambridge 1957; Edith Zehm: Der Frankreichfeldzug von 1792. Formen seiner Literarisierung im Tagebuch Johann Conrad Wagners und Goethes ›Campagne in Frankreich‹. Frankfurt am Main 1985; Timothy C. W. Blanning: The origins of the French revolutionary wars. London 1986; Frank Attar: La Révolution Francaise déclare la guerre à l’Éurope. Brüssel 1992; Emma Vincent Macleod: A war of ideas. British attitudes to the wars against revolutionary France. 1792–1802. Aldershot 1998; Dieter Radtke (Hg.): Erinnerungen des Feldpredigers Christian Friedrich Wehrhan und des Kronprinzen Friedrich Wilhelm an den Feldzug der preußischen Armee im Jahre 1792 in Frankreich. Hildesheim 2008; Gérard Lesage: De Valmy à Jemappes 1792. Premières victoires de la revolution. Paris 2011; Jules Michelet: Geschichte der Französischen Revolution, Bd. 3: Der Sturz des Königtums, Beginn der Koalitionskriege gegen Frankreich sowie Prozess und Hinrichtung Ludwigs XVI. Paderborn 2012.

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bis Paris. Laukhard erlebte als Musketier im Thaddenschen Regiment zunächst die Einnahme von Longwy und Verdun gegen die ›Neufranken‹, anschließend jedoch die preußische Niederlage nach der Kanonade von Valmy.3 In seinen 1796 erschienenen Erinnerungen an den Feldzug beschrieb Laukhard nicht nur den beschämenden Rückzug des Heeres, sondern auch eine geheime Mission, auf die er 1793 in die Festung Landau geschickt wurde (siehe Abb. S. 103).4 Landau war der äußerste östliche Wachtposten Frankreichs und deshalb von enormer Wichtigkeit. Mainz war im Juli nach einer Belagerung und geheimen Verhandlungen5 von den Franzosen zurückerobert worden, nachdem es für kurze Zeit eine »Mainzer Republik« unter den französischen Revolutionstruppen erlebt hatte.6 Die Sicherung der Festung Landau erschien nach dem Sieg des Herzogs von Braunschweig in Pirmasens als weitere wichtige Basis für die Alliierten, die am 18. September mit der Belagerung begannen. Wegen seiner Französischkenntnisse und der entfernten Verwandtschaft mit Georg Friedrich Dentzel (1755–1828), dem Kommandanten der Festung Landau und offiziellen Repräsentanten des Nationalkonvents, wurde Laukhard vom Armeecorpsführer, Prinz Friedrich Ludwig von Hohenlohe-IngelfingenÖhringen, und dem obersten Kommandeur, Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, beauftragt, Dentzel in der belagerten Stadt ein Bestechungsangebot zu überbringen.7 Hintergrund dieser Mission war die äußerst schwierige Einnahme der Festung. Sie war 1688–1691 unter der Leitung von Vauban (1633–1707), dem Festungsbaumeister Ludwigs XIV., entstanden. Die Grundform der Festung entsprach Vaubans weiterentwickelten Fortifikationsplänen und bildete ein längliches Achteck, dessen Ecken sieben bastionierte Türme und ein großes Reduit bildeten. Ringsum war der innere Bereich durch einen Graben abgeschlossen. Die Festung wurde durch den Fluss Queich in zwei Teile geteilt, dessen linker Teil durch Überflutung des vorliegenden Geländes wirksam geschützt werden konnte. Für die andere Hälfte gab es ein ausgeklügeltes Schleusensystem, das auch den Graben ringsum bei Bedarf flutete. Vor dem Graben lagen die Außenwerke mit dem gedeckten Weg. In die Stadt führten nur zwei Tore im Süden und Norden, aber zusätzlich sind Geheimgänge innerhalb des Mauerwerks nachgewiesen. Zwei Drittel der Festung waren so durch einen breiten und tiefen Überschwemmungskessel, Flaque genannt, für anstürmende Truppen so gut wie unüberbrückbar. Eine schmale Holzbrücke über die Flaque bildete die einzige Verbindung mit dem Kronwerk. Diese Befestigung erlaubte es, die Festung mit vergleichsweise wenig Militär zu 3 4 5 6 7

Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. III, S. 150ff. Vgl. ebd., Th. III, S. 488ff. u. Th. IV/1, S. 1ff. Vgl. ebd., Th. III, S. 389ff. Elmar Heinz: Doppelrad und Doppeladler. Die Festung Mainz zwischen Kaiser, Reich und Kurstaat im 1. Koalitionskrieg (1792–1797). Blaufelden 2004. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. III, S. 506ff.

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verteidigen. Die Friedensstärke betrug 2.800 Mann.8 1793 war die Festung mit höchstens 8.000 Mann besetzt und die Bürger auf sechs Monate verproviantiert. In Kriegszeiten konnten die Truppen zwar bis 14.000 Mann aufgestockt werden, aber die Festung Mainz benötigte im Verteidigungsstand 20.000 Leute.9

II. Verlauf der Mission Am 26. September erhielt Laukhard also während des Frühstücks des Kronprinzen von Preußen in einer zweistündigen persönlichen Unterredung seine Instruktionen. Er solle (a.) die Gesinnung der Leute kennen lernen und (b.) eine unblutige Übergabe erkaufen, so dass noch vor Weihnachten die Belagerung beendet sei. Für seinen gefährlichen Einsatz wolle ihm der Kronprinz die Wahl lassen, mit ihm nach Berlin oder zurück nach Halle zu gehen. Gegenüber seinen Kameraden würde man den Anschein wahren, als sei er wegen seiner patriotischen Äußerungen vorgeladen worden.10 Laukhard nahm – der Gefahren bewusst und in Hoffnung auf ein Ende des Soldatenlebens und eine sorglose Existenz – den Auftrag an und erhielt ein eigenhändiges Billett des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen mit folgendem Inhalt: Wenn es geschehen kann, daß Mittel ausfindig gemacht werden, wie die Festung Landau, ohne gewaltsames Beschießen und Menschenblut, den gegenwärtigen Belagerern überliefert werde: so sollen die Angeber der gedachten Mittel das Recht haben, eine ehrenvolle Kapitulation nicht nur vorzuschlagen, sondern auch neben einer vollkommenen Sicherheit ihrer Personen, einer, der Größe dieses Dienstes angemeßnen Belohnung in Gelde gewärtig seyn.11

Der Hauptmann, Herr von Mandelsloh, und der Major von Wedel brachten Laukhard bis in die Nähe der französischen Truppen bei Nußdorf. In seinen Erinnerungen berichtet Laukhard weiter, er sei, als man den vermeintlichen Deserteur entdeckte, von einem Dragoner zu dem dortigen Hauptmann geführt worden. Er habe sich bei den Franzosen wie ein Revolutionsanhänger verhalten und konnte sich frei bewegen. Er erhielt Unterricht über die Freiheitsgedanken, das Duzen und die Gründe, warum die Republikaner um Tod oder Leben kämpften. Schließlich stellte man Laukhard bei General Laubadère, Dentzel und dem Kriegskommissar vor. Offenbar konnte er seine Tarnung gut aus8 9 10 11

Vgl. Karl Volker Neugebauer: Grundkurs deutsche Militärgeschichte. Die Zeit bis 1914. Vom Kriegshaufen zum Massenheer. München 2006, S. 278. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. IV/1, S. 19. Vgl. ebd., Th. III, S. 501ff. Ebd., Th. IV/1, S. 32. – Übereinstimmend zitiert in Johann Peter Ackermann: Geschichte der Blokade von Landau im Jahr 1793. Von Augenzeugen beschrieben und auf unläugbare Urkunden gegründet. Landau: Glöckner, Birnbaum und Kompagnie, Im Jahre XII der fränkischen Zeitrechnung [d. i. 1805], S. 120.

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spielen und täuschte jeden. Zum Beweis seiner Loyalität zeigte er dem Generaladjudant Doxon auf einer Karte die Stellungen der Preußen. Nach zwei Tagen habe er einen ersten Gesprächstermin mit Dentzel erhalten. Wider Erwarten lehnte dieser das Angebot schroff ab. Die Unterschätzung des französischen Patriotismus brachte Laukhard in eine gefährliche Situation. Einerseits hatte Dentzel nun Kenntnis von der geheimen Mission Laukhards und konnte ihn erpressen, andererseits war eine Rückkehr zu den Preußen unmöglich, da er unter der realen Gefahr der Todesstrafe für Verrat nur schwer durch die Reihen der Franzosen kommen konnte und auf preußischer Seite keinen dankbaren Empfang erwarten konnte. Laukhard kam zu Hilfe, dass Kommandant Dentzel und General Laubadère einander nicht zugetan waren und Dentzel in der Truppe in so schlechtem Ansehen stand, dass er wegen Verdacht des Hochverrats sogar kurzzeitig abgesetzt wurde. Selbst über die Details der internen Kommunikation konnte er in seinen Erinnerungen Auskunft geben. Wegen der Gefahr, dass Briefe abgefangen werden könnten, schickte man über das Verfahren keinen Bericht zum Pariser Verteidigungsministerium und setzte Dentzel wieder ins Amt ein.12 Laubadère indes ließ sich von den Landauer Bürgern einmal wöchentlich militärische Nachrichten zutragen. Diese Informanten berichteten ihm auch über die Munitionswege der Preußen.13 Zugleich sendete er täglich sechs Uhr seinen Spionen ein Signal, das anzeigte, dass Landau nicht in der Gefahr sei, sich ergeben zu müssen.14 Dass Laukhard über diese geheimen Vorgänge Bescheid wusste, beweist, dass die Franzosen absolutes Vertrauen zu ihm gefasst hatten und ihn in die tägliche Arbeit in der belagerten Festung einweihten. Dadurch musste ihm auch zu Ohren kommen, dass die antiösterreichische Propaganda Gerüchte schürte, Österreich würde Gefangene als Sklaven an die Türkei schicken.15 Derlei Methoden sollten Soldaten davon abhalten zu desertieren. Um diese Feindpropaganda einzuschätzen, kann die Studie von Martin Wrede über die Feindbilder in der Publizistik der Frühen Neuzeit herangezogen werden, die zu dem Schluss kommt, dass bei der Verteidigung des Vaterlandes die Kombination des Freiheitsdiskurses mit der Frage der nationalen Identität zur Frontverschärfung beitrug.16 Aus der bis zum ›Renversement des alliances‹ 1756 bestehenden Erbfeindschaft, die über Jahrhunderte hinweg bestanden hatte, war in kaum vierzig Jahren noch längst keine Freundschaft entstanden. Die Ironie der Geschichte ließ die zur Be12 13 14 15

16

Vgl. ebd., S. 50f. Vgl. ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 147f. – Zu Kriegsgefangenschaft in der Frühen Neuzeit vgl. Lutz Voigtländer: Vom Leben und Überleben in Gefangenschaft. Selbstzeugnisse von Kriegsgefangenen 1757 bis 1814. Freiburg 2005. Vgl. Martin Wrede: Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg. Mainz 2004, S. 326ff.

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festigung jener Allianz geschlossene Ehe zwischen Ludwig XVI. und Marie Antoinette tragischerweise für beide auf dem Schafott der Monarchiekritiker enden, was für Habsburg ein wesentlicher Grund war, zu den Waffen zu greifen. Die alten Muster brachen wieder auf, und Friedrich Christian Laukhard konnte in der Festung Landau die französischen Vorurteile gegenüber Habsburg beobachten. Daran anknüpfend begann Laukhard nun einen alternativen Plan in die Tat umzusetzen und versuchte, die Kapitulation durch Wehrzersetzung zu erreichen. Laukhard erkannte die gute Versorgungslage in der Festung: Man aß in Landau weder Hunde noch Katzen und musste auch den Zwieback noch nicht anrühren, wie die Preußen es behaupteten.17 Demnach, so Laukhards Logik, musste ein frühes Ende der Belagerung durch psychologische Kriegführung herbeigeführt werden. Laukhard stellte den französischen Soldaten eine schlimme Zukunft in Gefangenschaft vor Augen, so dass sie bei General Laubadère um Kapitulation baten. Vergebens, denn dessen Patriotismus und seine Loyalität gegenüber der Revolutionsarmee verbot ihm solches – er soll nicht einmal die Briefe der Preußen entgegengenommen haben.18 Diese Kluft zwischen Generalität und Soldatenstand verursachte einen Aufstand der Soldaten in der Festung Landau.19 In dieser Situation wollten die Franzosen sich der guten Ortskenntnis Laukhards bedienen. Da er alle Schliche durch die deutschen Postenketten kannte, sollte er zum französischen General Lefebvre laufen und ihm die Lage Landaus darlegen. Laukhard hoffte auf Freiheit: Wenn er zu den Preußen gelangen konnte, hätte er ordnungsgemäß Bericht erteilen können; wenn er den Franzosen in die Hände gekommen wäre, hätte er den Kommandanten von seiner treufranzösischen Gesinnung überzeugen können. Aber Dentzel, der als einziger von Laukhards wahrer Identität als eingeschleuster Kundschafter wusste, wandte sich wegen dessen doppelter Loyalität dagegen. Laukhard wurde, wie er schrieb, auch in den folgenden Wochen nicht enttarnt. Die Besatzung der Stadt Landau endete zum Jahresende 1793, nachdem es am 22. Dezember gelungen war, die Moselarmee mit der Rheinarmee zu vereinigen. Infolge des französischen Sieges bei Weißenburg am 26. Dezember, der Schanzen und Verhaue zwischen Hagenau und Bergzabern in die Gewalt der Revolutionstruppen brachte, zogen sich Preußen und Österreicher von Landau zurück und waren nach zwei Tagen völlig von der Festung abgezogen. Nun wurde Laukhard in der Euphorie jener Tage von Doxon vor die freie Wahl gestellt, was er tun wolle. Dieses Angebot erschien ihm als große Befreiung, auch wenn ihm der Weg zurück zu den Preußen abgeschnitten war. So trat er als Deserteur in die französische Revolutionsarmee ein. In der Folge 17 18 19

Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. IV/1, S. 165. Vgl. ebd., S. 149–152. Über die internen Rivalitäten vgl. Jakob Hornbach: Kämpfe und Schlachten rings um den Westwall in den Jahren 1793 und 1794. Landau 1940, S. 37–42.

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wurde er sogar Mitglied der Sansculottes und zog ein »simplicianisches Jahr« durch das revolutionäre Frankreich.20 Nach einem Zwischenspiel als Soldat der Sansculottentruppen war er nach einer Verwundung im Duell unter anderem Krankenwärter im Hospital von Dijon und freier Sprachlehrer.

III. Das Nachspiel vor dem Wohlfahrtsausschuss Als er Dentzel unvorsichtigerweise einen Brief schrieb, machte Laukhard den Wohlfahrtsaussschuss auf sich aufmerksam, da Dentzel arretiert war. Laukhard kam in Toulon hinter Gitter und wäre »beinahe völlig überführt« worden, »das Werkzeug eines verräterischen Anschlags gegen die Republik zu sein«.21 Nach zweiunddreißigtägiger Haft wurde er mangels Beweisen freigesprochen. Dadurch vorsichtig geworden, befürchtete er, dass sein Briefwechsel mit Bispink geöffnet und höheren Ortes angegeben werden könnte.22 Mit Hilfe gefälschter Papiere kehrte er über die Schweiz in die Heimat zurück. Nach kurzen Aufenthalten als Korporal der Emigrantenarmee in Freiburg und der schwäbischen Kreistruppen in Offenburg traf er mit Zwischenstationen in sicheren Städten im Oktober 1795 wieder in Halle ein (siehe Karte S. 220). Oft reute ihn sein Landesverrat, und er nutzte die Veröffentlichung, um die deutschen Vorurteile gegenüber den Franzosen klarzustellen. Sein Frankreichbild war durch den achtzehnmonatigen Aufenthalt deutlich positiv gefärbt: Laukhard rühmte die überraschende Disziplin und Gesetzestreue und attestierte den Franzosen einen edlen Umgang mit ihm. Im Jahr des Friedens von Campo Formio, der das Ende des Ersten Koalitionskrieges markiert, bestieg der preußische Kronprinz als Friedrich Wilhelm III. den Thron. Laukhards Anstellungsversuche bei ihm blieben erfolglos – er gewährte Laukhard nicht einmal eine Audienz. Diese Enttäuschung muss umso schwerer gewogen haben, als Dentzel unter Napoleon Bonaparte zum General und unter den Bourbonen zum Marschall aufstieg. Laukhard hingegen musste sich wegen seines schlechten Rufes als Dorfpfarrer, Autor und Privatlehrer durchschlagen.

20 21 22

Richard Wilhelm: Friedrich Christian Laukhard – ein bemerkenswerter Wendelsheimer. Alzey 2002, S. 94. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. III, S. XIVf. Vgl. ebd., Th. IV/2, S. 133f.

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Abb. 6 Plan von Landau (Pfalz) und Umgebung Maßstab 1 : 10.800, Radierung aus dem Jahr 1793

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IV. Wäre Laukhard ein Spion gewesen? Laukhards Darstellung der Mission ist, wie im Folgenden gezeigt wird, insgesamt zweifelhaft. Er inszenierte sich als ein Spion und geheimer Unterhändler. Den Eindruck, dass er sich in seiner Darstellung der Geschichte schriftstellerische Freiheiten nahm, führt zu der Frage, ob seine Rolle den Ansprüchen an Spionage überhaupt genügt und wie seine Position zu bezeichnen ist, wenn man der Annahme folgt, dass diese Darstellung in den Laukhardschen Erinnerungen der Wahrheit entsprochen hätte. Mit seiner doppelten Instruktion der Informationssammlung und Kapitulationsaushandlung kann Laukhard nicht zur Gruppe der ›Spione‹ gerechnet werden, da Spionage die Ausspähung von Geheimnissen, insbesondere auf militärischem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet durch Spione, Agenten und Nachrichtendienste darstellt. Zu den Methoden der Spionage zählen keine Unterhandlungen, sondern Geheimhaltung und Zensur, Geheimschriften, Täuschung, Gerücht, Kriegslist, Verhör und Gehirnwäsche sowie Brieftauben.23 Letztere dienten in Ausnahmefällen zur Informationsstreuung, Kontaktaufnahme oder zum Beginn von Verhandlungsgesprächen. Das Aushandeln einer Kapitulation erfolgte stets in persönlichem Gespräch. Insofern wäre Laukhard als ›Parlamentär‹ in die Festung Landau geschickt worden, wobei seine Mission unüblicherweise heimlich erfolgte. Die Kenntlichmachung eines Parlamentärs mittels einer weißen Flagge war im 18. Jahrhundert bereits bekannt.24 Allerdings wurden diese Unterhändler von der kapitulierenden Seite aus geschickt. Dass die Belagerer in Laukhards Text ihrerseits die Kapitulation erkaufen wollten, entsprach einem unehrenhaften Angebot. Im Normalfall kämpfte eine Verteidigungsarmee bis zum Schluss, da eine Kapitulation gleichbedeutend mit der Entwaffnung und Hinrichtung durch den Eroberer bzw. die Sklaverei war. Die Bedeutung der Kodizes Ehre und Pflichterfüllung wurden jedoch, wie Ludolf Pelizaeus herausgearbeitet hat, je nach politischem Hintergrund den eigenen Bedürfnissen angepasst.25 Insofern hätte Laukhards Mission auch Erfolg haben können, wenn sein Gesprächspartner von weniger Patriotismus geleitet worden wäre. Jedoch hätte die Sendung Laukhards bei gründlicherer Lagebeurteilung nie stattfinden 23 24

25

Vgl. Max Gunzenhäuser: Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes. Frankfurt am Main 1968, S. 17. Die weiße Farbe – angelehnt an das christliche Symbol für Reinheit und Unschuld – wurde deshalb gewählt, um die Sichtbarkeit auch im Kampfgetümmel mit Pulverrauch zu gewähren. Die weiße Flagge gebot im Verständnis der militärischen Ehre ein sofortiges Ende aller Kriegshandlungen und das Feuereinstellen. Vgl. Ludolf Pelizaeus: Die zentraleuropäische Entwicklung der Begriffe »Ehre«, »Disziplin« und »Pflicht« im Spiegel von Militärschriftstellern und Reglements 1500–1808. In: Ulrike Ludwig, Markus Pöhlmann u. John Zimmermann (Hg.): Ehre und Pflichterfüllung als Codes militärischer Tugenden. Paderborn [u. a.] 2014, S. 31–45.

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dürfen, da die eigentlich nötige Vorprüfung durch Kundschafter die Entschlossenheit der Franzosen ans Tageslicht gebracht hätte, was die Idee einer solchen Mission von vornherein zum Scheitern verurteilt hätte. Insofern beruhte die Mission auf einer Fehlperzeption. Ungeachtet dieser fehlenden Aufklärungsarbeit im Vorfeld ist Laukhards Auftrag und die Art und Weise der Durchführung äußerst eigentümlich. In Krünitz’ Enzyklopädie von 1807 werden Spionen zwei unterschiedliche Delikte vorgeworfen: einerseits Feindbegünstigung, andererseits Bekanntmachung von Staatsgeheimnissen.26 Laukhards Mission ist keiner Rubrik zuzuordnen. Auch gemäß der Haager Landkriegsordnung von 1907, die auf früherem Gewohnheitsrecht fußt, ist Laukhard weder eindeutig als Spion noch als Parlamentär einzustufen: Als Spion gilt nur, wer heimlich oder unter falschem Vorwand in dem Operationsgebiet eines Kriegführenden Nachrichten einzieht oder einzuziehen sucht in der Absicht, sie der Gegenpartei mitzuteilen. Demgemäss sind Militärpersonen in Uniform, die in das Operationsgebiet des feindlichen Heeres eingedrungen sind, um sich Nachrichten zu verschaffen, nicht als Spione zu betrachten. Desgleichen gelten nicht als Spione: Militärpersonen und Nichtmilitärpersonen, die den ihnen erteilten Auftrag, Mitteilungen an ihr eigenes oder an das feindliche Heer zu überbringen, offen ausführen.27

Friedrich Christian Laukhard war zwar als Militärperson unter falschem Vorwand eingedrungen, besaß jedoch keine Uniform mehr und führte einen Mitteilungsauftrag aus. Die Kriterien für einen Parlamentär erfüllte er jedoch auch nicht: Als Parlamentär gilt, wer von einem der Kriegführenden bevollmächtigt ist, mit dem anderen in Unterhandlungen zu treten, und sich mit der weißen Fahne zeigt. Er hat Anspruch auf Unverletzlichkeit, ebenso der ihn begleitende Trompeter, Hornist oder Trommler, Fahnenträger und Dolmetscher. Der Befehlshaben, zudem ein Parlamentär gesandt wird, ist nicht verpflichtet, ihn unter allen Umständen zu empfangen. Er kann alle erforderlichen Maßregeln ergreifen, um den Parlamentär zu verhindern, seine Sendung zur Einziehung von Nachrichten zu benutzen. Er ist berechtigt, bei vorkommendem Mißbrauche den Parlamentär zeitweilig zurückzuhalten. Der Parlamentär verliert seinen Anspruch auf Unverletzlichkeit, wenn der bestimmte, unwiderlegbare Beweis vorliegt, daß er seine bevorrechtigte Stellung dazu benutzt hat, um Verrat zu üben oder dazu anzustiften.28

Da Laukhard sowohl die weiße Fahne wie auch die Signalgeber vermissen ließ und sich auch nicht offen zeigte, hat er wenig mit einem Parlamentär oder Unterhändler gemein. 26

27

28

Vgl. »Landes-Verrätherey«. In: Johann Georg Krünitz: Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Bd. 107 (1807), S. 420. Im Netz einzusehen unter http://www.kruenitz.uni-trier.de. Abkommen vom 18. Oktober 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (mit Ordnung), § 29–31. Im Netz einzusehen unter https://www.admin.ch/opc/de/classifiedcompilation/19070034/index.html (13.11.2016). Ebd., § 32–33.

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Offenbar wechselte er gemäß seiner Instruktion mehrfach die Rollen: Zunächst unter dem Anschein eines Deserteurs ins Lager gekommen, versucht er, Vertrauen zu gewinnen und bewahrt seine Scheinidentität, während er sich über die Gesinnung der Franzosen informiert. In dieser Lage handelt Laukhard eindeutig im Sinne seines Spionageauftrages. Sobald es zum Treffen mit Dentzel kam, offenbarte er diesem die Wahrheit, als geheimer Unterhändler geschickt worden zu sein mit dem Auftrag, eine unblutige Übergabe zu erkaufen. Somit wechselte Laukhard seine Identität und präsentierte sich als Parlamentär. Nachdem sein Kapitulationsvorschlag nicht verfing, hätte er stehenden Fußes von Dentzel zurückgeschickt werden können. Da er jedoch Gelegenheit gehabt hatte, für die Gegenseite wertvolle Informationen zu sammeln, musste er im französischen Lager bleiben und wählte daher einen anderen Plan. Dentzel stufte ihn mit gutem Grund nicht mehr als Unterhändler sondern als Spion ein, dem er – möglicherweise aus Gründen der früheren Freundschaft – die ihm zustehende Strafe erließ. Laukhard war nicht von Beginn an deutlich als Parlamentär aufgetreten, sondern hatte die französische Festungsbesatzung über seine wahren Absichten getäuscht, was ihm zahlreiche Erkenntnisse einbrachte, die Dentzel keineswegs nach außen dringen lassen durfte. Als Laukhard nun mit seinem – wahrscheinlich abgesprochenen – Alternativprogramm begann, die Moral der französischen Truppen zu untergraben, machte er sich des Verrats ganz bewusst schuldig und verlor seine Immunität. Diese ›indirekte Strategie‹ gehört zum Standardrepertoire der strategischen Kriegführung und geht auf den chinesischen General Sun Tsu (um 544 v. Chr.–496 v. Chr.) zurück.29 Wiederum hätte er in diesem Moment belangt werden können. Jedoch ist der Wert von geostrategischem Wissen allen Beteiligten bekannt gewesen und hat ihn vor der Hinrichtung bewahrt. Die Franzosen wollten Laukhard, »da er alle Schlichen« durch die deutschen Posten kannte, ihrerseits benutzen, um den General Lefebvre von den inneren Schwierigkeiten der Festung zu unterrichten. Abermals verhinderte Dentzel Laukhards Freigabe. Dadurch, dass er die wahre Identität Laukhards für sich behielt, machte er sich der Kollaboration schuldig. Er sah wohl, dass der spionierende ›Überläufer‹ eine Gefahr für die französische Armee war, aber seine geographisch-personellen Kenntnisse schätzte er im Wert noch höher ein und konnte darauf hoffen, dass das Geheimnis beider gewahrt blieb, da auch Laukhard ein vitales Interesse an der Geheimhaltung seiner Pläne besaß und Dritte bislang ausgeschlossen geblieben waren. Das Gespräch beider hatte offenbar tatsächlich unter vier Augen und ohne Mithörer stattgefunden. Damit das so blieb, hielt Dentzel sich von seinem früheren Freund fern, um sich nicht durch Vertraulichkeiten zu verraten. Doch dieses Geheimnis stand auf keinem festen Boden: Dentzels Position war gefährdet, die militärische Lage keineswegs eindeutig positiv für 29

Vgl. Albert Stahel: Klassiker der Strategie – eine Bewertung. Zürich 2004 (Strategische Studien, 6), S. 34.

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Frankreich. Dentzel spielte auf Zeit, und Laukhard bekam weiterhin die Möglichkeit, Informationen zu sammeln, um diese eventuell zurück in die eigenen Linien zu tragen, wenn der militärische Fortgang es wollte. Somit ist die Mission Laukhards als ein eigentümliches Zwitterwesen zwischen Spionage und Vermittlung zu verorten. Sie ist jedoch nicht als Kriegslist einzustufen, sondern eher als strategischer oder taktischer Feindnachrichtendienst zu bewerten, der sich auf die Erhebung, Verarbeitung, Analyse und Verbreitung von Erkenntnissen bezieht, die zur Herausformung militärischpolitischer Pläne erforderlich sind.30 Diese Unstimmigkeiten, die auf keine professionelle Kriegführung hinweisen, führen zu dem Schluss, dass die Beschreibung Laukhards nicht so dicht an der Realität war, wie er selbst glauben machte.

V. Gegendarstellung zu Laukhards Geschichte Die Frage, ob sich die von Laukhard stolz beschriebene geheime Mission tatsächlich so abgespielt hat, ist berechtigt. Es gibt andere Quellen, z. B. den Bericht des katholischen Pfarrers von Landau, Johann P. Ackermann (geb. 1738). Ihm ist mit einiger Wahrscheinlichkeit mehr Glauben zu schenken, da sich im 19. Jahrhundert zahlreiche Pfarrer um die Ortschroniken bemühten und dabei durchaus wissenschaftlich wertvolle Geschichtsforschung betrieben. Nach »unläugbaren« Augenzeugenberichten und französischen Druckschriften, die Ackermann bis 1805 sammelte und deren Quellen er auch in aller Bescheidenheit angibt,31 sandte man nicht einen Spion in die Festung Landau hinein, sondern versuchte, aus der Stadt heraus eine Nachricht zum Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte zu bringen. Dafür wählte man einen in Landau wohlbekannten Mann namens Schwenninger, dem keine Briefschaften für den Obergeneral mitgegeben wurden, sondern ein weißes Halstuch umgebunden wurde, auf dem die entsprechende Information über die Lage Landaus »aufgedruckt« war.32 Gleich hinter den Vorposten fiel er bei Godramstein in die Hände des Feindes und bekannte in Bechingen – eine Stunde vor Landau – sein Wissen und offenbarte das Geheimnis seines Halstuchs. Die Gegner fingierten eine Antwort des Obergenerals bei der Moselarmee und ließen sie in Mannheim auf einen Hemdkragen drucken, mit dem Schwenninger, zusätzlich ausgerüstet mit »vortrefflichen Reisepässen, als wenn er aus dem Hauptquartier der französischen Armee käme« diese Nachricht nach Landau trug.33 Laubadère soll ihn daraufhin erneut zu einem Emi30 31 32 33

Gunzenhäuser: Geschichte (wie Anm. 23), S. 11. Vgl. Ackermann: Geschichte (wie Anm. 11), Vorrede. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211.

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granten namens Louis Joseph Simoulin bei der französischen Armee geschickt haben, um eine Zusammenstellung der deutschen Zeitungsnachrichten für Dentzel zu organisieren. Es begann daraufhin ein Briefwechsel zwischen Simoulin und Dentzel mit Schwenninger als Bote, der durch die Postenketten zu dem toten Briefkasten an der Wirtsmühle ›Zum Kreuz‹ in Arzheim schleichen musste. Im zweiten Brief schrieb Simoulin, Dentzel werde als »gebohrener Deutscher […] doch die Sache der Deutschen verteidigen« und könne für eine Kapitulation in einigen Tagen 100.000 Gulden oder mehr sowie ein frei zu wählendes Amt erhalten.34 Laubadère habe gleiche Vorteile zu erwarten und solle bekannt geben, in welche »dritte Hand« die Summe zu übergeben sei. Als Laubadère nun Schwennigers Verhaftung befahl, versteckte sich dieser und wurde auf einer Heuscheune des Bürgers Eckel gefunden und verhört. Dieser Briefwechsel wurde Dentzel nun zum Verhängnis, da ihm Einverständnis mit dem Feind vorgehalten wurde und er sich kaum vom Verdacht der Verräterei reinwaschen konnte. Hätte nicht während der Verhöre die jakobinische Terrorherrschaft Robespierres geendet, wäre Dentzel möglicherweise noch gehenkt worden, so Laukhard in seinen Erinnerungen, denn die Guillotine sei stets mit dem Heer mitgereist, um als Abschreckungsinstrument und im Ernstfall zur Bestrafung von Verrätern zu dienen.35 Tatsächlich sind im Verlauf der Besatzung durch die militärische Gerichtsbarkeit mehrere Bluturteile gefällt worden, wobei neben Simoulin auch ein Unterleutnant Blanchard hingerichtet wurde, weil er »Landau dem Feind in die Hände spielen« wollte.36 Es ist deutlich, dass dieser Augenzeugenbericht die Geschichte Laukhards aus etwas anderer Perspektive berichtet. Der Autor geht in seinem 1805 erschienenen Geschichtswerk kaum auf Laukhard ein, indem er ihn als Gewährsmann für Dentzels republikanischen Charakter nennt und in wenigen Zeilen die Laukhardsche Mission zusammenfasst – allerdings mit der Einschränkung »wenn seiner Geschichte zu trauen ist«.37 Bezeichnend ist seine Einschätzung von Laukhards Werk: Wir würden auch dieses Vorfalls keine Erwähnung gethan, sondern dieselbe unter die Menge von Erdichtungen gesetzt haben, mit denen Lauckhards Buch bis zum Eckel angespickt ist, wenn nicht B[ürger; ASR]. Dentzel, der in Landau gegenwärtig ist und den wir förmlich darüber befragt haben, uns die Aechtheit derselben betheuert hätte.38

Danach wandte sich Ackermann an Laukhard und warnte ihn:

34 35 36 37 38

Ebd., S. 214. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. IV/1, S. 181. Vgl. Ackermann: Geschichte (wie Anm. 11), S. 250. Vgl. ebd., S. 50. Ebd., S. 121.

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Sollte Lauckhard dies Werckchen zu Handen bekommen, und sollte es ihm einfallen, uns darüber zur Rede zu stellen, dass wir ihn beschuldigen, sein Buch mit Erdichtungen und Unwahrheiten angefüllt zu haben, so rufen wir die ganze Landauer Bürgerschaft zu Zeugen auf, und machen uns anheischig, sie ihm der Reihe nach herzuzählen und als solche zu bewähren.39

Der Autor war sich seiner Bedenken also sehr sicher und maß Dentzels Beteuerungen keinen Wert bei, zumal dieser ein Verwandter Laukhards war. Vielmehr bezeichnet Ackermann den Schriftsteller als einfachen »preußischen Deserteur«, wie es viele von ihnen gab, die mit den Gefangenen im großen Saal des Kaufhauses einquartiert waren und die Freiheit genossen, frei herumzulaufen und sogar auf dem Wall spazieren zu gehen.40 Die Zweifel an Laukhards Darstellung sind wohl berechtigt, denn dieser hat in seinen Erinnerungen keine Beweise geliefert. Auch wie er die Informationen über Laubadères Spionagenetz einholte, hat er in seinen Erinnerungen nicht notiert. Ackermanns Kritik war nicht neu: So ist in einer zeitgenössischen Rezension zu Laukhards Buch zu lesen, dass »des Wahren und Irrigen in dieser Biographie fast gleich viel seyn möchte«.41 Paul Holzhausen hob 1908 nicht etwa den Mut hervor – wie bei der Geschichtsschreibung jener Zeit zu erwarten wäre –, sondern schrieb es fast spöttelnd dem Glück zu, dass Laukhard diese Mission überlebte: »Und er wäre fast selber dem Revolutionsdrachen zum Opfer gefallen, dieser ehrliche Deutsche, wenn nicht gute Freunde, die der fröhliche, leichtlebige Gesell allerorten zu finden das Glück hatte, in diesen Stunden höchster Not ihm beigesprungen wären.«42 Abschließend kann festgehalten werden, dass der Schriftsteller Laukhard wohl kaum tatsächlich selbst in geheimer Mission unterwegs war, um die friedliche Übergabe von Landau zu verhandeln. Seine Selbstinszenierung geht sogar so weit, dass er mit leichtem Schaudern beschreibt, welche Strafe ihm bei Entdeckung gedroht hätte: In Kehl seien vier entlarvte Spione hingerichtet worden, mit dem Schwert, mit dem Strang und zwei seien zu einem dreitägigen Spießrutenlauf durch 300 Mann verurteilt worden, starben aber schon nach dem sechsten Gang.43 Laukhards Bericht der Belagerung Landaus dient nicht nur der Unterhaltung, sondern in erster Linie der Selbstdarstellung des 39 40

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42

43

Ebd. Ebd. – Zu Deserteuren in der Frühen Neuzeit vgl. Ulrich Bröckling (Hg.): Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militärgeschichte der Neuzeit. Göttingen 1998. – Maria Fritsche (Hg.): Deserteure. Innsbruck 2008; Christine Hirsch: Deserteure. Vergessene Helden oder Erinnerte Verräter? München 2010. Allgemeine Literatur-Zeitung (Jena), Nr. 94, 2. April 1793, Sp. 14–16 (anonym). In: Christoph Weiß: Friedrich Christian Laukhard (1757–1822). Bd. 2: Kommentierte Bibliographie und Materialien. St. Inbert 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, 38), S. 186. Paul Holzhausen: Einleitung. In: Magister F. Ch. Laukhards Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben. Deutsche und französische Sittenbilder aus dem 18. Jahrhundert. Bearbeitet von Viktor Petersen. Einleitung von Paul Holzhausen. 5., unveränderte Aufl. Stuttgart 1908, Bd. 1, S. XIII. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 1), Th. IV/2, S. 224.

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ANNE-SIMONE ROUS

Autors und seiner Sehnsucht nach Reputation. Mit großer Wahrscheinlichkeit versuchte Laukhard, seine Desertion zu vertuschen, indem er in seinen Erinnerungen reale Vorgänge einer dichterischen Adaption unterzog und sich ins Zentrum der Geheimdiplomatie rückte. Eine spannende Geschichte ist ihm damit immerhin gelungen; eine Legende um seine Person ließ sich aber nicht weben, da bereits seine Zeitgenossen die Darstellung durchschauten. .

III. THEMATISCHE LEKTÜREN

MICHAEL MULTHAMMER

›Für feinere Leser ist der Vortrag nicht.‹ Zu den Autobiographien der ›Nonkonformisten‹ Edelmann, Laukhard und Seume

I. Schreiben Nonkonformisten ihre Lebensgeschichte anders? Das war die Ausgangsfrage, die sich im Anschluss an die Lektüre der in vielgestaltiger Weise wunderlichen und verwunderlichen Laukhardschen Aufzeichnungen stellte. Der Versuch darauf eine Antwort zu geben, wird sich dem Gegenstand aus mehrfacher Richtung annähern müssen und zunächst einige Unterscheidungen und begriffliche Klärungen notwendig machen. Im Folgenden wird also versucht werden, das Themengebiet einzugrenzen, die beiden titelgebenden Prädikate – ›autobiographisch‹ und ›nonkonform‹ – näher zu bestimmen und in eine sinnvolle Verbindung zu bringen. Erst in einem letzten Schritt werden die begrifflichen Bestimmungen anhand dreier Texte erprobt, wobei die Lebensbeschreibung Laukhards gerahmt werden wird durch das, was historisch im 18. Jahrhundert vorausgeht und was auf Laukhard folgen wird.

1. Rahmenbedingungen autobiographischen Schreibens im 18. Jahrhundert In einem ersten Schritt sind einige Präliminarien zu Begriffen und Methoden anzuführen. Keine der hier behandelten Schriften trägt den Begriff ›Autobiographie‹ im Titel: Johann Christian Edelmanns vom ihm selbst aufgesetzter Lebenslauf, angefangen den 9. November 1749 lautet der erste, F. C. Laukhards, vorzeiten Magisters der Philosophie, und jetzt Musketiers unter dem von Thaddenschen Regiment zu Halle, Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben, und zur Warnung für Eltern und studierende Jünglinge herausgegeben lautet der zweite, wohingegen sich der Titel der Schrift Seumes geradezu spartanisch ausnimmt. Sie ist schlicht überschrieben mit Mein Leben. Nun kann das nicht verwundern, Autobiographie ist (noch) kein Terminus des 18. Jahrhunderts, nichtsdestotrotz ist das Konzept autobiographischen Schreibens wie zu allen Zeiten in je eigener Form vorhanden. Es lässt sich in differenzierter Weise, mit unterschiedlicher Gewichtung einzelner Aspekte, füllen. Insofern ist der Begriff ›Autobiographie‹, trotz der nicht ganz einfachen For-

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schungslage als eine Sammelbezeichnung am unverfänglichsten.1 Bedient man sich der Sprache des 18. Jahrhunderts, so gilt es primär die Lebensbeschreibungen von der älteren Tradition der Memoiren zu unterscheiden.2 Die Memoirenliteratur stellt primär, verstanden in der wörtlichen Übersetzung, die ›Denkwürdigkeiten‹ eines Lebens heraus, also die öffentlichen, politischen und kulturgeschichtlichen Ereignisse, die es begleitet haben. Darunter fallen auch die Erinnerungen an berühmte Zeitgenossen, ob persönlich bekannt oder nicht, bleibt dahingestellt. Sie zielen auf ein allgemein wahrnehmbares Geschehen ab, das dadurch erzählenswert wird, dass es aus einer bestimmten Perspektive, der des Autors, neu konturiert wird. Was dabei den qualitativen Mehrwert bildet, kann sich durchaus unterschiedlich gestalten. Denkbar ist der Augenzeugenbericht als Moment der besonderen Intensität und Authentizität ebenso wie eine sprachlich besonders gelungene Darstellung der Ereignisse oder eine intime Einsicht in die Geschehnisse, die dergestalt ansonsten nicht wahrnehmbar wären.3 Eine affirmative Haltung zum Geschehen ist dabei keine notwendige Voraussetzung. Man könnte auch die Gruppe der persönlichen Reiseberichte unter diese Rubrik subsumieren, insofern sie nach ähnlichen Regeln der Nähe und Distanz zu den Geschehnissen operieren.4 Auch dort gibt es einen festen, unverrückbaren Teil in der Darstellung, der durch eine subjektive Komponente ergänzt wird. Ganz anders ist dies bei einer weiteren Textsorte, die ebenfalls dem Feld autobiographischen Schreibens zuzuordnen ist. Sie hat weniger äußere Umstände des Lebens, als die innere Entwicklung bis zu einem einschneidenden, das weitere Leben ferner bestimmenden singulären Ereignisses zum Gegen1

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Die Problematik des Begriffs und seine Reichweite bestimmen sich in erster Linie aus der Forschungstradition der Literaturwissenschaften, die die Darstellung von Individualität in den Mittelpunkt der Bestimmung rücken. Insofern wird meist konstatiert, dass vor der Mitte des 18. Jahrhunderts Autobiographien grundsätzlich unmöglich bzw. nicht vorhanden sind, da es an einem autonomen Subjekt mangele. Selbst neuere Einführungen in das Thema und Überblicksdarstellungen gehen ganz selbstverständlich von dieser Prämisse aus, so etwa Eva Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000. Zur Darstellung dieser Engführung siehe Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Köln, Weimar 2004, S. 59–94. Ein mögliches Lösungsangebot aus Sicht des Historikers gibt James S. Amelang: Saving the Self from Autobiography. In: Kaspar von Greyerz (Hg.): Selbstzeugnisse in der frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. Oldenburg 2007, S. 129–140. Die Begriffe ›Lebensgeschichte‹ und ›Lebensbeschreibung‹ sind gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch synonym, vgl. hierzu Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig 1796, Bd. 2, S. 1957. Die Begriffe haben sich, so hat es den Anschein, voneinander entfernt und differenzierten je eigene Bedeutungen aus. Heutzutage gesteht man jedem eine Lebensgeschichte zu, nicht jedoch eine Lebensbeschreibung. Zu denken wäre beispielsweise an die Teilnahme an intimen Gesprächsrunden oder einer exklusiven, bis dato nicht bekannten und veröffentlichten Korrespondenz. Vgl. Hans-Wolf Jäger: [Art.] Reiseliteratur. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. 3 Bde. Hg. von Jan-Dirk Müller [u. a.]. Berlin, New York 1997–2003, Bd. 3, S. 258– 261.

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stand. Die bekannteste und in der Frühzeit autobiographischen Schreibens häufigste Gruppe bilden dabei die Schilderungen von sogenannten Erweckungserlebnissen, die in der Regel in die Lebensgeschichte eingeschrieben werden. Sie sind nicht zu verwechseln mit den Bekenntnisschriften der verschiedenen Konfessionen, die nie vom Individuum ausgehen, sondern generell die Überzeugung einer sozialen Gemeinschaft repräsentieren.5 Werner Mahrholz sah in diesem aus dem Individuum (avant la lettre) entspringenden Typus, den er unter dem Begriff der ›Selbstbekenntnisse‹ zusammenfasste, einen direkten Vorläufer der modernen Autobiographie.6 Die Eckdaten, die er seiner Untersuchung zugrunde legt, scheinen dabei keineswegs willkürlich gewählt – von der Mystik bis zum Pietismus reicht der beschriebene Zeitraum. In beiden Fällen, für die eine religiöse Färbung konstitutiv ist, entspringt die Einsicht in das rechte Verständnis vom richtigen und guten Leben eher dem Einzelnen denn der Gruppe. Dieser Selbstbezüglichkeit, so hat es den Anschein, verdankt sich das massive Sendungsbewusstsein der Autoren. Die von ihnen in einem speziellen und singulären Moment erkannte Wahrheit soll über das Selbst hinaus Geltung erfahren. Wie groß die Reichweite dieser ›Wahrheit‹ jeweils war, muss am Einzelfall geprüft werden. Zweifelsohne aber ist diese Art von Selbstbekenntnissen dazu geeignet, einer Gemeinschaft, ausgehend vom Einzelnen, Identität zu verleihen, indem sie eine charismatische Führungspersönlichkeit zu legitimieren oder erst zu konstituieren vermag. Für einen immer nur begrenzten Rezipientenkreis wird Überzeugung so externalisierbar. Sie rechtfertigt das Vorgehen des Einzelnen und damit auch der Gruppe. Inwiefern diese Rechtfertigung Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen kann, ist für den Leser des 18. Jahrhunderts wohl eine bedeutendere Frage, als sie es für uns scheinen mag. Wir werden in der Bestimmung dessen, was unter Nonkonformismus zu verstehen sei, an diese Frage anschließen müssen. Eine Seite in der Darstellung von Lebensläufen blieb bislang unthematisiert. Befreit man biographisches Schreiben vom tatsächlichen Bezug zur Realität, zeitigt das Konsequenzen, die in unserem Zusammenhang weitere Kriterien zur Differenzierung beitragen können. Gerechtfertigt wird dieser Sprung in den Bereich fiktionalen Schreibens durch die nicht selten klar zu ziehenden Grenzen – gerade in den vermeintlichen Autobiographien. Auch wenn man das Thema der erzählerischen Verfälschung von Geschichte im Akt der Darstellung als ein Problem des Historikers hier beiseitelässt, muss man gewahr bleiben, dass im biographischen Erzählen im Falle der Identität von Autor und Erzähler, die fiktiven Momente konstitutiv bleiben und als ein 5

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Siehe hierzu Wilhelm Wittenbruch: [Art.] Bekenntnisschriften. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 11 Bde. Begründet von Michael Buchberger, dritte völlig neu bearb. Aufl. Hg. von Walter Kasper [u. a.]. Freiburg, Basel 1993–2001, Bd. 2, Sp. 179–184. Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin 1919.

