Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832): Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo


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INHALT
VORWORT DES HERAUSGEBERS
TElL IANNAHERUNGEN AN DIE PHILOSOPHIE KRAUSES
TEIL II. Studien zur Wirkungsgeschichte
ANHANG
NAMENVERZEICHNIS
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Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832): Studien zu seiner Philosophie und zum Krausismo

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Klaus-M . Kodalle (Hg.) Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832) Studien zu seiner Phi losophie und zum Kra usismo

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KARL CHRISTIAN FRIEDRICH KRAUSE (1781-1832) Studien zu seiner Philo sophie und zum Krausismo

SCHRIFTEN ZUR TRANSZENDENT ALPHILOSOPHIE Herausgegeben von Gerhard Funke, Klaus Hammacher, Reinhard Lauth BAND 5

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

KARL CHRISTIAN FRIEDRICH KRAUSE (1781-1832) Studien zu seiner Philosophie ' und zum Krausismo

Herausgegeben von Klaus-M. Kodalle

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüng lichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0626-8 ISBN eBook: 978-3-7873-2754-6

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1985. Alle Rechte vorbehalten. 'LHVJLOWDXFKIU9HUYLHOIlOWLJXQJHQhEHUWUDJXQJHQ0LNURYHU¿OPXQJHQ und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soZHLWHVQLFKW††௘XQG85*DXVGUFNOLFKJHVWDWWHQ*HVDPWKHUVWHOOXQJ BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

INHALT

VORWORT DES HERAUSGEBERS ............................... VII TEIL I. Annaherungen an die Philo sophie Krauses ....................

1

Gerhard Funke (Mainz) Karl Christian Friedrich Krauses Begriindung einer »Lebenkunstwissenschaft« im Deutschen Idealismus. . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Wilhelm Raimund Beyer (Numberg-Salzburg-Berlin) Krause und Cousin im Schatten von Hegel und Schelling ...............

17

Hans-Christian Lucas (Bochum) Die Eine und oberste Synthesis. Zur Entstehung von Krauses System in Jena in Abhebung von Schelling und Hegel .........................

22

Paul Janssen (Koln) Schau als Methode bei Krause und Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

42

Klaus-M. Kodalle (Hamburg) Gewillheit als absolutes Wahrheitsereignis. Das Konzept der »Wesenschau« in der Metaphysik Karl Christian Friedrich Krauses .......

53

Rogelio Garcia-Mateo. (Munchen) Fortschrittsstruktur in der zyklischen Geschichtskonzeption Karl Christian Friedrich Krauses .....................................

72

Peter Landau (Regensburg) Karl Christian Friedrich Krauses Rechtsphilosophie ............. . . . . . ..

80

Rainer Schroder (Hannover) Zur Rechtsphilosophie des Krause-Schtilers Heinrich Ahrens (1808-1874) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

93

Klaus Giel (Tubingen) Unvorgreifliche Gedanken tiber die Beziehung zwischen Krause und Frobel ............................................................ 112

Reinhard Hom (Munchen) Der EinfluB freimaurerischer Ideen auf Krauses »UrbildderMenschheit«...........................................

124

VI

Inhalt

TEIL II. Studien zur Wirkungsgeschichte ............................

133

Jaime Ferreiro Alemparte (Frankfurt am Main) Aufnahrne der deutschen Kultur in Spanien. Der Krausisrno als Hohepunkt und sein Weiterwirken durch die Instituci6n Libre de Enseflanza .. 135 Mariano Peset (Valencia) Julian Sanz del Rio und seine Reise nach Deutschland. . . . . . . . . . . . . . . . ..

152

Juan Jose Sanchez (Bochum) Das »Ideal de la hurnanidad para la vida« und sein historischer Kontext ..

174

Teresa Rodriguez de Lecea (Madrid) Der spanische Krausisrno als praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 196 Alain Guy (Toulouse) Der spanische Krausisrno als religiose Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . .. 204 Reine Guy (Toulouse) Der spanische Krausisrno als padagogische Bewegung. Das Beispiel Joaquin Xirau ......................................... 209 Ramon Valls Plana (Barcelona) Der Krausisrno als sittliche Lebensfonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

215

Juan-Jose Gil-Cremades (Zaragoza) Die politische Dimension des Krausisrno in Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220 Julio De Zan (Santa Fe) Der Krausisrno in Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 242 ANHANG ......................................................

263

Klaus-M. Kodalle (Hamburg) Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832). Die paradox-absurde Existenz eines Philosophen. Anrnerkungen zur Biographie Krauses .....

265

Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 277 I. Verzeichnis der wichtigsten philosophischen, rnathernatischen und geschichtlichen Schriften Krauses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 277 II. Deutschsprachige Literatur tiber Karl Christian Friedrich Krause .... 282 III. Ausgewahlte spanischsprachige Literatur zur Philosophie Krauses und zurn Krausisrno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 284 Narnenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

289

VORWORT DES HERAUSGEBERS

1981 jahrte sich der 200. Geburtstag Karl Christian Friedrich Krauses, 1982 sein 150. Todestag. Der Evangelischen Akademie Hofgeismar gebiihrt Dank dafUr, daB sie im November 1981 ein Forum bot fUr die Bemiihung, Krause der Vergessenheit in Deutschland zu entreiBen und ihn dort, wo er so hoch geschatzt wird - wie in Spanien und dem spanisch sprechenden Ausland - noch griindlicher zur Kenntnis zu bringen. - Der hessische Ministerprasident hat diesen KongreB finanziell gefordert. Die Wirkungsgeschichte Krauses in Spanien wird in Teil II vorgestellt. Sie muB den deutschen Leser schier iiberraschen. Die im Teil I vorgelegten Analysen der Krauseschen Originaltexte geben, so hoffe ich, nicht nur dem deutschen Publikum zu denken, das Krause zu Unrecht vergessen hat; auch in Spanien werden diese Versuche, die Starke der Philosophie Krauses hera uszuarbeiten, ohne ihre Schwa chen zu verschweigen, gewiB dankbare Aufnahme finden. Dort namlich hat sich Krauses Philo sophie zu einem Synonym fUr >Aufkiarung ohne Religionsfeindlichkeit< verdichtet, das schlieBlich den reformistischen Modemisierungsbestrebungen dieses Landes in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts zur Legitimation diente. Dadurch wurde zwar der Krausismus zu einem Inbegriff aufgeklarter liberal-demokratischer politischer Kultur- dem intensiven Studium der Originaltexte freilich war diese selbstverstandliche Allgegenwart des »Krausismo« gerade nicht fOrderlich! Bekannt ist, daB Krause vor allem iiber seine Schiiler Heinrich Ahrens (1808-1874), Karl Roder (1806-1879) und Hermann Karl von Leonhardi (1809-1875) zu intemationaler Bedeutung (insbesondere auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie) gelangt ist. Es bleibt indessen weiterhin ein Desiderat, dem nicht ans Licht der Philosophiegeschichtsschreibung gelangten EinfluB Krauses in Deutschland nachzugehen. GroBe Philosophiehistoriker wie Kuno Fischer und Eduard Erdmann schatzten Krause noch; beide iibrigens unterstiitzten auch anlaBlich des 100. Geburtstages Krauses den Aufruf zur Griindung einer Krausestiftung. Selbst ein der Krauseschen Philosophie gegeniiber erhebliche Vorbehalte ausdriickender Vertreter des Faches wie Ueberweg hielt es seinerzeit noch fUr durchaus angebracht, die Epoche des deutschen Idealismus wiederholt durch die Namenskonstellation Fichte/Schelling/HegelJ Krause zu kennzeichnen. Und ein Mann wie der Nobelpreistrager Rudolf Eucken, der, gerade weil er stark popularlsierte, enorme Wirkung erzielte, hat sich eingehend mit Krause befaBt und dessen Werk wie des sen Personlichkeit in eindrucksvollen Worten gewiirdigt. Danach verliert sich in der akade-

VIII

Vorwort des Herausgebers

mischen Philo sophie Krauses Spur. Die neuen Lexika und Handbiicher der Philosophiegeschichte erwahnen unter den Begriffen, die im Zentrum seines Denkens standen (»Wesen«, »Wesensschau«, »intellektuelle Anschauung« u. a.) Krause mit keinem Wort. Die enorme politische und kulturelle Wirkung der Philo sophie Krauses in Spanien gibt zu der Vermutung AnlaB, Krause stehe womoglich fiir ein Phanomen ein, dem wissenschaftsgeschichtlich und wissenschaftssoziologisch nachzugehen ware: daB die entscheidenden, gewissermaBen kulturelle Epochenschwellen auslosenden Einfliisse womoglich oftmals gerade nicht von den (in der Riickschau) erstrangigen Reprasentanten eines Neuanfangs ausgehen.

Klaus-M. Kodalle

TElL I

ANNAHERUNGEN AN DIE PHILOSOPHIE KRAUSES

G ERHARD FUNKE

Karl Christian Friedrich Krauses Begrundung einer »Lebenkunstwissenschaft« im Deutschen Idealismus 1

Gefragt ist nach Karl Christian Friedrich Krause, nach seiner Stellung innerhalb des Deutschen Idealismus und nach seiner Antwort auf die Frage, was wirklich gesichert und Ergebnis einer Grundwissenschaft sei und wie sich das Leben nach einer verbindlichen »Lebenkunstwissenschaft« einrichten lasse. Krause geht von folgender Feststellung aus: "Ein reines Streben nach reiner Wissenschaft war in Deutschland mit Kant erwacht. Auf dieser Bahn echtwissenschaftlicher Forschung sind mehrere von Kants Nachfolgem kraftig und erfolgreich fortgeschritten, viele auf neuen selbstgebahnten Wegen«. Zu den echten Nachfolgem Kants zahlt Krause, wenngleich iiber Kant hinausgelangend, sich selbst.

I Wenn Idealismus, nach dem allgemeinen Sprachgebrauch verstanden, als die durch hohe Ideale bestimmte Weltanschauung und Lebensfuhrung ein uneigenniitziges und aufopferungsvolles Handeln fur Andere und fiir ihr Wohl meint, so ist soIch »praktischer Idealismus« gerade dem in seiner eigenen Lebensbewaltigung ungliicklichen Karl Christian Friedrich Krause zuzusprechen, der als theoretischer Mensch in den praktischen Dingen des Lebens notorisch unpraktisch blieb: ein unpraktischer ,praktischer Idealist>Von der Aktualitat Kants« belegt, weitgehend im kantschen kategorischen Imperativ enthalten ist, bereichert, indem das Gute als Grundimpuls des Handelns in das System eingeschmolzen wird. Krauses postum herausgegebene Schrift »Geist der Geschichte der Menschheit« (1843) stellt Welt als den »Organismus des Gottlichen« vor. Fur Krause soll so1cherTatbestand moralische Foigen haben. Bei Hegel hat der Weltbegriff weitaus laizisterischen Sinn und biirgerlichen Wert, ihm ist »Welt - die GewiBheit der Vernunft, Gegenwart zu sein«. Und Marx konnte noch einen Schritt weitergehen. Auf die Frage, was denn der Mensch sei, antwortete def t~ riser Marx: »L'homme - c'est Ie monde de [,homme.«

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Wilhelm Raimund Beyer

Fiir Krauses »Menschheitsinnigkeit« und ihrem Pendant »Gottinnigkeit« ist weder bei Hegel noch bei Marx Platz. 1m Absolutum findet der hegelsche »Gott« nur als »Idee« eine Chance; Krause steigert sie zur Einverleibung der Personlichkeit in das Absolute, sicherlich denksystematisch eine Uberschwenglichkeit. Paul Hohlfeld, wohl der verlassigste Interpret Krauses, zieht den Abstand zu Hegel m6glichst weit, indem er resiimiert: »Die dialektische Methode ist (fUr Krause) ganz unhaltbar.« Der Grund: »Hegel verwechselt dabei den fonnalen Widerspruch mit der real en Opposition.« Und als Haupt-Fehler Hegels soll gelten: »Es fehlt eine Menschheitslehre.« 1m Ubereifer meint dann Hohlfeld weiter: »Was an Hegels Lehre wahr ist, z. B., daB es eine objektive Logik geben miisse, daB der Satz yom Widerspruch auch bejahig gelte, hat Krause vor Hegel gelehrt und zum Teil auch druckschriftlich bekannt gemacht.« Wir brauchen Hegel hier nicht zu verteidigen, denn jegliche Dialektikforschung weill heutzutage, daB es mit der Positivitat des Widerspruchsatzes allein nicht getan ist. Erst der spekulative Satz griindet und pragt Hegels weltgeschichtlich-fruchtbare Dialektik: die Negation der Negation. Die Zeichnung des >>Verhaltnisses« Krauses zu anderen »Lehren«, wie so1che Hohlfeld spater Gena 1879 bei Costenoble) lieferte, erwahnt: Fichte, Schelling, Kant, Hegel, Herbart, Reinhold und J. J. Wagner, wobei die Reihenfolge zugleich die Gewichtigkeit mit ausdriickt. Krauses Vorliebe fUr die soziologisch und nicht nur anthropologisch faBbaren Organisationsfonnen >>Vert~in« und »Bund« k6nnte einzelne Momente aus Hegels »Allgemeinheit« vor allem seiner Jenenser Zeit aufdecken. Die Uberschwenglichkeit der Krauseschen Gedankenreihung und Verpflanzung der Kollektivprobleme in das Reich des Glaubens st6ren alsdann jegliche Vergleiche mit hegelschen Denkoperaten. Krause schreibt im »Tagblatt des Menschheitlebens«: »Ich glaube an die Vereinigung aller Menschen dieser Erde in Einen Ewigkeitsbund, in Einen Tugendbund, Einen Rechtbund und Einen Sch6nheitsbund; in Einen Wissenschaftsbund, Kunstbund und Selbstbindungsbund; und an ihr Zusammenleben mit Gott, mit Vernunft, Natur und mit der Menschheit des Weltall« (Nr. 1 »Glaube an die Menschheit«). Alle diese »Biinde«, die so gar nichts mit der »biindischen Bewegung« unseres Jahrhunderts zu tun haben, hatte Krause schon 1811 in »Das Urbild der Menschheit« (Dresden, bei Arnoldi) als sein Zielprogramm verkiindet, nur noch reicher und sich programmatisch erheblich iiberschneidend: den Tugendbund, den Rechtbund, den Gottinnigkeitsbund, den Sch6nheitsbund, den Ganzbund, den inneren Werkbund, den Kunstbund, den Vereinbund, den Bund fUr Menschheitsbildung und dann den Gesamtwerkbund. Damit sind wir wieder beim »hen kai pan«. Der »Menschheitsbund gilt als der Bund fUr das Gesamtleben der Menschheit«. Rechtlich entsprechen diesen zahlreichen »Biinden« die >>Vereine«, bis zu den V6lkervereinen und im Gefolge Kants dann 1811 bis hin zum Frieden garantierenden V6lkerverein. Alle diese Vereine zeichnet das Element der »Freiheit« aus, der »Lebenverein«, der »Stammverein« wie der >>V6lkerverein« gelten als »freie Gl:selligkeiten«. Das Ziel? Die Vollkommenheit des Menschenlebens. ,~

Krause und Cousin im Schatten von Hegel und Schelling

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Und: Hier sehen wir den Abstand zu Hegel deutlich. Dieser hat wortlich die »Weltverbesserer« abgelehnt. Trotz alier Arbeiten Krauses tiber Logik und Mathematik dringen in seine rechtlichen, soziologischen, politischen und kulturwissenschaftlichen Arbeiten rationale Griindungsversuche nicht ein. Es bleibt immer beim wortgewaltigen und tiberschwenglichen Glauben und Meinen und Hoffen. Die Themen sind freimaurerisch durchpulst vorgetragen, wie ja auch die zwei Bande »Die drei altesten Kunsturkunden der Freimaurerbruderschaft« (1820 und 1821 in Dresden verlegt) in solcher Denkhaltung das ganze System Krauses offenlegen. DafS Krause ein enzyklopadistisch angelegtes Denksystem zeugen wolite, belegt sein dauemd bentitzter Begriff »Gliedbau«. In solchem »Bau«, Denkgebaude, findet sich denn auch - wir Heutigen holen diesen lange Zeit voU vemachlassigten Gedanken verstandlicherweise betont hervor - ein »Entwurf eines europaischen Staatenbundes als Grundlage des aligemeinen Friedens«. Solchem politischen Willen stehen wir auf aUe Falie nicht gleichgiiltig gegentiber. Er ist bei Krause Tell des Gesamtbaus des Denkens. Seine »Mathesis« - wie solchen Titel das letzte Werk des schon yom Tode gezeichneten engagierten und doch nie arrivierten Denkers bentitzt- nimmt er als »Reinwesenheitslehre« und steUt sie - ebenfaUs in der Oberschrift mit ausgedriickt - in ein "verhaltnis zum Leben«. Schelling, der als damaliger bayerischer Akademieprasident dieses fast als Bewerbungsschrift eingereichte Werk zu priifen hatte, schrieb kurz und hochnasig an den Rand »unbrauchbar«. Unser Geschlecht hingegen interessiert alies, auch das, was ein nicht im vordersten Rampenlicht angestrahlter Denker zu sagen wufSte. Vor aliem dann, wenn er »mitten im Leben steht« - Und das tat Krause.

HANS-CHRISTIAN LUCAS

Die Eine und oberste Synthesis Zur Entstehung von Krauses System in Jena in Abhebung von Schelling und Hegel

I Von Karl Cristian Friedrich Krause ist meist nur die eigentiimlich differenzierte Wirkungsgeschichte seiner Philosophie bekannt: Wahrend er in Deutschland als nahezu vollstandig vergessen gelten muB, hat seine Philo sophie insbesondere in Spanien und Lateinamerika so nachhaltig gewirkt, daB dort verschiedene Phasen und Formen des >Krausismo< unterschieden werden k6nnen. Die geringe, aufkleine Zirkel von Anhangern beschrankte Ausstrahlung von Krauses Denken in Deutschland ist bereits zu seinen Lebzeiten darauf zuriickgefUhrt worden, daB Krause in einer eigentiimlichen, pseudopuristischen Manier die philosophische Terminologie unter Verzicht auf aile traditionellen Fachausdriicke griechischer oder lateinischer Herkunft eindeutschen wollte. Bedeutete allein dieser Sprachpurismus schon ein Hindernis fUr das Verstandnis der Werke Krauses, so wurde diese Barriere fUr die Rezeption durch seinen wissenschaftlich nicht immer haItbaren Versuch erh6ht, die Etymologie in seinem Werk geltend zu machen. Fur den Hegel-Schiiler Johann Eduard Erdmann bedeutete dies, daB Krause seiner eigenen Forderung nicht gerecht werde, daB »alles Bestehende mit zarter Hand geandert werden« musse. Freilich bemerkte schon Erdmann, daB in fremdsprachiger Ubersetzung diese Eigentiimlichkeiten der Sprache Krauses nicht mehr in gleicher Weise wirksam werden und die Rezeption hem men konnten: »Schriften, in denen Monstra vorkommen, wie Urwesenmalgeistmalleibwesen, versperren sich selbst allen Eingang, und der Umstand, auf weIch en Krause's Schiiler hingewiesen haben, dass Franzosen und Italiener eher von seiner Lehre Notiz genom men, hat mit darin seinen Grund, dass Beide sie in Ahrens' geschmackvoller Einkleidung kennen lernten.«l Dieser Vorbehalt hinderte Erdmann jedoch nicht, Krause den Ehrenplatz neben Hegel als Denker gleichen Ranges einzuraumen. Krause selbst sah sich zu 1 J. E. Erdmann, Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Pilosophie, 3. Bd. 2. Abth. 2. Theil: Die Entwicklung der deutschen Speculation seit Kant, Leipzig 1853, S. 682. Erdmann kritisiert dariiber hinaus zu Recht die Redundanz, die sich in den zu Krauses Lebzeiten erschienenen, insbesondere aber in den nach seinem Tode von seinen Schiilern herausgegebenen Schriften dadurch ergibt, daB seine Vorlesungsmanuskripte offenbar ohne Kiirzungen oder Uberarbeitung verOffentlicht wurden. - Vgl. K. Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870, S. 237. Dort spricht Rosenkranz von einer» Ueberdeutschung derTerrninologie« bei Krause, mit welcher der Philosoph "das Gegentheil von dem erreichte, was er bezweckte, namlich unverstandlich zu werden«. Vgl. ferner S. 261 f.: »Durch Ahrens, der als politischer

Die Eine und oberste Synthesis. Krause in Jena

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wiederholten Malen veranlaBt, sich gegen die Millachtung und Nichtbeachtung seitens seiner erfolgreicheren Fachkollegen zur Wehr zu setzen. Hinsichtlich der Ablehnung seiner eigentiimlichen Sprachform verteidigte er sich unter Hinweis auf die vergleichsweise konventionelle Formulierung seiner friihen Veroffentlichungen: "Es ist nur zu klar, daB jedes Vorschiitzen meines abweichenden Sprachgebrauchs eine falsche, gleisnerische Entschuldigung ist; schon deshalb, weil diese Abweichung erst in denjenigen meiner Schriften hervortritt, die nach dem Jahre 1810 geschrieben sind; und auch die friiheren, im Sprachgebrauche gar nicht abweichenden Schriften entweder iibergangen, oder verleumdet worden sind, z. B. mein Naturrecht von 1803.«2 Allein dieser Hinweis Krauses ware schon AnlaB genug, den ersten Veroffentlichungen dieses Denkers besonderes Augenmerk zu schenken, urn von daher zu einer angemessenen Beurteilung von Krauses Philosophie im Gesamtspektrum der philosophischen Bewegung gelangen zu konnen, die gemeinhin als Deutscher Idealismus bezeichnet wird. Die Klage Krauses, daB »Zunftgelehrte auf Universitaten«, denen er und seine Schriften recht wohl bekannt gewesen seien, sich gehiitet hatten, ihn »auch nur mit einem Worte zu erwahnen« verweist ebenfalls zuruck auf die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts in Jena, die gerade auch fUr Hegel die Zeitspanne bezeichnen, in der dieser die erste Ausbildung seines Systems betrieb: »50 haben unter andem Fries und Hegel an mir gehandelt, die mich personlich kannten und mit denen ich zugleich in Jena in den Jahren 1802-1804 Vorlesungen gehalten.« (E 16) Ein Brief des ersten Hegel-Biographen Karl Rosenkranz an den altesten Sohn des Philosoph en, Karl Hegel, yom 3. Mai 1841 verdeutlicht, daB schon friih die Problematik der ersten Systementwicklung Hegels im Jenaer Umfeld der ersten Jahre des 19. Jahrhunderts wahrgenommen wurde: »Die Darstellung von Hegels urspriinglichem System habe ich noch verspart, [ ... JIch muB zeigen, wie Hegel das leistete, was Wagner, Klein, Ast, Krause, Sinclair u. A. anstrebten. Ich muB die ganze Jenenser Confusion schildem.« Rosenkranz geht also davon aus, daB die Problemstellung Hegels und Krauses in Jena eine vergleichbare, wenn nicht gleichartige war. Wahrend Rosenkranz in Hegels Philosophie die Losung der Probleme gegeben sieht, die sich in Jena im AnschluB an Fichtes Position und Schellings Kritik daran ergeben hatten, beurteilt jedoch Hegels Schiiler aus Heidelberg, Friedrich Wilhelm Carove, fUr den Hegel sich nach seinem Obergang nach Berlin inFliichtling von Gottingen nach Paris ging, wurde die Krause'sche Philosophie zuerst in die franzosische Sprache iibertragen. Ein rours de psychowgie und ein droit nature! machten sie bei Franzosen und Belgiem popular und offneten ihr auch zu den ItaIienem und Spaniem den Zugang.« 2 K. Ch. F. Krause, Das EigenthiimIiche derWesenslehre, Hrsg. P. Hohlfeld/A. Wiinsche, Leipzig 1890, S. 16. (Stellenverweise im folgenden imText; Sigle >Ework in progress< dar.

