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German Pages 727 [752] Year 2000
Friedrich Justin Bertuch (1747-1822)
Friedrich Justin Β ertlich (1747-1822) Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar Herausgegeben von Gerhard R. Kaiser und Siegfried Seifert Redaktionelle Mitarbeit: Christian Deuling
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000
Gefördert von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, Frankfurt a.M.
Titelbild: Friedrich Justin Bertuch. Punktierstich von Carl August Schwerdgeburth, 1808
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Friedrich Justin Bertuch : (1747 - 1822) ; Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar / hrsg. von Gerhard R. Kaiser und Siegfried Seifert. - Tübingen: Niemeyer, 2000 ISBN 3-484-10796-0 © Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Gerhard R. Kaiser Friedrich Justin Bertuch - Versuch eines Porträts
I
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Bertuch und die großen Autoren
Renate Stauf Wieland und Bertuch. Die Idee des Weltbürgertums im Selbstverständnis des Poeten und des Handelsherrn
41
Heinrich Macher Goethe und Bertuch. Der Dichter und der homo oeconomicus im klassischen Weimar
55
Manfred Koch Bertuch und Herder
79
Bernd Leistner Schiller und Bertuch
91
Ulrich Kaufmann „Zur Gewohnheit gewordenen Güte und Theilnehmung gegen Fremde ..." Lenz und Bertuch
II
101
Bertuch als Autor
Heide Ellert Bertuch und das zeitgenössische Theater
113
Angelika Pöthe „Wiegenliederchen" - Bertuch und die Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts
133
III
Bertuch als Vermittler
Dietrich Briesemeister Bertuchs Bedeutung für die Aufnahme der spanischen und portugiesischen Literatur in Deutschland
145
VI
Inhalt
Jochen Heymann Friedrich Justin Bertuch und die „Allgemeine Literatur-Zeitung" als Drehscheibe hispanistischer Vermittlung in Deutschland
157
Angela Borchert Übersetzung und Umschrift. Spätaufklärerische Kulturpolitik am Beispiel von Friedrich Justin Bertuchs Märchensammlung „Die Blaue Bibliothek aller Nationen"
169
Christian Dealing Friedrich Justin Bertuch und der Handel mit Nordamerika
195
Thomas C. Starnes Bertuch, Philip Mark und der große Nordamerika-Plan
229
Jens Riederer „... und mit gelehrten Kenntnissen einen richtigen Spekulationsgeist verbindet". Bertuch als Mitglied in aufgeklärten Sozietäten, geselligen Vereinen und gelehrten Akademien
245
Uwe Quilitzsch Bertuch und das Dessau-Wörlitzer Gartenreich
269
IV
Bertuch als Verleger
Wolfgang Braungart Bertuch und die Freie Zeichenschule in Weimar. Ein Aufklärer als Förderer der Künste
279
Siegfried Seifert „Genie und Lumpen" - Programmatische Entwürfe Bertuchs zur Reform des deutschen Verlagsbuchhandels vor 1800. Überlegungen zu einem Forschungsansatz
291
Christina Junghanß „Es ist ein Unglück vor die teutschen Handwerksleute, daß sie gar keinen Unternehmungsgeist besitzen [...]". Bertuch als Wirtschaftsförderer
301
Andreas Meier Vom ,homo industrius' zum ,Kulturindustriellen'. Friedrich Justin Bertuch und die Rationalisierung literarischer Kultur
309
Helga Schultz Der Verleger Friedrich Justin Bertuch als Kaufmann und Literaturpolitiker
331
Inhalt
VII
Christina Killius Bertuchs Beitrag zur Antiqua-Fraktur Debatte
351
Marie-Kristin Hauke „Wenns nur Lärmen macht..." Friedrich Justin Bertuch und die (Buch-) Werbung des späten 18. Jahrhunderts
369
Michael Schütterle Bertuchs Verlagsunternehmungen in Rudolstadt
381
Bernhard Fischer Friedrich Justin Bertuch und Johann Friedrich Cotta. Die „Phalanx" der Buchhändler
395
lan Maxted Bertuch und England - Vorbild oder Nachklang?
409
V
Schwerpunkte des Bertuchschen Verlagsprogramms
Uta Kühn-Stillmark Zum Verlagsprofil des Landes-Industrie-Comptoirs und des Geographischen Instituts unter Friedrich Justin Bertuch in den Jahren 1791 bis 1822
417
Michael Diers Bertuchs Bilderwelt. Zur populären Ikonographie der Aufklärung . . .
433
Thomas C. und Starnes Bertuch „Der Teutsche Merkur"
465
Peter Brüne Friedrich Schulz (1762-1798) - ein Schriftsteller aus dem Umkreis Friedrich Justin Bertuchs
481
Doris Kühles Das „Journal des Luxus und der Moden" (1786-1827). Zur Entstehung seines inhaltlichen Profils und seiner journalistischen Struktur
489
Angelika Emmrich/Susanne Schroeder Weimarer historische Interieurs. Zum Ameublement im „Journal des Luxus und der Moden"
501
Margarete Mildenberger Bertuch und die „Allgemeine Literatur-Zeitung". Zu den Briefen von Christian Gottfried Schütz im Weimarer Bertuch-Nachlaß
519
Vili
Inhalt
Uwe Plötner „Du fühlst, wie leicht und amüsant diese Arbeit ist...". Friedrich Justin Bertuchs „Bilderbuch für Kinder" (1790-1843)
533
Gerhard R. Kaiser „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen". Bertuchs Zeitschrift „London und Paris"
547
Werner Greiling Politik und Publizistik - Publizistik und Politik. Friedrich Justin Bertuchs Wirken seit dem Wiener Kongreß
577
Brunhild Neuland „... gegen die Willkühr und das Partheiwesen jeglicher Art". Friedrich Justin Bertuchs „Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung"
593
VI
Bertuch und die Gartenkunst
Ulrich Müller Friedrich Justin Bertuch und die landschaftliche Gartenkunst
607
Angelika Schneider Friedrich Justin Bertuch - ein Beförderer der Gartenkunst
629
VII
Bertuch und die Naturwissenschaften
Jutta Heinz „Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen" (1799). Bertuchs Entwurf eines populärwissenschaftlichen Forschungs- und Verlagsprogramms 659 Gisela Nickel „Höhen der alten und neuen Welt bildlich verglichen". Eine Publikation Goethes in Bertuchs Verlag
673
Walter Steiner Bemerkungen zu den geowissenschaftlichen Publikationen aus Bertuchs Weimarer Verlagen
691
Abbildungsverzeichnis
699
Abkürzungen und Siglen
705
Personenverzeichnis
707
Einleitung
Bertuch besitze, so Schiller am 18./19. August 1787 an Körner, „ohnstreitig in ganz Weimar das schönste Haus".1 Die Worte galten nur dem Nordflügel des späteren umfänglichen Gebäudekomplexes, dessen klassizistische dreiteilige Frontseite sich an der Karl-Liebknecht-Straße erhalten hat und heute das Stadtmuseum beherbergt. Dahinter gelegene Bauten wurden schon zu Beginn unseres Jahrhunderts abgetragen. Seit 1930/31 verstellte die für die Goethefeiern 1932 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete Weimarhalle den freien Blick auf den ausgedehnten Park, den Bertuch auf der rückwärtigen Seite hatte anlegen lassen. Nur einige Monate nach Abriß der alten und vor Errichtung der neuen Weimarhalle war 1997/98 die Einheit des ursprünglichen Anwesens am ehemaligen fürstlichen Baumgarten wieder anschaulich erfahrbar; die partielle Verpachtung an Kleingärtner, zu der Bertuch sich seinerzeit geschäftstüchtig entschlossen hatte, dürfte bei den Zeitgenossen den Eindruck ungewöhnlicher, geschmackssicherer Großzügigkeit nicht wesentlich gemindert haben. Ob Bertuch, selbstsicherer Bürger und mit dem Hof wichtigster Arbeitgeber Weimars, sich mit seinem herrschaftlichen Anwesen bewußt herausfordernd in ein Verhältnis zu Goethes Haus am Frauenplan, ja zu Carl Augusts wiedererrichtetem Residenz-Schloß und Römischem Haus setzte - auch an das Wittumspalais wäre in diesem Zusammenhang zu denken - , bleibt vorerst nur zu vermuten; seine kluge Vorsicht läßt entsprechende Entdeckungen im umfänglichen Nachlaß nicht unbedingt erwarten. Daß er tatsächlich zum „Dichterfürsten" und zum Herzog in Konkurrenz trat, steht wegen der für Weimarer Verhältnisse geradezu atemberaubenden Dimension seiner Planungen außer Zweifel. Erste Hinweise zu möglichen architektonischen Repliken, insbesondere auf das unter Mitarbeit Goethes entstandene Römische Haus, hat Andreas Beyer 1997 in einem Vortrag gegeben, zu dessen Drucklegung er sich wegen der schwierigen Quellenlage noch nicht entschließen konnte. Daß Bertuchs Anwesen im wesentlichen statt der Repräsentation oder der literarisch-wissenschaftlichen Arbeit der frühindustriellen Produktion bzw. der Ausstellung vielfältigster Landesprodukte und Kommissionsgeschäften mit auswärtigen Waren diente - und dies womöglich in variierender Anknüpfung an die landwirtschaftliche Nutzung der palladianischen Villa2 - , macht die Konstellation zwischen Frauenplan, Neuem Schloß, Römischem Haus einerseits und Bertuchs Haus mit dem angrenzenden Baumgarten andererseits denkwürdig. Bertuch ist nie völlig aus dem Blick der Deutschen geraten. Böttiger, lange Jahre einer seiner wichtigsten Mitarbeiter, hat ihn porträtiert.3 Heine und die 1 2
3
SNA, Bd. 24, S. 136. Vgl. Rudolf Borchardt: Villa, in: Rudolf Borchardt: Prosa, Bd. 3, hg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn. Stuttgart 1960, S. 38-70. Vgl. Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar. Hg. von Klaus Gerlach und René Sternke. Berlin 1998, S. 2 8 4 - 3 0 2 .
2
Einleitung
Droste wie später noch Benjamin haben sich seiner erinnert.4 Im Zusammenhang der editorischen Bemühungen um Goethe, Schiller, Herder und Wieland war er nicht zu übersehen. Wissenschaftlich kam er, in partieller Hinsicht, unter anderem im Zusammenhang des „Teutschen Merkur"5, als erster deutscher Übersetzer des „Don Quijote", der auf das Original zurückgriff6, oder auch des Modejournals7 in den Blick. Schon zu Beginn unseres Jahrhunderts ist er zum Gegenstand einer beachtlichen Dissertation geworden, die den damaligen Kenntnisstand punktuell ergänzend zusammenfaßte.8 Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten zwei weitere Monographien.9 Aus einer Ausstellung des Mainzer GutenbergMuseums im Jahr 1985 ging die bislang wichtigste Gesamtdarstellung hervor, deren Autorin zwar gründliche Recherchen zu gedruckten Quellen angestellt, doch auf die Sichtung des Nachlasses im Goethe- und Schiller-Archiv verzichtet hatte.10 Im letzten Jahrzehnt fand Bertuch als Hispanist avant la lettre eine gewisse Beachtung;11 zunehmend interessierten auch der Buchhändler und Verleger.12 Sonst gibt es nur wenig nennenswerte Einzelstudien.13 Die Weimarer Stadthistoriker hatten Bertuch nie vergessen.14 Aufs Ganze gesehen stellt sich die Forschung zu Bertuch als wenig befriedigend dar, zumal im Blick auf den Umfang der gedruckten und ungedruckten Quellen. Dafür sind konzeptionelle wie institutionelle und pragmatische Gründe verantwortlich. Die Orientierung der Germanistik an den autonomieästhetischen 4
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14
Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, Bd. 4, hg. von Klaus Briegleb. München 1971, S. 169 (Einleitung zu „Don Quijote"); Josefine Nettesheim: Die geistige Welt der Dichterin Annette zu Droste Hülshoff. München 1967, S. 16-18, 20-25 und passim (freundlicher Hinweis von Helmut Brandt); Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Hella TiedemannBartels. Frankfurt a.M. 1972, S. 16 („Alte vergessene Kinderbücher"). Hans Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im achtzehnten Jahrhundert. Berlin 1914. Bettina Kronacher: Bertuchs Don Quijote-Übersetzung unter Einbeziehung der ihm nächstfolgenden Übersetzungen von Tieck und Soltau. München 1924. Ruth Wies: Das Journal des Luxus und der Moden (1786-1827). Ein Spiegel kultureller Strömungen der Goethezeit. München 1953. Wilhelm Feldmann: Friedrich Justin Bertuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Goethezeit. Mit der Rede des Kanzlers von Müller auf Bertuch. Saarbrücken 1902. Albrecht von Heinemann: Ein Kaufmann der Goethezeit. Friedrich Johann Justin Bertuchs Leben und Werk. Weimar 1955; Gustav Bohadti: Friedrich Johann Justin Bertuch. Berlin und Stuttgart 1970. Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) - bewundert, beneidet, umstritten. Übersetzer mit Verdiensten. Dichter ohne Talent. In Weimar kluger Verwalter der fürstlichen Privatschatulle, erfolgreicher Herausgeber und Verleger, Freund Goethes. Ein Kapitalist und Philanthrop der Aufklärung. Berlin und New York 1989. Jochen Heymann: Ein Wegbreiter der Hispanistik: Friedrich Johann Justin Bertuch (17471822), in: Manfred Tietz (Hg.): Das Spanieninteresse im deutschen Sprachraum. Beiträge zur Geschichte der Hispanistik vor 1900. Frankfurt a.M. 1989, S. 34^19. Siegfried Seifert: „Verbertuchte Literatur" oder Die unendliche Geschichte vom Autor und Verleger am Beispiel Goethes und Friedrich Justin Bertuchs, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 5 (1995), S. 113-134. Hervorzuheben u.a. Heinrich Macher: Friedrich Justin Bertuchs Armenschrift von 1782. Bürgerliches Reformdenken im Spannungsfeld von sozialer Praxis, aufgeklärter Humanität und ökonomischem Rationalismus, in: IASL 20 (1995), H. 2, S. 1-55. Vgl. etwa Paul Kaiser: Das Haus am Baumgarten. T. I: Friedrich Justin Bertuch, sein Haus „am Baumgarten" und die Wirksamkeit seines Landes-Industrie-Comptoirs. Weimar 1980.
Einleitung
3
Positionen der großen Weimarer und Jenaer Autoren um 1800 führte zu einer in Auswahl und Bewertung wie Fragestellung und Methode folgenreichen Vernachlässigung unterhaltend-zweckgebundenen Schreibens vor, während und nach der „Kunstperiode" - besonders auch der späten Popularaufklärung. „Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben", wurde so, anders als für Benjamin15, nur ausnahmsweise zum Thema und noch seltener zum Problem. Als Hofmeister, Übersetzer, Autor, Schatullier und Geheimsekretär des Herzogs, Verleger, Industrieller und Politiker entzog Bertuch sich der disziplinaren Departementalisierung des Wissens, wie es die Organisation der deutschen Universität lange Zeit begünstigte. Und ob es ratsam ist, eine germanistische wissenschaftliche Laufbahn mit einer Qualifikationsschrift zu Bertuch zu wagen, steht noch heute dahin. Freilich sind die Dinge in Bewegung geraten. Das Wissen von der Historizität der Autonomieästhetik ist unabweisbar geworden, und mit ihm wächst die Wahrnehmungsschärfe für jene Tendenzen, von denen sie sich absetzte und die sie - als ausgegrenzte - fortdauernd bedrohten. Zu ihm zählte nicht nur das politisch entschieden engagierte Literatentum, mit dem der sich autonom setzende Dichter die historische Voraussetzung der Freisetzung von traditionellen Bindungen teilt (Eberhard Lämmert), sondern gerade auch ein Journalismus vom Schlage des Bertuchschen. Mediale Entwicklungen im 20. Jahrhundert weg vom reinen Wort zu den vielfältigsten Wort-Bild-Mischungen wecken Interesse an deren Vorgeschichte gerade im Zeitalter klassizistischer Reinheitsgebote. Die Einzelwissenschaften fühlen sich immer weniger durch enge Definitionen gebunden (ja stehen im Gegenteil zuweilen in der Gefahr, mit dem Verzicht auf das ihnen je Eigene in Gegenstandskonstitution und Methode die Chance der vielbeschworenen Interdisziplinarität zu vertun). In mentalitätsund diskursgeschichtlicher Perspektive schließlich verlieren ästhetische Rangunterschiede an Gewicht, und es kann den Anschein haben, als sei am ehesten von den vernachlässigten Rändern aus ein neuer Blick auch auf die großen Autoren im Zentrum zu gewinnen. Das gilt zumal für Bertuch und den Kulturraum Weimar-Jena um 1800. Die Frage, die dieser vernachlässigte Weimarer aufwirft, ist jedenfalls Bild geworden in der virtuellen Nachbarschaft von Frauenplan, Residenz-Schloß, Römischem Haus einerseits und dem Anwesen am ehemaligen fürstlichen Baumgarten andererseits. Die hier gesammelten Aufsätze versuchen nicht schon die Antwort zu geben als vielmehr Materialien und Hypothesen für die Beantwortung bereitzustellen. Gerhard R. Kaiser zeichnet im einleitenden Porträt Bertuchs Aufstieg nach, charakterisiert die Begabungen und Dispositionen, die ihn ermöglichten, und stellt Überlegungen dazu an, welch neue Blicke sich von Bertuch aus auf das klassische Weimar ergeben könnten. Die folgenden fünf Beiträge vergegenwärtigen Bertuch in seinen heiklen Beziehungen zum Weimarer literarischen Quartett sowie zu Lenz, der auch an der Ilm Außenseiter blieb. Renate Stauf spricht mit den unterschiedlichen Auslegungen der Idee des Weltbürgertums durch den „Poeten" Wieland und den „Han15
Walter Benjamin: Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. IV, 2, hg. von Tilman Rexroth. Frankfurt a.M. 1972, S. 641-670.