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gestalterisches Mittel eingesetzt werden können. Dieser Möglichkeitsraum, die eigene Lebensgeschichte bewusst mit Übertreibungen und gekonnten Ausschmückungen zu garnieren, beherrschte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wohl niemand besser und mit größerem Erfolg als Friedrich von der Trenck (1727–1794). Seine Lebensgeschichte7 ist realiter schon abenteuerlich, trotzdem schreckte er nicht davor zurück, sie bis zur Absurdität in den Einzelheiten zu steigern. Der seiner Lebensgeschichte vorangestellte Titelkupfer mag hierfür ein erster Beleg sein. Von der Trenck ist der große König der Ausbrecher: ihm wurden später noch vielfach literarische Reminiszenzen zu Teil.8 Trenck selbst beharrt auf der Wahrhaftigkeit seiner Darstellungen, die ihm eine eigene Verteidigung seiner Lebensgeschichte wert ist. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung meldet sich der Freiherr zu Wort: Seit vielen Jahren ist wohl kein Buch in Deutschland mit mehr Beyfall und gütiger Nachsicht aufgenommen worden, als meine Lebensgeschichte. Der trockene Vortrag ungeschmückter Wahrheit gefiel, und es wurde merkwürdig, weil eben diese Wahrheit mir so wohl von der Wiener als Berliner Censur zu schreiben gestattet wurde […]. Bisher hat aber noch niemand Genugthuung von mir gefodert.9

Hier sieht man deutlich, wie Eigen- und Fremdwahrnehmung in der Rezeption auseinanderfallen, oder aber bewusst mit den Grenzen der Wahrheit gespielt wird. Ein »trockene[r] Vortrag ungeschmückter Wahrheit« sieht in jedem Falle anders aus als das von der Trenck in seiner Lebensgeschichte Gebotene. Die Gunst des Publikums war ihm dadurch nichtsdestoweniger gewiß, von der Kritik hingegen wurden seine Werke schon vor der Abfassung der Lebensgeschichte zerrissen. Stellvertretend können wir Friedrich Nicolai zu Wort kommen lassen, der in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek folgendes Urteil fällte:

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8 9

Friedrich von der Trenck: Des Friedrichs Freyherrn von der Trenck merkwürdige Lebensgeschichte. Von ihm selbst als ein Lehrbuch für Menschen geschrieben, die wirklich unglücklich sind, oder noch gute Vorbilder für alle Fälle, zur Nachfolge bedürfen. 4 Bde. Leipzig 1787– 1792. – Die Lebensgeschichte erlebte und erlebt bis zum heutigen Tag zahlreiche Neuauflagen und ist vielfach übersetzt. Der deutlichste Beweis für die Wirksamkeit ist vielleicht, dass sie einer Vielzahl von modernen Verfilmungen und Schmonzetten zugrunde liegt. Einen guten Überblick, frei von den historisch nicht immer korrekten Interpolationen der Verfilmungen, auch über die Zeit seiner Inhaftierung und den Tod auf der Guillotine im nachrevolutionären Paris gibt der Artikel in: Allgemeine Deutsche Biographie. Hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 38 (1894), S. 568–569. So bewundert noch Mark Twains Romanfigur Tom Sawyer Friedrich von der Trenck. [Friedrich von der Trenck:] Vertheidigung der Lebensgeschichte Friedrichs Freyh. von der Trenck. Nebst einigen Erläuterungen und Beyträgen von Ihm selbst geschrieben. Wien, Berlin 1788, S. 3f.

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Abb. 7 Friedrich Freiherr von der Trenck (1727–1794) in Ketten Kupferstich aus dem Jahr 1787 von Johann Ernst Mansfeld

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Nun scheint es hohe Zeit zu seyn, den Hrn. v[on]. T[renck]. zu erinnern, daß eine unglückliche Gefangenschaft niemals ein Recht gebe, zugleich in Prosa und in Versen ein schlechter Schriftsteller zu werden. Er hat die Gabe zu reimen, aber nicht, zu dichten. Die Gabe den Bogen vollzufüllen, aber nicht gut zu denken und gut zu schreiben. Er wird daher sehr wohl thun, wenn er das Schriftstellen ganz aufgiebt, weil er niemals dadurch Beyfall erlangen kann. Er ist nicht geschickt die Feder zu führen. Vielleicht hat er mehrere Talente den Degen zu führen. Es wird für ihn rühmlicher seyn, irgend einer Potenz in den vier Welttheilen, und sollte es auch der Prinz Heraclius seyn, seine Dienste anzubieten, als nach dem Ungemach eines 10jährigen Gefängnisses, noch das Ungemach einer verspotteten 4jährigen Autorschaft zu ertragen. Und vier Jahre können vielleicht seine Werke nicht einmal leben, sondern werden noch früher vergessen werden.10

Nicolai wurde eines Besseren belehrt, zumindest was die Einschätzung über das Fortleben der Schriften von der Trencks betrifft. Sie waren einer der Bestseller des ausgehenden Jahrhunderts. Ganz anders sieht es aber mit seinen Qualitätsansprüchen aus, die er an Dichtung, aber auch an die Schriftstellerei im Allgemeinen stellt. Ein paar Jahre im Gefängnis zugebracht zu haben, ist kein hinreichender Grund, dieses Erlebnis, wie einschneidend es für die Person auch gewesen sein mag, in Text zu überführen. Die Bedingungen für eine gelungene Narration sind vielschichtiger. Wir werden uns im Falle Laukhards ebenfalls fragen müssen, was denn überhaupt erzählens-, oder je nach Sichtweise, berichtenswert ist. Klar bestimmbar scheint hier indes die Position, von der aus Nicolai argumentiert. Das Selbst-Erlebte reicht nicht aus, wenn es nicht zugleich Anspruch darauf erhebt, ein exemplarisches und wichtiges Leben vorzustellen. Dies kann nur dadurch erfolgen, dass dem Erlebten in der Rückschau Sinn zugeschrieben wird und das Individuelle und damit die singulären Ereignisse in einen kausalen Zusammenhang gebracht werden. Mithin muss die Motivation des Erzählens oder Berichtens klar zu Tage treten. Das Leben muss in eine Lebensgeschichte überführt werden. Nicolai orientiert sich hier an der zeitgenössischen Romantheorie. Sie regelt die formalen und inhaltlichen Elemente, die als angemessener Ausdruck der »bürgerlichen Epopöe« zu gelten haben.11 Die 10

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Friedrich Nicolai: [Rez.] Trenck, F. Freiherr v.: Sämtliche Werke und Gedichte. Bd. 1. In: Allgemeine deutsche Bibliothek 17. Bd., 2. St. (1772), S. 549f., hier S. 550. – Nicolai scheint hier mit der Nennung des »Prinz Heraclius« auf eine zeitgenössische, im Jahre 1772 wohl aktuelle Begebenheit anzuspielen. Zwanzig Jahre später erscheint eine kurze Zusammenfassung: Kurze Geschichte des Prinzen Heraclius und des gegenwärtigen Zustandes von Georgien. Flensburg, Leipzig 1793. Als Verfasser ist Hermann Henrichs wahrscheinlich. Der Text verweist auf eine Zusammenstellung aus den Papieren eines französischen Adeligen, Graf Jako, der unter dem Pseudonym Elias Habesci publizierte. Schmeichelhaft ist diese gewünschte Verabschiedung von der Trencks nach Georgien also nicht. So begreift Johann Carl Wezel in der Vorrede zu Hermann und Ulrike die Aufgabe des Zeitalters erstmals mit diesem Begriff: »Der Verfasser gegenwärtigen Werkes war beständig der Meinung, daß man diese Dichtungsart dadurch aus der Verachtung und zur Vollkommenheit bringen könne, wenn man sie auf der einen Seite der Biographie und auf der andern dem Lustspiele näherte: so würde die wahre bürgerliche Epopöe entstehen, was eigentlich der

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Engführung von Roman und (Auto-)Biographie ist in den zeitgenössischen Überlegungen gegründet. Nunmehr hat die Darstellung von Begebenheiten im Roman zugunsten des Menschen zurückzutreten: »der Mensch und seine geschichtsbedingte Situation werden als Zentrum des Romans gesehen, alles Erzählen dreht sich um diese Achse; was den Helden bildet, ihn ausbildet – […] –, ist Mittelpunkt der Handlung; alle Episoden, Personen und Geschehniseinzelheiten sind auf diese Mitte ausgerichtet. Den wahllosen Variationen des Abenteuerromans wird damit auch theoretisch ein Ende gesetzt; […].«12 Man kann hieraus folgern: Selbst wenn das Leben sich als ein Abenteuer darstellt, so ist dessen Niederschrift vor den Ansprüchen der Zeit nicht allein dadurch gerechtfertigt. Die gesamte Komplexität dieses Phänomens füllt mittlerweile Bibliotheken und kann hier nicht annähernd zufriedenstellend wiedergegeben werden. Es soll aber auch vielmehr nur um ein Detail gehen, das am deutlichsten in Christian Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman aus dem Jahr 1774 artikuliert wird. Dort heißt es: Der Dichter hat in seinem Werke Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ordnen und zu verknüpfen. Diese müssen nun, nach den obigen Voraussetzungen, so unter einander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursach und Wirkung sind, woraus ein Ganzes entsteht, in dem alle einzelne Theile unter sich, und mit diesem Ganzen in Verbindung stehen, so daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist. Das Werk des Dichters muß eine kleine Welt ausmachen, die der großen so ähnlich ist, als sie es seyn kann.13

Und vice versa, möchte man hinzufügen, wenn man die Anforderungen von Seiten der Autobiographie betrachtet. Zur Darstellung soll nur kommen, was ebenfalls ein Ganzes bildet. Bildet insofern, als dass erst durch Bildung ein ›ganzer Mensch‹14 im Prozess des Lebens geformt wird. In diese Richtung zielen auch die Überlegungen Blanckenburgs selbst, wie Philip Ajouri zusammenfasst: »Der Protagonist soll nach Blanckenburg kein vollkommen tugend-

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Roman sein soll.« Johann Carl Wezel: Hermann und Ulricke. Ein komischer Roman. 4 Bde. Leipzig 1780, S. 5f. Bruno Hillebrand: Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit. Dritte, erweiterte Auflage Stuttgart 1993, S. 113. Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig, Liegnitz: Siegert 1774, S. 313f. Zur Verquickung von Romantheorie und Geschichtsschreibung siehe Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin [u. a.] 1996, S. 59–144. Eine Überblicksdarstellung zu Blanckenburgs Abhandlung gibt Jürgen Sang: Christian Friedrich von Blanckenburg und seine Theorie des Romans: eine monographische Studie. München 1967. Für den Bereich der Selbstbekenntnisse findet sich ebenfalls ein literarisches Pendant. Zu denken hierbei wäre an Romane, die ein Initiationserlebnis zum Gegenstand haben. Siehe hierzu einführend Michael Titzmann: Anthropologie der Goethezeit: Studien zur Literatur und Wissensgeschichte. Berlin 2011, S. 223–287. So der programmatische Titel eines wegweisenden Sammelbandes von Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart 1994.

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hafter Held sein. Vielmehr soll die Romanhandlung dem Leser gerade den Weg der Reifung des Protagonisten vor Augen führen. […] Der Schwerpunkt liegt also nicht auf dem vollendeten Helden, sondern auf dem Prozess dieser Ausbildung.«15 Einen vollendeten Helden oder Charakter braucht man am Ende doch. Das Leben wird vom Ende her gedacht, und letztlich entscheidet das Ergebnis des Lebens über die Würdigkeit, es zu erzählen. Die drei hier unter dem Stichwort des Nonkonformismus – auf das im nächsten Abschnitt weiter einzugehen sein wird – versammelten Autoren können diesen Status zumindest aus der Sicht weiter Teile der Gesellschaft nicht für sich beanspruchen. So spricht Ralph-Rainer Wuthenow sich bei der Klassifizierung von Laukhards Lebensbeschreibung auch für den Terminus »Memoirenliteratur von unten« aus. »Andere erzählen wie sie wurden, was sie sind, Laukhard hingegen zeigt, wie er nicht wurde, was er doch hätte werden können.«16 Es ist gerade die Aufzählung der versäumten Chancen einer Bildungsgeschichte. Vorerst bleibt es wichtig festzuhalten, dass einerseits bei bestimmten Zeitgenossen Laukhards sowie auch in der Forschung auf eine Perfektibilitätskonzeption im Sinne einer Höherentwicklung17 als Beschreibungsfolie zurückgegriffen wird, um den jeweiligen Schriften gerecht zu werden. Das bringt uns zum zweiten Punkt in der begrifflichen Problematisierung. Es gibt keine Geschichte der Autobiographie von Nonkonformisten. Oder anders formuliert: Kann ein Nonkonformist überhaupt eine Bildungsgeschichte im klassischen Sinne haben oder für sich reklamieren?

2. Wer oder was ist ein Nonkonformist? Plädoyer für eine Begriffsschärfung Hans Ulrich Gumbrecht hat konstatiert, dass Nonkonformismus vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts »noch nicht zu einer Lebenskonzeption geworden war, die man wählen und für die man sich entscheiden konnte.«18 Ohne diese These weiter zu belegen, stehen damit unausgesprochen zwei Sichtweisen im 15 16 17

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Philip Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Berlin 2007, S. 45. Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974, S. 169. Der Begriff ›Perfektibilität‹ ist mit Vorsicht zu genießen, kann er doch mitunter sich widersprechende Konzepte im 18. Jahrhundert bezeichnen. Gemeint ist hier nicht eine Perfektibilität im Sinne Rousseaus, die lediglich in potentia angelegt ist, sondern eine sich verwirklichende Entfaltung des menschlichen Selbst. Zur Unterscheidung der beiden Konzepte siehe Günther Buck: Selbsterhaltung und Historizität. In: Reinhardt Koselleck, Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973 (Poetik und Hermeneutik, V), S. 29–94, hier insbes. S. 33ff. Hans-Ulrich Gumbrecht: Paradigmenwechsel und Nonkonformismus – mehr als eine Tautologie. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 65. Jg., 9./10. H. (2011), S. 912–922, hier S. 913f.

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Raum, die wirkmächtig für ein in den Wissenschaften weit verbreitetes Verständnis von Nonkonformismus zu sein scheinen. Zum einen kann man sich des Verdachts kaum erwehren, dass der Begriff zu einem Modewort degeneriert, das seinen konkreten Inhalt in weiten Teilen eingebüßt hat. Nonkonformismus scheint vielmehr nur noch eine Haltung zu beschreiben, die, nimmt man sie ein, eine qualitative Zuschreibung impliziert: Nonkonformismus ist wünschenswert.19 Er steht für eine moderne Sicht auf die Welt, für ein InFrage-Stellen, für Kritik, Toleranz und eine Form von Ergebnisoffenheit. Es sind die Züge einer emphatisch verstandenen Neuzeit, die in die Moderne übergeht, die sich mit dem Begriff unweigerlich verbunden haben. Der zweite Aspekt in der Aussage Gumbrechts zielt auf eine zeitliche Komponente. Man kann sich zuerst in einer ohnehin pluralen Gesellschaft bewusst außerhalb deren Normen stellen. Das heißt auf der anderen Seite, dass als Nonkonformisten bezeichnete Personen oder Personengruppen in vor- und frühmoderner Zeit eine Rolle zugesprochen wird, die in der Zeit vorausweist. Sie sind die Pioniere, die frühen Träger und Vertreter einer sich erst noch zu konstituierenden Neuzeit und deren Gesellschaft. Das wirft unweigerlich eine Frage auf, die sich einer einfachen und eindimensionalen Antwort verweigert: Was haben Gruppen oder Personen, die sich aufgrund bestimmter Überzeugungen außerhalb der die Norm vertretenden Gesellschaft stellen, gemein? In einem ersten Schritt gilt es separate Konzepte von Devianz zu benennen: abweichen, zumal von nicht nur einer bestehenden Norm, kann man in vielerlei Weise. In der Soziologie hat sich das Konzept des ›Fremden‹ durchgesetzt, um die Grenzen der Gesellschaft in der Abweichung zu beschreiben.20 Auffallend bei diesem Konzept in soziologischer Sicht ist – gerade in Abgrenzung zu dem, was Nonkonformismus sein soll –, dass sich das Fremde immer aus einem Konglomerat von Eigenschaften und einer Person zugeschriebenen Überzeugungen konstituiert. Träger oder Vertreter einer singulären Abweichung von der Norm oder den Normen der Gesellschaft zu sein, reicht allein nicht aus, um sich der Gesellschaft zu entfremden oder von ihr als nicht zugehörig, also fremd, wahrgenommen zu werden. Ein ganzes Bündel an Eigenschaften erst vermag den »Fremde[n] als sozialen Typus« zu etablieren und ihn als solchen wahrzunehmen.21 Dass dabei die Funktion des ›Fremden‹ mehrfach und bisweilen gänzlich gegenteilig besetzt sein kann – von der dezidierten Ablehnung bis zur Faszination und Bereicherung – ist ein integraler Bestandteil des Konzepts. Sowohl positive als auch negative Züge des ›Frem19 20

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Der Titel des Merkur-Sonderheftes weist eindeutig in diese Richtung: »Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber es nur wenige sind.« Siehe hierzu Rudolf Stichweh: Der Fremde. Studien zu Soziologie und Sozialgeschichte. Berlin 2010. Stichweh versucht die Beschäftigung mit dem ›Fremden‹ als eine der Disziplinen der Soziologie zu rechtfertigen. So der Titel eines einführenden Sammelbandes mit klassischen Texten der Soziologie. PeterUlrich Merz-Benz, Gerhard Wagner (Hg.): Der Fremde als sozialer Typus. Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen. Konstanz 2002.

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den‹ tragen es.22 Das scheint aus der Sicht des Soziologen auch geboten, soll die Reichweite des Beschreibungsinventars doch eine möglichst breite Schicht der Phänomene abdecken. Aus Sicht des Historikers muss der Anspruch ein anderer sein. Ein über große Zeiträume hinweg reichendes Konzept verhindert den Zugriff oder verstellt in unangemessener Weise die Sicht auf die konkrete historische Begebenheit und die sie begleitenden Umstände. Diese Verselbständigung von Begrifflichkeit, die mehr und mehr zu integrieren vermag und Grenzen dort verwischt, wo sie besser bestehen bleiben sollten, hat der früh verstorbene Reformationshistoriker Bob Scribner in eindrucksvoller Weise an einem weiteren Phänomen der Devianz, dem Außenseiter, beschrieben.23 Er geht dabei von der Beobachtung des Phänomens in der neueren Geschichtswissenschaft aus: Zweierlei fällt in den neueren Diskussionen auf: einerseits die Ungenauigkeit mit der die Gruppen kategorial erfaßt werden, andererseits die Anwendung moderner sozialwissenschaftlicher Begriffe und Theorien zum besseren Verständnis des Außenseiterphänomens. Die Analyse wird jedoch zunehmend differenzierter durchgeführt, wobei anthropologische Begriffe wie ›Tabu‹ oder Theorien des abweichenden Verhaltens und der Kriminalisierung zugrundegelegt werden. Dabei wurde wenig darüber nachgedacht, inwieweit solche sehr stark auf Verhältnisse der modernen Gesellschaft zugeschnittenen Theorien auf das späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit übertragbar sind, ganz zu schweigen von der analytischen Zulänglichkeit der Theorien selbst.24

Gerade im Zuge der verstärkten Auseinandersetzung mit dem Phänomen des ›Außenseiters‹ – es wurde zu einem Gegenstand mit Dignität in den Geschichtswissenschaften25 – verschärft sich das Problem. »Die Vielfalt der Einund Ausgrenzungen stellt ein Problem der Analyse dar, wie auch ihre Uneinheitlichkeit und zeitliche Veränderbarkeit.«26 Wir haben es also mit mindestens drei Faktoren zu tun, die eine klare Festlegung dessen, was als deviant angesehen wird, bestimmen müssen. Zum einen eine diachrone Perspektive, des Weiteren eine lokale (und damit bezogen auf die Frühe Neuzeit immer auch eine konfessionelle) und schließlich eine, die den Ort der Beteiligten in 22

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Eine Übersicht über die Reichweite des Konzepts des ›Fremden‹ findet sich bei Alois Hahn: Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Walter M. Sprondel (Hg.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann. Frankfurt am Main 1994, S. 140–163. Bob Scribner: Wie wird man Außenseiter? Ein- und Ausgrenzung im frühneuzeitlichen Deutschland. In: Norbert Fischer, Marion Kobelt-Groch (Hg.): Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. FS für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geb. Leiden, New York 1997, S. 21–46. Ebd., S. 22. Siehe hierzu den Überblick aus der Mitte der 1990er Jahre von Robert Jütte: Mythos Außenseiter. Neuerscheinungen zur Geschichte der sozialen Randgruppen im vorindustriellen Europa. In: IUS COMMUNE. Zeitschrift für europäische Rechtsgeschichte XXI (1994), S. 241–266. Seither hat das Phänomen der Beschäftigung mit diesem Forschungsgegenstand eher zu als abgenommen. Scribner: Aussenseiter (wie Anm. 23), S. 24.

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ihrem Verhältnis zur Gesellschaft kennzeichnen. »Demzufolge war die Wahrnehmung von Außenseitern zu jedem Zeitpunkt vielschichtig und fließend. Es ist also die Aufgabe der historischen Analyse, eine Ordnung in diesem Wirrwarr zu erkennen.«27 Ordnung aber setzt in einem ersten Schritt Differenzierung voraus.28 Gleiches darf man wohl auch für den gesamten Bereich des Nonkonformismus annehmen. Auch hier gilt es zunächst zu differenzieren und dann zu ordnen. Als eine nicht unwichtige Grundvoraussetzung sollten man sich dabei stets vor Augen führen, dass die hier behandelten Autoren aus der – modern gesprochen – Mitte der Gesellschaft kamen und nicht schon seit jeher ausgeschlossen waren.29 Eine der vordringlichsten Aufgaben muss demnach darin bestehen, die Entwicklung oder vielleicht besser Entfremdung der Protagonisten und ihr eigenes Verhältnis dazu nachzuzeichnen. Barbara MahlmannBauer hat jüngst versucht, sich dieser möglichen Diversität mit der Bestimmung einer Reihe von wiederkehrenden Typen zu nähern. Diese Einteilung nach bestimmten Eigenschaften oder Besonderheiten im Verhalten erinnert an das von Vladimir Propp in seiner Morphologie des Märchens (1928) entwickelte Schema von Aktanden, die eine je eigene Ausprägung der Handlungsorientierung vorstellen. Die Grenzen dieses Modells sind jedoch eng gesteckt30 – die Typen sollen ahistorisch gedacht werden und verlieren so zwangsläufig den Bezug zur je unterschiedlichen historischen Situation, in der sie sich bewegen.31 27 28

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Ebd. Scribner stiftet diese Ordnung, indem er die Seite wechselt. Der Blick richtet sich nicht mehr aus der Sicht der Außenseiter auf die Gesellschaft, sondern er lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Bedingungen einzelner Gesellschaftsschichten, die er als enge Gemeinschaften begreift, und deren Kriterien für eine Aufnahme in dieselbe. Welche Bedingungen muss man also erfüllen, um beispielsweise Mitglied einer Zunft oder einer Glaubensgemeinschaft zu werden. Erst in einem zweiten Schritt werden für die separaten Gemeinschaften übergeordnete Kriterien erarbeitet, die sie teilen. Dabei kommt es zu Überschneidungen, die aber nicht per se Ausschlusskriterien darstellen. Außenseitertum ist bei Weitem leichter erblich als eine Zuschreibung nonkonformen Verhaltens. Zu denken wäre beispielsweise an die unehrlichen Berufe, die meist vom Vater auf den Sohn übergeben wurden. So betont auch Roland Barthes, dass »Propp nicht so weit [ging], die Protagonisten aus der Analyse [der Erzählung] auszuscheiden, sie allerdings auf eine einfache Typologie [reduzierte], die nicht auf der Psychologie gründete, sondern auf der Einheit der Handlungen, die ihnen die Erzählung zuwies (Geber der Zaubergegenstands, Helfer, Bösewicht usw.).« Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1988, S. 102–143. Gerade im Hinblick auf die Ausblendung jeglicher psychologischen Komponente entsteht ein Mangel in der Beschreibung von sogenannten Nonkonformisten, den man sich nicht leisten sollte. Wichtige Anregungen zu diesem Konzept verdanke ich dem Vortrag »Sebastian Castellios Basler Netzwerke. Mit einem Vorschlag zur Typologie religiöser Non-Konformisten« von Barbara Bauer-Mahlmann (Bern), den sie 2010 auf einer von Martin Schmeisser und Friedrich Vollhardt (München) veranstalteten Tagung zum Thema ›Religiöser Nonkonformismus und frühneuzeitliche Gelehrtenkultur‹ gehalten hat.

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Dabei ist der Begriff des ›Nonkonformismus‹ selbst ein historisch in der Frühen Neuzeit greifbarer, mithin ein Begriff mit dezidierter Semantik in der Zeit. Doch bevor wir diesen näher zu bestimmen suchen, ist ein kurzer Überblick dessen, was die Forschung mittlerweile mit dem Begriff belegt oder vielleicht auch nur assoziiert, geboten – die Spanne ist dabei weit. Wir alle operieren mit relativ eingängigen Konzepten von Nonkonformismus für den Zeitraum des 18. Jahrhunderts. Religiöse Abweichler gehören ebenso dazu wie Republikaner, Libertins, Schwärmer oder Mitglieder von Geheimbünden. Die Liste ließe sich ohne Weiteres erweitern. Jeglicher Verstoß gegen die allgemein sozial anerkannten Normen lässt sich als ein Phänomen nonkonformen Verhaltens beschreiben. Gerade in den Geschichtswissenschaften ist der Fokus auf ein abweichendes Verhalten der Protagonisten ein beliebtes Selektionskriterium. Der (Literatur-)Historiker nimmt dabei allerdings nur in Teilen die gleiche Perspektive wie die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts ein. Nonkonformismus ist das – so darf man heute oftmals glauben, was entweder die Mehrheit der Bürger, die Orthodoxie oder der Staat dafür erklärt. Folgt man dieser Auffassung, so muss man sich auf die Suche nach normativen Setzungen begeben, weniger nach konkreten Sanktionen in historischen Situationen. Nichtsdestotrotz möchte ich dafür plädieren, den zweiten der genannten Wege einzuschlagen, wenngleich das vielleicht nicht immer die einfachere Variante in der konkreten Beschreibung darstellt. Die Vorteile allerdings rechtfertigen den Aufwand. Am deutlichsten lässt sich dieser Umstand anhand der Begriffsgeschichte des Nonkonfomismus darstellen. Die ursprüngliche Bedeutung war klar umgrenzt und ein Instrument der Sanktion. Dafür allerdings muss man den europäischen Kontinent verlassen und sich nach England orientieren, genauer gesagt in die Zeit des ›Act of Uniformity‹. Der Eintrag in der Encyclopaedia Britannica gibt Aufschluss über die ursprüngliche Bedeutung: Nonconformist, also called Dissenter, or Free Churchman, any English Protestant who does not conform to the doctrines or practices of the established Church of England. The word Nonconformist was first used in the penal acts following the Restoration of the monarchy (1660) and the Act of Uniformity (1662) to describe the conventicles (places of worship) of the congregations that had separated from the Church of England (Separatists). Nonconformists are also called dissenters (a word first used of the five Dissenting Brethren at the Westminster Assembly of Divines in 1643–47). […] The term Nonconformist is generally applied in England and Wales to all Protestants who have dissented from Anglicanism – Baptists, Congregationalists, Presbyterians, Methodists, and Unitarians – and also to independent groups such as the Quakers, Plymouth Brethren, English Moravians, Churches of Christ, and the Salvation Army. In Scotland, where the established church is Presbyterian, members of other churches, including Anglicans, are considered Nonconformists.32

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Im Netz einzusehen unter http://www.britannica.com/EBchecked/topic/417591/Nonconformist (13.03.2016).

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Zunächst wird mit dem Begriff ›Nonkonformisten‹ eine Gruppe zusammengefasst, die sich der Unterordnung unter ein bestimmtes, von der Regierung erlassenes Gesetz die Religion betreffend verweigert. Nonkonformisten sind demnach in einer ersten Zuschreibung diejenigen Personen, die sich dem verbindlichen und einzig gültigen, vorgeschriebenen Ritus verweigern. Wir haben es hier also mit einer Ausgrenzung von Rechts wegen zu tun, die keinerlei Implikationen einer gesellschaftlichen Sanktion beinhaltet. Hier greift allein der Staat ein, indem er sein Recht auf die verbindliche Festlegung einer Staatsreligion ausspielt, der sich die Untertanen fügen müssen. Moralische Aspekte oder Zuschreibungen sind damit nicht verbunden. Die polemische Verwendung als Kampfbegriff vollzieht sich erst in den folgenden Jahren – vor allem im Medium des Flugblattes – und damit einhergehend eine moralische Aufladung des Begriffs mit einer negativen Konnotation. Erst in dieser Form erreicht der Begriff das kontinentale Festland und wird übertragen auf religiöse Splittergruppen, ebenfalls in Deutschland. Für die weitere Verwendung des Begriffs sowie des Konzepts sind wohl protestantisch-orthodoxe Vorstellungen in Anschlag zu bringen. Das ursprünglich katholische Dogma »Extra ecclesiam nulla salus« blieb im Protestantismus wirksam und bildete die Grundlage zur Bekämpfung der ›Novatores‹ im 17. Jahrhundert. Die ›Neuerer‹ stellten sich ebenso außerhalb der kirchlichen Familie wie es die ›Nonconformists‹ und ›Dissenters‹ in England taten. Auch hier gab es (Wieder-)Täufer, Unitarier, Antitrinitarier und den radikalen Flügel des Pietismus. Die Übernahme der Begrifflichkeiten kann insofern nicht verwundern, die historischen Voraussetzungen des Phänomens waren längst auf dem Kontinent gegeben – zuvor allerdings noch unter anderem Namen. Es gilt noch einmal auf die Konsequenzen zurückzukommen, die dieses Konzept immer auch mit beinhaltet. Wenn außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft (und damit ist die Orthodoxie und ihre Deutungshoheit gemeint) kein Heil möglich ist, hat das weitreichende Auswirkungen auf die Vorstellungen eines Bildungsweges des Menschen. Nicht zuletzt der richtige Glauben ist bestimmend für eine gelungene und auf Gott ausgerichtete Lebensführung. Das wiederum bedeutet aber ferner – das ist eine bekannte und in vielen Bereichen beobachtbare Gedankenfigur in der Frühen Neuzeit –, dass moralische Integrität der Person an ihre Rechtgläubigkeit zwingend gebunden ist. Wer nicht recht glaubt ist moralisch diskreditiert, ganz gleich wie sich seine tatsächliche Lebensführung selbst darstellen mag. Die Baylesche Vorstellung eines ›tugendhaften Atheisten‹ ist noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus keine allgemein annehmbare Position.

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3. Das Nonkonforme als das Allgemeine? Überlegungen zu einer überraschenden Relation Diese begrifflichen Vorüberlegungen sagen natürlich wenig bis nichts über die Selbstwahrnehmung der einzelnen, von uns so bezeichneten Nonkonformisten aus. Wird man aber gerade den Autoren, die man zum Lager der Nonkonformisten zählen würde, gerecht, wenn man ein Perfektibilitätskonzept unterstellt und jeweils daran ein Scheitern oder Gelingen des Lebens bemisst? Man muss einen anderen Zugang finden, um eine Geschichte der nonkonformistischen Autobiographie zu schreiben. Eine erste Hypothese könnte sein, dass man Nonkonformisten auch anhand ihrer autobiographischen Schriften selbst als solche müsste ›überführen‹ können. Denn wenn ein Nonkonformist sein Leben schreibt bzw. erzählt, so muss er – der Logik des Genres entsprechend – einen viel höheren Legitimationsaufwand betreiben, warum seine, in den Augen der großen Mehrheit ja gerade nicht vorbildliche Geschichte trotzdem zu erzählen sei. Man müsste wenigstens im Vorwort eine eingehendere Rechtfertigung der einzelnen Autoren finden, die ihr Leben, wenngleich nicht als exemplarisch, so doch als erzählenswert erachten. Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Der zeitgenössischen Auffassung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zufolge muss das einzelne Leben auf ein Allgemeines verweisen. Wie kann ein radikaler Aufklärer, Republikaner, Religionsspötter – ein Nonkonformist – oder wie immer man ihn letzten Endes nennen möchte, für sich und für sein Leben ein Allgemeines beanspruchen. Das Nonkonformistische als das Allgemeine? Eine contradictio in adjecto! Allem Anschein nach aber geschieht genau das, zumindest wenn man auf die formalen Bedingungen der Autobiographie zurückgreift. Zwar finden sich Erklärungen und Erläuterungen, Beteuerungen und Rechtfertigungen zu Beginn der hier besprochenen Autobiographien allesamt, aber das ist nichts Außergewöhnliches. Es gehört zur Gattungskonvention, oder vielleicht vorsichtiger formuliert, zu den Spielregeln einer sich konstituierenden Gattung. Alle rechtfertigen, warum gerade ihr Leben denn einer ausführlichen Beschreibung wert wäre. Goethe in Dichtung und Wahrheit, Salomon Maimon in seiner LebensGeschichte (1792–1793) und viele weitere wären zu nennen, lediglich Heinrich Jung-Stilling setzt medias in res ein. Als ein, meiner Meinung nach repräsentatives Beispiel, sei hier ein Ausschnitt aus der Vorrede vom zweiten Teil der Lebensbeschreibung Salomon Maimons zitiert, die Karl Philipp Moritz herausgegeben hat: Es ist nicht nur eine Autorgrimasse, wenn ich dir sage, wie sehr ich abgeneigt war, diese Lebensgeschichte zu schreiben, nicht eben deßwegen, weil ich glaubte, dass es nur grossen Männern von Titeln und Range zukömmt, von den Staatsaffairen, worinn sie in ihrem Leben verwickelt waren […] der Welt Rechenschaft zu geben.

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Auch das niedrigere Leben ist einer Darstellung wert, insbesondere wenn es gerade nicht die herausragenden Leistungen einer Person vorstellt. Maimon grenzt sich explizit von solch einer Memoirenliteratur ab. Die wahre Ursache also, die mich davon abhielt, ist keine andere als das Bewusstsein meines Unvermögens, die Vorfälle meines Lebens die an sich in psychologischer, pädagogischer und moralischer Rücksicht interessant und lehrreich genug seyn möchten, so darzustellen, als es diesen Zwecken gemäß ist.33

Die Probleme, die Maimon hier anspricht, gehen an die Substanz des Genres: Wie kann man sein Leben so beschreiben, dass ein psychologisch stimmiges Bild dargeboten wird, so dass den Ansprüchen sowohl an die Pädagogik wie auch an die Moral Genüge getan wird? Was im Bereich des Romans kein Problem darstellt, zu denken wäre an das Hauptwerk seines Herausgebers, Anton Reiser (1786–1790), wird bei Schilderung der realen Existenz zu einem. Die Momente des ›delectare et prodesse‹ können im eigenen Leben an vielen Stellen nur ungenügend motiviert werden. Man könnte sagen, dass die angestrebte Authentizität diesen im Wege steht. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass in der Forschung oftmals Anton Reiser als autobiographische Schrift herangezogen wird, sie erfüllt in einem deutlich höheren Maße die Vorstellung von der Gattung bzw. die Erwartungen, die an selbige herangetragen werden. Greift man den Problemzusammenhang von einer anderen Seite an, kann man ebenso fragen: Wie kann man die Ansprüche des Allgemeinen mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit in Einklang bringen? Das führt zu einem dritten und letzten Vergleichspunkt: dem der Authentizität. Dabei sind drei Punkte zu beachten: (1) Erstens, stimmt es überhaupt, was uns die Schreiber in ihrer Autobiographie mitteilen, oder mit Carl Friedrich Bahrdts Worten, wird die Person tatsächlich ›in puris naturalibus‹ vorgestellt? (2) Der zweite Punkt betrifft die Auswahl der Geschehnisse. Welche Begebenheiten werden mitgeteilt und welche werden verschwiegen?34 Und wie ist diese Auswahl möglicherweise motiviert. Sollen die Ereignisse, gerade im Hinblick auf die hier behandelten Nonkonformisten, unterhalten oder belehren? So stellt sich beispielsweise die Frage nach der Funktion einer Laukhardschen Bordellbeschreibung. Soll sie schockieren oder warnen? Welche Rolle spielt Öffentlichkeit? Was wird bewusst öffentlich gemacht? Ist damit ein jeweiliger Zweck verbunden? Welche Begebenheiten werden aus dem Untergrund preisgegeben,35 in dem sich die Protagonisten bewegen? Kommt ein 33

34 35

Salomon Maimon’s Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben und herausgegeben von Karl Philipp Moritz. Zwei Theile, Berlin 1792–1793, hier Th. 2, Vorrede, o. p. – Siehe hierzu auch Klaus L. Berghahn: Grenzüberschreitungen: Von Polen nach Preußen, von Maimonides zu Kant, vom Judentum zur Aufklärung. Anmerkungen zu Salomon Maimons Lebensgeschichte. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen 1998, S. 71–90. Siehe hierzu ausführlicher den folgenden Beitrag von Andrew McKenzie-McHarg. Zum Begriff des ›Untergrundes‹ siehe jetzt Martin Mulsow (Hg.): Kriminelle – Freidenker – Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Köln [u. a.] 2014.

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besonderes ›Wissen‹, das sich diesem Leben im Untergrund verdankt, offen zur Darstellung oder grundiert es lediglich die Erzählung des eigenen Lebens? Mithin: Ist ein Leben im Untergrund überhaupt erzählbar, ohne Geheimnisse preiszugeben? Und inwiefern steckt Kalkül hinter diesem Vorgehen? Diese Fragen wurden in der Forschung bisher weitgehend übergangen. Als Beispiel sei hier eine Einschätzung Klaus-Detlef Müllers, wiederum bezogen auf die Laukhardschen Bordellbeschreibungen, eingerückt: Ebenfalls auf bestimmte Lesererwartungen dürften die systematischen Aufzeichnungen über das Bordellwesen in den einzelnen Universitätsstädten spekulieren, ein Thema, bei dem er [d. i. Laukhard; MM] sich auch in den folgenden Bänden um eine gewisse Vollständigkeit bemüht.36

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass der geneigte Leser ein auf Vollständigkeit zielendes Bordellverzeichnis der Universitätsstädte in einer Lebensbeschreibung erwartet. Dieser Einschub vermag die Notwendigkeit für eine Sensibilisierung dessen, was erzählt wird, illustrieren. (3) Der dritte Punkt, der sich mit dem Begriff der Authentizität verbindet, ist der wahrscheinlich am schwierigsten zu bestimmende. Alle autobiographischen Werke haben einen unterschiedlichen Grad an Literarisierung, wie in der Forschung allseits bemerkt wurde. Wie man allerdings mit dem Changieren zwischen Dichtung und Wahrheit umgehen könnte, dazu fehlen bislang die nötigen methodischen Mittel und Begriffe.37 Es ist daher dringend geboten, sich drei Leitfragen zu vergegenwärtigen, wenn man den Charakter der hier im Fokus stehenden autobiographischen Texte und ihre Verbindung zum Phänomen des Untergrunds anschaulich machen möchte: Was wird erzählt, wie verhält sich das Erzählte zum Konzept der Perfektibilität und wie glaubhaft ist die Schilderung?

II. Der Durchgang durch die Texte erfolgt im Folgenden chronologisch, also von Edelmann über Laukhard zu Seume. Es soll dabei versucht werden, die These 36

37

Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 190. Bei Laukhard befinden wir uns diesbezüglich in einer komfortablen Lage, die eine eigene Untersuchung verdienen würde. Neben seiner Lebensbeschreibung haben wir Laukhards Romane, die auf Episoden seines eigenen Lebens gründen. Ein Abgleich dieser beiden unterschiedlichen Darstellungsweisen kann hier nicht geleistet werden, verspräche allerdings, nach einer ersten kursorischen Sichtung des Materials (allen voran der Roman Eulenkappers Leben und Leiden; eine tragisch=komische Geschichte. Halle 1804, der Laukhards Erlebnisse während seiner Gießener Studentenzeit thematisiert) weitreichende Ergebnisse. Siehe hierzu auch Christoph Weiß: Friedrich Christian Laukhard (1757–1822). 3 Bde. St. Ingbert 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, 38).

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zu erhärten, dass der Untergrund, zumindest was freigeistiges Gedankengut im religiösen Rahmen angeht, als ein Übergangsphänomen verstanden werden muss, das sich spätestens schon mit Laukhard in einem Prozess der Auflösung befindet. Die Lebensbeschreibungen von Nonkonformisten können als Gradmesser dafür dienen, was aus dem Untergrund an die Oberfläche dringen kann und was nach wie vor besser unter Verschluss gehalten wird. Johann Christian Edelmann, geboren 1698 und gestorben 1767, ist wohl der verruchteste deutsche Freigeist und Religionsspötter in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der junge Lessing etwa bemüht bei einer Einschätzung des Charakters La Mettries und dessen auf dem Grund des Materialismus fußenden Ketzereien in einem Brief an seinen Vater genau jenen Edelmann: »Edelmann ist ein Heiliger gegen ihn«, schreibt er.38 Edelmann war der bekannteste Religionsspötter in Deutschland und insofern als Vergleichsgröße prädestiniert. Er gehört zweifelsohne in die erste Riege der deutschen Freigeister in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nur allzu oft konnte er sich einer Verhaftung entziehen. Leib und Leben waren bei seinen zahlreichen Fluchten nicht selten aufs Äußerste gefährdet. In seiner 1752 fertiggestellten und erstmals 1849 posthum von Carl Rudolph Wilhelm Klose – selbst gute achtzig Jahre nach Edelmanns Ableben nicht ohne Skrupel – veröffentlichten Selbstbiographie zeichnet Edelmann seinen mühseligen und langwierigen Weg vom ›Homo Religiosus‹ (Annegret Scharper39) bis zum Deisten nach. Aus der Eigenperspektive Edelmanns kann man seine Lebensgeschichte durchaus als Bildungsgeschichte lesen. Es ist die Geschichte seiner religiösen Emanzipation, die ihn von der lutherischen Orthodoxie über den Radikalpietismus zu ersten rationalistischen Überzeugungen führte. Dem folgte in Edelmanns Sinnsuche ein Abstecher zu den Gichtelianern bis ihm Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie die Augen öffnete. Mit seiner späten, weil immer bewusst vermiedenen Spinoza-Lektüre brach Edelmann endgültig mit dem Christentum, dem »Aberglauben, [...] unter der scheinbaren Masque der Religion«.40 Zu diesem Zeitpunkt erschienen seine großen bibelkritischen Werke – der Moses mit aufgedecktem Gesichte in mehreren Bänden –, er selbst war bei seiner Sinnsuche zu einem versöhnlichen Ende für sich gekommen.41 Dass sein Leben aber weiterhin von Turbulenzen heimgesucht wurde und er teil38

39 40

41

Gotthold Ephraim Lessing: Brief an den Vater vom 2. November 1750. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Winfried Barner [u. a.]. Frankfurt am Main 1985– 2003, Bd. 11/I, S. 28–32, hier S. 32. Annegret Schaper: Ein langer Abschied vom Christentum. Johann Christian Edelmann (1698–1767) und die deutsche Frühaufklärung. Marburg 1996, S. 5. Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie. Geschrieben 1752. Hg. von Carl Rudolph Wilhelm Klose. Berlin 1849, S. 350. – Auch als Faksimile mit einer Einleitung von Walter Grossmann (Stuttgart-Bad Cannstatt 1976) erhältlich. Die beste und ausführlichste Darstellung der Philosophie Edelmanns und ihrer Grundlagen bietet Hermann E. Stockinger: Die hermetisch-esoterische Tradition unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse auf das Denken Johann Christian Edelmanns (1698–1767). Hildesheim [u. a.] 2004.

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weise sogar in den Untergrund abtauchen musste, versteht sich bei der Radikalität seiner Gedanken. Beinahe alle seine Schriften landeten auf dem Index oder wurden gleich vom Henker verbrannt, so noch 1750 in Frankfurt am Main. Just zu der Zeit aber, als er mit der Niederschrift seines Lebenslaufes begann – also im November 1749, wie uns der Titel verrät –, befand sich Edelmann auch physisch in Sicherheit. Ihm wurde in Preußen unter der Auflage, nicht weiter zu publizieren, Asyl gewährt. Friedrich II. soll die Asylgewährung mit der Bemerkung begründet haben: Wenn er »so vielen Narren in seinen Ländern den Aufenthalt verstatten müsse, warum soll er nicht einem vernünftigen Manne ein Plätzchen gönnen?«42 Das selbstgesetzte Telos in Edelmanns Biographie war eine Ankunft auf seiner religiösen Sinnsuche. Letztlich führte sie ihn zu einer Vernunftreligion im Privaten, ganz ähnlich wie im Falle Hermann Samuel Reimarus’ (1694–1768), der der gleichen Generation angehörte und einen ähnlichen Bildungsweg zurückgelegt hatte.43 Die letzten Sätze seiner Lebensbeschreibung könnten dann versöhnlicher kaum sein: Inzwischen siehet man leicht, daß, wenn ich den gut gemeinten Erinnerungen meiner stillen Brüder, mehr Gehör hätte geben wollen, als meinen eigenen Gedancken, nimmermehr ein Buchstabe von mir zum Vorschein gekommen seyn würde. Ob das nun, gleich tausend und hunderttausend meiner schlaftrunckenen Brüder herzlich gerne gesehen hätten, so hätte ich doch meinen munteren Brüdern keinen Dienst damit gethan, und folglich würden mir diese auch keinen dagegen haben thun können.44

Der Krawall hat sich für ihn persönlich also gelohnt, so kann er auch schließen, dass er dem »[e]rsten Theile [s]eines Lebens-Laufs, ein stilles und zufriedenes Ende« gemacht habe.45 Das ist also Edelmanns Version: eine Erfolgsgeschichte. Diese konnte aber nur entstehen, weil zuvor eine, heute würde man wohl sagen ›unauthorisierte‹ Fassung seines Lebens in Umlauf kam. Und diese beschreibt das genaue Gegenteil. Das erwartbare Gegenteil, darf man hinzufügen. Die anonym verfasste Schrift Des berichtigten Johann Christian Edelmanns Leben und Schriften, dessen Geburth und Familiae, welcher in Weißenfels geboren und in Jena Theologiam studiert, solche aber verlassen; dargegen die Spötterey der Christlichen Religion, der Heiligen Schrift und der Geistlichkeit ergriffen. Frankfurt 175046 stellt das Leben Edelmanns als das dar, als was es die Öffent42 43

44 45 46

Walter Nigg: Geschichte des religiösen Liberalismus. Zürich 1937, S. 97. Siehe hierzu Edgar Mass: Zensur und Diskursdifferenzierung. Zur Rezeption des französischen ›libres-penseurs‹ in Deutschland zwischen Edelmann und Reimarus. In: Pierre-André Bois [u. a.] (Hg.): Les Lettres françaises dans les Revues allemandes du XVIIIe siècle. Bern [u. a.] 1997, S. 205–219. Edelmann: Selbstbiographie (wie Anm. 40), S. 192f. Ebd. Eigentlich ist die Schrift schon 1749 erschienen. Seltsamerweise wird in den Online-Katalogen der Bibliotheken Edelmann selbst als Verfasser dieser Schrift ausgegeben.