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Hans-Christian Lucas

tensiv, wenn auch vergeblich eingesetzt ha tte, die Relation in einer vollig anderen Weise. In seiner Rezension der von Hermann Karl von Leonhardi, dem Carove sich wohl freundschaftlich verbunden wuBte, herausgegebenen »Lehre vom Erkennen und von der Erkenntnis« Krauses kommt Carove namlich in seiner Gesamtwiirdigung Krauses zu dem SchluB, daB dieser in seine» Wissenschaftsgeschichte« »zuletzt schlagend nachwies, wie die Systeme von Fichte, Schelling und Hegel auf keine Weise als Vollendung der Wissenschaften anzusehen seien«3. Gegen die wohlmeinenden Wiirdigungen Krauses durch diese Hegel-Schiiler hebt sich freilich die gereizte, wenig maBvolle Kritik unangenehm ab, die der bereits genannte Schiiler und Freund Krauses, Freiherr von Leonhardi, anonym gegen den von Eduard Gans verfaBten Nekrolog Hegels veroffentlichte. Immerhin ist zu beachten, daB auch v. Leonhardi die Vergleichung der Hegelschen Logik mit der Krauseschen aufnimmt, die von Krause selbst oft angesprochen wurde: Hegels »hochgepriesene Logik enthait noch lange nicht alles Das, was mit einer von Hegel nie erreichten Klarheit schon 1803 in Krauses Grundriss der historischen Logik angedeutet war«4. Es wird freilich nicht recht deutlich, inwiefem die >AndeutungenGabsolut< hier als >vollstandig< zu verstehen sei - steht als Erkanntes im Zentrum dieser Philosophie. Die Pradikate, die Krause dem Absoluten beilegt, verweisen in indirekter Weise auf Einfltisse, die Krause bei dieser frtihesten Ausbildung seiner Philosophie verarbeitet. Die zentrale Bedeutung des Organischen rilhrt gewill von Schelling her, dessen Vorlesungen Krause nach Fichtes Weggang harte - wenn auch eher kritische Beurteilungen Schellings durch Krause bekannt sind. - Es ist hier insbesondere an Schellings Schrift »Von der Weltseele« zu denken. Gerade die zusammenfassende These tiber das Prinzip allen Lebens am SchluB dieser Schrift laBt sichtbar werden, in welcher Weise sich Krause an Schelling anschlieBt: »Da nun dieses Princip die Continuitat der anorganischen und der organischen Welt unterhalt und die ganze Natur zu einem allgemeinen Organismus verkntipft, so erkennen wir aufs neue in ihm jenes Wesen, das die alteste Philosophie als die gemeinschaftliche Seele der Natur ahndend begrtiBte, und das einige Physiker jener Zeit mit dem formenden und bildenden Aether (den Antheil der edelsten Naturen) flir Eines hielten.«21- Ftir die Vorstellung einer Welthannonie bietet die Historie freiJamme/O. Poggeler, Stuttgart 1981, S. 245-266. Vgl. K. Cloy, Einheit und Mannigfaltig-

keit, Berlin/NewYork 1981, S. 83: »Fur keinen Abschnitt der neueren Philo sophie ist die Hen-Kai-Pan-Spekulation so charakteristisch wie fur den deutschen Idealismus.« 20 Beide Fassungen sind veroffentlicht in: K. Ch. F. Krause, Philosophische Abhandlungen, Hrsg. P. Hohlfeldl A. Wunsche, Leipzig 1889. (Stellenverweise im folgenden im Text; Sigle >AgeIauterten< Spinoza auch ein erneutes philosophisches Interesse fUr Leibniz trat. Krause leugnet im allgemeinen vehement jeden EinfluB anderer Denker auf sein sich als originell behauptendes Denken, allein Kant ist davon ausgenommen, denn im Hinblick auf den Konigsberger Philosophen versichert Krause wiederholt, daB er der erste Fortsetzer Kants sei (z. B. E 143 f.). Gerade hinsichtlich der fUr sein Denken zentralen Konzeption der Hannonie verweist Krause aber auf einen Autor, dessen bedeutendstes Werk er 1801, also vor Abfassung seiner ersten eigenen Schriften, kennengelernt hat: »Im Jahre 1801 lemte ich Thorild's Maximum s[ive] Archimetria (1799) kennen; die Schrift sprach mich innig an, [ ... ] seine Lehre von der Panharmonie war mit meinem damaligen Schaun harmonisch« (E 154)22. Bemerkenswerterweise hat E. Cassirer, womoglich als Reverenz an Schweden, sein Gastland im Exil, Thorild eine Stu die gewidmet 23 • Cassirer findet zunachst offenbar nur schwer Zugang zu diesem vielseitigen skandinavischen Intellektuellen: »Wird also schon die Frage, ob Thorild ein Philosoph gewesen ist, von der Forschung grundverschieden beantwortet, so mehren sich die Schwierigkeiten noch, wenn man fragt, welche Philosophie er vertreten hat« (Cassirer 6). Auf der anderen Seite sieht sich Cassirer in der Lage, auf sorgsame Einzelanalysen hinzuweisen, in denen man Thorilds Verhaltnis zu Spinoza und Leibniz, zu den Denkem der franzosischen Aufklarung und zu Rousseau, zu Shaftesbury und zu Young studiert habe (Cassirer 11). Von besonderem Interesse ist jedoch die direkte Beziehung Thorilds zu Herder, auf die Cassirer verweist: Thorild hatte Herder seine »Archi22 Vgl. P. Hohlfeld, Die Krausesche Philosophie, S. 5: »1800 oder 1801 lemte er des Schweden Thorild anonym 1799 erschienene Archimetria kennen, durch welche er sich >geschwisterlich angeregt< fiihlte. Thorild ist der entschiedenste Gegner Kant's, aber ein Verehrer der Mathematik und des Mathematikers und Philosoph en Lambert. Seine Lehre liiBt sich als Panharmonismus bezeichnen. Die Medicin soli den theobios, die Jurisprudenz den theonomos, die Theologie das theomelos nachweisen.« 23 E. Cassirer, Thorilds Stellung in der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Stockholm 1941. Ders.: Thorild und Herder. - In: Theoria, Bd. VII, Goteborg 1941.

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metria« zugesandt, dieser hatte sofort die Verwandtschaft mit dem eigenen Streben erkannt und das Werk einer eingehenden zustimmenden Besprechung gewiirdigt (Cassirer 57)24. Cassirer vermerkt zwar, dag die Zustimmung Herders insofem leicht zu erringen war, als Thorild sehr friih ein SchUler Herders geworden und dies immer geblieben sei. Er macht jedoch nicht deutlich, von welchem Enthusiasmus die Rezension Herders gepragt ist. Zumindest die Gegnerschaft gegen die kritische Philo sophie oder, mit Hegel zu sprechen, die »Reflexionsphilosophie der Subjektivitat« eint den Autor und den Rezensenten: »Hatte die kritische Philo sophie nurdies Buch veranlagt, so miigten wir ihr Dank wissen; mit der Zeit werden wir ihr noch manches andere Gute danken. Ziehe den Einen Arm der Waage mit Gewalt nieder; der Andere fliegt urn so hoher aufwarts.«25 Wie weit der Zusammenhang Thorilds mit dem Denken Herders Krause bekannt war, mug dahingestellt bleiben. Allerdings wird durch diesen Bezug deutlich, dag Krause sich iiber einen Umweg der Diskussion urn die Moglichkeit eines Neuspinozismus annahert, deren Inhalt wiederholt mit der Formel tv 26 KaL nav ausgedriickt wurde . - Es soU noch kurz angemerkt werden, daJS auch das Heraklit-Zitat (B 10) im Untertitel der Thorildschen »Archimetria« in den Umkreis des Hen-Kai-Pan-Denkens verweist: Ex navtwv tv XaL E; £vo~ navta (Aus AlIem Eins und aus Einem AUes)27. Das Ungeniigen freilich, das Cassirer an Thorild findet, der in Anlehnung an Shaftesbury sich damit begniige, bestimmte metaphysische, ethische und asthetische Thesen aufzustellen, ohne sie erkenntnistheoretisch zu analysieren (Cassirer 57), ist auch gegeniiber Krauses erster Schrift kaum vollig zu vermeiden. Das zweifellos kiirzeste Kapitel der ohnehin kurzen Schrift gilt der Darstellung der Methode. Die von Krause darin ausgegebene Losung heillt: »Symmetrice vero et organice!« (A 337, »Nur symmetrisch und organisch.« A 22). - Nach dem Vorbild des eleatischen EOV, das in Herders »Gott« als »Kugel, die auf sich selbst ruhet«28, emeut zu Ehren kommt, geht Krause von einem Mittelpunkt des Wissens aus, von dem es fortschreiten solle in Radien eineroffenbar vorausgesetzten - Kugel. Die kurzen Erwagungen iiber Radien und die Oberflache der Kugel, die sich einen gewissen mathematischen Anstrich geben, finden einen geradezu apotheotischen Schlugpunkt in einer sinnIichmystischen Welterfahrung: »Wenn du nur dein ewiges Auge ewig und symmetrisch bewegst und anstrengst in den ewigen und symmetrischen Fluthen der Welt: so wirst du dich dessen zu erfreuen haben, dass die harmonische Welt

24 J. G. Herder, Samtliche Werke, Hrsg. B. Suphan, Berlin 1880. (Nachdruck Hildesheim 1967), Bd. XX, S. 367-37l. 25 J. G. Herder, Samtliche Werke, Bd. XX, S. 37l. 26 J. G. Herder, Samtliche Werke, Bd. XVI, S. 551£. 27 J. G. Herder, Samtliche Werke, Bd. XX, S. 367. 28 J. G. Herder, Samtliche Werke, Bd. XVI, S. 554. Vgl. S. 539, S. 553.

Die Eine und oberste Synthesis. Krause in Jena

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vom hellsten Licht mehr und mehr erglanzt, du aber selbst durch die Blicke und die Liebe derselben wieder belebt wirst auf ewig« (A 22).29 Die Erkenntnisrelation, die sich hier ausdriickt, vermeint offenbar keine Subjekt-Objekt-Beziehung in der Erkenntnis, sondem sie geht aus von einer diffizilen Subjekt-Subjekt-Beziehung, die in einer eigentUmlichen Weise gerade auch eine Selbstbeziehung des Absoluten ausspricht, welches - wie bereits bemerkt - als erkennbar gilt: Die Erkenntnis schaut die Welt mit einem >ewigen< Auge an, dieses Anschauen aber wird wiederum durch den »Blick« der Welt >auf ewig belebtAndeutungEndlichkeitseinschlusses< eroffnet sich aber nicht, wie Krause behauptet, der Schauung selbst, sondem spiegelt sich in der Diskursivitat des Denkens (in dieser Hinsicht also behalt Hegel recht). - Es finden sich durchaus Feststellungen Krauses, welche un sere Klarsteliung bestatigen: »Wesen ist Wesen, Gott ist Gott. Dieser Satz ist der Grundsatz fUr alie Satze (so auch Hegel), aber nicht das Prinzip alier Erkenntnis, weil selbiger schon die Wesenschau voraussetzt« (578). Aus diesen Erwagungen hera us leuchtet ein, daB auch die Bestimmung »hochstes Wesen« eine reiationale, also bedingte Bestimmung ist, hinsichtlich derer sich nochmals die Frage nach dem Grunde stellt (vgl. 174). Es ist offenkundig: So lange wir uns in der logisch->gliedbaulichen< Verastelung yom Hoheren zum Hochsten bewegen, wirdzwangsliiuJig auch das angeblich Hochste als ein je Bestimmtes und damit Endliches, Begrenztes erscheinen - die Frage nach dessen Grund brachte dies gerade an den Tag. Ich halte es darum fur abwegig, einfach unsere Wesensbestimmungen nur »unbedingt« und »urganz« zu denken, urn zur unbedingten »Selbwesenheit und Ganzwesenheit« Gottes vorzustoBen (175). Jeder Begriff eines Ganzen, des sen wir im Begriindungsdenken bedtirfen, ist zwar in seiner Begrenztheit durchschaubar und insofem uberholbar - nicht aber laBt sich die Dialektik von Teil und Teil-Ganzem transzendieren, daB also ein Ganzes zu denken ware, welches nicht langer bestimmtes Ganzes, also durch Nichtsein begrenztes Ganzes ware. In diesem Horizont ist dem Denken des endlichen Ich nach Krause beschieden, daB es »nach innen endlich ist, d. h. durchaus in bestimmten Grenzen ganz, endganz, nicht urganz oder unendlich« (117). Innerhalb des Horizontes seiner Endganzheit ist das Ich aufgrund der Zeitstruktur seines Seins sich selbst »unerschopfIich« (118). Mit den Begriffen »endganz« und»urganz« aber reiBt Krause eine Differenz auf, die diskursiv nicht mehr einlosbar ist. Auch wenn die Endlichkeit des Ich als »Ganzwesen« zu der Frage nach dessen Grund befugt (156), kann die Uberzeugung, daB unser Wissen, »weil es in bestimmten Grenzen ein Wesentliches seiner Art ist«, >,gegen sein Urganzes, das urganze Wissen, kein ausmessendes Verhaltnis« hat (117), nicht Produkt des bestimmten Denkens-in-Endlichkeit sein, weil dessen Vollendungsgestalt aliemal als das Ganze eines Bedingungsgefuges sich auch diese kategoriale Differenzierung einverleiben wiirde - nach dem folgenden Muster: die Differenz von »Endganzem« und >,Urganzem« realisiert sich tiber die gegenseitig negierende Bestimmtheit beider, so daB sich - im Horizont endlichen Denkens - jeweils nur erwiese, das vorgebliche Urganze sei in Wahrheit das Endganze. - Ich halte also fest: fur die Erfassung des Urganzen als un endlichen Wissens ist jede Terminologie diskursiven Begriindungsdenkens notwendigerweise ungeeignet. Das Prafix »UN ist keine Losung, sondem nur eine Verstehenshilfe.

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Mit dem Begriff der Darstellung kommt Krause dieser Erwagung entgegen: Unser Denken und Erkennen ist »durchaus endlich und allseitig beschrankt«; aber den Grundbegriff des Schauens oder des Erkennens, der »keineswegs das Merkrnal der endlich begrenzten Wesenheit an sich« hat, erkennen wir an »als auch in unserem Erkennen auf endliche Weise dargestellt« (119)1 Zwischen Denken »endlich und allseitig beschrankt« und dem »klaren Denken als in seiner Art urganz oder unendlich« gibt es nach meiner Auffassung keine selbst denkend zu leistende Vermittlungl Der Begriff der Darstellung korreliert dem der Anerkennung: »dafS wir in unserem endlichen Erkennen eine in dem unendlichen Erkennen Gottes enthaltene und diesem unendlichen Erkennen iihnliche endliche Wesenheit in uns anerkennen« (120, Hervorhebung von mir). Krause unterstreicht, die Urganzheit sei sogar »eher und leichter zu denken und zu schauen als die Endganzheit oder Endlichkeit« (120). Dieses ist nur plausibel, wenn wir darunter ein urspriingliches Evidenzerlebnis verstehen, das vor aller diskursiven Bestimmtheit und deshalb als grundlose Wahrheit erahnt bzw. gewuBt wird und das vom endlichen Denken dann als ermoglichender Urgrund jeder bestimmten Ganzheit anerkannt wird. Die Behauptung, »daB also Gott als das ohne Grenze schauende Wesen von uns ahnend gedacht werde« (121), ist nur auf dieser Ebene unmittelbaren Schauens zu formulieren, wo eine Identitat des als selbstandig Unterschiedenen (Gott-Mensch) erreicht wird, die sich nicht nach Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Ganzem und Tell ausdifferenziert, sondern jeder Differenzierung gegen die ihr latent innewohnende >schlechte Unendlichkeit< Halt verleiht in einem absoluten Wahrheitswissen, das aile Bestimmtheiten begleitet. Es empfiehlt sich also, sich an die tiefere Einsicht Krauses zu halten, daB die WS aus den »untergeordneten endlichen Schaunissen und Gedanken« nicht erklarlich ist (167). Vielmehr ist sie »in unserem Geist urspriinglich gegeben« (177), sie bricht, wie es auch heillt, in das BewuBtsein herein (168)1 Hier eroffnet sich demnach GewiBheit, die eines Beweises weder fahig noch bedurftig ist (177). Aus dieser absoluten GewiBheit, losgelost von aller Logizitiit, leitet sich die Gewillheit unserer Selbsterkenntnis ab: »da wir einsehen, dafS Gott als Grund unseres Ich, und die Wesenschau Gottes als Grund unserer Selbstschauung gedacht wird« (178). Die Abgeleitetheit dieser Gewillheit aber kann gar nicht Abschwiichung bedeuten - Gewillheit ist GewiBheit. Es ist dieselbe Gewillheit mithin, mit der wir Gott und mit der wir uns selbst erkennen (178). Fur diese Unmittelbarkeit der im »Schauen« erschlossenen Gewillheit ist jede Andeutung einer Gegenstandsbeziehung unangemessen. Deshalb auch weist Krause zu Recht das Wort »An-Schauen« zuriick, »wei! das Wort: an schon Endlichkeit des Geschauten voraussetzt« (179), im un-anschaulichen Schaun (»Grundschaunis«) sich aber eine Einheit vollzieht oder besser: ereignet, in der nicht wechselseitige Bestimmung und damit Verendlichung, sondern die reine Vollzugsform qua absolute Setzung/Griindung aller Differenz aufscheint: so daB wir »wiedergeboren« werden »an den Tag Gottes als gleichsam der Sonne der Geister« (179). Das Schauende ist nicht vom Geschauten abge-

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grenzt. 1m Wesenschauen erkennen »wir auch uns selbst als endliches Ich wesen haft, vollkommen, in unserem Grunde« (179). Die »Idee« Gottes bringt »Obereinstimmung« in un sere endlichen Gedankengebilde, insofern sie uns tiberhaupt erst zur Bildung von Totalitiitsanschauungen befugt (188). In diesen synthetischen Konstruktionen finden wir die Moglichkeit des Irrtums, der je zu tiberholenden Resultate. Offenkundig aber verlangt diese »eine und einzige gewisse Erkenntnis« der WS (188) gleichsam eine Art Basisvertrauen nach Art der Theodizee: daB wir namlich trotz der faktischen Undurchschaubarkeit der real en Lebensvollztige in jener Grtindungsevidenz einer GewiBheit teilhaftig werden, die uns die Endlichkeit ohne ideologische Kontingenzf/ucht ertragen laBt! Die Einsicht in »das Wie und das Warum und den Zusammenhang« wird sekundar, wird relativiert (189), gerinnt auch im Falle deutlichen MiBlingens nicht zurexistentiellen Verzweiflung. Umgekehrt: wissend urn die Irrtumsmoglichkeit faBt das Ich Zutrauen zu seinen Deduktionen und Konstruktionen, denn allemal ist ja eines ausgeschlossen: die triigerische ideologische Totalisierung irgendeines bestehenden Endlichen zur letzten Wahrheitsgarantie. Die unmittelbare Erfassung von Wesen als Idee, im Schau en, mag im Dasein zwar zu verdunkeln sein, doch sie kann nicht total der Diffusion des Irrtums verfallen. Die Moglichkeit des Irrtums, z. B. auch hinsichtlich des Modalstatus der Vorstellungsgehalte liegt gerade in der Ausdifferenzierung des Geistes in seine endlichen Gestaltungen begriindet - die Auffassung des einen Grundes ailer Dinge wird dadurch nicht tangiert (188). Wichtig und bedenkenswert ist in diesem Zusammmenhang also der ontologische Status der WS: Wesen in seiner urspriinglichen pralogischen Erschlossenheit ist absolutes Sein »vor und tiber dem Gegensatz des Moglichen, Wirklichen und Notwendigen« (186). Modale Strukturierung kommt in den Blick, wenn sich das endliche Ich als Geist erfaBt und von da aus den ganzen organisch gegliederten Zusammenhang mit Gott »als Grund«, in der Bestimmung »hochstes Wesen« oder »Urwesen«, denkt, also jenes ursprungshafte Sein Gottes »zugleich auch« denkt »als Grund aBer dieser Seinsarten, wonach das Endliche in Gott und durch Gott moglich, wirklich oder notwendig ist« (186). Anders gesagt: wer nach der »objektiven« Giiltigkeit dieser Evidenzerfahrung fragen woBte, geriete in den Sog der schlechten Unendlichkeit; er hatte nicht begriffen, daB er bereits eine Seinsbestimmung, die nur auf Endliches »paBt«, in Anspruch nimmt, deren Wahrheitsgehalt gerade strittig ist bzw. sich nur in der urspriinglichen WS erschlieBt. Unvermittelte Wesenschauung als unbedingte Wahrheitsgewillheit »zeigt sich selbst an« (185): u1..ij1tELu/Wahrheit, die sich von sich selbst her zeigt 10 , »als in sich selbst wahr erkannt« wird und daher einzig angemessen die Imago unbedingter Freiheit darsteBt. Sie kann »durch nichts begriindet oder bewiesen«, »d urch nichts erkIart oder verdeu tlich t werden« (187). Die Seele wird gleichsam in der WS eingestimrnt: Sie erfahrt die Obereinstimmung alles Bestimmt-Ver10 Die Anspielung auf Heidegger legt sich nahe: Es findet sich bei Krause die Formulierung »Wesen wesetWesen«. Krause, AbrilS des Systemes der Philosophie, a. a. 0., S. 101.

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mittelten mit dem gottlichen Grund: »die Grundidee der Vernunft stimmt mit aller inneren Erfahrung jedes endlichen Geistes tiberein« (593). Wissenschaft lieBe sich mithin als Vollzug einer zeitlichen Entfaltung jenes Mannigfaltigen begreifen, das im Lichte der ursprtinglichen WS entspringt (vgl. 605). Die Begeisterung, die Ein-Stimmung in die Wahrheit durch WS kann selbstverstandlich in der Zeit gar nicht adaquat nachgebildet werden (588). Des endlichen Geistes »mitwirkende Selbstbestimmung« in der Zeit ist beztiglich dieser Wahrheitsgegenwart von sekundarer Bedeutung. Die WS ist nichts von uns der Zeit nach Produziertes; man konnte eher sagen: wir sind das Sich-selbst-Produzieren des Wesens. Leistung unserer Freiheit ist nur, daB wir mit Freiheit ins BewuBtsein bringen, was »in selbigem verdunkelt gewesen« ist (185). Die WS selbst aber ist da in einem Nu, »ganz und auf einmal«, ohne Vermittlung irgendeiner endlichen Erkenntnis. Die Evidenz dieser absoluten Erschlossenheit ist darum »noch ohne und vor alIer Gegenheit des Daft und des Warum. Sie ist das eine durchaus Ersichtliche oder Evidente« (182). (Intellektuale Anschauung war der zeitgenossische Begriff dafUr.) Sie ist nicht zu erreichen »durch Beweis, noch durch Ableitung oder Deduktion nach dem Satze des Grundes« (183). An den Kategorien »etwas« und vor allem »Einheit« sucht Krause klarzumachen, daB, wennalle Differenzierung als Entfaltung Gottes selbst zu denken ist, »auch die Einheit ... nur eine einzelne innere Wesenheit Gottes« ist (184). Darin schlagt die Einsicht durch, daB wir Einheit ohne Grenze, wie es unsere Rede von der »hochsten« Einheit zeigt, gar nicht denken konnen. Die »eine, erste ganze Einsicht« leuchtet im endlichen Geiste auf wie »die Ursonne der Erkenntnis am Himmel des Geistes« (543). Wenn das Ereignis der Wahrheitslichtung in WS schlechthin - auch »fUr Wesen selbst« - unbeweisbar ist, so wird man dieses Geschehen als die Verzeitlichung der ewigen Offenbarung (vgl. 525, A.) deuten dtirfen, der ein noch ganzlich ungeteiltes Erkenntnisvermogen entspricht (535, A.). Die WS ist »die in ihr Inneres ohne Ende bestimmbare Erkenntnis« (527, Hervorhebung von mir). Wesen ist nicht »Resultat irgendeiner Erkenntnis«, »sowenig als alIer endlichen Erkenntnisse« (535, A.), mithin alIemal »nicht Glied irgendeiner Kette« (537); vielmehr ist umgekehrt das bestimmte Denken »inneres Resultat der Wesenschauung« (525, A.). Die Kontingenzerfahrung des in sich notwendigen Wahrheitsgrundes wird dann wie folgt gefaBt: »Wesen gibt sich selbst zu schauen, zu lieben, darzuleben, nicht aber: Wesen ergibt sich« (529, A.). Oder, yom endlichen Ich aus geredet: dieses »kommt in eigener Kraft in keiner Hinsicht tiber sich hinaus« (547). Das Wissen urn die Begrenztheit des endlichen Wissens findet seinen Ausdruck in der Auffassung, daB »der Glaube des endlichen Vernunftwesens weiter in die Tiefe reicht als sein bestimmtes Wissen« (570).

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IV. Wesen-in-Differenz - ein Hegelsches Kritik-Argument gegenii.ber Krause Gerade im Zentrum seines Denkens, in der Lehre von der WS, beschwort Krause die Starke seines Gegners Hegel auch wider sich herauf. Er gibt sich nicht damit zufrieden, die WS als jenes WahrheitsgewiBheitsereignis zu beschreiben, von dem her unsere endlichen begrifflichen Entfaltungen ihr »Leuchten«, ihre innereTeleologie, ihr sie begleitendes AkzeptanzbewuBtsein erfahren. Nein, er mochte die Endlichkeit selbst wiederum, denkend gleichsam aus derlmmanenz der WS, relativieren und das Wesenals Wesen an sich in Relation mit sich erfassen. Krause gibt tatsachlich vor, »Wesen« in differenzierten Funktionen der reinen Selbstbeziiglichkeit »ohne allen Anthropomorphismus« zu denken; in Wahrheit wird die Ersch1eichung nur durch das Prafix »or« (Orwesen) kaschiert. Dabei versteigt er sich sogar dazu, ein Phantasie-Leben Gottes, seine Ein-Bildung (jenseits aller Zeitlichkeit) zu projizieren, worin sozusagen jeder Einzelmensch z. B. nach seinem »Soll-Begriff« respektive »Soll-Bild« prasent istll. Ich kann nicht sehen, inwiefem Krause nicht genau das gleiche praktiziert, was er etwa Fichte vorwirft: Momente des individuell-zeitlichen BewuBtseins in sublimierter Gestalt in das sogenannte Absolute zu iibertragen 12. Urn nur ein Beispiel zu nennen: Krause unterscheidet yom endlichen Werden »ein wesentliches, seiendes ... Werden«13. Unterscheidungen des endlichen Denkens werden hier also in dessen Jenseits verlangert; Krause mochte verhindem, daB der absolute Geist als das Sich-Wissen, das Selbst-Innesein Gottes, verwechselt wird mit dem Gedanken der endlichen Geister (520). Dagegen insistiere ich mit Hegel: Sofem wir Gott als Entzweiung, Entau.Berung denken, muB es notwendigerweise die EntauBerung ins Andere seiner selbst sein, eben in die Endlichkeit, denn eine Verdoppelung im selben Medium ist nicht zu denken. »Die Wesenheit Wesens« ist selbst kein bestimmter Begriff mehr, und insofem ist Geist zu sein »die hochste Wesenheit« Gottes als Verhiiltniswesen. Das Absolute schlechthin entzieht sich der begrifflichen Bestimmung via negationis. »GewuBte Wesenheit« diirfen wir darum schlicht verstehen als den Evidenzcharakter der Wahrheit aller moglichen Relationen (vgl. 521). DaB Gott sich mit sich entzweit, »daB die hochste und unbedingte ... Vereinigung des Gottes mit Gott in sich selbst ist« (257), kann nur als erschlossener Gedanke, aufgrund von Entzweiungserfahrung iiberhaupt, gelten, ebenso wie die Behauptung, daB »unser eigenes fiir unser BewuBtsein unvermitteltes Selbstschaun unseres Ich als ein untergeordneter durchaus endlicher Teil und als ein endliches Gleichnis des unendlichen Selbstschauen Gottes enthalten und verursacht ist« (257). Wie solI eine Entzweiung in Gott denkbar sein, die nicht eine in das Andere seiner selbst ist, denn schlieBlich ist damit doch U nterscheidung gesetzt, fiir die 11

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Krause, Das Eigenthumliche der Wesenlehre, a. a. 0., S. 140, Anm. Ebd., S. 142. Ebd., S. 42.