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Einleitung
delsherrn" Bertuch eine Spannung an, die schärfer noch auch die Beziehungen zu den drei anderen großen Autoren prägte. Für Goethe behandelt Heinrich Macher sie unter dem Stichwort „Der Dichter und der ,homo oeconomicus'", Manfred Koch ordnet die Beziehung zu Herder der „allgemeinen Weimarer Konstellation ,Der Kapitalist und die Geistesfürsten'" zu, Bernd Leistner faßt die Schillers zu Bertuch in die Formel „Künstlerstolz vor Unternehmerthronen". Den Beiträgen gemeinsam ist, daß sie sich nicht parteiisch die Sicht der großen Autoren zu eigen machen, sondern die Unterschiede als Chance einer kontrastiven Charakterisierung beider Seiten begreifen. Bertuch rückt dabei tendenziell in den Rang eines Weimarer Repräsentanten von ökonomischen und gesellschaftlichen, weltanschaulichen und politischen Bestrebungen ein, die, durch die populäre Aufklärung befördert, den Aufstieg des deutschen Bürgertums gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit trugen. Bemerkenswerterweise ist es, wie Ulrich Kaufmann nachweist, gerade der in Weimar scheiternde Lenz, der in Bertuch nicht nur den nüchternen Diener des Herzogs, sondern auch einen mit dem Trauerspiel „Elfride" mehr als achtbar produktiven Autor wahrnimmt. Heide Ellert zeigt, nach Seitenblicken auf die praktische wie auch die anregend-vermittelnde und die theoretisch-kritische Arbeit Bertuchs für das Theater, wie sich dieser mit „pantomimischem Ballett", Trauerspiel und lyrischem Monodrama durchaus auf der Höhe seiner Zeit bewegte und schon als Autor jenen Spürsinn für kommende Entwicklungen bewies, der später seinen Rang als Verleger und Industrieller wesentlich bestimmen sollte. Die „Wiegenliederchen" innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts werden von Angelika Pöthe behandelt. Dem Vermittler Bertuch, dessen Horizont von St. Petersburg bis New York gespannt war, gelten die folgenden Beiträge. Dietrich Briesemeister bestimmt seine Bedeutung für die deutsche Aufnahme nicht nur der spanischen, sondern auch schon der portugiesischen Literatur. Jochen Heymann vertieft diesen Überblick mit der Thematisierung der hispanistischen Vermittlungsleistung der von Bertuch mitverantworteten „Allgemeinen Literatur-Zeitung", des wichtigsten deutschen Rezensionsorgans der Zeit.16 Die doppelte Umschrift der französischen „Bibliothèque bleue", zunächst als deutsche Übersetzung (,31aue Bibliothek aller Nationen"), dann als Fassung für Kinder („Blaue Bibliothek für Kinder") wird von Angela Borchert analysiert. Informationen über Bertuchs Funktion im Handel mit Nordamerika liefert der Beitrag von Christian Deuling; mit dem Nachweis der Bedeutung des Landes-Industrie-Comptoirs für die Eindeutschung des von Herder wie Goethe und Novalis geschätzten Benjamin Franklin setzt er zugleich unausdrücklich die tendenziöse Reduzierung der Weimarer Opposition Kaufmann/Industrieller - Dichter/Literat weiterer differenzierender Kritik aus. Thomas Starnes' erster Beitrag lenkt mit der Thematisierung der Zusammenarbeit zwischen Bertuch und dem aus dem Waldeckischen stammenden Philip Mark, der sich als Kaufmann in New York etablieren konnte und später als amerikanischer Konsul für Franken in Bamberg lebte, die Aufmerksamkeit auf ein hochspekulatives Projekt, in dessen Zusammenhang 16
Zusätzlich zu beiden Beiträgen vgl. Ulrike Hönschs in Kürze erscheinende Marburger Dissertation von 1998 über „Wege des Spanienbildes im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Von der Schwarzen Legende zum ,Hesperischen Zaubergarten'".
Einleitung
5
vorübergehend auch die Herausgabe eines „Nord-Amerikanischen Journals für Teutschland" erörtert worden war. Es folgen zwei Beiträge, die sich den im wesentlichen auf den deutschen Sprachraum konzentrierten geselligen und gelehrten Verbindungen Bertuchs und der besonderen Nähe zu Dessau-Wörlitz zuwenden. Jens Riederer zeigt, wie Bertuch als Mitglied aufgeklärter Sozietäten, geselliger Vereine und gelehrter Akademien Geselligkeit und nutzbringende Informationsbeschaffung zu verbinden suchte. Uwe Quilitzsch hebt besonders auf die ungewöhnlich enge und persönliche Beziehung zu Fürst Franz von AnhaltDessau ab; der Kontrast zu der höflich-dienstfertigen Zurückhaltung, die das Verhältnis zu Carl August bestimmt zu haben scheint, verdiente bei künftigen Versuchen, Bertuchs Position im Weimarer Kräftefeld näher zu bestimmen, aufgenommen zu werden. Zum Verleger leiten die folgenden Beiträge über. Mit der Freien Zeichenschule nimmt Wolfgang Braungart eine wesentliche - schon früh hellsichtig konzipierte - Voraussetzung von Bertuchs Weimarer Imperium in den Blick, die er in den größeren Zusammenhang der späteren Kunstgewerbe- und Kunsterziehungsbewegung einordnet. Siegfried Seifert stellt die Grundzüge, die das 1791 begründete Industrie-Comptoir bestimmten, in die Reihe von Bertuchs stets neu ansetzenden konzeptionellen Bemühungen um den deutschen Buchhandel, die ebenfalls bereits 1774 - mit den „Gedancken über den Buchhandel, in Rücksicht auf Weimar" begonnen worden waren. Im Blick vor allem auf das Konzessionsgesuch für das Industrie-Comptoir und die 1793 veröffentlichte Schrift „Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland" vergegenwärtigt Christina Junghanß den strategisch weitblickenden Unternehmer, der den eigenen Vorteil im größeren Zusammmenhang territorialstaatlicher Wirtschaftsförderung, ja des politisch zersplitterten Gesamtdeutschland bedenkt. Andreas Meier bietet schon im Titel seines Bertuch und der „Rationalisierung literarischer Kultur" gewidmeten Beitrags mit dem Stichwort „Kulturindustrieller" einen Begriff an, der die Analyse moderner „Kulturindustrie" durch die Kritische Theorie ins Spiel bringt und damit in anderer Weise als Braungart Perspektiven bis ins 20. Jahrhundert eröffnet. Helga Schultz widmet sich dem Verleger und Literaturpolitiker Bertuch schwerpunktmäßig unter dem Aspekt der Honorare und Gewinne; ihre quantitativen Aussagen geben erstmals genaue Einblicke in die Stetigkeit seiner Vermögensakkumulation und bieten überdies Material, die eine qualitative Inhaltsanalyse einzelner seiner Reihen bzw. Zeitschriften vor Kurzschlüssen bewahren helfen könnte. Bertuchs grundsätzliche Stellungnahmen in der in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts entbrannten Antiqua-Fraktur-Debatte wie auch die eigene abwägende Praxis als Verleger werden von Christina Killius analysiert. Marie-Kristin Hauke sieht Bertuch als wendigen Verleger, der mit dazu beitrug, am Ende des 18. Jahrhunderts moderne Werbeformen durchzusetzen, und mit dem seit 1805 erscheinenden „Typographischen Monatsbericht" des Landes-Industrie-Comptoirs und des Geographischen Instituts die „Urform" heutiger Kundenmagazine schuf. Dem Versuch, in Rudolstadt Restposten mit Hilfe von Lotterien gewinnbringend aufzulösen, und dem späteren Rudolstädter Ableger des Weimarer Unternehmens widmet sich der Beitrag Michael Schütteries. Am Ende der dem Buchhändler bzw. Verleger Bertuch geltenden Beiträge stehen zwei, die weit über Thüringen hinausführen. Bernhard Fischer arbeitet das Zusammenwirken mit Cotta beim Kampf um die Verbesse-
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Einleitung
rung der rechtlichen Stellung des deutschen Buchhandels heraus, der bekanntlich in der Delegierung zum Wiener Kongreß seinen Höhepunkt fand, auf dem dann Carl Bertuch den erkrankten Vater vertreten mußte. Durch den kontrastiven Vergleich mit englischen Verlegern aus der Provinz, ja selbst London rückt Ian Maxted Originalität und Leistung Bertuchs in besonders helles Licht. Die Reihe der Beiträge, die sich mit den von Bertuch verlegten Büchern, Reihenwerken und Zeitschriften bzw. Zeitungen befassen, wird eröffnet durch Uta Kühn-Stillmark, die im Vorgriff auf ihr „Verzeichnis der Bertuchschen Verlagsproduktion 1791-1822" das Verlagsprofil des Landes-Industrie-Comptoirs und des 1804 ausgegliederten Geographischen Instituts bis 1822, das Todesjahr des Gründers, verfolgt. Dem Medium Bild, dessen Bedeutung Bertuch schon früh erkannt hatte, wie sein Werben um Chodowiecki als Illustrator der eigenen „Don Quijote"-Übersetzung bezeugt, gilt der folgende Beitrag. An unterschiedlichsten Beispielen von graphisch durchweg hoher Qualität führt Michael Diers Bertuchs Bilderwelt als „populäre Ikonographie der Aufklärung" vor Augen; zugleich macht er plausibel, daß die Bertuch-Karikatur von Goethes Mitstreiter Johann Heinrich Meyer dem Kritisierten den Respekt keineswegs versagt. Thomas C. Starnes' zweiter Beitrag, zu Bertuch und dem „Teutschen Merkur", kann zugleich ergänzend zu dem Renate Staufs über Wieland und Bertuch gelesen werden. Peter Brüne vergegenwärtigt mit Friedrich Schulz einen der vorübergehend wichtigsten Korrespondenten Bertuchs, der viel für den „Teutschen Merkur" bzw. das „Journal des Luxus und der Moden" schrieb und mit seinen frühen Berichten für die deutsche Wahrnehmung der Französischen Revolution von 1789 Bedeutung erlangte. Zwei weitere Beiträge behandeln mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten das „Journal des Luxus und der Moden". Doris Kühles, die an einer detaillierten inhaltsanalytischen Erschließung arbeitet, gibt einen Überblick über die Verantwortlichen, Struktur und thematisches Profil. Angelika Emmrich und Susanne Schroeder belegen den außerordentlichen Quellenwert des Modejournals am Beispiel von Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen, deren Bildwiedergaben für die heutige Rekonstruktion historischer Weimarer Interieurs eine unersetzliche Quelle darstellt. Bertuch und die „Allgemeine Literatur-Zeitung", deren Anteil an der Vermittlung hispanistischen Wissens nach Deutschland Jochen Heymann in den Mittelpunkt rückt, werden von Margarete Mildenberger aus der Perspektive des Briefwechsels mit Christian Gottfried Schütz beleuchtet. Uwe Plötner charakterisiert, erstmals mit korrekter Datierung, das „Bilderbuch für Kinder", das Diers vielfach als Beleg der hohen Qualität von Bertuchs populärem Bildprogramm heranzieht. In seinem zweiten Beitrag interpretiert Gerhard R. Kaiser die aus dem Modejournal entwickelte Metropolenzeitschrift „London und Paris", die bis zum Einsetzen französischer Pressionen im Anhang vorzugsweise englische politische Karikaturen brachte, als ein auf spezifisch deutsche Orientierungsbedürfnisse in der Zeit von Bonapartes Aufstieg zugeschnittenes Periodikum. Zwei weitere Beiträge gelten der späteren politischen Publizistik, zu der „London und Paris" ein bislang übersehenes Zwischenglied bildete. Werner Greiling, der beste Kenner des thüringischen Zeitschriften- und Zeitungswesens am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, thematisiert Bertuchs einschlägiges Engagement, teilweise in Zusammenarbeit mit Luden, seit dem Wiener Kongreß. Brunhild Neuland greift das „Weimarer Oppositionsblatt" als bedeutende frühliberale Tageszeitung
Einleitung
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heraus, die noch zu Bertuchs Lebzeiten der Restauration zum Opfer fiel; mit der Herausstellung antijüdischer Tendenzen, wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei den deutschen Buchhändlern verbreitet waren17, beleuchtet sie auch eine dunkle Seite Bertuchs bzw. seines Umfeldes. Zwei Beiträge widmen sich Bertuch und der Gartenkunst. Ulrich Müller stellt Bertuch in den Zusammenhang der zeitgenössischen Gartentheorien von Hirschfeld, Chambers, und vor allem von Repton, dessen frühestes Werk, die „Sketches and Hints on Landscape Gardening" von 1794, bereits zwei Jahre später im Modejournal besprochen wurde. Müllers Schlußfolgerung, im Zweifelsfall habe Bertuch den „praktischen Belangen der Gartenkunst" den Vorrang vor einer „konsistenten theoretischen Position" gegeben, trifft sich mit der Einsicht in seinen pragmatischen Grundzug, wie ihn mehrere Beiträge auf der Grundlage unterschiedlichster Quellen herausstellen. Angelika Schneider arbeitet Bertuchs Rolle bei der Umgestaltung des Ilmparks heraus, skizziert ihn als Autor, Herausgeber und Verleger von Gartenliteratur wie insbesondere auch als Förderer der Pomologie. Den Band beschließen drei Beiträge zu Bertuch und den Naturwissenschaften. Jutta Heinz stellt die Schrift „Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen" von 1799 ins Spannungsfeld zwischen traditioneller „Naturgeschichte" und modern verstandener Wissenschaft, aus deren Sicht das späte popularaufklärerische Programm einer Verbreitung naturkundlichen Wissens Episode bleiben mußte. Gisela Nickel stellt eine bislang unbekannte Wolkenbestimmungstafel Goethes vor, die im Zusammenhang der südamerikanischen Reise Alexander von Humboldts und des durch sie angeregten Goetheschen Blattes „Höhen der alten und neuen Welt bildlich verglichen" steht, das Bertuch mehrfach veröffentlicht hat. Die Bedeutung von Bertuchs geographischgeologischen Publikationen, speziell im Bereich der Kartographie, wird von Walter Steiner hervorgehoben. Mit der Fülle und dem Aspektreichtum dieser Beiträge darf der Band, wie wir hoffen, beanspruchen, das Wissen um Bertuch vielfach erweitert und damit ein stärker facettiertes Bild dieses bedeutenden Weimarers gegeben zu haben. Auch das Schließen weiterer „Forschungslücken" - die im Bereich der Naturwissenschaften sind, wie Steiner bemerkt, besonders schmerzlich - würde die Frage nach der Bedeutung Bertuchs in der Konstellation „Weimar 1800" nicht beantworten, sondern vermutlich nur weitere Elemente für die Beantwortung liefern. In welcher Hinsicht Bertuch nicht als Material, sondern als Gegenstand einer ins Zentrum des historischen Weimar zielenden Frage werden könnte, suchen die folgenden Überlegungen vorläufig zu umreißen. Im Vorwort zu „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit" vergleicht Kracauer traditionelle Biographien mit photographischen Porträts; sie ließen „die in ihnen porträtierte Gestalt" vor einem „verschwimmenden Hintergrund" auftreten. Gegen solche „Privatbiographien" setzte er den Anspruch einer „Gesellschaftsbiographie", die „mit der Figur" die Gesellschaft, die sie bewegte und von
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Freundliche Auskunft von Christine Haug.
8
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der sie bewegt wurde, „erstehen" läßt. 18 Sofern man „Gesellschaftsbiographie" nicht eng, sondern unter Einschluß der materiellen und ideellen Kräfte versteht, die eine Gesellschaft prägen wie sie ihrerseits von ihr geprägt werden, bietet sich das Modell auch für Bertuch an. Denn so wenig repräsentativ Offenbach im Sinne typischen Durchschnitts für das Zweite Kaiserreich Napoleons III. war, so wenig war Bertuch es für das Weimar Goethes und Carl Augusts - und so charakteristisch jener gerade im Exzeptionellen seiner Leistung, so charakteristisch dieser. Das Bezeichnend-Bedeutende Bertuchs zeigt sich in der je unterschiedlichen Kongruenz bzw. Inkongruenz seiner wesentlichen Bestrebungen im Verhältnis zu denen Carl Augusts bzw. Wielands, Goethes, Herders und Schillers, wohl vor allem in folgenden drei Hinsichten: 1. Bertuch stammte aus Weimar. Ob sein Entschluß, 1774 die Hauslehrerstelle im Altenburgischen aufzugeben und nach Weimar zu ziehen, eher der Anhänglichkeit an die Heimatstadt geschuldet war, dem Kalkül, mit Hilfe Wielands arrivieren zu können, oder womöglich der stark affektisch geprägten Absicht, sich, den früh Verwaisten, gerade in der Stadt, in der die Eltern gelebt hatten, durchzusetzen, muß Vermutung bleiben. Tatsächlich traf er seine Entscheidung im günstigen Augenblick vor dem Regierungsantritt Carl Augusts, und im nachhinein stellte sie sich als glückliche Weichenstellung für sein gesamtes weiteres Leben heraus. Wichtiger aber ist etwas anderes: Die frühen Entwürfe für einen Aufschwung des Weimarer Buchhandels und Verlagswesens wie auch das Konzept einer Zeichenschule zeigen Bertuch als konzeptionellen, langfristigen Planer, der sein Handeln an die konkreten Möglichkeiten Sachsen-Weimar-Eisenachs bindet, dieses jedoch im Zusammenhang der angrenzenden Staaten und des als politische Einheit weitgehend inexistenten Deutschland sieht. Mit der Entscheidung für Weimar hat er, ungeachtet persönlicher Interessen, die in sie eingingen, teil an jener wesentlich durch Moser beförderten Wende im Selbstverständnis der Deutschen, wonach die territoriale Zersplitterung nicht mehr einseitig als Defizit im Vergleich zu den geeinten westeuropäischen Nationalstaaten Frankreich und England begriffen wurde, sondern auch als Chance zu produktiver Vielfalt und als notwendiger Ausgangspunkt aller Bemühungen um eine Hebung der deutschen Verhältnisse. Darin berührt er sich mit praktischen Anstrengungen wie grundsätzlichen Überlegungen des aufgeklärt-absolutistischen Regenten Carl August wie auch Goethes, der Moser in „Dichtung und Wahrheit", das mit der Entscheidung zugunsten Weimars schließt, eine Gedenktafel errichtet hatte: „Für Goethe hatte Moser durch seine Arbeit als verantwortlicher Staatsmann und durch sein Werk bewiesen, daß bei einer nüchternen, realistischen Einschätzung der Gegebenheiten gerade der kleine Staat nicht Krankheitssymptom für die Zerstückelung und nationale Schwäche des Reiches war, sondern ,höchst erwünscht zu Ausbreitung der Kultur im einzelnen, nach den Bedürfnissen, welche aus der Lage und Beschaffenheit der verschiedenen Provinzen hervorgehen'." In Weimar „konnte er [...] darauf hoffen, ähnlich wie Moser in Osnabrück, in lebendig-anschaulichen Verhältnissen zu wirken, am 18
Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Mit 27 Abbildungen. Frankfurt a.M. 1976 (Amsterdam, 1. Aufl. 1937), S. 9 (Schriften, hg. von Bernd Witte, Bd. 8).