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lichkeit – unter dem Einfluss der Auslegung der Orthodoxie – wahrgenommen hatte: eine sittliche und religiöse Verfallsgeschichte eines verblendeten Einzelgängers. Entgegengesetzter könnten die beiden Positionen nicht sein. Verfallsgeschichte einerseits und selbst erlebte Bildungsgeschichte andererseits. Bemerkenswert ist insofern das Motiv, aus dem heraus Edelmann seine Autobiographie als eine Antwort auf die verunglimpfende Darstellung seiner Person geschrieben hatte. Es geht ihm nämlich weder um seinen Nachruhm, noch um die aktuelle Widerlegung zur Reinwaschung seines Namens; das sind beides Unternehmungen, die ihn nicht berühren. Es geht ihm um seine Freunde und Verwandten, die durch die Bekanntschaft mit ihm nicht in ein schlechtes Licht geraten sollen. Dementsprechend selbstsicher verteidigt er auf der einen Seite seine religiösen Positionen, nicht ohne dabei aber immer wieder auf seinen tadellosen Lebenswandel hinzuweisen: Er trinkt nicht, er spielt nicht, Frauen bedeuten ihm nichts etc. Er will alle klassischen Vorwürfe, die an Atheisten oder Freigeister herangetragen wurden, entkräften. Manchmal hat es beinahe den Anschein, als würde er sich in der Persönlichkeit Spinozas, dem ihm wichtigsten Denker und Vorbild des ›tugendhaften Atheisten‹ bei Pierre Bayle, spiegeln. Fragt man nach der Motivation des Erzählten, ist eine eindeutige und eindimensionale Antwort wohl schwierig. Haben wir es bei Edelmann tatsächlich mit einer »eingegrenzte[n] Rezipientengruppe« zu tun, wie Jürgen Lehmann vermutet?47 Konnte diese Lebensbeschreibung, die zu großen Teilen eine Gelehrtenbiographie darstellt und damit einhergehend nicht nur ein gefälliges Nacheinander an Ereignissen darzustellen vermag, sondern zugleich auch immer theologischer Traktat ist, breitere Leserkreise ansprechen? War sie überhaupt daraufhin angelegt? Der formale Aufbau der Lebensbeschreibung liefert dafür einen ersten Fingerzeig. Edelmanns Schrift ist als eine Antwort konzipiert, die Punkt für Punkt die Darstellung seines orthodoxen Opponenten widerlegen möchte. Dessen Lebensbeschreibung war reiner Rufmord und erfüllte somit die Erwartungen des Publikums. Edelmanns Vorgehen kann niemanden überraschen, der auch nur rudimentär mit der Tradition der polemischen Kontroversliteratur vertraut ist.48 Diese in der nachreformatorischen Zeit (bis hinein ins 18. Jahrhundert) 47 48

Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie. Tübingen 1988, S. 51. Bernd Neumann kennt diese Tradition offenbar nicht, anders ist seine Verwunderung wohl nicht zu erklären: »In Johann Christian Edelmanns ›Selbstbiographie‹ endlich ist der seltene Fall zu finden, daß die eigene Lebensbeschreibung eine Antwort darstellt auf die nicht autorisierte aus fremder Feder. […] Durchgehend zitiert Edelmann aus dieser Biographie, setzt sich mit ihr auseinander, stellt sie richtig, indem er den Zitaten Sätze aus eigener Feder gegenüberstellt. Von vornhinein in die Rolle des Apologeten gezwungen, kommt er niemals dazu, ungezwungen und frei zu berichten. Edelmann läßt es an Offenheit nicht fehlen; doch stets, und gerade in den kühnsten Enthüllungen, ist der Seitenblick auf den ›berichtigten J. Ch. Edelmanns Leben‹ deutlich, das es zu überbieten gilt. Was zur autobiographischen, psychologisch aufschlußreichen Vergegenwärtigung der Persönlichkeitsentwicklung des berühmten

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unglaublich populäre Literatur gewinnt ihre Reichweit in der Geltung gerade dadurch, dass sie in der minutiösen Widerlegung – in summa – den Anspruch auf Allgemeinheit für sich beansprucht. Es war die gängige Form in der sich die Vertreter der lutherischen Orthodoxie mit den sogenannten Novatores (den ›Neuerern‹) auseinanderzusetzen pflegten. Als studierter Theologe, wenn auch ohne Abschluss, war Edelmann bestens vertraut mit dieser Verfahrensweise.49 Es handelt sich bei Edelmanns Erwiderung also um die klassische Strategie, die Deutungshoheit zurückzuerlangen. Diesmal allerdings nicht im Bereich einer abstrakten Lehre, sondern für sein eigenes Leben. In dieser Eigenschaft ist dann auch das Moment zu erkennen, das auf ein Allgemeines verweisen kann und seine eigene Gültigkeit herausstellt. Letztlich nimmt Edelmann in seiner Autobiographie zahlreiche Umdeutungen vor (wie es auch den orthodoxen Theologen um eine Umdeutung im Sinne einer Rückanbindung bestimmter Positionen ihrer Lehre ging). So bemüht Edelmann nicht selten pietistische Semantik (etwa ›Durchbruch‹ oder ›Wiedergeburt‹), deutet sie aber dahingehend um, dass er die ursprünglich religiöse Bedeutungsebene zu Gunsten von Vernunfteinsichten zurückstellt und die Begriffe dadurch letztlich säkularisiert. Sein Lebensweg ist ebenfalls von Erweckungserlebnisssen gekennzeichnet, eine religiöse Dimension wird aber mehr und mehr geleugnet, wie Jürgen Lehmann betont: »Vor Edelmann gibt es in Deutschland keine Autobiographie, die derart eindeutig jegliche Art ›Weltflucht‹ negiert.«50 Diese argumentative Absicherung des nonkonformen Verhaltens in Form der gelehrten kontroverstheologischen Auseinandersetzung ist ein Novum in den autobiographischen Schriften der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie ist zu gleichen Teilen Belehrung, Warnung und auch mitgeteilte Überzeugung. Stationen des scheinbaren Scheiterns werden auf diese Weise zu Wegmarken einer Weiterentwicklung, die als notwendige Voraussetzung für die persönliche Entwicklung interpretiert werden können. Edelmann bemüht sich dabei um eine authentische, jegliche Übertreibung vermeidende Darstellung seines Lebenswegs. Mit dieser Andacht zum Unbedeutenden wird Edelmann zum Historiograph des eigenen Lebens, der sich um Gerechtigkeit bemüht. Einsicht, so darf man zusammenfassen, entsteht aus der Konfrontation und nur wenn man seinem Weg treu bleibt, darf man auf Belohnung hoffen. Das Unangepasste wird zum strukturierenden Programm eines Lebens, das sich bei

49

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›Ketzers‹ hätte werden können, ist so von Anfang an dazu verurteilt, bloße Taten und Fakten zu berichtigen. Indem Edelmann das Zitat zum wichtigsten Stilmittel seiner ›Selbstbiographie‹ machte, konzipierte er sie als Memoiren.« Bernd Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt am Main 1970, S. 54f. Das Zitat bei Edelmann ist notwendige Voraussetzung für die argumentative Widerlegung, und daher hat seine Schrift mit Memoiren nichts gemein. Einen guten Überblick über die Jenaer Studienjahre gibt Ulf Christian Hasenfelder: »Wo er die berühmtesten Philosophos und Theologos hörte …« Ein Bericht über die Universität Jena in den Jahren 1720 bis 1724 von Johann Christian Edelmann. In: Detlef Ignasiak (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Literatur in Thüringen. Rudolstadt, Jena 1995, S. 145–154. Lehmann: Autobiographie (wie Anm. 47), S. 118.

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weitem nicht jenseits der Gesellschaft abspielt, sondern in direkter und unmittelbarer Auseinandersetzung mit ihr. Wenngleich Edelmann im 19. Jahrhundert nicht ganz zu Unrecht als der große Prosaschriftsteller vor Lessing dargestellt wird, fällt seine Autobiographie stilistisch doch deutlich gegen seine anderen Schriften ab. Sie erreicht für den gemeinen Leser nicht den Unterhaltungswert, wie man ihn von einer Lebensgeschichte erwarten darf. Seine Erzählung ist immer auch Argumentation. Das mag weitgehend der Tatsache geschuldet sein, dass sich Edelmann Paragraph für Paragraph an der ihn verleumdenden Schrift im wahrsten Sinne abarbeitet. Da bleibt wenig Platz für stilistische Gestaltungsfreiheit in der Textorganisation, verleiht ihr aber auf der argumentativen Seite mehr Stringenz. Dass der Inhalt dabei trotzdem höchst brisant bleibt, muss nicht weiter ausgeführt werden. Wir haben es hier also schon vor den großen Jahrzehnten der Autobiographie mit einem Stück Literatur zu tun, das die engen Grenzen der pietistischen Bekenntnisschriften bei weitem überwunden hat und eine Perfektibilitätsgeschichte ganz eigener Natur zeigt. Es ist weniger eine wirkliche Bildungsgeschichte dergestalt, dass eine Höherentwicklung dargestellt wird, als vielmehr die Erzählung eines Menschen, der sich aus religiösen Umklammerungen zu lösen versucht und sich letztlich freigeschwommen hat – allerdings nur für sich selbst, sein verschriftlichtes Leben musste wegen der Wahrhaftigkeit in der Darstellung im Untergrund verbleiben. Zu radikal waren die Thesen, die Edelmann seinem Publikum zugemutet hatte, als dass dieses sie zu seinen Lebzeiten zu Gesicht bekommen hätte.

III. Einen ersten Schritt aus dem ›Untergrund‹ heraus machen wir mit der Lebensbeschreibung Laukhards. Sie wurde bereits zu Lebzeiten publiziert und für den Autor zu einem großen Erfolg. Bis heute ist es die mehrbändige Autobiographie, der sich seine, wenn auch bescheidene, Berühmtheit verdankt. Seine zahlreichen Romane hingegen sind in Vergessenheit geraten, seine separaten Abhandlungen zur Geschichte stehen der Schilderung der ›Kanonade von Valmy‹,51 die sich ebenfalls in der Lebensgeschichte findet, als weitgehend unbekannte Texte gegenüber. Das Untergründige findet sich also nicht mehr im Bereich clandestiner Publikation oder direkter Verfolgung und Zensur. Laukhards Schriften konnten (fast) alle auf regulärem Wege eine größere 51

Sie gilt als gewichtiges Korrektiv zur berühmteren Darstellung Goethes; siehe dazu zuletzt Wilhelm Kühlmann: Kutsche oder Stiefeldreck? Goethe und Laukhard über ihre »Campagne in Frankreich« (1792). In: Frank Fürbeth, Bernd Zegowitz (Hg.): Vorausdeutung und Rückblicke. Goethe und Goethe-Rezeption zwischen Klassik und Moderne. Heidelberg 2013, S. 95–108.

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Öffentlichkeit erreichen. Allein die dargestellten Episoden seines Lebens berühren immer wieder Randbereiche des Unanständigen und Verpönten. Bisweilen glitt sein Leben in Bereiche hinein, die mit einem Untergrund vielleicht nicht zur Gänze identifiziert werden können, diesen aber zumindest in Teilen streifen. Es ist ein Leben, das nicht eindeutig auf einen Nenner zu bringen ist, vielmehr bleibt es in zeitgenössischen Widersprüchen verhaftet und verbindet Elemente, die eigentlich strikt getrennt waren. Ein Magister wurde nicht Soldat, und ein Theologe, der sich überdies für eine Pfarrstelle bewirbt, kokettiert nicht offen mit deistischen Positionen. Ich werde Laukhards Leben und Schicksale von hinten aufrollen und mit einigen zeitgenössischen Rezensionen zu seiner Lebensbeschreibung beginnen,52 die uns nah an die Lesererwartungen heranführen können und auch bezüglich der Form der Laukhardschen Schriften einiges Erhellende liefern. Für feinere Leser ist der Vortrag des Verf. nicht. Er detaillirt zu sehr, beschreibt alle gemachten Bekanntschaften mit verehrungswerthen Gelehrten sowohl, als mit den uninteressantesten und niedrigsten Menschen, letztere oft bis zum Eckel; und führt nur gar zu oft Scenen vor, von denen man sein Auge nicht schnell genug wegwenden kann.53

Dies schreibt der Rezensent der ersten beiden Teile von Laukhards Lebensbeschreibung, Johann Samuel Ersch (1766–1828), in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek. Auch wenn sich alles in allem das »Wahre[] und Irrige[]«54 die Waage hält, so will der mit Laukhard persönlich bekannte Ersch deutlich hervorheben, dass die Wahrhaftigkeit, mit der Laukhard gegen sich selbst vorgeht, der größten Bewunderung bedarf. Allerdings leitet sich aus diesem Umstand auch der größte Fehler Laukhards her: Er meint mit jedem so ins Gericht gehen zu dürfen, wie er es mit seiner eigenen Person macht. Darin sieht Ersch den Denkfehler, den er allerdings noch mit der Jugend des Autors zu entschuldigen vermag. Es handelt sich also um ein Authentizitätsproblem entgegen der Erwartungen. Laukhard ist in seiner Darstellung zu authentisch, als dass eine Abstraktion hin auf ein Allgemeines, das die Darstellung zuerst rechtfertigen würde, gelingen könnte. Was den pädagogischen Sinn dieser Lebensbeschreibung betrifft, gibt sich der Rezensent keinen Illusionen hin; will man Gewinn aus Laukhards Lebensbeschreibung ziehen, so muss man sie doch »mit Belehrsamkeit« lesen: Schade nur, dass dergleichen zur Warnung aufgestellte Beyspiele denen, die es bedürfen, nicht immer zu der Zeit bekannt werden, wenn sie noch Nutzen stiften 52 53

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Siehe hierzu auch Weiß: Laukhard (wie Anm. 37). Neue allgemeine Deutsche Bibliothek 4. Bd., 2. St. (1793), S. 462–465, hier S. 464. – Die Rezension erschien ursprünglich unter dem Ersch-Kürzel »Emb.«. – Autoridentifikation hier wie im Folgenden nach: [Gustav Parthey:] Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolais’ Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842, S. 6f. Ebd.

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können, und dass dann solche Leute wieder zu neuen Beyspielen werden müssen, wie schwer tief eingewurzelte Neigungen und Fehler auszurotten sind, und wie oft sie Menschen von guten Anlagen des Verstandes und Herzens unbrauchbar machen!55

Jeder muss seine Fehler also selbst machen, so der Tenor. Obgleich die »Warnung für Eltern und studierende Jünglinge« – so ja der Untertitel – von den Zeitgenossen scheinbar ernst genommen wurde, bezweifelt man doch zumindest die Wirksamkeit derartiger Belehrungen. Was man unter dem Stichwort einer ›negativen Pädagogik‹ fassen könnte, scheint bei den Zeitgenossen nur wenig Chance auf Erfolg bestimmt.56 Fehlt es an der nötigen Urteilskraft, um die Laukhardschen Episoden in dem Maße zu bewerten, wie das zu wünschen wäre, ist jegliche pädagogische Bemühung sinnlos. Und gerade diese Urteilskraft gelte es ja erst zu erwerben.57 Abschreckung scheint demnach kein passables wirkungsästhetisches Prinzip für den Roman oder eine Autobiographie. Was auf der Bühne als moraldidaktische Operation ihren Platz hat, verfehlt ihren Zweck in der Prosa. Oder war eine solche am Ende nie im Sinne des Verfassers? Es wäre ebenso gut denkbar, dass Laukhard mit seinem Untertitel lediglich eine Legitimation seiner Schriften geben wollte. Handelt es sich um eine ernstgemeinte pädagogische Warnung für die Jugend oder unterläuft Laukhard in seiner Darstellung diese nur scheinbare Ambition auf eine quasi-satirische oder gar burleske Weise? Letztlich hängt die komplette Bewertung der Schrift an der Beantwortung dieser Frage. Nimmt man Laukhard mit seinen pädagogischen Ambitionen als Aufklärer ernst oder nicht? Ralph-Rainer Wuthenow ist sich in seiner Einschätzung sicher: »Es besteht kein Anlaß, an der Aufrichtigkeit der Selbsterklärung wie der bekundeten Absicht zu zweifeln.«58 Dagegen spricht meines Erachtens, dass er einen ungeheuren Gefallen an seinen Zoten und Skandalgeschichten hat. Er schmückt sie aus und erzählt sie mit der 55 56

57

58

Ebd., S. 465. Das Konzept geht zurück auf Jean-Jacques Rousseaus und dessen Darstellung in seinem Emil oder über die Erziehung (EA 1763; dt. 1789–1791). Gleichwohl ist dort die Vermittlung anders geartet als im Falle Laukhards. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Konzeptionen kann hier nicht geleistet werden. Als ersten Zugriff Hartmut von Hentig: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit. München 2004, S. 42–82. Diese Gedankenfigur findet sich auch in Kants Bestimmung der ›Dummheit‹, der prinzipiell gar nicht abzuhelfen ist und die letztlich ein Mangel an Urteilskraft ist. In einer Fußnote der Kritik der reinen Vernunft heißt es dazu: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Ein stumpfer oder eingeschränkter Kopf, dem es an nichts, als an gehörigem Grade des Verstandes und eigenen Begriffen desselben mangelt, ist durch Erlernung sehr wohl, so gar bis zur Gelehrsamkeit, auszurüsten. Da es aber gemeiniglich alsdenn auch an jenem (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wissenschaft, jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.« Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Ders.: Werke in 12 Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main 1974, Bd. 3, S. 185, Anm. *. Wuthenow: Das erinnerte Ich (wie Anm. 16), S. 171.

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bereits angesprochenen Detailversessenheit, die nicht zuletzt Ersch als Rezensent gerügt hatte. Es findet sich eine deutlich spürbare Lust an der Schilderung der Normverletzungen und Tabubrüche, die Laukhard uns aus seinem Leben mitteilen will. Demgegenüber nehmen sich die warnenden und zur moralischen Reflexion über die Geschehnisse anleitenden Passagen geradezu spartanisch aus. Ihre Bewertung bildet den weitaus ›kühleren‹ und distanzierteren Teil. Es scheint vielmehr so, dass es sich bei der Publikation selbst – mit einem pädagogischen Augenzwinkern – um einen subversiven Akt handelt. Eine abschreckende Bildungsgeschichte unter negativen Vorzeichen ist es in jedem Fall nicht, auch trotz der zugegebenen, späten Einsicht. So bemängelt Ersch in seiner Rezension des dritten Teils: In wiefern übrigens alles, was der Verfasser erzählt und bemerkt, richtig sey, können wir nicht beurtheilen; daß er aber an sehr vielen Stellen mehr nach Einheit der Darstellung und nach Mäßigung hätte streben sollen, fühlt man nur allzustark. Doch diese Erinnerung wird wohl eben so fruchtlos seyn, als alle vorhergehenden.59

Eine erste Resignation ist zu spüren. Laukhard verletzt scheinbar willentlich die Formerwartungen der Zeitgenossen, allein zu welchem Zweck? Lässt sich seine Lebensgeschichte nicht anders erzählen oder ist der Kern der Erzählung doch das Zotenhafte, um dessentwegen Laukhard überhaupt erst zur Feder greift? Diesen Eindruck erweckt Ersch in seiner Rezension des fünften Teiles: der »Beyfall«, den Laukhard für seine Werke bekommt, stammt ausschließlich vom »kleindenkenden Theile« des Publikums. Dieses kann dem »schlimmsten Material« aus den untersten Gesellschaftsschichten sowie den Zoten etwas abgewinnen. Konstatierte ein anderer Rezensent noch, dass man bei Laukhard einiges wichtige über Politik und Gesellschaft lernen kann, so wird hier nur noch ironisch kommentiert: »Mit diesem Material stimmt die Form aufs beste überein.«60 Gerade um eine mögliche Form müsse es ja gehen, wenn man den pädagogischen Anspruch einer Lebensgeschichte erweisen will. Die pädagogische Ausrichtung wird aufs Schärfste geleugnet, vielmehr können die Grundsätze des Verfassers »vielen Schaden« anrichten. An Lesern aber, so prophezeit der Rezensent, wird es auch diesem Teil nicht mangeln – nicht ganz ohne Bedauern. Welcher Art wäre der mögliche »Schaden«, der aus Laukhards Lebensbeschreibung resultieren könnte? Ein Blick auf eine Episode nach Laukhards Studium in Göttingen kann das veranschaulichen. Wie bereits erwähnt bemühte sich Laukhard nach seinem Studium der Theologie längere Zeit um eine Anstellung an einer Pfarrstelle als Vikar, die ihm jedoch um die Jahre 1779 verwehrt blieb. An guten Ratschlägen, sowohl seiner Freunde als auch des Vaters hat es ihm dabei nicht gemangelt. Ein guter Freund mahnte ihn sogar 59 60

Neue allgemeine Deutsche Bibliothek 30. Bd., 2. St. (1797), S. 450–451, hier S. 451. ErschKürzel »Db.«; vgl. Anm 53. Ebd., 76. Bd., 2. St. (1803), S. 537–538, hier S. 538. Ersch-Kürzel »Btz«; vgl. Anm. 53.

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ausdrücklich: »›Sauft, lieber Freund,‹ sagte er oft zu mir, ›macht Hurkinder, schlagt und rauft Euch, kurz, treibt alle Excesse: das wird Euch nicht so viel schaden, als Eure Freigeisterei.‹«61 Letztlich scheitert Laukhard nicht an seinem freizügigen Lebenswandel, sondern an seinen dem Deismus (und vielleicht sogar Atheismus) nahestehenden Überzeugungen, die sich mit der Zeit nicht nur weiter entwickelt, sondern auch zusehends verfestigt haben. Laukhard ist sich seiner Täuschung der Würdenträger durchaus bewusst. Seine Anpassung ist reines Kalkül und kann wohl kaum abschreckenden Charakter für sich beanspruchen: Er [der Freund; MM] hatte Recht: denn Saufen, Huren u. d. gl. sind peccatilia, Herrn Simons Sünden, wie D. Luther sagte, die der Küster vergiebt; aber über die Dreifaltigkeit zweifelhaft reden, verdient alle Anathemen. [...] Sonntags drauf muste ich in Flonheim für den Pfarrer Stuber auftreten. Da nahm ich Gelegenheit, die Gottheit Christi zu beweisen, das heist, ich schrieb alle Beweise aus Schuberts Kompendium ab, brachte sie in Form einer Predigt, und warnte am Ende meine Zuhörer vor dem im finstern schleichenden Gift der Freigeister. So wollten es die Umstände! – Nach der Kirche stellte mich der Kantor, Herr Herrmann mein guter Freund, zur Rede: wie ich eine Lehre vertheidigen könnte, über die ich schon so oft in seinem Beiseyn gespottet hätte? Ich erzählte ihm aber den Vorfall mit dem Konsistorium, und bat ihn: er möchte den Inhalt meiner Predigt so bekannt machen, als er könnte. Hr. Herrmann bat sich mein Konzept aus, schrieb es fein ab, und ließ es zirkuliren. Dieses Benehmen brachte meine Rechtgläubigkeit wieder zu einem gewissen Kredit, der aber leider nicht sehr lange währen wollte.62

Seine Überzeugungen sollten sich noch weiter verfestigen, als Laukhard, wie er seinen Leser nicht ohne Stolz wissen lässt, »die berühmten Fragmente, die Lessing herausgegeben hat«,63 erstmals lesen konnte. Der Bruch mit der Religion vollzog sich endgültig: Ich las meinen Freunden die Fragmente, besonders das über die Auferstehung Jesu und dessen Zweck und seiner Jünger mehrmals vor. Letzteres Buch wurde, weil ich es wieder zurück geben mußte, von uns abgeschrieben, und war von nun an unsere Bibel.64

Die Schriften Hermann Samuel Reimarus’, die nicht wenige für die wichtigsten Texte der deutschen Aufklärung halten, erlangten für Laukhard kanonische Bedeutung, wie sie für seine potentiellen Arbeitgeber nur die Heilige Schrift hatte. Was verrät dieser Umstand, den der Autor uns so freimütig mitteilt und der Erzählung dieses zuvor zitierten Schelmenstückes voranstellt, über die Absichten des Textes? Ist das am Ende gar eine Warnung vor der 61 62 63 64

Friedrich Christian: Leben und Schicksale. 5 Theile in 3 Bdn. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt am Main 1987, Th. I, S. 302. Ebd., S. 302 u. 306f. Ebd., S. 299. Ebd., S. 300.

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Lektüre freigeistiger Schriften? Eine Warnung vor Lessing? Wohl kaum. Die uns von Laukhard hier vorgestellte und nur in Teilen wieder zurückgenommene Kritik an der Religion ist eine dezidierte Meinungsäußerung, die auch als eine solche verstanden werden soll. Wenngleich sie nicht im selben Maße argumentativ abgesichert ist, wie wir es noch bei Edelmann gesehen haben, so ist die Absicht klar erkennbar. Laukhard betrieb Propaganda und führte die limitierten Sichtweisen der lutherischen Orthodoxie in Form der Anekdote vor Augen. Wie leicht fielen die amtskirchlichen Blender (das zeigt gerade der Verweis auf das Jünger-Fragment, das genau diesen Kontext eröffnet) auf einen Blender herein! Nichtsdestotrotz waren sie es, die die Macht hatten, ihn aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. Laukhard benannte die Gruppierungen, die ihn selbst erst zum Nonkonformisten machten. Man sieht, die Motivationslage ist schon bei diesem kleinen hier präsentierten Ausschnitt wesentlich komplexer, als das bislang in der Forschung zur Kenntnis genommen wurde oder genommen werden wollte. Sowohl die zeitgenössischen Rezensionen als auch eine Lektüre, die sich näher am Text orientiert und nicht vorschnell abstrahiert, zeigen ein viel ambivalenteres Bild von Laukhards Lebensbeschreibung, als dies die Forschung, vor allem in den 1970er Jahren, gezeichnet hatte. Der »Bürger und das Abenteuer«65 ist nur eine oberflächliche und arg verkürzende Überschrift für das, was wir in Laukhards Lebensbeschreibung vorfinden. Von zeitgenössischer Bewunderung ist wenig bis nichts zu spüren. Vielmehr werden die Vorbehalte gegen Laukhards Leben, das keine Form hat und trotzdem den Anspruch auf Allgemeinheit für sich reklamiert, deutlich benannt. Es hat den Anschein, als ängstigten sich die Zeitgenossen, dass Laukhard am Ende damit recht behalten würde, dass das Radikale und Antireligiöse zur Norm und der Nonkonformismus salonfähig werden könnten. Ein erster Schritt dahin scheint unter dem Deckmantel der Pädagogik in jedem Falle getan. Vergleicht man Laukhard mit Edelmann, so ist der Unterschied augenfällig. War es bei Edelmann über weite Strecken seines Lebens ein Kampf, um sich von seinen religiösen Gewissenkonflikten zu emanzipieren, reicht Laukhard eine kurze Notiz zu Beginn seiner Autobiographie mit Verweis auf die religiösen Anschauungen seines Vaters, der schon früh Wolff und Spinoza gelesen hatte, »wodurch er ein vollkommner Pantheist ward.«66 Er selbst weiß sich mit ihm diesbezüglich verbunden und macht keinen Hehl aus seinen Täuschungen, die letztlich seinen Weg weiter bestimmen, auch ohne Gewissensskrupel. Seine Moral ist nicht mehr die der Kirche, er orientiert sich längst an anderen Werten, die ohne eine Fundierung im Christentum denkbar sind. Weiter heißt es: 65

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So bei Wuthenow: Das erinnerte Ich (wie Anm. 16), S. 157. In die gleiche Richtung geht Günter Niggl, wenn er vom »Abenteurerleben in zeitgeschichtlichen Zusammenhängen« spricht. Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. 144ff. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 61), Th. I, S. 3.

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Ich kann dieses meinem Vater jetzt getrost nachsagen, da er todt ist, und wol nicht zu vermuthen steht, daß ihn die hyperorthodoxen Herren in der Pfalz werden ausgraben lassen, wie dies vor ohngefähr vierzig Jahren dem redlichen Bergmeister Schittehelm von Mörsfeld geschehen ist. Es liessen nämlich die protestantischen Geistlichen zu Kreuznach diesen hellsehenden Kopf als einen Edelmannianer herausgraben, und so nahe an den Nohfluß einscharren, daß ihn der Strom beim ersten Anschwellen heraus und mit sich fort riß. Dergleichen Barbarei wird man doch, hoffe ich, am Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr begehen!67

Die Zeiten haben sich geändert. Was bei Edelmann noch ein Ding der Unmöglichkeit war, kann bei Laukhard mit einigen wenigen Bemerkungen zur Erziehung der Jugend respektive unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Pädagogik abgetan werden. Unter erhöhtem Legitimationsdruck scheint er nicht zu stehen, wie anfangs angenommen. Im Gegenteil: Er verbreitet sein Leben und seine Schicksale, die aufs engste mit seinen Überzeugungen verknüpft sind, offen und darüber hinaus sogar mehr oder weniger erfolgreich. Noch einen Schritt weiter führt uns Seumes Lebensbeschreibung.

IV. Johann Gottfried Seumes (1763–1810) Fragment gebliebene Lebensbeschreibung Mein Leben erscheint erstmals 1813 posthum bei Göschen in Leipzig. In ihr findet sich nicht die Summe seines Lebens, vielmehr behandelt Seume nur einen, wenngleich äußerst prägenden Abschnitt seiner Biographie. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, sein Vater war zunächst wohlhabender, dann aber zusehends verarmender Landwirt in Kursachsen, besuchte er die Dorfschule um anschließend, ungewöhnlich genug, auf die Lateinschule zu wechseln. Ermöglicht wurde ihm dies durch die finanzielle Unterstützung seines Gönners, Graf Wilhelm von Hohental, der schon früh sein Potential erkannt hatte. Im Jahr 1780 immatrikulierte er sich an der Universität Leipzig für ein Studium der Theologie, um 1781 weiter nach Metz zu ziehen. Eine religiöse Krise ist für seine Flucht verantwortlich zu machen. Das Theologiestudium war ihm ein Graus und der Wunsch, eine andere Ausbildung zu beginnen, schließlich zu stark. Seume wollte die Artillerie-Schule besuchen. Die französische Stadt sollte er allerdings nicht erreichen. Schon am dritten Tag seiner Reise wurde er auf dem Weg von Häschern Friedrich II., Landgraf von Hessen-Kassel, in Vacha aufgegriffen und zwangsrekrutiert. Seume setzte, nun als Soldat, nach Kanada über, um im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf der Seite Englands zu kämpfen.68 Auch dazu sollte es nicht mehr kommen. Als 67 68

Ebd. Siehe jetzt hierzu die von vielen Mythen um Seume bereinigte Fassung der Geschehnisse bei Georg Meyer Thurow: Über Dichtung und Wahrheit in Seumes Lebensbericht. An Beispielen

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er anlandete waren die Kampfhandlungen bereits eingestellt, und Seume verdingte sich als Schreiber und Übersetzer in Offiziersdiensten. Auch hier wurde wiederum sein Talent geschätzt, und es ermöglichte ihm die Freundschaft des Offiziers Karl Ludwig August Heino von Münchhausen, der sich nach seiner Rückkehr nach Bremen für ihn einsetzen sollte. Seume wollte desertieren und wurde aufgegriffen. Der üblichen Strafe des Spießrutenlaufens – das nicht selten tödlich endete – konnte er durch die Fürsprache seines Freundes entgehen. An dieser Stelle, an der Seumes Leben beinahe ein Ende gefunden hätte, bricht auch der Text von Mein Leben ab. Seume hatte erst in den Jahren um 1809, bereits von Krankheit gezeichnet, auf das Drängen seiner Freunde damit begonnen, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Er starb bevor er sein Projekt vollenden konnte. Nichtsdestoweniger zählt Seumes Fragment gebliebene Autobiographie zu den herausragenden Dokumenten der ›Goethe-Zeit‹. Wie keine zweite besticht sie durch Authentizität und die Rücknahme des eigenen Ichs zugunsten einer allgemeinen Zeitdiagnose. Und hier kommt auch der Bereich des Nonkonformen ins Spiel. Seume war zeitlebens nicht privilegiert und konnte dennoch auf eine Bildungsgeschichte ganz besonderer Art zurückblicken. Diese wäre vielleicht weitaus geradliniger und in der Rückschau auch noch erfolgreicher gewesen, wenn er sich den Meinungen und Konventionen seiner Zeit nicht beständig widersetzt hätte. Ausgangspunkt seiner Misere und des damit einhergehenden, abenteuerlichen Lebens waren seine tiefgreifenden Zweifel an der Religion und die damit verbundene Unredlichkeit – die sich zu einer Unmöglichkeit auswuchs –, seine theologischen Studien fortzusetzen und dem Wunsch seines Gönners entsprechend Pfarrer zu werden. Die Schilderung von Seumes Abfall von der Religion zu seiner Studentenzeit in Leipzig könnte nüchterner kaum sein. Angeregt durch die Lektüre Shaftesburys und der Wolfenbütteler Fragmente – ganz analog zu Laukhard also – und einiger Artikel im »Bayle« entstehen Zweifel, die sich nicht länger unterdrücken lassen: »Die Kirchenformel und meine ehemalige echt orthodoxe Exegese hielten mich nur noch an sehr schwachen Fäden.«69 Und weiter heißt es: […] meine Ketzerei schien vergessen zu sein. Desto tiefer und fester saß sie aber bei mir. […] Es fing nun an furchtbar in mir zu gären. Ich begriff, dass ich als ehrlicher Mann nicht auf dem Weg fortwandeln konnte. […] Heuchelei war mir unerträglich; ich sagte immer nur, was ich dachte, ob ich gleich nicht alles sagte, was ich dachte. Das heilige Palladium der Menschennatur sind die Gedanken

69

aus Seumes hessischer Rekrutenzeit. Nebst einem Anhang. In: Jörg Drews, Gabi Pahnke (Hg.): »Weimar ist ja unser Athen.« Mit Seume in Weimar. Bielefeld 2010, S. 13–36. – Die gründlichste Gesamtdarstellung zu Seumes Leben und Wirken stammt von Dirk Sangmeister: Seume und einige seiner Zeitgenossen. Beiträge zum Werk eines Spätaufklärers. Erfurt, Waltershausen 2010. Für die Zeit als Soldat siehe insbes. S. 385–453. Johann Gottfried Seume: Mein Leben. In: Ders.: Werke in zwei Bände. Hg. von Jörg Drews. Frankfurt am Main 1993, Bd. I, S. 9–100, hier S. 58.

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unter der Ägide der Vernunft; und es wird hoffentlich niemals jemand gelingen es zu zerstören.70

Mit dieser Aussage Seumes scheint die Trennung von Moral und Religion endgültig vollzogen. Und damit die Hauptforderung der Aufklärung. Er kann nicht mehr religiös sein, weil er ehrlich sein will. In seiner Konsequenz ein ungeheurer Satz! Man möchte sagen, ironischer Weise bestraft ihn nicht die Kirche für seine Ketzerei, sondern er wird das Opfer des ständig klammen Staates, der seine Untertanen als Söldner verkauft. Seume erkennt für sich die Diskrepanz seiner eigenen Überzeugungen zu einem Leben, das er führen könnte, aber nicht länger zu führen bereit ist. Er stellt sich, vielleicht ohne die Konsequenzen bis ins Letzte abschätzen zu können, außerhalb der konsensuellen Gegebenheiten der Gesellschaft, indem er ihre Grundwerte, die sie maßgeblich aus dem Bereich der Religion schöpft, nicht länger für sich als verpflichtend akzeptiert.71 Der Soldatenstand, das Theologiestudium, die Reisen durch große Teile Europas und die Begeisterung für republikanische Ideen sind nur einige der Gemeinsamkeiten mit Laukhard, in der Darstellung des Erlebten weicht Seume jedoch deutlich von diesem ab. Sein Blick auf die Geschehnisse und die gesellschaftlichen Umstände ist weitaus analytischer und damit einhergehend auch wesentlich wertender. Er schreibt seine Lebensgeschichte aus der Retrospektive, die so manche Beurteilung zulässt, die Laukhard in der Unmittelbarkeit seiner Darstellung verwehrt bleibt. Seine Gesellschaftskritik verdankt sich einer vom Individuum losgelösten Perspektive, und Seume ebnet damit den Boden für Autoren wie den jungen Büchner. Er umgeht Lösungsangebote, wie sie etwa die Romantik in ihren Weltfluchten bereitgestellt hatte, zugunsten einer Darstellung der real existierenden Verhältnisse und ihrer Folgen, indem er die Unmöglichkeit bestimmter Lebensentwürfe in ihrem Scheitern darstellt. Die ältere Forschung konnte oder wollte sich nicht davon befreien, in Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit72 den absoluten Maßstab einer Lebensbeschreibung um 1800 zu sehen und kam zu entsprechenden Urteilen: »Goethe vermeidet aber die Einseitigkeiten, die bisher die Struktur der literarischen Autobiographie bestimmt hatten: für Moritz gab es Welt nur als Erfahrung des Ichs, für Jung-Stilling nur als Horizont der Berufung; umgekehrt war das Ich für Laukhard vor allem Medium zeitgeschichtlicher Erfahrung, wie auch – in weniger zufälliger Weise – für Seume,«73 so Klaus70 71

72 73

Ebd., S. 59f. Ein Hinweis hierfür sind auch die nach seiner Zeit als Soldat wieder aufgenommenen Studien an der Universität Leipzig. Nicht mehr Theologie, sondern Jura, Philosophie, Philologie und Geschichte stehen auf dem Curriculum der Jahre 1787–1792. Diesmal auch mit einem ordentlichen Abschluss, 1791 erfolgte die Promotion, nur ein Jahr später, 1792, die Habilitation. Der erste Teil von Goethes Autobiographie erschien im Oktober 1811. Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 286.

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Detlef Müller zusammenfassend in seiner Studie Autobiographie und Roman. Diese vermeintlichen Einseitigkeiten ergeben sich erst, wenn der Literaturwissenschaftler auf dem literarischen Höhenkamm bis zum Gipfelkreuz wandelt: Dann liegt alles Weitere selbstredend unter diesem Niveau. War die Beschäftigung mit vermeintlich ›niederen‹ Autoren wie Laukhard zu Zeiten Müllers noch ein Novum, so ist es heute an der Zeit, diese normative Betrachtung, die dem Kritiker wohl gut zu Gesicht steht, hinter sich zu lassen und sich stattdessen den historischen Bedingungen der Möglichkeit autobiographischen Schreibens zuzuwenden.

V. Ein erster und kursorischer Schritt in diese Richtung wurde hier versucht. Die drei behandelten Lebensbeschreibungen entstammen alle dem Zeitalter der Aufklärung, und sind in ihren je eigenen, historischen Entstehungsbedingungen doch unterschiedlich. Trägt man eine allzu strenge Erwartung an die formalen Bedingungen an sie heran, muss man enttäuscht werden. Dennoch ist allen dreien gemein, dass sie versuchen, ein Leben in eine gewisse Form zu bringen und es dadurch ermöglichen, einen Anspruch auf Allgemeinheit zu erheben. Edelmann bedient sich dabei einer Schreibweise, die dem Bereich der gelehrt-humanistischen Polemik entstammt. Laukhard bleibt auch in seiner Lebensbeschreibung dem Metier treu, das er beherrscht: Über weite Strecken finden sich dort die Züge des Abenteuerromans. Seume schildert sein Leben als eine unerhörte Begebenheit, als eine Reise, die auf ihr Ende hingeht. Insofern bleiben alle drei Autoren der von ihnen beherrschten Form literarischer Kommunikation treu. Diese bildet die Grundlage, auf der sie ihre Zwecke im autobiographischen Schreiben verfolgen. Diese Freiheit der autobiographischen Schreibweisen übersieht, wer die Grenzen und Möglichkeiten einer nicht präskriptiv festgelegten Gattung zu eng steckt, oder sie, wie im Falle des Frankfurter Patriziersohns und späteren Ministers, von ihrem Ende her denkt. Gerade im Hinblick auf die hier vorgestellten Nonkonformisten muss man die Pragmatik der literarischen Kommunikation in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, um erfassen zu können, was überhaupt dargestellt werden konnte und welcher Strategien sich die Autoren bedienten, ihre von den Konventionen und Erwartungen der Gesellschaft im Allgemeinen oder aber partikularer Gemeinschaften abweichenden Lebensläufe zu legitimieren. Hier konnte nur ein kleiner Ausschnitt an Gedanken auf dem Weg zu einem möglichen Forschungsfeld ›Autobiographien von Nonkonformisten‹ angerissen werden. Man müsste überprüfen, ob sich auch andere von uns mit dem Label ›Nonkonformisten‹ versehene Gruppen in ihren Autobiographien ein Recht auf das ›Allgemeine‹ anmaßen oder wie sie sonst mit ihren unorthodo-

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xen und aus Sicht des (Literatur-)Historikers doch exemplarischen Lebensläufen umgehen. Zu denken wäre an Libertins, Republikaner, Mitglieder von Geheimgesellschaften und viele andere mehr. Zudem muss man die Frage stellen, ob mehrere dieser Positionen bei einer Person in eins fallen, zumindest im Falle Laukhards wäre dies zu bejahen. Letztlich stünde hinter diesen Überlegungen ein ideengeschichtliches Programm, das die Aufklärung im Vollzug der Kommunikation ihrer uns so vertrauten Ideen nachzeichnet und darzustellen vermag, wann bestimmte Positionen salonfähig werden, sich schließlich durchsetzen und als verbindlich und handlungsregulierend angesehen werden. Ich habe mich nur auf die religiösen Aspekte beschränkt, und versucht zu zeigen, wie sich die Verhältnisse im Laufe von gut sechzig Jahren änderten. Was bei Edelmann noch ›Untergrund‹ war, ist es bei Seume schon lange nicht mehr. Für politische Nonkonformisten etwa – so steht zu vermuten – müsste man andere Zeitfenster andenken und damit einhergehend eine andere Geschichte schreiben.

Abb. 8 Carl Friedrich Bahrdt (1741–1792) Kupferstich aus dem Jahr 1789 von einem unbekannten Künstler

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Verschwiegenheit und Indiskretion in Autobiographien der Spätaufklärung »Wer sein eigen Leben beschreibt, könte noch am ersten von seinen Entschliessungen oder Begebenheiten die Welt belehren: aber wer entdecket seine Fehler, seine Schwachheiten und Fehltritte gerne? es würde solches öffters dem Geschichtsschreiber nachtheilig, und selten dem Publico ersprießlich seyn. Man erzehlet gemeiniglich nichts, als was so schon vielen bekannt gewesen.« Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, §. 46. Bey Geschichten wird viel verschwiegen.1

Ein eindeutiges Zeichen für den Erfolg einer Begriffsprägung ist oftmals deren unübersetzte Aufnahme in eine Fremdsprache. Ein deutscher Begriff, der gewiss im Ausland nicht den Bekanntheitsgrad von ›Zeitgeist‹ oder ›Schadenfreude‹ aufweisen kann, jedoch Eingang in die Fachterminologie gefunden hat, ist der Begriff ›Sitz im Leben‹. Er geht auf den Theologen Hermann Gunkel (1862–1932) zurück, der im frühen zwanzigsten Jahrhundert wichtige Beiträge zur biblischen Hermeneutik lieferte.2 Gunkel zufolge erfordere das 1 2

Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft [Leipzig 1752]. Hg. von Christoph Friedrich. Wien 1985, S. 266f. Siehe Andreas Wagner: Gattung und ›Sitz im Leben‹. Zur Bedeutung der formgeschichtlichen Arbeit Hermann Gunkel (1862–1932) für das Verstehen der sprachlichen Größe Text. In: Susanne Michaelis, Doris Tophinke (Hg.): Texte-Konstitution, Verarbeitung, Typik. München, Newcastle 1996, S. 117–129. Zum internationalen Erfolg der Begriffsprägung schreibt Wagner auf S. 123: »Der Begriff ›Sitz im Leben‹ ist inzwischen in den allgemeinen Bildungsschatz der Wissenschaft eingegangen. Auch in angelsächsischer und französischer exegetischer und theologischer Literatur wird er meist nicht übersetzt, sondern in Deutsch belassen als ›the / le Sitz im Leben‹«. Weil Gunkel seine Methode organisch entwickelte und die wichtigsten Aussagen dazu über mehrere Werke zerstreut sind, sind die folgenden Aufsätze für eine Gesamtwürdigung eingesehen worden: Douglas A. Knight: The Understanding of ›Sitz im Leben‹ in Form Criticism. In: George MacRae (Hg.): SBL (Society for Biblical Literature) Seminar Papers 1974. Cambridge (Mass.) 1974, Bd. I, S. 105–125, sowie Martin J. Buss: The Idea of Sitz im Leben – History and Critique. In: Zeitschrift für die alttestamentarische Wissenschaft 90 (1978), S. 157–70. Siehe ferner Erhard S. Gerstenberger: Vom Sitz im Leben zur Sozialgeschichte der Bibel: Hermann Gunkel, ein zeitgebundener Visionär. Was macht seine Exegese heute noch aktuell? In: Thomas Wagner [u. a.] (Hg.): Kontexte. Biographische und forschungsgeschichtliche Schnittpunkte der alttestamentlichen Wissenschaft. FS für Hans Jochen Boecker zum 80. Geb. Neukirchen-Vluyn 2008, S. 157–170.

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richtige Verständnis der alttestamentarischen Texte nicht nur die Erwägung der unterschiedlichen Textgattungen. Darüber hinaus müsse ein Bewusstsein für die funktionale Einbettung der jeweiligen Textgattung in ihren historischlebensweltlichen Kontext bzw. in ihrem jeweiligen ›Sitz im Leben‹ entwickelt werden. Das implizierte in erster Linie die methodische Notwendigkeit, sich von einem Literaturverständnis zu befreien, das vor allem von den Voraussetzungen unserer »moderne[n] autorenzentrierte[n] Buchproduktion« geprägt war.3 Nach früheren Etappen in Göttingen, Gießen und Berlin ließ sich Gunkel in der letzten Phase seiner akademischen Laufbahn in Halle nieder. Für die folgenden Überlegungen bleiben wir in Halle, drehen jedoch die Uhr um über hundert Jahre zurück und nehmen eine Autobiographie unter die Lupe, deren Verfasser ebenfalls einen wichtigen Lebensabschnitt in der Universitätsstadt an der Saale verbrachte. Friedrich Christian Laukhard entstammte einer in der Pfalz ansässigen Familie, deren Mitglieder seit mehreren Generationen lutherische Pfarrämter innehatten. Seiner Ankunft in Halle ging eine Lebensphase voraus, in der sein ausschweifender Lebenswandel sowie seine inopportune Heterodoxie alle Aussichten auf eine Fortsetzung der Familientradition zunichtemachten. Die Einschreibung an der Friedrichs-Universität mutet an wie ein letzter, vom Vater vermittelter Versuch, das Leben doch noch auf den richtigen Weg zu bringen. Der Versuch gelang nicht, denn am Jahresende 1783 wurde er Soldat, ein Berufswechsel, der aus lauter Verzweiflung geschah. Die ersten Bände seiner Autobiographie berichten über seine Erfahrungen mit Akademien und Armeen, weitere Bände behandeln die Revolutionskriege sowie seine Wanderungen durch Frankreich zur Zeit des jakobinischen Terrors. Leben und Schicksale – so der Titel, der die Bände mit ihren variierenden Untertiteln überdachte – setzte Laukhard mit einem fünften und letzten Band fort, der 1802 erschien. Zu diesem Zeitpunkt umfasste sein gesamter Werkkatalog zusätzlich zur Autobiographie auch eine ganze Reihe von Romanen und weiteren Stellungnahmen und Eingriffen in literarische und politische Debatten. Die folgenden Überlegungen gelten seiner Autobiographie.4 Sie drehen sich um eine Frage, die an der Grenze zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft angesiedelt ist: Was für einen ›Sitz im Leben‹ hat eine Lebensbeschreibung? Mit der Fragestellung tragen wir der Tatsache Rechnung, dass der Autobiograph sein Projekt nicht aus einer Position heraus unternimmt, von der er engelgleich über sich selbst schwebt. Stattdessen vollzieht er die Reflexion über sein Leben aus handgreiflichen Motiven und mit spürbaren Folgen für den Teil des Lebens, der ihm noch bevorsteht. Offensichtlich hatte Gunkel ganz

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Gerstenberger: Vom Sitz im Leben (wie Anm. 2), S. 171. Eine ausführliche Bibliographie bietet Christoph Weiß: Friedrich Christian Laukhard (1757– 1822). St. Ingbert 1992, Bd. II: Kommentierte Bibliographie und Materialen, S. 9–96.