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es ja wohl Kriterien geben muB, also: bestimmende Negationen. Wenn also Gott sich mit sich vereint, dann nur tiber seine EntauBerung. Jeder Bestimmtheit-im-Gegensatz wachst allerdings ihre WahrheitsgewiBheit erst aus dem urspriinglichen Schauen zu, in we1chem Endliches und Absolutes zusammenfallen. In diesem Horizont dtirfen wir dann »auf endliche Weise das eine Selbstschaun denken, womit Gott sich selbst schaut ... « (267).

v. Die absolute Setzung als Entzweiung des Absoluten Der Satz des Grundes bzw. der Ursachlichkeit reicht nicht in die Ursprungsdimension gottlicher Wahrheitsevidenz, denn er setzt schon innere Entfaltung, Gegensatz und Bezogenheit voraus. Wir mogen freilich erschliej3en, daB Gott als einzige Ursache dieser Beziehungswirklichkeit zu denken ist (580). Die hochsten Grundeigenschaften selbst sind nur als gleich-urspriinglich nachweisbar, nicht nach dem Satz des Grundes beweisbar. »Warum und wie in und aus der Einheit Gottes eine innere Vielheit und Vieleinheit werde«, ist nicht ergriindbar, nur das »DaB« ist nachweisbar. Aber Krause unterstreicht, daB We sen in sich ein Mannigfaltiges sei, werde sehr wohl selbst in jenem Ursprungsakt erfaBt (581). Der entscheidende Schritt aus der unmittelbaren Evidenz der WS hera us in die Differenzierung des endlichen Geistes hinein beginnt mit der begrifflichen Fassung dieser Beziehung: Wesenschauung. Das Begreifen erforscht das, was We sen als We sen denn ausmacht. Mit dieser Re-flexion erschlieBt sich der dialektisch in der Abfolge von Thesis-Antithesis-Synthesis gegliederte Gesamtzusammenhang aller Bestimmtheiten. »Wesen« also wird nach seiner Eigenschaft als Wesenheit befragt - und damit ist die Tatsache von Gesetztheit schon in dieser Frage vorausgesetzt. Von nun an geht's wie von selbst: Wesenheit-Einheit, Selbheit und Ganzheit usw. - in etwa analog zur Hegelschen Logik (vgl. 220-223). Wir sahen: von der unbedingten »ungegenheitlichen« We sen schau laBt sich keine Vermittlung zur untergeordneten »unbedingten ganzen Schauung jedes in seiner Art besonderen und endlichen Gegenstandes«, also zu der Erkenntnis der sogenannten Grundideen oder »Teilwesenschauungen« nachzeichnen (210). Krause neigt offenkundig dazu, eine so1che Kontinuitat des Erkenntnisprozesses anzunehmen und damit gerade seine eigene Pointe zu verschenken. Wir mochten vielmehr mit Krause formulieren: »Alles Denkbare ist von bestimmter Wesenheit ... «. Deshalb ist es konsequent, die Formel zuriickzuweisen, Gott stehe »unter dem Begriffe der Wesenheit, Ganzheit, Selbheit« (224). Sofem wir immer nur Bestimmtes denken konnen, fiele Gott tatsiichlich sehr wohl unter jene Grundbegriffe. Deshalb ist immer wieder hervorzuheben, das unmittelbar Gewisse der WS ist nicht »bestimmter Gedanke«, sondem Evidenz-Erlebnis von Wahrheit als Erschlossenheit. - Es ist bemerkenswert, daB Krause selbst darauf hinweist, daB das Schauen »vor und tiber aller Sprache«

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ist, denn Sprache vollzieht sich stets in der bestimmten Entzweiung von Zeichen und Bezeichnetem (235). Das Schweigen in der Evidenz der unverstellten Geistes-Gegenwart des Absoluten verrat also nicht eine Art Ohnmacht der Sprachlosigkeit, sondern ist vielmehr eine Konzentration, aus der die sprachliche Selbst- und Fremd-Verstandigung »wie ein ... Lichtglanz des Geistes« >ausbricht< (236). Denken wir hingegen Wesen »als aile in jeder Art und Stufe bestimmte und insofern endliche Wesen und Wesenheiten in und unter sich seiend« (120), so liegt hier bereits eine Entfaltung des Begriindungsdenkens tiber Negationen vor, welches im Vertrauen auf jene unmittelbare Identitat diese nun als Grund allen Seins bestimmen dart, in der GewiBheit, mit dieser Auseinanderlegung des Wesens den daseienden Geist Gottes angemessen darzustellen. (Die Vorstellung, als erfaBten wir das urspriingliche Wesen, indem wir die Grenzen >wegdenken< [so 135], erscheint demgegentiber recht oberflachlich.) Unser in der Prozessualitat der Endlichkeit sich vollziehendes Erkennen ist die »Weiterausbildung« des einen Wissens: Gott, der alle Erkenntnisvollztige umfaBt (116£.). Erst aus der gewissen Erkenntnis Gottes wird der Mensch »aller Grundrichtungen des Erkennens und Forschens machtig«, auch wenn ihm »die vollwesentliche und allseitige Durchschauung« aufgrund seiner Endlichkeit verschlossen bleibt (10): »die Wissenschaft selbst in ihrer Ganzheit, unendlichen Tiefe und Vollkommenheit weill nur Gott, - nur Gott weill und lebt die ganze Wahrheit« (15).

VI. Das Cute als Zweckfreiheit Zuweilen muten Krauses AusfUhrungen an, als fiele er zuriick auf die Ebene abstrakter Sollensforderungen, etwa wenn er die sogenannte »Wesensinnigkeit oder Gottinnigkeit« naherhin als »Aufgabe des steten Strebens, Gottes innezusein, zu werden und zu bleiben«, bestimmt (192). Doch Sinn wachst solchen Bestimmungen gerade nur aus der Wesensschau zu: sie ist nun einmal als einzige Erkenntnis ein fUr allemal »sich selbst genug, fUr sich selbst vollig klar« (193). Folglich kann sich das Sollen eigentlich nur auf die Anstrengung beziehen, die Durchtonnung seiner eigenen zeitlichen Existenz auch emsthaft jener Idee gemaB zu wagen, und nicht, z. B., irgendwelchen futuristisch-optimistischen Welterlosungsphantasien aufzusitzen. Die Forderung, nach Vollendung zu streben (117), basiert also bereits auf dem Urwissen, welches die reale Moglichkeit der Erkenntnisvollendung als ontologische ewige Gegenwart verbtirgt. Es gibt nur faktische Grenzen der individuellen Erkenntnisleistung, nicht aber prinzipielle. Die Erfahrung des sogenannten >Widerwesentlichenschauen< das eigene Ich als ewiges Dasein; an ihm ereignet sich der permanente, von Negationen >lebende< BestimmungsprozejJ der Verendlichung und Verzeitlichung, in dem wir - empirisch - uns schon immer vorfinden; »uns selbst aber, als ganzes, selbwesentliches Ich finden wir als vor und tiber diesem Gegensatze des Ewigen und Zeitlichen, des Bleibenden und Anderlichen, und in dieser Hinsicht konnen wir sagen, daB wir urwesentlich sind« (109). »50 bin ich es, als tiber meinem innern Mannigfaltigen seiendes Wesen, der ich den Geschichtsbegriff meiner selbst mit dem Urbegriff des Einzelmenschen vergleiche und danach musterbildlich bestimme, was und wie ich von nun an tun und leben soIl. Und insofern kann ich mich das urwesentliche Ich nennen« (164). Ich »als seiend tiber mir selbst, sofern ich ewig und zeitleblich und beides vereint bin« (164). Dieses urwesentliche Ich ist also, urn es zu wiederholen, nicht die VereinigunglVermittlung von Zeitlichem und Ewigem im Ich, sondern es ist das identische Wesen, das die Ekstasen der Zeit ebenso wie ihre Synthesen transzendiert. Noch dieses urwesentliche Ich gewinnt sich selbst aber aus der Spannung zu dem, was es transzendiert - zu den Gegensatzen des Mannigfaltigen und seinen Synthesen. Das Gute, welches als Integral dieses so sich selbst verstehenden individuellen Lebens erscheint, kann gar nicht als bestimmt-inhaltliches »Noch-Nicht« bzw. als das Jenseits schlieBlich erfUlIter Zeit phantasiert werden. Krause hat das Selbstverhaltnis der durch WS eroffneten und in der Entzweiung erlebbaren »Gottinnigkeit« Se/igkeit genannt (606). Sie profiliert sich naherhin lebenspraktisch als Gegenspannung zur Zweck-Mittel-Rationalitat. »Seligkeit.ist nicht Zweck, nicht Mittel- sie ist vielmehr eine begleitende Wirkung und Erscheinung des Wesenvereinlebens, die ohne Absicht sich ergibt ... «; anders gesagt: Seligkeit ist nicht das Urn-Willen der Gottinnigkeit (607). Die Nachahmung Gottes im endlichen Leben (wie ein Gleichnis) erscheint mithin als der genaue Gegensatz zu alIer utilitaristischen Ausbeutung des Fremdenl Anderen »in selbstischem Triebe« (608): sie reproduziert gleichsam den Impuls des nicht-verwertenden Sein-Lassens, was Krause zu jener Anerkennung des Eigenrechts der Tiere und Pflanzen, der Kinder usw. fUhrt

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Kiaus-M. Kodalle

(604-606), die ihn fUr gegenwiirtiges naturbewuBtes Denken so modern erscheinen liiBt. Wir konnen uns dem auch niihern von der Bestimmung, die Wesenheit Wesens sei das eine Gute. Dann ist das Cute fUr jedes endliche Wesen das, was »dieses Wesen nach seiner Eigenwesenheit darleben kann und soll« (614). Finden wir uns nicht damit ab, daB uns hier die ermiidende Wiederholung von Wesens-Leerformeln strapaziert, so gewinnen wir dem einen Sinn nur ab aus jener Beschreibung der Seligkeit eines Lebens, welches die Umwelt nicht primiir als Mittel seiner Zwecke, als Ressource seiner Triebe verwertet! In diesem Licht erscheint die Prozedur sinnvoll, daB Urbi!d des Cuten in der Endlichkeit zum Musterbi!d des je einzelnen in seinen Lebensumstiinden umzubi!den und zu bestimmen. Das Cute, so als Cehalt des Individuellen bestimmt, ist dann der einzige »Zweck« (616). In dieser Besinnung auf das Cute als je Individuelles liegt der Abweis einer Sorge urn Selbsterhaltung im Lebenskampf: darin griindet eine nicht mehr egozentrische Selbstannahme l4 • Bezeichnend ist fUr diese nicht-verwertende, verzweckende Disposition der Begriff einer Pflicht zur Lebenskunst. Krause ordnet ausdriicklich die Lebenskunst des Menschen den schonen Kiinsten zu, welche die Freiheit als Selbstzweck rein gestalten, und nicht dem sogenannten »niitzlichen Kunstwerk« (vgl. 637 f. )15. »Selbsttiitigkeit« und »Reinheit des Antriebes oder Beweggrundes« (617) worin bestiinde diese Reinheit, wenn nicht in jener N achbildung gottlicher Celassenheit, die das Cute will urn seiner selbst willen, und vor der deshalb eine Funktionalisierung auf die GlUckseligkeit se/bst als Zweck nicht in Frage kommt (618)! Der Cute will und tut das Cute »umsonst«, auch wenn es Leiden und Ungliick bringt. Das Sich-Einlassen in die Celassenheit des Cuten, frei von Eigennutz entbindet Krause sogar noch yom individuell-willkiirlichen Bestimmungsmoment des Willens selbst: das Cute ist keineswegs darum zu tun, »wei! ich es will« (618), ja nicht einmal »zuerst, oder allein urn der Liebe willen«16. Der nicht yom Selbstbehauptungswillen gezeichnete gelassene gute Wille wiihlt »bloB zwischen Cutem und Cutem« als seinem Material, »denn er kann nicht alles Cute iiberhaupt ... zugleich wollen und tun« (619). Mag die Kehrseite solcher Selbstbestimmung ein Nutzen fUr aile Lebewesen sein - dies gilt gerade nur deshalb, wei! der Nutzen nicht das individuell intendierte Ziel war. Zwar istHoffnung uns Menschen wesentlich, doch »Bestimmungsgrund des Entschlusses zum Cuten kann und soli sie nicht sein, wei! dies, seinem Wesen

14 Ein solcher Mensch »gewinnt seibst die Schranken seiner Individualitat lieb«. Krause, Das Urbild der Menschheit. Ein Versuch, 2. Aufi., Gottingen 1851, S. 69. Vgl. auch: Das Eigenthiimliche der Weseniehre, a. a. 0., S. 112. 15 Krause nennt die Vergeistigung des Leibes ein Kunstwerk, spricht von der »Poesie des Lebens« und von Gott ais dem ,Lebenskiinstlertatigem AllgemeinenTeilwesenheit< der einen selben und ganzen Wesenheit der Sache selbst (506). Die Hegelsche Gleichsetzung von wahrhafter Freiheit mit Bei-sich-selbstSein vermitteis reflexiver Durchdringung des Verhaltnisses zum Anderen/Fremden wird zuruckgenommen: Bei-sich-selbst-Sein sei durchaus auch als Empfinden und Wollen moglich (507). Krause leitet aus dieser Basis-Differenz zu Hegel auch seine kritische Uberlegung zumProblem des Anfangs der Philo sophie abo Er halt die Aufgabe neuzeitlichen WahrheitsbewuBtseins fest, nur »mit eigener Einsicht in die Grunde etwas als wahr anzunehmen oder als irrig zu verwerfen«; er besteht jedoch nachdrucklich darauf, dieser unverzichtbare Impetus bedeute nicht, »das, was wir im vorwissenschaftlichen BewuBtsein ... in Ahnung oder im Glauben erfaBt haben, was uns durch Erfahrung des Geistes oder des Herzens lieb und wert und heilig geworden, ohne Prufung deshalb zu verwerfen, weil wir es nicht vollkommen klar nach seinen Grunden einsehen« (25). Die Endlichkeit des Wissens gebietet den Respekt vor der Tradition ebenso wie vor einem nicht auf Grunde fixierten oder fixierbaren WahrheitsbewuBtsein; freilich obliegt es dem Wissen, das Vermuten, Ahnen und Glauben untereinander eben so wie dieses yom bestimmten Wissen selbst zu unterscheiden. Der Geist ist die Kraft der Unterscheidung und das Wissen durchdringt gleichsam aIle Erfahrungsweisen in einem immer umfassenderen dynamischen ProzeB. Aus dieser Erfahrung heraus - »BewuBtsein seiner Endlichkeit« - bezeichnet Krause schlicht die Auffassung als Vorurteil, die besagt, daB »der Mensch durchaus kein Vorurteil haben solIe und ohne Vorurteil sein und leben konne« (26). Das Postulat vollkommener Selbstdurchsichtigkeit ist in endlicher Existenz nicht einlosbar. »Kein Mensch kann alles das selbst erforschen, des sen Annahme er braucht, urn handeln zu konnen.« Krause weist nicht nur die Abstraktion eines Handelns aufgrund vollkommener Durchsichtigkeit der Handlungsvoraussetzungen zuruck, er formuliert auch positiv: daB der Mensch »wegen der Endlichkeit seines Erkennens und Erinnerns unzahlige Vorurteile notig habe« (27). Fur den Anfang des wissenschaftlichen Systems, in Konfrontation mit Hegel, sind darum beide Auffassungen ausschlaggebend: 1) Wir konnen nicht nicht-denken (28) und 2) wir konnen nicht leer-denken, anders gesagt: wir konnen »nicht denken, ohne etwas zu denken« (29) - wir denken nie Nichts. Indem Hegel den je individuellen vor-reflexiven AufschluB einer absoluten

Gewi15heit als absolutes Wahrheitsereignis - Wesenschau

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GewiBheit- Wesensschau - verschleiert bzw. einebnet in die Bewegung der systematischen logischen Entfaltung der Denkbestimmungen, schafft er nach Krause beim Anfanger in der Wissenschaft eine subtile Form der Autoritatsh6rigkeit: denn des >Logikers< Suggestionen k6nnen dann nur »den Wert von Versuchsannahmen und Hypothesen haben« und der Anfangende muB »ohne Einsicht des Grundes und der Befugnis glaubig von dem Lehrer hinnehmen: die Auswahl gerade dieses Anfangs, dann die Auswahl und die Art und Weise des Fortganges, endlich die ganze Methode ... « (524). Hegel erweckt den Eindruck, das Denken bleibe nur dann sperrig gegen das Absolute, sozusagen schlecht-endlich, »wenn die Denkbestimmungen als mit einem festen Gegensatz behaftet« erscheinen; Krause besteht demgegenuber darauf, daB »das Flieflende, Werdende und die Vermittlung der Gegensatze das Denken keineswegs der Endlichkeit entheben« (508). Es entspricht dem urspriinglichen Ansatz der WS, daB Krause es fUr unbegriindet halten muB, die Einheit zweier Entgegengesetzter »ihre Wahrheit« zu nennen (513); die Einheit, die, als solche selbstandig, die Wahrheit der Vermittlung der Gegensatze ist, denkt er als selbst nicht durch dieses Gegensatzliche hervorgebracht; sie muB urspriinglich erschlossen sein als sogenannte ungegensiitzliche Einheit tiber der Vereinigung des Gegensatzlichen; in ihrem Licht erkennt das Denken das 1neinander-Ubergehen des gegensatzlich-bestimmten Etwas: »wenn sie als vermittelt und als in ihrem Ubergehen ineinander erkannt werden sollen, so muB die als solche in ihnen nicht enthaltene, durch sie nicht begriindete und nicht erkennbare h6here, urspriingliche, ungegenheitliche Einheit, worin, worunter und wodurch sie sind, schon als selbstandig und als unvermittelt durch ihre inneren Gegensatze erkannt, zu dieser spekulativen Betrachtung hinzugebracht werden ... « (509). Es ist deutlich geworden: 1m Lichte der WS nimmt Krause den Dominanzanspruch des Denkens selbst zuriick; der Mensch findet sich nur »unter anderm auch als denkend« vor (484). Fur eine wahrhafte, wahrheitsorientierte Existenz bestreitet Krause die Notwendigkeit der Prioritat des Denkens. Gottahnlichkeit sei auch in GefUhl und Willen (479). Das Denken mag sogar irren, »wahrend vielleicht die Empfindung, Anschauung und Vorstellung in der Wahrheit sich halt« (506). Das Denken kann nicht »GefUhle in Gedanken verwandeln« (479). »Unser urspriingliches GefUhl ist SelbstgefUhl« (123). In ihm spiegelt sich das Evidenzereignis der WS sogar angemessener als im stets auf Spaltungen und Gegensatze bezogenen Denken: »lm Wissen ist mir das Erkannte als Selbstandiges, von mir Unterschiedenes gegenwartig, in der Empfindung aber ist es mir gegenwartig als wesentlich mit mirVereintes« (122).

ROGELIO GARCIA-MATEO

Fortschrittsstruktur in der zyklisch en Geschichtskonzeption Karl Chr. Fr. Krauses

1m Mittelpunkt der Krauseschen Philosophie steht die das abendlandische Denken bestimmende Frage nach dem letzten Grund alles Seins und Denkens als Fundament der Wissenschaft tiberhaupt. Krause will also dasselbe Problem l6sen, das auch Kant, Fichte und Schelling beschaftigte, namlich ein letztes unerschtitterliches Fundament des Wissens und der Wissenschaft herzustellen. So geht Krause von der transzendentalen Fragestellung Kants aus und m6chte in seiner analytischen Philosophie eine das Subjekt allerseits erforschende Untersuchung treiben. Dieser Weg ist bei Descartes in den Meditationes, bei Fichte in der Wissenschaftslehre, bei Schelling im Transzendentalen Idealismus im Wesentlichen zu finden: Es wird ausgefUhrt, daB das Ich, indem es sich selbst schaut, ein unbezweifelbares Wissen darstellt, insofern dabei Subjekt und Objekt in eins fallen. Dieses sich selbst erkennende Subjekt Krauses erweist sich aber im Gegensatz zum friihen Fichte noch nicht als das fundamentum inconcussum des Wissens. Denn gerade auf der Suche nach diesem Fundament erfahrt das Subjekt an sich selbst, daB das Ich nicht das Fundament seines Selbst ist, so daB ihm zur Selbstbegrundung und Selbsterkenntnis notwendig die Macht und die Erkenntnis eines unendlichen Seins erforderlich erscheinen. Damit geht Krause tiber die transzendentale Fragestellung Kants und Fichtes hinaus und sucht nach der letzten Bedingung der Einheit des Wissens, namlich nach einem alles grtindenden Grund. Die menschliche Selbsterkenntnis und somit alles Wissen setzt also ein absolutes Prinzip »Wesen« voraus, das die Einheit von Denken und Sein erst erm6glicht. Dabei greift Krause wie Schelling und Hegel auf Spinozas Substanz zuruck als ein alles begriindendes Absolutes, das heiBt als letzte Bedingung der Moglichkeit der Einheit von Sein und Erkennen. Das wird in seiner synthetischen Philosophie entfaltet.

I. Bestimmung und Freiheit Nach dem Gesagten ist Wesen also das All des Seins. Vor ihm, auBer ihm und tiber ihm ist nichts. Gott und Welt sind fUr Krause demnach zuinnerst verbunden, jedoch nicht identisch ' . Wesen ist zuerst es selbst, frei von allem aus ihm 1 So unterscheidet Krause das Ganze als Ganzes von seinen Teilen und bezeichnet es als »urwesenlich«. Auf Gott angewandt heilSt es: »Gott ist auch Urwesen, d. h., Gott als ganzes Wesen ist vor und tiber allem, was Gott in, unter und durch sich ist, vor und tiber der ganzen Welt und allen endlichen Vemunftwesen«. K. Chr. Fr. Krause, Vorlesungen tiber die Grund-Wahrheiten der Wissenschaft, Gottingen 1829, 5. 337.

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Entspringenden. Alles, was aus ihm entspringt, ist seine stete Offenbarung. So ist Geschichte rur Kra use - wie rur Schelling und Hegel- Darstellung Gottes in der Zeit. Insofern schlieBt die Ewigkeit die Zeit nicht aus, sondern ein. Die Zeit ist in der Ewigkeit aufgehoben. Somit ist die Ewigkeit nicht etwas, was nach der Zeit kommt, namlich Zeitlosigkeit, aber ebensowenig eine unendlich sich erstreckende Dauer, in der die Zeit enthalten ware, wie etwa die Woche in einem Monat. Ewigkeit ist vielmehr der Ermoglichungsgrund, von dem her die Zeit ihr Sein und ihre Einheit erhalt. Es besteht also zwischen beiden ein unlosbarer Zusammenhang, der in der Entsprechung zum »Wesengliedbau« griindet. So sagt Krause: »Und der Organism us derWesen in Gott, und ihres Lebens in dem Leben Gottes, entspricht dem Organismus der Einen Geschichte.«2 Das heiBt, Wesen (Gott) als die alles umfassende Ursache iiberhaupt nimmt durch das zeitliche Geschehen hindurch Gestalt in ihren Wirkungen an, ohne daB es selbst darin aufgeht; denn Wesen bleibt als Urwesen stets unabhangig von jeglicher Endlichkeitsform. Die vollendetste Darstellung der Geschichtskonzeption Krauses tragt den Titel »Lebenlehre oder Philosophie der Geschichte zur Begrundung der Lebenkunstwissenschaft«3. Die inneren Hauptteile der einen unendlichen Geschichte sind der Dreiteilung Krauses entsprechend gegliedert: Geschichte des Geistlebens, Geschichte des Naturlebens und Geschichte des Vereinlebens beider bzw. die Geschichte der Menschheit. 1m Prinzip sollte sich die »Lebenlehre« mit allen drei befassen. Dennoch tritt die Lehre von Natur und Geist zuruck, so daB der breiteste Raum der Darstellung der Menschheitsgeschichte gewidmet wird. Wie das Gesamtsystem Krauses, so ist auch die Geschichtsphilosophie zu verstehen als eine endliche, dennoch das unendliche Wesen abbildende Wissenschaft. Daher ist die Geschichtsphilosophie Krauses ein der Wesensstruktur ahnlicher »Gliedbau«, so fern, wie Lindemann sagt, »die Geschichte erkannt wird zuhochst unbedingt wesenlich in der Grundidee des Lebens als Eigenschaft Gottes, dann urwesenlich nach seiner reinen allgemeinen Wesenheit, dann ewigwesenlich, wo die Idee des sich zeitlich entfalteten Lebens als ewiges Urbild erkannt wird, dann reingeschichtlich nach seiner unendlichen Bestimmtheit und vollendeten Endlichkeit; endlich aber auch im Vereine aller dieser Erkenntnisarten, worin das Wirkliche gewiirdigt, und sodann das eigenlebliche Musterbild des in der Zukunft sich entfaltenden Lebens gefunden und anerkannt wird«4.