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Bestehenden anknüpfend eine Verbesserung der sozialen Ordnung zu erreichen, ohne dabei die Ergebnisse und Folgen seiner Entscheidungen und Handlungen oder die persönlich davon Betroffenen aus dem Blick zu verlieren." 19 Wie Bertuch Sachsen-Weimar-Eisenach, die größeren deutschen Staaten bzw. einzelne deutsche Staatenbünde und Deutschland insgesamt in wechselnden geschichtlichen Konstellationen jeweils ins Verhältnis setzte: dies dem Vergleich mit Carl August und Goethe (wie auch den anderen großen Dichtern) auszusetzen, verspricht Einsicht, weit über Bertuch hinaus, in die Dynamik der in kultureller Hinsicht weltgeschichtlichen Größe „Weimar". 2. Bertuch hat im Verlauf seines 75jährigen Lebens, teilweise parallel nebeneinander, die verschiedensten beruflichen und gesellschaftlichen Rollen gespielt: zunächst als Hofmeister, dann als Autor, Übersetzer und Zeitschriftenherausgeber, als Staatsdiener, als Buchhändler, Verleger, Industrieller, schließlich als Politiker und politischer Publizist. Bei seinen Entscheidungen, mit denen er sich konsequent eine auch wirtschaftlich unabhängige Stellung aufbaute, werden Zufall und Gunst der Umstände eine Rolle gespielt haben, und es wäre verfehlt, vom erreichten Lebensziel aus alle Optionen im Sinne eines durchkalkulierten Lebensplanes zu deuten. Gleichwohl ist zweierlei nicht zu übersehen. Bertuch probiert, erstens, eine Reihe von beruflich-existentiellen Lebensentwürfen aus, denen im Hinblick auf die Möglichkeiten, die der unbemittelten bürgerlichen Intelligenz seiner Zeit zur Verfügung standen, grundsätzliche Bedeutung zukommt: Hofmeister, Literat, Fürstendiener. Und an der Abfolge seiner Entscheidungen ist, zweitens, eine Konsequenz ablesbar, die sich vereinfacht so darstellt: Er nutzt seine literarische Begabung, um sich einem stark von ästhetischen Interessen geprägten Hof zu empfehlen; während des Staatsdienstes gewinnt er Einblick in den Mechanismus der Macht und schafft zugleich, auch mit der parallel laufenden publizistischen Verwertung seiner ästhetischen Kompetenz, die Voraussetzung wirtschaftlicher Unabhängigkeit; sobald er diese erreicht hat bzw. in Aussicht steht, als Betreiber eines größeren Unternehmens, der Verpflichtungen am Hof ledig, weitere ökonomische und gesellschaftliche Unabhängigkeit zu gewinnen, kündigt er die Stelle als Schatullier und Geheimsekretär Carl Augusts; schließlich wird ihm die erreichte ökonomische, gesellschaftliche und journalistische Macht zum Sprungbrett einer vom frühen Liberalismus geprägten politischen bzw. politisch einschlägigen publizistischen Tätigkeit. Bertuchs Biographie ist, unter den Bedingungen Sachsen-Weimar-Eisenachs zumal, exzeptionell. Eine typisch bürgerliche Biographie ist sie gleichwohl, nicht nur wegen einiger der besonderen Tugenden, die sie ermöglichten, sondern weil sie im Zeitraffer eines Lebens charakteristische Etappen der Emanzipationsgeschichte einer ganzen Schicht zusammenfaßt. Im Weimar Carl Augusts und der ihm unterschiedlich eng verbundenen großen Autoren steht Bertuch unübersehbar, ja in mancher Hinsicht nicht zu umgehen, für das Wirtschaftsbürgertum und gewinnt damit die Dimension der - im Bereich der Kulturwarenproduktion! - anschaubaren Zukunft; ja in seinen späteren Jahren, die sich allerdings nur noch mit denen 19
Renate Stauf: Justus Mosers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe. Tübingen 1991, S. 364f. (Studien zur deutschen Literatur; 114) (Goethe-Zitat: Sämtliche Werke, hg. von Ernst Beutler. Zürich, 2. Aufl. 1961-1966, Bd. 10, S. 703).
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Carl Augusts und Goethes, nicht mehr mit denen Herders, Schillers und Wielands decken, meldet er schon nachdrücklich den Anspruch auf Teilhabe dieses Bürgertums an der politischen Gestaltung des Landes an. So zeichnet sich die Perspektive ab, die vielfältigen idiosynkratischen Reaktionen der Großen auf Bertuch wie umgekehrt seine ebenso bezeichnende Zurückhaltung ihnen gegenüber nicht nur persönlich-anekdotisch, sondern als Symptome einer Epochenwende zu lesen: Wie nehmen sich ihre Vorstellungen von Bürgertum und Wirtschaft - die Hochschätzung Franklins durch Goethe und Herder etwa - im Verhältnis zu ihrer Einschätzung Bertuchs aus? In welchem Maße eignet Bertuchs Schweigen, Zurücktreten oder höflichem Ausweichen der Charakter einer über alle persönlichen Empfindlichkeiten hinausgehenden Kritik an ihren vorrangig als ästhetisch wahrgenommenen Existenzen? Werden von beiden Seiten - falls ja, wie - politische, gesellschaftliche, literarische, wissenschaftliche, ökonomische und publizistische Macht als einander ausschließende oder arbeitsteilig aufeinander bezogene Größen begriffen? 3. Die deutsche Aufklärung war stark anglophil geprägt, und bei aller Gegnerschaft zu politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hegemonialansprüchen nahm sie auch aus Frankreich wichtige, ja entscheidende Anregungen auf. Die Französische Revolution und die auf sie antwortende idealistische Philosophie bzw. klassisch-romantische Literatur brachten eine Wende. In Reaktion auf die terreur verstärkte sich in den deutschen kulturellen Eliten die bereits vorher faßbare Vorstellung von Deutschland als der in Absetzung gegen die französische Staatsnation zu sehenden Kulturnation schlechthin. In diesem Prozeß geht man mehr und mehr auch auf England zu Distanz, das zwar dem revolutionären wie dem napoleonischen Frankreich den entscheidenden Widerstand entgegensetzt, doch als ökonomisches Land par excellence in anderer Weise als Antithese zur deutschen Kulturnation begriffen wurde. An der angedeuteten Entwicklung, in der das gewachsene Selbstbewußtsein zumal der deutschen literarischen Elite ins fragwürdige Konstrukt der deutschen Kulturnation umschlägt, haben die großen Weimarer Autoren unterschiedlichen Anteil, und vor allem Goethe meldet sich auch kritisch, einschränkend und differenzierend zu Wort. Bertuch, der in Weimar und Jena die Blüte der zeitgenössischen deutschen Literatur und Philosophie hautnah erlebt, bleibt auf Abstand und bezieht unausdrücklich eine Gegenposition. Gleichsam an allen großen philosophischen und literarischen deutschen Bestrebungen um 1800 vorbei - die Berührung mit dem Klassizismus bleibt aufs Geschmackvolle begrenzt und reicht nicht in die Tiefe des Humanitätsgedankens - verlegen sich das „Journal des Luxus und der Moden" wie auch „London und Paris" darauf, die deutsche Leserschaft über aktuelle Politik, technische Neuerungen und ökonomische Strategien, über das Verkehrswesen, über das weite Gebiet der Alltagsästhetik, nicht zuletzt auch über die Entwicklung der publizistischen Medien und des vorrangig der Zerstreuung dienenden großstädtischen Theaters zu unterrichten. Aus der Sicht der großen Zeitgenossen schien Bertuch, wie ihren Ausfällen gegen die „Journale" zu entnehmen, von Profitinteresse geleitet, lediglich Unterhaltungsbedürfnisse zu befriedigen. Allenfalls mochte man in ihm einen bornierten späten Popularaufklärer sehen, auf den man leider nicht so wie auf Nicolai einschlagen konnte, galt er doch als ein vermögender Mann und wichtiger Weimarer Arbeitgeber, der um die Ecke gera-
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dezu herrschaftlich wohnte und dem man auch in der besten Gesellschaft begegnen konnte. Bertuchs Selbstverständnis war, wie seine ernstzunehmenden programmatischen Äußerungen belegen, mit Sicherheit ein anderes. Gemeinnützige Wissensvermittlung und persönlichen Profit begriff er nicht als Widerspruch. Mochte er an der traditionellen „Naturgeschichte" festhalten, so bereiteten doch gerade sein Industrie-Comptoir und das Geographische Institut modern verstandener medizinischer, geographischer und geologischer Wissenschaft in Deutschland verlegerisch mit den Weg. Bedeutender womöglich noch für das, was er in einem grundsätzlichen Sinn in Weimar um 1800 bedeutete, war seine Tätigkeit als Vermittller der modernen - zumal metropolitanen - Lebenswelt Westeuropas. Nicht nur in seiner spätaufklärerischen Prägung und der nüchternen Effizienz seines publizistisch-kaufmännischen Handelns, sondern im Inhaltlichen des von ihm beförderten Wissens- und Kulturtransfers darf man ihn als einen Statthalter des prosaischen Geistes im poetisch-idealistischen Weimar-Jena der Klassik und Frühromantik bezeichnen. Für seine großen Zeitgenossen war er damit in einem intellektuellen Sinn, ja fast schon moralisch gerichtet. Indem er das phänomenal gegenwärtig hielt, was sie - wo nicht auszugrenzen oder zu verdrängen - urbildlich zu durchdringen bzw. poetisch-potenzierend aufzuheben suchten oder in idealistisch-dialektischer Vermittlung zu verflüchtigen drohten, war er aber nicht nur ein anscheinend kritikloser Nachzügler der Aufklärung, sondern zugleich Vorläufer solcher Tendenzen des 19. Jahrhunderts, die Kunstperiode wie idealistische Philosophie schon bald in die Krise trieben. In „London und Paris" ist Mercier eine zentrale Referenz. Stierle hat gezeigt, daß es in Frankreich ungeachtet großer qualitativer Sprünge eine Kontinuität vom „Tableau de Paris" bis zur „Comédie humaine" und den „Tableaux parisiens" der „Fleurs du Mal" gab.20 Wenn ihr in Deutschland zwar ästhetisch, doch - trotz Heine und Börne - kaum thematisch Gleichwertiges gegenübersteht, so ist dies wesentlich der Nachwirkung jener idealistischen Stigmatisierung des „bloß" Tatsächlichen der modernen Lebenswelt geschuldet, die Bertuch im Zentrum des klassischen Weimar selbst und in nächster Nähe des frühromantisch-idealistischen Jena mit provozierender Selbstverständlichkeit gegenwärtig gehalten hatte. Die Beiträge dieses Bandes sind aus einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Tagung hervorgegangen, die Siegfried Seifert (Stiftung Weimarer Klassik), Walter Steiner (Stadtmuseum Weimar/Bauhaus-Universität) und der Unterzeichnete (Friedrich-Schiller-Universität Jena) unter dem Titel „Friedrich Justin Bertuch (1747-1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar" vom 28. September bis zum 1. Oktober 1997 anläßlich von Bertuchs 250. Geburtstag und 175. Todestag organisiert hatten. Zum selben Anlaß veranstaltete das Goethe- und Schiller-Archiv eine Ausstellung, „Friedrich Justin Bertuch - Aus den Schätzen des Weimarer Bertuch-Nachlasses". Walter Steiner brachte einen Nachdruck der ersten geologischen Karte Mitteleuropas heraus, die als Ergebnis enger Zusammenarbeit von Christian Keferstein, Goethe und Bertuchs Schwiegersohn Froriep 1821 im Geographischen Institut 20
Karlheinz Stierle: Baudelaires „Tableaux parisiens" und die Tradition des .Tableau de Paris', in: Poetica 6 (1974), S. 285-322; ders.: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt. München und Wien 1993.
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erschienen war.21 Christina Junghanß veröffentlichte Bertuchs Tagebuchaufzeichnungen, die von seiner Flucht aus Weimar während der Wirren der Schlacht von Jena und Auerstedt im Jahre 1806 handeln.22 Siegfried Seifert brachte einen originalgetreuen Neudruck des Bertuchschen Aufsatzes „Vorschlag das ModeWort, Aufklärung, abzuschaffen" heraus.23 Die Pavillon-Presse Weimar erinnerte in einer kleinen Ausstellung am Goetheplatz an Bertuchs Kupferstecher. Im Pavillon des Blumengartens im Schloßpark Belvedere stellten Angelika Schneider und Dorothee Ahrendt Bertuch als „praktischen Kenner und Liebhaber der Schönen Gartenkunst" vor. Zusätzlich zu denen der Tagung wurden einige Beiträge aufgenommen, die u.a. mit Bertuchs Tätigkeit als Gärtner, Parkgestalter und Vermittler zeitgenössischer Gartentheorien wichtige und bislang unterbelichtete Bereiche thematisieren. Der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen gebührt Dank für einen Druckkostenzuschuß, der die Wiedergabe des bei dem Thema „Bertuch" unverzichtbaren Bildmaterials ermöglichte. Frau Birgitta Zeller sei gedankt für die schon bald nach Tagungsende geäußerte Bereitschaft, die Ergebnisse im Max Niemeyer Verlag zu veröffentlichen. Im Rahmen des zum 1. Juli 1998 in Jena eingerichteten Sonderforschungsbereiches „Ereignis Weimar - Jena. Kultur um 1800" leiten die Herausgeber ein der weiteren Erforschung Bertuchs gewidmetes Teilprojekt. Auch in anderen Teilprojekten, so in dem des Wirtschaftshistorikers Rolf Walter, wird der Weimarer Unternehmer in den unterschiedlichsten Hinsichten zum Thema. Jena, 1. April 1999
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Walter Steiner (Hg.): Die erste geologische Karte Mitteleuropas wurde im Jahre 1821 im Bertuch'sehen Verlag des Geographischen Instituts in Weimar gedruckt. Stadtmuseum Weimar im Bertuchhaus 1997. Friedrich Justin Bertuch: Meine Hegira. Tagebuchaufzeichnungen von 1806. Im Auftrag des Stadtmuseums Weimar herausgegeben und erläutert von Christina Junghanß (Weimarer Schriften; 54). Weimar 1997. Siegfried Seifert (Hg.): Vorschlag das Mode-Wort, Aufklärung, abzuschaffen. Ein Aufsatz von Friedrich Justin Bertuch. Neu gedruckt anläßlich des 250. Geburtstages Bertuchs am 30. September 1997. Mit einem Nachwort von Siegfried Seifert. Weimar 1997.
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Die zeitgenössischen Besucher um 1800 haben Weimar sehr unterschiedlich imaginiert, wahrgenommen und dargestellt. Mme de Staël war 1803 schon kurz nach der Ankunft am Hof empfangen worden und hatte eine Woche später mit Schiller bei Goethe gespeist. In „De l'Allemagne" spricht sie, die große Salondame, die Bonaparte aus dem geliebten Paris hatte verbannen lassen, fast ausschließlich von der herzoglichen Familie und den vier großen Autoren der Stadt, die für sie metonymisch die kulturelle Produktivität und die angebliche Liberalität der deutschen protestantischen Provinz vertreten.2 Anders der ehemalige Hallenser Dozent und spätere preußische Söldner Friedrich Christian Laukhard. Laukhard erwähnt zwar in dem 1792 erschienenen zweiten Teil seiner „Leben und Schicksale" den Herzog, „dessen Residenzstadt mit den hellsten Köpfen Deutschlands" geschmückt sei, wie auch namentlich den „göttlichen Herder", doch setzt er einen ganz anderen Akzent als Mme de Staël, indem er kritisch auf die „Schul- und Kirchenlehrer" im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach deutet, die „so düster" leuchteten, „daß sie des Putzens von allen Seiten selbst" bedürften. Weimar besitze, pointiert er weiter, „seine Gelehte [!] mehr fürs Ausland, als für sich".3 Von dem Schriftsteller, Verleger und Industriellen Friedrich Justin Bertuch, einem der wohlhabendsten, einflußreichsten und auch in kultureller Hinsicht bedeutendsten Bürger Weimars, ist weder im panoramatischen Tableau der Mme de Staël noch in der pikaresken Autobiographie Laukhards die Rede, wohl aber im dritten Teil der 1796 anonym erschienenen „Reise durch Thüringen, den Ober- und niederrheinischen Kreis nebst Anmerkungen über Staatsverfassungen, öffentliche Anstalten, Gewerbe, Cultur und Sitten". Wolfing, ihr Autor, nennt Bertuch in einem Atemzug mit dem Herzog, mit Goethe, mit Herder, mit Wieland und würde schwerlich Schiller übergangen haben, wenn dieser nicht erst 1799 nach Weimar umgezogen wäre. Er rühmt Weimar als die Stadt, „in welcher der Fürst ein schöner Geist und Mäcen aller guten Köpfe, der Geheime Rath ein Genie, der Oberbramin des ganzen Priesterthums Sänger in dem Geiste Ossians, Deutschlands Horaz und Lucian, der Lehrer und Liebling, und ein Belletrist, der Schatullenaufseher des Regenten ist". Und noch in anderem Zusammenhang stellt er Bertuch heraus: „das Einzige, was hier von Industrie existirt", 1
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Öffentlicher Abendvortrag im Rahmen des Bertuch-Colloquiums. Der Duktus der Rede wurde beibehalten. Vgl. Gerhard R. Kaiser: Mme de Staël als Dolmetscherin Weimars nach Europa, in: Wirkendes Wort 4 9 (1999), H. 2 (August), S. 182-206. F.C. Laukhards, vorzeitigen Magisters der Philosophie, und jetzt Musketiers unter dem von Thaddenschen Regiment zu Halle, Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben, und zur Warnung für Eltern und studierende Jünglinge herausgegeben. Ein Beitrag zur Charakteristik der Universitäten in Deutschland. Zweiter Theil. Halle 1792, S. 3 1 5 - 3 1 7 (Reprint: Leben und Schicksale. Fünf Theile in drei Bänden, hg. von Hans-Werner Engels und Andreas Harms. Frankfurt a.M. 1987). Vgl. Gerhard R. Kaiser: Friedrich Christian Laukhard. Porträt eines Verlierers, in: Gerhard R. Kaiser, Gerhard Kurz (Hg.): Literarisches Leben in Oberhessen. Gießen 1993, S. 73-103.