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anderes im Sinne, als er den Begriff ›Sitz im Leben‹ prägte.5 Dementsprechend kann kam Einwände gegen die Verzerrungen erheben, die die Übertragung des Begriffs auf ein neues empirisches Terrain herbeiführt.6 Aber die Zweckentfremdung kann auch auf kreative Weise neue Perspektiven eröffnen. Dies soll im Folgenden ausprobiert werden. Eine grobe Orientierung an den methodischen Prinzipien Gunkels besagt, dass wir erst dann ein Textverständnis erlangen, wenn wir die Funktion der Textgattung in ihrem lebensweltlichen Kontext feststellen. Dies setzt natürlich voraus, dass wir bereits die Gattung identifiziert haben, zu welcher der Text gehört. Für Leben und Schicksale mag dies auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen; das Werk gehört zur Gattung der Autobiographie. Doch dies kann nur eine erste Annäherung an dessen Charakterbestimmung darstellen, zumal der Status der Autobiographie als Gattungskategorie umstritten ist.7 Bevor wir zu Laukhards Lebensbeschreibung übergehen, können wir die Methode an zwei Formen des autobiographischen Schreibens erproben, die vor allem in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebten. Um eine gewisse Beständigkeit im geographischen Fokus zu gewährleisten, ist anzumerken, dass Halle auch in diesen Fällen eine wichtige Rolle spielte, ja, es eine Besonderheit der Stadt ausmacht, dass sie im 18. Jahrhundert die Bedingungen für ein enges Nebeneinander beider Traditionsstränge bot.

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Als Gunkel seine Methodologie entwickelte, hatte er bekanntlich alttestamentarische Texte im Blick, die als die Verschriftlichung ursprünglich mündlicher Kommunikationsformen zu betrachten waren (siehe Buss, S. 159, sowie Knight, S. 106 und 120). Zum Verständnis dieser Texte kam es darauf an, sich ihre ursprüngliche Verwendung als mündliche Sprachhandlungen zu vergegenwärtigen. Dementsprechend gehört die Nichtbeachtung des Unterschieds schriftlich/mündlich zu den Abweichungen von Gunkels ursprünglicher Begriffsbestimmung, denn im Fall von Lebensbeschreibungen haben wir es mit Kommunikationen zu tun, die von ihrem ersten Entstehen her – der Name sagt es bereits – verschriftlicht sind. Andererseits bietet diese Feststellung einen Anlass, über den Anteil der mündlichen Sprache an Laukhards vom gemeinen Jargon gewürzten Schreibstil nachzudenken. Siehe Engels, Harms: Nachwort und Materialien. In: Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. 5 Theile in 3 Bdn. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt am Main 1987, Bd. 3, S. 1–202, hier S. 8. Für zwei Versuche, die mündliche Sprache im universitären Milieu in Halle am Ende des 18. Jahrhunderts festzuhalten, siehe Konrad Burdach (Hg.): Studentensprache und Studentenlied in Halle vor hundert Jahren. Neudruck des ›Idiotikon der Buschensprache‹ von 1795 und der ›Studentenlieder‹ von 1781. Halle 1894. Beispiele dafür, wie sich die Fruchtbarkeit von Gunkels Methodologie auf einem modernen Feld erproben lässt, liefern die Beiträge in dem von Christian Klein und Matías Martínez herausgegebenen Band Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart 2009, bes. S. 8. Siehe etwa Jean Starobinski: Der Stil der Autobiographie. In: Walter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 200: »Es handelt sich nicht, im genauen Wortsinn, um eine literarische Gattung …«

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Halle erlangte mit der Gründung der Universität im Jahre 1694 intellektuelle Bedeutung.8 Der rasche Aufstieg zu einem Ort der Gelehrsamkeit spiegelte sich naturgemäß in mehreren Gelehrtenautobiographien wichtiger Lehrer und Professoren wider.9 Ein gutes Beispiel liefert Christian Wolffs (1679– 1754) Selbstbiographie, die der berühmte Philosoph um 1744 schrieb, einige Jahre nachdem der neue preußische König ihn aus der früher erwirkten Verbannung an die Saale zurückgelockt hatte.10 Wolff teilte mit vielen Gelehrten ein Schicksal, das von heftigen theologischen Disputen und literarischen Fehden geprägt war, und dementsprechend auch einen Hang, seiner Lebensbeschreibung einen apologetischen Zweck zu geben. Da diese Dispute und Fehden im Medium der Druckschriften ausgetragen wurden, wuchs den Universitäten im deutschen Kontext bei der Entfaltung einer neuen wortgewandten und politisch bewussten Öffentlichkeit eine besondere Rolle zu. (Ob man sie mit Jürgen Habermas als ›bürgerlich‹ etikettieren soll, sei hier dahingestellt.) Zusätzlich zum apologetischen Motiv und zugleich mit ihm nah verwandt war der Durst nach Anerkennung und Ruhm. Folgt man einer These des Germanisten Gerhart von Graevenitz, so ist gerade am allgemeinen Selbstdarstellungswillen der Professoren sowie insbesondere an den ihren Lebensbeschreibungen angehängten Schriftenverzeichnissen das Weiterwirken der älteren, repräsentativen Form der Öffentlichkeit zu erkennen.11 Der zweite Strang autobiographischen Schreibens findet seine spezifisch Hallische Ausprägung in den religiösen Selbstdarstellungen des Pietismus.12 8

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Siehe dazu Hans-Joachim Kertscher: Literatur und Kultur in Halle im Zeitalter der Aufklärung. Aufsätze zum geselligen Leben in einer deutschen Universitätsstadt. Hamburg 2007, bes. Kapitel 1.2: »Von der Residenz zur Universitätsstadt: Zur Kulturgeschichte Halles an der Wende zum 18. Jahrhundert«, S. 17–50. Zu dieser Tradition siehe Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 30–38, sowie Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. 21–26, 75–80 und 134–141. Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Hg. von Heinrich Wuttke. Leipzig 1841. Es handelt sich bei Wolffs Schrift eigentlich eher um Anweisungen an den Biographen, der die ihm anvertrauten Informationen in eine Lebensbeschreibung Wolffs einarbeiten sollte. Heute würde man hier von einer ›authorized biography‹ sprechen. Dabei sollte allerdings Wolffs Mitwirkung diskret verschwiegen werden: »Es hat auch viele Ursache, warum man vermeiden muß, daß es nicht das Ansehn gewinne, als wenn ich selbst den Stoff dazu gegeben hätte. …« Ebd., S. 102. Für weitere Beispiele dieser Praxis siehe Niggl: Geschichte (wie Anm. 9), S. 26. Gerhart von Graevenitz hat auf den Anspruch auf soziale Distinktion seitens des Gelehrtenstandes aufmerksam gemacht, siehe ders.: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher »bürgerlicher« Literatur im frühen 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), S. 1–82, bes. S. 14–20. Zur Schilderung der Beziehungen zwischen Pietismus und Universität siehe Udo Sträter: Aufklärung und Pietismus – das Beispiel Halle. In: Notker Hammerstein (Hg.): Universitäten und Aufklärung. Göttingen 1995, S. 49–62. Zur Beziehung von Pietismus und autobiographischem Schreiben siehe Günter Niggl: Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1998, S. 367–391.

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Im Rahmen dieser religiösen Erneuerung war das Bedürfnis aufgekommen, den eigenen Seelenzustand auf Zeichen der Gnade zu untersuchen und Rechenschaft über das Leben nach dem Schema ›Glaubenskampf und Bekehrungserlebnis‹ abzuliefern. Letzteres hatte August Hermann Francke (1663–1727) in seiner 1690–1691 veröffentlichten Lebensbeschreibung exemplarisch vorgeführt.13 In der Folgezeit schlug die durch sein Vorbild eingeleitete Normierung allerdings in eine Pauschalisierung des Schemas um. Nichtsdestotrotz kann eine »genaue Schilderung des ›Sitzes im Leben‹« – so der ausdrücklich Appell, den von Graevenitz in der vorhin erwähnten Arbeit an Gunkels Begriff richtet – den Betrachter für die Bedeutung sensibilisieren, die dieser Praxis des autobiographischen Schreibens in der konkreten pietistischen Lebenswelt zukam.14 In den beiden erörterten Fällen handelt es sich weitgehend um »Zweckformen«, wie Klaus-Detlef Müller sie bezeichnet hat, da eine einigermaßen eindeutige Funktion für die soziale Einbettung dieser Traditionen sorgte.15 Wie sah es hundert Jahre nach Francke und fünfzig Jahre nach Wolff aus, als Laukhard dem Publikum die ersten Bände seiner eigenen Lebensbeschreibung vorlegte? In den Passagen, die den Leser über Halle informieren, teilt Laukhard mit, wie die pietistische Frömmigkeit die Stadt nicht mehr in ihrer geistigen Gewalt hielt wie früher.16 Aber die literarischen und intellektuellen Energien, welche die Stadt vor allem dank der Universität noch belebten, schlugen sich weiterhin in autobiographischen Zeugnissen nieder. Wie der Hallenser Historiker Hans-Joachim Kertscher geschrieben hat: »Als bemerkenswert ist

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H. M. August Hermann Franckens vormahls Diaconi zu Erffurt, und nach dem er daselbst höchst unrechtmäßig dimittiret, zu Hall in Sachsen Churf. Brandenburg. Prof. Hebraeae Lingvae, und in der Vorstadt Glaucha Pastoris Lebenslauff. In: Erhard Peschke (Hg.): August Hermann Francke. Werke in Auswahl. Berlin 1969, S. 5–29. Von Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit (wie Anm. 11), S. 14. – Von Graevenitz wertet die Funktion der autobiographischen Innenschau gegenüber der aus ihr folgenden »Häufung archivalischen Materials« ab. Ihm zufolge entsprach diese »Häufung« einer nach außen gerichteten, vehementen »Repräsentationswucht« (S. 40). Er findet im Appell an eine Form repräsentativer Öffentlichkeit eine Parallele zum Streben der Gelehrten nach sozialem Ansehen. Für einen anderen Ansatz, der weniger auf das gegenständliche Resultat der autobiographischen Praxis abhebt und demgegenüber das Protokollieren des Glaubenserlebnisses in das Erleben als dessen Reflexion integriert, siehe Magnus Schlette: Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen. Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus. Göttingen 2005, S. 177–180. Auf S. 177 spricht Schlette von der »Funktion der Lebensbeschreibung«: »Für den pietistischen Gläubigen sind seine Selbstzeugnisse das Medium reflexiver Objektivierung des Erlebten; autobiographisches Schreiben ist der privilegierte Modus der Reflexivierung seines Glaubensvollzugs.« Müller: Autobiographie und Roman (wie Anm. 9), Teil II: »Die Autobiographie als Zweckform«, S. 27–73 Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 125–127. – Siehe dazu auch den Beitrag von Malte van Spankeren in diesem Band.

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hervorzuheben, daß in Halle im endenden 18. Jahrhundert eine ganze Reihe von Lebensbeschreibungen entstanden sind.«17 So sehr das Leben in Halle zu dieser Zeit nach wie vor autobiographisches Material hervorbrachte, und so sehr eine Verwendung der älteren Formsprache in diesem Material erkennbar ist, stellt man doch fest, dass es kaum mehr unter den Auspizien einer einheitlichen Gattungsform produziert wurde. Dies erschwert – oder verhindert sogar – die Bestimmung eines einigermaßen stabilen ›Sitzes im Leben‹, wie dies zuvor bei den pietistischen Bekenntnisschriften oder bei den akademischen Berufsbiographien möglich war. Eine standardisierte Motivation für die Lebensbeschreibungen des späten 18. Jahrhunderts lässt sich kaum finden, denn, wie Kertscher richtig konstatiert, stammen sie »aus der Feder von Autoren, deren Schreibabsichten höchst unterschiedenen Zwecken folgten«.18 Es lässt sich dennoch zeigen – und dieser Aufgabe widmet sich der erste Abschnitt dieses Beitrags –, dass Laukhards Lebensbeschreibung einen guten Teil ihrer Entstehungsbedingungen einem äußerst dichten Geflecht an Wechselwirkungen mit zwei damals weit bekannteren Figuren verdankt. Die Rede ist von Johann Salomo Semler (1725–1791) und Carl Friedrich Bahrdt (1741– 1792). Obschon beide Theologen vom Charakter her kaum unterschiedlicher hätten sein können, hat dies die Zeitgenossen nicht daran gehindert, in ihrem Wirken eine gewisse Komplementarität zu erkennen.19 Für uns ist der Umstand wichtiger, dass beide zur Zeit von Laukhards Aufenthalt in Halle präsent waren und es wiederholt zu Begegnungen zwischen ihnen gekommen ist; wenngleich anzunehmen ist, dass Semler, Bahrdt und Laukhard nie gemeinsam am selben Tisch gesessen haben. Die kurzzeitige Verflechtung ihrer Lebenswege besitzt vielmehr ein Pendant auf der literarischen Ebene, da sowohl Semler als auch Bahrdt Laukhard mit der Niederschrift von Lebensbeschreibungen vorausgingen. Wie ist es nun um den ›Sitz im Leben‹ dieser Autographien beschaffen? Zunächst wirkt der semantische Doppelbezug auf das ›Leben‹ suggestiv. Im Fall der ›Lebensbeschreibung‹ wird unter ›Leben‹ das Nacheinander von Erlebnissen verstanden, welche dem Individuum von der Wiege bis ins Grab 17 18

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Hans Joachim Kertscher: Friedrich Christian Laukhard und die Universität Halle. Alzey 2007, S. 24. Ebd. – Zugegebenermaßen sind Schreibabsichten und Gattungsfunktion nicht restlos gleichzusetzen, da sich jedoch beide auf eine Zwecklogik beziehen, kann man die Diversifizierung der Schreibabsichten als Auflösung einer einheitlichen Gattungsfunktion interpretieren. Laukhard etwa erzählt von einem Pastor, mit dem er sich in seiner ersten Zeit als Soldat unterhalten hatte und der aufgrund einer sehr orthodoxen Gesinnung sowohl Bahrdt als auch Semler, »welche er als Kompagnons ansah«, missbilligend beurteilte; vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 403. Und auch Laukhard selbst deutet eine Sichtweise an, nach der man die beiden Theologen trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze an einem Strang ziehen sehen konnte (ebd., S. 134). Siehe auch Anselmus Rabiosus der Jüngere [d. i. Georg Friedrich Rebmann]: Wanderungen und Kreuzzüge durch einen Theil Deutschlands. Altona 1795, S. 68.

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widerfahren. Beim ›Sitz im Leben‹ haben wir es dagegen mit dem unmittelbaren lebensweltlichen Kontext oder anders gesagt mit dem kollektiven Leben der Gemeinschaft zu tun. So unleugbar diese Diskrepanz sein mag, eröffnet sich beim Austausch der Bedeutung von ›Leben‹ in Gunkels Begriff eine Perspektive auf selten behandelte Verwicklungen, die aus der selbstbezüglichen Beziehung zwischen dem Leben und der Lebensbeschreibung hervorgehen. Vor allem soll unser Augenmerk einem bestimmten Dilemma gelten, mit dem die Autobiographen ab dem Zeitpunkt konfrontiert waren, als das autobiographische Schreiben nicht länger von den Konventionen eines gattungsmäßigen Sitzes im Leben gedeckt war. Spätestens seit Rousseaus Bekenntnissen mit ihrer entfesselten »Rücksichtslosigkeit der Entblößung« Schule gemacht hatten, wurde der Autobiograph wiederholt im Erzählen seines Lebens vor Entscheidungen gestellt, die er letztlich individuell zu treffen hatte.20 Sollte er Rousseaus Beispiel folgen und sich über die Unterscheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit hinwegsetzen? Oder sollte er sich vielmehr in Besonnenheit üben eingedenk der harschen Sanktionen, die ihm die Verletzung dieser Normen eintragen konnte? Die Problematik wird deutlicher, wenn man eine beliebte bürgerliche Morallehre der Zeit heranzieht, die ausführt: »Eine der wichtigsten Tugenden im gesellschaftlichen Leben […] ist die Verschwiegenheit.«21 So der Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796) in seiner 1788 erschienenen Schrift Ueber den Umgang mit Menschen. Dort tadelt er all jene Menschen, die »höchst leichtsinnig sind«, da sie »ihrer Redseligkeit keinen Zaum anlegen«: Sie vergessen, daß man sie gebeten hat, zu schweigen, und so erzählen sie, aus unverzeyhlicher Unvorsichtigkeit, die wichtigsten Geheimnisse ihrer Freunde an öffentlichen Wirthstafeln. Oder, indem sie Jedem, der ihnen in dem Drange sich zu entladen in den Wurf kömmt, für einen treuen Freund ansehen, vertrauen sie das, was sie doch nicht als ihr Eigenthum betrachten sollten, eben so leichtsinnigen Leuten an, wie sie selbst sind. Solche Menschen gehen dann auch nicht weniger unklug mit ihren eigenen Heimlichkeiten, Planen und Begebenheiten um, zerstöhren dadurch oft ihre zeitliche Glückseligkeit, und vernichten ihre Absichten.22

Diese Missbilligung trifft nicht nur die Redseligen, sondern ganz leicht auch die Schreibwütigen, die in ihren Autobiographien alles nach Belieben öffentlich machen können. Dabei macht der letzte Satz des Zitats auf eine wichtige Unterscheidung aufmerksam: Redet die betreffende Person indiskret nur über andere oder auch über sich? Leicht denkbar ist eine Strategie, nach welcher der Autobiograph zum eigenen Vorteil unterschiedliche Maßstäbe im Umgang mit sich selbst und mit anderen anlegt. Ebenso denkbar ist aber auch ein ande20

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Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979, S. 435. – Allerdings macht es Rousseaus Entscheidung für eine posthume Veröffentlichung nötig, seine vermeintliche »Rücksichtslosigkeit« genauer zu qualifizieren. Darauf komme ich später zurück. Adolph Freiherr Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen [1788]. In: Michael Rüppel (Hg.): Adolph Freiherr Knigge. Werke. Göttingen 2010, Bd. 2, S. 62. Ebd.

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res Verfahren, das Johann Samuel Ersch (1766–1828) mit Blick auf den dritten Teil von Laukhards Autobiographie folgendermaßen beschrieb: »Wer die beyden ersten Theile dieser Lebensgeschichte kennt, weiß zur Gnüge, daß der Verfasser sich selbst mit der größten Offenherzigkeit darstellt; daß er aber eben dadurch auch das Recht erworben zu haben glaubt, über andere eben so freymüthig zu sprechen.«23 Als Gegensatz zu dieser Art symmetrischer Indiskretion (symmetrisch, weil der Autobiograph sowohl sich selbst als auch andere gleichermaßen bloßstellt) kann eine literarische Gattung gelten, die den Leser mit Indiskretionen wie am laufenden Fließband bediente. Es handelt sich um die Chroniques scandaleuses, um Anekdotensammlungen, die bekannte und hochstehende Personen kompromittierten und deren Autoren – oder besser: Kompilatoren – nicht nur keine Rolle darin spielten, sondern darüber hinaus anonym blieben. Gerade diese letzte Eigenschaft stellt den hervorstechenden Unterschied zur Autobiographie dar, denn Anonymität war offenbar für den Autobiographen keine Option.24 Nichtsdestotrotz unterstellte man Laukhards Werk eine latente Nähe zu den Chroniques scandaleuses. Im zweiten Teil des Aufsatzes versuche ich eine nähere Charakterisierung von Laukhards Autobiographie anhand seiner Bemühungen, sein Werk von dieser niederen Literaturgattung abzugrenzen.25 Die scheinbare Hemmungslosigkeit, mit der Laukhard ans Werk ging und die den Eindruck dieser Affinität zur Gattung der Chroniques scandaleuses erweckte, war aber schließlich auch nicht bedingungslos. Obwohl er in seiner Selbstdarstellung einem Wahrheitspathos verpflichtet war, das er von Rousseau übernahm, hat er bei der Behandlung anderer durchaus differen-

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Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 30. Bd., 2. St. (1797), S. 450f. [Kürzel ›Db.‹]. – Autoridentifikation hier wie im Folgenden nach: [Gustav Parthey:] Die Mitarbeiter an Friedrich Nicolais’ Allgemeiner Deutscher Bibliothek nach ihren Namen und Zeichen in zwei Registern geordnet. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte. Berlin 1842, S. 6f. – In einer späteren Rezension aus dem Jahr 1803 wiederholte Ersch diese Beobachtung: »Bekanntlich hat Herr L. in dieser Biographie den sehr willkührlichen Grundsatz angenommen, daß es ihm erlaubt sey, mit allen Menschen so zu verfahren, wie er mit sich selbst verfährt; d. h. sie in ihrer völligen Blöße darzustellen.« Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 76. Bd., 2. St. (1803), S. 537f. Wenigstens nicht, wenn das Werk als Autobiographie erkennbar sein sollte (obwohl es allerdings interessant ist, nach Ausnahmenfällen in der Geschichte der Literatur zu fragen). Dort, wo der Unterschied zwischen Biographie und Autobiographie nicht eindeutig ist, kann man sich die Möglichkeit vorstellen, dass eine in der dritten Person geschriebene Biographie eigentlich eine getarnte Autobiographie wäre. Bahrdt hat mit diesem Gedanken in den Vorüberlegungen zu seiner Autobiographie gespielt. Siehe Hans-Helmut Lößl: Karl Friedrich Bahrdt an den philanthropinischen Anstalten zu Marschlins und Heidesheim (1775–1779). Berlin 1998, S. 7. Ralph-Rainer Wuthenow war sich dieses Aspekts von Laukhards Werk bewusst, als er Laukhards Intentionen folgendermaßen umschrieb: Laukhard »will erfreuen, belehren, unterrichten und strafen. Nicht selten verfällt er dabei der heimlichen Publizität: dem Klatsch.« Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert. München 1974, S. 172.

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ziert.26 Mit denjenigen, denen gegenüber er Groll hegte, ließ er keine Gnade walten; ganz offen gab er Rache als Motiv für die namentliche Nennung seiner Widersacher und die schonungslose Schilderung ihrer Gemeinheiten zu.27 An anderer Stelle bremst er aber seine Erzähllust aus Rücksicht auf Menschen, denen er wohlgesonnen ist. Solche Stellen belegen Laukhards Bemühungen, die Darstellung seines Lebens doch auf seine Umwelt abzustimmen und ihr einen ›Sitz in seinem Leben‹ zuzuschneiden. Damit können wir auf unsere Leitfrage zurückkommen: Wie passt das Beschreiben des eigenen Lebens ins Leben? Eine sehr banale Beobachtung könnte auf die niederen materiellen Gründe für die Veröffentlichung einer Lebensbeschreibung verweisen; Laukhard lässt den Leser unverhohlen wissen, dass zusätzlich zur Rache ein weiterer und vermutlich dringenderer Beweggrund für sein Schreiben »im Magen« lag. Dementsprechend ist es plausibel, zu vermuten, dass er mit seiner Offenheit auf erhöhte Aufmerksamkeit und Verkaufszahlen spekulierte.28 Ebenso interessant, wenngleich in Laukhards Fall nicht ohne Tragik, ist die Feststellung, dass seine Lebensbeschreibung nicht ins Leben passen will. Wenn das erfolgreiche soziale Leben eine Beachtung der normativen Vorgaben über das voraussetzt, was einerseits der Öffentlichkeit vorgelegt werden darf und ihr andererseits vorenthalten werden soll, dann liefert Laukhards späteres Leben ein Lehrstück dafür, was daraus folgt, wenn sich der Mensch als Autobiograph nicht an die Vorgaben seiner Zeit hält. Dann stellt ihm sein Werk auf dem weiteren Lebensweg ein Bein, über das er unvermeidlich stolpert.

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Die Lebensbeschreibungen von Rousseau und Laukhard zeigen, dass es im Unterschied zu der vom Historiker und Theologen Johann Martin Chladenius (1710–1759) angestellten, eingangs zitierten Beobachtung sehr wohl Menschen gegeben hat, die ihre Fehler, Schwachheiten und Fehltritte offenbarten. Auch Chladenius kannte schon zu seiner Zeit einige Ausnahmen. Im direkten Anschluss an die zitierte Stelle schreibt er: »Zwey neue Schrifftsteller haben die gemeinen Schrancken der Particularitäten überschritten: der eine ist der Freyherr von Hollberg, der andere aber der Leipziger Catechet Bernd. Ihre Lebensschreibungen [sic!] sind gantz von einem neuen und besonderen Gehalt.« Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), S. 267. – Zur autobiographischen Beschreibungen des von Melancholie und anderen Krankheiten geplagten Leipziger Predigers Adam Bernds (1676–1748) siehe Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie (wie Anm. 9), S. 66f., sowie Kertscher: Literatur und Kultur in Halle (wie Anm. 8), Kap. 2.1: »Lebensbeschreibungen im halleschen Umfeld des frühen 18. Jahrhunderts: Adam Bern und Johann Dietz«, S. 85–94. Interessanterweise wird die Lebensbeschreibung des dänischen Schriftstellers Ludvig Holbergs (1684–1754) in den Überblicksdarstellungen zur autobiographischen Literatur kaum behandelt. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. XV: »Ich suche mich nun zu rächen, wie ich kann, und das kann ich auf keine andere erlaubte Art, als daß ich die Leute von der Art nenne, und ihren Karakter bekannt mache.« Dass diese Lust nach Rache keine Rücksicht auf familiäre Verbindungen nahm, ist an Laukhards Bloßstellung der hinterhältigen Art und Weise abzulesen, mit der ihn sein Bruder behandelt haben soll, vgl. ebd. Th. II, S. 232 u. 382f. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. XI.

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I. Dass das autobiographische Schreiben eine prekäre Beziehung zu Gattungskonventionen unterhält, ist nicht nur mit dem Verweis auf historische Entwicklungen im 18. Jahrhundert zu erklären, sondern hat eine Bewandtnis bereits auf der Ebene der Logik. Denn die kategorische Unterscheidung von Individuum und Gattung kann vergleichsweise unproblematisch ihre Geltung behaupten, wo die Variation, die das neue Einzelexemplar schafft, innerhalb eines Spielraums stattfindet, der von der Wiedererkennbarkeit der Gattung gestiftet wird. Beispielsweise kommen Reiseberichte mit unendlich vielen Variationen bezüglich des Inhalts vor, obwohl die Zugehörigkeit zur allgemeinen Gattung des Reiseberichts unbestreitbar bleibt. Sobald man aber zu einer Gattung wechselt, wo das individuelle Exemplar zu seinem Inhalt nicht eine spezifische Reise, sondern ein individuelles Leben hat, das aber ab einem bestimmten Punkt in der Neuzeit so geführt und vor allem dargestellt wird, dass dessen Individualität zum Vorschein kommt, dann setzt sich eine Dynamik frei, welche die Abstimmung der Einzelexemplare auf den sie nur mühsam überwölbenden Gattungsbegriff unterläuft.29 Die Individualität, die der Inhalt würdigt, greift auf die Form über. Dementsprechend gehört es zum Geist des Individualismus, wie er in der Geschichte der Autobiographie vor allem bei Rousseau unverhohlen zum Ausdruck kommt, Gattungskonventionen zu destabilisieren. Diese Dialektik ist an der Allgemeinheit der Aussage zu erkennen, welche die moderne Autobiographie gerade in ihrer Tendenz, den Einzelmenschen als Individuum zu feiern, trifft. Denn genau an der Individualität kann man sich das breite Spektrum des Menschenmöglichen vergegenwärtigen. Aus dem Grund gilt das Individuum in all seiner Einzigartigkeit nicht als Sonderling, von dem sich die übrigen Menschen nur mit Kopfschütteln abwenden. Vielmehr reicht die Autobiographie ein Plädoyer für Verständnis und Sympathie ein. Ihr effektivstes Mittel bestand darin, nicht nur den individuellen Menschen zu zeichnen, sondern vor allem die Art und Weise nachzuzeichnen, auf die er zu diesem partikularen Menschen wurde. Ziel war demzufolge ein Bild der Entwicklung, das psychologisch plausibel und soziologisch erhellend war. Im Lauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschah dies immer mehr durch eine Übernahme literarischer Techniken – und immer weniger durch Heranziehung religiöser Motive (z. B. der göttlichen Strafe, die früher als Erklärung für weltliches Missgeschick heraufbeschworen wurde). 29

Diese Dynamik wird von Müller: Roman und Autobiographie (wie Anm. 9) erfasst, wenn er mit Blick auf Ulrich Bräker (1735–1798) von dessen Einsicht spricht, »daß als gültig empfundene Werke sich nicht zur Nachahmung eigneten, weil eine solche Nachahmung der Authentizität der persönlichen Erfahrung und damit die eigentliche Legitimation der Selbstdarstellung einschränkte.« Ebd., S. 200.

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Individualisierung, Säkularisierung, Literarisierung – unter diesen Leitsternen entfaltete sich die autobiographische Tradition im achtzehnten Jahrhundert. Aber der Vorgang vollzog sich natürlich nur schrittweise. So sehr sich das Individuum die Fähigkeit zutraute, sich von überkommenen Formen zu emanzipieren, bedurfte es ihrer weiterhin zur Formgebung seines Werks.30 Der Autobiograph stand nie vor einer Tabula rasa. Ihm boten sich im 18. Jahrhundert in Deutschland drei Modelle an. Wie bereits erwähnt konnte sich der Autobiograph einerseits in die Tradition der religiösen, vor allem pietistischen Selbstdarstellungen einreihen. Des Weiteren bestand eine Tradition der Berufsautobiographie, die am exponiertesten von Gelehrten gepflegt wurde. Eine dritte Gruppe bilden die abenteuerlichen Lebensgeschichten. Sie verdanken ihre Entstehung einer oft berufsbedingten Nähe zum Reisen, wie das vor allem im Rahmen der militärischen Laufbahn der Fall war.31 Hier gehen Reisebericht und Lebenslauf ineinander über. Diese drei Varianten standen also zur Verfügung: »Wer sich zur Autobiographie entschloß, mußte sich auf eines der Muster und damit auch auf Grenzen der Darstellung festlegen,« führte der Germanist Klaus-Detlef Müller aus.32 Aber Müller wusste genau so gut, dass die Festlegung keiner Starrheit in allgemeinen Formen des autobiographischen Schreibens entsprach. Während der Autobiograph in früheren Zeiten keine eigentliche Wahl in der Form traf, sondern sein Leben nach der Form schilderte, die ihm seine Umstände und seine Umwelt vorschrieben, nahm im Lauf des 18. Jahrhunderts die Souveränität zu, mit welcher der Schreibende über die Formen verfügen konnte. Dies manifestierte sich unter anderem in der Bereitschaft, die Formen zu kombinieren. Genau diese Bereitschaft ist kennzeichnend für zwei autobiographische Werke, von denen sich Laukhards eigene autobiographische Leistung abgrenzen lässt. Im ersten Fall handelt es sich um Semlers Lebensbeschreibung (1781–1782), die in der Tradition der Gelehrtenautobiographie steht, aber dies mit einer bekenntnisartigen Darstellung der Entwicklung seines Privatglaubens kreuzt. Im zweiten Fall haben wir es zu tun mit Bahrdts Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale (1790–1791). In diesem Buch gibt es Elemente, die den Traditionen der Gelehrtenautobiographie sowie der religiösen Selbstdarstellung entstammen; auch wenn im letzteren Fall die 30

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Zur Autobiographie als Vehikel der Emanzipation siehe Richard van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums 1500–1800. Frankfurt am Main 1997, S. 87: »Dieser Selbstklärungsprozeß, der zumeist allein am Schreibtisch und über das Schreiben erfolgte, wurde zu einem Akt der Befreiung von der Tradition der Eltern, der Stadt oder der Kirche. Daß sich dabei alle Autoren selbst stilisierten und selten ganz ehrlich waren, ändert nichts daran, daß sie für ihr Leben einen subjektiven Sinn suchten und bestrebt waren, Rechenschaft über individuelle Entwicklung zu geben, ohne unbedingt moralische Schlüsse daraus zu ziehen.« Siehe zur Gattung der abenteuerlichen Lebensgeschichte Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie (wie Anm. 9), S. 26–38, 80–93 und 141–146. Klaus-Detlef Müller: Kommentar. In: Ders. (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. I. Abteilung: Band 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Frankfurt am Main 1986, S. 1046f.

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Entwicklung von der »Orthodoxie« zur »Aufklärung« verläuft. Nach Bahrdts Sicht zieht diese Entwicklung jedoch dramatische Folgen nach sich, die ihm als Autobiographen eine Übernahme von Elementen aus der Tradition der abenteuerlichen Lebensbeschreibung nahelegt. Semler (1725–1791) war sechzehn Jähre älter als Bahrdt (1741–1792), der wiederum sechzehn Jahre älter als Laukhard war (1757–1822). Was sind sechzehn Jahre? Sechzehn Jahre sind zu wenig für eine Vater-Sohn-Beziehung und zu viel für eine Beziehung ebenbürtiger Kollegialität. Natürlich ist in dieser dreistirnigen Konstellation viel mehr im Spiel als nur ein Altersunterschied. Dennoch fällt es auf, dass dort, wo nur sechzehn Jahre die Protagonisten trennen, eine aus Spannung und Anerkennung hervorgehende Ambivalenz zu verzeichnen ist. Eine Art von Vater-Sohn-Beziehung kann sich erst auf der Grundlage des doppelt so großen Altersunterschieds zwischen Semler und Laukhard entfalten.33 Darin spiegelt sich Semlers allgemeine Einstellung zu den ihm anvertrauten Studenten wider: »Ich habe wirklich ein eigen Gefühl davon gehabt, wenn ich daran dachte, daß ich zu den Vätern der Academie gehöre, daß also Studiosi wirklich, so lange sie sich des Namens nicht unwerth machen, als anvertraute Söhne von einem Professor aufs treumeinendeste zu behandeln wären.«34 Und als Bestätigung der Wirklichkeit dieser Einstellung beschreibt Laukhard an einer Stelle das »Vaterherz«, das Semler gegenüber den Studenten zeigte.35 Semler ist 1743 nach Halle gekommen. Abgesehen von kurzen Zwischenetappen in Coburg und Altdorf verläuft der Rest seines Lebens in den penibel eingehaltenen Bahnen einer ordentlichen Professur der Theologie an der Friedrichs-Universität. In den Jahren 1781 und 1782 legt er der Öffentlichkeit die zwei Bände seiner Lebensbeschreibung vor. Der erste Band behandelt sein privates und berufliches Leben, der zweite Band widmet sich der wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Möglichkeit, das eigene Leben nach diesen zwei voneinander einigermaßen unabhängigen Aspekten zu denken und zu beschreiben, sagt an sich etwas über dieses Leben aus.36 Dies wird deutlich durch einen Vergleich mit einem von Semlers Kontrahenten, nämlich Bahrdt. 33 34 35 36

Laukhards Vater und Semler waren Studienfreunde. Siehe Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 88–90. Johann Salomo Semler: Lebensbeschreibung von ihm selbst abgefaßt. Halle 1781, Bd. I, S. 254. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 295. Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie (wie Anm. 9) äußert den Gedanken, dass sich in dieser Zweiteilung ein wichtiges Grundprinzip der allgemeinen Auffassung Semlers vom religiösen Leben, nämlich »die Unterscheidung von Privatreligion und Theologie« (S. 79), widerspiegelt. Die Vermutung ist meiner Meinung nach nicht irreführend, muss aber vertieft werden, zumal Niggl eigentlich zwei Unterscheidungen assimiliert, nämlich die zwischen Religion und Theologie und die zwischen der öffentlichen und der privaten Religion. Zu Semlers Verständnis von Privatreligion bzw. -theologie siehe Gottfried Hornig: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996, S. 180–194, Kap. VI: »Die Freiheit der christlichen Privatreligion. Semlers Begründung des religiösen Individualismus in der protestantischen Aufklärungstheologie«.

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Bei Bahrdt sind wissenschaftlich-theologischer Standpunkt und beruflicher Fortgang bzw. Niedergang auf das Engste miteinander verwoben; eine Lebensbeschreibung, die diese Aspekte sauber voneinander trennt, ist in seinem Fall kaum denkbar. 1779 trifft er in der Stadt an der Saale ein, wo er unter dem aufgeklärten Regime Friedrich des Großen und mit der Zuwendung des preußischen Ministers Carl Abraham von Zedlitz (1731–1793) Zuflucht vor der Verfolgung seiner heterodoxen Ansichten findet – so jedenfalls die nach Außen getragene Darstellung des Motivhintergrunds bei Bahrdt.37 Die Toleranz, die man Bahrdt angedeihen lässt, währt aber nicht ewig. Seine Hoffnung auf einen Platz unter den Theologen an der Universität scheitert an ihrem kollektiven Widerstand, und in Bahrdts Augen spielte dabei Semler die entscheidende Rolle. Der ersten Phase, in der Semler Bahrdts Fähigkeiten anerkannte und lobte, folgt also in der gemeinsamen Zeit in Halle eine Phase, die von Animosität überschattet wird.38 Aber Bahrdts Situation spitzt sich aufgrund einer viel bedrohlicheren Opposition dramatisch zu. Als er auf den gegenaufklärerischen Kurs des Nachfolgerregimes mit geheimbündlerischer Tätigkeit und einer provokanten anonymen Satire reagiert, überspannt er den Bogen. Im Revolutionsjahr 1789 landet er in der Magdeburger Zitadelle, wo er bis Juli 1790 eine Gefängnisstrafe absitzen muss. In dieser Zeit der Gefangenschaft verfasst er seine vierbändige Lebensbeschreibung, die dem Leser den Eindruck zu vermitteln versucht, dass sein wechselhaftes Schicksal als Konsequenz seiner religiösen Aufklärung zu verstehen sei. Semler und Laukhard sowie andere Zeitgenossen haben diese kausale Verbindung angezweifelt. Bahrdts berufliches und persönliches Missgeschick rührte ihrer Meinung nach aus einem anderen Grund her. 1782 kommt Laukhard nach Halle und logiert bei Semler. Dessen Fürsprache und Unterstützung wird jedoch wiederholt durch Laukhards studentische Eskapaden auf die Probe gestellt, wenngleich er Semlers Gunst nie verspielt. Er verehrt ihn sogar dann noch als seinen Mentor, als er die Hoffnung, seine Karriere in die geregelten Verhältnisse einer akademischen Existenz zu bringen, längst aufgegeben hatte. Stattdessen wird er Soldat. Semler verfasst seine Lebensbeschreibung zwar vor Laukhards Ankunft, dennoch vermitteln einige Passagen ein sehr genaues Bild vom Umgang, den er mit der Studentenschaft im Allgemeinen und mit Laukhard im Besonderen pflegte: »Mit manchen 37

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Für einen Versuch, dem Anteil der Selbstvermarktung in Bahrdts Darstellung seiner Flucht interpretativ gerecht zu werden, siehe Andrew McKenzie-McHarg: Überlegungen zur Radikalaufklärung am Beispiel von Carl Friedrich Bahrdt. In: Martin Mulsow, Guido Naschert (Hg.): Radikale Spätaufklärung in Deutschland. Einzelschicksale – Konstellationen – Netzwerke (Jb. Aufklärung 24). Hamburg 2012, S. 207–240, bes. S. 219–233. Also legt Semler ein Wort für Bahrdt ein, als es 1770 um seine Anstellung an der Universität in Gießen ging: »Ich schäme mich nicht, den Dr. Bahrdt zu Erfurth auch besonders zu nennen. […] Seine Denkungsart ist sehr gut, ohne Furchtsamkeit, seine Einsicht schon groß und seine äusserliche Aufführung sehr angenehm.« Zit. n. Degenhard Pott: Leben, Meynungen und Schicksale D. Carl Friedrich Bahrdts aus Urkunden gezogen. [Leipzig] 1790, S. 316.

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Studiosis habe ich gar oft einzeln geredet, ihrer Aufführung wegen; und habe nicht wenig gebessert, oder noch glücklich bewaret, für dem Verderben, worein sie beinahe geraten waren.«39 Anlass zu Unterredungen der »Aufführung wegen« hat Laukhard Semler wiederholt gegeben, obwohl dessen Interventionen – so wenig wie die seines Vaters – es schließlich vermochten, Laukhard auf den Weg eines geordneten Lebenswandels zu bringen. Dem stand ein oft exzessiver Hang zur Geselligkeit im Wege – ein Hang, der im Urteil vieler Zeitgenossen und nach eigenem Geständnis oft in Ausschweifungen entartete und den er mit Bahrdt teilte.40 Diesen hatte Laukhard bereits vor seiner Ankunft in Halle kennengelernt. Ihre Aufenthalte an der Universität in Gießen überlappten sich schließlich lang genug, um die Überzeugung in Laukhard reifen zu lassen, dass Bahrdt das einzige Mitglied der theologischen Fakultät sei, das »etwas leisten konnte«.41 Seiner gewohnten Art völlig entsprechend, zog Bahrdt dennoch so viel Opposition von Kollegen auf sich, dass er bereits im Mai 1775 nach Graubünden in der Schweiz abreiste, um das Amt als Direktor des Philanthropins Marschlins anzutreten. Nach dem Scheitern dieses Projekts gelang es Bahrdt, im Juni 1777 die Betreuung eines neuen Philanthropins in Heidesheim in der Pfalz zu übernehmen. Wieder wird Laukhard Zeuge von Bahrdts Veranstaltungen; vor allem wohnt er dem ausgelassenen Einweihungsfest des neuen Philanthropins bei.42 So sehr Laukhard anfangs Bahrdts Talent erkannte und sich mit seinen zunehmend radialaufklärerischen Ansichten identifizierte, lernte er im Lauf der Zeit ebenfalls das Doppelzüngige zu durchschauen. Auf die ursprüngliche Begeisterung folgte die Ernüchterung, und dies schlägt sich gleich in der ersten Veröffentlichung nieder, die Laukhard 1791 der Öffentlichkeit vorlegte. Es handelt sich um seine Auseinandersetzung mit Bahrdts Autobiographie:

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Semler: Lebensbeschreibung (wie Anm. 34), Th. I, S. 255. Auf die Affinität zwischen Bahrdt und Laukhard ist mehrmals verwiesen worden. Laut Engels, Harms: Nachwort und Materialien (wie Anm. 5), S. 133: »… am ehesten läßt sich Laukhard mit dem bekannteren Bahrdt vergleichen, mit dem er auch seine radikale aufklärerische Haltung teilt.« Im von Konrad Burdach verfassten Vorwort zum Band Studentensprache und Studentenlied (wie Anm. 5) wird der Vergleich durch den Bezug auf den Magister Christian Wilhelm Kindleben (1748–1785) ergänzt. Zu diesem Ensemble schreibt Burdach im abschätzigen Ton: »Allen drei Männern ist die Schamlosigkeit gemein, mit der sie ihre eigene Verkommenheit in literarischen Selbstbekenntnissen zur Schau stellen.« Ebd., S. XXIX. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. 87. – Siehe für eine allgemeine Charakterisierung der sich wandelnden Meinung Laukhards zu Bahrdt Thomas P. Saine: Magister Laukhard on Doctor Bahrdt. In: Richard Fischer (Hg.): Ethik und Ästhetik. Werke und Werte in der Literatur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. FS für Wolfgang Wittkowski, Frankfurt am Main 1995, S. 153–169. [Friedrich Christian Laukhard:] Beyträge und Berichtigungen zu Herrn. D. Karl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibung in Briefen eines Pfälzers. [Halle] 1791, S. 124–126. – Für die gründliche Aufarbeitung von Bahrdts erzieherischen Projekten, die die charakterlichen Makel Bahrdts keineswegs ausblendet, siehe Lößl: Karl Friedrich Bahrdt (wie Anm. 24).

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Beyträge und Berichtigungen zu Herrn D. Karl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibung. Durch die vorhergehenden Ausführungen dürfte klar geworden sein, wie sehr sich die Lebenswege der drei Protagonisten verschränkten. Es verwundert daher nicht, dass man eine ähnliche Entdeckung im Hinblick auf ihre Lebensbeschreibungen machen kann. Auch hier findet man ein dichtes Geflecht von Wechselwirkungen. Während Laukhard seine eigene Autobiographie unter dem unmittelbaren Einfluss seiner Auseinandersetzung mit Bahrdt schreibt, vermittelt ihm Semler den ersten Impuls dazu, sein Leben im Medium der autobiographischen Rückbesinnung Revue passieren zu lassen. Um dies zu verstehen, muss man zunächst auch die Motive hinter Semlers Lebensbeschreibung rekonstruieren. Semler war 55 Jahre alt, als er mit deren Niederschrift begann. Obwohl er sich dem Ideal des gewissenhaften und aufrichtigen Gelehrten verschrieben hatte, hat er sich trotz der Zurückgezogenheit immer wieder in Konflikte verwickelt. Die Jahre, die dem Verfassen seiner Autobiographie vorausgingen, waren besonders bewegt.43 Bereits das Vorwort des erstens Bandes gibt dies deutlich zu erkennen. Semler widmet das Werk nicht nur seinen Gönnern, sondern auch seinen Freunden und Schülern, und diese Dankbarkeit rührt von der Solidarität her, mit der sie in den jüngeren Konflikten zu ihm gestanden hatten. Semler spricht von »Gegnern, wozu seit einige Zeit auch ernstliche Feinde kommen«.44 Die Autobiographie mochte den ihm wohlgesonnenen Menschen gewidmet sein, der Anlass für ihre Niederschrift hing aber viel enger mit den Feinden zusammen, die durch einige Krisen bei Semler entstanden waren. Einen Ehrenplatz unter diesen »Feinden« beansprucht Bahrdt. Wie bereits erwähnt, sah sich Bahrdt, seitdem er sich in Halle niedergelassen hatte, mit der geschlossenen Opposition der theologischen Fakultät konfrontiert. Der zermürbende Konflikt hielt über mehrere Jahre an und endete schließlich mit Bahrdts Abdrängung aus dem Universitätsbetrieb ins private Leben. Semler war dabei nicht immer federführend.45 Aber er hatte das Glaubensbekenntnis, mit dem Bahrdt seinen Status als Opfer einer unzeitgemäßen Intoleranz in den Vordergrund rücken wollte, scharf verurteilt. Bahrdt hat sich in seinem aufmüpfigen Kirchen- und Ketzer-Almanach gerächt, einem Werk, in dem er seinem Hang, den satirischen Pasquillanten zu spielen, freien Lauf ließ.46 Der Eintrag zu Semler würdigt die Ergebnisse seiner Gelehrsamkeit und verwies zugleich auf ihre subversiven Implikationen für den orthodoxen Glauben. 43 44 45

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Hornig: Johann Salomo Semler (wie Anm. 36), S. 1–85, informiert im ersten Kapitel über Semlers Lebensweg. Semler: Lebensbeschreibung (wie Anm. 34), Th. I, Vorrede, o. p. Malte van Spankeren hat die »Affäre Bahrdt« aus der Perspektive von Semlers Kollegen Johann August Nösselt aufgearbeitet in: Ders.: Johann August Nösselt (1734–1807). Ein Theologe der Aufklärung. Halle 2012, S. 240–251. [Carl Friedrich Bahrdt:] Kirchen- und Ketzeralmanach aufs Jahr 1781. Häresiopel [d. i. Züllichau 1780].