2

K. Chr. Fr. Krause, ebd., S. 562.

Dieses Werk geht auf ein Vorlesungsmanuskript von 1828-1829 zuriick. Die erste Ausgabe erschien 1843, hrsg. v. K. H. Leonhardi; die zweite, berichtigt und vereinfacht, haben P. Hohlfeld und Aug. Wiinsche 1904 in Leipzig herausgegeben. 4 H. S. Lindemann, Ubersichtliche DarsteIIung des Lebens und der WissenschaftsIehre Karl Chr. Fr. Krauses und dessen Standpunkt zur Freimaurerbriiderschaft, Miinchen 1839, S. 67. 3

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Wenn auch die Erkenntnisse liber die Menschheit beschrankt sind, so ist nach Krause mit Lindemann weiter zu behaupten, »daB auch die ganze Lebenentfaltung dieser Erdmenschheit auf Erden ein einzelnes organisch verbundenes Glied ist eines nachsthoheren Ganzen des Menschheitslebens, welches sich auf dem nachsthoheren Naturlebenganzen, unter dem Walten der Vorsehung Gottes, gesetzmaBig entfaltet«s. Das besagt aber keine Aufhebung der endlichen Freiheit; denn »Die - bedingte - Freiheit der endlichen Wesen in Gott besteht mit der unbedingten Freiheit Gottes ... Da nun alles, was Gott auf ewige Weise verursacht, mit der ganzen gottlichen Wesenheit unbedingt libereinstimmt, so folgt, daB dieses auch in Ansehung der unendlichen Freiheit Gottes und der endlichen Freiheit der endlichen Vemunftwesen stattfindet ... Und da Gott auch das unbedingt, unendlich erkennende und wissende Wesen ist, so kann durch die Freiheit endlicher Wesen nichts geschehen, wovon Gott nicht die Moglichkeit und die Wirklichkeit voraussahe, nichts also, was nicht schon mitaufgenommen ware in den unendlichen Lebenplan Gottes«6. Alles, was geschieht, also die Zeit und die Geschichte griinden in der ewigen Selbstbestimmung Gottes, in seinem ewigen Plan. Das zeitliche Geschehen ist daher die Offenbarung dieses Planes, so »daB Gott mit unendlicher Freiheit als weise, gerechte, liebende Vorsehung in dem Ganzen des Lebens aller endlichen Wesen waltet, daB also Gott Macht und Willen hat, die Freiheit jedes endlichen Vemunftwesens, dem ewigen Gesetze der Entfaltung der endlichen Freiheit selbst gemaB, ohne sie zu storen und aufzuheben, so zu bestimmen, wie es dem individuellen Lebenplane Gottes in jedem Augenblicke gemaB ist«7. Diese Geschichtsauffassung Krauses stimmt weitgehend mit der Spatphilosophie Schellings liberein, der, wie W. Kasper betont, im klaren Gegensatz zu Hegel steht: »Flir Hegel ist der Geist notwendiges Unterscheiden in sich selbst, Bewegung des Selbst, das sich seiner selbst entauBert und diesen Unterschied in sich wieder aufhebt. Dieses Sich-Unterscheiden faBt Hegel in den Begriff der Zeit. Sie ist notwendig mit dem Geist gegeben ... Zeit ist also Schicksal des Geistes, das aber yom Standpunkt des absoluten Denkens aus immer schon negiert ist. Ganz anders ist Schellings Position. Zeit ist fur ihn nicht Schicksal, sondern freie Entscheidung des Geistes, freie Selbstbestimmung. Sie wird nicht im Denken aufgehoben und als Negation negiert, sondern als Position durch eine weitere Position liberwunden. Schelling und Hegel wollen beide einen rein negativen Begriff der Ewigkeit, der aile Zeit ausschlieBt, liberwinden, fUr beide ist die Zeit in der Ewigkeit aufgehoben. Bei Hegel ist es jedoch so, daB der absolute Geist die Zeit als ein notwendiges Moment in sich begreift; bei Schelling dagegen hat der Geist in sich nur die Moglichkeit der Zeit, fUr ihre Wirklichkeit ent5

Ebd., S. 69.

6

K. Chr. Fr. Krause, Lebenlehre, hrsg. v. P. Hohlfeld und Aug. Wiinsche, Leipzig

21904, 301. 7

Ebd., S. 302.

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scheidet er sich frei; er wird dadurch nicht selbst zeitlich, sondem bleibt der Zeit gegentiber frei, er bleibt Herr der Zeit, er kann frei Zeit geben und verweigem. Ewigkeit besteht also nicht in der Negation aller Zeit, sondern im Herrsein und im Verfiigen tiber die Zeit.«8 In der Idee der gottlichen Vorsehung erHihrt das Leben und seine Geschichte keinen kosmischen Fatalismus, sondem eine die Freiheit des einzelnen mit der des Ganzen aufhebende zielgerichtete Ordnung.

II. Wiederkehr und Fortschritt In der Vorsehungsauffassung ist also keine Vorbestimmung und kein Geschichtsdeterminismus zu erblicken, sondern vielmehr der Versuch, Freiheit und N otwendigkeit, das Dirigierbare und das Dirigierte im geschichtlichen Geschehen miteinander zu verrnitteln. Diese Vermittlung vollzieht sich nach einer organischen Entwicklung, so daB die Menschheit in unendlich vielen »Theilmenschheiten« immer neu wird 9 • JedeTeilmenschheit entfaltet sich nun gemaB dem Lebensgesetz von ihrem Entstehen an durch Kindheit, Jugend bis zum Reifealter lO • Dieser Gedanke des Lebensalters enthalt in sich bereits die Idee des Fortschritts, namlich des Fortflusses der Zeit in bestimmten, wenn auch in sich abgeschlossenen Perioden, als kontinuierlicher ProgreB, ahnlich der Entwicklung des Einzelmenschen. Das heiBt: Wie das menschliche Individuum zunachst ein Keim- und Kindheitsalter, dann ein Jugend- und Reifealter durchmacht, so geschieht es auch bei der Entfaltung der Stamme, VOlker und der Gesamtmenschheit l l . Da jedes endliche Wesen im Verhaltnis zu unendlichen Wesen (Gott) steht, so sind auch die Lebensalter der Menschheit dadurch bestimmt. Dieses Verhaltnis ist ein dreifaches: Zuerst das der Abhangigkeit, sofern das endliche Wesen an der unendlichen Wesenheit teilnimmt und nur in ihr und durch sie bestehen kann. Zweitens das der Selbstandigkeit, sofern das endliche Wesen innerhalb seiner Abhangigkeit dennoch selbstandig bleibt. Drittens das der freiwilligen Anhangigkeit, indem das endliche Wesen seine Freiheit erst finden kann, wenn es seine Selbstandigkeit dem Absoluten unterordnet. 1m ersten Hauptlebensalter wird also das endliche Wesen als solches in Gott und irn Wesengliedbau tiberhaupt gesetzt (per the sin); im zweiten wird es als selbstandig-lebendes in Gott und im Wesengliedbau entgegengesetzt (per antithesin); im dritten wird es wieder aufgenommen als unterschiedenes in den

8 W. Kasper, Das Absolute in der Geschichte, Philosophie und Theologie in der Spatphilosophie ScheUings, Mtinster 1965, S. 259f. 9 Vg\. K. Chr. F. Krause, Vorlesungen tiber die Grundwahrheiten der Wissenschaft, ebd., S. 569. 10 Ebd. 11 Vgl. K. Chr:Fr. Krause, Lebenlehre, ebd., S.113f.

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Verein des Lebens Gottes und in der Gemeinschaft aller endlichen Wesen (per synthesin) 12. Diese drei Lebensalter entsprechen, wie Kra use weiter sagt13, der gottlichen Grundwesenheit der Setzung, Gegensetzung und Vereinsetzung oder, anders ausgedriickt, der Selbheit, Gegenselbheit und Vereinselbheit. JedeTeilmenschheit entfaltet sich demnach in drei Hauptlebensaltern. Uber das Kindheitsalter gibt es keine wissenschaftlichen Kenntnisse, sondern nur Sagen und My then liber das Leben im Paradies, etwa in den altesten Schriften Indiens. Die Evolutionslehre lehnt Krause hiermit abo 1m zweiten Hauptlebensalter - Gegensetzung - gehen das Gottes- und SelbstbewuBtsein verloren. An deren Stelle tritt das WeltbewuBtsein. Der Mensch wird sich seiner Selbstandigkeit bewuBt und strebt nach freier Entwicklung seiner Eigenschaften 14. Jedes Hauptlebensalter zerfallt wiederum in je drei untergeordnete »Theillebenalter«15, welche selbst ebenfalls nach der Dreiteilung der Hauptlebensalter gegliedert sind. Da diese drei Teillebensalter fUr das erste und dritte Hauptleben salter geschichtswissenschaftlich nicht erkennbar sind, so ist diese Aufgabe auf das zweite Hauptlebensalter zu beschranken. In seinem ersten Teillebensalter werden zunachst endliche Elemente als gottlich betrachtet. Daraus entsteht das sogenannte polytheistische System. Die Grundgesellschaften befinden sich in dieser Periode unter dem Charakter der Selbstandigkeit. Daraus geht die Erscheinung der Kastenwesen hervor. Grundform des Staates ist hier die Machtwillklir, der Despotismus. In der zweiten Periode erscheint Gott als unendliches unbedingtes Wesen liber allem Endlichen, und die Welt als ein Ganzes, aber noch auBerhalb des Gottlichen, wenn auch von ihr abhangig. Diese Abhangigkeit des Endlichen von der Gottheit zeigt sich etwa in der Volksfrommigkeit. Das entspricht der Zeit des mittelalterlichen Christentums mit seiner despotischen Hierarchie '6 . Die dritte Periode des zweiten Hauptlebensalters steht gemaB der dialektischen Dreiteilung unter dem Charakter der Vereinigung der unterschiedenen Bestrebungen der ersten und zweiten Perioden. Wenn auch die einzelnen Glieder und Krafte der Menschheit hier nicht mehr isoliert bestehen, fehlt trotzdem immer noch der Grundgedanke des Organismus. Mithin erscheint das Verhaltnis der Welt zu Gott als ein auBeres. Es entspringen gewaltsame Umgestaltungen und Revolutionen; das Alte und das Neue geraten in Streit. Diese Periode sieht Krause in seiner Zeit noch andauem. Dennoch beginnt hier allmahlich der Ubergang zum dritten Hallptlebensalter, »das Lebenalter der vollwesentlichen, vollstandigen Vereinbildung oder Synthesis, das Zeitalter der organischen, rhythmischen, symmetrischen Harmonie; mithin auch das Zeitalter, worin alle einzelne Glieder und Theile der Menschheit auch ihre selbwesentli12

13 14

1S 16

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

124. 331. 342. 344. 365.

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che, inn ere VolIendung erlangen, soweit diese von auBen abhangig ist ... Daher falIt in dieses Hauptlebenalter der Reife auch die eigene VolIendung aller innern TheilgeselIschaften der Menschheit, sowie die Vollendung aller echt menschlichen Bestrebungen und Werke, die Vollendung der Weseninnigkeit und des Wesenvereinlebens (der Religion), des Rechtlebens oder Staates, des Tugendlebens, des Schonlebens und der Freigeselligkeit; eben so die Vollendung der Wissenschaft und der Kunst, die Reife des Familienlebens und der Freundschaft der Ortgenossenschaft, des Stammes und des Volkes und zuunterst die Vollendung des Einzellebens eines jeden Menschen.«17 Mit dem dritten Hauptlebensalter ist zwar der Hochpunkt einer Entwicklung erreicht, nicht aber das Ende des Lebens iiberhaupt. Denn von da aus steigt das Leben antirhythmisch - wie bei jedem Menschen - wieder ab durch das Alter der Gegenjugend, der Gegenkindheit (Greisenalter) bis an den Punkt des Todes, der zugleich der Punkt der Geburt ist- und so fort ohne Ende l8 . Graphisch stellt es Krause so darl9. Hochpunkt der Reife Jugend

Anfang

Die zyklische Geschichtskonzeption sowie das Schema der Menschenalter wurden im Sinne einer geschichtsphilosophischen Konstruktion und einer Periodisierung der Geschichte immer wieder gebraucht. Es sei an die Stoa, Augustinus, Bossuet, Rousseau, Herder, Schelling, Hegel erinnert. Den Kosmogonien der Antike ist aber schon die Auffassung bekannt, die an den Anfang der Welt einen paradisischen Zustand setzt und in der Geschichte eine Niedergangsbewegung sieht. Demgegeniiber ist auch die Auffassung bekannt, die am Anfang des Chaos sieht, aus dem nun die schone Welt der hoheren Vollkommenheit entfaltet wird. Vielfach verbindet sich auch die erste mit der zweiten Auffassung. Wieder anders gerichtet ist die Zyklentheorie, die die geschichtliche Entwicklung als ein Auf und Nieder betrachtet, das sich nie weit von der Mitte distanziert. Die Geschichte der Menschheit kehrt immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zuriick, urn dort von neuem zu beginnen, wie ein unaufhorlicher Kreislauf. Damit scheint zunachst die Geschichtskonzeption Krauses iibereinzustimmen: Geschichte realisiert sich in einer unaufhorlichen Kreislaufbewegung. Das heiBt bei Krause aber nicht einfach: ewige Wiederkehr des Gleichen, son17

Ebd., S. 394£.

18 Ebd., S. 247-303. 19

Ebd., S. 470.

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dern eine in ihrer zyklischen Struktur stets Neues hervorbringende Entfaltung, die zu einer letzten Vollendung hinfiihrt: »Nur, wenn die Menschheit zu der fUnffachen Vollendung ihrer Vereinwesenheit gelangt ist, das ist zunachst ihrer Vereinwesenheit in ihr selbst, mit ihr selbst, dann ihrer Vereinigung mit der Vernunft, mit der Natur, mit der Menschheit des Weltalls und mit Gott-als-Urwesen, - erst dann, in der dritten Periode des dritten Hauptlebenalters, ist del: Hochpunkt der Reife des Lebens der Menschheit erreicht.«20 Dieser Vollendungszustand ist, wenn auch von der christlichen Eschatologie her gepragt, nicht einfach mit der Parusie Christi und auch nicht mit dem >Greisentum< des absoluten Geistes Hegels gleichzusetzen. Denn dieser Vollendungszustand bedeutet fUr Krause nur die Erfiillung einer Teilmenschheit an einem bestimmten kosmischen Ort. - Krause meinte, dieser Zustand sei fur die Erdmenschheit mit seinem System der Wesenlehre eingetreten 21 . In der dritten Periode des dritten Hauptlebensalters erreicht also die entsprechende Teilmenschheit ihren Hohepunkt, ihre Vollendung, und beginnt wieder, in gegenseitiger Folge abzunehmen, bis sie als solche zu existieren aufhort. Aber die Menschheit des Weltalls selbst bleibt praktisch< verstanden. In seiner o. a. grundlegenden Rede verlangte Wagner, daB man wieder das »ethische Sein-Sollen derVolkswirtschaft« beriicksichtigen miisse 94 . Er warnte davor, sich eines ausschlieBlichen >negativen Prinzips derVolkswirtschaftspolitikPhilosophie der Geschichte< fiihrt Krause an, er verdanke die Idee des Menschheitbundes »nicht der Freimaurerbriiderschaft«, sondern er habe sie ihr »zuerst gelehrt«2. Daher betrachtete er sich »als der Griinder und Stifter des Menschheitbundes auf Erden«3. Diese Aussage entbehrt nicht nur jeglicher Bescheidenheit, sondern sie widerspricht dariiber hinaus iilteren Feststellungen Krauses. Erkliiren liiBt sie sich verrnutlich damit, daB er bereits zwanzig Jahre vor der Abfassung dieser Vorrede aus seiner Dresdner Loge ausgeschlossen worden war. AuBerdem wurde Krause seitdem durch einzelne deutsche Freimaurer in seinem beruflichen Fortkommen massiv behindert4 • So erkliirt er auch in der dritten und letzten Fassung seines >Menschheitsspruches< (1831), die Freimaurer hiitten keine Ahnung davon gehabt, welche Bedeutung ihnen bei der Entfaltung des Menschheitbundes zukomme. Nun sei »durch ihr Benehmen« gegen ihn deutlich geworden, daB sie noch nicht fiihig sein wiirden, »ihren h6heren Beruf anzuerkennen und anzutreten«s. Urspriinglich aber hatte sich Krause im Jahr 1804 vor allem deshalb urn die Aufnahme in die Altenburger Loge >Archimedes zu den drei Reissbretern< bemiiht, wei! er die Idee des Menschheitbundes bereits in kleinerem Rahmen in der Freimaurerei verwirklicht sah. So sollte aus ihr, wie aus den weiteren >Grundgesellschaften< Familie, V61kergemeinschaft und der Freundschaft zwischen den Menschen, »ein allgemeinerVerein hervorgehen, so wesentlich und

1 Karl C. F. Krause, Die drei aitesten Kunsturkunden der Freimaurerbriiderschaft, Dresden 1810, Bd. I, S. 4. 2 Karl C. F. Krause, Lebenslehre oder Philosophie der Geschichte zur Begriindung der Lebenkunstwissenschaft, Zweite Auflage, Leipzig 1904, Vorrede S. VIII. 3 Ebd., S. IX. 4 Vgl. Reinhard Hom, Studien zur deutschen freimaurerischen Historiographie des 19. Jahrhunderts, Phil. Diss. Miinchen (Masch.) 1980, S. 138-143. 5 Karl C. F. Krause, Der Glaube an die Menschheit. Erw. durch ein Lehrfragestiick, Zweite und dritte Auflage, Berlin 1929, S. 38.

Der Einflu/s der Freimaurer-Ideen auf Krause

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beseeligend, als Kirche und Staat«6. Noch kurz vor seinem Tod schatzte Krause die Freimaurerei als »gesunden Kern ... des werdenden Menschheitbundes« 7 ein. Als Voraussetzung dafiir mliBte sie sich aber gewissen Umgestaltungen unterziehen. Zweifelsohne sah Krause einen engen Zusammenhang zwischen der bestehenden Freimaurerei und dem zu bildenden Menschheitbund. Es so11 daher im folgenden versucht werden, die Einfllisse freimaurerischer Ideen und Schriften auf Krauses Gedankengebaude nachzuvo11ziehen. Unbeachtet bleiben muB allerdings die nicht zu unterschatzende Wirkung, die auf ihn durch das personliche Erleben der Initiation und des Rituals (wohl die beiden Komponenten, die das maurerische >Geheimnis< ausmachen) ausging. Wie bereits erwahnt, fiihlte sich Krause als a11einiger Stifter des Menschheitbundes. Daneben erkannte er nur das »edle Streben« folgender »Freunde der Menschheit«8 an: Francis Bacon (1561-1626), Johann Valentin Andreae (1586-1654), Johann Gottfried Herder (1744-1803), Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), sowie James Anderson (1680-1739) und John T. Desaguliers (1683-1744); die beiden letztgenannten waren sehr wichtige Freimaurer aus den Anfangsjahren der Londoner GroBloge. Nachhaltig beeinfluBte ihn femer Johann Amos Comenius' (1592-1670) Schrift >Allerweckung (Panegersia), oder allgemeine der Menschheit gewidmete Beratung liber die Verbesserung der menschlichen DingeMasons. bzw. >Freemasons. weiter bestanden haben und die ihr »eigentiimliche, von der Baukunst unabhangige, und iiber diese erhabene, allgemein menschliche Kunstlehre und Liturgie in ihrem Innern«13 bewahrt haben. Nach Krause gelang es der Vereinigung, die politischen und religiOsen Wirren des Mittelalters zu iiberstehen und sich im Jahr 1717 erneut als iibernationale Einrichtung zu konstituieren. Da der Menschheitbund >uralt. sein soil, muB Krause an Hand alter Quellen nachweisen, daB die Freimaurerei, als eine seiner Keimzellen, ebenfalls sehr alt ist, bzw. auf >uralten. Traditionen fuBt. Als eine dieser Quellen fUhrt er als die dritte sogenannte >Kunsturkunde. die >Yorker Constitution. oder >Yorker Urkunde. an, die irn Jahr926 auf einerVersammlung der Maurer unter Leitung des legendaren englischen Prinzen Edwin ausgearbeitet worden sein soli. Sie zeige, so Krause, am deutlichsten, daB »eine Ahnung des allgemeinen Menschheitbundes«14 schon sehr friih in wichtigen Urkunden der Briiderschaft anzutreffen sei. Obwohl die >Yorker Constitution. eine Falschung istI s, wird auf sie hier naher eingegangen: Krause hielt sie fUr echt und glaubte, in ihr einen Beleg fiir seine Theorien gefunden zu haben. Die >Yorker Constitution. enthalt, neben einer Geschichte des Ursprungs und der Entwicklung der Maurerei in und auBerhalb GroBbritanniens, noch Gesetze und Pflichten der Briiderschaft. Diese Beitrage konnten, und das muB Krause zugestanden werden, tatsachlich authentische und alte Dokumente sein: im geschichtlichen Teil des von der Londoner GroBloge herausgegebenen >Book of Constitutions. (1723 ff.) werden ahnlich phantastische Zusammenhange konstruiert. So werden die in der >Yorker Constitution. erwahnten Baumeister Enoch, Noah und Nimrod, wie der >Beschiitzer. der Maurerei, Prinz Edwin, in den verschiedenen Auflagen des >Book of Constitutions. eben falls im gleichen Kontext angefiihrt. Damit ist Krauses Feststellung, die in der >Kunsturkunde. angefiihrte Konstitution enthalte »einige Einrichtungen, die dem Wesentlichen nach fiir alle Zeiten im werdenden Menschheitbund beibehalten zu werden verdienen«16, auch fUr die Konstitution der Londoner GroBloge giiltig, da zwischen beiden inhaltlich kaum Unterschiede bestehen. Dariiber hinaus erwarben sich - so Krause - die Stifter der Londoner GroBloge einen groBen Verdienst, well sie sich bei der Ausarbeitung ihrer >Charges. und >Constitutions' der Lehren von Johann Amos Comenius und Johann Valentin Andreae bedient haben sollen, die er beide als »Ahnen des Urbegriffs und Urbildes eines allgemeinmenschlichen Vereins.(17 betrachtet. Dieser angeblichen Beeinflussung - sie ist nicht Ebd., Bd. II, S. 212. Ebd., Bd. I, S. 506. 15 Vgl. Hom (wie Anrn. 4), S. 184-189. 16 Krause (wie Anrn. 1), Bd. I, S. 545. 17 Karl C. F. Krause, Die drei liltesten Kunsturkunden der Freirnaurerbriiderschaft, Zweite, neubearbeitete und verrnehrte Auflage, Dresden 1820, Bd. Il/2, S. 5-6. Vgl. auch: Karl C. F. Krause, Das Eigentiirnliche derWesenlehre nebst Nachrichten zur Ge13

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nachweisbar und auBerst unwahrscheinlich - sei es zu verdanken, daB speziell die ,Charges< Gedanken enthalten, wonach »die Menschheit zu einer allseitigen Verbesserung aller menschlichen Dinge und zu SchlieBung eines diesem Zwecke zu widmenden allgemeinmenschlichen, zunachst allgemeinchristlichen Vereins zu erwecken«18 sei. Gewagt ist allerdings Krauses These, folgende Forderungen aus der ,Yorker Constitution< wiirden sich auf Uberlieferungen aus ,uraiten< Staaten Asiens zuriickfiihren lassen: Gleichberechtigung aller Mitglieder; Mitsprache- und Rederecht fiir jeden; die Stimme eines jeden Mitglieds gilt gleich viel; die Existenz von Aufsehem, die zwischen »der Gemeinde und den die Werktatigkeit derselben ordnenden Beamten«19 eine vermittelnde Rolle spielen; jeder, der die k6rperlichen und geistigen Voraussetzungen besitzt, muB aufgenommen werden. Einige dieser Postulate wurden aus der ,Yorker Constitution< ubernommen und fanden in dem Entwurf einer Verfassung fur den zu errichtenden Menschheitbund Verwendung 20 . Krause fiihrt die positiven Elemente der ,Kunsturkunde< darauf zuriick, daB an ihrer Abfassung Kuldeer beteiligt gewesen sein sollen. Diese keltischen M6nche wiederum kannten - so Krause - die Einrichtungen der Essener und brachten sie in die Maurerei ein. Da die »Lehren und Kunstregeln der ... in Judaa und Syrien bluhenden Gesellschaft der Essener mit denen der echten Freimaurerei genau verwandt« seien, und »in einzelnen Gebrauchen und Ausspruchen«21 ubereinstimmen sollen, ist nach Krause ein Zusammenhang zwischen den geistigen 1nhaiten der Freimaurerei und denen ,uraiter< Gesellschaften bewiesen. 1m Gegensatz zu seiner positiven Bewertung der angeblich echten ,Yorker Constitutionuralte< maurerische Traditionen, wie er meint, lediglich wiedereingefuhrt werden mtiBten. Einige dieser Vorschlage Krauses wurden vor und nach ihm von deutschen Freimaurern eben falls aufgestellt und auch zum Teil praktisch durchgefuhrt. Bereits seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die Geheimniskramerei gelockert und die Eidesformeln auf die Verpflichtung reduziert, tiber interne Logenangelegenheiten und Erkennungszeichen Stillschweigen zu bewahren. Selbstverstandlich beibehalten wurden aber der Status eines Mannerbundes, die daraus resultierende Forderung nach einem Mindestalter des Aufzunehmenden und die Einrichtung von drei Graden (Lehrling, Geselle und Meister), da die Negierung dieser Grundsatze das Ende der Freimaurerei, so wie sie von ihren Mitgliedern verstanden wird, bedeuten wiirde. Krause aber, der die zeitgen6ssische Freimaurerei ja >tiberwinden< will, interpretiert auch seine zweite >KunsturkundeA.lteste RitualYorker Constitutionmasonischen Bundinnigunguralte< Zeiten zuriickzuverpflanzen. Wenngleich zugestanden werden mulS, daIS selbst die Freimaurer durch die Interpretation und Pflege ihrer Legenden ausdriicken wollen, die Freimaurerei habe »immer bestanden ... , wenn nicht tatsachlich, so doch als geistiges Prinzip«48. Die von Krause geplante Weiterentwicklung der Freimaurerei fand bei seinen deutschen Briidern ebensowenig Resonanz wie seine Philosophie in Deutschland. Lediglich die beiden Freimaurer Theodor Busch und Stefan Kekule von Stradonitz (1863-1933) versuchten, Krauses Plan aufzugreifen - auch dieserVersuch blieb fUr die Freimaurerei damals und heute ohne malSgebliche Konsequenzen.