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sei „das Industrie-Comtoir [!] des Herrn Bertuch"; dieser erst habe „den Namen Industrie seit einiger Zeit zu Weimar in Gang gebracht".4 Wenn Bertuch von den auswärtigen Besuchern nur ausnahmsweise beachtet oder einer Erwähnung für wert befunden wurde,5 so konnte niemand, der in Weimar oder seiner Umgebung wohnte, ihn übersehen. Wieland förderte ihn, sah dann aber seinen finanziellen Erfolg nicht ohne Empfindlichkeit. Schiller äußerte sich abschätzig, doch klingt in seinen Worten auch bewundernder Neid auf den erfolgreichen Geschäftsmann an, den er in Geldnöten schon einmal um Kredit anging. Goethe entzog ihm das früh angebotene Du, doch als er dem Kanzler Müller für die Grabrede im Namen der Loge Anna Amalia Formulierungshilfe leistete,6 verhehlte er nicht seinen Respekt vor der Lebensleistung des Verstorbenen. Am schlechtesten gestaltete sich mit der Zeit das Verhältnis zu Herder, dem er bei den ersten Schritten im Spanischen beigestanden hatte, der ihm aber unter anderem die Veröffentlichung von Kants Besprechung der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung", 1785, nicht verziehen haben dürfte. Ein ganz anderes Bertuch-Bild als das von Ablehnung und Ambivalenz bestimmte der vier großen Weimarer Autoren tritt aus den Urteilen derer hervor, die ihm als Angestellte beruflich verbunden waren oder auf gleichem Fuß freundschaftlich begegneten. Adam Henß, der als Buchbindermeister im Landes-Industrie-Comptoir gearbeitet hatte, nennt ihn in seinen „Wanderungen und Lebensansichten" von 1845 einen „Ehrenmann", dem er für seine bürgerliche Existenz „nicht mehr als Alles zu verdanken" habe. Bertuch sei, schreibt er dankbar-respektvoll, „gleichsam ein Patriarch unter den Arbeitern" seiner Unternehmen gewesen: „er kannte die persönlichen Verhältnisse eines Jeden, er half, rieth und ermahnte, ohne wehe zu thun, wo er Eins oder das Andere für angewendet hielt; er hatte dabey eine Kenntniß der geringsten und wichtigsten Dinge, die oft bis in das kleinste Detail ging. Auch ich war 4
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Reise durch Thüringen, den Ober- und Niederrheinischen Kreis, nebst Bemerkungen über Staatsverfassung, öffentliche Anstalten, Gewerbe, Cultur und Sitten, Dritter Theil. Dresden und Leipzig 1796, S. 523,527. Vgl. noch die „Briefe eines ehrlichen Mannes bey einem wiederholten Aufenthalt in Weimar": „Bertuch ist ein äusserst thätiger Mann, und seinen spekulativen rastlosen Geist bewundere ich. An ihm kann man sehen, was Thätigkeit im menschlichen Leben vermag. Ich muß gestehen, daß er mir äusserst gefallen hat, durch sein gesundes Urtheil, seine Offenheit und Unbefangenheit. Den Menschen im thätigen Leben wird doch die Galle nicht so oft und scharf erregt, als den Gelehrten, besonders den Philologen. Er hat sich mehr und weniger vom Hofe entfernt, und lebt ganz seinen Geschäften, die ihm bey seinen litterarischen Kenntnissen um so angenehmer werden müssen. Sein Industriecomtoir ist merkwürdig zu sehen, und verdient alle Aufmerksamkeit. Es enthält Bücher, Landkarten, Kupferstiche, Gemälde und überhaupt die neuesten Sachen der Mode und des Geschmaks. Bertuchs Verdienste um die Spanische Litteratur in Deutschland sind bekannt. Er ist von mittlerer Statur, hat kein sehr auffallendes Gesicht, aber Munterkeit und Lebhaftigkeit in Gesellschaft. Er ist von Geburt ein Weimaraner, war Candidat der Theologie, Hofmeister bey Wielands Kindern, Sekretair und Chatullier beym Herzog und Legationsrath." (Unveränderte Neuausgabe nach dem Erstdruck von 1800, hg. von Winfried Arenhövel, Weimar o.J. [1975], S. 96; mutmaßlicher Verfasser ist Johann Traugott Leberecht Danz. Vgl. hierzu: Renate Grumach: Fahndung nach einem ehrlichen Mann, in: Sammeln und Sichten. Festschrift für Oscar Fambach zum 80. Geburtstag. Hg. von Joachim Krause u.a. Bonn 1982, S. 227-233. Den Hinweis verdanke ich Siegfried Seifert.) Vgl. Tagebücher, 5. April 1822: „Canzler von Müller, die Grabrede für Legationsrath Bertuch vortragend und berathend." (WA, III, 8, S. 182f.).
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an Arbeit gewöhnt in Dingen, wozu ich die Fähigkeit hatte, aber eben darum konnte ich oft kaum begreifen, wo er die Zeit hernahm zu den mannichfachen durch ihn besorgten Geschäften."7 Und Hufeland, der von 1783 bis 1793 in Weimar praktizierte, setzt in seiner Autobiographie neben Bode, dem Freund Lessings und Mitbegründer des Illuminatenordens, der der Gräfin von Bernstorff als Verwalter nach Weimar gefolgt war8, Bertuch „ein Dank- und Ehrendenkmal": „Er meinte es redlich und gut mit mir und wirkte durch seine mannigfaltigen Kenntnisse, ausgebreiteten Bekanntschaften, Mitteilung literarischer Erfahrungen und Neuigkeiten und unermüdete Regsamkeit und literarisch-technische Tätigkeit auch aufregend auf mich, und Aufregung von außen und nach außen bedurfte mein Geist."9 Wieder ganz anders - ich führe einen letzten Beleg an - sieht das Bild Bertuchs in dem von Rebmann herausgegebenen „Obscuranten-Almanach auf das Jahr 1801" aus. Unter dem Titel „Fragmente über die Bertuchs-Indüstrie zu Weimar" schreibt ein anonymer Sympathisant der Jakobiner, möglicherweise Rebmann selber, der Weimar 1787 bis 1789 an der Jenenser Peripherie gestreift hatte: „Es ist dem Hn. Bertuch nie um die bloße Gunst des Publikums zu thun gewesen, sondern nur um dessen - Geld. Um die Literatur hat er die Verdienste eines Kaufmanns, eben wie die Weltkultur nur gelegentlich durch die Kommercianten befördert wird und ward; der Kaufmann, wenn er gerecht ist, wird sich keinen andern Nutzen zuschreiben, kein andres Verdienst dabey anmaßen. Hrn. Bertuchs practica est multiplex; die Wege galten ihm gleich, wenn sie nur zum Gewinnst führten; bey allen Speculationen sah er immer nur auf sich selbst, und wie man ihn nun an der Spitze verschiedner solcher Unternehmungen fand, so gerieth er unter die Gelehrten, denn man konnte nicht glauben, daß ein andrer denn ein solcher, Herausgeber und Besorger von dergleichen Varietés [!] seyn könne."10 Bertuch wurde 1747, vor 250 Jahren, geboren und starb 1822, vor 175 Jahren - 1997 ist ein doppeltes Gedenkjahr. Vorrangig sind es allerdings nicht Pflichten der Pietät und auch nicht der Wunsch, der Logik der sogenannten Forschungslücke folgend ein Mosaiksteinchen zum illusorischen Ziel einer kulturgeschichtlichen Totale beizusteuern, die das neu erwachte Interesse an ihm bestimmen. Leitend ist dabei vielmehr die Vorstellung, daß es mit einer Thematisierung Bertuchs, die sich - statt die Sicht der Weimarer Großen oder gar die des zuletzt zitierten Anonymus zu privilegieren - den ihnen widersprechenden historischen Beurteilungen und vor allem ihren eigenen Widersprüchen öffnet, gelingen könnte, einen neuen Blick auf das Weimar um 1800 zu werfen und damit eine wesentliche Voraussetzung noch der gegenwärtigen Deutschen besser zu verste7
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Wanderungen und Lebensansichten des Buchbinder-Meisters Adam Henß, Stadtältesten und Landtags-Abgeordneten der Stadt Weimar, Jena 1845, S. 260. Vgl. Eberhard Haufe: Ein Aufklärer in Weimar. Lessings Freund Johann Joachim Christoph Bode. Ein biographischer Versuch, in: Wolfenbiitteler Beiträge. Aus den Schätzen der Herzog August Bibliothek, hg. von Paul Raabe, Bd. 9, Wiesbaden 1994, S. 169-195. Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Neu herausgegeben und eingeleitet von Walter von Brunn. Stuttgart 1937, S. 67. Obscuranten-Almanach auf das Jahr 1801, Paris bei Gerard Fuchs Nationalbuchhändler (fingiert, tatsächlich erschienen in der Verlagsgesellschaft von Gottfried Dietrich Leberecht Vollmer in Altona/Mainz; den Hinweis verdanke ich Werner Greiling), S. 155f.
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hen. Dieser Aufgabe möchte ich mich heute, bewußt vorläufig, in drei Schritten unterziehen, für die ich um Ihre Aufmerksamkeit bitte: 1. - narrativ - Bertuchs Aufstieg vom mittellosen Vollwaisen zu einem der führenden Männer Weimars, 2. - charakterisierend und beispielhaft belegend - seine Bedingungen und Gründe, 3. - abstrahierend - seine Bedeutung für ein möglichst komplexes Verständnis Weimars um 1800.
I Bertuch wurde am 30. September 1747 in Weimar geboren.11 Die Familie des Vaters, eines Garnisonsarztes in herzoglichen Diensten, ist seit dem 15. Jahrhundert in Thüringen nachgewiesen. Auch die Vorfahren mütterlicherseits stammen aus Thüringen und sind ebenfalls eng mit der Geschichte Weimars verbunden, wo der Vater der Mutter als Amtmann und Stadtrichter tätig war. Mit der Wahl des Vornamens Justin stellten die Eltern sich in eine alte Tradition der Familie Bertuch, während der Doppelvorname Friedrich Johann dem Gründer der Landesuniversität Jena die Reverenz erwies. Ein wohl in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre von Anna Amalia gemaltes Porträt bezeugt, daß Friedrich Johann Justin schon als Kind die Aufmerksamkeit dieser klugen Fürstin auf sich zog. Kindheit und Jugend Bertuchs waren vom frühen Tod der Eltern überschattet. Der Vater starb, als Bertuch noch nicht fünf Jahre zählte, die Mutter wie auch der Stiefvater, der in Cospeda bei Jena als Pfarrer wirkte, folgten zehn Jahre später. Trotz dieser erschwerenden Umstände wuchs er nicht unbehütet heran. Das Verhältnis zum Stiefvater soll gut gewesen sein, und als Bertuch 1762, fünfzehnjährig, als Vollwaise alleine stand, nahm sich seiner ein Oheim Schrön an, der an der Weimarer Landschaftskasse angestellt war und von 1757 bis zu seinem Tode, 1811, die „Weimarischen Anzeigen" herausgab. Nach Absolvierung des Gymnasiums nahm Bertuch in Jena ein Brotstudium auf, zunächst der Theologie, später der Jurisprudenz. Seine Neigungen aber galten der Literatur und der Naturkunde. Als ihm der Freiherr Bachoff von Echt 1769 die Stelle eines Hofmeisters seiner beiden Söhne anbot, erkannte er die besondere Chance, die sich bot, und er verließ die Universität ohne Abschluß. Bachoff von Echt, vormals dänischer Gesandter unter anderem in Madrid, lebte nach Verlassen des diplomatischen Dienstes im Altenburgischen. Bertuch schulte sich in den vier Jahren, in denen er bei ihm tätig war, an den weltläufigen Umgangsformen der weitgereisten aristokratischen Familie, knüpfte neue Beziehungen, ohne wichtige ältere zu vernachlässigen, übersetzte aus dem Französischen und Englischen, trat mit ersten eigenen Veröffentlichungen hervor und profitierte vor allem von der 11
Der folgende Abriß nach Wilhelm Feldmann (Friedrich Justin Bertuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Goethezeit. Mit der Rede des Kanzlers von Müller auf Bertuch, Saarbrücken 1902), Albrecht von Heinemann (Ein Kaufmann der Goethezeit. Friedrich Justin Bertuchs Leben und Werk, Weimar 1955) und Siglinde Hohenstein (Friedrich Justin Bertuch, 17471822 - bewundert, beneidet, umstritten. Übersetzer mit Verdiensten. Dichter ohne Talent. In Weimar kluger Verwalter der fürstlichen Privatschatulle, erfolgreicher Herausgeber und Verleger. Freund Goethes. Ein Kapitalist und Philanthrop der Aufklärung, Berlin, New York 1989). Für zahlreiche Hinweise danke ich Christian Deuling.
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Liebe Bachoff von Echts zur spanischen Kultur. Der Freiherr höchstpersönlich führte ihn anhand des „Don Quijote" in Sprache und Literatur der Spanier ein. Mit der zwischen 1775 und 1777, schon nach der Altenburgischen Zeit, erschienenen Übersetzung des „Don Quijote" erwarb Bertuch sich großes literarisches Ansehen; das ungewöhnlich hohe Honorar von 2.000 Talern bildete die Grundlage seines späteren Vermögens. Als Bertuch 1773 auf eigenen Wunsch aus den Diensten Bachoff von Echts ausschied und nach Weimar zurückkehrte, war er noch mittellos und ohne Anstellung. Er trat in Kontakt zu Musäus, zu Wolf, dem Hofkapellmeister, zur Seylerschen Schauspieltruppe. Von besonderer Bedeutung war die Förderung durch Wieland, den Anna Amalia ein Jahr zuvor, durch den „Goldnen Spiegel" aufmerksam gemacht, als Prinzenerzieher nach Weimar geholt hatte. Wieland, zu dem er seit seiner Jenaer Zeit in Verbindung stand, ebnete ihm nun bei Hof die Wege. Auf Veranlassung Anna Amalias übersetzte Bertuch „Ines de Castro", ein Trauerspiel Houdard de la Mottes, und zum Geburtstag des Erbprinzen am 3. September 1773 wurde sein eigenes Trauerspiel „Elfride" mit Erfolg aufgeführt, das noch unter Goethes Intendanz in den neunziger Jahren zweimal wieder aufgenommen und auch ins Französische und Niederländische übersetzt wurde. 12 Später betätigte er sich, in Tiefurt und in Ettersburg, im Liebhabertheater Anna Amalias als Souffleur, und in komischen Rollen trat er auch als Schauspieler hervor. Als Carl August 1775 die Regentschaft übernahm, folgte dieser Wielands Empfehlung und stellte den jungen Literaten als Geheimsekretär und Verwalter seiner Privatschatulle ein. Als solcher hatte Bertuch nicht nur, wie sein Dienstherr schriftlich auf einem Zettel festhielt, die Schatulle des Fürsten „richtig und ordentlich" zu verwalten, „Handbibliothek, Kupfer, Gemälde und Antikensammlung zu beaufsichtigen, bei den wöchentlichen Audienzen das Protokoll zu führen" sowie „alle ihm aufgetragenen Briefe zu beantworten". 13 Gelegentlich wurden ihm auch weit darüber hinausgehende Aufgaben wie die Oberaufsicht über die Umgestaltung der Parkanlagen an der Ilm und die vorübergehende Administration der Ilmenauer Porzellanfabrik übertragen. Im Dienste des Herzogs gewann Bertuch, über zwanzig Jahre regelmäßig in der Nähe Goethes, einen gründlichen Einblick nicht nur in die persönlichen Verhältnisse am Hofe, sondern auch in die politischen Mechanismen und die ökonomischen Grundlagen des Herzogtums. Schon 1773 hatte sich mit Wieland auch ein enger Arbeitszusammenhang ergeben, der nach Bertuchs Anstellung bei Hofe fortgesetzt wurde. Bertuch stand Wieland bei der Herausgabe des „Teutschen Merkur" vor allem im GeschäftlichKaufmännischen bei, in das ihn selber Abel Seyler, der Leiter der Schauspieltruppe, der früher in Hamburg als Kaufmann tätig gewesen war, eingeführt hatte. So sorgte er im Interesse größerer Effizienz dafür, daß der Druckort des „Merkur" von Rudolstadt nach Weimar verlegt und der Weimarer Buchhändler 12
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Das Repertoire des Weimarischen Theaters unter Goethes Leitung. Bearbeitet und hg. von C.A.H. Burkhard, Hamburg und Leipzig 1891, S. 134. Elfride, tragédie en trois actes et en prose, par M. Bertuch, Paris 1784 (Nouveau théâtre allemand, par MM. Friedel et de Bonneville, T.Vili); Elfride, treurspel door J. F. Bertuch, vertaald door P. J. Kasteleijn, Amsterdam 1783. Zitiert nach Heinemann (Anm. 11), S. 76f. aus dem Bertuch-Nachlaß im Goethe- und Schiller-Archiv.