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Bahrdt stand mit seinem Verdacht, dass Semler in Sachen theologischer Aufklärung einen kleinmütigen Nikodemismus praktizierte, keineswegs allein da. Auch der Pädagoge Ernst Christian Trapp (1745–1818) etwa beschrieb ihn als einen Mann, »von dem Niemand weiß, ob er Christ oder Naturalist, ob er orthodox oder heterodox ist, der alles scheinen will, und nichts ist«.47 Mit Trapp, der einem Ruf an die Universität Halle gefolgt und zum Inhaber des ersten pädagogischen Lehrstuhls in Deutschland geworden war, lag Semler ebenfalls im bitteren Streit. Sowohl Bahrdt in seinem Versuch, sich in Halle akademisch zu etablieren, als auch Trapp durch seine Berufung auf den pädagogischen Lehrstuhl genossen die Gunst des preußischen Ministers von Zedlitz. Wegen seines Konflikts mit den Beiden wurde Semler ein engstirniger Widerstand gegen die Berliner Personalpolitik unterstellt. Der Verlust seines Amts als Direktor des Seminars war die Konsequenz. Semler fiel also in Ungnade, und dies löste bei ihm und in seinem Haus eine erschütternde Krise aus. Es ist plausibel, in Semlers Verzweiflung über diese Entwicklungen eines der fundamentalen Motive seiner Autobiographie zu erkennen. Dieser Eindruck wird noch durch den Ratschlag verstärkt, den er Bahrdt kurz nach dessen Eintreffen in Halle gab, zu einer Zeit als die Beziehung zwischen den Beiden noch nicht so stark von Missmut gekennzeichnet war. Semler legte es dem Neuankömmling nahe, sich ebenfalls über eine schwierige Zeit durch die Verfassung einer Lebensbeschreibung hinwegzuhelfen. In seiner Antwort auf das Bahrdtsche Glaubensbekenntnis schrieb er dazu später: Ich schlug [...] einige nützliche Arbeiten nochmals vor; eine eigene gute Lebensbeschreibung; Uebersetzung aus dem Philo, Eusebii Vorbereitung etc. Nach einiger Zeit habe ich diesen Zuspruch nochmal gehabt; und einige Hefte von dem Anfang einer Lebensbeschreibung gesehen, die mir allerdings fruchtbar und gemeinnützig vorkamen; nur an zwey Orten etwa habe ich einige lateinische Anmerkungen geschrieben.48

Soweit ich feststellen kann, ist von diesem ersten Anlauf Bahrdts auf eine Lebensbeschreibung nichts überliefert. Bahrdt brach das Schreiben ab, und zwar aus einem Grund, der für den weiteren Verlauf dieser Darstellung wichtig ist und auf den daher gleich zurückzukommen sein wird. Zunächst aber sei noch darauf hingewiesen, dass Laukhard ebenfalls von Semler ermuntert wurde, eine Lebensbeschreibung zu verfassen, als er aus Verzweiflung die akademische Laufbahn gegen den Soldatenstand eingetauscht hatte. Wenn das Leben in eine Krise gerät, scheint Semlers Überzeugung gewesen zu sein, dass die Beschreibung des Lebens die beste Therapie sei. Wie Laukhard am Anfang des ersten Bandes erklärt:

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Ernst Christian Trapp: Sendschreiben an den Herr Doktor Semler. [Halle 1780], S. 4. Johann Salomo Semler: Antwort auf das Bahrdische Glaubensbekentnis. Halle 1779, S. 4.

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Der verstorbene Doktor Semler […] gab mir im Jahr 1784 den Rath, meine Begebenheiten in lateinischer Sprache heraus zu geben. Ich hatte dem vortreflichen Mann mehrere davon erzählt, und da glaubte er, die Bekanntmachung derselben würde in mancher Hinsicht nützlich werden. Ich fing wirklich an zu arbeiten, und schrieb ohngefähr acht Bogen, welche ich ihm vorwies. Er billigte sie, und rieth mir, den Herr Professor Eberhard [d. i. Johann August Eberhard (1739–1809)] um die Censur zu bitten. Ich that dies schriftlich: denn damals scheute ich mich, weil ich kurz vorher Soldat geworden war, es mündlich zu thun. Auch Eberhard lobte mein Unternehmen; nur rieth er mir, um der mehrern Leser Willen, deutsch zu schreiben. Ich folgte ihm, und zeigte mein Vorhaben öffentlich an.49

Auch in Laukhards Fall scheint Semler die Niederschrift einer Lebensbeschreibung empfohlen zu haben, da aus der Rückbesinnung auf das eigene Leben Orientierung in einer Krisensituation zu erhoffen sei. Interessanterweise brachen sowohl Bahrdt als auch Laukhard mit ihren ersten Anläufen auf eine Lebensbeschreibung aus ähnlichen Gründen ab. Bahrdt war der Meinung, dass die Aufgabe, sein Leben zu erzählen, ihn in eine Situation versetzt hätte, die unvermeidlich viele Menschen kompromittieren würde.50 Ob der Aufschub in der Veröffentlichung der Autobiographie das Problem der Indiskretion zu lösen oder wenigstens zu entschärfen vermochte und ob er tatsächlich der Sorge um das Kompromittieren lebender Zeitgenossen entsprungen ist, möchte man jedenfalls anzweifeln. Was Laukhard angeht, bekommt er sogar die nachdrückliche Bitte von seinem Vater, ebenfalls den Finger von dieser Aufgabe zu lassen: Mein Vater erfuhr […] durch die Briefe des Herrn Majors von Müffling [d. i. Johann Friedrich Wilhelm Müffling (1742–1808)], daß ich mein Leben schriebe, und befürchtete, ich möchte Dinge erzählen, die ihm Verdruß bringen könnten. Er schrieb mir daher und befahl mir, von meinen Lebensumständen ja nichts eher, als nach seinem Tode drucken zu lassen. Der Brief meines guten Vaters war voll derber Ausdrücke: er stellte mir das Uebel, das für ihn daraus folgen könnte, so lebhaft vor, daß ich mein Manuskript ins Feuer warf.51

Laukhard hielt Wort. Sein Vater ist 1789 gestorben. Erst nach dessen Tod unternahm der Sohn den zweiten autobiographischen Anlauf, dessen Endergebnis er dem Publikum unter dem Titel Leben und Schicksale schließlich vorlegen konnte. 49 50

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Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. IXf. Carl Friedrich Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale. Von ihm selbst geschrieben. Berlin 1790–1791, Th. I, S. 2f.: »Schon seit zehn Jahren bin ich damit umgegangen, meine eigne Geschichte zu beschreiben. Aber ich habe um hundert Ursachen willen es immer von einer Zeit zur andern aufgeschoben. Und ich glaube meinen Lesern neun und neunzig derselben entbehrlich zu machen, wenn ich der einzigen gedenke, daß soviel Menschen bisher noch am Leben waren, welche ich schlechterdings nennen und vor dem Publikum kompromittiren mußte (was ich äusserst ungern thue), wenn meine Geschichte nicht alles Interesse verlieren sollte.« Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. X.

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Obwohl Semlers Lebenschreibung nichts Mustergültiges für Bahrdt oder für Laukhard besaß – dafür mangelte es ihnen beiden zu sehr an den geordneten Verhältnissen, die Semlers Leben kennzeichneten –, ist es nachweisbar, dass beide sie kannten; Bahrdt musste sie sogar im Gefängnis zur Hand gehabt haben, wo er seine eigene Autobiographie niederschrieb, denn im vierten Band davon zitiert er aus Semlers Vorwort.52 Dort lässt Semler den Leser wissen, dass er einige Erzählungen unterdrückt habe, da er ihnen eine nachteilige und entmutigende Wirkung auf den patriotischen »Keim oder Trieb« zuschreibe.53 Es geht also um die Frage der Diskretion, also jene Selbstregulierung des Mitteilungsstroms aus Rücksicht auf soziale Normen und individuelle Befindlichkeiten. Interessanter- und charakteristischerweise redigierte Bahrdt den Text und entstellte Semlers Bedeutung absichtlich. Gemäß dieser veränderten Fassung soll Semler die Gefahr vermieden haben wollen, dass jemand »gebeugt oder beschädigt werden könnte, der durch anderweitige Verdienste Anspruch auf Schonung hat«. Im Anschluss an seinen fragwürdigen Umgang mit Semlers Text bemerkt Bahrdt: »Das ist gewiß der Fall jedes rechtschaffenen Mannes, wenn er sein eigener Biograph werden will.«54 Wer ist aber der Jemand, der nach dem Zusatz Bahrdts »durch anderweitige Verdienste Anspruch auf Schonung hat«? Man geht sicher nicht fehl, wenn man vermutet, dass Bahrdt sich damit selbst meint. Die Implikation ist offenbar, dass sich Semler als Autobiograph wenigstens in diesem Fall nicht von seiner rechtschaffensten Seite gezeigt habe, da er Bahrdt diese »Schonung« gar nicht zukommen ließ. Auf eine diffamierende Art und Weise – so sieht es wenigstens Bahrdt – wird er von Semler in dessen Autobiographie genannt, – und dies zu einem Zeitpunkt als Semler Bahrdts Aussichten auf ein abgesichertes Leben in Halle durch sein angeblich hinterhältiges Handeln bereits beschädigt hatte. Bahrdt geht auf die Vorwürfe ein, die das offizielle, bei Semler abgedruckte Schreiben der Hallischen theologischen Fakultät enthalten. In diesem Schreiben geht es hauptsächlich um Bahrdts umstrittene Tauglichkeit zum akademischen Lehrer angesichts seiner inzwischen notorischen Heterodoxie. Bahrdt sieht den Streit gerne auf dieses Terrain versetzt, denn damit bekommt er erneute Gelegenheit, sich als einen Verfolgten zu profilieren. Aber es wird schwer, den Eindruck abzuwehren, dass man hier zum Zeugen eines Scheingefechtes wird. Andere Gründe, die nur stellenweise durchschimmern, heizen die Animosität an: Semler lässt eher kursorisch den Vorwurf des »anstößigen Lebens« durchblicken – kursorisch, denn er scheint wohl verstanden zu haben, dass sich derjenige, der kompromittierende Details bei Anderen enthüllt, oft

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Ebd., Th. II, S. 198f., wo sich Laukhard ausdrücklich auf Semlers Lebensbeschreibung bezieht. Für Bahrdt siehe: Geschichte seines Lebens (wie Anm. 50), Th. IV, S. 56. Semler: Lebensbeschreibung (wie Anm. 34), Th. I, Vorrede, o. p. [3]. Bahrdt: Geschichte seines Lebens (wie Anm. 50), Bd. IV, 56.

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damit selbst kompromittiert.55 Obschon der Vorwurf nur angedeutet wird, fühlte sich Bahrdt dazu genötigt, ihn zurückzuweisen. Er entschuldigte sich hier und an anderen Stellen mit einem verharmlosenden Geständnis seines »Leichtsinns«.56 Natürlich zeugt es von einem hohen Maß an Scheinheiligkeit, wenn Bahrdt Semlers milden Verweise auf seinen Lebenswandel beanstandet: »Es mag wahr seyn, was Hr. Bahrdt zum Nachtheile des M. ... sagt, aber öffentlich in der Biographie hätte es nicht müssen erzählt werden.«57 So lautet einer der Kritikpunkte, die Laukhard gegen Bahrdts Lebensgeschichte anführt und die zu verstehen geben, dass Bahrdt gar nicht zimperlich in der Preisgabe peinlicher Details zum Leben anderer Menschen war. Man sollte dabei ebenfalls nicht vergessen, dass Laukhard selbst angesichts der Ungeniertheit seiner eigenen Darstellung den Kritikern Rede und Antwort wird stehen müssen. »Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmenschen […]! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern.«58 So nochmals Knigge. Man kann Laukhard zugutehalten, dass es ihm nicht darum ging, auf Kosten anderer zu »schimmern«. Vielmehr malt er dem Leser ein Bild jener Niederungen der Gesellschaft aus, als deren symptomatische Erscheinung er sich selbst versteht.

II. Wie die gerade zitierten, mahnenden Worte Knigges andeuten, verteilt sich die Infamie der Indiskretion eigentlich in zwei Richtungen: Sie fällt sowohl auf denjenigen, den die bekannt gemachte Peinlichkeit betrifft, als auch auf den zurück, der deren Bekanntmachung zu verantworten hat. In dem Fall, dass man sich entschlossen hat, andere Menschen vor aller Öffentlichkeit auf diese Art und Weise zu kompromittieren, bot jedoch das Medium der Schrift und vor allem des Buchdrucks ein sehr erprobtes Mittel, allen verfänglichen Rückspiegelungen zu entgehen; nämlich die Anonymität. Bahrdt bediente sich ihrer bei vielen seiner Schriften wie z. B. bei seinem Kirchen- und Ketzeralmanach, 55

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Semler: Lebensbeschreibung (wie Anm. 34), Th. I, Vorrede, o. p. [16]. Laukhard, der sowohl Bahrdt als auch Semler aus nächster Nähe kennt, ist imstande, dem Bedenken über Bahrdts moralischen Charakter seine wahre Bedeutung als Motiv für Semlers Oppositionskurs beizumessen. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 202f. Zu Bahrdts Leichtsinn siehe Geschichte seines Lebens (wie Anm. 50), Th., IV, 67f. – Andere greifen diese Charakterisierung auf, z. B. der anonyme Verfasser der Freimüthigen Briefe über Doktor Bahrdts eigene Lebensbeschreibung. Berlin, Leipzig 1791, der Bahrdt »mehr für leichtsinnig, als moralisch böse« hält, »obwohl er gleich durch seinen Leichtsinn unendlich viel Böses gestiftet hat.« (S. 5). Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 243. – Es gibt ähnliche Einwände an anderen Stellen, z. B. S. 183. Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen (wie Anm. 21), S. 38.

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und Laukhard hat sich ebenfalls für diese Option bei seinem Erstlingswerk entschieden. In beiden Fällen ist allerdings anzunehmen, dass die Anonymität ihre Autorschaft nur sehr dürftig verhüllt hat.59 Ebenso muss es sich mit dem ehemaligen Benediktiner Guillaume Imbert de Bordeaux (1744–1803) verhalten haben, der mehrmals ins Visier der Pariser Polizei geriet, weil er wiederholt mit der Distribution seiner anonymen Schriften gegen das Zensurgesetz verstieß. Dass Imbert diese Schriften anonym publizieren ließ und sie der Zensurbehörde nicht vorlegte, ist angesichts ihres Inhalts kaum verwunderlich, denn die darin enthalten Anekdoten schwärzten nicht nur den Ruf der betroffenen Figuren an, sondern beschworen das Bild einer durch und durch korrumpierten Gesellschaft herauf. Eine seiner populärsten Schriften – ja, einer der populärsten klandestinen Schriften des späten Ancien Régimes überhaupt – hieß: La Chronique Scandaleuse, ou Mémoires pour servir à l’histoire des mœurs de la génération présente.60 Imbert wählt einen Titel, der sich als populäre Bezeichnung für eine Chronik eingebürgert hatte, welche die Skandale um den Hof Königs Ludwig XI. im fünfzehnten Jahrhundert dokumentierte. Über die eigentliche Autorschaft dieser Schrift wurde lange gestritten, zu der Bezeichnung ›Chronique scandaleuse‹ wusste der Bibliograph La Croix du Maine (1552–1592) im 16. Jahrhundert zu berichten, dass sie davon herrühre »à cause qu’elle [d. i. die Chronik] fait mention de tout ce qu’a fait ledit Roi [d. i. Ludwig XI.], & récite des choses qui ne sont pas trop à son avantage, mais plutôt à son deshonneur & scandale.«61 59

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Eberhard berichtet in einem Brief aus Halle an Nicolai am 16. Januar 1781, also offensichtlich sehr kurz nach der Veröffentlichung des Werkes: »Der fatale Ketzer Allmanach hat hier entsetzliche Bewegungen verursacht. […] Sie sehen doch nun, daß mir meine noch so entfernte Verbindung mit dem Bahrdt immer Verdrießlichkeiten verursacht.« GStA Berlin, Nachlaß Nicolai, Bd. 16. – Christian Carl Am Ende (1730–1799) meinte Bahrdt allein am Inhalt und Stil erkennen zu können in seiner Replik: Freymüthige Anmerkungen über Herrn. D. Bahrdts Kirchen- und Ketzer-Almanach auf das Jahr 1781. Von einem Liebhaber der Wahrheit. Frankfurt am Main, Leipzig 1782, S. 9: »Seitdem der Herr D. Carl Friedrich Bahrdt wegen seiner freien und unverdauten Meinungen auf die Finger geklopft worden ist: liefert er seine Bücher gern, ohne seinen Namen zu nennen. Er schwatzt aber immer so in den Tag hinein, daß er unmöglich verborgen bleiben kan, und daß man ihn gar leicht erräth, wenn er schon nicht auf dem Titul stehet.« Was Laukhard und seine Beyträge und Berichtigungen angeht, erzählt er, wie sie sogar vor ihrer Veröffentlichung ein Gesprächsthema in Halle waren, und aus seiner weiteren Schilderung ist zu schließen, dass viele einschließlich Bahrdt über seine Autorschaft gut informiert waren. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 488–490. Für einige biographische Details zu Imbert kann man folgende ältere Ausgabe seiner Chronique scandaleuse heranziehen: Jean Hervez (Hg.): La Chronique Scandaleuse, ou Mémoires pour servir à l’histoire de la génération présente (1788–1791) / La Chronique Arétine (1789) / Le Gazetier Cuirassé ou Anecdotes scandaleuses de la cour de France (1771). Paris 1912, Introduction, S. 2f. Les Bibliothéques Françoises de la Croix du Maine et de du Verdier. Paris 1773, Bd. 1, S. 599. – Dort wird Jean de Troyes als Autor identifiziert, aber die Forschung des späten 19. Jahrhunderts hat die Existenz dieses Menschen angezweifelt und die Chronik mit dem Namen Jean de Roye in Verbindung gebracht. Siehe Bernard de Mandrot (Hg.): Journal de

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Die Gattung, die sich unter dieser Bezeichnung im 18. Jahrhundert herausbildete, behielt eine starke Affinität zum Hof, der ihr als Schauplatz einer unablässigen Folge von Intrigen und Affären reichlich Stoff lieferte. Man kann sogar sagen, dass die Anekdoten, aus denen sie bestand, hier ihren ursprünglichen ›Sitz im Leben‹ hatten.62 Aber im bloßen Akt, diese Anekdoten zu sammeln und der Welt jenseits des Hofes zugänglich zu machen, erkennt man die kritische Geste gegenüber der absolutistischen Herrschaftspraxis. Dieser Charakterzug der Gattung wurde durch den Appell an eine nicht minder wichtige Quelle verstärkt: die Geheimgeschichte des Prokopius von Caesarea (ca. 500–ca. 562), die der Nachwelt einen Einblick in die moralische Verdorbenheit gewährte, die am Hof Kaiser Justinians I. (ca. 482–565) im sechsten Jahrhundert geherrscht hatte.63 Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts weitete sich das soziale Spektrum jener Menschen aus, deren private Angelegenheiten in Anekdotenform zur Schau gestellt wurden.64 Oft handelte es sich dabei um Klatschgeschichten, die, wie Robert Darnton in mehreren Studien zu den Lesegewohnheiten und Informationspraktiken im Kontext des späten Ancien Régimes gezeigt hat, niedergeschrieben und kompiliert wurden, um dann als Schmuggelwaren klandestin zu zirkulieren.65 Dabei war Anonymität auf doppelte Art und Weise vorhanden – zunächst weil sich die Autoren nicht namentlich zu erkennen gaben, aber auch weil es sich bei jemandem wie Imbert mehr um einen Kompilator als um einen Autor handelte. Vom Hörensagen schnappte der Kompilator Gerüchte auf, die in einem weiteren Sinne anonym waren, da sie im kommunikativen Äther zirkulierten, ohne individuell zuschreibbar zu sein oder eine Quelle zu haben, die für ihre Wahrheit hätte bürgen können.

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Jean de Roye, connu sous le nom de chronique scandaleuse, 1460–1483. Paris 1894, Bd. 1, S. xiii–xxix. Siehe dazu Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1997, bes. S. 27–31, Kap. 1.2: »Semi-orale Kleingattungen als Bestandteil der höfischen Konversation und Unterhaltung«. Prokopius’ Geheimgeschichte wurde am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts wiederentdeckt. Der griechische Text mit lateinischer Übersetzung ist erstmals 1623 gedruckt. Sie spielte vor allem im englischen Kontext eine wichtige Rolle, wo sie als die Inspiration für die Gattung der ›secret history‹ diente, mit der vor allem nach der glorreichen Revolution die vermeintlichen Parallele zwischen dem byzantischen und jakobitischen Hof betont wurden. Siehe dazu Rebecca Bullard: The Politics of Disclousure, 1674–1725. London 2009, S. 29–44. Hilzinger: Anekdotisches Erzählen (wie Anm. 62), S. 38. Robert Darnton: The Literary Underground of the Old Regime. Cambridge (Mass.) 1982, S. 142f.: »The French got their uncensored news or nouvelles from rumor. Specialists called nouvellistes gathered in certain parts of Paris – under the ›tree of Cracow‹ in the gardens of the Palais Royal, for example – to communicate nouvelles. When they consigned their gossip to writing, they produced nouvelles à la main. And when these manuscript gazettes were printed they became chroniques scandaleuses – a genre that stands halfway in the process by which archaic rumor-mongering developed into popular journalism. Because this news was utterly illegal, it showed no self-restraint in recounting the events of the day.«

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Aus deutscher Perspektive schienen solche Anekdotensammlungen eine gewisse Affinität zur höfischen und urbanen Kultur des benachbarten Frankreichs zu besitzen. Dies spiegelt sich in der Übernahme der französischen Bezeichnung ›Chronique scandaleuse‹ wider. Gewiss hat die Anekdote im deutschen Kulturleben ihre spezifische Erscheinungsformen, wie etwa in der reichen Tradition der Kalendergeschichten. An ihr orientierte sich Bahrdt mit seinem Kirchen- und Ketzer-Almanach.66 Später jedoch, als es Bahrdt infolge der Revolution weniger um Religionskritik und mehr um die Anprangerung der politischen und sozialen Verhältnisse ging, orientierte er sich in seinem letzten posthum erschienenen Werk Anekdoten und Charakterzüge bezeichnenderweise eher an den französischen Vorbildern.67 Die sozialkritische Sprengkraft der Anekdote entsprang ihrem Potential, größere Zusammenhänge schlaglichtartig anschaulich zu machen.68 Trotz der Nähe zum Gerücht traute man es der Anekdote zu, wesentliche Charaktermerkmale zum Vorschein zu bringen.69 Ein exemplarischer Autor ist hier der Komponist und Schriftsteller Johann Adam Hiller (1728–1804), der zwischen 1762 und 1764 die von Abbé Raynal (1713–1796) zusammengetragenen Anekdotensammlungen aus dem Französischen übersetzte und den deutschen Lesererwartungen anpasste. In unserem Zusammenhang ist die Art und Weise interessant, auf die er die spritzige Anekdote gegen die dürren Formen der traditionellen Gelehrtenbiographie mit ihren ermüdenden Aufzählung von Schriften und akademischen Ehren auszuspielen wusste. In der Vorrede seiner mehrbändigen Anekdotensammlung schreibt er: Nach meinem Bedünken ist an einer ausführlichen Lebensgeschichte dieses oder jenes gelehrten Mannes, sehr wenig gelegen; sein Charakter aber, und die wahre Gestalt seiner Gelehrsamkeit, verdienen weit mehr unsere Aufmerksamkeit, weil 66

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Es wäre interessant zu wissen, ob Bahrdt auch den 1527 gedruckten Lutherischen evangelischen Kirchendieb und Ketzerkalender kannte, in dem der Dichter und Satiriker Thomas Murner (1475–1537) die Schweizer Reformatoren angriff. In seiner Schrift findet sich kein Bezug auf Murner, allerdings fiel Zeitgenossen wie dem Kirchenhistoriker Georg Ernst Waldau (1745–1817) die Ähnlichkeit auf. Dieser bemerkt in einer kurzen Abhandlung über Murners Schmähschrift, dass sie »ganz im Geist des Bahrdtischen Kirchen und Ketzeralmanachs bittere Carricaturen [sic!] von den Schweizer Reformatoren darstellt.« Georg Ernst Waldau: Der ersten Kirchen- und Ketzer-Almanach mit erläuternden Anmerkungen als kleiner Beitrag zur Reformationsgeschichte. Nürnberg 1804, S. 9. Zu dieser Schrift siehe Günter Mühlpfordt: »Aus der wahren Geschichte«. Bahrdts letztes Werk – ein Vermächtnis. In: Gerhard Sauder, Christoph Weiß (Hg.): Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792). St. Ingbert 1992, S. 11–71. Zur historiographischen Funktion der Anekdote siehe Lionel Gossman: Anecdote and History. In: History and Theory 42.2 (Mai 2003), S. 143–168, bes. 155–159. Diese Nähe zum Gerücht stand offenbar Knigge vor Augen, als er folgenden Rat erteilte: »Erzähle nicht leicht Anecdoten, besonders nie solche, die irgend jemand in ein nachtheiliges Licht setzen, auf bloßes Hörensagen nach! Sehr oft sind sie gar nicht auf Wahrheit gegründet, oder schon durch so viel Hände gegangen, daß sie wenigstens vergrößert, verstümmelt worden, und dadurch eine wesentlich andre Gestalt bekommen haben. Vielfältig kann man dadurch unschuldigen guten Leuten ernstlich schaden, und öfter sich selber großen Verdruß zuziehn.« Knigge: Ueber den Umgang mit Menschen (wie Anm. 21), S. 52.

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man aus diesen beyden Stücken am besten abnehmen kann, wie viel Vertrauen man zu seinen Werken haben könne; und uns davon zu unterrichten, sind einige besondere Anmerkungen, die man Anecdoten nennt, sehr oft hinreichend.70

Aus der hohen Aussagekraft, die Hiller der Anekdote beimaß, ergab sich eine Strategie, die große Relevanz für Charakterdarstellungen im Allgemeinen hat und deren spezifische Anwendbarkeit Laukhard in seiner Auseinandersetzung mit Bahrdt bewusst war. Denn Laukhard versucht nicht, Bahrdts Leben neu zu erzählen, so dass er dem Leser die eigentliche Geschichte seines Lebens offenbart. Stattdessen kommentierte er dessen Lebensbeschreibung berichtigend und liefert zusätzliche Anekdoten, die, wie gezielt platzierte Sprengkörper, die Glaubwürdigkeit des Ganzen zertrümmen sollen. Wie der Rezensent in der Neuen nürnbergischen gelehrten Zeitung bemerkt, enthält Laukhards Replik »eine Menge litterarischer Anekdoten«. Und er fügt sogleich hinzu, dass diese Anekdoten »fast alle in eine skandaleuse Chronik gehören«.71 Dies entsprach zwar nicht eigentlich Laukhards Programm, der wenig Interesse daran hatte, Anekdoten, die bereits von Hand zu Hand gereicht worden waren, einfach nur zu kolportieren. Aber er hoffte doch, aus seinem Lebensweg, der sich mehrmals mit dem von Bahrdt gekreuzt hatte, Gewinn zu schlagen, denn dadurch war er in die Lage versetzt worden, die Faktentreue von mehreren Abschnitten in Bahrdts Autobiographie zu überprüfen. Laukhard verspricht eine Untersuchung der Biographie, »in so weit ich Augenzeuge der von Herrn Bahrdt erzählten Begebenheiten gewesen bin«.72 Man sieht dieses Prinzip vor allem dort am Werk, wo sich Laukhard zur Verschwiegenheit zwingt, weil er selbst kein Augenzeuge war oder – in einer ersten Abweichung vom Prinzip – nicht für die Zuverlässigkeit der ihm bekannten Erzählung bürgen konnte.73 An solchen Stellen übt er sich in Ent70 71

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Johann Adam Hiller: Anecdoten zur Lebensgeschichte berühmter französischer, deutscher, italienischer, holländischer und anderer Gelehrter. Leipzig 1762, Th. I, S. )( 3v. Neue nürnbergische gelehrte Zeitung 90. St., 11. November 1791, S. 717–720. Die Rezension findet sich wieder bei Weiß: Laukhard (wie Anm. 4), Bd. II, S. 179. – Christian Heinrich Schmid (1746–1800), Professor für Poesie und Beredsamkeit in Gießen, griff den Begriff vermutlich aus dieser Rezension auf, da er durch sie auf Laukhards Buch aufmerksam geworden war und bei der Lektüre bemerkte, »daß [die Beyträge] skandalöse Nachrichten von unserem Herrn Kanzler Koch [d. i. Johann Christoph Koch (1732–1808)] enthielten.« Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur Zeitung [Jena], Nr. 153, 28. Dezember 1791, Sp. 1261–1266 (Wieder abgedruckt bei Weiß: Laukhard (wie Anm. 4), Bd. II, S. 180f.). Schmid versuchte, den Kanzler in Schutz zu nehmen und gab zugleich einige Details über Laukhard zum Besten, die ein schlechtes Licht auf dessen Charakter werfen sollten. Laukhard verteidigte sich in einer Replik (vgl. Intelligenzblatt der Allgemeinen Zeitung [Jena]. Nr. 19, 29. Februar 1792, Sp. 230–232, siehe Weiß: Laukhard (wie Anm. 4), Bd. II, S. 181–183), sparte aber einiges für seine Autobiographie auf, da er die Leser der Allgemeinen LiteraturZeitung nicht mit »skandalösen Chroniken behelligen wollte«. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 2. Also verlässt sich Laukhard auf Briefe des Freiherrn Ulysses von Salis-Marschlins (1728– 1800), auf dessen Initiative die Gründung des Philanthropins auf Schloss Marschlins zurückging, da Laukhard selbst vor Ort nicht war. Laukhard rechtfertigt dies damit, dass er Salis Charakter gut genug zu kennen meine, und aus dem Grund behaupten könne, dass die fragli-

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haltsamkeit und überlässt das Verfassen einer Chronique scandaleuse einem Anderen: denn »wie leicht sollte es diesem alsdann fallen, hundert und mehrere wirklich infamirende Anekdoten aus der Pfalz zu erhalten«.74 Dennoch wird Laukhard seinen Ansprüchen nicht ganz gerecht. Er schweift vom Thema ab und gibt Geschichten wieder, für deren Wahrheit er nicht einsteht.75 Rückblickend gibt Laukhard dem Urteil des Rezensenten in der Neuen nürnbergischen gelehrten Zeitung recht. In seiner Autobiographie gesteht er, dass sein Erstlingswerk wenigstens stellenweise in die niedere Literatursorte der Chronique scandaleuse abdriftet. Aber »was giebt einem Buche wohl mehr Interesse, als die Chronique scandaleuse!«76 Zur Entschuldigung für die Entgleisungen oder wenigstens zur Erinnerung an die mildernden Umstände, die diese Entgleisungen umrahmten, verweist Laukhard also auf seinen Wunsch, dem Geschmack des Lesepublikums mit aufsehenerregenden Anekdoten entgegenzukommen. Trotz – oder gerade wegen – solcher Fehltritte besteht die Bedeutung des Erstlingswerks in der Gelegenheit, die es Laukhard bot, sich über den Ehrenkodex seines eigenen autobiographischen Schreibens Klarheit zu verschaffen. Zu diesem Kodex gehörte in erster Linie die Abgrenzung von der Chronique scandaleuse: »ich will […] mein Buch nicht zum Repertorium der skandalösen Chronik machen, wie einige Recensenten fälschlich von den ersten Theilen geurtheilt haben …«, heißt es im Vorwort des fünften Bandes.77 Der Erklärung schiebt Laukhard einen Anspruch auf das Recht nach, als Augenzeuge über alles berichten zu dürfen, was ihm interessant vorkäme – und da der Mensch eben Mensch sei und Laukhard seine Leser zu kennen meint, bedient er sie mit Geschichten, durch deren Veröffentlichung er bewusst bestimmten Menschen nahetritt. Zu diesen gehört an erster Stelle aber auch Laukhard selbst. ›Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet‹, hat der Evangelist verkündet. Die Umkehrbarkeit dieses Satzes steht jedoch infrage: Erkauft man das Recht, andere zu richten, schon damit, dass man bereit ist, auch selbst gerichtet zu werden?

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chen Briefe »Glaubwürdigkeit« verdienen; vgl. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 6. – Siehe auch ebd., S. 197, wo Laukhard das Prinzip aufweicht, wenn er behauptet, er »habe nichts erzählt, was ich nicht gesehen habe, oder was nicht notorisch da bekannt wäre, wo es sich zugetragen hat«. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 196f. – Ich vermute, dass Laukhard unter anderen auf eine besonders ehrenrührige Episode anspielt, in der Bahrdt Zwillinge mit einer Bediensteten im Heidesheimer Schloss gezeugt haben soll. Siehe dazu Lößl: Bahrdt (wie Anm. 24), S. 130, und die weiterführende Angabe in der Endnote auf S. 258. Vgl. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 486, wo Laukhard es bereut, sich der Verbreitung einer »gangbare[n] Sage vieler Hallenser« schuldig gemacht zu haben, der zufolge sein Freund, der Verleger und Buchhändler Franz Heinrich Bispink (1749–1820), sich in Bahrdts Ehegeschichte eingemischt haben soll. Dazu Laukhard: »ich hätte vorsichtiger seyn und es nicht blos nach dem Gerüchte in die Welt hineinschreiben sollen.« Ebd., S. 485f. – Laukhard erwähnt dies ebenfalls in Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 196f. Ebd., Th. V, S. 7.

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Als Zwischenfazit ist festzuhalten: Die Rettung vor dem Abgleiten in die niedere Literatursorte der Chronique scandaleuse soll durch eine Perspektive geleistet werden, die Autobiograph und Augenzeuge identisch werden lässt. Diese Leistung wird auf dreifache Art und Weise erbracht: Zuerst ist der Augenzeuge einem Wahrheitsstandard verpflichtet, der viel strenger ist als der, den man in solchen Anekdotensammlungen vertreten findet.78 Zweitens ist diese Perspektive keine anonyme, denn als Autobiograph muss sich Laukhard namentlich zu erkennen geben. Drittens fällt das entblößende Licht genauso auf den autobiographischen Augenzeugen, d. h. auf Laukhard selbst, wie auf die Mitmenschen, die sich in ihrem Umgang mit ihm von ihrer schlechteren Seite gezeigt haben. Trotz dieser Gründe erkennt man schließlich, dass ein solches Selbstverständnis des Autobiographen nur einen dünnen Puffer zum Terrain der Chronique scandaleuse verschafft. Dies wird an den Stellen ersichtlich, wo Laukhard über die Reaktionen seiner Leser auf frühere Bände seiner Lebensgeschichte rekurriert. So erzählt er zu Beginn des dritten Bandes von seiner Rückkehr nach Gießen, wo die ersten beiden Bände »fleißig gelesen worden« waren. Da man voraussezte, daß ich sie zu seiner Zeit fortsetzen würde, so entdeckte man mir Anekdoten und skandalöse Histörchen die Menge, und bat mich, dieselben dereinst mit anzubringen. Aber warum sollte ich mein Buch von neuem zum Repertorium der Gießer Skandale machen? Es sind, wie die Folge zeigen wird, ganz andere und weit wichtigere Berichte übrig.79

Das trifft vor allem für den dritten Teil zu, in dem Laukhard seine Leser über die Erfahrungen im Feldzug gegen das revolutionäre Frankreich informierte. Klaus-Detlef Müller ist aufgefallen, dass dort, wo das Leben Laukhard solchen hochwertigen Erzählstoff nicht länger zuspielte – und in der Tat vertrocknete der Strom äußerlich bedeutender Begebenheiten im fünften Band der Autobiographie –, die Darstellung ins Triviale abdriftet. »An die Stelle der Zeitgeschichte treten nun Stadt- und Eheklatsch, Polemiken, Gerichtshändel, Skandalgeschichten und ›Histörchen‹ ohne tiefere Bedeutung und ohne inneren Zusammenhang.«80 Es ist daher einleuchtend, dass Laukhard nach dem Erscheinen dieses Bandes im Jahre 1802 dazu übergeht, eine Reihe von Schriften zu kompilieren, die eine unverblümte Zugehörigkeit – oder wenigstens Affinität – zur Gattung der Chronique scandaleuse aufweisen. In diesem Jahr veröffentlichte er ein Anekdotenbuch oder Sammlung unterhaltender und lehrreicher Erzählungen aus der wirklichen Welt sowie Neue Caricaturen und 78

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Die Bedeutung dieses Prinzips für Laukhard ist daran erkennbar, dass er im Titel einer anderen Schrift, in der er über seine militärische Erfahrungen berichtet, ausdrücklich den Status des Augenzeugen und damit eine erhöhte Glaubwürdigkeit für seine Schrift beansprucht: Briefe eines preußischen Augenzeugen über den Feldzug des Herzogs von Braunschweig gegen die Neufranken im Jahre 1792. Germanien [d. i. Thorn (?): Vollmer] 1793. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. III, S. 14. Müller: Autobiographie und Roman (wie Anm. 9), S. 198.

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Anekdoten zur Erbauung und zum Naserümpfen.81 Es war, als ob Laukhard endlich der Versuchung erlag, die Verbindlichkeit des Augenzeugen aufzugeben und seiner Lust an anekdotischem Erzählen ungeniert zu frönen.82 Der Hinweis auf die ausdrückliche Verneinung einer Zugehörigkeit zur Gattung der Chronique scandaleuse bei gleichzeitiger Affinität der Lebensbeschreibung soll zur Diskussion über die richtige Charakterisierung von Leben und Schicksale beitragen.83 Ralph-Rainer Wuthenow hat Leben und Schicksale als eine Art »Memoirenliteratur von unten« betrachtet, darauf anspielend, dass Laukhards niedriger sozialer Status ihn nach traditionellen Maßstäben kaum zu einer Niederschrift von Memoiren legitimiert hätte.84 So zutreffend diese Bemerkung sein mag, muss man doch berücksichtigen, dass es in Laukhards Werk kaum Indizien dafür gibt, dass die Unterscheidung von Memoiren und Autobiographie eine konstituierende Rolle für das Verständnis seines Projekts spielte. Wie näher auszuführen sein wird, beruft er sich auf die paradigmatische Autobiographie im späten 18. Jahrhundert, auf Rousseaus Bekenntnisse. Dennoch erkennt man, wie Laukhards Orientierung am Augenzeugenprinzip und seine Abgrenzungsversuche zur Chronique scandaleuse seine autobiographischen Texte in die Nähe zur Memoirenliteratur rücken.

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Ich habe die beiden Bücher nicht einsehen können und verlasse mich daher auf die Beschreibung, die Engels und Harms in ihrem Nachwort und Materialien (wie Anm. 5) geben, S. 26: »Der Klatsch um Personen, Reminiszenzen an Menschen aus seiner Heimat und dem Frankreich zur Zeit der Revolution, Bemerkungen über Lessing, Bahrdt, Marat, dem Hamburger Pastor Goeze, Unverschämtheiten gegen genannte und ungenannte Duodezfürsten, Adelige und Pastoren, letztlich die Schilderung von Originalen seines Lebenskreises und die Ausmalung wilder Bauernorgien, trugen dazu bei, daß die oft derben und unterhaltenden Texte viele Leser fanden. Laukhards Versicherung, daß die Anekdoten ›meistentheils dem Buchstaben nach wahr‹ sind, ist zu bezweifeln. Zu sorglos teilte Laukhard auch Gehörtes mit, ohne sich um historische Redlichkeit zu kümmern.« Siehe auch die Angaben, die Christoph Weiß zu diesen Schriften macht in ders.: Laukhard (wie Anm. 4), S. 64–66. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass Laukhard eigene Erfahrungen in diese Werke einarbeitet, aber aus den Angaben, die erst Engels und Harms und dann Weiß machen, wird klar, dass Laukhard viel Material aus zweiter Hand einflicht. Dabei übersieht er nicht den subversiven Hang, der dieser Textgattung innewohnt und ihr dann tatsächlich eine gewisse Aufwertung durch ihre Verwendung als nutzbare Waffe im Kampf gegen die alte Ordnung verschafft. Als Indiz dafür steht seine Entscheidung, die drei Bände der Caricaturen und Anekdoten unter dem Pseudonym ›Anselmus Rabiosus der Jüngere‹ erscheinen zu lassen, denn damit suggeriert er ein Prinzipienbündnis mit dem republikanischen und revolutionsfreundlich gesinnten Publizisten Georg Friedrich Rebmann (1768–1824), der sich dieses Pseudonyms bediente, um in einer Reihe von Werken Kritik an den deutschen Missständen zu üben. Engels und Harms meinen beispielswiese in ihrem Nachwort und Materialien (wie Anm. 5), S. 8: »Seinem [d. h. Laukhards] Buch Leben und Schicksale wird man daher am ehesten gerecht, wenn man es als eine große Reportage sieht, die primär journalistisch-publizistische Absichten verfolgte, und ihm nicht unterstellte, es berücksichtige ästhetische Forderungen einer Gattung.« Wuthenow: Das erinnerte Ich (wie Anm. 25), S. 169. – Zur Beziehung zwischen den Gattungen der Autobiographie und der Memoiren siehe Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie (wie Anm. 9), S. 56–61.

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Aufschlussreich für die weitere Charakterisierung seiner Lebensbeschreibung ist außerdem die Abwehrhaltung gegenüber einer anderen Gattung. Zu Laukhards negativen Vorbildern gehört nicht nur die Chronique scandaleuse, sondern auch der Roman: Wenn ich einen Roman schreiben wollte, so könnte ich alle meine Unglücksfälle ganz kommode, wie Herr Bahrdt, den Pfaffen in die Schuhe schütten, und mich schneeweis brennen. Allein, ob mich gleich giftige orthodoxe Ochsen von Pfaffen genug gedruckt und gestoßen haben; so muß ich doch bekennen, daß die Hauptschuld meiner Unfälle auf mich kommt.85

In der Art und Weise, wie die Klage über die Verantwortung der anderen durch das Bekenntnis eigener Verantwortung übertrumpft wird, ist der zweite Satz für Laukhards allgemeine Aufrechnung der Schuld an seinem Schicksal sehr bezeichnend. Aber dies gilt nicht minder für den ersten Satz, in dem Laukhard jede Geste einer apologetischen Fiktionalisierung seines Lebenswegs von sich weist. Gerade die Art und Weise, mit der Bahrdt seinem Erfindungstalent Spielraum gelassen hatte, um für den Leser ein lebhaftes Bild gewisser Begebenheiten heraufzubeschwören, hat Laukhard provoziert und ihn dazu veranlasst, Bahrdts Autobiographie seine eigene Sammlung an Richtigstellungen nachzuschicken. Dem Hang Bahrdts, einen Kern der Wahrheit literarisch auszuschmücken oder tendenziös zu überspitzen, trat Laukhard mit oft recht peniblen Berichtigungen entgegen, da er Bahrdts apologetische Instrumentalisierung seines Erzähltalents durchschaute. ›Poetic license‹ will Laukhard nicht gelten lassen, zumal er die Gesamtwirkung von Bahrdts literarischen Einfällen in der erzielten Beschönigung seiner charakterlichen Mängel genau einzuschätzen glaubt.86 So lässt Bahrdt etwa seine Leser wissen, dass sein heterodoxer Ruf ihm bei seiner Ankunft in Halle vorausgeeilt war, da sich die Hallenser auf der Straße dreimal kreuzigten, wenn sie ihn kommen sahen. Ein kleines Detail, das Bahrdts verfemten Status verdeutlichen sollte. Aber gemäß Laukhard eben auch ein erfundenes Detail: »ich versichere meine Leser, daß es keinem Hallenser damals eingefallen ist, ein Kreuz zu schlagen. Die Hallenser kreuzigen sonst nicht eben überflüßig.«87 85

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Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. 310. – Eine weitere Stelle, an der Laukhard seine Lebensgeschichte nicht mit der Romangattung verwechselt sehen will, findet man im Vorwort dieses ersten Bandes: »Meine Unglücksfälle sind nicht aus der Luft gerissen, wie man sie in Romanen liest …« Ebd., S. XII. Man könnte sogar behaupten, dass Laukhard die These wesentlich vorwegnimmt, die Müller entwickelt, nämlich dass Bahrdt Züge der Romangattung im Rahmen seiner Lebensgeschichte übernimmt, um auf diese Weise einen Freispruch von all den bösen, ihm nachgesagten Gerüchten zu erlangen. Siehe Müller: Autobiographie und Roman (wie Anm. 9), S. 221–242, Kap. 13: »Fiktion als Mittel der Selbstapologie« [zu Bahrdt]. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 200. – Man fragt sich, ob Laukhard sich später widerspricht, als er in einer Fußnote im zweiten Band von Leben und Schicksale das folgende Bild des durchschnittlichen Hallensers entwirft: »Er hat eine Menge Gespenster, glaubt an Hexereien, giebt sogar Karaktere von den Hexen an, macht Kreutze übers Brod [sic !] …« Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 132f.