Ebcl., Bd. Ill, S. CLXVI. Vgl. zu Innigung: Ebd., Bd. 112, S. 310; Krause (wie Anm. 8), S. 199-208; Krause (wie Anm. 20), 5.181-185. 47 Krause (wie Anm. 17), Bd. Ill, S. CLXXVI Anm. 203. 48 Paul Naudon, Geschichte der Freimaurerei, Frankfurt 1982, S. 12. 4S 46

TElL II STUDIEN ZUR WIRKUNGSGESCHlCHTE

JAIME FERREIRO ALEMPARTE Aufnahme der deutschen Kultur in Spanien Der Krausismo als H6hepunkt und sein Weiterwirken durch die Instituci6n Libre de Ensenanza

Alle, die, wie ich, mit dem Mut des Don Quijote die Mission iibemommen haben, unser gemeinsames kulturelles Erbe in Deutschland bekanntzumachen, sind mehr oder weniger dazu bestimmt, ihre Kompetenzen zu iiberschreiten, wenn sie sich mit jenen Themen beschaftigen, die unsere beiden Lander in gleichern MaBe angehen. Und der Krausismus stellt innerhalb des Rahmens der wechselseitigen deutsch-spanischen Beziehungen ein Thema von eminenter Bedeutung dar. Deshalb konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, einen Beitrag zu erarbeiten, denn als Intellektueller fuhle ich mich auch als Teilnehmer und Empfanger des krausistischen Erbes, mindestens in bezug auf die geistige Erweiterung und Toleranz, die diese Bewegung fur Spanien bedeutete. Gewill gibt es schon eine umfangreiche spanische Literatur iiber den Krausismus 1 . Es fehlt dennoch eine Untersuchung, die ihn im Zusammenhang mit den tiefen und eigentiimlichen InhaIten des spanischen geistigen Lebens darstellt. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Landem haben tiefe Wurzeln. Es ist hier nicht erforderlich, bis auf die Westgoten mit ihrer Hauptstadt Toledo zUriickzugehen, noch auf das K6nigreich der Sueven, die sich in Galiden niedergelassen hatten und deren Reich spater von den Westgoten einverleibt wurde, auch wenn unsere nationale Geschichtsauffassung von der dreifachen Basis des R6mertums, des Christentums und des Germanentums ausgeht. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts, genau ab 1219, als Beatrix von Schwaben mit Ferdinand III. von Castilien vermahlt wurde, hat sich eine tiefe und dauerhafte Annaherung beider Lander vollzogen. Aus dieser Ehe ging Alfons X., genannt der Weise, hervor. Man pflegt ihn darzustellen voll klassischen und orientalischen Wissens, aber man vergillt leicht, daB er auch halb ein Deutscher war. Alfons X. umgab sich in Toledo, ahnlich wie sein Vetter, der Staufer Friedrich II. an seinem Hof in Palermo, mit arabischen und jiidischen Gelehrten 2 • 1 Das Buch von F. Martin Buezas, LaTeologia de Sanz del Rio y del Krausismo espanol, Ed. Gredos, Madrid 1977, enthiilt eine umfangreiche Bibliographie tiber den spanischen Krausismus und die ILE in alphabetischer Reihenfolge. Dank der Untersuchung der "Sintetica«, die zusammen mit anderen vielen noch unveroffentl. Unterlagen von Sanz del Rio in der Academia de la Historia aufbewahrt wird, konnte Martin Buezas eine vollstiindige Auslegung des theologischen Systems von Sanz del Rio entwerfen. 2 Uber die deutsch-spanischen Beziehungen irn 13. Jh., s. J. Ferreiro Aiemparte, Fuentes gerrnanicas en las >Cantigas de Santa Maria< de Alfonso X. el Sabio, in: Gria131, Vigo 1971, S. 31-62, und bes. Espana y Aiemania en la Edad Media, Bolenn Real Acad. de la Hist., CLXX, Madrid 1973, S. 319-376; S. 467-573; CLXXI, Madrid 1974, S. 77-91; S. 267-295; S. 479-521.

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Ohne jeden Zweifel war Paris der Schnittpunkt vieler Wege auf der Hin- oder Riickreise, aber Toledo war das Ziel derjenigen InteIlektueIlen, die - nicht zufried en mit dem Wissensstand der europaischen Schulen - hierher zu den Quellen arabischer Wissenschaft eilten. Die Elite der europaischen Kultur suchteToledo auf, wahrend die frommen Pilgermassen nach Santiago de Compostela in Galicien stromten. Hierbei glanzten die Deutschen keineswegs durch Abwesenheit: Casarius von Heisterbach berichtet in seinem »Dialogus miraculorum« aus dem Jahre 1224, daB es in Toledo bayerische und schwabische Studenten gab. Ein Deutscher, Hermannus Alemannus, iibersetzte in Toledo von 1240-1256 verschiedene Werke von Aristoteles nach der Interpretation von Averroes (arab. Ibn Roschd) aus dem Arabischen in das Lateinische und die »Psalmen« aus dem Hebraischen in das Spanische3 • Durch den beriihmten Meister Kyot erhielt Wolfram v. Eschenbach - so behauptet er jedenfalls - in Toledo seinen »Parzival«. Der deutsche Orden lieB sich im Jahre 1222 in Spanien nieder; seine Ritter halfen Ferdinand III. entscheidend bei der Eroberung von Andalusien. - Der Hochmeister, Hermann v. Salza, besuchte im Jahre 1231 Santo Domingo de Silos, in der Absicht, vom Konig die Schenkung der Ortschaft Higares, das 7 km von Toledo entfemt liegt, entgegenzunehmen 4 • Schon aus dem Jahre 1224 wissen wir von einer Niederlassung der Calatraver Ritter in der Nahe von Danzig. - Da wir schon die militarischen Ereignisse andeuten, ist es vielleicht nicht uninteressant, hier die Eroberungen von Lissabon 1147, von Silves 1189, von AIcacer do Sal 1217 zu erwahnen, die hauptsachlich von mitteleuropaischen Kreuzfahrem untemommen wurden. Aus diesen Unternehmungen sind die spateren See-Handelsbeziehungen der deutschen und der flamischen Lander mit der iberischen Halbinsel herzuleiten. Ein Monch, personlicher Zeuge der Belagerung und Einnahme von Lissabon im Jahre 1147, schickte einen Bericht iiber dieses Ereignis an den Abt Cunno von Disibodenberg. Bis zu diesem Jahr wirkte die Naturforscherin und Mystikerin Hildegard v. Bingen als Abtissin im Kloster Disibodenberg. Bekannt sind uns die Einfliisse der deutsch-flamischen Mystiker des 15. Jahrhunderts auf die groBen Mystiker des 16. (Menendez Pelayo erwahnt, daB man diese vorrangig liest 5 ). Gerhard Zerbolt v. Zutphen (1367 -98) mit seinem Buch »De ascensionibus spiritualibus« und Jan Mombaer (nach 1460-1501) mit seinem »Rosetum exercitiorum spiritualium« hatten durch den Abt von Mont-

3 Vgl. J. Ferreiro Alemparte, Hermann el Aleman, traductor del siglo XIII en Toledo, in: »Hispania Sacra«, Rev. de Historia Eclesiastica, lnst. Enrique Florez (C. S. 1. C.) Bd. XXXV, Madrid 1983, S. 9-56. 4 Uber die Niederlasung des D. O. in Spanien, s. J. Ferreiro Alemparte, Asentamiento y extincion de la Orden Teutonica en Espana (1222-1556), in: Bol. Real Aca. His., CLXVIIl, Madrid 1971, S. 227-274. 5 M. Menendez Pelayo, Historia de los Heterodoxos espanoles, Ed. del C. S.l. c., Madrid 1946, Bd. IV, S. 1212.

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serrat, Garcia de Cisneros, der mit den genannten Werken sein beriihmtes »Exercitatorium spirituale« (1495) verflocht, EinfluB auf die »Geistlichen Obungen« des Ignatius von Loyola. Das Buch )>Vita Christi« von Ludolf v. Sachsen, das im Jahre 1502-03 auf Anordnung der Konigin Isabel in das Spanische iibersetzt wurde, gehorte mit zur Lieblingslektiire der HI. Teresa de Jesus. - Die »Imitatio Christi« von Gerhard Groote (1340-80) oder von Thomas a Kempis (1379/80-1471) gelangte sehr bald nach Spanien. Die erste Ubersetzung erschien 1493 und schon 1521 war das Buch in der 6. Auflage bekannt. - Der mystische SchriftstelIer Miguel de la Fuente (1574-1626), spiegelte in seinem Hauptwerk »Las tres vidas del hombre« (Die drei Leben des Menschen) gleichzeitig die Einfliisse der Mystiker Seuse, Tauler, Ruysbroeck und Harphius, Autor der »Theologfa mistyca«, die urn 1529 weithin bekannt war, wider. Als erster machte Juan Valera im vergangenen Jahrhundert in seinen Artikeln iiber den »Harmonischen Rationalismus« gewisse Parallelismen zwischen Miguel de la Fuente und Krause sichtbar. Diese zweite groBe Annaherung Deutschlands an Spanien, welche unter der Regentschaft Kardinal Francisco Jimenez de Cisneros begonnen hatte, bekam neue Impulse durch die Ankunft Karls V. in Spanien. Die in Spanien ansassigen deutschen Buchdrucker trugen ebenfalls zur Verbreitung dieser mystischen Literatur bei. 1m 17. Jahrhundert wiederum empfangt Deutschland den Riicklauf dieser mystischen Stromung. Ich glaube nicht, daB dieser EinfluB der spanischen Kultur auf die deutsche z. Zt. des Barock in seinem wirklichen AusmaB schon untersucht wurde6 • Jaime Tarraco durchleuchtete mit groBer Sorgfalt den EinfluB der spanischen Mystiker im »Cherubinischen Wandersmann« von Angelus Silesius (1624-77r. Aber nicht nur die Mystiker, sondern auch die spanischen Theologen der Gegenreformation wurden in dieser Epoche in Deutschland bekannt und geschatzt. Die »Disputationes metaphysicae« von Suarez fanden ein nachhaltiges Echo bei Leibniz. Aber die Inquisition verhinderte, daB viele Errungenschaften der spanischen mystischen Theologie in das christliche Denken der nachfolgenden Zeit einflie-

6 Uber die deutsch-fUimische Mystik und ihren EinfluB auf die spanische Mystik, s. H. Boehmer, Ignatius von Loyola und die dt. Mystik, in: Sitzungsberichte der sachs. Academie der Wissenschaften, Klasse 73, Leipzig 1921, S. 1-43. - Pierre Groult, Les mystiques des Pays-Bas et la literature espagnole du XVIeme siecie, Louvain 1927. - Ders., Les courants spirituels dans la Peninsule lberique aux XV·, XVI·, XVII" siecies, in: Lettres romanes, 9 (1955), S. 218-221; - Ders., Las fuentes germanicas de la mistica espanola, in: Arbor 48, Madrid 1961, S. 23-39. -Fr. J. Sanchis Alventosa (O.F. M.), La escuela mistica alemana y sus relaciones con nuestros misticos del Siglo de Oro, Madrid 1946. - H. Hatzfeld, in: Estudios Literarios sobre mistica espanola, Madrid 1955, S. 33-143, untersuchte den gleichlaufenden EinfluB von Raimundus Lullus und Jan van Ruysbroeck in der Sprache der spanischen Mystiker, bes. des Johannes v. Kreuz. 7 J. Tarrac6, Angelus Silesius Gohann Scheffler) und die spanische Mystik, in: Spanische Forschungen der Gorresgesellschaft, 15. Bd., Munster 1960, S. 1-150.

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Ben konnten 8 • Die Verfestigung des spanischen religiosen Lebens, die im 17. Jahrhundert beginnt und bis zur Mitte des 19. fortdauert, ist allgemein bekannt. Diese Verfestigung gab es nicht in Deutschland dank der von der Reformation ermoglichten freien Auslegung. Das spanische 18. Jh. ist durch den bourbonischen Zentralismus und die Uberlegenheit der franzosischen Kultur der Aufklarung bestimmt. Aber die Spanier, einschlieBlich ihrer hervorragendsten Gestalten der Aufklarung Feijoo und Jovellanos, haben weder den naturwissenschaftlichen Empirismus noch den Rationalismus »more geometrico« von Descartes angenommen. Vielleicht haben die fortdauemden Kriege, in die Spanien sich z. Zt. der Habsburger mit Frankreich verwickelt sah, zu der geringen Sympathie der Spanier fiir die franzosische Zivilisation beigetragen. Auf aile Faile reicht diese Opposition gegeniiber Frankreich sehr weit zuriick, denn die Annaherung Spaniens an Deutschland schon im 13. Jh. entsprach in hohem MaBe der Notwendigkeit, sich gegen den iibermachtigen religiOsen und weltlichen EinfluB zu behaupten, den Cluny im 12. Jh. ausgeiibt hatte. Die franzosische Revolution hatte auch eine Befreiung des geistigen und materiellen spanischen Lebens von einer religios versteinerten, aber wirtschaftlich machtigen Kirche bedeuten konnen; jedoch die napoleonische Invasion machte diese Moglichkeit zunichte. Viele der Spanier, welche die Prinzipien und die Ideen der Revolution zunachst akzeptierten, lehnten sie spater ab angesichts derVerwiistung ihres Landes und der tiefen Wunden des Krieges. Dagegen wurde die Romantik, geboren im SchoB der Revolution, mit Begeisterung von den spanischen Dichtem ausgerufen. Die Annahme des Krausismus, und dam it die breitere und dauerhaftere Aufnahme der deutschen Kultur in Spanien, ist eine unmittelbare Folge der geschilderten Situation. Der Krausismus, als Impuls fiir die religiose und phi!osophische Freiheit, ist insofem auch ein Tei! der romantischen Stromung. Die absolutistische Restauration durch Ferdinand VII. (1814-33), der die Konstitution abschaffte und die Inquisition wieder einfiihrte, die zwei Jahre zuvor von den Cortes in Cadiz abgeschafft worden war, zwang viele liberal denkende Intellektuelle ins Exil. Sie such ten ihre Zuflucht haupts~chlich in England. Ein spanischer Priester irischer Herkunft, Jose Maria White Crespo, spielte die Vermittlerrolle zwischen der angelsachsischen und deutschen Welt gegeniiber den spanischen Emigranten. White bzw. Blanco (nach der spanischen Ubersetzung) war schon im Jahre 1810 nach London geflohen, wo er Anglikaner wurde, spater dann Anhanger des Unitarismus von Channing. White unterhielt Beziehungen zu dem deutschen Verleger Rudolph Ackermann, welcher einige Zeitschriften der spanischen Emigranten finanzierte. Uber die Beschaftigung Whites mit der deutschen Sprache und Philo sophie berichtet Menendez Pelayo: »White erlemte die deutsche Sprache, korrespondierte mit Neander, betrieb eifrig die Lektiire 8 Juan Lopez-Moriilas, Una crisis de la condenda espanola: Krausismo y Religion, in: "Cuademos Americanos« 25, Mexiko 1966, Nr. 145, S. 161-180, untersuchte die religiose Krise bei Sanz del Rio, Fernando de Castro, F. Giner de los Rios und G. de Azcarate.

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von Paulus, von Strauss und die der Exegeten von Tiibingen, von denen er dann zu den Philosophen iiberging. Kant lehrte ihn, >daB die Tugend unabhangig von der Furcht und der Hoffnung sei und sogar von allem Glauben an die UnsterblichkeitGod within us< (Deus intra nos) ein. Und eine Theorie des Heiligen Geistes faBte er in den folgenden Worten von Seneca zusammen: >Sacer intra nos Spiritus sedet, malorum bonorumque nostrorum observator et custos. Hie prout a nobis tractatus est, ita nos ipse tractatBote< war Sanz del Rio, und das »Ideal de la Humanidad para la vida« war das konzentrierte Ergebnis seines Auftrags. DerText ist don Pedro Gomez de la Serna gewidmet, jenem Minister, der Sanz del Rio nach Deutschland schickte; in der Widmung heiBt es: »Hace algunos anos rogue a V. E.~ que me permitiera dedicarle este !ibro, resultado a mi parecer el mas uti!, si no el mas cientifico, de un encargo que me fue encomendado bajo el Ministerio de V. E., en 1843. Causas extranas a mi voluntad han retardado el cump!imento de aquel proposito; pero no han cambia do las ideas que me inspiraron el trabajo que Ie dio ocasion.« >>Vor einigen Jahren bat ich Eure Exzellenz urn die Erlaubnis, Ihr dieses Buch widmen zu durfen, das nach meiner eigenen Auffassung das nutzlichste - ja vielleicht sogar das wissenschaftlichste - Ergebnis eines Auftrags ist, welchen mir Eure Exzellenz als Minister im Jahre 1843 anvertraute. Widrige Umstiinde haben die Verwirklichung jenes Vorsatzes hinausgeschoben; aber sie haben nicht die Ideen veriindern konnen, welche zu jener Arbeit hinfUhrten, die allererst meinen Vorsatz entstehen lieB .... « Das Ergebnis dieser >Philosophie auf Bestellung< wurde zum meistgelesenen und einfluBreichsten Buch von Sanz del Rio, zur Pflichtlektiire seiner Adepten und zur Zielscheibe der Kritik seiner Gegner (Menendez y Pelayo beschreibt es als »librejo mas accesible que otros de Sanz del Rio ... bandera de juventud democratica espanola, manual con que se destetaban los aprendices de armonicOS«, als >ein Machwerk, das leichter zugiinglich ist als die anderen Machwerke von Sanz del Rio ... als Banner der demokratischen Jugend Spaniens, als ein Handbuch, durch dessen Lektiire die Lehrlinge der harmonischen Weltanschauung unabhiingig werden solltenIdeal de la Humanidad para la vida' keine Obersetzung des >Urbilds der Menschheit, VOn Krause ist, und daB Julian Sanz del Rio eine solche Arbeit auch gar nicht beabsichtigte. »Das >Ideal, [so gesteht er selbst ein] ist ein zu zwei Dritteln eigenstandiges Werk12 .,( »Sobre el origen y la originalidad de este escrito no puedo excusar dedr dos palabras para evitar confusion. Tal como esta ellibro, pertenece a Krause el espiritu; la expo sidon es mia, y nO hay Original aleman ni nO aleman de donde se haya traduddo.«13 »Ich kann nicht umhin, tiber den Ursprung und die Eigenstandigkeit dieser Schrift zwei Worte zu sagen, urn MiBverstandnisse zu vermeiden. In seiner jetzigen Form gehort der Geist dieses Buches Krause; die Darstellung ist VOn mir, und es gibt keinen deutschen Originaltext - oder einen Originaltext in anderer Sprache -, VOn dem ausgehend eine Obersetzung entstanden ware.« Die Rolle VOn Julian Sanz del Rio wird deutlich anhand seiner eigenen Unterscheidungen VOn zwei Phasen im ArbeitsprozeB 14 : In der ersten Phase schrieb er Zusammenfassungen der wesentlichsten Partien des »Urbilds«, dariiber hinaus einige Reflexionen, welche - teils durch den Sinn der Schrift VOn Krause angeregt, teils als Ergebnis seiner eigenen Denkweise - mit der Besonderheit und den geistigen Bedtirfnissen der spanischen Gesellschaft konvergierten. In Krauss, a.a.O., S. 10. Hans Ulrich Gumbrecht, Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der franzosischen Revolution, Miinchen 1978, S. 9-43. 12 Brief an Manuel Ruiz de Quevedo. In: Patricio Azcarate, Sanz del Rio, Madrid 1969, 11

11.

S.331. 13 14

Brief an Francisco de Paula Canalejas. In: Azcarate, a.a.O., S. 332. Krause, Ideal, S. XI.

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der zweiten Phase ordnete und vervollstandigte er diese Aufzeichnungen, »wobei er einige Grundgesetze des Lebens entwickelte«, welche »soweit als moglich den historischen Tatsachen angenahert« sein soilten, »ja teilweise durch sie bedingt«. Dies geschah ohne das Kriterium einer »streng wissenschaftichen Deduktion«. Krause ist die LektUre, von der Sanz del Rio ausgeht, doch der Horizont seiner Absichten entsteht aus den historischen Tatsachen, aus dem geistigen Charakter und den geistigen Bediirfnissen, auf die derText des »Ideal« Bezug nimmt. Sie muB man unbedingt beriicksichtigen, wenn man den >Sitz im Leben< und die gesellschaftliche Funktion des »Ideal« bestimmen will. Dieser Anspruch von Julian Sanz del Rio, seinen Text in einen spezifischen raum-zeitlichen und sozio-kulturellen Zusammenhang hineinzustellen, verpflichtet uns, einen kurzen Dberblick zur Situation Spaniens urn die Mitte des XIX. Jahrhunderts zu skizzieren 15. Die Jahre zwischen 1843 und 1854 - man nennt sie >epoca moderada< - sehen den AbschluB eines Konsolidierungsprozesses, welcher durch eine Verfassung (aus demJahr 1845) ermoglicht wird. Indem sie das Privateigentum als geheiligtes Grundprinzip, die dauerhafte Ordnung, den Zentralismus, die religiose Einheit der Nation, ein Zensuswahlrecht festschreibt, ermoglicht diese Verfassung die Integration jener sozialen Krafte, die aus einem vorbiirgerlichen Staat stammen, in einen Staat, der - wenigstens theoretisch -liberal und biirgerlich ist. Dazu tragen Machteliten aus dem Altadel und dem Heer bei, ein zentralisierter Staat mit einer zentralisierten Verwaltung, eine Verbindung mit der Institution der Kirche, welche moralischen Schutz und moralisches Ansehen verleiht, ein Eklektizismus, der zugleich den Status einer Philo sophie und einer praxisrelevanten Norm hat, schlieBlich das yom Partido Moderado ausgeiibte politische Monopol. Die Jahre zwischen der Juli-Revolution (1854) und der September-Revolution (1868), denen zwei liberale Jahre vorangehen, durch welche der EntwicklungsprozeB des »Moderantismo« in zwei Epochen unterteilt wird, sind die Jahre der ersten Expansion des spanischen Kapitals. Hier wird der »Moderantismo« der vierziger Jahre zu einem anderen »moderantismo«, welcher sich dadurch auf eine fortschreitend kapitalistischer werden de Gesellschaft einstellt, daB er moderner und offener wird, ohne den Rahmen seiner alten gesellschaftlichen Grenzen zu iiberschreiten; daB er mehr auf das Unternehmertum und die wirtschaftliche Prosperitat ausgerichtet ist denn allein auf die Wirklichkeit der Macht. Trotz dieser >Metamorphosegesunden Menschenverstand< zum Ordnungsprinzip seiner Ideen macht, weist eine besondere Nahe zu einer burgerlichen Mentalitat auf, die nun auch das Recht auf moralische Urteile sich selbst ausschlieBlich vorbehalten will. In diesem geistig-mentalen Panorama gibt es noch eine weitere Position, die man schon allein deswegen hervorheben muB, weil sie in Spannung zu den Grundprinzipien des »moderantismo« steht. Gemeint ist der »asociacionismo«, der einen deutlichen EinfluB auf demokratische Kemgruppen und - zum Teil- auf das entstehende Proletariat nimmt und dariiber hinaus vor allem in Zeitschriften eine groBe Verbreitung 16 findet. Dieser »asociacionismo« ist eine Stromung des utopischen Sozialismus und weist folgerichtig einen starken EinfluB franzosischen Denkens auf. Zusammen mit der Gruppe der Republikaner und dem linken Fliigel des »Partido Progresista« wird er zu einer Voraussetzung fUr die Grundung des »Partido Democnitico« im Jahr 1849, die Griindung jener Partei, welche die Ausdehnung der politischen Rechte auf alle Burger vertreten sollte. Das »Ideal de la Humanidad para la vida« soll sich nach der Absicht von Sanz del Rio an ein ganz bestimmtes Publikum wenden, und zwar als »ein Versuch zur praktischen individuellen und gesellschaftlichen Philosophie«, dessen Anspruch es ist, im Vergleich zu seinen Vorgangem, »dem zeitgenossischen Geist und den Vorahnungen eines neuen Lebens« angemessener zu sein, »die sich mit wachsender Kraft zugleich von verschiedenen Seiten einstellen« (»Ideal«, XII); mit seinem »Versuch« will er nicht »eine doktrinare Lehre, sondem menschlichen Sinn begriinden« (»Ideal«, 238). Eine Lektiire des Prologs zum »Ideal« macht es uns moglich, genauer darzustellen, was wir die von Sanz del Rio >intendierte Funktion< nennen konnten: - Es ist das BewuBtsein von Sanz del Rio, nicht bei einem Nullpunkt zu beginn en, vielmehr lassen sich die Zeichen eines neuen Lebens schon vemehmen. Das bedeutet, daB er eine Stromung des Denkens erkennt, auf die hin er sein Werk ausrichten kann. Und genau dort, wo er diese Zeichen einer geistig-moralischen Emeuerung, die schon begonnen haben soll, auf den Begriff bringt (»Ideal«, XXII), beschreibt er Werte, die Ausdruck der Bestrebungen einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse, des liberalen Burgertums, sind. Es handelt sich dabei urn die folgenden Werte: »EI interes bien entendido, ellegftimo amor propio, la noble aspiraci6n a la publica estima, el valor al trabajo ... las leyes tacitas de la conveniencia social ... la vida cientifica, el cultivo de las artes, el sentimiento religioso ... « (»Ideal«, XXII-XXIII). »Das rechtverstandene Eigeninteresse, die legitime Selbstliebe, das edle Streben nach offentlichem Ansehen, die Hochschatzung der Arbeit ... die 16 EloyTerron, Sociedad e ideologia en los origenes de la Espana contemporanea, Barcelona 1969, S. 175.