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Hoffmann mit dem Vertrieb beauftragt wurde. Er führte, sein Netz von Beziehungen stetig erweiternd, einen Teil der umfänglichen Korrespondenz mit den Autoren und nahm später im Sinne einer verstärkten Berücksichtigung wissenschaftlicher auf Kosten belletristischer Beiträge auch konzeptionell Einfluß. Mitte der achtziger Jahre kam es zwischen Bertuch und Wieland zu Irritationen, in deren Folge Wieland sich von der 1784 begründeten , Allgemeinen LiteraturZeitung" zurückzog, die er mit Bertuch und dem Jenenser Professor Schütz geplant hatte, während Bertuch seinerseits 1786 seine Tätigkeit als Mitherausgeber des „Teutschen Merkur" vorübergehend einstellte. Auf eigene literarische Aktivitäten im engeren Sinn hatte er damals schon seit längerem weitgehend zugunsten konzeptioneller, editorischer und redaktioneller Arbeit verzichtet, der er sich neben dem Hofdienst in angestrengter Tätigkeit unterzog. Die bedeutendsten Ergebnisse außer den bereits genannten sind das „Magazin der Spanischen und Portugiesischen Literatur", das in drei Bänden zwischen 1780 und 1782 erschien, das mit Kraus seit 1786 unter wechselnden Titeln herausgegebene Modejournal und, ab 1792, das in alleiniger Herausgeberschaft verantwortete ,3ilderbuch für Kinder". Alle diese Unternehmungen gelangen und brachten, wie schon die „Don Quijote"-Übersetzung und die Mitarbeit am „Teutschen Merkur" und an der „ALZ", einen erheblichen Gewinn. Schon in der Studienzeit hatte Bertuch sich mit Caroline Slevoigt, der Tochter eines Wildmeisters in Waldeck östlich von Jena, verlobt. Die Ehe Schloß er erst 1776, nachdem mit der Bestallung bei Hofe und dem ersten Honorar für den deutschen „Don Quijote" eine sichere finanzielle Grundlage gegeben war. 1777 wurde ein Sohn, Carl, geboren, der ihm nach Abschluß des Studiums in seinen Geschäften beistehen, 1779 eine Tochter, Charlotte, deren Mann, der bedeutende Mediziner Ludwig Friedrich Froriep, nach Carls frühem Tod in das Bertuchsche Unternehmen eintreten sollte. Bertuchs Frau stand nicht nur dem Haushalt vor, sondern kümmerte sich auch mit einer ledig gebliebenen Schwester um die Fabrik künstlicher Blumen, die 1782 die Produktion aufnahm und deren bewunderte Erzeugnisse in ganz Deutschland Absatz fanden.14 Dieses „erste größere industrielle" Unternehmen Weimars15 war im geräumigen Haus der Familie untergebracht. Bertuch hatte schon 1778 ein Grundstück am ehemaligen fürstlichen Baumgarten erworben, es später durch Zukauf erweitert und 1780 ein großzügig bemessenes Wohnhaus errichten lassen. Schillers Wort, Bertuch besitze „ohnstreitig in ganz Weimar das schönste Haus", aus dem Jahr 178716, galt nur dem späteren Nordflügel des bis 1803 zu einem dreiteiligen Gebäudekomplex erweiterten Anwesens an der heutigen Karl-Liebknecht-Straße. Der Umfang der Aktivitäten, denen Bertuch neben dem Hofdienst nachging, hatte sich ständig erweitert. Zu Beginn der neunziger Jahre waren sie nicht mehr aufs Literarisch-Journalistische beschränkt. Als er 1791 mit herzoglichem Privileg das „Industrie-Comptoir", ab 1802 „Landes-Industrie-Comptoir", begründete, schuf er sich damit die institutionelle Grundlage für eine schon bald um14
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Goethes Mutter bestellte am 10. September 1784 bei Bertuch nicht weniger als „ein Dutzend Blumensträuße von der vortrefflichen Weimarer Fabrik" (Die Briefe von Goethes Mutter. Nach der Ausgabe von Albert Köster hg. von Mario Leis, Karl Riha und Carsten Zelle, Frankfurt a.M. 1996, S. 194). Heinemann (Anm. 11), S. 48. 18./19. August 1787 an Kömer (SNA, Bd. 24, S. 136).
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fängliche, thematisch breit gestreute verlegerische Tätigkeit und einen angemessenen Rahmen für den Vertrieb eigener wie das Kommissionsgeschäft mit fremden - Weimarer und auch auswärtigen - Waren des Luxus und der Mode, für die das Intelligenzblatt des Modejournals regelmäßig warb. Zu den Produkten, die er vertrieb, gehörten nun außer künstlichen Blumen auch physikalische Geräte, Ton- und Korbwaren, Stoffe, Schokolade, Wein und Champagner. Seine geschäftlichen Aktivitäten gingen zunehmend über den engen Rahmen des Herzogtums hinaus und reichten bis nach Frankreich und die Vereinigten Staaten. Der Wunsch, bei günstiger Gelegenheit das Hofamt, auf das er finanziell nicht mehr angewiesen war, abzugeben, wird mit den wachsenden Verpflichtungen im eigenen Unternehmen in ihm gereift sein. Am 9. Juli 1796 bat er um den Abschied, den Carl August umgehend gewährte. Bertuch nutzte, obwohl gesundheitlich angeschlagen, die gewonnene Zeit, um neue Pläne zu schmieden und alsbald zu verwirklichen. Mit dem Freiherrn von Erdmannsdorff und dem Grafen von Waldersee in Dessau entwarf und realisierte er das Projekt einer Aktiengesellschaft, die sich unter anderem der Vervielfältigung klassischer Bildvorlagen in Form von Kupferstichen - daher der Name Chalcographische Gesellschaft - widmete.17 Er erwarb das Würzburger Bürgerrecht und erhielt das Privileg, Kohle, Metalle, Ton und andere Erden des Bistums zu erschließen. Er verstärkte sein Engagement im riskanten, gewinnversprechenden Salz- und Salinengeschäft und brauchte dabei nicht länger auf Empfindlichkeiten des Herzogs gegenüber dem ehemaligen Kammerpräsidenten von Kalb Rücksicht zu nehmen, mit dem er sich bei stärker spekulativen Vorhaben verschiedentlich zusammentat. 1797/98 begannen nicht weniger als vier neue Periodica, alle durch Bertuch angeregt, zum Teil auch von ihm herausgegeben, im Verlag des Industrie-Comptoirs zu erscheinen, die ein breites Spektrum zwischen fachwissenschaftlicher Spezialisierung, so die „Allgemeinen Geographischen Ephemeriden", und unterhaltender Berichterstattung für das breite Publikum, so „London und Paris", abdeckten. 1801 eröffnete Bertuch in Rudolstadt eine Bücher- und Kunstwarenlotterie.18 Der Einrichtung einer Filiale des Landes-Industrie-Comptoirs in Rudolstadt (1807) war die einer Zweigstelle in Halle (1804) vorausgegangen. Das Industrie-Comptoir blieb, obwohl mit dem Vertrieb wichtiger einheimischer Produkte wie der Skulpturkopien Klauers befaßt, in stärkerem Maße, als Bertuch ursprünglich geplant hatte, auf das Verlagsgeschäft beschränkt. Hier verstärkte es zu Beginn des 19. Jahrhunderts sein wissenschaftliches Profil, zunächst - 1804 auch institutionell folgenreich mit der Ausgliederung des „Geographischen Instituts" - im Bereich der Geographie und Geologie, wozu auch eine hochwertige kartographische Produktion gehörte, der nicht zuletzt militärische Bedeutung zukam, später, mit Rat und Förderung Frorieps, indem zunehmend medizinische Fachliteratur in das Programm aufgenommen wurde. Dieser betont fachwissenschaftlichen Ausrichtung trat in „London und Paris", trotz der 1798 im ersten Heft erklärten gegenteiligen Absicht, eine - wie immer noch 17
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Vgl. Norbert Michels (Hg.): „... Waren nicht des ersten Bedürfnisses, sondern des Geschmacks und des Luxus". Zum 200. Gründungstag der Chalcographischen Gesellschaft zu Dessau. Mit Beiträgen von Reinhard Alex usw. Weimar 1996. Vgl. Michael Schütterle: Friedrich Justin Bertuchs Verlags-Filiale in Rudolstadt. Teil 1: Die Bücher- und Kunstwarenlotterie 1801-1803, in: Blätter der Gesellschaft für Buchkultur & Geschichte, Jg. 1 (1997), H. 1, S. 27-38. Überarbeitet im vorliegenden Band.
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zurückhaltende und um den Schein der Neutralität bemühte - politisch, gesellschaftlich und ökonomisch meinungsbildende Tendenz gegenüber, die 1804 zu einer Intervention der französischen Regierung und zu einem Verweis durch die herzogliche Obrigkeit führte. 19 Die Niederlage von Jena und Auerstedt, in deren Folge Bertuch, der den preußischen Kriegsaufruf gedruckt hatte, aus Weimar floh, die Einbindung Sachsen-Weimar-Eisenachs in den Rheinbund und die Kontinentalsperre, die den Informationsfluß aus England zusätzlich erschwerte, setzten dem ein Ende, auch wenn die Zeitschrift, konzeptionell verändert, noch bis 1815 erschien. Mit den anti-napoleonischen Kriegen und den in ihnen geweckten Hoffnungen auf ein freiheitlich erneuertes, geeintes Deutschland brach sie sich neuerlich Bahn. Als Verleger der „Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte", 1814-1818, für die er nach einer geheimen Abmachung mit Luden auch als Mitherausgeber verantwortlich war, und des „OppositionsBlattes oder Weimarische Zeitung", 1817-1820, stand Bertuch dabei in vorderster Front der liberalen Publizistik, bevor der nach den Karlsbader Beschlüssen verstärkte innere Druck auch dieses erste zarte Pflänzchen einer kritischen Tagespresse erstickte. In den Jahren des zukunftsträchtigen Aufbruchs war Bertuch nicht nur als Verleger und Herausgeber, sondern auch als gewählter Weimarer Stadtrat und als Vertreter der deutschen Buchhändler politisch aktiv. Diese hatten ihn, ein Zeichen der Hochachtung, die er genoß, mit Cotta zum Wiener Kongreß entsandt, wo er sich dann aber aus gesundheitlichen Gründen vertreten lassen mußte. Carl Bertuch, der dies übernahm und ihm schon seit 1800 geschäftlich zur Seite gestanden hatte, starb 1815; zwei Jahre später übergab Bertuch, siebzigjährig, die Leitung des Landes-Industrie-Comptoirs an seinen Schwiegersohn. Als er selber 1822 starb, hielt der Kanzler Müller ihm im Namen der Loge Anna Amalia, der Bertuch nach ihrer Erneuerung von 1808 bis 1810 vorgestanden hatte, eine unter der Mitwirkung Goethes entstandene ehrende Gedenkrede. Um der moralischen, sozialen und intellektuellen Physiognomie Bertuchs näher zu treten, hat man diese Rede, die ihm bestätigt, „in richtiger Erkenntniß der Zeitbedürfnisse" ein „thaten- und seegenreiches Leben" geführt und dabei einen „immer offenen Sinn für höhere Wahrheit und für jedes bleibendere Gut der Menschlichkeit" bewahrt zu haben, 20 nicht weniger ernst zu nehmen als die Tagebuchnotiz vom 17. Januar 1780, in der Goethe Bertuch einen „entsezlich behaglichen Laps" 21 nennt.
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Vgl. außer dem in diesem Band abgedruckten zweiten einen weiteren Beitrag des Vf.s: ,Volksgeist' und Karikatur in Bertuchs Zeitschrift .London und Paris', in: Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur Hg. von Ruth Florack. Tübingen 2000 (in Vorbereitung).
An Bertuch's Grabe im Namen der Loge Amalia zu Weimar gesprochen in der Morgenstunde des 6. April 1822. Als „Manuskript für Freunde" gedruckt. Erneut abgedruckt in: Zeitgenossen. Hg. von Heinrich Döring. Neue Reihe, Bd. 5, Heft XIX, Leipzig 1826, S. 77-103, hier S. 96-99, und als Beilage zur Dissertation von Wilhelm Feldmann: Friedrich Justin Bertuch. Saarbrücken 1902, S. 117-120. 21 WA III, 1 , S . 106.
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II Welche Neigungen, Fähigkeiten und Umstände waren es, die Bertuchs außerordentliche Karriere ermöglichten? Ich fasse das Ergebnis thesenhaft vorweg: 1. Bertuch besaß in hohem Maße gerade jene Tugenden, die den Aufstieg des deutschen Bürgertums seiner Zeit trugen, Fleiß und Sparsamkeit beispielsweise, doch nur in geringem Maße die Laster jener Tugenden wie Arbeitssucht oder Geiz. 2. Er dachte konzeptionell, häufig innovativ, und handelte strategisch wie taktisch außerordentlich geschickt. 3. Mit dem Weimar der Jahre des Übergangs von Anna Amalias zu Carl Augusts Herrschaft steuerte er zum richtigen Zeitpunkt genau jenen Ort an, der einem fähigen, leistungsbereiten und dienstwilligen Angehörigen der mittellosen literarischen Intelligenz die vielleicht besten Entfaltungsmöglichkeiten bot. (1.) Der Sozialhistoriker Michael Maurer hat auf der Grundlage mehrerer hundert gedruckter Biographien die „Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums" vom ausgehenden 17. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert analysiert. 22 Er hebt u.a. auf die Bedeutung spezifisch bürgerlicher Tugenden und Dispositionen wie Rationalität und Rechtschaffenheit, Ordnungsliebe, Reinlichkeit und Sparsamkeit, Freundschaft und Naturliebe ab und schenkt dabei der Arbeitsgesinnung und der Zeiteinteilung besondere Aufmerksamkeit. Auf dem Hintergrund seiner kollektiven „Biographie des Bürgers" gewinnt auch Bertuch Kontur. Ich verdeutliche die erste These beispielhaft, indem ich der gängigen Einschätzung widerspreche, er habe exzessiv viel gearbeitet. Für jemanden, der nicht von Stand war und nichts besaß, war Zeit schon im 18. Jahrhundert ein kostbarer Besitz. „Bedenke, daß Zeit auch Geld ist!" hieß es in Benjamin Franklins „Gutem Rath an einen jungen Handwerker" von 1748. Aus den Jahren, in denen Bertuch für den Herzog arbeitete, hat sich unter dem Titel „Das Gelbe Buch oder Eintheilung meiner Zeit" ein Schema erhalten, in dem er den Ablauf eines Montags im Sommerhalbjahr fixierte: 6 - 8 Uhr.
8 - 9 Uhr. 9 - 1 2 Uhr. 12-1 Uhr. 1 - 2 Uhr. 2 - 6 Uhr. 6 - 8 Uhr. 8 - 9 "Λ Uhr. 10 Uhr 22
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Aufstehen. Revision vorräth. Mscpta für die Druckerey. Frisiren. Zeitungslesen Ankleiden. Frühstücken. Privat Geschäfts Correspond. Ins Kabinet. od. zu Herrsch. Arbeit; oder Geschäfts Correspondenz zu Hause. Mittags Eßen. Garten u. Hauß Revision. Geschäfts Correspondenz. Continat. der Correspondenz od. willkührl. Geschäfte. Im Clubb. zu Bette. 23
Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815). Göttingen 1996 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 127). GSA 06/2242. Aus späterer Zeit hat sich eine „Eintheilung der literar. Geschäfte nach Wochentagen" erhalten. Jeweils für Montag war vorgesehen „1. London und Paris, 2. Mode Journal 3. Garten Magazin". Vgl. GSA 06/5285.
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Das Arbeitspensum scheint extrem hoch zu sein, doch dieser Eindruck täuscht. Aus dem 18. Jahrhundert haben sich Zeugnisse ganz anderer Zeitbudgets erhalten, deren strenge Einhaltung die sich damals verbreitenden Taschenuhren erleichterten. Wir wissen vom häufigen „Lukubrieren" der protestantischen bürgerlichen Intelligenz, das heißt ausgedehnter nächtlicher Arbeit zusätzlich zu der bei Tageslicht, von Gelehrten, die die tägliche Schlafdauer auf ein Äußerstes reduzierten oder gar wöchentlich eine schlaflose Nacht vorsahen und so ihre Gesundheit untergruben, von nicht nur extensiverer, sondern auch intensiverer Nutzung der Zeit durch Kultivieren von Schneilesen, durch die Reduktion der Zahl der Mahlzeiten oder, indem man etwa während des Essens las, durch Doppelbelegung von Zeit. In vielen dieser Fälle wird die pietistische Überzeugung gewirkt oder nachgewirkt haben, derzufolge Müßiggang und Zeitverschwendung als Sünde galten. Bertuch dürfte frei davon gewesen sein. Nicht daß Gott strenge Rechenschaft über unseren Zeitgebrauch fordert, sondern daß Zeit Geldeswert besitzt, scheint ihn, der Franklin verlegte,24 bewegt zu haben. Obwohl außerordentlich fleißig und diszipliniert, reicht er keineswegs an die von Sündenangst gebeutelten „Meister der Zeitsparkunst"25 heran. Bertuch begann die Arbeit nicht, wie vielfach praktiziert, vor Anbruch des Tages, sah eine volle Stunde für das Mittagessen und eine sich daran anschließende weitere vor, die ihm mit der „Revision" des Gartens auch eine gewisse Erholung gebracht haben wird, reservierte den Abend für gehoben-tätige Geselligkeit außer Hauses und gönnte sich volle acht Stunden Schlaf. Solche eingeplanten Zugeständnisse an die Regenerationsbedürfnisse von Körper und Seele wie auch die Kuraufenthalte, die er sich wiederholt zugestand, bewahrten ihn trotz früh angeschlagener Gesundheit und anhaltend angespannten Arbeitens vor dem Zusammenbruch, der jene häufig traf, die sich arbeitend überforderten, erlaubten es ihm, noch in fortgeschrittenem Alter Erhebliches zu leisten, und erhielten ihm mit der Lebensfreude die Fähigkeit, mit anderen geselligen und freundschaftlichen Umgang zu pflegen. Gerade weil Bertuch hart arbeitete, doch die Arbeit nicht bis zum Melancholie erregenden Exzeß trieb und sie in wohlkalkulierten Erholungsphasen ausbalancierte, war seine Arbeit effektiv. Auffälliger als sein Arbeitspensum - unhistorisch könnte man sagen: erschreckender - ist denn auch die organisatorische Konsequenz, mit der er noch die regenerativen Phasen verplante, ohne die seine Arbeit zu innovationsschädigender Abstumpfung hätte verkommen können. An seiner Zeitplanung ist ein Habitus abzulesen, der sich verallgemeinernd so formulieren läßt: Bertuch ist ein typischer Vertreter jener Tugenden, die den Aufstieg und das leistungsethisch motivierte Selbstbewußtsein des deutschen Bürgertums ermöglichten. Begünstigt jedoch durch ein auf Maß angelegtes Naturell, klug, frei von religiös motivierten Ängsten wie auch von quälender Introspektion und den Nachteil seiner frühen familiären Situation als zusätzliche Motivation nutzend, vermeidet er durchweg die negativen Seiten jener Tugenden: Wie er 24
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Dr. Benjamin Franklin's nachgelassene Schriften und Correspondenz nebst seinem Leben. Aus dem Englischen übersetzt. 5 Bde., Weimar: Verlag des Landes-Industrie-Comptoirs, 1817-1819. Das oben gebrachte Franklin-Zitat: Bd. 5, S. 72. D. Franz Volkmar Reinhard, gemalt von Georg von Charpentier, literarisch gezeichnet von C.A. Böttiger, Dresden 1813, S. 11 (zitiert nach Maurer [Anm. 22], S. 411).