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Im bewussten Gegensatz zu Bahrdt bemüht sich Laukhard, mit seiner Autobiographie einen Kurs zwischen der Skylla der Chronique scandaleuse und der Charybdis des Romans zu steuern, denn beide Gattungen wiesen eine ambivalente Beziehung zur Wahrheit auf. Seine Lebensgeschichte sollte nichts enthalten, was entweder aus zweiter Hand übernommen oder aus der Luft gegriffen worden war. Diese Abneigungen entstammten einem Pathos der bedingungslosen Wahrheitstreue, das Laukhard von Rousseau übernahm. Aber natürlich ist die problematische Beziehung zur objektiven Wahrheit nur ein Aspekt der Anekdote und des Romans. In anderer Hinsicht zeigen sich diese Gattungen auch für einen angehenden Autobiographen als nachahmungswürdig, denn die Anekdote ist imstande, durch ihrer Kompaktheit Erkenntnis schlaglichtartig zu vermitteln, während der Roman aufgrund seiner narrativen Kontinuität den Zusammenhang einer mehrere Einzelepisoden überspannenden Entwicklung herstellt. Idealerweise konnten kleine Anekdoten und umfassende Narrative in einer Autobiographie aufeinander abgestimmt werden. Gerade dies hat Rousseau vorgeführt. An mehreren Stellen seiner Bekenntnisse flicht er klug ausgesuchte Anekdoten ein und ist zugleich vorsichtig, dem Leser keine bloße Aneinanderreihung von Anekdoten aufzudringen.88 Für diesen Themenkomplex ist in der deutschen Rezeption der Bekenntnisse eine kleine Episode aufschlussreich, die sich interessanterweise vor der eigentlichen Veröffentlichung des ersten Bandes im Jahre 1782 abgespielt hatte; gewissermaßen haben wir es hier mit einer Anekdote über eine Anekdote zu tun. Rousseau war vier Jahre vorher gestorben, aber es kursierten bereits Gerüchte über den brisanten Inhalt seiner Autobiographie, die er hinterlassen hatte. In der ersten Ausgabe des 1780er Jahrgangs der vom schweizerischen Publizisten Isaak Iselin (1728–1782) herausgegebenen Ephemeriden der Menschheit fand sich eine Anekdote, die »ein merkwürdiger Reisender« erfahren hatte, als er sich in Paris mit jemandem unterhielt, der sich offenbar Zugang zum ungedruckten Werk Rousseaus verschaffen konnte.89 Es handelt sich um die Diebstahlsgeschichte eines rosa- und silberfarbenen Bandes. In dieser seither viel diskutierten Episode schob der junge Rousseau, dieser Tat zu Recht beschuldigt, die Schuld auf Marion, ein Dienstmädchen ab, die daraufhin zu Unrecht entlassen wurde. Der Sympathisant Christoph Martin Wieland (1733–1813) bemerkte dazu: »Wir wollen, daß der Lehrer der 88

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Beispielsweise fallen Rousseau zahllose Anekdoten über die Jugendjahre in Bossey ein. Er beschränkt sich aber darauf, nur eine auszuwählen, die dem Leser etwas von dem Glück dieser Zeit vermitteln soll: »Wie sollte ich da nicht wagen, ihm [d. i. dem Leser] ebenso all die kleinen Anekdoten dieser glücklichen Zeit zu erzählen, Vorfälle, die mich noch heute vor Freude zittern lassen, wenn ich ihrer gedenke! Fünf oder sechs vor allem … Vergleichen wir uns: ich erlasse ihm fünf, aber einen, einen einzigen muß ich erzählen, unter der Bedingung, daß man mich ihn so breit und lang erzählen läßt, wie es mir nur irgend möglich ist, um mein Vergnügen daran zu verlängern.« Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Aus dem Französischen von Ernst Hardt. Mit einer Einführung von Werner Krauss. Frankfurt am Main 1985, S. 58. W[ilhelm]. G[ottlieb]. Becker: Eine Anekdote von J. J. Rousseau, aus seinen Memoiren gezogen. In: Ephemeriden der Menschheit (1780), Bd. 1, S. 121–125.

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Tugend selbst untadelich sey.«90 Um den Ruf seines Helden zu retten, weist Wieland auf die inhärente Unzuverlässigkeit von Anekdoten und stimmt außerdem eine Jeremiade gegen die »Anekdotenkrämer« an: welch ein schweres Gericht wird einst über euch ergehen, wenn ein Tag kömmt, wo die so oft von euch mißhandelte, verunstaltete, und zur Lüge gemachte Wahrheit auftreten, und um Rache wider euch schreyen wird! Wann werdet ihr, von so häufigen täglichen Erfahrungen gewarnt, Behutsamkeit lernen.91

Doch was würde es bedeuten, wenn die Geschichte wahr wäre? Wieland fühlt sich gezwungen, diese Möglichkeit ins Auge zu fassen, gleichzeitig aber auch berufen, die Rolle von Rousseaus Anwalt zu übernehmen. Seine ermüdende Apologie führt mildernde Umstände in allen denkbaren Variationen als Argumente im Dienst einer wenigstens partiellen Entlastung an. Hauptsächlich ist daran die ungeheure Bedeutung zu erkennen, die Rousseau zur Figur kultischer Verehrung in den Augen vieler Europäer machte. Zugleich fällt auf, dass Wieland nirgendwo die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass die Anekdote – angenommen, sie sei wahr – ihn auf eine Art und Weise erreicht haben könnte, die sowohl ihre Einbettung in den größeren Zusammenhang der Lebensgeschichte als auch ihren Charakter als eine Art Beichte vergessen macht. Denn gerade diese Anekdote hat eine über die konkrete Begebenheit hinausgehende größere Bedeutung für das Leben Rousseaus, so sehr spätere Kommentatoren und Literaturwissenschaftler über die genaue Art dieser Bedeutung gestritten haben mögen. Das Besondere an der geschilderten Anekdote liegt in der Tatsache, dass Rousseau selbst seine jugendliche Missetat beichtete und gerade nicht von einem anonymen Kompilator einer Chronique scandaleuse bloßgestellt wurde. Diesem Aspekt schenkte Wieland keine Aufmerksamkeit oder berührte ihn höchstens am Rande. Stattdessen bereitete ihm die Vorstellung Unbehagen, dass Rousseaus unveröffentlichte ›Geheimgeschichte‹ mit weiteren Details aufwarten könnte und dem Publikum schließlich die Enthüllung einer sich um ein einziges Individuum drehenden Chronique scandaleuse bevorstünde. Wie man aber nach der Veröffentlichung des ersten Teils der Bekenntnisse im Jahre 1782 wissen konnte, war die Anekdote des rosa- und silberfarbenen Bandes keine diffamierende Lüge.92 Wielands Behandlung der Anekdote lie90

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Christoph Martin Wieland: Über eine Anekdote von J. J. Rousseau (an einen Freund). In: Wielands Werke. Hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma. Berlin [u. a.] 2012, Bd. 15.1, S. 247–256, hier S. 249. Christoph Martin Wieland: Über eine Anekdote von J. J. Rousseau [Fortsetzung]. In: Ebd., S. 257–278, hier S. 275. – Über ein früheres, die Zivilisationskritik betreffendes Kapitel in der Rezeption Rousseaus bei Wieland informiert Walter Erhart: »Was nützen schielende Wahrheiten?« Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin 1994, S. 47–78. Die Veröffentlichung veranlasste Wieland dazu, einen Nachtrag zu seinen früheren Beiträgen zu verfassen, in dem er sich zu der vermeintlichen Bestätigung seiner apologetischen Argu-

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fert daher ein Lehrstück dafür, wie die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissene Einzelepisode eine tiefere Bedeutung offenbart, sobald sie in diesen Zusammenhang zurückgesetzt wird. Diesen Zusammenhang bildeten schließlich die Bekenntnisse selbst als Resultat einer nachhaltigen Introspektion, deren narrative Struktur weit komplexer ist als eine mehr oder minder willkürliche Aneinanderreihung von Anekdoten. Von einer vergleichbaren psychologischen Komplexität und Kontinuität der Charakterentwicklung kann bei Laukhard kaum die Rede sein.93 Sein selbst erteilter, autobiographischer Auftrag bestand darin, als Augenzeuge über alles gewissenhaft zu berichten, was sich vor seinen Augen zugetragen hatte, und nicht so sehr darin, auf die innere Stimme zu horchen und die Entwicklung, durch die diese Stimme ihre Sprache findet, nachzuzeichnen. Laukhard erscheint uns gerade deswegen sympathisch, weil er seinem Charakter treu bleibt, aber gerade deswegen entfaltet und entwickelt sich dieser Charakter wenig. Diesen Mangel an Entwicklung können wir an seiner religiösen Haltung beobachten, auf die kurz eingegangen sei, zumal ihre frühere Ausrichtung dem bleibenden Eindruck geschuldet ist, den eine mündlich vorgetragene Chronique scandaleuse hinterließ. Wie er erzählt, hatte der Vater ihm bereits als kleinem Jungen eine antiklerikale Haltung eingetrichtert: Er [d. i. Laukhards Vater] nahm mich des Abends, auch spät in der Nacht, mit auf den Kirchhof, und erzählte mir bei seiner Pfeife Tabak, allerhand Anekdoten, wie der und der durch Betrug der Pfaffen – mein Vater kleidete seine skandalösen Histörchen [!] allemal so ein, daß ein Pfaffe dabei verwickelt war: daher mein unbezwinglicher Haß gegen alles, was Pfaffe heißt – mit Gespenstern wären geneckt worden. […] Auf diese Art legte damals mein Vater den Grund zu der Irreligion, welcher in der Folge meinen Kirchen-Glauben glücklich vernichtet hat.94

Spätere Erfahrungen wirken nur bestätigend auf diese bereits früh angeeignete Glaubenshaltung ein, sei es die deistische Lektüre, die ihm ein frommer Professor in Gießen ausleiht, oder die Begeisterung für die ›Reimarus-Fragmente‹, die Lessing veröffentlicht.95 Letzteres inspiriert Laukhard sogar zur

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mente verhielt. Siehe ders.: Über die Frage: In wiefern es gut sey, die Übelthaten vortreflicher Menschen bekannt zu machen? In: Ebd., S. 285–307. Laukhards Desinteresse an Psychologie ist mehrfach festgestellt worden, vgl. z. B. Müller: Roman und Autobiographie (wie Anm. 9), S. 183f., und wird auf die Romane übertragen, etwa von Weiß: Laukhard (wie Anm. 4), Bd. I, S. 24. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. 39f. Es handelt sich um Matthew Tindals Christianity as old as the Creation, siehe Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. I, S. 203f. Die Reaktion auf die Fragmente ist symptomatisch; Laukhard ist begeistert und zeigt sie seinem Vater, der ihm daraufhin rät, »da ich nun gescheut genug seyn müste, alles das für mich zu behalten, und nichts davon ins Publikum zu bringen. Aber das war kein Rath für mich […].« Ebd., S. 300. Auf eine ähnliche Art und Weise integriert Laukhard auch die historische Perspektive, die Semler in seinen theologischen Studien entwickelt und dann Laukhard vermittelt, in seinen Unglauben. Zu diesem spezifischen Einfluss von Semler siehe ebd., Th. II, S. 137.

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Gründung eines deistischen Zirkels, dessen Mitglieder er aber nicht öffentlich nennt, »denn es möchte ihnen in einem Land schaden, wo man so inquisitorisch denkt, wie in der Pfalz«.96 Gerade solche Diskretion vermisst Laukhard bei Bahrdt, der an einer Stelle seiner Lebensgeschichte erzählt, wie sich er und sein Freund und Kollege bei den philanthropinischen Projekten, Christoph Heres, einen Spaß daraus machten, die »Spuren des Fabelhaften« im Alten Testament aufzusuchen. Bahrdt scheint sich gar nicht um den »Verdruß« zu kümmern, der Heres infolge seiner öffentlichen Nennung in diesem Zusammenhang zustoßen könnte. Dazu Laukhard: »Bahrdt sollte seine Freunde besser schonen.«97 Obwohl er Bahrdt für seine mangelnde Diskretion im Umgang mit der Glaubenshaltung anderer Menschen rügt und dessen notorische Leichtfertigkeit in der Behandlung der Wahrheit sehr gut kennt, attestiert er ihm eine hohe Glaubwürdigkeit in der Schilderung seiner eigenen Wandlung: »Der Doktor ist sehr aufrichtig in der Historie seiner Aufklärung.«98 Von einem streng orthodoxen Hintergrund kommend wirft Bahrdt ein Dogma nach dem anderen ab, bis er schließlich einen sozinianischen Deismus bekennt. Diese Entwicklung durchzieht die vier Bände von Bahrdts Lebensgeschichte wie ein roter Faden.99 Vergleichbares gibt es bei Laukhard nicht. Insofern ist es nur konsequent, wenn er in Anlehnung an Bahrdt den Titel Geschichte seines Lebens, Meinungen und Schicksale um das Element der Meinungen kürzt, um beim Titel seiner eigenen Autobiographie anzukommen: Leben und Schicksale.100 Denn wenigstens in religiöser Hinsicht ist für Laukhard kaum eine Geschichte seiner Meinungen zu erzählen. Es bleibt nur zu fragen, ob es klug von ihm ist, diesen freigeistigen Standpunkt so ungeniert zur Schau zu stellen, anstatt ihn beispielsweise nur bei vertrauten nächtlichen Gesprächen auf Kirchhöfen zu artikulieren.101 Und es fragt sich nicht zuletzt, ob es überhaupt klug ist, eine Autobiographie zu schreiben. 96 97 98 99

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Ebd., Th. I, S. 301. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 105. Ebd., S. 58. Als weiteres Beispiel für eine tendenziell gleichbleibende Form der Glaubensentwicklung, die aber in eine naturalistisch-deistische Richtung führt, kann man auf Johann Christian Edelmann und seine Autobiographie verweisen. Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie (wie Anm. 9), S. 12f. Siehe dazu auch den Beitrag von Michael Multhammer in diesem Band. Laut Saine: Magister Laukhard (wie Anm. 41), S. 155, erfolgte die Orientierung an Bahrdts Titel aus der strategischen Überlegung heraus, die Erfolgschancen seiner eigenen Lebensgeschichte zu steigern: »Laukhard brought out the first two parts of his Leben und Schicksale in 1792, shortly after Bahrdt’s death, imitating Bahrdt’s title and presumably hoping to profit from the notoriety of Bahrdt’s work.« Die Gefahren hat Laukhard bereits in Beyträgen und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 57f., thematisiert: »wie steht es denn mit dem Gebrauch, den ein Mensch von seinen freiern Kenntnissen machen soll? – Jeder wird mir zur Antwort geben, da sey Behutsamkeit und Klugheit höchst nothwendig. [...] Der Mensch ist nicht Herr über seine Vernunft, er kann seine Einsicht nicht lenken nach Willkühr, aber er kann und muß, wenn er klug ist, sein Maul

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III. »Wir brauchen keine Tugend, sagt der große Rousseau, wenn wir nur klug sind. Ich habe nachher gelernt, daß man unter dem Namen Rechtschaffenheit, Menschenliebe und überhaupt Tugend bloß Klugheit – so oder so modifiziert – meint.«102 In einer Fußnote gibt Laukhard das angebliche französische Original der hier zitierten Stelle wieder: »Il ne faut point de vertu, si nous sommes sages.« Die eigentliche Stelle bei Rousseau verrät er nicht, aber gewiss handelt es sich um eine Paraphrase eines Satzes aus dem zweiten Buch der Bekenntnisse: »si nous voulions être toujours sages, rarement aurions-nous besoin d’être vertueux.«103 Rousseau erzählt, wie er als junger Mann in Turin mehr oder weniger unfreiwillig, aber auch zum großen Teil widerstandslos zum Katholizismus konvertierte. Die Lehre, die er rückblickend daraus zieht, will sagen, dass wir durch weises Verhalten meistens jene Situationen vermeiden können, an denen unsere Tugendhaftigkeit auf die Probe gestellt wird. Laukhard vollzieht nun eine Umdeutung dieses Satzes, die allerdings mit der allgemeinen Weltanschauung Rousseaus im Einklang bleibt. In dieser geänderten Form musste der Gedanke für Laukhard ansprechend erscheinen, da er eine Versöhnung zwischen zwei sonst widersprüchlichen Neigungen andeutet, die sein eigenes Schreiben durchziehen. Einerseits meldet sich eine reuevolle Selbstanklage, die aus dem Mund des vorher Unklugen, jetzt Einsichtigen ertönt. Dem korrespondiert ein Ungerechtigkeitsempfinden, das Laukhard in apologetischer Absicht artikuliert. Er erkennt also, dass sein Missgeschick selbstverschuldet ist – er hätte klüger handeln sollen –, doch kann diese Einsicht die verbitterte Klage über eine Welt nicht ganz unterdrücken, in der Anerkennung und Erfolg im Leben solche Klugheit erfordern. Man kann Laukhard Mangel an Klugheit vorwerfen, so wie er der Welt einen Mangel an Tugend vorwirft. Wiederholt demonstriert Laukhard entweder Unvermögen oder Unwille, sich mit dieser Welt, wie sie ist, zu arrangieren. Leben und Schicksale enthält eine andere Passage, in der sich Rousseaus Einfluss bemerkbar macht. Allerdings verschweigt Laukhard an dieser Stelle die Anlehnung an Rousseau – und zwar nicht aus Rücksicht auf ihn oder einen anderen Menschen, sondern um die Gültigkeit des Gesagten überhaupt vertreten zu können. Am Ende des zweiten Bandes zieht Laukhard Bilanz und behauptet mit Blick auf seine Leistung, dass er niemanden kenne, »der so, wie

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regieren, und nie zur Unzeit mit Aeußerungen herausplatzen, die ihm Schaden verursachen können.« Solche Stellen belegen Müllers Beobachtung, dass »Laukhards Bewußtsein seiner Lebensklugheit deutlich überlegen war.« Müller: Roman und Autobiographie (wie Anm. 9), S. 191. Immer wieder lautet die Lehre, die Laukhard aus seinen Eskapaden zu ziehen hat, ganz einfach: Beim nächsten Mal klüger handeln! Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 178. Jean-Jacques Rousseau: Œuvres Complètes. Vol I.: Les Confessions. Autres textes autobiographiques. Hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris 1959, S. 64.

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ich, sich ohne alle Maske hingestellt hätte: dadurch rechne ich auf die Freundschaft des klügern und unpartheiischen Publikums, und bekümmere mich nicht um den Tadel und den Unwillen Einiger, denen ich etwas zu nahe getreten bin.«104 In seinem Anspruch auf Einzigartigkeit paraphrasiert Laukhard die berühmten Anfangssätze der Rousseauschen Bekenntnisse: »Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich.«105 Dem Leser, der die Vorlage der Bekenntnisse erkennt, muss es allerdings auffallen, wie paradox die Paraphrase als Mittel ist, mit dem ein Anspruch auf Einzigartigkeit begründet werden soll. Laukhard schreibt unter dem Einfluss von Rousseau, und natürlich war er in der Hinsicht alles andere als eine Ausnahmeerscheinung im späten 18. Jahrhundert. Überall, wo man hinschaut, stößt man auf Anklänge des autobiographischen Programms, das Rousseau seinen Bekenntnissen vorausschickt. Der Widerhall des Vorsatzes, »vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur [zu] zeigen«, vernimmt man beispielsweise, wenn Bahrdt den Lesern seiner Autobiographie verspricht, dass »Sie sicher darauf rechnen [können], daß Sie mich hier in puris naturalibus zu sehen bekommen«.106 Gerade dieser Appell an Rousseaus Programm musste als besonders heuchlerisch erscheinen, da die apologetische Intention hinter Bahrdts Lebensgeschichte der Selbstentblößung enge Grenzen setzte.107 In diesem Zusammenhang ist die Absichtserklärung von Degenhard Pott (1759–1804) interessant. Pott war der einstige Vertraute und Mitarbeiter Bahrdts. Zur gleichen Zeit als Bahrdt im Magdeburger Gefängnis saß, arbeitete Pott an einer Biographie desselben, in deren Einleitung man den Satz findet: »Ich werde das getreueste Gemählde von meinem Helden zu entwerfen suchen [...], um mit Rousseau sagen zu können: ›Ich will meinen Mitmenschen einen ihrer Brüder ans Tageslicht bringen, und ihn so wahr darstellen, wie ihn die Mutter Natur gebildet hat‹.«108 Hier handelt es sich nicht nur um eine eigene Übersetzung der Absichtserklärung Rousseaus, sondern auch um eine eigenwillige Zerstückelung derselben. Als Biograph, der kein Autobiograph ist, kann er sich nur auf dieses Zitat von Rousseau berufen, indem er 104

Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 5), Th. II, S. 506. – Siehe auch seine Behauptung am Ende des zweiten Teils, »daß in der Gallerie der Menschen noch keiner sich ihm gleich hingestellet hat.« Ebd., S. 512. 105 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse (wie Anm. 88), S. 37. 106 Bahrdt: Geschichte seines Lebens (wie Anm. 50), Th. I, S. 4. 107 In gewohnt positiver Einschätzung von Bahrdt nennt Günter Mühlpfordt Bahrdts Erinnerungen »eine kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges und von der Aussagekraft Rousseauscher ›Confessions‹.« Gunter Mühlpfordt: Bahrdts Weg zum revolutionären Demokratismus. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 29 (1981), S. 996–1017, hier S. 1008. 108 Pott: Leben, Meynungen und Schicksale (wie Anm. 38), Vorrede, o. p. [4]. – Zu Pott und seinem Streit mit Bahrdt siehe Lößl: Karl Friedrich Bahrdt (wie Anm. 24), S. 7f.

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den entscheidenden Zusatz des Originals diskret fallen lässt: »... und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich.« Für die Gattungsgeschichte ist der von Pott stillschweigend übergangene Zusatz entscheidend, denn mit ihm begründet die Autobiographie ihren Anspruch, mehr zu sein als die Beschreibung eines Menschen, deren Autor genauso gut jemand sonst hätte sein können. Die autobiographische Entblößung, der sich Rousseau und seine Anhänger verschreiben, kann nur von der Position des Subjekts aus unternommen werden.109 Dementsprechend ist das höchste Ideal nicht die Wahrheit, sondern die Wahrhaftigkeit.110 Dafür betont Pott zugleich eine Qualität, auf die nur der Biograph und nicht der Autobiograph Anspruch erheben kann: die Unparteilichkeit.111 Schwerlich kann man von einer Person in der Beschreibung ihres eigenen Lebens und daher in ihrer Beziehung zu sich selbst Unparteilichkeit verlangen.112 Aus dem Grunde möchte man den Vorwurf der mangelnden Unparteilichkeit für überflüssig halten, den ein anderer Kommentator der Lebensgeschichte Bahrdts, Georg Gottfried Volland (gest. 1795), ausdrücklich erhob. Dies wird tendenziell durch seine Beobachtung bestätigt, dass fehlende Unparteilichkeit ein allgemeines Problem des autobiographischen Schreibens sei: Seine eigene Lebensgeschichte unpartheiisch zu schreiben, ist so leicht nicht, als es bei dem ersten Anblick scheinen möchte. Ein Mann, der mehr von sich sagen kann, als daß er geboren worden, gelebet, ein Weib genommen, und Kinder gezeuget, wird sich nicht selten in große Verlegenheit verwickelt sehen, wie er die Eigenliebe mit der Unpartheilichkeit vereinigen solle. Beide haben noch nie 109

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»Nul de peut écrire la vie d’un homme que lui-même. Sa manière d’être intérieure, sa véritable vie n’est connue que de lui …« Rousseau: Ébauches des Confessions. In: Ders.: Œuvres Complètes (wie Anm. 104), S. 1149. Der Unterschied ist daran erkennbar, dass Rousseau bereit ist, die Möglichkeit einzugestehen, dass sein Bericht mit der objektiven Wahrheit vielleicht nicht, aber mit seinem subjektiven Dafürhalten der Wahrheit schon immer übereinstimmt. Im Programm am Anfang heißt es: »sollte es mir widerfahren sein, irgendwo im Nebensächlichen ausgeschmückt zu haben, so ist es niemals aus einem anderen Grunde geschehen, als um eine Lücke auszufüllen, die mein Gedächtnis verursacht hat. Ich habe für wahr halten dürfen, was meines Wissens hätte wahr sein können, niemals aber etwas, von dem ich wußte, daß es falsch sei.« Rousseau: Bekenntnisse (wie Anm. 88), S. 37. Und dann später am Anfang des siebten Buches, wo er erneut das Hohelied der Wahrhaftigkeit anstimmt: »Ich kann Tatsachen vielleicht auslassen und mich, was die Zeiten anbetrifft, vielleicht irren, aber in dem, was ich empfunden und was meine Empfindungen mich haben begehen lassen, kann ich mich nicht täuschen, und darum handelt es sich ja auch vornehmlich.« Ebd., S. 394. Pott beschreibt sich selbst als einen Mann, der »nie Parthie [sic!] für Sie [d. i. Bahrdt], noch wider Sie nahm.« Pott: Leben, Meynungen und Schicksale (wie Anm. 38), S. 4. Es wäre dann zu fragen, inwiefern Laukhard selbst bei aller Verehrung für Rousseau tatsächlich die Implikationen des am Anfang der Bekenntnisse stehenden autobiographischen Programms nachvollzogen hat, denn ihm geht es in erster Linie um die objektive Wahrheit anstatt der subjektiven Wahrhaftigkeit. Müller spricht von einer »extravierte[n] Form der Selbstobjektivierung« bei Laukhard (Müller: Roman und Autobiographie (wie Anm. 9), S. 189), und diese Bemerkung ist meines Erachtens vielsagend, da sie Laukhards Vorstellung des autobiographischen Prozesses wiedergibt, demzufolge er aus sich selbst herauszutreten hat, um sich selbst – schonungslos – als objektiven Gegenstand zu beobachten.

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in einem recht guten Vernehmen mit einander gestanden, und werden auch wohl niemals aufrichtige Freundinnen werden.113

Ein anderer Aspekt, bei dem Volland mehr Spielraum für den Autobiographen zu erkennen meint, ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung. In dieser Hinsicht erteilt er folgenden Rat: »Es ist immer besser und den Gesetzen der Klugheit gemässer, wenn der Schriftsteller seine selbst verfertigte Lebensgeschichte bey sich niderleget, und sie erst nach seinem Tode der Welt in die Hände kommen läßet, indem er alsdann über alles Rothwerden und Verantworten hinaus gesetzt ist.«114 Rousseau hat wenigstens in dieser Hinsicht die Stimme der Klugheit befolgt, indem er seine Lebensbeschreibung erst nach seinem Tod erscheinen ließ.115 Eine Person wie Laukhard, dessen Antrieb zur Autobiographie wesentlich ›im Magen‹ lag, war offenbar weniger frei, über den Zeitpunkt zu disponieren, zu dem seine Autobiographie erscheinen sollte. Wie anfangs erwähnt, steht zu vermuten, dass er gerade aufgrund seiner exponierten Freizügigkeit in der Weitergabe von Informationen auf eine Steigerung der materiellen Vorteile hoffte, die ihm das Projekt einbringen sollte. Es war ihm gewiss ebenfalls bewusst, dass er sich dadurch über kurz oder lang beschwerliche Komplikationen zuziehen würde. Bereits in seiner Auseinandersetzung mit Bahrdt hatte er erklärt, dass der Mensch, »wenn er klug ist, sein Maul regieren, und nie zur Unzeit mit Aeußerungen herausplatzen [sollte], die ihm Schaden verursachen können«.116 Doch war Laukhard vor allem sich selbst gegenüber unbelehrbar, und gerade diese Unbelehrbarkeit nimmt seinem Leben sowie dessen Schilderung jede Dynamik einer Fortentwicklung.117 Man hat den Eindruck, dass Laukhard, nachdem er durch seine Lebensgeschichte berühmt-berüchtigt geworden war, wiederholt versuchte, geordnete Lebensverhältnisse zu schaffen. Die amtlichen Lebenszeugnisse, die im Gleichschritt mit seinem eigenen schriftstellerischen Verstummen immer spärlicher werden, belegen jedoch, wie ihm dies immer wieder misslang. Im Frühjahr 1798 machte er Anstalten, eine besoldete Stelle an der Universität in Halle anzustreben. Er rechnete dabei auf die Gunst des Königs, den er persönlich im Feldzug gegen Frankreich kennengelernt hatte. Der Mathematikpro-

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Georg Gottfried Volland: Beiträge und Erläuterungen zu Herrn Doctor Carl Friedrich Bahrdts Lebensbeschreibun die er selbst verfertiget. Jena 1791, S. 1. – Volland, ein Prediger zu Ammera bei Mühlhausen, war der Bruder der Ehefrau, die Bahrdt verstoßen hatte. Seine Schrift sollte ihre Ehrenrettung bewirken. Ebd., S. 4. Rousseau: Bekenntnisse (wie Anm. 88), S. 560: »Meine ›Bekenntnisse‹ sind nicht bestimmt, zu meinen oder noch zu Lebzeiten derjenigen Menschen zu erscheinen, die darin erwähnt werden. Wenn ich Herr über mein Geschick und über das Geschick dieser Schrift wäre, so würde sie erst lange nach meinem und ihrem Tode ans Lichts kommen.« Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 58. Siehe erneut Klaus-Detlef Müllers Beobachtung (wie Anm. 101).

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fessor Georg Simon Klügel (1739–1812) in Halle begründete die Abweisung des Gesuchs gleich mehrfach mit einem Verweis auf Leben und Schicksale: Seine Lebensart hat wenigstens ehemals zu viel anstößiges gehabt, daß wir wegen des Einflußes auf ungebildete Jünglinge selbst seinen Aufenthalt hier nicht gern gesehen haben. Auch würde die Universität dadurch bey Auswärtigen leiden, da der Laukhard durch manches, was er in den Nachrichten erzählt, sich selbst sehr nachtheilig geschildert hat.118

Interessanterweise entspricht dies genau dem Argument, das Semler nach Laukhards Bericht in seinen Beyträge[n] und Berichtigungen veranlasst hatte, Bahrdts Streben nach einer universitären Stelle entgegenzustehen.119 Damals fand Semlers Position Laukhards Zustimmung. Aber trotz aller Ernüchterung behielten Laukhards Gefühle gegenüber Bahrdt doch Spuren der Bewunderung. Von einer Feindschaft lässt sich nicht sprechen. Es ist sogar ein bemerkenswerter Umstand, dass Laukhard für seinen Sohn den Namen ›Karl Friedrich‹ ausgesucht hat. Obschon der längst verstorbene Bahrdt hier nicht Pate gestanden haben kann, ist es kaum vorstellbar, dass Laukhard die Übereinstimmung mit dem Vornamen des enfant terrible der Aufklärung aus Versehen unterlaufen sein sollte. Dieser Sohn starb schon 1810 im Alter von elf Jahren.120 Da war Laukhard 52 Jahre alt, so alt wie Bahrdt bei seinem Tod. Im darauffolgenden Jahr wurde Laukhard jede weitere Tätigkeit als Pfarrer mit der Begründung verboten, dass er »sich selbst in seinen Schriften als einen schändlichen Menschen darstellt«.121 Wäre es also besser gewesen, wenn er angesichts solcher Rückschläge Leben und Schicksale nie geschrieben hätte? Uns, die sich für die Geschichte im Allgemeinen und für diesen ganz bewegten Abschnitt im Besonderen interessieren, fällt es leicht, das vehement zu verneinen. Für uns liegt die Hauptkonsequenz von Laukhards Entscheidung, sein Leben darzustellen, darin, dass wir um eine höchst aufschlussreiche und unterhaltsame Quelle reicher sind. Für Laukhard stellten sich Konsequenzen ganz anderer Natur ein. In seinem Erstlingswerk erklärte er Bahrdt für einen Ketzer: »das ist ein Mensch, der die Grundartikel der öffentlichen Religion verwarf, und das nicht glaubte, was bisher in der Kirche, zu welcher er sich bekannte, als göttliche Wahrheit öffentlich gelehret wurde.«122 Spätestens mit der Veröffentlichung seiner Autobiographie gehörte Laukhard ebenfalls zu dieser Gruppe, denn die Lektüre vermittelte dem Leser ein eindeutiges Bild seiner Ablehnung jedes kirchlichen Glaubens. Bereits Bahrdt, der sich mit dem Ketzerbegriff vor allem in seiner Hallenser Zeit stark identifizierte, wusste, dass »die eigentlichen Ketzer schon 118 119 120 121 122

Engels, Harms: Nachwort und Materialien (wie Anm. 5), S. 195f. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 202–204. Vgl. Herrsteiner Todeseintrag von Laukhards Sohn Karl Friedrich aus dem Jahr 1810. In: Engels, Harms: Nachwort und Materialien (wie Anm. 5), S. 201. Ebd., S. 44. Laukhard: Beyträge und Berichtigungen (wie Anm. 42), S. 58.

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vor vielen hundert Jahren tod waren«.123 Nicht selten waren sie von Staat und Kirche umgebracht worden. Das hatte sich in der Zwischenzeit geändert. Der Freigeist, der kein Blatt vor den Mund nahm, hatte nicht mehr so sehr das harte Durchgreifen von Staat und Kirche zu befürchten. Stattdessen wurde an ihm eine schleichende Bestrafung vollstreckt, welche die Gesellschaft stufenweise über unzählige Benachteiligungen, Abweisungen und Demütigungen erteilte und die auf eine Marginalisierung ins soziale Abseits hinauslief. An Laukhards Leben und Schicksal, nachdem er Leben und Schicksale geschrieben hat, kann man das exemplarisch beobachten.

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Bahrdt: Kirchen- und Ketzer-Almanach (wie Anm. 46), S. 26.

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Gebrian, der Anti-Émile: Aristokratiekritik und politische Bildung in Friedrich Christian Laukhards Marki von Gebrian

Friedrich Christian Laukhards 1800 erschienener »politisch-komischer Roman« Marki von Gebrian oder Leben und Ebentheuer eines französischen Emigranten ist verhältnismäßig übersichtlich, gleichzeitig aber mit Handlung reich angefüllt.1 Dennoch wird der Marki von Gebrian nur mit beschränktem Recht als Abenteuerroman gehandelt,2 gibt doch das ›Ebentheuer‹ nur den Rahmen ab, innerhalb dessen Probleme vor allem politischer und gesellschaftlicher Art verhandelt werden, die über das rein Abenteuerliche weit hinausgehen. Die Rede ist von den Missständen in Frankreich am Vorabend der Französischen Revolution, die Laukhard in der Hauptsache auf die mangelnde Eignung der Aristokratie zum politischen Geschäft zurückführt. Der Roman erzählt die Geschichte eines mehr bauernschlauen als raffiniertlistigen Parvenus, der als »französischer Emigrant« in einem deutschen Fürstentum geboren wird, in Paris aristokratische Bildung (bestehend aus Trunksucht und Schürzenjagen) erhält, um im Anschluss so manches Abenteuer mehr zu überstehen als zu meistern. Sowohl in der vorrevolutionären Zeit als auch als Obrist, Lazarettinspektor der Koalitionstruppen und anderes mehr prellt und betrügt Gebrian deutsche Adlige, Militärs und Frauen, immer auf den eigenen Vorteil bedacht, bis der Roman mit dem verhältnismäßig unvermittelten Verbleib des Gebrian in einem Amt als Lakai im Städtchen ›Gurkenheim‹ endet; verhältnismäßig unvermittelt deshalb, weil dem keine Katharsis vorausgeht. Längere Reflexionen über zeitgeschichtliche Zustände finden kaum statt, gelehrte Gespräche politischer Entscheidungsträger und ihrer Berater sind im Gebrian nicht zu finden: weder in der Erzählerrede (dieser beschränkt sich auf kurze Kommentare), noch in der Figurenrede (dafür fehlt es dem Personal des Romans schlicht an Gelehrten). Das Gelehrtengespräch präsentiert Laukhard nur noch in seiner Schwundstufe, als Austausch 1

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Es wird nach der Saarbrückener Ausgabe zitiert: Friedrich Christian Laukhard: Marki von Gebrian oder Leben und Ebentheuer eines französischen Emigranten. Ein politisch-komischer Roman. 2 Teile. Hg. von Christoph Weiß. Saarbrücken 1989. Im Folgenden abgekürzt als ›Gebrian I‹ bzw. ›Gebrian II‹. In dieser Ausgabe umfasst Laukhards Roman 170 Seiten. Vgl. Markus Krause: Literatur und Abenteuer. Friedrich Christian Laukhard – ein vergessener »Wildling der bürgerlichen Ausklärungsperiode«. In: Joachim Krause, Norbert Oellers u. Karl Konrad Polheim (Hg.): Sammeln und Sichten. FS für Oscar Fambach zum 80. Geb. Bonn 1982, S. 183‒201.

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zwischen ›homines politici‹, die dies nur noch der Geburt oder dem Amt nach sind, nicht aber nach Eignung bzw. Ausbildung ihrer Tüchtigkeit (griech. ἀρετή, aretḗ). Von einer umfassenden Paraphrase ist hier abzusehen: Zum einen sind Gebrians »Ebentheuer« von Sauflingen über Paris, Petersburg bis nach Gurkenheim hierfür zu zahlreich; zum anderen soll im vorliegenden Beitrag vielmehr Laukhards Stellung rekonstruiert werden, die er gegenüber der französischen Revolution im Speziellen und der Demokratie im Allgemeinen vor allem auf Basis pädagogischer Überzeugungen einnimmt. Dem steht die genannte relative Reflexionsarmut nicht entgegen; so hat Laukhard seine Emigranten- und Aristokratiekritik vermehrt in deren Handlungsweisen und -entscheidungen, also ihren impliziten Selbstverständlichkeiten untergebracht. Vor dem Hintergrund der durchaus noch Gesetzescharakter genießenden Doktrin von der strikten Differenz von Fiktion und Wirklichkeit sind dieses Untersuchungsinteresse und besonders das vom Verfasser gesehene Erkenntnisversprechen dieses Vorgehens jedoch nicht unstrittig. Daher sind vorab einige literaturphilosophische Bemerkungen zum ›Erkenntniswert von Literatur‹3 unabdingbar, um das hiesige Vorhaben hinreichend zu plausibilisieren und letztlich zu legitimieren.

I. Laukhards faktuales Erzählen Obgleich schon Christoph Weiß in der bisher einzigen großen Studie zu Laukhards Romanwerk die »zeitkritischen Realitätsbezüge[]« als »dominierend[]« ansieht,4 liegt mit Laukhards Marki von Gebrian kein politischer, jurisprudenzieller oder sonstwie gearteter Traktat vor, sondern mit einem Roman ein literarisches Medium. Damit ist der Marki von Gebrian eben kein Text, der streng philologisch Anspruch auf Faktualität in dem Sinne erheben könnte, dass die in ihm geschilderten Handlungen und Personen als berichtete Handlungen und Personen prinzipiell der Möglichkeit historischer Überprüfung unterlägen. Dennoch: Seine Fiktionalität versperrt dem Text nicht die Möglichkeit, am fiktiven Gegenstand referenzielle Leistungen zu erbringen und diese Leistungen bleiben von wohlfeilen Einwänden der Art, dass etwa allein ein Städtchen namens Gurkenheim nicht existiert, unbeschadet. Im Gegenteil zeigt die Erzähltheorie, »daß die Konstruktion der erzählten Welt im Leseakt nicht nur inklusiv [also durch die im Text selbst gegeben Hinweise auf die Wirklichkeits- und Möglichkeitsstrukturen der Textwelt], sondern auch exklusiv

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Vgl. Gottfried Gabriel: Der Erkenntniswert der Literatur. In: Alexander Löck, Jan Urbich (Hg.): Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Berlin 2010, S. 247–261. Christoph Weiß: Friedrich Christian Laukhard (1757–1822). 3 Bde. St. Ingbert 1992 (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft, 38), Bd. I, S. 24.

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erfolgt«.5 Andreas Kablitz hat gegenüber der postmodernen Theoriegebung überzeugend eingeklagt, dass im Falle narrativer Leerstellen der Leser darauf angewiesen ist, diese Lücken im ›cognitive approach‹ mit Mitteln der Erfahrungswirklichkeit, d. h. eben gegenüber der erzählten Welt selbst exklusiv, zu füllen.6 So ergibt sich für Kablitz mit ganzem Recht »nichts anderes, als daß jede Aussage – und auch diejenige des fiktionalen Textes –, solange sie am Gegebenen, an der historischen Faktizität keine ausdrücklichen Veränderungen vornimmt, sich auf eben diese Faktizität bezieht«.7 Mehr noch als mit dieser von Kablitz hier vorgeschlagenen rein negativen Bestimmung der Repräsentationalität fiktionaler Literatur kann ihre positive Leistungsbestimmung Aufschluss geben. Unter Verabschiedung eines Repräsentationscharakters von fiktionaler Literatur, der als Abbildungsverhältnis freilich falsch begriffen wird, verbleibt nichtsdestoweniger eine ›faktuale Pragmatik fiktionaler Texte‹8 dort, wo der Literatur gemäß Gottfried Gabriel eben nicht Mitteilungs-, sondern Zeigecharakter zueigen ist: Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in ihr enthalten mitgeteilt, sondern gezeigt, und zwar in der Weise, dass ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und auf diese Weise – zu einem Besonderen geworden – einen allgemeineren Sinn aufweist.9

In Anlehnung an die terminologische Tradition von Leibniz und Baumgarten sieht Gabriel in der literarischen Fiktion ein umgekehrtes Verweisverhältnis vom ›fingierten‹ Besonderen auf das ›wirkliche‹ Allgemeine gegeben,10 wobei mit jener ›Wirklichkeit‹ in der traditionellen Poetologie meist der Begriff ›Gleichnis‹ bzw. ›Gleichnishaftigkeit‹ mitgedacht und damit eine höhere, d. i. eine moralische Wirklichkeit angezeigt war.11 Dem muss im vorliegenden Fall gar nicht gefolgt werden, kann doch das im Marki von Gebrian von Laukhard gestaltete Besondere auch auf dessen vor allem soziopolitische Kritik als sein Allgemeines verweisen; so die nun näher ausgeführte These. Aus diesen Argumenten wird im Folgenden das gleichermaßen literaturund ideenhistorische Recht bezogen, den kritischen Bezug des Romans Marki von Gebrian auf Laukhards historische Wirklichkeit und die dort geführten Debatten als für seine Bedeutung und sein Verständnis wesentlich aufzuzei5 6

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Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 62005, S. 126. Andreas Kablitz: ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹. Der ›unreliable narrator‹ und die Struktur der Fiktion. In: Comparatio 1 (2009), S. 113‒144, hier S. 124. Ebd., S. 129. Diesen Begriff verdanke ich der hervorragenden Arbeit von Katharina Kerl: ›La licenza del fingere‹ – Torquato Tassos Gerusalemme Liberata und das Fiktionsproblem der italienischen Spätrenaissance. Diss. München 2012. Gabriel: Der Erkenntniswert der Literatur (wie Anm. 3), S. 256. Ders.: [Art.] Fiktion, literarische. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar 32004, Bd. 1, S. 648f., hier S. 649. Dazu ausführlich Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2009, bes. S. 9‒177.

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gen. Wenngleich also Laukhard weder seine Figuren noch seinen Erzähler ausführliche explizite Dispute zu den politischen Verhältnissen, zu Revolution und Konterrevolution führen lässt, aus denen allein bereits Erkenntnisse zu selbigen gezogen werden könnten, so sind dennoch die Politica und brennenden Fragen der ausgehenden 1780er Jahre durch und durch zur Darstellung gebracht: in den Handlungen, in den Charakteren, in ihren häufig nur beiläufigen Äußerungen. Im Folgenden wird daher eine nur grobe Zusammenfassung des Romans Einzelanalysen begleiten, die sich kleinere Ausschnitte, zum Teil eben auch nur vereinzelte Äußerungen vornehmen, in denen entscheidende Fragen bzw. Kritikpunkte der Zeitgeschichte zur Darstellung gebracht sind.

II. Für oder wider Rousseaus Pädagogik? Obwohl die Handlung des Romans in der Geniezeit angesiedelt ist,12 ist der Chevalier François Louis Henri Mariot Celestin Gebrian kein Held, schon gar kein positiver. Ein negatives Genie stellt er jedoch auch nicht dar. Es darf von ihm das Gleiche behauptet werden, was Markus Krause und Klaus-Detlef Müller zutreffend für den Autobiographen Laukhard feststellen: Im Zentrum des Romans steht überhaupt weniger das eigene – autonome! – Subjekt der Titelfigur. Der Marki von Gebrian ist weder positiver noch negativer GenieRoman. Das Interesse zielt vielmehr auf die Umwelt des Marki und die dort geführten Debatten.13 Dieser Fokus versteigt sich zwischenzeitlich in ein regelrechtes Desinteresse des Erzählers an seinem Hauptakteur. »Gern schwiege ich […]«, heißt es an einer Stelle im ersten Teil,14 um dann doch ausführlich mit der Erzählung fortzufahren, statt zu schweigen. In dieser Widersprüchlichkeit steckt Methode, nämlich eine, die das mit dem 19. Jahrhundert einsetzende Bewusstsein von der Autor-Erzähler-Distinktion15 als

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Vgl. Klaus Weimar: [Art.] Genie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. von demselben [u. a.]. Berlin, New York 2007, S. 701‒703, hier S. 701. Vgl. Krause: Literatur und Abenteuer (wie Anm. 2), S. 194; Klaus-Detlef Müller: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 183ff. Gebrian I, S. 65. Dass die Unterscheidung von Autor und Erzähler Teil Genettescher und Stanzelscher narratologischer Kategoriensysteme ist, die »mit modernen Mimesiskonventionen kontaminiert« ist, »weil sie an Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt wurden«, und daher nur historisch begrenzte, aber nicht systematisch notwendige Geltung beanspruchen darf, wurde besonders in den vergangenen zehn Jahren verstärkt eingeklagt, ist aber immer noch nicht hinreichend anerkannt: Gert Hübner: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz u. Klaus Ridder (Hg.): Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2004, S. 127‒150, hier S. 131ff.