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stillschweigenden Gesetze des gesellschaftlichen Taktes ... das wissenschaftliche Leben, die Pflege der Klinste, das religiOse Flihlen ... «. Der Eindruck, dag es sich bei seinem Projekt urn eine >verspatete Aufklarung' handelt, welche von den Begriffen der >Vernunft, und der >Vernunftreligion, motiviert ist, entsteht aus der Forderung, drei Einstellungen zu lib erwinden: die moralische Unterwlirfigkeit und die intellektuelle Tragheit jener, die sich >von augen, bestimmen lassen; die Zuruckstufung derVernunft zu einer blogen Begleiterscheinung des Glaubens; und den >positivistischen, Pragmatismus jener Menschen, die nur »Ergebnisse suchen, die man anfassen kann und die klingende Mlinze bringen, wie in den Natur- und Wirtschaftswissenschaften«. - Sein zentrales Prinzip, demzufolge der Mensch als »die engste Harmonisierung der Natur und des Geistes diese Harmonie und jene seiner selbst mit der Menschheit historisch zur Wirklichkeit bringen mug - und zwar in Gestalt des vernunftgeleiteten Willens und allein aufgrund der Aufgehobenheit dieser seiner Natur in Gott« (XII), und das >Harmonieprinzip', welches Idealismus und Materialismus, Metaphysik und Physik, Sozialismus und Egoismus vereint (XIII), konnen zwar nicht mit dem Eklektizismus der »moderados« gleichgesetzt werden, aber sie liberwinden doch andererseits auch nicht grundsatzlich die Grenzen eklektizistischer Mentalitat. - Schlieglich ist seine Absicht in Begriffen formuliert, welche weit von jeglichern Bruch mit dem Bestehenden entfernt sind, ja sie ist eigentlich die Konkretisierung der Idee einer umfassenden Reinigung: »Cortemos resueltamente las ramas viejas del arbol, todo 10 egoista, todo servilismo y dualismo moral, ahondemos hasta la raiz viva y sana que nunca muere del todo en nuestra naturaleza, y levantemos sobre esta raiz con cultivo diligente y experimentado el hombre y la vida nueva« (XXI). »Lagt uns entschlossen die alten Zweige des Baums abschlagen: allen Egoismus, alle geistige Unterwlirfigkeit und allen geistigen Zwiespalt, lagt uns zu der lebendigen und gesunden Wurzel gelangen, welche in unserer Natur nie abstirbt, und lagt uns von dieser Wurzel ausgehend in fleigiger und umsichtiger Arbeit den neuen Menschen und das neue Leben erbauen.« Das sind Begriffe, die man eigentlich so interpretieren mugte, wie es die demokratischen Gruppen taten, als sie die Unmoral der neuen »moderados« der »Union Liberal«» attackierten. Obwohl wir wissen, dag eine schematische Darstellung der Diskurs-Struktur des »Ideal« eigentlich notwendig reduktiv und unbe£riedigend bleiben mug, wollen wir versuchen, eine solche, ausgehend von drei Bereichen, zu geben:

Grundsiitze I emeuemde Kritik der Gesellschaft I Projekt. Wir schick en diesem Versuch freilich - wiederum - eine Vorbemerkung voraus. 1m Vergleich mit dem »Urbild« von Krause hat Julian Sanz del Rio seinem Diskurs eine durchaus eigene Struktur gegeben, welche mit jener des» Urbilds« nur in Teilen libereinstimmt (vgl. Anhang). Daruber hinaus hat sich Sanz del Rio ausdrlicklich darum bemliht, die von ihm selbst stammen den Teile des Bu-

Das »Ideal« und sein historischer Kontext

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ches yom Krause-Text abzuheben, indem er eine groBe Anzahl von kommentierenden Bemerkungen beigab, in deren Rahmen er seine eigenen Gedanken entwickelt. Wir konnen sie die ,Kommentare< von Sanz del Rio nennen. 1m Hinblick auf die Unterscheidung der verschiedenen Situationen, in denen Krause und Sanz del Rio schreiben, kommt ihnen natiirlich groBe Bedeutung zu, und sie ermoglichen es auch zu verstehen, welche Aufgabe sich Sanz del Rio selbst zuschrieb. (1m Anhang zu unserem Artikel sind diese ,Kommentare< durch Anfiihrungszeichen hervorgehoben.) Zu den ,Kommentarenalierneuesten Philosophie< verspurten. Sanz del Rio verweist darauf, daB sie sich urn zwei Institu-

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tionen gruppierten, den »Grculo FilosOfico« und seinen Lehrstuhl. Es gab also eine Gruppe von Personen, die einen philosophischen Diskussionszirkel bildeten '7 , der sich als eine Alternative zu den Diskussionen des Ateneo verstand und bestrebt war, jene in wissenschaftlicher Strenge zu iibertreffen. Zu ihm geh6rten nicht allein die SchUler von Sanz del Rio und ihr ,Meisterarmonia< Su labio an uncia, Humanidad dichosa.« (» Das Gatteskiinigtum (Sannett) Menschheit! Menschheit! erwache; verlasse dein verhartetes Bett; hast du in der Nacht des Bosen so sehr gelitten, daB die Stimme des Gliicks dich schon tot antrifft? Sehen deine unsicheren Augen in ihrer MUdigkeit nicht das Licht des Guten, nach dem du dich sehnst? Stehe auf, oh Menschheit, und offne dein Ohr, denn die Hand Gottes k10pft an deine TUr. In deiner Rechten leuchtet nicht der glUhende Strahl; er kommt nicht, wie man dir liignerisch sagte, urn in seinem Namen abscheulichen Krieg zu entfachen; er tragt den strahlenden Zweig des Friedens: und das gliickliche Konigtum der .Harmonie< kUndigen, oh glUckliche Menschheit, seine Lippen an.«)

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Menendez y Pelayo, a.a.O., S. 1095.

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schaft und der Kunst abverlangte«; jene »lacherliche Parodie auf Gottes Gesetz« (gemeint sind die "Gebote der Menschheit«). (2) Wir wollen nun Aspekte des »Ideal« aufzeigen, die niitzlich fUr die Schaffung einer Disposition und einer Praxis im Sinne eines fortschrittlichen und demokratischen Liberalismus waren. Hier muB man besonders hervorheben, daB das »Ideal« urn die Mitte des XIX. Jahrhunderts an die Stelle von zwei Stromungen tritt: an die Stelle des Eklektizismus und des »Asociacionismo«. Auf der einen Seite ist der »harmonische Rationalismus« von Sanz del RIO nicht mehr der alte Elektizismus - aber er baut doch auf einer durch Selektion vorbereiteten Synthese auf. Auf der anderen Seite ist der »organische Bund«, wie ihn Sanz del Rio als Adept des Idealismus propagiert, nicht mehr mit jenem »Asociacionismo« identisch, den die Utopischen Sozialisten gefordert hatten - doch auch dieser wird von Sanz del RIO nicht ausdriicklich eliminiert (er thematisiert ihn einfach nicht). Wir wollen nun einige besondere Punkte herausstellen, die in etwa zeigen, wo das »Ideal« der Identitatssuche und den Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen entsprach: a) "Die Menschheit als Gleichheitsprinzip: La idea suprema de la humanidad recibe en Sl y armoniza toda oposicion de sexo yedad, acerca toda desemejanza de educacion; convierte las diferencias de estados y profesiones sociales en relaciones bien proporcionadas, las oposiciones de opinion y de intereses poifticos en contrastes sostenidos y reciprocamente desenvueltos en la sociabilidad universal« (»Ideal«, 7). »Die iibergeordnete Idee der Menschheit hebt in sich jeglichen Gegensatz des Geschlechts und des Alters auf und bringt ihn zur Harmonie, sie nahert aile verschiedenen Formen der Erziehung einander an; sie verwandelt Stande und Berufsunterschiede in wohl ausgewogene Beziehungen, Gegensatze der Meinungen und politische Interessen in Unterschiede, die in umfassender Geselligkeit einander stiitzen und entwickeln.« b) "Der Staat als iiuf3ere Form der Gerechtigkeit: El Estado, como forma exterior de la ju"stica, debe asegurar a los ciudadanos las condiciones para cumplir libremente la totalidad de su destino; pero las condiciones interiores de libertad y de merito moral, las intimidades del animo y las potencias superiores del entendimento y la voluntad estan fuera de su esfera y sobre sus medios. Bajos estos respectos el Estado puede solo dar las condiciones exteriores, puede concurrir a su modo, prestando derecho a la actividad de las otras instituciones relativas al destine humano; pero el Estado no puede fundar ni dirigir la vida interior de estas instituciones. Hasta aqui no alcanzan las leyes ni los medios poifticos; ... El Estado cuida de que no se impida a los ciudadanos la prosecucion y cumplimiento de su destine universal y social, sino mas bien que to do preste ,condicion< favorable para este fin, y con esta idea aspira a convertir las relaciones sociales en un sistema de reciproca condicionalidad humana« (»Ideal«, 60). »Als auBere Form der Gerechtigkeit muB der Staat den Biirgern Lebensbe-

Das »Ideal" und sein historischer Kontext

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dingungen garantieren, unter denen sie in Freiheit ihre Bestimmung ganz erfullen konnen; die inneren Bedingungen der Freiheit und des ethischen Verdienstes jedoch, die Geheimnisse des Geistes und die ubergeordneten Krafte des Verstehens gehoren wie der Wille diesem Bereich und seinen Mitteln nicht an. So gesehen kann der Staat nur auBere Bedingungen bereitstellen, er kann auf seine Weise die anderen Institutionen, die mit der menschlichen Bestimmung zu tun haben, in den Status des Rechts setzen; aber der Staat kann das Innenleben dieser Institutionen weder begrunden noch lenken. Bis dahin reichen weder die Gesetze noch die politischen Instrumente; ... Der Staat sorgt dafiir, daB die Burger nicht an derVerfolgung und Vollendung ihrer universalen und gesellschaftlichen Bestimmung gehindert werden; vielmehr solI alles eine gunstige Bedingung zur Erreichung jenes Zwecks sein, und in diesem Sinn tendiert der Staat dazu, die gesellschaftlichen Bedingungen zu einem System wechselseitiger Menschlichkeit zu machen." c) »Die Vaterlandsliebe, welche keinen ausschlief3t: El buen ciudadano hora y ama a su patria como un coordenado y digno miembro del pueblo humano en la tierra; la cultura, las costumbres y la his toria de su pueblo son preciosas a sus ojos, como parte no indiferente de la cultura, las costumbres y la historia de toda la humanidad" (»Ideal,-

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- »La historia del Estado en relacion con la historia de la humanidad« - »Organizaci6n progresiva del Estado« - »Una deduccion del Estado y del Derecho« - Organismo interior del Estado politico-humano - »Tribunales superiores historicos« - »Una Ley de la historia humana, como parte de la Historia universal« - Una Religion y Sociedad Religiosa en la humanidad - »Una relacion historica de la Religion« - Primera edad reIigiosa; simple unidad - Segunda edad reIigiosa; oposicion sin unidad - PoIiteismo - »La intolerancia en su relaci6n historica« - El conocimiento de Dios, principio y forma de la ciencia - »Una relacion de la ciencia con la religion« - El conocimiento de Dios; su relacion con el arte - El conocimiento de Dios; su relacion con la moral - »Relaci6n de la moral y de la sociedad moral con la religi6n y la sociedad religiosa« - »El medio relativo entre el Hombre y Dios« - La Providencia - Conclusion - »Resumen y ojeada ideal-historica«

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TERESA RODRIGUEZ DE LECEA

Der spanische Krausismo als praktische Philosophie

Will man verstehen, we1che Interessen und Ziele jene kleine Gruppe von Spaniern in der Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgte, die ausgerechnet K. Ch. F. Krause zu ihrem Lehrmeister wahlte, muB man sich einige historische Daten vergegenwartigen: Wie war die geschichtliche Lage Spaniens zu dieser Zeit? Der Biirgerkrieg (»Karlistenkrieg«) ist voriiber. Zehn Jahre ist es bereits her, daB Konig Fernando III., Reprasentant der absoluten Monarchie, starb. Die Liberalen sind aus dem Exil zuriickgekehrt, wo sie Zeit genug hatten, Theorien fUr ,die Zeit danach< zu erarbeiten - Theorien, die sich zumeist an den ~deen orientierten, we1che die Verfassung von 1812 in Cadiz inspiriert hatten. Auf diese zur Herrschaft gelangten Liberalen stiitzt sich die regierende Konigin Maria Christina. Allein, die gesetzgeberische Aktivitat dieser Kreise erweist sich als hochst ineffizient und, vor allem, iibermaBig konfklikttrachtig. Griinde gibt es viele: Es fehlt an okonomischer Kompetenz und die Bevolkerung erscheint vol1ig desinteressiert gegeniiber neuen Losungen fUr das Land. Besonders ins Auge Wit das kulturelle Defizit: Dber viele Jahre hin waren die Universitaten geschlossen; als besonders fatale Wirkung der Aktivitaten der Zensurbehorden erweist sich die Unterbindung des Imports auslandischer Biicher. Die Analphabetismus-Rate liegt bei 80%; dementsprechend iiberdimensional ist die technische, soziale, okonomische, intellektuelle Riickstandigkeit der spanischen Gesellschaft. In dieser Situation bilden sich die ,tertulias< (Gesprachskreise) in den wiedereroffneten ,Reales Sodedades Economicas de Amigos del Pais< (konigliche okonomische Gesellschaften der Freunde des Landes), die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine so groBe Bedeutung erlangten. Die gleiche herausragende Bedeutung gewinnen die sogenannten »Ateneos«, Gelehrtenund Kiinstlervereinigungen - besonders in Madrid - und die Akademien, insbesondere der Jurisprudenz und der Gesetzgebung, die sich zu einem Forum der politischen Diskussion entwickeln. Die meistgelesenen Autoren sind Bentham und Condillac; auch Savigny findet besondere Aufmerksamkeit. Das ist der Hintergrund der Mission Julian Sanz del Rfos (der iibrigens gerade auch die Einrichtungen offentlicher Bildung in Deutschland studieren sollte). Was er vorrangig suchte, war eine po/itische Philosophie. Das geht in aller Deutlichkeit aus einem Gesprach hervor, das er mit dem Philosop hen Cousin in Paris fUhrte und das er in seinem Reisetagebuch wieder-

Der spanische Krausismo als praktische Philosophie

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gibt 1 • Auf die Darlegung seiner Absichten hin entgegnet ihm Cousin: »Wenn Sie eine Philo sophie such en, die sich den Republiken, ohne Seele, ohne Gott, ohne Gesetz anpalSt, dann studieren Sie die Philosophie von Herm de Tracy; wenn Sie eine Philosophie mochten, die sich einer absolutistischen Regierung anpalSt, dann gehen Sie zum Hause von Herm de Bonald; wenn Sie eine Philo sophie fur eine konstitutionelle Regierung mochten, dann studieren Sie mein Werk ... « Letzteres suchte Sanz del Rio ganz offensichtlich; nur scheint ihn die Philosophie Cousins nicht zufriedengestellt zu haben. Tatsachlich war bereits eine Vorentscheidung gefallen: 1841 hatte ein Freund aus dem Kreis Sanz del Rios, namlich Ruperto Navarro Zamorano, die >>Vorlesung tiber Naturrecht oder Philo sophie des Rechts« des an der Freien Universitat zu Briissel lehrenden H. Ahrens ins Spanische tibersetzt (»Curso de Derecho Natural. Filosofia del Derecho«). Dieses Buch erzielte in Spanien eine nachhaltige Wirkung- nicht nur auf Sanz del Rio und Navarro Zamorano, sondem auch auf Manner, die grolSeren politis chen EinflulS besalSen, zum Beispiel Eusebio Maria delValle, Professor fur politische Okonomie an der Universitat zu Madrid, und Manuel Seijas Lozano, 1840-1841 Prasident der Akademie der Jurisprudenz und Gesetzgebung, oder Santiago Tejada, einen jungen Juristen, der im Jahre 1838 von der Regierung den Auftrag erhielt, tiber das politische Recht in Deutschland sich zu inforrnieren. Hier lemte er Roder kennen, einen SchUler Krauses, dem er Empfehlungsbriefe fur Sanz del Rio tiberbrachte 2 • Bekanntlich trifft Sanz del Rio in Briissel mit Ahrens selbst zusammen; durch diese Zusammenkunft erhalt die Mission eine ganz neue Dimension. Ahrens empfiehlt ihm folgendes: »Bevor man in das eigentliche Gebiet der Philosophie eintritt, mtissen in einer Einleitung die allgemeinen Fragen, die diese Philosophie betreffen, erlautert werden.« Und er fahrt fort: »Die geordnete systematische Erforschung der aufeinanderfolgenden Ursachen und die Erkenntnis einer letzten Ursache vermittelst dieser Ursachen, das ist Philosophie.«3 Eben dies ist der ProzeB metaphysischer Analyse bei Krause. Sanz del Rio folgt also dem Rat von Ahrens und begibt sich nach Heidelberg. Dabei verliert er aber sein leitendes Erkenntnisinteresse, namlich eine >Losung< fur die Probleme seines Landes zu finden, niemals aus den Augen; das bestimmt die Krause-Rezeption und gibt seinen Schriften den ihnen ganz eigentUmlichen Ton. In einem Brief an Jose de la Revilla erklart Sanz del Rio, daB er hier in Heidelberg das System Krauses ausgewahlt habe, weil es das konsequenteste und umfassendste ist, welches auch »in hochstem MaBe mit dem tibereinstimmt, 1 Unter den unveroffentlichten Manuskripten von Julian Sanz del Rio, die in der Real Academia de la Historia aufbewahrt werden, findet sich dieses »Reisetagebuch« in Mappe 35 der 3. Serie. 2 Ober die Textgrundlagen, die mir meine historischen Behauptungen ermoglichen, erscheint demnachst eine Arbeit, die ich bei dem zweiten Seminario de Filosoffa Espanola (Salamanca 1980) unter dem Titel: »Presupuertos culturales para la eleccion del sistema de Krause« prasentiert habe. 3 Reisetagebuch, vgl. Anm. 1 (Das Tagebuch ist nicht paginiert).

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was der gesunde Menschenverstand vorschreibt«, und var allem eines, "das sich am besten fiir die praktische Anwendung eignet«4. Krause expliziere alle Wahrheit in ihrer notwendigen Beziehung zum Lebens . Es ist durchaus als Vorwurf gegen Hegel gemeint, wenn Sanz del Rio formuliert: "Man konstruiert kein philosophisches System, das unabhangig von seinen Resultaten ware; es gibt keine Definition eines Begriffs, keine Verkniipfung einer Argumentation, die nicht immer schon einen moralischen Sinn enthielte oder die nicht zumindest in einem negativen Sinn die moralische Ansich t einer Gemeinschaft beeinflussen konnte.«6 Unter diesem Blickwinkel ist es durchaus berechtigt, den Krausismus als einen direkten Erben Kants zu charakterisieren. Diese moralisch-padagogische Intention pragte also die Studien Sanz del Rios und war mithin auch ausschlaggebend fiir die Ankniipfung an das System Krauses. Nach Spanien zuriickgekehrt, publiziert Sanz del Rio 1860 gleichzeitig zwei offensichtlich sehr verschiedene Biicher: "Metaphysik. Erster TeiI. Analysis« und "EI Ideal de la Humanidad para la vida«'. Das erste ist epistemologischen Fragen gewidmet und entwickelt eine Erkenntnistheorie; im zweiten bemiiht sich der Verfasser urn eine Geschichtsphilosophie, die zugleich die Aufgaben einer Ethik und einer Theorie der Gesellschaft erfiillen konnen soil. Hat man die Sprache des Metaphysik-Buches als geradezu abstrus empfunden, befleiBigt sich das andere einer Terminologie, die von jedem Publikum verstanden werden kann. Es konnte darum - mit Fernando de los Rios zu sprechen - zum "Stundenbuch (libro de horas) einer ganzen Generation« werden. Und doch existiert zwischen den beiden Biichern eine tiefe Verbindung: Das eine ist nicht ohne das andere zu verstehen, die praktische Philo sophie nicht zu entwickeln ohne die Grundidee "Gott«, zu der man durch die wahre Schau (Vista Real) gelangt. Hier wiederum hat der schwierige ProzeB der logischen Analyse einzumiinden in eine Applikation dieser Theorie auf das Leben. Das Hauptinteresse Krauses, auf jeden Fall aber des spanischen Krausismo, ist kein epistemologisches. Es geht nicht primar darum, eine perfekte Logik zu konstruieren, welche gleichwohl erforderlich ist, urn den ErkenntnisprozeB zu klaren (allerdings finden sich unter Sanz del Rios Schriften auch solche, die diesem Themenkomplex gewidmet sind). Das Hauptinteresse gilt der Rekonstruktion der Realitat. Der Terminus "Re-Konstruktion« soli anzeigen: Nicht wird die Realitat als selbst sinn-los gedacht, so daB es erst der Subjektivi4 Brief an Jose de la Revilla. Zitat nach Jobit, Les educateurs de I'Espagne contemporaine, Bd. II, Paris 1936, S. 72. 5 J. Willm, Histoire de la philosophie allemande, Bd. IV, Paris 1849, S. 423. - Dieses Buch verdient ein besonderes Interesse, da der Autor einer der wenigen Philosophiehistoriker ist, der sich als Zeitgenosse Sanz del Rios in etwas groBerem Umfang mit Krause beschaftigt. Seine Hauptquelle ist, wie er selbst erklart, Freiherr von Leonhardi. Dieses Buch war in Spanien sehr verbreitet und wurde viel gelesen. 6 Sistema de la Filsoffa, Metaffsica. I" parte. Amilisis, Madrid 1860. 1m folgenden: Metaffsica. 7 Ebd., Ideal de la Humanidad para la vida, Madrid 1860. 1m folgenden: Ideal.

Der spanische Krausismo als praktische Philosophie

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tat bediirfte, urn ihr einen Sinn zu verleihen; sondern Vernunft und Wissenschaft obliegt es, die Realitat als auf einen Zweck hin >wiederherstellbar< zu begreifen. Diese Rekonstruktion vollzieht sich in der Lehre des Krausismo auf drei Ebenen: der Rationalitat (als Werkzeug), der Moralitat (als Norm) und der Religiositiit (a Is mystischer Vision). In deutlichem Bezug zu Kant und zum rationalistischen Optimismus der Aufklarung sucht Sanz del Rio Anthropozentrik und Transzendenzbezug in einer Theorie zu vereinen, die auch noch den kantischen Dualismus iiberwindet. Dazu verhilft ihm Krauses Systems. Insbesondere gewinnt in dieser philosophischen Bemiihung der Begriff der Harmonie eine iiberragende Bedeutung; des sen Sinn wird der Hegelschen Synthesis in einer durchaus vergleichbaren Dialektik entgegengesetzt. Die Hegelsche Synthese wird kritisch distanziert, weil sie angeblich die Gegensatze aufiost, wahrend der Begriff der Harmonie zu einer praktischen Integration anleitet9 • An der Perzeption des Ich als Synthese aus Korper und Geist laBt sich dies verdeutiichen; mit groBer Sensibilitat wiirdigt Krause die Dimension des Korperlichen; der Korper erscheint nicht nur als >Sitz der Seelerationalen Glaubens< (fe racional) treibt das BewuBtsein auf jenes Stadium der Reife und der Vollendung zu, in welchem die Vergegenwartigung 17 Sumario (Vgl. Anm. 15), S. 14. 18

Metafisica, S. XXXVII.