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viel arbeitet, ohne sich frühzeitig zu erschöpfen, ist er sparsam, doch nicht geizig, auf den eigenen Vorteil bedacht, doch den der anderen mit bedenkend, ein Kaufmann und ein engagierter Kommunalpolitiker, ein Liebhaber der Natur, aber kein Schwärmer, ein produktiver Literat, wenn auch kein Originalgenie, nicht demütig oder hochmütig, sondern, ob bescheiden im Hinter- oder bestimmend im Vordergrund, ruhig und selbstbewußt. Es ist etwas Frühreifes und Trockenes, Bestimmtes und Selbstsicheres um ihn, und seine Erfolge werden diese charakterliche Disposition zusätzlich verstärkt haben. Seine aurea mediocritas ist jedenfalls mehr Maß als Mittelmäßigkeit. Als Sozialcharakter ähnelt er eher den Kaufleuten der Hanse- und Messestädte als den jungen Intellektuellen seiner Generation, mit denen er zwar weitgehend die Herkunft teilt, deren Selbstbewußtsein aber, wie hoch sie auch intellektuell und künstlerisch sich erheben mögen, mit den ökonomischen Abhängigkeiten vielfach dauerhaft labil bleibt, trotz oder wegen manch auftrumpfender Geste. Man hat versucht, die im Vergleich zu England oder Frankreich weniger glückliche Geschichte der Deutschen auch damit zu erklären, daß sich ein selbstbewußtes deutsches Bürgertum schwächer, jedenfalls später als in diesen Ländern entwickelte. Bertuch stellt sich, zumal unter den kleinstaatlichen Bedingungen Thüringens, nicht nur im Äußeren seines ökonomischen Erfolges, sondern auch im selbstbewußten Habitus als eine exzeptionelle Gestalt dar. Gewiß ist sein Arbeitspensum auffällig. Auffälliger aber noch sind die wohlkalkulierte Einplanung selbst der regenerativen Phasen, die Selbstdisziplin und die durch hohe Intelligenz ermöglichte Effizienz der Arbeit. (2.) Bertuch war, wie immer die Zeitgenossen sich geäußert haben mögen,26 ein sehr guter Kopf und dachte, stets nach neuesten Entwicklungen Ausschau haltend und auf Innovationen sinnend, konzeptionell.27 Schon daß er das Spanische als eine Marktlücke erkannte und diese konsequent nutzte, zeugt von seinem energisch auf praktische Umsetzung drängenden Weitblick. In dem Maße, wie er auf eigenes lyrisches und dramatisches Schaffen verzichtete und auch die übersetzerische Arbeit an Bedeutung verlor, trat er mit programmatischen Entwürfen, grundsätzlichen Stellungnahmen und Denkschriften hervor. Bereits 1774, ein Jahr nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt, gab er den Umriß einer in Weimar zu gründenden Zeichenschule28, und im selben Jahr noch erörterte er, in einer 26
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Goethe: ,„Der größte Virtuos im Aneignen fremder Federn war Bertuch, der sogar den armen Batsch, als dieser ein neues System der Naturgeschichte schrieb, zwang, sich gefallen zu lassen, daß Bertuch ankündigte, da er selbst nicht die Zeit habe, werde Batsch seine, Bertuchs, Ideen dem Publikum vorlegen, während doch Bertuch nie eine Idee gehabt.'" (Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Kleine Ausgabe hg. von Ernst Grumach mit Anmerkungen von Renate Fischer-Lamberg, Weimar 1959 [18. Mai 1821], S. 44). Vgl. dazu den Beginn von August Wilhelm Schlegels Rezension der Tieckschen „Don Quijote"-Übersetzung, in: Sämtliche Werke, hg. von Eduard Böcking, Bd. 11, Leipzig 1847, S. 408f. Zum „Entwurf einer mit wenigen Mitteln hier zu errichtenden freien Zeichenschule" vgl. Heinemann (Anm. 11), S. 28 und 45f. Gedruckt liegt ein späterer Rechenschaftsbericht vor: Beschreibung der herzogl. freyen Zeichenschule in Weimar von Herrn Legationsrath Bertuch, m: Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechan. Wissenschaften zu Berlin, Bd. 3, St. 1, Berlin: Königl. Preuß. Akademische Kunst- und Buchhandlung 1789. VIII, S. 35^11.
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seinerzeit ebenfalls ungedruckt gebliebenen, doch wiederum folgenreichen Schrift, die spezifischen Möglichkeiten eines Weimarer Verlagsbuchhandels. 29 1782 veröffentlichte er, anonym, die Broschüre „Wie versorgt ein kleiner Staat am besten seine Armen und steuert der Betteley?" 30 und, 1799, ebenfalls in Form einer selbständigen Publikation, eine Erörterung „Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen und in das practische Leben einzuführen". 31 Zahlreiche kleinere Arbeiten erschienen vorzugsweise im weit verbreiteten Modejournal, so, um drei besonders wichtige hervorzuheben, „Mein Votum über lateinische und teutsche Lettern als Typographische Mode betrachtet" 32 , „Giebts Mittel dem Luxus zu steuern?" 33 und „Uber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland". 34 In konzeptioneller Hinsicht aussagekräftig sind auch die Beiträge, mit denen Bertuch seine großen periodischen Verlagsprojekte eröffnete, so die Einleitungen zum „Journal des Luxus und der Moden", zum „Bilderbuch für Kinder" und zu „London und Paris". In all diesen Arbeiten, die gelegentlich durchaus literarische Qualität besitzen, argumentiert Bertuch nicht abstrakt, sondern zielstrebig und genau, klar und argumentativ schlüssig. Er spricht sich für die Ersetzung der Fraktur durch die Antiqua aus, praktiziert sie vorsichtig teilweise schon im eigenen Verlag und nimmt damit die spätere Entwicklung des deutschen Buchwesens um Jahrzehnte vorweg. Er kämpft schon in den siebziger Jahren gegen den Raubdruck und erfährt die Genugtuung, gegen Ende seines Lebens erste Anzeichen eines Umdenkens bei den auf dem Wiener Kongreß Versammelten wahrnehmen zu können, die auch juristisch Mitverantwortung für das Unwesen trugen. Er entwirft ein umfängliches Programm zur Verbreitung naturwissenschaftlichen, geographischen und ethnologischen Realienwissens, das späteren schulpolitischen Korrekturen am neuhumanistischen Bildungsideal zuarbeitet. Er tritt der pauschalisierenden Luxuskritik entgegen, indem er die Stimulation von Konsumbedürfnissen als ein treibendes Moment wirtschaftlicher Entwicklung herausstellt. 35 Er fordert gegen das verbreitete Bettelwesen ein staatliches Handeln, das die prinzipiell arbeitsfähigen Armen in die Lage versetzen soll, volkswirtschaftlich produktiv zu werden. Er erkennt die besondere Zeitqualität seiner revolutionär erschütterten Epoche und zieht daraus presse- und gattungsgeschichtlich bedeutsame Konsequenzen im Sinne einer periodischen Geschichtsschreibung der Gegenwart. Er hat teil an der gegen aristokratische Exklusivität gerichteten Demokratisierung der Mode wie des Luxus überhaupt und versorgt die deutsche Leserschaft jahrzehntelang mit 29
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Gedanken über den Buchhandel [1774], in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Jg. 7 (1967), Sp. 1797-1810. „... Ein möglicher Versuch", Leipzig und Dessau, zu finden in der Buchhandlung der Gelehrten, 1782 (Nachdruck: Weimar: Stadtmuseum 1978). „... nebst Plan und Ankündigung einer Folge dahin abzweckender Werke", Weimar im Verlage des Industrie-Comptoirs 1799. Journal des Luxus und der Moden, Dezember 1793, S. 622-634. Ebenda, August 1787, S. 255-262. Ebenda, August 1793, S. 409-417, September 1793, S. 449-462. Vgl. Daniel L. Purdy: The tyranny of elegance. Consumer cosmopolitanism in the era of Goethe. Baltimore, M D 1998 (European and Comparative Literature), bes. Kap. 1, „Friedrich Bertuch's Mode Journal and the Question of a German Consumer Culture" (für die freundliche Überlassung einer Fassung dieses Kapitels vom Mai 1996 sei Daniel Purdy herzlich gedankt; zum angesprochenen Aspekt mit Bezug auf Sombart, S. 7f.).
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Informationen über praktische oder ästhetische Verbesserungen der Lebenswelt in den westlichen Metropolen. Alle seine Projekte, von der typographischen Reform über den Entwurf der Zeichenschule bis zur Neuordnung der Armenversorgung, gründen in konkreten Analysen und weisen Wege der Verbesserung, wobei unausgesprochen auch das eigene ökonomische Interesse zu seinem Recht kommt. Wenn Bertuch dieses Interesse weder in seiner prinzipiellen Legitimität noch auch in seiner Vereinbarkeit mit anderen Leitwerten thematisiert, so zeigt sich darin nicht persönliche Borniertheit oder ein charakterliches Defizit, sondern eine übergreifende Einstellung des deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert. „An der Verwirklichung der ökonomischen Tugenden", schreibt Michael Maurer, „hängt nicht nur das Glück des einzelnen, sondern auch das der Gemeinschaft. Sparsamkeit, Arbeitsamkeit, Reinlichkeit, Ordnung und dergleichen bedeuten: Verantwortung für das Ganze fühlen. Der erwerbsorientierte Bürger ist nicht Egoist, sondern Hausvater; er erwirbt für die Seinen, für Frau und Kinder, für Anverwandte und Abhängige. Schließlich ist das größte zeitgenössische Problem, das der Armen Versorgung, nur lösbar, wenn viele gute Bürger arbeiten, erwerben, sparen und von ihrem Überfluß den bedürftigen Armen abgeben. Der religiöse Hintergrund der ökonomischen Predigt konnte in Vergessenheit geraten; die Habitualisierung bürgerlicher Verhaltensformen blieb erhalten."36 Bertuch hat an diesem Habitus teil, doch geht er auch schon über ihn hinaus, wenn er die Versorgung der Armen so geregelt wissen will, daß zwar die prinzipiell Erwerbsunfähigen mit dem Nötigsten unterstützt werden, die grundsätzlich Arbeitsfähigen aber nur dazu befähigt werden sollen, dem gewerblichen und industriellen Aufschwung zu dienen, in dessen Interesse gerade die Fortdauer ihrer Armut erforderlich ist.37 Innovatives, konzeptionelles Denken war im 18. Jahrhundert, an der Schwelle zur Moderne, die entscheidende Chance derjenigen, die nicht als Fürsten, Adlige und hohe Kleriker oder auch als besitzende Bauern, zünftige Handwerker und wohlhabende Amtsinhaber ein persönliches Interesse an der Fortschreibung der Tradition hatten.38 Dies waren vor allem die Angehörigen der besitzlosen Intelligenz, die den großen philosophischen und literarischen Aufbruch des protestantischen Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im wesentlichen trug. Bertuch ist ihr Zeitgenosse und teilt mit ihr die schlechten Startbedingungen. Während sie sich mit atemberaubender Schnelligkeit von den Resten dogmatisch gebundenen Christentums löst und in theoretisches wie ästhetisches Neuland bis an die Grenze zum Nihilismus vorwagt, setzt er, anscheinend frei von jeder Regung metaphysischer Angst - auch darauf könnte Goethes „entsezlich behaglicher Laps" zielen - die aufklärerische Vorurteilskritik in gewinnträchtigem kaufmännischem Handeln fort. Bertuchs konzeptioneller entspricht eine nicht minder ausgeprägte strategische Begabung. Wie in der eigenen Lebensgeschichte verrät sich in seinem geschäftlichen Handeln durchweg das Gespür für den richtigen Augenblick und die 36 37
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Maurer (Anm. 22), S. 354f. Vgl. Heinrich Macher: Friedrich Justin Bertuchs Armenschrift von 1782. Bürgerliches Reformdenken im Spannungsfeld von sozialer Praxis, aufgeklärter Humanität und ökonomischem Rationalismus, in: IASL 1995, S. 155-202. Vgl. Maurer (Anm. 22), S. 343.
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jeweils einzuplanende Zeit. Er setzt seine ökonomischen Mittel effektiv ein und weiß früh die große Bedeutung schneller, sicherer und genauer Informationen zu schätzen, weswegen er denn unter den Bedingungen seiner Zeit eine so umfängliche Korrespondenz führen mußte. Durch den Umgang mit der Bachoff von Echtschen Familie wie später durch den Verkehr bei Hofe geschmeidig gemacht, hatte er früh den Wert verbindlicher Höflichkeit erkannt, die im Verein mit zupackender Entschiedenheit zumal seinen Angestellten das Gefühl von Berechenbarkeit und damit auch, mittelbar, von Sicherheit gegeben haben dürfte. Ohne Zweifel konnte er, taktisch nicht weniger als konzeptionell und strategisch begabt, Menschen führen und das heißt auch: für sich arbeiten lassen. Die Sicherheit, die er vermittelte, kam aus der Sicherheit, die er selber besaß. (3.) Als Bertuch 1773 seine Hofmeisterstelle aufgab, war nicht vorauszusehen, was Weimar fünfzig Jahre später im gebildeten Europa bedeuten würde. Dennoch handelte er vermutlich nicht vorrangig aus gefühlsmäßiger Bindung an die Vaterstadt, sondern durchaus absichtsvoll. Er hatte sich in den zurückliegenden Jahren erste literarische Meriten erworben und brachte nicht nur den Plan der dringend erforderlichen Neuübersetzung des „Don Quijote" mit, sondern auch die Zuversicht, selber die dafür erforderlichen Kenntnisse zu besitzen. Wieland, zu dem er schon aus Jena die Verbindung geknüpft hatte, war 1772 von Anna Amalia als Prinzenerzieher engagiert worden. Mit der Regentschaft Carl Augusts, deren Beginn abzusehen war, würde sich möglicherweise auch für jemanden, den der Prinzenerzieher begünstigte, eine Chance auftun. Und vorerst gab der musenfreundliche Hof der Herzoginmutter allen Grund zu der Annahme, daß ein junger Literat hier auf sich aufmerksam und für andere Aufgaben empfehlen könnte. Es waren also wohl mehr oder weniger konkrete Hoffnungen, die Bertuch bewogen, die Hofmeisterstelle aufzugeben und, vorläufig ungebunden, in Weimar nach Besserem Ausschau zu halten. Diese Hoffnungen wurden ausnahmslos, schnell und über das Erwartbare hinaus erfüllt. Auch der bereits 1774, ein Jahr nach der Rückkehr, niedergelegte Plan zum Aufbau eines örtlichen Verlagsbuchhandels ist - nicht anders als das zeitgleich konzipierte Projekt einer Zeichenschule - ein erstaunliches Zeugnis für die Hellsicht und Zielstrebigkeit, mit denen er gerade das Weimar gegen Ende von Anna Amalias Regentschaft als seine persönliche Lebenschance ergriff. Mit der Einschätzung der verkehrsgünstigen Lage der Stadt in der Nähe der Buchhandelsmetropole Leipzig und der Frankfurt mit Leipzig bzw. Nürnberg mit Hamburg verbindenden Handelsstraßen, im Bewußtsein der Verdichtung gelehrter Kompetenz im mitteldeutschen Raum, der im 18. Jahrhundert mit Halle, dann mit Leipzig und zuletzt mit Jena, unterbrochen nur durch das nicht allzu entfernte Göttingen, jeweils die deutsche Leituniversität stellte, und in der Erkenntnis, daß gerade der Verlagsbuchhandel einem an Rohstoffen armen Land, das über gute Köpfe verfügte oder wenigstens in seiner Nähe wußte, zum wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen könnte, hatte er schon ein Jahr nach seinem Eintreffen zukunftsweisende Koordinaten ausgezogen und dabei auch die auf Vorschuß gewährte Grundfinanzierung durch den Landesherrn, der am stärksten von wirtschaftlicher Prosperität profitieren würde, nicht vergessen. Die frühe Auflistung der, wie Bertuch formulierte, dem Verlagsbuchhandel „untergeordneten Fabriken und Künstler" - „Pappiermühlen", „Druckereyen", „Schriftgießereyen und Schriftschneider", „Zeichner, Kupfer-
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Stecher, Formschneider, Plattenschleifer", „Buchbinder"39 - liest sich wie eine Beschreibung des erst 1791 begründeten eigenen Unternehmens. Als Goethe 1775, ein Monat nach dem Regierungsantritt Carl Augusts, nach Weimar zog und Herder ihm ein Vierteljahr später folgte, sah sich der frisch ernannte herzogliche Geheimsekretär und Schatullier Bertuch von einem Tag auf den anderen im Zentrum der politischen Macht und in nächster Nähe nicht mehr nur zu Wieland, sondern zu zwei weiteren überragenden Autoren seiner Zeit. Das von Goethe früh angebotene Du bezeugt diese Nähe; sein Widerruf ist einem Grund geschuldet, den wir nicht kennen, doch zugleich sinnfälliger Ausdruck eines Abstands, der ihm nicht nur von der überlegenen anderen Seite aufgezwungen wurde, sondern den auch er spürte, ja akzeptierte und möglicherweise seinerseits wollte. Im Verhältnis zu Carl August drängt er sich nicht hinzu, und dessen erotische wie finanzielle Eskapaden wird er, höchstens mit leisem Widerspruch und durchweg dienstfertig, mit dem bürgerlichen Tugenddünkel seiner Zeit wahrgenommen haben, was wiederum dem Herzog nicht völlig entgangen sein und die Distanz von dessen Seite noch vergrößert haben dürfte. Ähnlich, wie immer im einzelnen unterschieden, könnte sich das Verhältnis zu Wieland, Goethe, Herder und Schiller entwickelt haben. Auch hier erweist Bertuch gute Dienste, wenn er Wieland in der Redaktion des „Teutschen Merkur" entlastet, sich mit Göschen für die erste rechtmäßige Werkausgabe Goethes zusammentut oder Schiller mit Kredit aus finanzieller Bedrängnis hilft. Er verpflichtet sich die großen Autoren, ohne ihnen selber etwas schuldig zu bleiben und verdient auch noch Geld dabei. In dem Maße, wie er ihnen in seiner aufs Ökonomische konzentrierten - nicht beschränkten - Begrenztheit kenntlich wird und sie die Distanz stärker markieren, wird er, der als selbstsicherer und zunehmend erfolgreicher Mann nur bedingt ihrer Wertschätzung bedurfte, seinerseits zunehmend auf Abstand gehalten haben. Daß er den Konflikt nicht scheute, zeigte er, als er mit Schütz die Spalten der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" für Kants Herder-Kritik öffnete. Daß er ihn lieber vermied, verrät die Vorsicht, mit der er seinen Abschied von Carl August erwirkte, wie auch später, trotz vorübergehenden Insistierens, seine Nachgiebigkeit, als Goethe gegen Böttigers Kritik an der Weimarer Aufführung von August Wilhelm Schlegels „Ion" drohend intervenierte. Mit der Verbindung von kompetenter Pflichterfüllung, gefälliger Dienstfertigkeit und selbstbewußtem Abstand hatte Bertuch eine Mischung gefunden, die es ihm erlaubte, aus der Nähe zum Hof und im Umgang mit den großen Autoren alle die Vorteile zu ziehen, an denen ihm gelegen war: von Seiten des Herzogs etwa die Erteilung des Privilegs für das Industrie-Comptoir, wobei er auch an das ökonomische Interesse des Herrschers anknüpfte, von Seiten der Autoren, wenn nicht unbedingt Mitarbeit, so doch, vor allem zu Beginn seiner Weimarer Zeit, Zugang zu den Informationsflüssen, die sie nach Weimar lenkten. Bertuch hat Weimar nicht nur früh als Chance erkannt, sondern diese Chance über zwei Jahrzehnte Hofdienst und ein weiteres Vierteljahrhundert völliger Selbständigkeit konsequent genutzt. Er verstand es, dieses schwierige Instrument hervorragend zu spielen.