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selbst schon ästhetisch reizvolle Doppelung ausnutzt: Der Autor Laukhard zwingt seinem Erzähler das Erzählen regelrecht auf. Der Autor Laukhard gestaltet einen keineswegs immer nüchternen, sondern selbst emotiv verfahrenden auktorialen Erzähler, der sich von der Hauptfigur in einem stets unübersehbaren Gestus moralischer wie intellektueller Überlegenheit distanziert und damit geradezu selbst zur Kontrastfolie des Titelhelden wird: Die Unangemessenheit von Gebrians Charakterbildung gegenüber den eigentlichen Erfordernissen seines Stands und seiner Ämter lässt Laukhard schon in jenen expliziten Distanznahmen seines Erzählers zutage treten, der von eben diesen Erfordernissen das ausreichende Wissen besitzt, um sich sein hinreichendes, wenngleich zynisches Urteil bilden zu können. Überhaupt stellt Unangemessenheit den roten Faden der Erzählung dar. Laukhard loziert seinen Gebrian in seiner Umwelt als Stümper, der sich in keiner der ihm gebotenen Situationen angemessen zu verhalten, sich in keinem der ihn umgebenden Milieus entsprechend zu bewegen und Chancen zu nutzen weiß, und installiert ihn so als Antagonist sowohl niederer als auch sublimer Gesellschaftsschichten und als Ignorant ihrer relevanten Fragen. Konstant bleibt hingegen jene auch emotive Eigenständigkeit der Erzählerrede, die sich nie als explikatives Füllsel der Figurenrede und -handlung begreift, sondern immer kommentiert und dabei gerne von den Figuren ins Allgemeine abschweift, wenn auch, wie schon gesagt, nur kurz. Wo das Abschweifen zur Dauereinrichtung wird, muss man statt von der Ausnahme von der Regel sprechen: Das Abschweifen des Erzählers wird im Marki von Gebrian zur poetischen Methode Laukhards. Und tatsächlich ist diejenige Entwicklung, welche mit gleichbleibender Spannung vom Erzähler – wie wohl auch vom Leser – verfolgt wird, nicht die des Marki von Gebrian, sondern die der Geschichte des an der Schwelle zur Revolution stehenden Frankreich und der deutschen Länder. Der Marki von Gebrian ist trotz zahlreicher zitathafter Andeutungen weder ein Wilhelm Meister noch ein Simplicius. Seine Erlebnisse, seine Gedanken und sein Handeln beschreiben keine Handlungskurve, sondern sind selbst nur Austragungsort entscheidender Fragen der Zeit, die zudem nie beantwortet werden, vor allem nicht vom Marki selbst. Der politisch-komische Roman Laukhards erzählt nicht die Geschichte eines Menschen; der Possessivgenitiv muss umgestellt werden: erzählt wird von einem Menschen der Geschichte: »[D]as Bewußtsein der Zeitgenossenschaft [dominiert] über das Interesse an der eigenen Individualität [...].«16 Gebrian ist der Sohn eines ehemaligen Hirtenjungen, der sich mit Hilfe einer Affäre mit der Fürstin von Avenosien bis zum Finanzverwalter des kleinen Fürstentums hochgedient hat. In der Forschung zum Gebrian17 blieb bis16 17

Müller: Autobiographie und Roman (wie Anm. 13), S. 184. Vgl. z. B. Harro Zimmermann: Die Emigranten der französischen Revolution in der deutschen Erzählliteratur und Publizistik um 1800. In: Francia 12 (1984), S. 305‒353; Weiß: Laukhard (wie Anm. 4), Bd. I, S. 117–131; Anne Feuchter-Feler: Regards contrastifs sur la

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lang unerwähnt, dass Gebrian senior als ehemaliger Savoyarde, der in das deutsche Avenosien auswandert, die erste (vorrevolutionäre) Emigrantengeneration darstellt. Zudem war Savoyen zu der Zeit, die im Fokus des Romans steht, Teil des eigenständigen Königreichs Sardinien unter den Königen Karl Emanuel I. und Viktor Amadeus II. Der im avenosischen Sauflingen geborene junge Gebrian ist also streng genommen weder ›de jure sanguinis‹, noch dem ›jus soli‹ nach Franzose. Im Hinblick auf die im Titel des Romans versprochene Thematisierung von »französischen Emigranten«, die Laukhard laut seiner Leben und Schicksale und der Vorrede zum Marki von Gebrian sehr zuwider waren, sind also Abstriche zu machen: Weder ist Gebrian unmittelbar französischer Abkunft, noch ist er Nachkomme einer mehrere Generationen dauernden aristokratischen Linie. Dies ist er allein dem eigenen Anspruch nach. Die Emigrantenkritik Laukhards wurde bereits, genau so wie ihre Begründung in der Autobiographie Leben und Schicksale, von Christoph Weiß dargelegt. Der französische Adel war in Laukhards Augen selbst Ursache seiner Vertreibung, hatte er doch nicht nur das Volk lange unter dem Joch gehalten, sondern auch die 1789 gemachten Konzessionen nicht gehalten. Seine bis zum Wortbruch reichende Unnachgiebigkeit im politischen Herrschafts- und materiellen Besitzanspruch war guter, d. h. gerechter Grund für die Vertreibung und selbst für die von Laukhard kritisch beäugte Terreur des Jakobinismus.18

18

France révolutionnaire. Stratégies de médiation et signifiance des représentations gallophiles et gallophobes chez Laukhard et Gentz. In: Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und in Italien im 18. Jahrhundert. Hg. von Raymond Heitz [u. a.]. Heidelberg 2011, S. 107–126. Friedrich Christian Laukhard: Leben und Schicksale. 5 Theile in 3 Bdn. Nachwort und Materialien von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt am Main 1987, Th. IV/1, S. 114–117: »Die Nation war unter der Gewalt des Jakobinismus nichts weniger als frey […] Allein im Jakobinismus lag doch der Grund, und zwar der einzige Grund zur entschiedenen Entjochung und zur ernsthaften Begründung einer gesetzlichen Freyheit für Frankreich. […] Bey wildem Fleisch ist lapis infernalis oder Höllenstein nothwendig […] Daß der Jakobinismus an schrecklichen Auftritten Schuld war, ist außer allem Zweifel: ich selbst habe Scenen gesehen, und von andern, die ich nicht gesehen habe, Folgen wahrgenommen, bey deren Andenken mir die Haut noch schaudert. Also war der Jakobinismus allerdings ein Uebel, ein schreckliches Uebel: aber war er ein nothwendiges Uebel? […] Frankreich war durch die Regierung an den Rand des Verderbens gebracht, und seinem Untergang nahe: dieß konnte der Hof nicht läugnen. Die Nation, oder vielmehr der bessere Theil derselben, machte Foderungen an die Regierung, um sich zu retten: die Foderungen wurden angenommen, gestattet, sanktioniert, aber – nicht gehalten. […] Hier nun war es nöthig, daß diejenigen, welche Muth genug hatten, sich öffentlich als die Anführer der Volksfreunde darzustellen, sich anstrengten, durch heftige Anstalten und strenges Verfahren den Geist der Nation zu erforschen, ihn bestimmt zu fixiren und zu beleben: und nach diesen wirklich wahren und einleuchtenden Grundsätzen hat Frankreich eigentlich dem Jakobinismus seine Rettung und seine Existenz, als Republik, zu verdanken. […] [B]ey der schrecklichen Alternative, entweder wieder ins alte Joch des Despotismus, der Pfafferey und der Tyranney des Adels noch sklavischer als zuvor zurückgeworfen zu werden, oder frey zu werden und zu bleiben, findet der Menschenfreund tausend Gründe, das Schreckenssystem zu

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Soweit die politisch-theoretischen Hintergründe; als emotive Ursache spricht Weiß zudem das nachhaltig schlechte Bild und Ressentiment an, das die selbstgefällig auftretenden Emigranten in den deutschen Gebieten, besonders aber bei Mitgliedern der alliierten Truppen – wie Laukhard eines war – hervorrufen mussten: Daß Laukhard und die heranrückenden Soldaten sich für das Treiben der Emigranten nicht begeistern konnten, hängt mit einer Tatsache zusammen, die gerade bei der Bewertung von Laukhards scharfer Kritik an den Emigranten stets bedacht werden muß: Alle Strapazen und Gefahren für Gesundheit und Leben, die die alliierten Truppen in diesem Feldzug auf sich zu nehmen hatten, resultierten in deren Perspektive letztlich aus der Absicht, die ehemals in Frankreich Herrschenden wieder in ihren Machtpositionen zu installieren. […] Trugen nicht die jetzt Emigrierten durch ihre frühere despotische Machtausübung die Hauptschuld an der Revolution, die sie nun bekämpften?19

Auch in diesem Rahmen muss jedoch auf den Marki von Gebrian mit gutem Grund eigens eingegangen werden. Schließlich ist, wie gezeigt, die Titelfigur seiner Abstammung nach kein ›echter‹ Aristokrat. Es ist also zu überlegen, ob der Marki von Gebrian in Laukhards Kritik an den Aristokraten einen Bruch bzw. eine Differenzierung in der Art darstellt, dass Laukhard in seine Kritik nur solche einschließt, die keine ›eigentlichen‹ Aristokraten sind, oder ob im Gegenteil der allgemeinere Verweischarakter der Figur Gebrian als Typus auf den Gutteil der Emigranten bestehen bleibt (hier sei an die oben dargestellten Fiktionalitätsannahmen Gottfried Gabriels erinnert). Denn bleibt man bei der eingeführten These, dass Laukhard Fragen allgemeiner historischer Relevanz behandelt, so stellt sich uns François Louis Henri Mariot Celestin nicht als Eindringling in den Adel und damit als Vertreter einer megalomanen Abweichung vom Aristokratismus dar, sondern er ist eher das Sinnbild der in ihrem Geltungsanspruch immer anmaßenden Aristokratie. Nun betonen Gebrians Eltern in der Erziehung des Sohnes genau diesen und nur diesen Anspruch. Laukhard macht das natürliche Überlegenheitsgefühl der französischen beziehungsweise pseudofranzösischen Emigranten im Gebrian zum wiederholten Motiv von Haltungen, Entscheidungen und Handlungen, genauso wie die in den 1750er bis 1780er Jahren weit verbreitete Gallomanie der deutschen Aristokratie, welche die alten wie die jungen Gebrians trefflich auszunutzen wissen. Daher ist weniger das Sein, sondern vielmehr das unreflektierte Dasein als Aristokrat und Franzose der einzige Inhalt in der Erziehung eines »Mann[es] von Qualität«:20 François Louis wird in das vorrevolutionäre Paris geschickt, ohne dass um Inhalte des Unterrichts oder den Umgang des Jungen Aufhebens gemacht wird. Auf den Gassen und

19 20

rechtfertigen und zu entschuldigen, ohne jedoch die fürchterlichen Excesse gutzuheißen, welche so häufig vorgefallen sind.« Weiß: Laukhard (wie Anm. 4), Bd. I, S. 107. Gebrian II, S. 55.

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später in den Bordellen der ›capitale du monde‹ erhält Gebrian sein eigentliches charakterliches Gepräge. Spätestens hier scheint die poetische Entscheidung zu fallen, dass nun kein Entwicklungsroman mehr folgen wird, ja gar nicht folgen kann. Friedrich Christian Laukhard war schon durch den Vater mit den Autoritäten der Frühaufklärung in Kontakt gekommen,21 und seine eigene Aufklärungslektüre schloss Rousseaus pädagogische Überlegungen mit ein.22 Tatsächlich zeigt sich, dass der von klein auf verdorbene François Louis, der im Moloch der Großstadt statt in der Unschuld der Natur aufwächst, nichts anderes ist als das Gegenstück des Émile, welches Rousseau in seinem pädagogischen Gouvernementalitätskonzept zurückweist.23 So heißt es gleich im ersten Kapitel des ersten Bandes des Émile: Unter den heutigen Verhältnissen wäre ein Mensch, den man von der Geburt an sich selbst überließe, völlig verbildet. Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. […] Pflanzen werden gezogen: Menschen werden erzogen. Käme der Mensch groß und stark zur Welt: seine Stärke und Größe nützen ihm so lange nichts, bis er gelernt hätte, sich ihrer zu bedienen. […] Wir werden schwach geboren und brauchen die Stärke. Wir haben nichts und brauchen Hilfe; wir wissen nichts und brauchen Vernunft.24

Ob Laukhard mit seinem Gebrian ex negativo Rousseau und dessen Idee von der Hinüberrettung der ›bonté naturelle‹ vom Naturzustand in das Gesellschaftsleben wieder stark macht oder im Gegenteil mit realistischem Blick auf die vermehrt urbane Lebenswelt Rousseaus Pädagogik mit ihrer naturständlichen, präsozialen Basis als der Praxis inadäquat verabschiedet, muss hier dahingestellt bleiben. Eine eindeutige Motivation Laukhards lässt sich diesbezüglich im Marki von Gebrian nicht feststellen. Fest steht allein, dass François Louis’ Werden und Leben in so gut wie allen Einzelheiten den pädagogischen Idealen Rousseaus widersprechen, so dass Laukhards genaue Kenntnis des Émile als gesichert gelten darf. Es beginnt schon bei der frühen – aber in Rousseaus Augen eben zu späten – Erziehung des jungen Marki. François Louis wird erst mit sechs Jahren ein Erzieher gegeben,25 wogegen Rousseau ihn verlangt, »ehe er geboren ist«.26 21 22

23 24 25

Krause: Literatur und Abenteuer (wie Anm. 2), S. 186. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 18), Th. I, S. 267f.: »Herr Schröder [d. i. August Wilhelm Schröder (1733–1793), Amtmann in Grehweiler; OB] öffnete mir seine wohlversehene Bibliothek, und da las ich innerhalb einigen Jahren fast alle Werke Voltaires, den Esprit des Loix von Montesquieu, Rousseau’s Novelle [sic!] Heloise, dessen Emile und andere freilich sehr unorthodoxe Bücher, womit die Bibliothek des Amtmanns versehn war.« Vgl. Ursula Link-Heer: »Un gouverneur! O quelle ame sublime!« Pädagogische Gouvernementalität bei Rousseau und Hölderlin. In: Hölderlin-Jb. 36 (2008‒2009), S. 53‒74. Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Hg. und übers. von Ludwig Schmidts. Paderborn, München, Wien 111993, S. 9f. Vgl. Gebrian I, S. 21.

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Zudem ist die Wahl des Erziehers, den Rousseau gerade als solchen (gouverneur), weniger als Lehrer (précepteur) verstanden wissen möchte,27 denkbar schlecht: Hofmeister wird ein Herr mit dem ironisch gewählten Namen »Abbee Lavat«, der als Erzieher und Lehrer gleichermaßen ungeeignet ist; als Lehrer schon deshalb, da er »in keinem einzigen Theil der Wissenschaften etwas geleistet hatte, und blos ein aimable ignorant war«.28 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass der Gallomanie der deutschen Aristokratie verständigere Gelehrtenkreise Avenosiens nicht hätten gegensteuern können, da diese selbst ebenso von dieser ergriffen waren. Denn der ›liebenswürdigen Unwissenheit‹ des Abbé Lavat zum Trotz wusste dieser »sich doch eine Mine zu geben, daß viele Gelehrten zu Sauflingen ihn für den ersten Erzieher, und für den gelehrtesten und gebildetsten Mann hielten«;29 – allein die hier dezidierte Unterscheidung von Erzieher und Gelehrtem verstärkt im Übrigen die Vermutung, dass Laukhard den Émile nicht nur gelesen, sondern gründlich studiert hat. Der vom Namen her so ›reine‹ Abbé (lat. lavatus, d. h. der Gereinigte, Gewaschene) macht nun, wissenschaftlich ohnehin inkompetent, auch pädagogisch alle erdenklichen Fehler, die eine am Rousseauschen Ideal geschulte Erziehungslehre diagnostizieren kann. Rousseau hatte das gemeinsame Leben von Erzieher und Zögling als Voraussetzung der erfolgreichen Erziehung stark gemacht: Ich muß eine […] Bedingung stellen […]: man darf uns, außer mit unserer Einwilligung, niemals trennen. Dieser Vorbehalt ist wesentlich, und ich würde sogar verlangen, daß Zögling und Erzieher so unzertrennlich seien, daß sie ihr beiderseitiges Los als gemeinsames Schicksal empfänden. Wenn sie allein sind und an Trennung denken, […] sind sie einander schon fremd; jeder baut bereits an seinen Plänen […]. Der Zögling sieht im Erzieher nur den Aufpasser und den Zuchtmeister seiner Kindheit; der Erzieher sieht im Zögling nur die Bürde und brennt darauf, sie loszuwerden.30

Von Unzertrennlichkeit, ja der Empfindung eines gemeinsamen Schicksals kann im Falle Lavats und François Louis’ nicht die Rede sein. Im Gegenteil steht dem Zögling aller Sinn danach, »sich den ganzen Tag auf der Straße herumzutreiben, wie er nur immer wollte«.31 Der Abbé Lavat hingegen »bekümmerte sich um ihn oft wochenlang nicht«,32 als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er den jungen Gebrian in der Stadt aufwachsen lässt: Rousseau möchte seinen »Emil auf dem Land erziehen, fern vom Bedientengesindel, den schlechtesten Menschen nach ihren Herren; fern von der Sittenlosigkeit der Städte, deren Firnis sie für Kinder so verführerisch und anste26 27 28 29 30 31 32

Rousseau: Emil (wie Anm. 24), S. 26. Ebd. Gebrian I, S. 22. Ebd. Rousseau: Emil (wie Anm. 24), S. 27f. Gebrian I, S. 22. Ebd.

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ckend macht, während die Laster der Bauern, nackt und roh, eher abschrecken als verführen«.33 François Louis’ Herumtreiberei in den Straßen von Paris lassen zudem seine Sprache verrohen, »[e]r sprach zwar französisch, aber jenes nur, das man auf der Gasse spricht«,34 womit sich ein weiteres Ideal guter Erziehung nicht realisiert, ist doch »das undeutliche Stammeln der Stadtkinder«35 im Gegenteil das negative Beispiel, das sich Rousseau im Émile wählt. Um beim Vergleich Gebrians mit Émile jedoch nicht in Kleinlichkeit zu verfallen, soll hier zuletzt nur noch auf eine allgemeiner gehaltene Vorstellung Rousseaus von guter Lehre hingewiesen werden: Die Kunst des Lehrers besteht darin, niemals auf unwesentlichen Nebensächlichkeiten zu verweilen, sondern ihm stets die großen Zusammenhänge näherzubringen, die er eines Tages kennen muß, um die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft im Guten wie im Bösen beurteilen zu können.36

Dieser so allgemeinen, wie unmissverständlichen Forderung Rousseaus gegenüber versagt Abbé Lavat nun endgültig, indem er es lediglich selbst übernimmt, François Louis zum Tanzen mitzunehmen und im Fechten zu unterweisen, während er die Lehre in Lesen und Schreiben an Dritte delegiert.37 Denn – so der zynische Kommentar in der Erzählerrede – »eher wird ein ächter Franzmann die allergemeinsten und nöthigsten Kenntnisse fahren lassen, als die edle Kunst zu fechten«,38 wobei in der hiesigen Verwendung des zeitgenössisch eigentlich doppeldeutigen ›edel‹ in ironischer Brechung eindeutig nicht der Tugendadel, sondern allein der gegenüber Tugendfragen indifferente Blutadel angesprochen ist und damit auch auf die grundsätzliche Strittigkeit der Bedeutung des griechischen ἀριστεύς (aristeus, d. h. der Beste, Edelste) verwiesen wird. Während eine Regierung der Tugendedlen letztlich meritokratisch ist, wobei notwendige Bedingung dieses Tugendadels die gute allgemeine wie politische Bildung ist, sieht ein ἀριστεύς wie Gebrian seinen Blutadel schon für alles Politische hinreichend an und misst der Bildung keine Bedeutung zu. Im Gegenteil: In der aristokratischen Ausbildung ist in Umkehrung Rousseaus das Nebensächlichste noch das Wichtigste. Wird nun hiermit Rousseaus Erziehungsideal als unrealisierbar verworfen oder im Gegenteil als noch nicht realisiert eingeklagt? Eine Antwort auf die Frage könnte erhellen, ob wir mit dem Laukhard des Jahres 1800 einen enttäuschten Pessimisten revolutionärer Aufklärung vor uns haben, ähnlich wie Friedrich Schiller, den zur gleichen Zeit – wie Wolfgang Riedel gezeigt hat – die Desillusionierung durch das Scheitern der französischen Revolution sein 33

34 35 36 37 38

Rousseau: Emil (wie Anm. 24), S. 75; vgl. bereits ebd., S. 35: »Städte sind das Grab des Menschen. In wenigen Generationen sterben die Familien aus oder entarten. Man muß sie erneuern, und diese Erneuerung kommt immer vom Land.« Gebrian I, S. 22. Rousseau: Emil (wie Anm. 24), S. 51. Ebd., S. 187. Vgl. Gebrian I, S. 23. Ebd.

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Denken Über das Erhabene entscheidend verändern ließ.39 Das zweite Buch der Leben und Schicksale Laukhards gibt zu dieser Vermutung allen Anlass: Und nicht erst wie Schiller nach der Enttäuschung durch die Terreur, sondern sogar schon vor der Französischen Revolution äußert sich Laukhard (wie mancher seiner spätaufklärerischen Zeitgenossen) skeptisch über die Erfolge der Aufklärung, wenn er etwa auf den Zustand Sachsen-Weimars zu sprechen kommt: […] wen könnte es wundern, daß noch 1787 die dickste Finsterniß auf den Weimarischen Dörfern herrschte! Man sollte gar nicht glauben, daß diese einem Landesherrn angehörten, dessen Residenzstadt mit den hellsten Köpfen Deutschlands geschmückt ist. Hier sieht man recht augenscheinlich, daß auch die besten Schriftsteller nicht einmal in ihrem nächsten Umkreise auf die Volksklasse wirken […]. Selbst lesen thut der gemeine Mann in Städten und Dörfern selten […]: wo soll er also Licht hernehmen, wenn man es ihm in der Schule und Kirche unter Scheffeln versteckt […]!40

Allerdings – so zeigt diese Stelle auch – gründet die Skepsis Laukhards nicht in einer grundsätzlichen, etwa gar reaktionären proroyalistischen Revolutionskritik, sondern in einem Realismus der Volksaufklärung, der eine breite Bildung des Volkes als noch zu leistende Aufgabe einfordert, damit dieses einmal Herr seiner politischen Geschicke sein könne.41 Es mag diese Einsicht gewesen sein, die Laukhard das Ideal eines aufgeklärten Monarchen befürworten ließ. Dazu später mehr.

III. Politische Ethik ohne universale Norm? Naturrechtliche Kritik zwischen libertins de mœurs und Souveränitätslehre Schon in Paris lernt François Louis das Glücks-, vor allem aber das Falschspiel schätzen, welches ihn und seinen »Herzensbruder« Lamelle im Folgenden immer wieder durch Engpässe retten wird. Mit Gebrians Begeisterung für das Falschspiel gelingt Laukhard eine für die Interpretation wegweisende Doppelung: Es ist zwar Lamelle, der im Falschspielen auf der Mikroebene (mit Karten, Würfeln etc.) der Geschicktere und Skrupellosere ist; auf der Makroebene haben jedoch Gebrian und schon sein Vater das falsche Spiel 39

40 41

Wolfgang Riedel: »Weltgeschichte ein erhabenes Object«. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Peter-André Alt [u. a.] (Hg.): Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. FS für Hans-Jürgen Schings. Würzburg 2002, S. 193–214. Laukhard: Leben und Schicksale (wie Anm. 18), Th. II, S. 315f. Siehe dazu Alexander Krünes: Die Volksaufklärung in Thüringen im Vormärz (1815–1848). Köln [u. a.] 2013.

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zum Lebenskonzept kultiviert. Mit Gebrian senior verwaltet ein ›Adeliger‹ ohne blaues Blut und mit mangelhaftem Fachwissen die Finanzen eines Landes, dessen Landeskind er nicht einmal ist. Dabei agieren die Gebrians aber gerade eben nicht nonkonformistisch, also entgegen der bestehenden vorrevolutionären Gesellschaftsstrukturen: Die Familie Gebrian betreibt auf Basis einer zweifelhaften Herkunft und wenig vorbildlichen Lebensführung gerade Gegenaufklärung und Konterrevolution. Wenn sich diese Interpretation halten lässt, ist das sicherlich eine gelungene Pointe Laukhards. Im politischen Denken der radikalen Aufklärung spielt Laukhard damit auf das Problem des behaupteten Gottesgnadentums an, das z. B. durch das ›égalité‹-Konzept von Weishaupt, d’Holbach und anderen systematisch bestritten wird, dessen Nichtigkeit von der Masse historisch aber erst einmal eingesehen werden muss. Eine, wie Jonathan Israel gezeigt hat, doppelte Herausforderung.42 ›Aufklärung‹ meint nur in der Metaphysik und Naturphilosophie Erhellung naturgesetzlicher, vom Menschen unabhängiger Regelhaftigkeiten; in der praktischen und besonders in der politischen Philosophie meint ›Aufklärung‹ die Erhellung obrigkeitlicher Geltungs- und Verwirrspiele, also menschengemachter Undurchsichtigkeiten. Laukhard lässt seinen Gebrian im ersten Buch kaum und im zweiten Buch nur selten auf das Volk treffen. Die Schilderung seiner Tyrannei über Bauern als Gutsherr und über verwundete Soldaten als Lazarettinspektor nehmen insgesamt nur wenig Raum ein. Und die Schauplätze der Revolution werden nach ihrem Ausbruch nicht besucht. Nichtsdestoweniger ist der Marki von Gebrian auch ein revolutionshistorischer Roman. Indem Laukhard den Leser fast ausschließlich in aristokratisches oder zumindest militärisch-elitäres Milieu führt, wählt er einen didaktischen Ansatz, der für Vertreter der radikalen Aufklärung nicht unüblich ist. Im Unterschied zur ›moderate Enlightenment‹, die wie im Falle Kants oder des ›enlightened despot‹ Friedrich des Großen nicht notwendig republikanisch orientiert ist, muss es gerade den Radikalisten darum zu tun sein, die immanenten Mängel des Adels vor Augen zu führen.43 Eben dies stellt Laukhard im Roman literarisch dar. So berichtet der Erzähler von der Neigung des französischen Adels, die Bauern mitten in der Erntezeit unter Androhung von Strafe als Treiber für Treibjagden von den Feldern zu holen, worunter die Ernte freilich litt.44 Die Willkür des herrschenden Adels ist also nicht nur politisch und volkswirtschaftlich gefährlich; sogar im Hinblick auf die eigenen Interessen (wie gute Erträge und Abgaben der Pächter) erweist sich der Adel als ignorant. Die Aristokraten stehen damit nicht nur als politischer Gegner, sondern vor allem 42 43

44

Jonathan Israel: A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy. Princeton UP 2010, S. 78ff. Ebd., S. 79: »True Aufklärung, he [d. i. Adam Weishaupt; OB] declares, can never be just knowledge of words an concepts. Rather it must be knowledge of realities, especially social and political realities. […] For Weishaupt, in contrast to Kant, Enlightenment is ultimately a process of getting rid of priests, aristocrats, and kings.« Vgl. Gebrian I, S. 63.

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als Narren dar, die in ihrer Kurzsichtigkeit sogar ihren eigenen wirtschaftlichen Erhalt und Bestand gefährden und damit früher oder später notwendig scheitern müssen. Die Aristokraten – so lässt einen der Marki von Gebrian resümieren – taugen noch nicht einmal als machiavellistische Egoisten, sie sind unmoralisch und unklug. Auch zwischen Adels- und Geistlichkeit ist die behauptete Einheit, die die beiden Stände vom dritten Stand abgrenzte – das Gottesgnadentum wurde bereits angesprochen –, brüchig geworden und die Macht dieser Allianz geschwächt. Dies bringt Laukhard zur Darstellung, wenn Gebrians Mutter, die alte Markise, die Tochter Lanison dazu bestimmt: Du wirst Ronsards Frau, und die Geliebte des Regenten. Lanison: Ums Himmels Willen, Mama: soll ich denn mein Versprechen, das ich dem Chevalier am Altare thun werde, brechen und ihm untreu werden? Markise: Denke doch nicht noch kleinstädtisch! Jedem Frauenzimmer bringt es Ehre, von einem Fürsten geliebt zu werden; denn so was öffnet die Bahn zu dem allerglänzendsten Leben.45

Das Sakrament der Ehe ist kein universelles, orthodoxes Dogma mehr, sondern nur noch Produkt ›kleinstädtischen Denkens‹, keine Bestand habende Norm, sondern faktisch überkommenes Kulturgut. Damit gehen ins Materialistische übersteigerte, säkularisierte Ehr- und Lebensbegriffe einher, die sich von eschatologischen Heilsversprechen, aber auch von neostoizistischen Tugendethiken freigemacht haben. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, bestehen die »Ehre« und das »allerglänzendste[] Leben«, von denen die Markise spricht, samt und sonders in der persönlichen Bereicherung. So wird in persona Markise Gebrian das ethische Scheitern eines Materialismus zur Schau gestellt, der allein in Kategorien der Quantität seinen Zweck formuliert, nämlich möglichst viel, wenn nicht alles zu erheischen, jedoch keine qualitativen Prinzipien kennt. Ihm liegt keine Deontologie zugrunde, die etwas bestimmtes realisiert, negiert oder auch nur limitiert. Dies gilt nicht nur für die alte Markise; als Gebrians ehemalige Mätresse Justine von ihrer Prostitution berichtet, sind ihre Worte: Ich hatte kein Geld und keine Lust, mir durch Arbeiten etwas zu verdienen. Also war ich genöthigt, meine Thüre den rohen Gießnern doch zu öffnen, und die Besuche derselben anzunehmen. […] Bravo! rief der Marki. Laß dich umarmen, liebe Justine! du verdienst also hübsches Geld?46

Ist Justine bei de Sade die gegenüber ihrer Schwester Juliette noch glücklos Tugendhafte, so lässt Laukhard Justine in einer nachgerade zynisch synthetischen Volte den Weg der Schwester nehmen: Sie hat die ›Vorteile des Lasters‹

45 46

Ebd., S. 66. Gebrian II, S. 26f.

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erkannt,47 die allein die politische und gesellschaftliche Lage noch erlauben.48 Wie noch zu zeigen sein wird, steht Laukhard im Unterschied zu de Sade im Marki von Gebrian für diesen Immoralismus nicht systematisch ein, sondern konstatiert ihn als Resultat einer historischen Entwicklung, eben einer sie bedingenden Lage, nicht einer sie fordernden Philosophie. Dass Tugendlose (wie Gebrian) Vorteile aus ihrer Lasterhaftigkeit ziehen können, gründet in einem politisch bedingten moralischen Verfall. Dabei wird nicht nur dieser moralische Verfall der weltlichen Macht in ihrem Verhältnis zur theologischen Doktrin, sondern auch die institutionelle Korrosion der kirchlichen Autorität selbst anschaulich gemacht. Als der Marki von Gebrian sich in die junge Nonne Marion verliebt, erlangt er mit Hilfe ihrer Ordensschwester Susette Zugang zu ihr und sucht im Klosterhof den Beischlaf – ein Vorhaben, mit dem er nicht alleine ist: Susette macht ein gutes Geschäft damit, alle möglichen Liebhaber gegen Geld nachts ins Kloster einzulassen, darunter auch den jungen Fürsten von Avenosien. Das vom ›jus canonicum‹ verbürgte Gebot des Zölibats im Priester- und Ordensstande erfährt keine Geltendmachung mehr, es wird laufend unterwandert und gebrochen – nicht von außen, sondern mit tätiger Mithilfe von innen. Eine wichtige Rolle im Roman kommt dem jungen Fürsten von Avenosien zu, den François Louis bereits in Paris kennenlernt. Er ist von Laukhard eingesetzt als Sinnbild einer deutschen, gegenaufklärerischen Aristokratie. Im Unterschied zu Friedrich dem Großen, für den der Erzähler so manches warme Wort findet, ist dieser Fürst glühender Gegner der Aufklärung und gleichzeitig Opfer jener Gegenaufklärer aus dem Untergrund, Gebrians und Lamelles. Eine reichhaltige Passage darüber findet sich im zweiten Teil – der Fürst hat die Herrschaft über Avenosien bereits übernommen: Der Fürst war ein Erzfeind des Freyheitssystems, und handelte hierin sehr folgerecht. Er war ja ein Schwachkopf, und Schwachköpfe von Fürsten müssen alles hassen und alles verfolgen, was gegen den Despotismus sich auflehnt […] Nur ein einsichtiger, guter und weiser Fürst, der […] die Gerechtigkeit heilig befolgt, und sich selbst den Gesetzen unterwirft […] der endlich sein Wort strenge hält, und sich weder durch Schmeicheleyen, noch durch Drohungen […] von seinem Plan abbringen läßt – ein Fürst, der Friedrich Wilhelm dem Dritten und Carl dem Vierten gleicht – ein solcher Fürst, sage ich, kann bey aller zunehmenden 47

48

Vgl. entsprechend de Sades Titel: Donatien Alphonse François de Sade: Justine oder vom Mißgeschick der Tugend. Übers. und hg. von Walter Fritzsche. Mit einem Nachwort von Marion Luckow. Frankfurt am Main [u. a.] 1981; ders.: Juliette oder die Vorteile des Lasters. Mit einem Nachwort von Hermann Kauß. Berlin 2008. Gegenüber dieser eminent gesellschaftspolitischen Dimension der Moralfreiheit, wie sie in Deutschland offenbar durchaus über die akademische Gelehrtenwelt hinaus wahrgenommen wurde, erscheint die Übersetzung von de Sades Titel mit Wonnen des Lasters nachgerade verkürzt, unterschlägt sie doch die Korrelation zur Tugendhaftigkeit: vgl. z. B. ders.: Juliette Oder die Wonnen des Lasters. Hg. von Rolf Toman. Köln 2002. – Zur Rezeptionsgeschichte von de Sades Werk Julia Bohnengel: Sade in Deutschland. Eine Spurensuche im 18. und 19. Jahrhundert. St. Ingbert 2003, S. 29–164.

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Aufklärung seiner Völker […] ganz ruhig seyn. Kein System wird ihm schaden: denn sein eigenes System ist gut.49

Wenn der Erzähler den Fürsten von Avenosien zum »Schwachkopf« herabqualifiziert, so ist das keine reine Beschimpfung im emotionalen Affekt. Es wird vielmehr ein Kausalverhältnis hergestellt zwischen dem mangelnden Verstand und dem Freiheitshass des Fürsten. Damit sind aber Freiheitsliebe bzw. Freiheitshass nicht primär eine Frage eines etwa arbiträren politischen Positionsbezuges, sondern der vorhandenen oder mangelnden Einsicht in die Wesentlichkeit der Freiheit in den Dingen. Für den Erzähler des Marki von Gebrian ist nur der »ein einsichtiger […] Fürst, der […] die Gerechtigkeit heilig befolgt«.50 Diese Sicht auf die Pflichten eines Herrschers ist bereits in der Rechtslehre der Spätscholastik und in der Naturrechtslehre der Frühaufklärung zu finden. So ist für Francisco Suárez Recht das, was gerecht ist, indem er das ›jus‹ aus der ›justitia‹ ableitet: Ein ungerechtes Gesetz ist für ihn daher kein Gesetz.51 Samuel Pufendorf entwirft in seinem De jure naturae et gentium ein Naturrecht, das durch das Prinzip der ›socialitas‹ allgemeine, überstaatliche Geltung besitzt und damit als Gradmesser jeden positiven Rechts zu gelten hat,52 ganz im Unterschied zu Hobbes, dessen Naturzustand als ›status bestialitatis‹ keine natürlichen Normen kennt außer die aus ihm bewiesene Notwendigkeit des Staates.53 Tatsächlich neu und auch von Suárez, Pufendorf und anderen Frühaufklärern noch bestritten ist die Forderung des Erzählers, dass der Herrscher »sich selbst den Gesetzen unterwirft«. Aus dem positiven Recht heraus formulierte Herrscherpflichten und ein damit positivrechtlich immanentes Widerstandsrecht sind staatstheoretische Novitäten; zumindest Letzteres wird etwa von Kant noch bestritten.54 Die Berufung auf König Friedrich Wilhelm III. geschieht also nicht von ungefähr, ist doch von dem preußischen König später die Sentenz überliefert: »Jeder Staatsdiener hat doppelte Pflicht: gegen den Landesherrn und gegen das Land. Kann mal vorkommen, daß die nicht vereinbar sind, dann aber ist die gegen das Land die erste.«55 49 50 51

52 53 54

55

Gebrian II, S. 35. Ebd. Vgl. Norbert Brieskorn: Lex und ius bei Francisco Suárez. In: Alexander Fidora [u. a.] (Hg.): Lex und Ius. Lex and Ius. Beiträge zur Begründung des Rechts in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 429–463, hier S. 454f. Vgl. Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung. Tübingen 2000, S. 160. Vgl. Helen Thornton: State of Nature or Eden? Thomas Hobbes and His Contemporaries on the Natural Condition of Human Beings. Rochester 2005, S. 103. Vgl. Israel: A Revolution of the Mind (wie Anm. 42), S. 86. – Dazu ausführlich Werner Haensel: Kants Lehre vom Widerstandsrecht. Ein Beitrag zur Systematik der Kantischen Rechtsphilosophie. Berlin 1926. Ob der König diese Äußerung tatsächlich so tat, ist nicht verbürgt; die Überlieferung der Sentenz ist rein anekdotisch zu nennen. Frühestes mir zugängliches Zeugnis ist: Heinrich Gräff [u. a.] (Hg.): Ergänzungen und Erläuterungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußi-

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Beim Fürsten von Avenosien nimmt der Hass auf die Freiheit im Gegenteil sogar physiopathologische Züge an; der Erzähler schildert folgende Anekdote: So oft Seine Durchlaucht das Wort Freyheit hörten, bekamen sie entweder eine Migräne oder eine Diarrhoe; und um dieses zu verhüten, wurde verboten, jenes verhaßte Wort bey Hofe auszusprechen. Einst im Vorzimmer sprachen Einige über den Vorzug des Morgengetränkes; und der Fürst horchte von ohngefähr zu, als gerade einer aussagt: er trinke lieber Thee. Den Augenblick wurde anbefohlen, auf ein Halbjahr den im Zuchthause einzusperren, der sich unterfangen hätte, gegen hohes Verbot, sogar in der Nähe Seiner Durchlaucht, ein Gespräch von Liberté zu führen.56

Dieser Freiheitshass des Fürsten erhebt sich nicht nur gegen den Freiheitsbegriff der monistischen Radikalaufklärer. Die Sanktionen wider die Erwähnung von Freiheit in Avenosien reichen bis in die moderaten Kreise und sogar die klerikalen hinein: So dürfen fortan keine Bibelstellen, welche die Worte ›Freiheit‹, ›frei‹ oder ›freisein‹ beinhalten, in der Predigt verwendet werden. Dass es sich dabei mehr um die Worte handelt, weniger um den Begriff, zeigt die zitierte Anekdote: Die Inhaftnahme eines Untertans, welcher lediglich das deutsche »lieber Thee« dem französischen ›liberté‹ homophon ausspricht, macht gleichzeitig die konterrevolutionäre Paranoia und die Unkenntnis des Fürsten anschaulich. Er besitzt gar keinen Begriff von Freiheit, wodurch natürlich fraglich wird, wie gegen sie vorgegangen werden könnte. Dabei besitzt die Beliebigkeit der moralischen Ansichten des Fürsten und damit die Beliebigkeit seines Freiheitsbegriffs durchaus einen tieferen Grund. In Paris hört er die Vorlesungen eines Privatgelehrten und ehemaligen Schülers Diderots namens Pailly, Herausgeber des Parnasse Libertin. Dessen Figurenrede lautet z. B.: [W]as ist überhaupt Tugend? Konvenienz und weiter nichts! Bey uns Franzosen giebt es Verbrechen, welche an andern Orten bey andern Völkern für erlaubte Dinge, ja, gar für Tugend gehalten werden.57

Diese Zurückweisung einer moralphilosophisch oder naturrechtlich gültigen praemissa maxima, die als historisch wie global stabile Maßgabe eines überstaatlichen Tugendbegriffes gilt und nicht Ausfluss einer »Konvenienz« ist, lässt den Prinzen in seinem Tagebuch frohlocken: »Ich danke meinem Gott auf den Knieen, […] daß er mich endlich die Wahrheit hat sehen lassen, nämlich: daß es weder Gott noch Teufel, weder Engel noch Gespenst, weder Himmel noch Hölle giebt, und daß das Laster von der Tugend nicht um einen Pfifferling verschieden ist!«58

56 57 58

schen Staaten durch Gesetzgebung und Wissenschaft. Zweite verb. und verm. Ausgabe. Breslau 1844, Bd. 5, S. 193, Anm. 1. Gebrian II, S. 36. Gebrian I, S. 38. Ebd., S. 39.

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Paillys konventionalistischer und in der Folge relativistischer Rechtspositivismus avant la lettre wird vom Prinzen in Richtung eines radikalen, ins moralisch Haltlose übersteigerten Panrelativismus missverstanden, der nicht einmal Konventionen eine mögliche Substanzialität in normativen Geltungsfragen zuzuschreiben versteht. Dass diese moralische Haltlosigkeit eines Aristokraten dieselbe monistische, atheistische Basis besitzt wie die Philosophie seiner schärfsten Gegner (z. B. Radikalaufklärern wie d’Holbach) ist eine der entscheidenden Pointen, die Laukhard im Marki von Gebrian etabliert. Wo ein Fürst gleichzeitig die ›liberté‹ verbieten und sich dabei auf die Doktrin eines Herausgebers des Parnasse Libertin stützen kann, müssen Auffassungsgabe des fürstlichen Rezipienten und die in Rede stehende Doktrin gleichermaßen defizitär sein. Diese Haltung vertritt zumindest der Erzähler, wenn er über Pailly urteilt: »Auf diese renommistisch-philosophische Manier demonstrirte der große Mann ohne Unterlaß, und demonstrirte alles weg, was doch sonst noch für gemeine Wahrheit passirt […].«59 Tatsächlich wurden den Radikalaufklärern von Seiten gemäßigter theistischer Aufklärer wie Voltaire die relativistischen Gefahren einer fehlenden superordinierten Instanz vorgeworfen, sei es eines Schöpfer- und Richtergottes oder einer vernunftrechtlich einsehbaren Fundamentalnorm.60 Als Aristokrat kann der Fürst von Avenosien diesen Libertinismus natürlich nur in Bezug auf sein eigenes Handeln als Fürst gelten lassen, seinen Untertanen ist diese Freiheit nicht einzuräumen. An einer staatstheoretischen Legitimation dieser radikalen Haltung des ›Auctoritas, non veritas facit legem‹ (Hobbes)61 versucht sich im Kapitel »Emigranten-Politik« ein »Edelmann aus der Gascogne«. Bei einer Emigrantenversammlung am Koblenzer Prinzenhof spricht dieser: [L]assen sie uns einmal die Sache genauer ansehen, meine Herren! Der Adel ist die Hauptstütze des Staats, der vornehmste Stand darin: wie kann also Frankreich bestehen ohne Adel? Dies ist eine pure Unmöglichkeit. Und was ist denn die Nation? Ein Ding, das nie zusammen kommen kann! Wie wollen sich drey bis vier und zwanzig Millionen Menschen vereinigen, um für ihr Bestes Rath zu pflegen! Wenn dies geschehen soll: so müssen es die Repräsentanten des Volks thun. Wer aber sind die? – Der Adel, die Großen sind es! […] Wir, – Wir machen die Nation aus, und nur Wir – wir repräsentieren sie.62 59 60 61

62

Ebd., S. 38. Vgl. Kurt Röttgers: [Art.] Macht. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel [u. a.] 1980, Bd. 5, S. 585–603, hier S. 601. Vgl. Dietrich Schotte: Auctoritas, non veritas, facit legem! Zur angeblichen Politischen Theologie in Thomas Hobbes’ Leviathan. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57.5 (2009), S. 709–724. Gebrian II, S. 5. – Siehe zur besonders pompösen Situation gerade der Koblenzer Emigranten, die sich hier (etwa auf Schloß Schönbornlust) wie in einem »zweiten Versailles« verhielten, die Darstellung in: Nina Rubinstein: Die französische Emigration nach 1789. Ein Beitrag zur Soziologie der politischen Emigration [1933]. Hg. und eingel. von Dirk Raith, mit Beiträgen von Hanna Papanek und David Kettler. Graz, Wien 2000, S. 137–142, hier S. 138.

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Im Zentrum steht die Frage der Regierbarkeit einer Vereinigung einer großen Zahl Menschen. Bemerkenswerterweise legitimiert der Gascogner als Antwort hierauf die Befähigung zur Regierung nicht unmittelbar mit dem Gottesgnadentum. Zuerst spricht er sogar die Zweckursache von Regierung an, nämlich für der Nation »Bestes Rath zu pflegen«. Allerdings: Hauptkriterium der ›societas perfecta‹ und damit der guten Regierung ist eben das Erreichen des ›bonum commune‹, nicht das Erhören der ›vox communis‹ bzw. ›vox omnium‹. Vierundzwanzig Millionen Franzosen können unmöglich über ihr gemeinsames Wohl beratschlagen. Sie müssen also repräsentiert werden. Zur Beantwortung der Frage, wer nun zu dieser Repräsentation befähigt ist, zieht sich der Gascogner auf eine natürliche Bevorteilung des Adelsstandes zurück, und nicht auf dessen Stärke etwa im Sinne von Hobbes; diese tatsächliche Stärke hatte der Adel schließlich politisch soeben gegen die Revolution eingebüßt und prudentiell nie besessen, wie Laukhard am Beispiel Gebrians zu verdeutlichen versucht. Unter diesen Umständen, wo ein Fürst seine Entscheidungen allein dezisionistisch, jedoch nicht gestützt auf eine verschriftete oder gar ihm übergeordnete Norm fällt, finden der Marki von Gebrian und sein Freund Lamelle die besten Voraussetzungen, sich ›gesund zu stoßen‹. Denn in der Beeinflussung des Fürsten und der Erlangung seiner Gunst stoßen sie folgerichtig auf keinerlei juridischen Hindernisse, die ihm als Souverän äußerlich und übergeordnet sind. Die einzelnen Einflussnahmen des Marki müssen hier nicht aufgezählt werden. Entscheidend ist, dass Laukhard mit ihnen immer auch das Fehlen einer Rückbindung des Fürsten an ihm äußerliche Normen und die daraus resultierenden Gefahren für die Nation anschaulich macht. Laukhard stimmt mit seinem Marki von Gebrian in die eigentümliche Kritik derjenigen Aufklärer mit ein, die wie Voltaire einen radikalen Begriff von Freiheit bzw. Freiheitlichkeit als nachgerade kontraproduktiv für die politische Freiheit erachten: Den größten Nutzen aus der Leugnung einer allgemeinen Moral ziehen wie der Fürst von Avenosien gerade diejenigen, die die Macht per Gewalt je schon innehaben. Mit dem vordergründigen Dilemma zwischen dem, was hier zunächst ›radikale Freiheit‹, und dem, was hier zunächst ›politische Freiheit‹ genannt wurde, ist für Laukhards Auseinandersetzung eine bemerkenswerte Position in der Tradition von Hobbes und Rousseau angezeigt: Eine ›Freiheit‹, die ein ›ius in omnia‹ bedeutet, kann nur auf ein Recht auf nichts hinauslaufen, – diese ›radikale Freiheit‹ ist also im Gegenteil Unfreiheit und Chaos. Hobbesianisch ist in Laukhards Marki von Gebrian mithin also der Gedanke, dass das Recht die Freiheit nicht einschränkt, sondern allererst realisiert. Gegen einen Gesetzesbegriff, der in der Tradition Machiavellis rein formal ist und damit in der Tat die im Fürsten von Avenosien veranschaulichten Gefahren in sich birgt, ist nur vermittels materialer Rechtszwecke anzukommen, für deren Geltung jedoch nicht wiederum auf immanente, sondern auf transzendentale Instanzen rekurriert werden muss. Dabei ist allerdings die bei Hobbes wesent-

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lich kontraktualistische Begründungstheorie bei Laukhard nicht notwendig zu unterstellen, blickt man auf das Lob, das der Roman für Friedrich Wilhelm III. und Carl IV. übrig hat: Der Fürst [von Avenosien; OB] war ein Erzfeind des Freyheitssystems […]. Er war ja ein Schwachkopf, und Schwachköpfe von Fürsten müssen alles hassen und alles verfolgen, was gegen den Despotismus sich auflehnt [...]. Nur ein einsichtiger, guter und weiser Fürst, der seine Unterthanen aufrichtig liebt, die Gerechtigkeit heilig befolgt, und sich selbst den Gesetzen unterwirft […]; der endlich sein Wort strenge hält, und sich weder durch Schmeicheleyen, noch durch Drohungen […] von seinem Plan abbringen läßt – ein Fürst, der Friedrich Wilhelm dem Dritten und Carl dem Vierten gleicht – ein solcher Fürst, sage ich, kann bey aller zunehmenden Aufklärung seiner Völker […] ganz ruhig seyn. Kein System wird ihm schaden: denn sein eignes System ist gut, und bewirkt die Ruhe seiner Staaten. Ihn tadelt niemand [...].63

In der benannten Beunruhigung der Souveräne über ein aufgeklärtes Volk, drückt sich dabei durchaus ein klarer Begriff Laukhards von Hobbes’ Kontraktualismus aus, insoweit nämlich mit Blick auf das ›ius in omnia‹-Theorem die Machtübertragung nicht in einem Machtgewinn des Souveräns, sondern in einem Machtverzicht der Untertanen besteht: Iuris autem translationem in solâ non resistentiâ consistere, ex eo intelligitur, quod ante iuris translationem, is in quem transfertur, jus habebat jam in omnia; unde novum jus dare non potuit, sed justa transferentis resistentia, propter quam, jure suo alter frui non potuit, extinguitur.64

Darin, dass die Macht umgekehrt also genauso wenig transitiv zurückerworben werden muss, wie sie transitiv übertragen worden war, und von den Untertanen nur noch genutzt zu werden braucht, liegt ein erster Grund der Beunruhigung. Die Macht des Widerstands und seine Gefahr für den Erhalt der Herrschaft sind deshalb so groß, weil umgekehrt nur der Verzicht auf ihn Herrschaft überhaupt begründet hatte. Im befürchteten Widerstand liegt also eine reale, aber – und hierauf will Laukhard hinaus – ungeahnte Macht beim Volk, die nicht erworben, sondern bei angemessenem Bewusstsein lediglich genutzt werden braucht, nämlich das Bewusstsein, dass es diese Macht stets schon innehat. Hiermit ist der zweite, von Laukhard im obigen Zitat explizit gemachte Grund der Beunruhigung benannt: Bei einer Unredlichkeit des Herrschenden bildet jene »zunehmende Aufklärung seiner Völker« im Verbund mit der ungeahnten Macht dieser Völker eine explosive Mischung zu Ungunsten seines Machterhalts. Die Lösung, die Laukhard für dieses Problem in den 63 64

Ebd., S. 35. Thomas Hobbes: Elementa Philosophica de Cive. Amsterdam 1647, p. 23. – Übers.: Vom Menschen / Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingel. und hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1994, S. 88. – Vgl. auch ders.: De Cive, p. 86: »Voluntatum haec submissio omnium illorum, unius hominis voluntati, vel unius Concilii tunc fit; quando unusquisque eorum unicuique caeterorum se Pacto obligat ad non resistendum voluntati illius hominis, illius Concilii cui se submiserit.« Übers.: Vom Menschen / Vom Bürger, S. 128.