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Gottes adaquat auf den verschiedensten Ebenen des Geistes erfolgt; mithin besteht dann vor allem nicht mehr die Gefahr, daB das religiose GefUhl sich geistlos verirrt und zum bloB en Aberglauben verkommt. 1m Stadium der Reife des religiOsen BewuBtseins gilt freilich auch andererseits, daB das religiOse Gefiihl freigelassen werden darf in die Erfahrung der Liebe Gottes hinein, ohne Angst vor jener Verfallsmoglichkeit. Die offenkundige Unterscheidung der Religiositat in einen rationalistischen ErkenntnisprozeB einerseits und eine besonders intensive Wiirdigung des religiOsen GefUhls andererseits hat allerdings widerspriichliche Interpretationen der krausistischen ReligiOsitat hervorgerufen: Fiir die einen, insbesondere fUr die Zeitgenossen, galten sie als reine Rationalisten, die ernsthaft weder der Offenbarung noch dem GefUhl eine besondere Dignitat zusprechen. Fiir andere wiederum, die gerade die besondere Akzentuierung des religiosen GefUhls im Krausismo wahrnahmen, galten die Krausisten als geradezu schwarmerische M ystiker und zur Moralisierung neigende Asketen. Fiir beide Versionen gibt es gute Griinde. Man wird deshalb nuancieren miissen. Zentrale Begriffe wie »Organismus« und »Harmonie« zeigen an, daB die geschichtliche Wirklichkeit als zielgerichtet auf die prozessuale Einheit mit Gott zu entziffern ist. 1m Licht dieser Grundiiberzeugung gewinnt der Begriff rationaler und freier individueller Bestimmung (vocaci6n) seinen Sinn. 1m Krausismo wird die Originalitat eines jeden Menschen und eben die seiner eigenen Bestimmung besonders nachdriicklich hervorgehoben. Sie wird allerdings zUrUckgenommen in die grundsatzliche Gleichheit aller Menschen, nicht nur die ihres Wesens, sondern durchaus diejenige ihrer geschichtlichen Existenz 19 • Der Begriff der individuellen Bestimmung (vocacion) beinhaltet zwei Komponenten: einmal den spezifischen Charakter des Individuums; zum anderen Erziehung und Sozialitat2°. Die individualistisch-liberale, anti-totalitare Akzentsetzung des Krausismo hat diesen fUr die Relevanz der sozialen Umstande nicht blind gemacht. Es ist durchaus kein Zufall, daB die ersten soziologischen Studien in Spanien in den Kreisen der SchUler Sanz del Rfos entstanden und daB auch der erste Professor der Soziologie in Spanien, Manuel Sales y Ferre, ein Krausist war. Rationalitat, Moralitat, Religiositat: Diese drei Begriffe kennzeichnen nicht nur den spanischen Krausismo schlechthin, sie geben auch Auskunft iiber die kulturellen und politischen Umbriiche der Entwicklung Spaniens. Das krausistische Verstandnis der Rationalitiit bewirkte eine fundamentale Erneuerung des Verstandnisses von Wissenschaft iiberhaupt, es ermoglichte zum Beispiel 19 Vgl. Sumario, S. 23. Dieses wichtige Dokument, >Zusammenfassung< genannt, entwickelt viele der Begriffe in systematischer Weise, die in einigen anderen Werken von Sanz del Rio auftreten, besonders in >Ideal Modell< die Moglichkeit ausschlieBt, daB die Harmonisierung des Entzweiten auf derselben Ebene erfolgt, auf der die Entzweiung geschieht. Auf dieser Ebene ist der Kampf urn Leben und Tod unvermeidlich, und die Versohnung erfolgt jedenfalls nach diesem Kampf und auf einer hoheren, dem BewuBtsein unvorhersehbaren Ebene. Der dem anfanglichen Krausismus wesentliche Harmonismus bleibt in der Personlichkeitstheorie von Giner de los Rios wirksam. Der gut Erzogene versteht sich selbst als solidarisch mit dem Teil der Wahrheit, den jedermann innehat. Diese Personlichkeit ist in sich selbst harmonisch dank einer nicht einseitigen Entwicklung aller ihrer Dimensionen, welche den Intellektualismus als Dbertreibung vermeidet; sie ist Resultat einer zwangsfreien, die autonome Entwicklung stimulierenden Erziehung. Der groBe spanische Dichter Antonio Machado hat dieser alles umfangenden ethisch-padagogischen Atmosphare beeindruckend Gestalt gegeben in seinem Werk »Juan de Mairena« - einer »Sammlung von Spriichen, Anmerkungen und Erinnerungen eines apokryphen Lehrers«, hinter der sich sein eigenes philosophisches Ich verbirgt (vgl. die Ausgabe in »Clasicos Castalia« 1971; deutsch bei Suhrkamp, Frankfurt 1956). Die harmonistische, nicht-kampferische Einstellung Mairenas veschafft sich gerade vor dem Hintergrund der Biirger-

Der Krausismo als sittliche Lebensform

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kriegslatenz in dem folgenden Text drama tisch Ausdruck: »In Bezug auf die kommenden Zeiten wird man an etwas festhalten miissen, well es sich urn Kampfzeiten han de It und man Partei nehmen muB. Ha! Willt ihr, was das bedeutet? Zunachst einmal den Verzicht darauf, die Griinde des Gegners zu verstehen, was impliziert, daB man an die eigenen Griinde mit doppelter Sicherheit glauben muB. - Die menschliche Vemunft ist nicht, wie einige meinen, die Frucht von Disputen unter den Menschen, sondem Frucht des verstandnisvollen Dialogs, in dem die Verstandesgemeinschaft absolute oder relative Wahrheiten anstrebt. Den Dialog abschaffen heillt, auf die menschliche Vemunft schlechthin zu verzichten.« Hier wird der Harmonismus deutlich, der dem gesamten Programm von Ideal de la Humanidad zugrunde liegt und der zugleich die Lehre Mairenas pragt. Dieser Harmonismus bestimmte die Einstellung der ersten Krausisten und ist der immer bleibende ethische Grundzug der spanischen Intelligenz, die sich fur keine Partei entscheiden wollte und von allen Seiten iiberfahren und gestraft wurde. Eine Einstellung, die vieles als »links« erscheinen lieB, was in Europa »rechts« war und die sich alsTragodie Spaniens immer noch fortsetzt. Die groBe Schwache all dessen, was in diesem Land fortschrittlich aber nicht revolutionar ist, versetzt uns immer von neuen in eine Situation, in der wir schon waren.

JUAN-JOSE GIL-CREMADES

Die politische Dimension des Krausismo in Spanien 1

I. Einleitung Der Krausismus in Spanien war in erster Linie politisches Denken, das in der Geschichte des spanischen Liberalismus tiefe Spuren hinterlassen hat. Der usus hispanus von Krause war entsprechend auf dessen praktische, nicht auf dessen theoretische Philosophie gerichtet, bedingt durch die besonderen Umstlinde, die die Rezeption des Krausismus in Spanien tiberhi.lUpt ermoglichten. Krause wurde in Spanien tiber die Vorlesungen von Heinrich Ahrens tiber Naturrecht, gehaiten an der Sorbonne in den Jahren von 1830 bis 1833, bekannt, und zwar tiber Exilspanier, die an diesen Vorlesungen teilnahmen. Sie lieBen, nachdem sich die politischen Verhliltnisse im Heimatland gebessert hatten, die Ubersetzung von Ahrens' »Naturrecht oder Philo sophie 'des Rechts« im Jahre 1841 in Madrid erscheinen 2 • Unabhangig davon besorgte Julian Sanz del Rio nach seiner Rtickkehr aus Heidelberg eine freie Nachschopfung von Krauses »Urbild der Menschheit« und veroffentlichte diese zusammen mit einem umfangreichen, nach didaktischen Gesichtspunkten gestaiteten Kommentarwerk im Jahre 186()3. Die hierbei verfolgte Absicht war bezeichnend: es gait, Krause in den Augen der spanischen Akademikerschaft als ,erbaulichen< Autor hinzustellen und ihn im Sinne einer akademischen Bildung zu begreifen, die im Prinzip religios orientiert war. Freilich sollte diese Orientierung sich von der im Lande herrschenden, dem Priesterseminarschtiler Sanz nattirlich wohl bekannten, katholischen Orientierung unterscheiden. Mit Krause sollte eine neue geistige und sittliche, gleichzeitig christliche Einstellung ins Leben gerufen werden, die Distanz zur intellektuellen Dtirftigkeit des Katholizismus und insbesondere zu seinem ideologischen Ftihrungsanspruch im Staate behauptete, urn dadurch schlieBlich die liberale Revolution einzuleiten. Diese Strategie wurde sofort durchschaut: die Ubersetzung von Ahrens' »Naturrecht« wurde 1842, die von Krauses »Urbild« im Jahre 1865 auf den Index Librorum Prohibitor urn gesctzt. Gleichwohl wurde Krause in Spanien bekannt - dank der Tatsache, daB wlihObersetzung aus dem Spanischen: Wolf Paul, FrankfurtiM. Vgl. T. Rodriguez de Lecea, Influencia de la cultura alemana en Espana en la primera mitad del siglo XIX, in: Sociedad, politica y cultura en la Espana de los siglos XIX Y XX, Madrid 1973, S. 37ff. 3 Ideal de la Humanidad para la Vida, con introducci6n y commentarios par Don Julian Sanz del Rio, Madrid 1860. 1

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Die politische Dimension des Krausismo

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rend dieser Jahrzehnte die »Moderierten«, d. i. die Parteiganger der liberalen Rechten, ununterbrochen an der Regierung waren und daB es anfanglichen Riickhalt in engen Beziehungen zu Freimaurerkreisen gab". Es sind also kritische und konspirative Ziige, die das politische Denken des Krausismus in Spanien von Anfang an kennzeichnen. 1m iibrigen sollten die Moralphilosophie und die Rechtsphilosophie die bevorzugten Themen der spanischen Krausisten werden. Hiermit beabsichtigten sie eine Korrektur des Liberalismus in drei Hinsichten, und zwar forderten sie: (a) eine starkere Orientierung der Politik an sittlichen Inhalten; (b) eine theoretisch konsistentere Konzeption; (c) einen effektiveren Willen zur Demokratie. Diese Postulate spiegeln die idealistischen Absichten der Krausisten wider. Sie dachten nicht strategisch an Machterwerb oder Machterhaltung, sondern sie wollten inhaltliche »Ziele« mit hohem sittlichen Anspruch bestimmen, urn mit wirkungsvollen padagogischen Mitteln an deren Verbreitung zu gehen. Zum anderen wollten sie die Aufmerksamkeit auf ihre Theorie der politischen Praxis lenken, die sie im Sinne ihres spezifischen Liberalismus als radikal und kritisch gegeniiber den herrschenden Verhaltnissen begriffen. SchlieBlich wollten sie ihren demokratischen Liberalismus als Kontrapunkt zum individualistischen Liberalismus verstanden wissen. Diese Korrekturen am Programm des Liberalismus waren insbesondere rur die Staatsauffassung folgenreich. Sie bedeuteten, unter der Voraussetzung, daB jedermann in angemessenen Bildungsprozessen iiber die »Ziele« seines Handelns aufgeklart war, daB der »offizielle Staat« als technischer Organismus auf der Beteiligung aller als den »harmonisch« eingepaBten Gliedern dieses Organismus aufzubauen war. Der bloB formale individualistische Liberalismus, der den Offizialstaat als Patrimonium der »politischen Klasse« begriff, erschien infolgedessen als iiberholt und muBte durch eine Konzeption der partizipativen Demokratie, der >>Selbstregierung« und der politischen »Offentlichkeit« ersetzt werden. Diese Forderungen zielten aufUbereinstimmung mit dem herrschenden Liberalismus in Spanien, der die Pradominanz der Gesellschaft gegeniiber dem Staat in der Weise zu realisieren suchte, daB er die aktive politische Prasenz der Gesellschaft nicht nur formal, sondern inhaltlich vertrat. Der spanische Liberalismus einschlieBlich seiner krausistischen Korrektur ist durch die Vorstellung eines schwachen Staats charakterisiert. In dieser grundsatzlichen Haltung ist der Hauptgrund darur gesehen worden, daB in Spanien eine Rezeption Krauses und nicht Hegels stattgefunden ha~. Damit soll gleichwohl nicht gesagt sein, daB es in Spanlen nicht das gegeben hat, was die Geschichtsschreibung »biirgerliche Revolutio:1« genannt hat. Die Frage, ob die spanische Kulturentwicklung als eine ~xzfntrische, von der ge4. So bereits E. Benz, F. W. J. Schellingund C. Ch. F. Krause in Spanien, in: >,Zeitschrift fUr Religions- und Geistesgeschichte« 6 {l954), S. 232. , In diesem Sinne E. Diaz, La Filosoffa social del krausismo espano!, Madrid 1973, S. 25ft.

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samteuropaischen Entwicklung abwweichende Erscheinung anzusehen ist und ob es in Spanien »Aufklarung« oder »Romantik« oder »Biirgerliche Revolution« gegeben hat, ist haufig diskutiert worden. Dabei hat aIle Polemik6 nicht dariiber hinwegtauschen konnen, daB es zu Beginn des 19. Jahrhunderts Zll einem Ereignis kam, das den Bruch mit dem Alten Regime in Spanien faktisch indiziert hat. Gemeint ist die Verfassung von 1812, die als die Geburtsurkunde des modemen Spanien anzusehen ist. Sie enthielt politische Grundnormen und Prinzipien sozialer Organisation, die den Neubeginn unmillverstandlich ankiindigten: 1) die Erklarung, daB »die Souveranitat wesentlich auf die Nation gegriindet ist«, wobei die Nation »die Vereinigung alIer Spanier« und nicht »das Patrimonium von Familie oder Individuum« sei (Art. 1 u. 2); 2) die Aufkiindigung des Seflorialsystems, d. h. dem Adelstand wurde die Befugnis zu Gesetzgebung und Rechtsprechung sowie die Strafgewalt entzogen und der Gesamtnation iibertragen (Art. 3, 242 u. a.); 3) die Befreiung des Eigentums: es sollte Gegenstand des freien Austausches sein, d. h. es solIte nicht an das »Majorat« (Adelseigentum) oder an sog. »tote Hande« wie z. B. an Kirche oder Kommunen gebunden sein. Die Giiter muBten immer »zueignen«, d. h. einem individuelIen Titeltrager zugeordnet sein. Die Realisierung dieser Prinzipien solIte sich im Wege juristischer Normsetzungen volIziehen. Man konnte nun meinen, daB soIche Erklarungen nichts weiter als juristische Formalien darstelIten und keineswegs einen Wandel der sozialen Realitat bedeuteten. Das ist sicher richtig. Richtig ist aber auch, daB diese Verfassungstexte mehr waren als leere Deklarationen. Die Strukturen des liberalen Staats und der Herrschaft des Individualeigentums nahmen wahrend des 19. Jahrhunderts in fort- und wie riickschrittlichen Prozessen Gestalt an. Sie machten bedeutende Veranderungen von durchaus irreversiblem Charakter durch. Die biirgerliche Idee von der Herrschaft des Rechts war die Anfangs- und auch die Zielorientierung dieser Entwicklung. Nach alledem darf gesagt werden, daB, als der Krausismus begann, auf den spanischen Liberalismus EinfluB zu nehmen, also urn 1865 7 , dieser bereits bestimmte Entwicklungstendenzen aufwies. Es liegt nahe, auf diese im Folgenden kurz einzugehen, urn zeigen zu konnen, wie und in weIchem MaBe sich spater der Krausismus auf sie auswirkte.

6 Vgl. J. Nadal, El fracaso de la Revolucion industrial en Espana, Barcelona 1975; M. Tunon de Lara, Sociedad senoriai, revoluci6n burguesa y sociedad capitalista, in: VII. Coloquio de Pau: Crisis del Antiguo Regimen e industrializacion en la Espana del siglo XIX, Madrid 1977, S. 11ff.; J.. Fontana, La Revoluci6n liberal, Politica y Hacienda, Madrid 1977; M. Artola, Antiguo Regimen y Revoluci6n liberal, Barcelona 1978; B. Clavero, Estudios sobre la Revolucion burguesa en Espana, Madrid 1979. 7 Vgl. mein Buch Krausistas y liberales, 2. Aufi., Madrid 1981, S. 81ff. femer El Reformismo espaiiol. Krausismo, Escuela historica, Neotomismo, Barcelona 1969.

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II. Die Doppelnatur des spanischen Liberalismus Vage vorbereitet durch eine autochthone Aufklarung 8 , die auf ihre Weise, namlich unter den Bedingungen einer staatlichen und kirchlichen Zen sur und der verbreiteten Angst vor dem revolutionaren Bazillus, die Ideen von Locke 9 , Montesquieu 10 und Rousseau 11 verbreitete, ist der Niedergang des Alten Regimes in Spanien hauptsachlich auf ein einziges komplexes Geschehen zuriickzufuhren: auf die Invasion Napoleons. Der Einmarsch hatte zum einen einen Aufstand des Volkes zur Folge, welches unter dem EinfluB des niederen Klerus in Napoleon den Revolutionar und infolgedessen den Feind der Religion sah. Andererseits brachten die Franzosen eine Errungenschaft des modemen Rechts ins Land, die der von Napoleon eingesetzte Joseph I. fOrmlich prokIamierte: die sogenannte Verfassung von Bayonne vom 8. Juli 1808. Diese sah erste revolutionare MaBnahmen vor wie Abschaffung des Seilorial- und Majoratssystems, Druckfreiheit etc., die spater und allmahlich in die spanische Gesetzgebung iiberfuhrt wurden. 12 Wahrenddessen schwankten die aufgeklarten Minderheiten Spaniens zwischen der Kollaboration mit den Franzosen - so die sogenannte »afrancesados« - und der Bewegung fur eine eigene spanisch liberale Revolution - so die sogenannte doceailistas (»Zwolfer«); diese hatten sich am 18. Marz 1812 im von den Franzosen unbesetzten Cadiz auf eine erste Verfassung und damit auf ein eigenstandiges politisches Programm eines spanischen Liberalismus geeinigt. Tatsachlich befand sich Spanien in einer ahnlichen Situation wie das von Napoleon besetzte Deutschland 13 oder RuBland, wo ebenfalls eine liberale Dialektik, d. h. eine intentionale Bewegung entstand, die das vorhandene Machtvakuum zur groBtmoglichen Veranderung der nationalen politischen Situation auszunutzen suchte. In allen drei Landem entstanden freilich innerhalb kurzer Zeit auch restaurative Gegenbewegungen. Dennoch konnte in Spanien die Verfassung von 1812, die zum Zeitpunkt ihrer Verkiindung nicht mehr als beschriebenes Papier war, bald zum Prototyp eines liberalen Maximalprogramms avancieren, das sowohl die Verfassungsbewegung der in Lateinamerika entstehenden Republiken als auch das spatere »Risorgimento« in Italien nicht wenig beeinfluBte. Die unmittelbaren Auswirkungen auf die spanische Geschichte sind bekannt: der Staatsstreich von 1820, der der Restauration ein Ende bereiten wollte, tat dies mit dem Anspruch, den Postulaten von 1812 Geltung zu verschaffen. Auch nach dem Tode des absoluten Monarchen Ferdinand VII. im Jahre Vgl. R. Herr, The Eighteenth-Century Revolution in Spain, Princeton 1960. Vgl. L. Rodriguez Aranda, La recepd6n y el inf!ujo de las ideas polfticas de John Locke en Espana, »Revista de Estudios Polfticos« 76 (1945). 10 P. Barriere, Montesquieu et I'Espagne, »Bulletin Hispanique« 49 (1947), S. 291-310. 11 J. R. Spell, Rousseau in Spanish World before 1833, New York 1969 (1. Auf!. 1938). 12 Vgl. dariiber: G. H. Lovett, Napoleon and the Birth of Modem Spain, New York 1965. 13 Vgl. R. Wohlfeil, Spanien und die deutsche Erhebung. 1808-1814, Wiesbaden 1965. 8

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1833, als der radikale Aufstand von La Granja am 13. August 1836 entfesselt wurde, stand die Berufung auf die Verfassung von 1812 im Vordergrund. Sie sollte bis zur Schaffung einer neuen Verfassung, durch welche man die Anpassung der neuen Prinzipien an das herrschende politische System gewahrleisten wollte, Geltung behalten. Diese Politik der Anpassung hatte allerdings zur Folge, daB neben dem genannten radikalen Liberalismus, dessen Anhanger sich als »Progressisten« bezeichneten, ein anderer gemaBigter Liberalismus, der sogenannte »Doktrinarismus« auftrat, der das Alte Regime nicht radikal abschaffen, sondem im Sinne eines klugen Reformismus allmahlich abwandeln wollte. Das Gedankengut dieses doktrinaren Liberalismus 14 hatte franzosische Quellen, so V. Cousin auf der allgemein philosophischen Ebene und auf der praktisch politischen Ebene F. P. G uizot und B. Cons tan t. Die Bestrebungen gingen dahin, das Prinzip der Monarchie mit dem der nationalen Souveranitat sowie das Prinzip der maBvollen Herrschaft mit dem Prinzip der Zensusherrschaft des Biirgerturns in Einklang zu bringen, und zwar gegen die AnmaBungen des Biirgerturns, welches keine anderen als seine eigenen Vorstellungen von nationalem Interesse und politischerVemunft gelten lieB. Hauptvertreter des doktrinaren Liberalismus waren Juan Donoso Cortes (Lecciones de Derecho Politico, 1873), Antonio Alcala Galiano (Lecciones de Derecho Constitucional, 1843) und Joaquin Francisco Pacheco (Lecciones de Derecho Politico Constitucional, 1845). Die Titel dieserWerke sind freilich irrefiihrend. Sie waren keineswegs systematische Darstellungen der jeweiligen Disziplin, sondern bestanden aus »Vorlesungen«, die die Autoren vor einem politisch interessierten Publikum in auBeruniversitaren kulturellen Einrichtungen, besonders im Ateneo von Madrid, gehalten haben. Hier haben sich die »Doktrinare« gerade auch in ihrer politischen Theorie und Praxis als die Zeitgenossen der Franzosen prasentiert. Demgegeniiber kam die Theorie des progressiven Liberalismus offentlich kaum zur Darstellung. Sie ist lediglich durch die Vorlesungen von Joaquin Maria L6pez (Lecciones de Politica Constitucional, 1840) bezeugt, die dieser in der Sociedad de Instrucci6n Publica gehalten hat. Weder die GemaBigten noch die Progressiven boten in jener Zeit ein Bild der Geschlossenheit. Sie waren jeweils unter sich zerstritten, sobald sie an der Macht waren und sich an politische Strategien halten muBten. So erging es den Progressiven, die die Regierung zwischen 1835 und 1843 innehatten: der radikale Fliigel, die sogenannten »Exaltados«, griindeten, als die Partei auf Anpassungskurs ging und in der Verfassung von 1837 die Forderungen von 1812 nurmehr in abgeschwachter Form vertrat, eine eigene, die »Demokratische Partei«. Diese wurde zum Initiator einer republikanischen Tradition und erlangte in den folgenden Jahrzehnten groBe Bedeutung, auch wenn sie nur zweimal, in kurzen und schicksalhaften Zeitraumen, an die Macht gelangte, 14 Vgl. dazu L. Diez del Corral, ElliberaIismo doctrinario, 3. Aufi., Madrid 1973; A. Garrorena, El Ateneo de Madrid y la teoria de la Monarqufa, Madrid 1974.

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namlich in der 1. Republik (1873-1874) und wahrend der II. Republik (1931-1936). In noch groBerem MaBe als die Progressiven muBten die GemaBigten innere Spaltungen hinnehmen. Da sie zwischen 1844 und 1868 fast ununterbrochen die Regierung bildeten, war es nur logisch, daB sich Auffassungsunterschiede und Generationenkonflikte einstellen. Auf der einen Seite bildete sich eine Mehrheitsfraktion, die zwar am Grundsatzprogramm einer gewissen materiellen Modernisierung des Landes festhieit, sich faktisch aber politischen Reformen auf der Linie einer allmahlichen Urbanisierung und Industrialisierung oder auch nur des A usbaus des Eisenbahnnetzes und des Pressewesens widersetzte. Paradigmatisch fur die Haltung dieser Fraktion war ferner die Verfassung von 1845 und das Konkordat mit der katholischen Kirche von 1851, in denen so etwas wie eine Rechristianisierung des Staates verlangt wurde, obwohl die von den progressiven Regierungen verfugte Nichtamortisierbarkeit der Kirchengiiter fur unwiderrufiich galt. Front gegen diese immobilistische Fraktion innerhalb der GemaBigten machte eine reformistische Stromung, die sogenannte »Liberale Union«, die in der Koalition mit den Progressisten zwei Jahre lang die Regierung bildete (1854-1856). Sowohl im Faile der GemaBigten als auch im Faile der Progressiven standen die internen Spaltungsvorgange in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der jeweiligen Fiihrerschaft in den Militarfraktionen. Die Progressisten sahen in General Espatero einen politischen Fiihrer. Dieser vertrat die Regentschaft wahrend der Zeit der Minderjahrigkeit von Isabella II. und fuhrte die sogenannten Ayacuchos15 an, eine Gruppe von Kolonialoffizieren. Regierungschef im Sinne der GemaBigten war mehrere Male General Narvaez. Er wollte die Offizierslaufbahn an die Bedingung der Adelseigenschaft gekniipft wissen, trotz der anderslautenden Verfassungstexte, die den Grundsatz des offenen Zugangs zu allen Militarkarrieren dekretrieren. Diese Details waren fur die spanischen Liberalen von alarmierender Bedeutung, bestatigten sie doch das grundsatzliche MifStrauen, das sie gegeniiber den Militars hegten. Sie handeiten in ihrem Sinne, als sie zum Schutz der verfassungsmaBigen Ordnung eine paramilitarische Truppe schufen, die sogenannte Nationalmiliz, die sich freilich wieder aufioste, als die Progressisten 1843 die Macht verloren. 1m darauffolgenden Jahre wurde die »Guardia Civil« geschaffen, die aber keinen zivilen, sondern ausgesprochen militarischen Chrakter hatte, eine Berufswehr darstellte und die GemaBigten in ihren Zentralisierungsbemiihungen hochst wirkungsvoll unterstiitzte. 1m iibrigen war die Prasenz der Militars in der spanischen Politik auch eine Notwendigkeit, weil das liberale Regime in seiner Etablierungsphase sich zu einem Biirgerkrieg gegen die Carlisten (1833-1840) gezwungen sah. also gegen die Anhanger des Don Carlos, eines kontrarevolutionaren Bourbonen undVerIS Ayacucho (heute Ecuador) war der Ort der Schlacht, die der spanischen Herrschaft in Amerika ein Ende machte.