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Gedanken über den Buchhandel (Anm. 29), Sp. 1799f.
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Wie Bertuch von Weimar aus unternehmerisch handelte, sei am Beispiel eines seiner erfolgreichsten Verlagsprojekte, der Zeitschrift „London und Paris", wenigstens beispielhaft belegt. Nach dem Ausscheiden aus den Diensten des Herzogs konnte Bertuch sich seit Mitte 1796 ausschließlich seinen vielfältigen Projekten widmen. Zumal als Zeitschriftenherausgeber sah er auf eine über zwanzigjährige erfolgreiche Tätigkeit zurück. Längst schon hatte er die Presse als einen der dynamischsten Sektoren des sich sprunghaft entwickelnden Druckwesens erkannt, weshalb er denn in den folgenden Jahren gerade hier einen Schwerpunkt seiner Arbeit setzte. Er brachte mit dem „Magazin der Staatswissenschaft und Statistik" und den „Allgemeinen Geographischen Ephemeriden" zwei ausgesprochen fachwissenschaftliche Zeitschriften auf den Weg, für deren zweite er ab 1800 auch als Mitherausgeber verantwortlich zeichnete, und versuchte zugleich als ungenannt bleibender Alleinherausgeber von „London und Paris" den großen Coup, den er und Kraus mit dem „Journal des Luxus und der Moden" 1786 gelandet hatten, zu wiederholen. Damit dieser Coup gelingen konnte - und er gelang - , mußte er einerseits an die Momente anknüpfen, die dem Modejournal die Gunst der Leser gewonnen hatten, andererseits durch Differenzierung die Gefahr einer Doublette vermeiden, die den Absatz des Modejournals gesenkt hätte, ohne die neue Zeitschrift zum Erfolg zu führen. Den Balanceakt, der hier zu leisten war, bestand Bertuch, vermutlich in enger Absprache mit Böttiger, bravourös. Er brachte „London und Paris" nicht nur im gleichen Format, sondern auch mit dem gleichen Layout, so wiederum mit dem von Goethe an der Vorgängerin gerügten „feuerfarbenen Einband"40, und zu ähnlichen Bezugsbedingungen heraus. An den jeweils drei, teils kolorierten, teils schwarz-weißen, eng mit dem Text verbundenen Kupfern im Anhang, die dem Modejournal wesentlich seine Beliebtheit gesichert hatten, wurde ebenso festgehalten wie an der bewußt lockeren Reihung der berührten Themen, die von den Zentren metropolitanen Vergnügens bis zu fashionablen Equipagen, von Wasserfiltriermaschinen bis zu tragbaren Waterclosets, von Wachsbusen bis zur Erotik des Kaufpersonals, von Visitenkarten bis zu Briefpapiersorten, vom Auktionswesen bis zum bargeldlosen Zahlungsverkehr, von der abweichenden Form englischer Särge bis zur Feuerversicherung, von Zeitungsauslagen bis zur Organisation des Unterrichtswesens, von den Platzkämpfen der Straßendirnen bis zur Werbung für antisyphilitische Mittel, von neuen Musikalien bis zu neuen Hüten reichten und überdies auch noch historische Exkurse boten. Das Modejournal hatte gelegentlich politische Nachrichten aus den beiden westeuropäischen Metropolen gebracht, so schon im Augustheft 1789 die von der Erstürmung der Bastille; vor allem aber hatte es, noch bevor jeweils aus dem deutschen Sprachraum berichtet wurde, über die neuesten Londoner und Pariser Moden informiert, wobei, ungeachtet des Austausche zwischen England und Frankreich, die Gegensätze zwischen beiden Moden markiert und sie tendenziell als alternative 40
An Schiller, Januar 1796: „Ich lege das neuste Modenjournal bei wegen der Abhandlung pag. 18 über die Xenien. Der Verfasser denkt wohl nicht, daß ihm auch eins fürs nächste Jahr zubereitet werde, wie arm und ungeschickt doch im Grund diese Menschen sind! nur zwei solcher Gedichtchen, und noch dazu so schlecht übersetzt, zur Probe zu geben! Es ist aber, als wenn alles Geistreiche diesen feuerfarbenen Einband flöhe!" - Briefwechsel mit Friedrich Schiller. Einführung und Textüberwachung von Karl Schmid. 2. Aufl. Zürich 1964, S. 154 (Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, 20).
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Angebote für das deutsche Publikum dargestellt wurden. 41 Hier knüpfte die neue Zeitschrift an. Sie konzentriert sich weitestgehend, bei ansonsten vergleichbarer thematischer Breite, auf London und Paris, wodurch allein schon sich - diesseits noch aller Meinungsbekundung - unter den Bedingungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das den Aufstieg Bonapartes sah, eine neue, politische, Dimension auftat. Sodann wird das aus London und Paris Berichtete tendenziell als Ausdruck unterschiedlicher „Volksgeister" bzw. „National-Karaktere" 42 gelesen, womit gegenüber den vorherrschenden geschichtsphilosophischen Wahrnehmungsverengungen der vorausgehenden deutschen Berichterstattung aus Paris zwar eine vergleichsweise größere Offenheit erreicht, 43 andererseits aber, sicher noch zurückhaltend, ein neues Paradigma installiert bzw. ein altes reinstalliert war, das sich schon während der Befreiungskriege und vollends dann im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts dogmatisch verhärten sollte. Schließlich wird diese polare, auf Nationalcharaktere abhebende Fokussierung durch die im Anhang beigefügten, jeweils ausführlich in der Nachfolge von Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren erläuterten Karikaturen verstärkt, wobei insbesondere dem vorzugsweise herangezogenen scharf antijakobinischen und antinapoleonischen Gillray, vom ersten Heft bis zum Einsetzen des französischen Zensurdrucks und der Kontinentalsperre, die entscheidende Rolle zukommt. Bertuch gliedert also aus dem erfolgreichen Modejournal nicht einfach zwei kulturräumliche Sektoren aus, für die er ein Interesse an weitergehenden Informationen voraussetzen kann, sondern er schafft durch die Achse London - Paris eine Polarisierung, die er mit dem neu aufgelegten Interpretationsparadigma „Volksgeist" bzw. „Nationalcharakter" versieht und medial innovativ vor allem durch die Karikaturen Gillrays verstärkt, die ausdrücklich als Inkarnation derb-tüchtigen englischen Wesens begriffen werden. Damit gelang ihm ein großer konzeptioneller Wurf, der auch dadurch bestätigt wird, daß er die für das erste Heft von „London und Paris" gefundene Struktur im wesentlichen unverändert bis 1806 beibehielt. Für die praktische Realisierung des konzeptionell Entworfenen konnte Bertuch auf Möglichkeiten zurückgreifen, die Weimar 1798 bot und die er selber zum großen Teil erst mitgeschaffen hatte. Böttiger übernahm die redaktionelle Arbeit und verfaßte selber die Mehrzahl der Karikatur-Erläuterungen, die den Erfolg von Lichtenbergs Hogarth-Kommentaren für sich nutzten. Hüttner, ein langjähriger Freund Böttigers, der zuvor schon für den „Teutschen Merkur" gelegentlich aus England berichtet hatte und später, 1814, von Carl August als persönlicher Korrespondent verpflichtet werden sollte, verfaßte in den ersten Jahrgängen den London-Teil, wobei er wie der Paris-Korrespondent, ein gewisser Winckler, an 41
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Hierzu speziell: Purdy (Anm. 35). Allgemein: Michael Maurer: Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen und Zürich 1987 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London; 19), besonders S. 2 6 - 2 8 („Die Polarität Frankreich-England"). Zu ergänzen ist, daß das Modejournal mit dem Erscheinen von „London und Paris" keineswegs auf Berichte aus beiden Metropolen verzichtete, ja gelegentlich ausdrücklich darauf verwies (Jg. 3 [1800], H. 3, S. 250). Ihren umfangreichen Paris-Bericht hat Johanna Schopenhauer nicht in „London und Paris", sondern im Modejournal veröffentlicht. London und Paris, Jg. 1 (1798), H. 1, S. 7; ebenda, Jg. 6 (1803), H. 3, S. 208. Jörn Garber: Die Zivilisationsmetropole im Naturzustand. Das revolutionäre Volk von Paris als Regenerations- und Korruptionsfaktor der „Geschichte der Menschheit", in: Rom - Paris - London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen. Ein Symposion. Hg. von Conrad Wiedemann. Stuttgart 1988, S. 445.
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die Tradition tableauhafter Großstadtdarstellung des seinerzeit in Deutschland vielgelesenen Mercier anschloß.44 Im Landes-Industrie-Comptoir wurden die Kupferstiche des Anhangs nachgestochen, und die Schüler der Zeichenschule wurden wie schon im Fall des Modejournals für die Kolorierung der Kupfer mit herangezogen, deren farbige Wiedergabe bei meist zwei von drei Kupfern durchgeführt wurde und auch „London und Paris" eine besondere Attraktivität verlieh. Bertuch war selbstverständlich nicht nur Herausgeber, sondern auch Verleger. Als die französische Regierung 1804 bei Carl August vermutlich wegen einer Pariser Karikatur im fünften Heft des sechsten Jahrgangs (1803) intervenierte, gelang es Bertuch, den Voigt unter Druck gesetzt hatte, die Zeitschrift vom letzten Heft dieses Jahres an mit dem Verlagsort Halle fortzuführen, bevor sie 1808 nach Rudolstadt wechselte. „London und Paris" erreichte die gleiche Auflagenhöhe von ca. 1.200 Exemplaren wie das Modejournal und das „Bilderbuch für Kinder". Die Weimarer Zeitschrift wurde noch in St. Petersburg gelesen, erschien kurzfristig sogar in schwedischer Übersetzung45 und gelangte in Paris, mit den erwähnten Folgen, selbst zur Kenntnis des Außenministers Talleyrand.
III Die Weimarer Klassik und die Jenenser Romantik haben einem Verständnis autonomer Literatur zum Durchbruch verholfen, das sich die Germanistik bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend unkritisch zu eigen gemacht hat. Ihre Stabilität gewann diese Präferenz, die Auswirkungen auf Auswahl, Deutung und Wertung der Forschungsgegenstände hatte, durch die objektive Allianz von staatsmarxistischen Goethepächtern und bürgerlicher Goetheverklärung. Die 68er Bewegung im Westen, die ja gerade auch die Germanistik ergriffen hatte, setzte dem Konzept autonomer das parteiergreifender, „engagierter", Literatur entgegen und übertrug die eigenen Vorlieben, statt sie für ein angemesseneres Verständnis der Literaturgeschichte zu nutzen, im Sinne ihrerseits einseitiger Bevorzugungen - etwa der aufklärerischen, der jakobinischen oder der jungdeutschen Literatur - auf die Vergangenheit. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten beginnt die Forschung, angestoßen oder ermutigt unter anderem durch Vorgaben der Diskursanalyse und der historischen Anthropologie, sich von der normativen Bindung an das Dichtungsverständnis von Klassik und Romantik bzw. dessen bestimmte Negation in der Orientierung auf die Rekonstruktion jeweils komplexer und widersprüchlicher historischer Segmente zu lösen. Man läßt sich dabei
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Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: An den Grenzen der Sprache. Zur Wirkungsgeschichte von Merciers „Tableau de Paris" in Deutschland, in: arcadia 17 (1992), S. 141-161; Hermann Hofer: Mercier admirateur de l'Allemagne et ses reflets dans le préclassicisme et le classicisme allemands, in: Louis-Sébastien Mercier précurseur et sa fortune. Avec des documents inédits. Recueil d'études sur l'influence de Mercier. Hg. von Hermann Hofer. München 1977, S. 73-116. London och Paris samt Andre Märkwärdige Städer och Orter, Innehâllande: Beskrifning om Desamma och Berättelse om Deras Inwânares Tänke - och Ufnads - sätt, Första Bandet. Stockholm: H.A. Nordström, 1799.
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von einem Verständnis von Kultur leiten, das diese weder, extrem eng, als Hochtonwort für „Zauberflöte", „Faust" oder „Mönch am Meer" begreift, noch auch, extrem weit, als alles Materielle wie Immaterielle, was dem Menschen nicht von Natur aus gegeben ist, sondern, vielfach unter Berufung auf Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen", auf eine mittlere Reichweite zielt. Der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz hat ihn so formuliert: „Durch Kulturmuster, geordnete Mengen sinnhafter Symbole, verleiht der Mensch den Ereignissen, die er durchlebt, einen Sinn. Die Untersuchung von Kultur - der Gesamtheit solcher Muster - besteht daher in der Untersuchung jenes Apparats, dessen sich die Individuen und Gruppen von Individuen bedienen, um sich in einer andernfalls unverständlichen Welt zu orientieren."46 Was ist von Bertuch aus für das Verständnis Weimars beziehungsweise, umfassender, des Weimar-Jenaer Kulturraums um 1800 zu gewinnen? Ich versuche, einen komplementären, einen dialektischen und einen kritischen Zusammenhang zu skizzieren. Ein „Hörspielmodell" von Walter Benjamin trägt den Titel: „Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben".47 Was lasen die Deutschen, während Goethe und Schiller, Friedrich Schlegel und Novalis, Schelling und Hegel schrieben? Jedenfalls nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig diese Autoren, die, allesbeherrschend, im Mittelpunkt heutiger Philosophie- und Literaturgeschichten stehen. Sie lasen, worauf Benjamin aufmerksam machte, Rudolf Zacharias Beckers „Not und Hilfsbüchlein für Bauersleute", den „Kinderfreund" Friedrich Eberhard von Rochows und Romanautoren wie Spieß oder Vulpius, sie sahen die bürgerlichen Rührstücke eines Schröder, Iffland und Kotzebue,48 und sie verschlangen das „Journal des Luxus und der Moden", erwarteten sehnlich die nächste Lieferung des ,3ilderbuchs für Kinder", das auch von Erwachsenen gelesen bzw. angeschaut wurde, und delektierten sich nicht ohne angstbesetzte Lust an den anti-napoleonischen Karikaturen Gillrays in „London und Paris" und ihrer die politische Brisanz häufig launig-entschärfenden Kommentierung durch Böttiger. Es geht nun keinesfalls darum, nach Goethe, Novalis und Schelling all das Verdrängte und Vergessene kleinzuforschen, das uns, so schlecht es erhalten sein mag, in Kürze gewiß vollständig in Form von Microfiches und unweigerlich bald auch am Heimcomputer zugänglich sein wird. Von der genaueren Wahrnehmung dessen, was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben, darf man sich mehr erwarten als nur die Schließung sogenannter Forschungslükken. Ich hebe zwei Punkte hervor: 1. Das literarische Leben um 1800 ist nicht identisch mit dem Leben der Literatur, in dem ein Verlagsbuchhändler vom Range Bertuchs zweifellos eine hervorragende Rolle spielte. Aber selbst wenn man literarisches Leben und Literatur gleichsetzte, stellte es sich noch immer als ein vielschichtiges Mit- und Gegeneinander von klassischen und romantischen, spätaufklärerischen und selbst noch 46
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Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M., 4. Aufl. 1995, S. 136. Gesammelte Schriften. Bd. IV, 2, hg. von Tilman Rexroth, Frankfurt a.M. 1972, S. 641-670. Vgl. Horst Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück. Analekten zum Zusammenhang von Sentimentalität mit Autorität in der trivialen Dramatik Schröders, Ifflands, Kotzebues und anderer Autoren am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1969.