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Beispielen Friedrich Wilhelms III. und Carls IV. gegeben sieht, ist allerdings nicht hobbesianisch: Es gehört, wie schon gesagt, gerade nicht zur Souveränitätslehre Hobbes’, dass der Souverän »sich selbst den Gesetzen unterwirft«, und schon Julius Ebbinghaus hielt zurecht fest, dass »der Despotismus, den Hobbes aus seiner Theorie ableitete, genauso grenzenlos wie der [war], der sich aus dem natürlichen Gemeinschaftsbedürfnis [der aristotelischen Naturrechslehren; OB] ergeben hatte«,65 denn: Er [d. i. Hobbes; OB] sah richtig (im Gegensatz zu Locke), daß der Grund der rechtsbestimmenden Gewalt des Staates nicht in einer ursprünglich bei den Individuen vorhandenen derartigen Gewalt liegen könnte. Er sah ebenso richtig, daß es für die Konstituierung dieser Gewalt des Volkes selber eines gemeinsamen Willensaktes aller bedürfe. Aber er versah sich gänzlich in der Meinung, der Gegenstand dieses Aktes müsse eine von allen gewollte Rechtsbestimmungsund Sicherungsgewalt einer bestimmten physischen oder juristischen Person sein. Daß damit die Einstimmung aller zu etwas ganz Zufälligem wurde, und keinerlei rechtliche Notwendigkeit haben konnte, stellte er nicht in Rechnung. Aber da er den Fehler nun einmal beging, folgert er richtig, daß die Gewalt der auf diese Weise bestimmten Person die Staatsgewalt nicht etwa repräsentierte, sondern selber war. Die Menge war überhaupt erst durch den diese Person bestimmenden Akt zum Volke im Rechtssinne geworden. Also konnte dies Volk kein Recht gegen sie haben.66

Die in der vertraglichen Staatsentstehung beim Volk verbliebene, aber ruhende Gewalt ist also keine Rechtsgewalt, sondern mithin bloß physische Gewalt, vor der der Herrscher, wie Laukhard zurecht festhält, zwar Angst haben muss, die jedoch in ihrer Legitimität so noch nicht dem despotischen Willen des Herrschers überlegen ist: Die Furcht des Herrschers vor der Gewalt seines Volkes ist bei Hobbes von der Furcht aller gegen aller im Naturzustand in nichts unterschieden. Wenn Laukhard nun die Macht des Herrschers von einer Gerechtigkeit beschränkt sieht, der er sich selbst unterwirft, und dies in Liebe zu seinen Untertanen, so ist zu fragen, ob er damit das Vernunftrecht Rousseaus oder wieder an Vorstellungen der aristotelischen Naturrechtslehren anknüpft. Denn die Formulierungen Laukhards (»seine Unterthanen aufrichtig liebt, die Gerechtigkeit heilig befolgt, und sich selbst den Gesetzen unterwirft«) geben keinen zwingenden Aufschluss darüber, ob Laukhard die Untertanen als mehr als nur gewaltbewehrten Geltungsgrund dieser Gerechtigkeit betrachtet, oder diese Rede tatsächlich systematischen Charakter hat und damit auf die wesentliche Heiligkeit der Gerechtigkeit als ihren Geltungsgrund hinweisen soll. Ersteres wäre in der Tat die Variante nach Rousseau, die das Recht des Friedens allererst mit dem der Freiheit zu vereinigen erlaubt. Wenn Laukhard 65

66

Julius Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924– 1971. Hg. von Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn 1990, S. 395–416, hier S. 403. Ebd.

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in obiger Textstelle in der Güte des Herrschers eine Gerechtigkeit realisiert sieht, die ihren obligativen und materialen Grund im allgemeinen Willen hat, so ist bei ihm in der Tat eine »vereinigte Rechtsschutzgewalt aller« ausgedrückt, die allein die Staatsgewalt ist und nicht der diese nur repräsentierende Herrscher.67 In dieser Weise begründet erst Rousseau und nicht schon Hobbes eine Vernunftrechtslehre, die jenseits der »schlechten Alternative zwischen Machiavellismus und Rechtstheologie«68 steht.69 Letzteres wäre demgegenüber eine eigentümliche Rückwendung Laukhards zu neoaristotelischen, im Wesentlichen rechtstheologischen Vorstellungen, insofern die Gerechtigkeit eben gerecht ist, weil sie heilig ist. Zwar nicht für, jedoch auch nicht gegen diese Lesart spricht die Tatsache, dass von einem Willen der Untertanen bzw. aller bei Laukhard nicht die Rede ist. Dies muss hier eine Leerstelle bleiben. Zudem haben, historisch betrachtet, die von Laukhard gelobten Monarchen, der preußische König Friedrich Wilhelm III. und der Pfalzgraf und Kurfürst von der Pfalz Karl (Theodor) IV., mit einem »Freyheitssystem[]«70 – so Laukhard selbst – hinsichtlich der Legitimität ihrer Machtausübung wenig zu schaffen.71 Wie im Folgenden noch zu zeigen ist, ist es Laukhard bei der guten Regierung, wenn denn schon nicht um eine gut legitimierte, so doch in jedem Fall um eine gut verfahrende zu tun. Versucht man, für den Fall Laukhards die beiden Linien zu einem Dritten zusammenzuführen, erscheint als mögliche Auflösung ein retheologisierter Rousseauismus: Das ›Freyheitssystem‹ Laukhards meint dementsprechend tatsächlich eine dem allgemeinen Willen gemäße, wenn auch nicht unmittelbar in diesem Willen gründende Regierung des Monarchen. Denn das Prinzip dieses allgemeinen Willens lautete in diesem Fall gerade nicht nach Rousseau »Keiner will, sofern er nur Vernunft hat, 67 68

69

70 71

Ebd. So Gideon Stiening: »Der hohe Rang der Theologie«? Theologie und praktische Metaphysik bei Suárez. In: Oliver Bach, Norbert Brieskorn u. Gideon Stiening (Hg.): »Auctoritas omnium legum«. Francisco Suárez’ ›De legibus‹ zwischen Theologie, Philosophie und Jurisprudenz. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 97–134. Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit (wie Anm. 65), S. 403: »Dasjenige, worauf die Partner im Vertragsschlusse verzichten, war bei ihm [d. i. Rousseau; OB] wie bei Hobbes ihre ganz unbestimmte natürliche Fähigkeit, sich in ihrem beliebigen Tun gegen andere mit Gewalt durchzusetzen. Aber diese Fähigkeit übertragen sie nun nicht auf irgendeine physische oder juristische Person, sondern auf alle insgesamt. Die so (in der Idee) vereinigte Rechtsschutzgewalt aller ist die Staatsgewalt. Der Wille aber eines jeden, in seinem Recht, das heißt in der möglichen Freiheit seines Handelns, statt bloß durch seine eigene unzulängliche Kraft durch die vereinigte Gewalt aller geschützt zu sein, ist der diese Gewalt konstituierende, und sie allererst zu einer Rechtsgewalt machende allgemeine Wille (Volonté générale). Und dieser Wille ist nun nicht mehr ein beliebiger Wille, wie bei Locke und Hobbes, daß diese oder jene Person Gewalt haben soll, sondern es ist ein Wille, der bei jedem vorausgesetzt werden kann.« Gebrian II, S. 35. Hinsichtlich Friedrich Wilhelms III. vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte. 1800– 1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 41994, S. 22f. u. S. 36f, und hinsichtlich Karl Theodors vgl. Peter Claus Hartmann: Bayerns Weg in die Gegenwart. Vom Stammesherzogtum zum Freistaat heute. Regensburg 1989, S. 267–273.

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in der Möglichkeit ungehindert durch fremdes Belieben zu handeln (das heißt in seinem Rechte) beliebig von anderen beschränkt werden«,72 und läge damit nicht schon in seiner eigenen Vernünftigkeit begründet, sondern erst in seiner Gesolltheit: Das Freiheitssystem verwirklicht der Monarch, indem er eine dem allgemeinen Willen vorgängige Gerechtigkeit heilig befolgt. Die volonté générale stellt lediglich den säkularen Ausdruck dar. Handelt der Monarch also diesem universalen Recht gemäß, so tut er stets schon das, was der allgemeine Wille seines Volkes ebenso diesem universalen Recht gemäß nachgerade wollen muss. Monarch und Volk wollen also je schon das, was sie sollen.73

IV. Ablehnung der Aristokratie, Lob der Monarchie: Vermittelnde Wege politischer Aufklärung bei Laukhard Der Roman und mit ihm der Erzähler üben heftige Kritik vor allem an der Aristokratie, insofern sie nicht einmal mehr ihre inwendige Stabilität aufrechterhalten kann, sondern sich von Blendern und Falschspielern wie Marki von Gebrian schmeicheln und schwächen lässt. Dabei wird aber der Status der Aristokratie nicht etwa ex negativo affirmiert, sondern als instabil und täuschungsanfällig negiert. Eine Aristokratie, wie sie in Laukhards Roman dargestellt ist, kann bereits eo ipso keinen dauerhaften Bestand haben. Die aristokratische Berufung auf eine Anthropologie natürlicher Bevorteilung etwa greift der Erzähler am Schluss des Romans ironisch auf: Nach mehreren Abenteuern, in denen François Louis Gebrian Geld verprasst und mit fraglichen Mitteln wieder einnimmt (Falschspiel, tatenloses Offiziersdasein, Materialschieberei im Militärdienst usf.), endet Gebrian als Magistrats-Lakai in der »berühmten Stadt Gurkenheim«,74 was der Erzähler nicht ohne Süffisanz kommentiert: »Der Marki stand sich als Lakay vortrefflich, und war nun wieder, was sein Vater gewesen war, und wozu ihn die Natur schien bestimmt zu haben, – Lakay.«75 Die doppelte Stoßrichtung von Laukhards Kritik ist nicht zu übersehen: Der in seinen Augen ungehörige anthropologische Anspruch der Aristokratie auf eine natürliche, nicht meritologische Privilegiertheit wird 72 73

74 75

Ebbinghaus: Mensch und Ratio im Europa der Neuzeit (wie Anm. 65), S. 403. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, 1794. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. von I[mmanuel]. H[ermann]. Fichte. Berlin 1845, S. 291– 346, hier S. 299: »Die vollkommene Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst […] ist das letzte höchste Ziel des Menschen. […], dasjenige, was Kant das höchste Gut nennt: welches höchste Gut an sich, wie aus dem obigen hervorgeht, gar nicht zwei Theile hat, sondern völlig einfach ist: es ist – die vollkommene Uebereinstimmung eines vernünftigen Wesens mit sich selbst […] als Uebereinstimmung des Willens mit der Idee eines ewig geltenden Willens.« Trotz dieser Affinität läuft dies bei Laukhard allerdings nicht wie bei Fichte auf die Utopie einer staatsfreien Vergemeinschaftung hinaus. Gebrian II, S. 92. Ebd., S. 93.

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ebenso zurückgewiesen, wie jede inegalitäre politische Anthropologie überhaupt. Dass die Aristokratie in keinster Weise natürlich privilegiert ist, hat Laukhard anhand seines François Louis deutlich hervorgekehrt und zwar genealogisch wie auch mit Blick auf die politische Bildung: Die Aristokraten unterscheiden sich in ihrer Herkunft letztlich nicht von allen Anderen, sie haben in ihrem Stammbaum sozusagen genauso den Eselhirten wie der ›Mann aus dem Volk‹; wäre das theoretisch noch gar kein Hindernis – ebenso wenig wie Vorteil – der politischen Legitimation in Laukhards Augen (dies würde ihn schließlich selbst zum Inegalitaristen machen), so liegt die praktische Unmöglichkeit guter aristokratischer Führung in der schlechten Bildung, Verschwendungssucht, kurz der politischen Inkompetenz des Adels. Ist der politisch-komische Roman Laukhards damit allerdings schon einer radikalen Aufklärung zuzuschreiben, die sich in ihrem Weltbild als monistisch und demokratisch ausnimmt? Einem solchen Eindruck steht die pointiert von Laukhard eingesetzte Monismus-Rezeption durch den Fürst von Avenosien entgegen. Auch der Verdacht eines Pessimismus Laukhards wurde bereits geäußert: Sieht man sich am Ende des Romans mit einem solchen konfrontiert? Der Marki ist zwar als Lakai geendet, damit aber immer noch glimpflich davongekommen! Schon vom deutschen Kriegsgericht zum Tode verurteilt, war er auf ein Neues begnadigt worden. Ist das fortwährende Davonkommen von François Louis ein Weckruf Laukhards nach noch größerer Konsequenz bei der Durchsetzung von Veränderungen? Oder ist seine poetische Schilderung im Gegenteil Ausdruck eines »Zernichtetseins unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte« (Georg Büchner),76 in der ausgerechnet demjenigen, der Vertretern sowohl der Revolution als auch der Konterrevolution immerfort übel mitspielt, immerfort Gnade widerfährt? Laukhards Gestaltung des Romanendes lässt diese Frage in einer Weise unbeantwortet, von der nicht unzulässig auf seine doch sehr bestimmte Aristokratiekritik geschlossen werden darf, die sich aus dem Romanganzen ergibt. Die Idee einer natürlichen Bevorteilung der Wenigen wird von Laukhard, wie gezeigt, sowohl allgemein anthropologisch wie auch speziell als Argument politischer Legitimation verworfen, was seiner Aristokratiekritik die letzte Konsequenz verleiht: Die Aristokratie, soweit ἀριστεύς als Blutadel verstanden wird, ist gegenüber der Demokratie und der Monarchie nicht etwa nur die schlechtere Alternative, sie ist schlechthin inexistent. Auf eine Befürwortung der Demokratie Laukhards lässt dies jedoch nicht zwingend schließen, blickt man auf das auch in der Erzählerrede des Marki von Gebrian statthabende Herrscherlob etwa Friedrich Wilhelms III. und Karls IV., wie es oben schon zitiert wurde: Äußerungen dieser Art wurden

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Georg Büchner: [Brief an die Braut, Gießen, um den 9.–12. März 1834]. In: Ders.: Werke und Briefe. Hg. von Karl Pörnbacher [u. a.]. München 102004, S. 288f., hier S. 288.

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Laukhard meist als Konzession aus Selbstschutz ausgelegt.77 Dies verkennt jedoch die systematische Konsistenz dieser literarischen Äußerungen: Dem Tadel der Aristokraten ein Lob von Monarchen folgen zu lassen, ist alles andere als widersprüchlich und allein schon als Zugeständnis zu werten. In seiner Adelskritik und auch in seiner Rechtfertigung der Terreur78 ist es Laukhard nie wörtlich um die Herrschaft des Volkes zu tun, sondern die Rede ist lediglich vom Wohl des Volkes. Das Denken vom ›bonum commune‹ hatte in der traditionellen politischen Theorie immer seinen Platz in allen Herrschaftsformen, auch in der Aristokratie und Monarchie, und war nie als wesentlich demokratisch gedacht. Ganz im Gegenteil konnte nur das allen Herrschaftsformen zum Ziel gesetzte Gemeinwohl schon Aristoteles überhaupt erst von der jeweiligen Verfallsform sprechen lassen: Verfehlte Formen im genannten Sinne sind für das Königreich die Tyrannis, für die Aristokratie die Oligarchie und für die Politie die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine Alleinherrschaft zum Nutzen des Herrschers, die Oligarchie eine Herrschaft zum Nutzen der Reichen und die Demokratie eine solche zum Nutzen der Armen. Keine aber denkt an den gemeinsamen Nutzen aller.79

Das Gemeinwohl war Zweckursache des guten Staates, was weder notwendig noch hinreichend auf eine gemeinschaftliche Herrschaft als Wirk- oder Formursache des guten Staates schließen ließ. Den Aristokratismus lässt Laukhard zwar auf Grund seiner bildungskritisch fundierten Widerlegung einer natürlichen Bevorteilung Weniger, eines ›jus sanguinis‹ auf Herrschaft, fallen; Gleiches hat bei ihm jedoch nicht von der Monarchie zu gelten. Zwar ist auch der König auf Grund seines Blutrechts zur Herrschaft gekommen, es scheint aber, dass Laukhard mehr Vertrauen in die gute Erziehung des Einen hat als in die gleichzeitige gute Erziehung Mehrerer. Mehr noch: In der Darstellung des Fürsten von Avenosien, der sich von den Gebrians als seinen höchsten Beamten regieren lässt, statt selbst zu regieren, klagt Laukhard sogar die Souveränität des – freilich guten – Fürsten gegen diesen aristokratischen Apparat ein. Entscheidend ist das Wohl des Volkes, das zu besorgen auch ein weiser König in der Lage sei. Unter Voraussetzung seines praktischen Bildungsverständnisses existieren für Laukhard nach der Polybianischen Verfassungssystematik bemerkenswerterweise nur im Falle der Herrschaft des Einen und der Herrschaft Aller Erfüllungs- und Verfallsform (Monarchie – Tyrannis, Demokratie – Ochlokratie), wohingegen er bei der Herrschaft der Wenigen der Sache nur die Verfallsform, die Oligarchie, als politische Realität empfindet: Die Aristokratie im Sinne einer Regierung

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Vgl. etwa Weiß: Laukhard (wie Anm. 4), S. 111: »Man darf hier die Vorsicht des preußischen Soldaten vor allzu weitgehender Kritik besonders in bezug auf die Person des Königs unterstellen.« Siehe Anm. 18. Aristoteles: Politik. Übers. und hg. von Olof Gigon. München 41981, S. 114 (Bekker 1279b).

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der Besten ist ihm Teil der politischen Theorie und nur das; in der Praxis allerdings ist jede Aristokratie Oligarchie. Damit ist für die ausgedehnte Beschäftigung mit Laukhards Romanwerk, vor allem wenn sie als Kontexteinbettung erfolgt, zur Diskussion gestellt, inwieweit man es mit Laukhard nach 1800 noch mit einem Vertreter einer politischen Radikalaufklärung zu tun hat. Insofern eine als Blutadel verstandene Aristokratie als schlicht nicht vorhanden zu konstatieren ist, ist Laukhards Haltung in Sachen einer aufgeklärten politischen Anthropologie radikal. Zu diesem systematischen Argument steht das historische in komplementärem Bezug, dass eine Aristokratie qua Bildung nie statthaft war und insofern ebenso abzulehnen sei. Diese Ablehnung der Herrschaft der Wenigen lässt Laukhard nun jedoch nicht in revolutionärer Manier auf eine alleinige Befürwortung der Herrschaft Aller kommen: Im Gegenteil wird die Regierungsform der Demokratie im Marki von Gebrian nie explizit belobigt, ganz im Unterschied zur Herrschaft des Einzelnen, der Monarchie. Vor dem Hintergrund vor allem pädagogischer Überlegungen entfaltet Laukhards Roman zwar eine scharfe Kritik an der Aristokratie einerseits; andererseits kann er gerade vor diesem Hintergrund den Vorteil der Monarchie nicht unterschlagen: Laukhard sieht die gelungene Erziehung gerade des Einzelnen als die einfachere und damit politisch vielversprechendere Herausforderung an. Ist der Monarch erst einmal angemessen gebildet und ausgebildet, kann kein gleichberechtigter, dabei aber unfähigerer Mitregent die kluge Handlung verhindern. Das Ziel dieser klugen Handlung ist letztlich das Gemeinwohl, und es ist dieses, das bei Laukhard das demokratische Ideal als oberstes Prinzip revolutionären politischen Denkens wieder ablöst. Aus der Perspektive einer politischen Ideengeschichte ist dies unbestreitbar eine Neuanbindung an die aristotelische Tradition und insofern gegenüber einem radikalen Demokratismus konservativ, wenn nicht gar reaktionär. Hinsichtlich der revolutionären Zwecksetzung allerdings, dem Wohl aller, öffnet Laukhard sich gleichsam nur konsequent wieder der monarchischen Staatsform, insofern sie einer schlüssigen MittelZweck-Relation nach als Alternative neben der Demokratie nicht zu leugnen ist, wenn Laukhards pädagogische Annahmen vorausgesetzt werden. Indem er das ›bonum commune‹ zum Hauptkriterium seiner politischen Ideologie macht und damit die Frage der Regierungsform entdogmatisiert, ist Laukhard Ausdruck einer politischen Aufklärung, die ihren radikalen Akzent mehr auf das gehaltliche Telos, weniger auf die formale Gestalt der Staatsführung setzt. Der blutsaugenden Adelsherrschaft stellt Laukhard 1800 nicht mehr einen konsequenten Demokratismus, sondern einen gemeinwohlzentrierten Prudentismus entgegen, der gegenüber der Herrschaftsform im Grunde indifferent geworden ist.

KARTE ZEITTAFEL NAMENSVERZEICHNIS ABBILDUNGSNACHWEISE

Zeittafel 1757

7. Juni: Geburt Friedrich Christian Laukhards als Sohn des protestantischen Pfarrers und Freigeistes Philipp Burkhard Laukhardt (1722–1789) und der Charlotte Dorothea Dautel (1732–1812) in Wendelsheim

1763

Philipp Burkhard Laukhardt wird von Rheingraf Carl Magnus zu Grehweiler (1718–1793) des Amtes enthoben und klagt dagegen erfolgreich beim Reichskammergericht in Wetzlar.

1771–1774

Besuch des Gymnasiums in Grünstadt

1774

Ab Herbst: Studium der Theologie in Gießen (Immatrikulation am 5. Mai 1775)

1775

Laukhard wird Mitglied im Amicisten-Orden. – Graf Carl Magnus wird von Kaiser Joseph II. zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt.

1776

Dreiwöchiger Aufenthalt in Jena

1777

Sommer: Gießener Studentenstreik

1778

Studium in Göttingen

1779

Reise nach Heidelberg. Erfolglose Versuche, eine Pfarrstelle in der Pfalz zu erhalten. Vikariate in Udenheim und Obersaulheim.

1781

22. Februar: Laukhards Bewerbung um ein Lehramt in Darmstadt wird abgelehnt.

1782

Beginn des Studiums in Halle bei Johann Salomon Semler. Präzeptor am Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen zu Halle. 11. Juni: Immatrikulation an der Universität Halle. Arbeit als Dozent. Vorlesungen zur Kirchengeschichte und römischen Geschichte

1783

17. Januar: Verteidigung der Magister-Dissertation über Ruprecht von der Pfalz (1352–1410). Aufenthalt in Jena. 27. August: Habilitation mit der Verteidigung einer Dissertation über Giordano Bruno. Der Druck von Laukhards er-

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ZEITTAFEL

stem Roman Baldrian Weitmaul wird vom Zensor, Johann Reinhold Forster, verboten. An Weihnachten wird Laukhard Musketier im preußischen Regiment von Thadden. 1787

Laukhard lernt den Verleger Franz Heinrich Bispink (1749–1820) kennen, der in Halle ein akademisches Leseinstitut und einen Freitisch betreibt.

1789

6. Mai: Laukhards Vater Philipp Burkhard stirbt.

1790

Juni: Mit dem Thaddenschen Regiment in Schlesien

1791

Beyträge und Berichtigungen zu Herrn D. Karl Friedrich Bahrdt’s Lebensgeschichte. In Briefen eines Pfälzers erscheinen im Verlag von Johann Christian Hendel in Halle.

1792

14. Juni: Laukhards Regiment verlässt Halle und zieht in den Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich. Am 20. September nimmt Laukhard an der Kanonade von Valmy teil. Teil 1 und 2 der Autobiographie Leben und Schicksale erscheinen bei Michaelis und Bispink in Halle.

1793

14. April: Laukhards Regiment beteiligt sich an der Belagerung von Mainz, das am 23. Juli an die Preußen übergeben wird. Am 18. September erreicht das Regiment die belagerte Festung Landau. Am 26. September wird Laukhard in die Festung geschleust und desertiert. Nach dem Fall Landaus am 28. Dezember flieht er nach Straßburg und reist durch Frankreich. – Briefe eines preußischen Augenzeugen über den Feldzug des Herzogs von Braunschweig gegen die Neufranken im Jahre 1792 (1. u. 2. Pack).

1794

Wanderungen durch den Süden Frankreichs. Mit den Sansculotten zieht Laukhard von Lyon bis Avignon. Duell mit einem französischen Offizier in Lyon. Er wird in ein Spital nach Dijon verlegt, wo er später als Krankenwärter und Sprachlehrer Geld verdient.

1795

Laukhard verlässt Frankreich und reist über Basel nach Freiburg, wo er sich für das Emigrantenheer des Kardinal Rohan anwerben lässt, das er jedoch schon nach kurzer Zeit wieder verlässt. In Offenburg tritt er den schwäbischen Kreistruppen bei. Auf Betreiben seines Freundes und Verlegers Bispink kommt er vom Soldateneid frei und kann am 27. Oktober nach Halle zurückkehren. Der Ver-

ZEITTAFEL

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such, eine Stelle als Sprachlehrer an der Universität zu erhalten, scheitert am Widerstand des preußischen Ministers Wöllner. 1796

Schilderungen der jetzigen Reichsarmee, nach ihrer wahren Gestalt erscheint bei Peter Hammer in Köln, Leben und Schicksale (3. u. 4. Th./1. Abt.) bei Fleischer d. J. in Leipzig.

1797

17. September: Laukhard heiratet Marie Antoinette Neuhmann (»Hannchen«), die Tochter eines preußischen Soldaten. – Leben und Schicksale (4. Th./2. Abt.), Anleitung zur Uebung in der französischen Sprache.

1798

Audienz bei König Friedrich Wilhelm III. in Berlin wegen einer Anstellung in Halle. Auch dieser Versuch scheitert am Widerstrand der Universität. Am 20. Juni Geburt seines Sohnes Carl Friedrich. – Leben und Thaten des Rheingrafen Carl Magnus und Annalen der Universität zu Schilda (1. Th.) erscheinen bei Fleischer d. J. in Leipzig.

1799

Annalen der Universität zu Schilda (2. u. 3. Th.), Der Mosellaner- oder Amicisten-Orden nach seiner Entstehung, inneren Verfassung und Verbreitung auf den deutschen Universitäten sowie Franz Wolfstein oder Begebenheiten eines dummen Teufels erscheinen. – Am 9. November wird sein Sohn Carl Gerhard Thomas Friedrich geboren, der jedoch schon am 28.9.1800 verstirbt. – Laukhard arbeitet als Winkeladvokat und gerät wegen eines Streits zwei Tage in Arrest.

1800

Marki von Gebrian, oder Leben und Ebentheuer eines französischen Emigranten erscheinen bei Fleischer d. J. in Leipzig.

1801

Bonaparte und Cromwell. Ein Neujahrsgeschenk für die Franzosen von einem Bürger ohne Vorurtheile, Bild der Zeiten oder Europa’s Geschichte (2 Bde.), Die Emigranten (1. Bd) und Astolfo, eine Banditengeschichte (1. Th.) erscheinen.

1802

Leben und Schicksale (5. Th.), Astolfo, eine Banditengeschichte (2. u. 3. Bd.) und Die Emigranten (2. Bd.) erscheinen.

1803

Herbst: Eulerkappers Leben und Leiden. Eine tragischkomische Geschichte und Corilla Donatini erscheinen.

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ZEITTAFEL

1804

Frühjahr: Laukhard verlässt Halle und wird Pfarrer in Veitsrodt im Saar-Departement (bis 1811).

1807

Wegen seiner Napoleon-kritischen Schrift Bonaparte und Cromwell erhält Laukhard Redeverbot seitens der französischen Regierung.

1808

3. Juni: Laukhards Bruder Carl Philipp stirbt.

1809

Laukhards Roman Melana erscheint in Leipzig.

1810

20. Juli: Lauhards Sohn Carl Friedrich stirbt. – Bild der Zeiten oder Europa’s Geschichte (2. Ausgabe); Wilhelm Steins Abentheuer (1. u. 2. Th.).

1811

Oktober: Laukhard wird auf Befehl des Präfekten des Saardepartements gefangen genommen, nach Trier gebracht und wenig später ins ›Correctionshaus‹ nach Vilvoorde bei Brüssel überführt.

1812

25. Dezember: Laukhards Mutter Charlotte Dorothea stirbt.

1814

2. Februar: Entlassung aus der Haft in Vilvoorde durch die Alliierten. Im Sommer trifft Laukhard in Gießen ein, wo er sich als Sprachlehrer niederlassen möchte, aber nicht geduldet wird. Er wandert weiter nach Sachsen und bittet am 13. November 1814 Johann Wolfgang von Goethe vergeblich um Hilfe.

1815

Erneuter Aufenthalt in Gießen

vor 1819–1822

Laukhard lebt und arbeitet als Privatlehrer für Sprachen, Geschichte, Geographie, Naturrecht, Literatur und als Theaterautor in Kreuznach.

1818(?)–1819

Aufführungen von drei Theaterstücken Laukhards in Kreuznach: Michel Mort der Kreuznacher; Franz von Sickingen; So prellt man Großsprecher und Schulfüchse

1822

28./29. April: Laukhard stirbt des Nachts im Alter von 64 Jahren in Kreuznach an der Nahe. Sein Grab ist nicht erhalten geblieben.

Namensverzeichnis Das Register umfasst die in diesem Band erwähnten historischen Namen bis ca. 1850. Namen in Buchtiteln werden nur in besonderen Fällen verzeichnet. Acidalius, Valens 59 Ackermann, Johann Peter 99, 107–109 Adelung, Johann Christoph 85, 114 Albertus Magnus 61 Am Ende, Christian Carl 164 Aretino, Pietro 84 Ariost, Ludovico 84 Aristoteles 61, 78, 206 Arnold, Gottfried 45, 60, 129 Ayrenhoff, Cornelius von 76 Badiggi, Philipp Adam 73, 82–84, 91 Bahrdt, Carl Friedrich 22, 77, 97, 127, 142, 150, 152, 155–164, 166–168, 170– 172, 175, 177–181, 212 Baldinger, Ernst Gottfried 92 Battigi → Badiggi Baumgarten, Alexander Gottlieb 40, 185 Bayle, Pierre 40, 43, 45, 48f., 51, 57, 60, 62f., 125, 131 Becker, Wilhelm Gottlieb 172 Benner, Johann Hermann 77 Bernds, Adam 153 Bertolini, Johannes 93 Beverland, Adrian 85 Beyel, Daniel 219 Birnbaum, Johannes 99 Bispink, Franz Heinrich 18, 73, 86–88, 102, 168, 212 Blanchard (frz. Unterleutnant) 108 Blankenburg, Friedrich von 109 Böhm, Andreas 75 Bohn, Carl Ernst 95 Bräker, Ulrich 154 Brandes, Johann Christian 76 Brieger, Johann Georg 26, 29 Brucker, Jakob 40, 43, 45f., 48, 50f., 57, 61f., 64 Bruno, Giordano 10, 15, 30, 39–65, 85, 211, 219 Buddèe, Johann Franz 45, 60, 62 Büchner, Georg 141, 205 Büsch, Johann Georg 95 Buff, Johann Christian 92 Burckhard, Ludwig 92 Busold, Carl Ludwig Friedrich 92

Calvin, Johannes 44, 58 Carl IV. → Karl Theodor IV. Chladenius, Martin 145, 153 Cicero, Marcus Tullius 78 Crell, Johannes 77 Crell, Samuel 77 Dalberg, Carl von 94 Danow, Ernst Jakob 78 Danton, Georges 72 Dantz, Johannes Ernst Friedrich 92 Demokrit 40, 48, 51, 62 Dentzel, Georg Friedrich 98–109 Descartes, René 40, 50f., 65f. Diderot, Denis 51f., 198 Dieffenbach, Georg Christian 93 Diez, Immanuel Carl 13 Diez, Heinrich Friedrich von 80 Dorat, Claude Joseph 65 Dornensteeg [Ps.] → Eichhorn, Daniel Alexander Doxon (frz. Generaladjudant) 100f. Du Boulay, César Egasse 58 Eberhard, Johann August 161, 164 Eckel (Landwirt in der Nähe von Arzheim) 108 Edelmann, Johann Christian 77, 113, 128– 133, 138f., 142f., 175 Egli, Raphael 61 Eichhorn, Daniel Alexander 92 Epikur 40, 48, 62, 66f., 70 Ersch, Johann Samuel 134, 136, 152 Eusebius von Caesarea 100 Ewald, Schack Hermann 94 Fichte, Johann Gottlieb 204 Fichte, Immanuel Hermann 204 Fleischer d. J., Johann Gerhard Gottlob 18, 213 Forberg, Friedrich Carl 11 Forster, Johann Reinhold 212 Francke, August Hermann 31, 149 Freundenberg, Wilhelm Ludewig 93 Frey, Thomas 95

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NAMENSVERZEICHNIS

Freylinghausen, Gottlieb Anastasius 25, 29, 31 Friedrich II., König von Preußen 130, 194 Friedrich II., Landgraf von Hessel-Kassel 139 Friedrich Ludwig, Kronprinz von Hohenlohe-Ingelfingen-Öhringen 98 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 98f., 102, 176f., 201–203, 205, 213 Gehra, Johann Ludwig 95 Geyling von Altheim, Ludwig 93 Glöckner, Johann Jakob 99 Goethe, Johann Wolfgang von 8, 28f., 88, 126, 133, 141, 214 Goeze, Johann Melchior 170 Göschen, Georg Joachim 139 Grambs, Johann Georg 93 Gröning, Christoph Heinrich 92 Hammerich, Johann Friedrich 94 Hanckroth, Adolf Heinrich 93 Heinrich III., König von Frankreich 58 Hendel, Johann Christian 212 Hendrich Franz Josias von 94 Henrichs, Hermann 118 Heres, Christoph 175 Herrmann, Johann Christian 137 Heumann, Christoph August 40, 45f., 48, 60–62, 64 Hiller, Johann Adam 166f. Himburg, Christian Friedrich 82 Hißmann, Michael 14 Hobbes, Thomas 89, 197, 199–203 Hohental, Graf Wilhelm von 139 Hochheim, Carl Josef 94 Hoffmann, Benjamin Gottlob 95 Holbach, Paul-Henri Thiry d’ 40, 80, 194, 199 Holberg, Ludvig Baron von 76, 153 Huet, Pierre-Daniel 50 Hügel, Johann Alois Josef von 94 Hume, David 79 Imbert, Guillaume 164f. Imler, Georg Christ. 92 Iselin, Isaak 172 Jacobi, Friedrich Heinrich 15, 39, 51 Jako, Graf (Pseud. Elias Habesci) 118 Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg 59 Jung-Stilling, Heinrich 126, 141 Justinian I., röm. Kaiser 165

Kant, Immanuel 79, 83, 89, 94, 135, 194, 197, 204 Karl Emanuel I., König von Sardinien 188 Karl Theodor IV., Pfalzgraf und Kurfürst von der Pfalz 196, 201–203, 205 Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 97 Keyser, Georg Adam 94 Kindleben, Christian Wilhelm 75, 158 Klose, Carl Rudolph Wilhelm 129 Klügel, Gerg Simon 180 Knapp, Georg Christian 31, 33 Knapp, Johann Georg 31 Knigge, Adolph Freiherr von 151, 163, 166 Knoblauch, Karl von 86 Koch, Johann Christoph 167 Köhler, Johann Bernhard 83 Kopernikus 51 Kramer, Karl Heinrich Friedrich 92 Krünitz, Johann Georg 105 Kugler, Ernst Wilhelm 93 Kulenkamp, Lüder 93 La Croix du Maine, François Grudé 164 Lacroze, Mathurin Veyssière de 39f., 43, 46, 48, 57–60, 62 La Mettrie, Julien Offray de 129 Laubadère, Joseph Marie 99–101, 107f. Laukhard, Carl Friedrich 190, 213 Laukhard, Carl Gerhard Thomas Friedrich 213 Laukhard, Charlotte Dorothea 211, 214 Laukhard, Friedrich Christian passim Laukhard, Karl Philipp 40, 42, 56, 214 Laukhard, Philipp Burkhard, 22, 40, 56, 77, 211f. Lechler, Gotthart Victor 78 Lefebvre, François-Joseph (frz. General) 101, 106 Leibniz, Gottfried Wilhelm 40, 50–52, 65f., 185 Leopold II., Kaiser 97 Leopold, Georg Friedrich 93 Lessing, Gotthold Ephraim 129, 133, 137f., 170, 174 Lips, Johann Heinrich 32, 219 Lobstein, Johann Michael 22 Locke, John 202f. Lö(f)fler, Tobias 95 Ludwig IX., Landgraf von HessenDarmstadt 74 Ludwig XI., König von Frankreich 164 Ludwig XIV., König von Frankreich 98 Ludwig XVI., König von Frankreich 101

NAMENSVERZEICHNIS

Lullus, Raimundus 52f., 67 Luther, Martin 45, 58, 137 Machiavelli, Niccolò 89, 200 Maimon, Salomon 126f. Mandelsloh, Herr von (Hauptmann) 99 Mansfeld, Johann Ernst 117, 219 Manzolli, Pier Angelo 61 Marat, Jean Paul 72, 170 Marie Antoinette, Königin von Frankreich 101 Mauvillon, Jakob 80 Meister, Christian Friedrich Georg 92 Mersenne, Marin 39 Meyer, Johann Ludwig Salomon 92 Michaelis, Friedrich Wilhelm 18, 212 Miller, Johann Peter 35 Montesquieu, Charles Louis de Secondat, de 190 Morhof, Daniel Georg 45, 60 Moritz, Karl Philipp 126f., 141 Mörsfeld, Schittehelm von 77, 139 Mosheim, Johann Lorenz von 58 Müffling, Johann Friedrich Wilhelm Major von 161 Muhl, Johann Petrus Ludwig 93 Mühlenberg, Friedrich August 23 Müller, Johann August Christoph 92 Müller, Ludwig 93 Münchhausen, Karl Ludwig August Heino von 140 Münnich (Buchbinder in Halle) 27, 36 Murner, Thomas 166 Napoleon Bonaparte 102, 214 Neuhmann, Marie Antoinette (»Hannchen«) 213 Newton, Isaac 64 Nicolai, Friedrich, 116, 118, 134, 164 Niemeyer, August Hermann 29, 31 Nordecken in Rabenau, Friedrich Carl de 93 Nösselt, Johann August 23–25, 31, 33–36, 38, 159 Pailly (Privatgelehrter in Paris, Schüler Diderots) 198f. Palingenius → Manzolli, Pier Angelo Pallavicino, Ferrante 84 Parthey, Gustav 134, 152 Persius 67 Pfeiffer, Christoph Ludwig 95 Philon von Alexandria 160 Platon 50f. Pott, Degenhard 167, 177f.

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Prokopius von Caesarea 165 Pufendorf, Samuel 197 Pulci, Luigi 84 Pütter, Johann Stephan 83, 93 Pythagoras 51, 61f., 65 Raynal, Guillaume Thomas François ›Abbé‹ 166 Rebmann, Georg Friedrich 150, 170 Reimarus, Hermann Samuel 41, 130, 137, 174 Reimmann, Jakob Friedrich 45f., 60 Rittershausen, Konrad von 43, 45, 57 Rohan, Kardinal Louis René Prinz von 210, 212 Robespierre, Maximilien 11, 72, 108 Rousseau, Jean-Jacques 15, 27, 120, 135, 151–154, 170, 172f., 176–179, 186, 190–192, 200, 202f. Roye, Jean de 164 Ruprecht von der Pfalz 30, 211 Sack, August Friedrich Wilhelm 24 Sade, Donatien-Alphonse-François, Marquis de 195f. Salis-Marschlins, Freiherr Ulysses von 167 Sames, Johann Friedrich Otto Braunfels 93 Schäffer, Adam Wilhelm 93 Schazmann, Franziskus Adam David 92 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 15, 39 Schenck, Aemilius Wolfgang Christ. 93 Schiller, Friedrich 23, 72, 88, 192f. Schlegel, Karl 93 Schlegel, Moritz 92 Schleiermacher, Ernst Christian Friedrich Adam 92 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 25 Schlözer, August Ludwig 84, 86f., 90f., 219 Schmalkalder, Georg Christian Philip 92 Schmalkalder, Ludwig Christian 92 Schmid, Christian Heinrich 167 Schmidt, Georg Friedrich 92 Schmidt, Johann Gottfried 18, 219 Schmidt, Wilhelm Theophil 92 Schnorr von Carolsfeld, Veit Hanns 67, 219 Schoppe, Kaspar 43–45, 52, 57–60, 67 Schröder, August Wilhelm 190 Schubert, Johann Ernst 137 Schulze, Johann Lud(e)wig 25, 29, 31 Schütz, Christian Gottfried 35f.

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NAMENSVERZEICHNIS

Schwartz, Johann L. G. 24, 27, 31 Schwenninger (Bote in Landau) 107f. Selchow, Johann Christian Heinrich von 27 Sellius (Inquisitor) 54, 57 Semler, Johann Salomo 14, 21–23, 25, 27, 29–38, 41, 75, 77, 79, 84f., 150, 155– 173, 174, 180, 211, 219 Servetus, Michael 44, 58 Seume, Johann Gottfried 113, 128, 139– 143 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Earl 140 Simon, Ernst Heinrich 94 Simoulin, Louis Joseph 108 Spalding, Johann Joachim 23f. Spinoza, Baruch 39, 41, 51f., 77, 129, 131, 138 Spittler, Ludwig Timotheus 92 Steele, Richard 45, 60 Stephanie, Gottlieb 76 Stoecker, Friedrich Adolph 92 Strecker, Johann Friedrich 93 Struensee, Johann Friedrich 71 Stuber, Johann Philipp 137 Sturtz, Simon Heinrich 92 Suárez, Francisco 197 Sun Tsu 106 Thadden, Johann Leopold von 97, 210, 212 Tindal, Matthew 77–80, 174 Toland, John 40 Trapp, Ernst Christian 35f., 160 Trenck, Friedrich von der 116–118, 219 Troyes, Jean de 164 Twain, Mark 116

Unger, Johann Friedrich 84 Vanini, Lucilio 85 Vauban, Sébastien Le Prestre, Seigneur de 98 Viktor Amadeus II, König von Sardinien 188 Vogel, Zacharias 219 Volland, Georg Gottfried 178f. Vollmer, Gottlieb Leberecht 169 Voltaire (d. i. François Marie Arouet) 10, 77, 79, 82, 190, 199f. Vulpius, Johann Karl 92 Vulpius, Johann Daniel 92 Walch, Christian Wilhelm Franz 75, 83f., 86 Waldau, Georg Ernst 166 Wallbrunn, Friedrich de 92 Weber, Karl Julius 94 Wechel, Johann 59 Weckherlin, Carl Friedrich 86 Wedel, Major von 99 Wegener, Christian Heinrich Christoph 92 Weishaupt, Adam 194 Weyl, Johann Wilhelm 92 Wezel, Johann Carl 14, 118f. Wieland, Christoph Martin 14, 172f. Winhein, Ludwig 93 Wolff, Christian 23, 40, 77, 138, 148f. Wöllner, Johann Christoph von 213 Woltär, Johann Christian 33 Würtenberger, Wilhelm Albert 93 Wynfreth (Hl. Bonifatius) 54 Z. (Student in Halle, aus Berlin) 30 Zedlitz und Leipe, Carl Abraham von 35f., 157, 160

Abbildungsnachweise Buchcover: Laukhards Eintrag mit Schattenriss im Stammbuch von Zacharias Vogel (1762–1803). Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: Scrin. 222e, S. 105. Abb. 1, Seite 18: Friedrich Christian Laukhard (1757–1822), Kupferstich von Johann Gottfried Schmidt (1764–1803), Dresden 1796, nach einer Zeichnung von Carl August Senff (1770–1834). Exemplar der Universitätsbibliothek Leipzig, Porträtstichsammlung, Inv.-Nr. 28/147. – Zugleich ders.: Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben. Dritter Theil. Leipzig 1796, Frontispiz. Abb. 2, Seite 32: Johann Salomo Semler (1725–1791), Kupferstich aus dem Jahr 1791/1817 von Johann Heinrich Lips (1758–1817) nach dem Entwurf von Daniel Beyel (1760–1823). Österreichische Nationalbibliothek, Wien. Abb. 3, Seite 42: Titelblatt von Laukhards Diatriba historico-philosophica de Iordano Bruno. Halle 1783. Exemplar der Herzogin Anna Amalia Bibliothek/Klassik Stiftung Weimar. Abb. 4, Seite 68: Laukhard vor der Werbekommission der preußischen Armee. Kupferstich aus dem Jahr 1792 von Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld (1764–1841). Aus: Ders.: Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben. Erster Theil. Halle 1792, Frontispiz. Abb. 5, Seite 91: Hörerverzeichnis August Ludwig Schlözers (Politik, SoSe 1776). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Handschriften und Nachlässe. Nachlass August Ludwig von Schlözer. Abb. 6, Seite 103: Plan von Landau (Pfalz) mit Umgebung, im Maßstab 1 : 10.800, Radierung, Bamberg 1793. Sächsische Landes-, Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB), Dresden. Abb. 7, Seite 117: Friedrich Freiherr von der Trenck (1727–1794) in Ketten. Kupferstich aus dem Jahr 1787 von Johann Ernst Mansfeld (1739–1796). Österreichische Nationalbibliothek, Wien. – Zugleich: Des Friedrichs Freyherrn von der Trenck merkwürdige Lebensgeschichte. 2. Theil. Leipzig 1787, Frontispiz. Abb. 8, Seite 144: Carl Friedrich Bahrdt auf seinem Weinberg bey Halle. Gezeichnet und gestochen von einem Bruder der Deutschen XXII Union. Kupferstich aus dem Jahr 1789 von einem unbekannten Künstler. Österreichische Nationalbibliothek, Wien. Karte, Seite 210: Laukhards Leben und Schicksale, 1792–1795. Erstellt von Catalina Giraldo Vélez u. Guido Naschert. Weimar 2015.