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teidigers der politischen Strukturen des Alten Regimes, der den liberalen Zentralismus offen bekampfte, indem er fur regionale Volksrechte (»Fueros«), insbesondere fur eigenstandige Rechtsordnungen von Baskenregion, Navarra und Katalonien eintrat. 1m Gefolge dieses epochalen Konfiikts, aufgrund der sozialen Gegebenheiten und auch der militarischen Operationen dieses Biirgerkriegs, vollzog sich die Griindung dieser spanischen Regionen. Fiir die ideologische Absicherung sorgten die Carlisten mit ihrer Doktrin von der Monarchie kraft gottlichen Rechts von der Standecortes etc., die sie franzosischen Traditionalisten wie De Bonald und Joseph de Maistre entlehnt hatten 16 • Der latente Biirgerkrieg hielt wahrend des ganzen 19. Jahrhunderts an, er brach in einer Situation des Machtvakuums zwischen den Jahren 1872 und 1875 erneut offen aus. Zusammenfassend laBt sich sagen, daB Monarchie, Armee und Parteien die drei Elemente waren, aus denen sich das liberale System in Spanien zusammensetzte und es in einem, freilich instabilen Gleichgewicht hielten. Selten waren sich diese drei Machtgruppen einig, sie handelten vielmehr in immer neuen Konstellationen gegeneinander. Wenn sich Monarchie und Armee gegen die Parteien verbiindeten, waren von dieser Seite stets autoritare, wenn nicht gar diktatorische MaBnahmen zu befUrchten. Kam es dagegen zu einem Biindnis zwischen Parteien und Armee oder verhielt sich in einem Konfiikt zwischen Monarchie und Politik das Militar neutral, geriet stets der Thron in Gefahr, so im Faile der Regentin Maria Christina oder ihrerTochter, der Konigin Isabel II. Lediglich wahrend der Restaurationsbestrebungen von Alfons XII. (1874), die durch einen Zivilisten - Antonio Canovas del Castillo - fortgesetzt wurden, blieben die Militars in den Kasernen. Sie hatten es aber immer eilig, diese zu verlassen, wenn ihrer Meinung nach das Parteiensystem sich als zogerlich oder schwachlich erwies oder sich gar progressiver Umtriebe verdachtig machte17 • Aus der Perspektive dieser Realitaten relativiert sich die Rolle der Ideen und vor allem der Intellektuellen im spanischen Liberalismus, wobei nicht vergessen werden darf, daB das, was wir heute unter einem Intellektuellen verstehen - den Trager eines sozialkritischen BewuBtseins - am Ende des 19. Jahrhunderts bestenfalls als Abglanz der Affare Dreyfus vorgestellt wurde und in Spanien erst bei Gelegenheit eines alle Welt erschiitternden Ereignisses der Liquidation des spanischen Kolonialreichs 18, namlich des Verlustes von Cuba, Puerto Rico 16 Vgl. dazu J. Herrero, Los origenes del pensamiento reaccionario espano!, Madrid 1971; E. Christiansen, The Origins of Military Power in Spain, 1800-1854, Oxford 1967 und D. Lopez Garrido, La Guardia Civil y los origenes del Estado centralista, Barcelona 1982. 17 So die prazise Auslegung bei R. Carr, Spain. 1808-1939, Oxford 1966. 18 Vgl. damber]. Tunon de Lara, Medio siglo de cultura espanola (1885-1936), Madrid 1970; F. Villacorta, Burguesfa y cultura. Los intelectuales espanoles en la sociedad liberal (1808-1931), Madrid 1980; J. Becarud/E. Lopez, Los intelectuales espanoles durante la II Republica, Madrid 1978.

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und der Philippinen, zu gesellschaftlicher Bedeutung gelangte. Von diesem Datum an horte der spanische Intellektuelle namlich auf, reiner Akademiker zu sein. Er wendete sich aktiv dem politischen Leben zu und lernte, politische Praxis als Resonanzboden seiner Ideen zu begreifen. Genaugenommen waren es die Krausisten, die von einem bestimmten Zeitpunkt an groBen Anteil am Entstehen dieses Typus eines praxisnahen und gleichwohl neutralen Intellektuellen hatten, der sich fur die Gesellschaft verantwortlich fuhlte, in der er lebte, ohne zugleich Berufspolitiker zu sein. Nicht wenig auch sagt dieser Typus des Intellektuellen tiber selbstverstandnis und Rolle der Krausisten im spanischen Liberalismus aus. Aussagekraftig in diesem Zusammenhang ist ferner, daB der Krausismus eine urbane und universitare Bewegung in einem tiberwiegend landlichen spanien mit nur etwa zehn Universitatsstadten war. Auf diese war sein Wirkungskreis beschrankt. Nur Krausisten des zweiten Gliedes spielten als Padagogen der mittleren schulbildung und damit in den Provinzhauptstadten eine Rolle. Es ist ferner bezeichnend, daB der Krausismus auf Kastilien und Madrid konzentriert war und in spaniens Randregionen nicht vordrang. Entsprechend beschrankt erscheint die Perspektive der Krausisten. sie untersttitzten die zentralistische Politik des liberalen staates, ohne sich dartiber im klaren zu sein, daB dieser sich immer weiter von der demographischen und okonomischen Basis des Landes entfernte: der tiberwiegende Teil der spanischen Bevolkerung war an der Peripherie des Landes angesiedelt und dort auch setzte der ProzeB der Industrialisierung ein. Nur vor diesem - hier nur schematisch skizzierten - Hintergrund wird der Krausismus als eine Bewegung politischen Denkens verstandlich. Als solche machte er verschiedene Entwicklungsstadien durch, die jeweils in Abhangigkeit yom politischen Schick sal des liberal en Regimes zu sehen sind. Drei Etappen lassen sich unterscheiden: 1) die erste da tiert yom A uftritt der ersten Kra usisten in der Politik wahrend der Regierung der Liberalen Union (1854-1856) und endet mit der Absetzung von Isabel II.; 2) die zweite ist durch die Prasenz der Krausisten in den revolutionaren Bestrebungen der Jahre zwischen 1868 und 1873 bestimmt, einschlieBlich ihrer Beteiligung an der aktiven Politik; 3) die dritte Etappe umfaBt die Zeit der Restauration bis zu deren Ende, also bis zur Ausrufung der II. Republik (1874-1931); ferner die Rolle der Krausisten wahrend der Zeit der Republik, deren Ende zugleich das Ende des spanischen Liberalismus bedeutete. Auf diese drei Etappen solI im Folgenden naher eingegangen werden.

III. Die Anfiinge der Krausistenbewegung sanz del Rio (1814-1869), der aus der kastilischen Provinz stammte und an die von den Liberalen 1822 gegriindete, aber erst in den 40er Jahren aufbltihenden

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Madrider »Zentraluniversitat« ging, sympathisierte mit dem blirgerlichen Teil der progressistischen Partei, genauer gesagt, mit dem oben erwahnten Joaquin Maria L6pez. Allerdings war er keineswegs der typische Parteiganger des liberalen Regimes. Ihn interessierte allein der kulturelle Bereich. Ihm ging es insbesondere urn die liberale Ausformung der Madrider Universitat, die Pilotcharakter hatte. Durch Memoranden, die er im Jahre 1840 an den gemaBigten Minister Arrazola und 1841 an den progressiven Minister Gomez de la Serna sandte, wollte er die Einrichtung eines Lehrstuhls flir »Rechtsphilosophie« und damit die Einflihrung eines neuen Fachgebiets erreichen, die die vorhandenen Disziplinen »Naturrecht«, »Prinzipien der allgemeinen Gesetzgebung« und »Staatsrecht« ablosen oder zumindest erganzen sollte. Zweifellos hatte Sanz eine klare Vorstellung davon, was an diesem neuen Lehrstuhl gelehrt werden sollte. AIlerdings wurde seinem Wunsch nicht entsprochen. Ebenso wie seine Nachfolger muBte er einen weniger direkten Weg zur Weiterverfolgung seiner Plane suchen. Das Problem lag darin: aile drei juristischen und politischen Fachgebiete, auf deren Anderung es ihm ankam, waren durch den Studienplan der Liberalen eingeflihrt worden, also »modern«: »Naturrecht« galt als die Lehre der rationalistischen Aufklarung, we1che die sakulare Theorie yom Ursprung der Staatsgewalt vertrat. Die allgemeine »Gesetzgebungslehre« stellte im Sinne Benthams das Gesetz als rationales Steuerungsinstrument des Staates dar. »Staatsrecht« schlieBlich umfaBte die Lehre von derVerfassung und derVerwaltungsorganisation. Flir Sanz aber war kIar, daB diese Disziplinen ihren Auftrag nicht erflillten und auch gar nicht erflillen konnten, da sie ideologisch viel zu sehr yom franzosischen Eklektizismus beherrscht wurden. Sie erwiesen sich als unfahig flir die Losung der Probleme. Nach Auffassung von Sanz fehlte es ihnen an philosophischer Durchdringung, die flir ihn allein durch die idealistische Philosophie, hier insbesondere durch die deutsche, gewahrleistet werden konnte. Der Minister Gomez de la Serna ermoglichte im Jahre 1843, obwohl er sich gegen die Schaffung eines Lehrstuhls flir Rechtsphilosophie gesperrt hatte, die Reise von Sanz del Rio nach Deutschland. Diese Reise verlief nach Plan: von Paris, wo sich sein negativer Eindruck von der Cousinschen Philo sophie verstarkte, kam er nach Briissel, wo er am Schnittpunkt der franzosischen und der deutschen Kultur Ahrens erlebte, und schlieBlich nach Heidelberg, wo er den Schiilern Krauses begegnete. DaB er nur die Epigonen und nicht mehr die Schulhaupter des deutschen Idealismus antraf, beeindruckte ihn wenig. Sein besonderes Intersse galt zunachst den Hegelianern, die gerade dabei waren, die Revolution von 1830 und die Zukunft Deutschlands auf den Begriff zu bringen, indem sie auf einen neuen Staat und weniger auf eine erneuerte blirgerliche Gesellschaft bauten. Die ausschlieBliche Hinwendung zum Staat durch die Hegelianer sowie deren ausschweifende Beschaftigung mit der deutschen Situation aber empfand Sanz a15 einseitig und beschrankt. Demgegenliber erschienen ihm die Krausisten als die universelleren Philosophen. AuBerdem entdeckte er in der krausistischen Lehre in weit hoherem MaBe Verbindungen

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zum katholischen Bildungsgut, von dem er selbst beherrscht war19 • Das war kein Zufall. Es darf nicht tibersehen werden, da15 die Suche nach einer mit dem Katholizismus vermittelbaren Philo sophie zu den Zielen der Reise von Sanz gehorte. Zugleich sah Sanz in der Philo sophie Krauses und ihrer Rezeption eine Potenz, mit deren Hilfe es gelingen konnte, in Spanien zu einer Reformulierung der religiosen Frage, zu einer Belebung des kulhtrellen Lebens, insbesondere des Bildungswesens, sowie zu einer moralischen Erneuerung des politischen Lebens zu gelangen. Nach seiner Rtickkehr nach Spanien mu15te Sanz allerdings seine weitreichenden Plane zurtickstellen, weil die Gema15igten die Regierung stellten und fUr langen~ Zeit behielten. Wahrend die Progressiven in Freirnaurerkreisen und kulturellen Veranstaltungen konspirativ wirkten, zog sich Sanz fUr mehrere Jahre auf das Land zurUck und kam erst wieder nach Madrid, als die Liberale Union die Regierung iibernahm - ein Ereignis, das seinerzeit pompos als die »Revolution von 1854« gefeiert wurde 20 • 1m Oktober dieses Jahres erhielt er den Lehrstuhl fUr die »Geschichte der Philosophie« an der Universitat Madrid. Die ihm iibertragene Eroffnungsvorlesung zum Studienjahr 1857158 benutzte er dazu, seine Vorstellungen von der Bildungsreform erstmalig geschlossen vorzutragen, mit durchschlagendem Erfolg. Er wurde im ganzen Land bekannt. In dieser Vorlesung entwickelte er sein philosophisches Grundsatzprogramm und forderte im einzelnen: 1) eine Anthropologie, we1che, auf dem Primat der Vernunft aufbauend, die Grundlage aller Wissenschaft bildet, wobei er Wissenschaft im idealistischen Sinne als die erhabenste menschliche Tatigkeit begriff. Ais praktische Voraussetzung dieser Forderung erkannte er die Gewahr von Gedankenfreiheit und Meinungsfreiheit fUr jedes Individuum; 2) Vorrang des Einzelgewissens als eines ethischen Ma15stabs auf der Grundlage von Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, womit der Konfessionsstaat, an dem die Liberalen seit der Verfassung von 1812 festhielten, herausgefordert war; 3) Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums, ggf. von Assoziationen oder Gruppen von Individuen, wobei der Staat allein auf die Aufgabe beschrankt war, das freie Handeln zu gewahrleisten; d. h. im Grenzfall durch geeignete MalSnahmen eine Harmonisierung auseinanderfallender Interessen herbeizufUhren. An dieser Stelle brachte Sanz den Schliisselbegriff der krausistischen Philosophie zur Anwendung: den Begriff der »Harmonie«, der schnell zum Bestandteil des politischen Wortschatzes werden sollte. Der Liberalismus, wie ihn die Krausisten verstanden, war »harmonischer Liberalismus«. Mit dem Begriff der 19 So bereits H. Flasche, der auf eine Eingebung Unamunos verweist; vgl. Studie zu K. Ch. F. Krauses Philosophie in Spanien, »Deutsche Vierteljahrschrift filr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte« 14 (1936), S. 389. Auch P. Jobit, Les educateurs de l'Espagne Contemporaine. 1. Les Krausistes, Paris 1936, S. 189ff. 20 Vgl. V. G. Kiernan, The Revolution of 1854 in Spanish History, London 1966.

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Harmonie distanzierte sich Sanz von Hegels Dialektik als des Kampfes der Gegensatze. Mit ihm verband er ein politisches Programm: die Zusammenordnung des Handelns der Individuen innerhalb von Gruppen und des Handelns der Gruppen innerhalb des Staatsganzen. »Harmonie« war fUr ihn eine gesellschaftliche Fundamentalstruktur, die nicht etwa vorgegeben war, sondem ergriffen werden muBte. Dies geschah auf intuitivem Wege, durch das GefUhl fUr Notwendigkeiten, das im Laufe der Zeit immer mehr Menschen ergriff, bis ein H6chstmaB an gesellschaftlichem Gleichgewicht erreicht wart. Mit diesen Gedanken, die zweifellos Ideen Krauses aufgriffen, verfolgte Sanz zunachst ein unmittelbares Ziel, namlich den Ausgleich der Spannungen zwischen den GemaBigten und den Progressivisten innerhalb der liberalen Partei. Diese Absicht entsprach dem aktuellen Trend: sie driickte die Zielsetzungen derjenigen aus, die den Kurswechsel von 1854 herbeifUhrten. Binnen kurzer Zeit geschah es dann, daB Krause und seine Philosophie den Mittelpunkt der geistigen Auseinandersetzungen an der Universitat Madrid bildeten. Sanz fand schnell SchUler und diese iibertrafen bald ihren Meister in der Radikalitat ihrer Forderungen. Obwohl die breite katholische Reaktion sich gemaBigt gab, wollte paradoxerweise Harmonie sich nicht einstellen. Statt dessen wurden die Krausisten immer radikaler und viele von ihnen wechselten in die Reihen der »Demokraten«, d. h. der extremen Linken. Krausist im authentischen Sinne war zu jener Zeit der brillante Francisco de Paula Canalejas, bekannter Herausgeber von Kulturzeitschriften und beachteter Redner im Ateneo von Madrid 22 • Gegen eine verbreitete Skepsis vertrat er die Dberzeugung, daB der Krausismus eine sittlich hochstehende Bewegung sei, der »die Gewalt, woher sie auch komme, verurteilt, wei! jede solide und dauerhafte Reform nur mit Riicksicht auf den gesellschaftlichen Zustand der Gegenwart vonstatten gehen kann und durch keine anderen Mittel sich vorbereiten darf als durch Erziehung und Bildung des Volkes«. Doch war weder die politische noch die katholische »Orthodoxie« bereit, mit diesem Reformismus langfristig zusammenzuarbeiten. Die wieder an die Macht gekommenen GemaBigten erklarten die »Demokratische Partei« fUr illegal. Ihre zahlreiche Anhangerschaft und die der Progressisten fand sich teilweise auf den Versammlungen der Freimaurer wieder. Die Regierung tat ein iibriges, indem sie fortschrittliche Professoren von ihren Lehrstiihlen entfemte, unter ihnen auch einige Krausisten. Katholische Schriftstellerveranstalteten eine 6ffentliche Kampagne gegen Krause. Ihre apologetischen Schriften bewirkten, daB die spanische Dbersetzung des »Urbildes der Menschheit« auf den Index gesetzt wurde. Damit war freilich die Zukunft nicht aufzuhalten. Die Revolution yom September 1868 brach aus und zwang die K6nigin zum Verlassen Spaniens. Die Stunde des politischen Krausismus war gekommen. 21 Vgl. D. L. Shaw, »Armonismo«: The Failure of an Illusion, in: C. E. Lida/l. M. Zavala, La Revolud6n de 1868, Historia. Pensamiento, Literature, New York 1970, S. 351ff. 22 Vgl. dariiber A. Ruiz Salvador, El Ateneo de Madrid antes de la Revolud6n de 1868, in: La Revolud6n de 1868, S. 209ff.

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IV. Die Krausisten in den Revolutionsjahren 1868-1871 Es mu/S von vomeherein davor gewarnt werden, die Bedeutung der Krausisten fUr die revolutionare Bewegung der spaten 60er Jahre hochzuspielen. Die gro/Se Rolle, die ihnen von einer konservativen Geschichtsschreibung nachgesagt worden ist, haben sie de facto nie gehabt. Wahr allein ist, daIS die Protagonisten der revolutionaren Bewegung aus verschiedenen Gruppen kamen. Ma/Sgebend war ein Triumvirat aus GemaBigten der Liberalen Union, Progressisten und Demokraten. Hinter diesen wiederum standen jeweils verschiedene Fraktionen von Militars. Nur so wird erklarlich, warum in dieser kurzen Periode von nur sechs Jahren die politische Szene dauernd wechselte: von der Regentschaft iiber die Konstitutionelle Monarchie von Savoy en bis zur Republik und zur militarischen Interimsregierung. Nur in diesem Rahmen kann die Bedeutung der Krausisten richtig eingeschatzt werden. Die Politik der Krausisten wahrend dieser Jahre wurde nicht mehr von Sanz del Rio, sondem von dessen Schiilern bestimmt. Sanz starb irn Oktober 1869, zu einem Zeitpunkt also, als der Weg der Revolution sich noch nicht abzeichneteo Von seinen Schiilem profilierten sich zu politis chen Fiihrerpersonlichkeiten die Progressisten Jose Maria Marangues und Gumersindo de Azcarate sowie der Demokrat Nicolas Salmer6n. Allerdings war keiner von ihnen an der Grundgesetzgebung dieser Zeit, an derVerfassung von 1869, beteiligt. Salmer6n, Professor fUr Metaphysik an der Universitat Madrid und Senior der Krausisten, hatte nicht einmal einen Sitz in der verfassungsgebenden Versammlung. Er trat erst spater in Erscheinung, und zwar in den Cortes der Monarchie von Amadeus 1. von Savoyen, als es in einer entscheidenden Debatte urn die Legalisierung der proletarischen Internationale ging (Debatte yom 26. u. 27. Oktober 1871). Hier stellte sich hera us, daB es in der demokratischen Partei zwar utopische Sozialisten gab, diese aber keine Krausisten waren, wie Z. B. der Proudhon-Anhanger Francisco Pi y Margall und der Fourier-Anhanger Fernando Garrido. Aus krausistischer Sicht war anderes wichtig, wie das Beispiel Salmer6n bewies. Ihn beschaftigte die Haltung des Staats in der Frage der Anerkennung von Vereinigungen, nachdem die Verfassung in ihren Art. 17 das Recht, Vereine zu bilden, formlich anerkannt und damit den wiederholten Begehren der Arbeiterschaft entsprochen hatte, die des ofteren ihre Streiks und Demonstrationen unter das Motto »Assoziation oderTod« gestellt hatten. Die entscheidende Frage war, unter welchen Voraussetzungen der liberale Individualismus mit der Forderung nach Assoziation zu vereinbaren war, respektive: wie der liberale Staat sich zur freien Bildung von Vereinen stellen sollte. Salmer6n argumentierte auf der Grundlage der Unterscheidung von Gesellschaft und Staat. Die Gesellschaft beruhe auf dem Individuum und seiner Freiheit. Davon abgehoben sei der Bereich des Rechts, einschIielSlich der Sphiire der subjektiven Rechte des Individuums. Der Begriff »Individualrechte« sei terminologisch falsch oder mi/Sverstandlich, »weil er nicht Rechte des Individuums meint,

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Juan-Jose Gil-Cremades

sondern die des mensch lichen Seins und de;: mSeine korperliche Entwicklung war eine sehr langsame gewesen; er war als Kind viel krank, und sein Vater - die Mutter starb ihm friih - hielt den schwachlichen Knaben fast immer im Zimmer. Infolge der Biattem, die ihn im 5. Jahr befielen, muBte er lange an Kriicken gehen; auch die Masem griffen ihn im 8. Jahr heftig an, und bestandig litt er an Kopfschmerzen. So blieb er klein und schwachlich: seine Wirbelnaht behielt bis zum 12. Jahre eine ziemliche groBe Offnung. Erst als er ... angehalten wurde, sich abzuharten, besserte sich sein korperliches Befinden wesentlich; die Wirbelnaht wuchs zu, und der bis dahin auffallig kleine Knabe fing tiichtig zu wachsen an< (5). Der Chronist, der berichtet, wie auBerordentlich friih und schnell sich die geistigen Anlagen Krauses im Gegensatz zum Korper entwickelten, fahrt fort: >In derselben Zeit aber, wo er sich seinen Aufgaben mit ungewohnlichem Flelli hingab, war er oft von heftigem Alpdriicken geplagt. Einma! wurden seine Augen am hellen Tag blind, bis sie nach langem Aufenthalte in freier Luft wieder frei wurden. Schon im 15. Jahr muBte er zur Ader lassen und wiederholte dieses Verfahren von da an jahrlich, spater noch ofter, bis in sein starkes Mannesalter. Dabei qualten ihn die »fliegenden Miicken« oft so sehr, daB er nicht selten stunden- und tagelang nicht sehen konnte, und wenn diese Qual aufhorte, peinigte ihn heftigstes, oft tagelang dauemdes Kopfweh< (6-7). Neben der Krankheit fallt die Armut als eine wesentliche Konstante dieses Lebens ins Gewicht. Sicherlich ist sie zu einem erheblichen MaBe auf das zuriickzufUhren, was man gem »Weltfremdheit« nennt; schon in Schulzeiten und spater immer wieder von den ihm Nahestehenden wurde Krauses >Mangel an Ordnungssinn in allen auBeren geschaftiichen Dingen< beklagt, sowie >die Nichtachtung von Schwierigkeiten, die in den menschlichen Verhaltnissen liegen< (11). (Nur am Rande sei verzeichnet, daB auch Krauses Ehefrau hier nicht ausgleichend korrigierend zu wirken vermochte; ihr wird nachgesagt, in diesen Angelegenheiten ahnlich unfahig wie ihr Mann gewesen zu sein ... ) Entscheidend aber fUr Krauses Scheitem in biirgerlicher Hinsicht diirfte seine kompromiBlos-radikale Auffassung von »Wissenschaft als Beruf« gewesen sein. Er untemahm zwar aile erdenklichen Anstrengungen, zu einer Anstellung, und sei es eine noch so bescheiden besoldete, zu gelangen, doch er war zu keinem Zeitpunkt bereit, in der Verfolgung des ihm wissenschaftlich wesentlich Erscheinenden auch nur den geringsten KompromiB einzugehen. Er nahm die diirftigsten Lebensumstande ebenso in Kauf wie die entwiirdigende Erfahrung, mit seiner ganzen zahlreichen Familie von den Zuwendungen des Vaters, dem auch nur sein Pastorengehalt zur Verfiigung stand, abhangig zu sein. Seine Armut nahm zuweilen kaum noch ertragliche AusmaBe an. Sie legte sich wie Mehltau auch auf Krauses soziale Beziehungen. Freunde und Bekannte zogen sich von ihm zuriick. >DaB er einige Zeit in Not war, verstand jeder; aber

Karl Christian Friedrich Krause

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daB diese Not nie aufhorte und eher schlimmer wurde, erweckte die Vermutung, daB die Schuld an ihm liege und keine Besserung zu erwarten sei; und so gab man ihn auf. Und es ist daher ohne Zweifel richtig, was er am 18. Juli 1830 an Leonhardi schrieb: ,>Von meinen friiheren Freunden ist fur mich nichts zu erwarten; sie sind aIle durch meine Armut und durch mein Verschmahtsein yom Staate an mir irre geworden und nehmen Argernis an mir