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empfindsamen Tendenzen dar. Zu ihm gehörte nicht nur die deutsch verfaßte, sondern auch die ins Deutsche übersetzte, nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kindern zugedachte, nicht nur die im nachhinein kanonisierte (und vielleicht schon zu ihrer Zeit als elitär konzipierte), sondern auch die aus dem Kanon herausgefallene und möglicherweise schon früh mit schlechtem Gewissen gelesene Literatur. Man muß kein Anhänger der Systemtheorie sein, um sich von der Annahme leiten zu lassen, daß die Elemente eines solchen vielschichtigen Systems aufeinander reagieren und, wenn man sie isoliert, nur bedingt zu verstehen sind. Das aus dem Kanon Ausgeschlossene stellt nicht einen diffusen Kontext oder ein polemisches Apriori dar, dessen Spur in den großen Werken getilgt wäre, sondern ist diesen bis in einzelne Formulierungen eingeschrieben. Daher liegt es gerade im Interesse einer Literaturwissenschaft, die um ihrer Wissenschaftlichkeit willen an qualitativen ästhetischen Differenzen festhält, das Ausgegrenzte als mitbedingendes Moment ihrer Untersuchungsgegenstände nicht aus den Augen zu verlieren. Bertuchs Zeitschriftenpolitik ist nicht nur ein meist - ungenanntes Ziel der Xenienpfeile Goethes und Schillers, sondern läßt zugleich das „Horen"-Projekt in den Gründen seines Scheiterns schärfer hervortreten und bildet mit ihrer schon im Modejournal erkennbaren und in „London und Paris" weiterentwickelten Tendenz zu einer Geschichtsschreibung der postrevolutionären Gegenwart auch einen erhellenden Hintergrund für die im Hin und Her zwischen Schillers ,3riefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" und Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" in den einzelnen „Horen"-Lieferungen ausgetragene Diskussion über die Möglichkeit ästhetischer Suspendierung der bedrängenden Zeiterfahrungen. 2. Reduktion von Komplexität ist uns anthropologisch aufgenötigt, und soweit der Kanon eine Form von Komplexitätsreduktion darstellt, ist er, diesseits aller Wünschbarkeit, gar nicht zu vermeiden. Jeder Kanon birgt allerdings die Gefahr in sich, als quasi natürliche Einheit mißverstanden zu werden, zu erstarren und damit den lebendigen Zugang zur Vergangenheit zu verschütten. Der Blick auf das vom Kanon Ausgegrenzte stärkt das Bewußtsein von dessen auf Zustimmung angewiesenen konstruktiven Charakter, hält ihn bewußt offen für Umbesetzungen und verhilft zu der Einsicht, daß es im literarischen Prozeß so etwas wie schwach besetzte Möglichkeiten gibt, die in sich den Kern späterer Entwicklungen tragen. Alle drei Aspekte zeigen sich im Falle Bertuchs. Es ist eine revidierbare Setzung, daß wir uns mit den „Hören", kaum aber mit dem „Journal des Luxus und der Moden" beschäftigen, in dem nicht nur der Zweitdruck des „Römischen Carneval" erschien, sondern das auch manchen Artikel enthält, der den Beiträgen in den späteren Lieferungen von Schillers Zeitschrift überlegen ist. Es wäre an der Zeit, Gillrays Karikaturen im Anhang zu „London und Paris", ungeachtet des Umstands, daß sie von den Verantwortlichen selbst nur bedingt der Kunst zugezählt wurden, in ihrer gegen die Akademie gerichteten Formensprache als eine Alternative zum klassizistischen Programm zu lesen, wie Goethe es zeitgleich in den Preisaufgaben verfocht, 49 eine wirkungsmächtige Alterna49
Vgl. Ernst Osterkamp: „Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit". Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1799-1805, in: Sabine Schulze (Hg.): Goethe und die Kunst. Schirn/Kunsthalle Frankfurt, Kunstsammlungen zu Weimar, Stiftung Weimarer Klassik
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tive, an die E.T.A. Hoffmann wenig später schon mit seiner ausgesprochen karikaturistischen verbalen Bildlichkeit anknüpfte und die mit im Zentrum des theoretischen Nachdenkens Baudelaires steht, eines notorischen Hoffmann-Liebhabers und zweiten exemplarisch Modernen. Schließlich: Während die Klassik auf die revolutionären Informationszumutungen mit thematischer Ausgrenzung, aufs Zeitlos-Wesenhafte gerichteter Typisierung und ästhetischer Geschmacksnormierung antwortet, die Romantik ihrerseits auf unendlich potenzierende Integration, damit aber auch Verflüchtigung der heterogensten Formen und Stoffe setzt, führen Bertuchs Publikumszeitschriften die enzyklopädische Tradition der Aufklärung bzw. Spätaufklärung verstärkt auf Unterhaltung setzend, entschieden nutzenorientiert fort und nehmen gleichzeitig das postklassische wie postromantische Programm einer Geschichtsschreibung der Gegenwart vorweg - sie bringen genau die Stoffe, aus denen drei Jahrzehnte später Heine und vor allem Balzac große Literatur machen werden, 50 und im Ansatz wird ihnen dabei auch schon die Formfrage einer Geschichtsschreibung der Gegenwart zum Problem. Lassen Sie mich diese Überlegungen zum komplementären Bezug von Kanon und Ausgegrenztem dialektisch zuspitzen! Im Jahr 1800 schrieb Tieck einen, wie der Untertitel des Knittelverses wegen angab, „Fastnachts-Schwank" mit dem Titel „Der Autor", dessen Beginn kontrafaktisch die Studierstubenszene des „Faust" aufnimmt. Ein Autor klagt über das „prosaisch Leben" 51 , wie er es zumal in den literarischen Produktionsbedingungen erfahren muß. Eine Reihe von Besuchern tritt herein, zuerst ein „Fremder", der dafür spricht, die „Menge der Leser" müsse „den Ausschlag geben" 52 , dann der „Schauspieler", der rät, wie der „Beifall des Zeitalters" zu gewinnen sei 53 , der „Recensent", der ihm Exzentrizität und Unverständlichkeit vorhält, usw. Zwischen den peinigenden Auftritten spricht die Muse dem Autor gelegentlich Mut zu, bevor am Schluß die Entscheidung zugunsten des „wahren" gegen den „falschen Ruhm" fällt und der Autor sich zur „heiigen Kunst" bekennt. 54 In den Worten des Fremden, des ersten Versuchers, kommt Bertuch ungenannt ins Spiel. Der Autor gibt die Auskunft, er arbeite „an einem Poetischen Journal", der Fremde erwidert, „Poetisch Journal" sei „ein Widerspruch" in sich und erläutert seine Forderung, es „nur nicht am Interessanten fehlen" zu „lassen" - ich zitiere eine Dialogsequenz, zunächst den Fremden: So intressirt zum Beispiel, über die maßen, Was da und da für Komödien aufgeführt, Wie der und der die Rolle genommen, Was für Witz von Paris und London gekommen.
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1994, S. 310-322. Zu Gillray: Christiane Banerji, Diana Donald (Hg.): Gillray Observed. The Earliest Account of his Caricatures in London und Paris. Cambridge 1999. Vgl. „London und Paris", Jg. 4 (1801), H. 4, S. 320 über London: „man kann hier alle Tage ganz unerwartet einen Zeugen bei Scenen abgeben, die in einem Romane erzählt, für Geburten einer übermüdeten Einbildung gelten würden." Ludwig Tieck's Schriften. Dreizehnter Band (Märchen, Dramatische Gedichte, Fragmente). Berlin, bei G. Reimer 1829, S. 273f. Ebenda, S. 275. Ebenda, S. 285. Ebenda, S. 334.
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36 Autor In dergleichen Dingen bin ich unerfahren. Fremder So müssen Sie sich mit andern paaren, Um Korrespondenz und Konnexionen, Karikaturen und Spionen, Um Neuigkeiten, aus Wien und Berlin Und dergleichen Amüsanten bemühn. Autor Doch seh ich eben nichts Neues geschehn. Fremder Man muß nur von sprechen, man kann es nicht sehn; Wer wird die Dinge so schwerfällig nehmen? Man muß sich eben zum Glauben bequemen; Wer fordert, daß Gilreys Bilder witzig wären? Es handelt sich drum, sie zu erklären. Autor Mein Herr, das ist mir nicht gegeben, Zu führen ein solch erbärmlich Leben. 55
In den gleichen Jahren, in denen Tieck mit polemischem Seitenhieb auf „London und Paris" seinen Autor sich „eremitisch"56 von der Welt abkehren und diese allein im „Innern" finden läßt57, wird Friedrich Schlegel und Kleist die reale Paris-Erfahrung zum Anstoß, sich von der angeblichen Oberflächlichkeit der französischen Metropolenkultur abzuwenden und einer Kunst zu verpflichten, die ganz aus der tiefen, den Deutschen wie keinem anderen Volk gegebenen Innerlichkeit des eigenen Ich schöpft.58 Und selbst der in der Tradition der Aufklärung sehr viel aufgeschlossenere Achim von Arnim59 berichtet in seinen an Brentano
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Ebenda, S. 273f. Ebenda, S. 314. Ebenda, S. 293. Vgl. dagegen „Plan und Ankündigung" zu „London und Paris": „Wie hastig greift man im Journale Frankreich zuerst nach den Briefen teutscher Männer aus Paris, weil sie den Stempel an der Stirn [!] tragen, daß sie in keiner teutschen Studierstube geschrieben worden sind?" (Jg. 1 [1798], H. 1, S. 5). Vgl. Günther Oesterle: Friedrich Schlegel in Paris oder die romantische Gegenrevolution, in: Gonthier-Louis Fink (Hg.): Les Romantiques allemands et la Révolution française/Die deutsche Romantik und die französische Revolution. Strasbourg 1989 (Collection Recherches Germaniques; 3), S. 163-179 und Ingrid Oesterle: Werther in Paris? Heinrich von Kleists Briefe über Paris, in: Dirk Grathoff (Hg.): Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen 1988, S. 97-116. Vgl. Günter Oesterle: „Commentar dieser unbegreiflichen Zeit". Achim von Arnims Beitrag zum komplexen Verhältnis Frankreich - Deutschland, in: Heinz HärtI, Hartwig Schultz (Hg.): „Die Erfahrung anderer Länder". Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Achim von Arnim und Bettina von Arnim [vom 18. bis 21. Dezember 1992]. Berlin und New York
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gerichteten Briefen nur bedingt Mitteilenswertes über beide Metropolen.60 Statt dessen nutzt er das Briefmedium, übrigens seinerseits auf „London und Paris" polemisch anspielend61 und außerordentlich kritisch gegenüber der zeitgenössischen französischen Literatur, zum Selbstentwurf als poetische Existenz und zur probeweisen Formulierung einer hochgradig poetischen Prosa, die zum Steinbruch seiner dichterischen Arbeiten wird. Die Abwendung von den beiden westeuropäischen Führungsmächten ist nicht auf Frankreich beschränkt und gilt, was Frankreich betrifft, nicht allein den Jakobinern oder Bonaparte. 1802 dichtet Schiller „Der Antritt des neuen Jahrhunderts", und auch ihm wird Bertuchs Metropolenzeitung in den Sinn gekommen sein: Zwo gewaltge Nationen ringen Um der Welt alleinigen Besitz, Aller Länder Freiheit zu verschlingen, Schwingen sie den Dreizack und den Blitz. Gold muß ihnen jede Landschaft wägen, Und wie Brennus in der rohen Zeit Legt der Franke seinen ehrnen Degen In die Waage der Gerechtigkeit. Seine Handelsflotten streckt der Brite Gierig wie Polypenarme aus, Und das Reich der freien Amphitrite Will er schließen wie sein eignes Haus.
Und Schiller schließt: In des Herzens heilig stille Räume Mußt du fliehen aus des Lebens Drang, Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, Und das Schöne blüht nur im Gesang. 62
Während die deutsche Aufklärung im Zeichen der Anglophilie gestanden und das revolutionäre Frankreich bis zum Einsatz der terreur starke Sympathien der deutschen Intelligenz, zumal der spätaufklärerischen, auf sich gezogen hatte, vollzieht sich um 1800 eine Umbesetzung, die sich schon länger angebahnt hatte. Deutschland wird als Kulturnation nicht nur in seiner Andersheit im Verhältnis zur französischen und englischen Staatsnation begriffen, sondern diese Andersheit wird in offener oder verdeckter Polemik als Überlegenheit herausgestellt. Bertuchs Zeitschriften widersprechen dieser übergreifenden Tendenz, die im politischen und ökonomischen Handeln der westeuropäischen Leitstaaten nur entfesselten Egoismus zu erkennen vermag. Sie kritisieren die Herrschaft der
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1994, S. 25-38, und Ingrid Oesterle: Achim von Arnim und Paris. Zum Typus seiner Reise, Briefe und Theaterberichterstattung, in: ebenda, S. 39-62. Achim von Arnim und Clemens Brentano: Freundschaftsbriefe. Vollständige kritische Edition von Hartwig Schultz, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1998 (für den Hinweis danke ich Johanna Sänger). Vgl. den aus London an Brentano gerichteten Brief vom 5. Juli 1803 (ebenda, Bd. 1, S. 148). Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke herausgegben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 1 - Gedichte/Dramen 1 - , 5. Aufl. München 1973, S. 459.
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Jakobiner wie später die Bonapartes, und sie verschweigen auch nicht die Schattenseiten des frühen englischen Kapitalismus. Doch halten sie, objektiv polemisch gegen die - nicht selten dünkelhafte - deutsche Innerlichkeitsemphase gerichtet und wie immer beide auch in ihrer Gegensätzlichkeit begreifend, am maßstabsetzenden Wert der englischen und französischen Kultur fest. In diesem Sinne steht mit Bertuch nicht ein drittklassiger Autor einer Reihe von Sternen erster Ordnung unvermittelbar gegenüber, sondern in ihm ist anschaubar, was die große deutsche Kultur um 1800 beiseite schieben, verdrängen und sublimieren mußte, um zu dem zu werden, was sie war. Vermutlich sind es die stark gewinnorientierte literarische Durchschnittlichkeit und der Umstand, daß er als Autor hinter seinen Zeitschriften nahezu verschwindet, die verhindern, ihn in dieser zentralen Bedeutung wahrzunehmen. Erlauben Sie mir, dieser Überlegung in einem letzten Schritt noch eine kritische Wendung zu geben. Der Gegensatz, in den man sich mit der Gegenüberstellung von deutscher Kultur- und französischer bzw. englischer Staatsnation brachte, wird im zwanzigsten Jahrhundert mit der Opposition von - hoher - deutscher Kultur und - bloßer - französischer oder englisch-amerikanischer Zivilisation endgültig politisch virulent und findet im Thomas Mann der „Betrachtungen eines Unpolitischen" einen rhetorisch glanzvollen Propagandisten, der sich erst eines Besseren besinnt, als große Teile auch der deutschen literarischen Intelligenz der nach westlichem Vorbild ausgerichteten Weimarer Republik die Unterstützung längst aufgekündigt hatten. Dafür ist nicht Eichendorff verantwortlich zu machen, auf dessen „Taugenichts" Thomas Mann sich als Inbegriff innerlich geprägter deutscher Kultur berief, so wenig Schiller anzurechnen ist, daß er in „Der Antritt des neuen Jahrhunderts" deutschem Kulturdünkel Anknüpfungspunkte geboten hatte und deutsche Juden gerade aus seinem Werk, das sie glühend liebten 63 , illusionäre Hoffnungen in die sittigende Macht von Humanität gewannen. Dennoch lassen die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch die Zeit um 1800 in wechselnde Beleuchtung treten. Wenn die Deutschen sich erst nach zwei Weltkriegen und Diktaturen für den westlich-demokratischen Weg entschieden, so hat dies jedenfalls Konsequenzen für die Einschätzung eines Mannes wie Bertuch, der sich in der Tradition der aufklärerischen Anglophilie und trotz der auch von ihm früh abgelehnten französischen Revolution der zu seiner Zeit schon erkennbaren antiwestlichen Wende entschieden verweigerte. Die auch ihn leitenden Vorstellungen von nationaler Eigentümlichkeit verfestigten sich nie zur aggressiven Hypostasierung eines deutschen „Nationalcharakters", der unvermittelbar denen der westeuropäischen Völker gegenüberstehe, und so fehlen denn seiner Physiognomie jene Züge des Hasses, der Gehässigkeit und der Ressentiments, 64 die auch immer Ausdruck von Unglück sind. Bertuchs Orientierung 63
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Vgl. Gershom Scholem: Juden und Deutsche, in: G. Sch.: Judaica 2, Frankfurt a.M., 5. Aufl. 1989, S. 29-31. Freilich nicht durchweg, sofern wir ihn als Herausgeber unter dem „H." einer Fußnote im zweiten Heft des ersten Jahrgangs von „London und Paris" zu vermuten haben. In Ergänzung eines antisemitisch getönten Berichts aus England ist zu lesen: „nach den neuesten Nachrichten erlassen ja die citoyennisirten und alles schimpflichen Leibzolls (bald auch in Deutschland?) zu entlassenden Söhnen Abrahams schon Cirkelbriefe an alle ihre Glaubensgenossen im Osten und Westen, um unter der Französischen Freyheitsfahne und den
Friedrich Justin Bertuch - Versuch eines
Porträts
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an einem im Sinne von Arbeitserleichterung und Produktverbesserung, Alltagsästhetik und Urbanität, Geselligkeit und öffentlicher Transparenz weit verstandenen Begriff von Kultur war auch, aber nicht ausschließlich durch Gewinnstreben motiviert und enthielt jedenfalls kräftige Gegenmittel gegen die Gefährdungen eines deutschen Kulturdünkels. Wie in vielem anderen, zumal der rastlosen Tätigkeit und der Interessenvielfalt, ist er auch hierin Goethe nicht unverwandt, wie denn dessen Reaktionen auf ihn möglicherweise auch Momente der idiosynkratischen Abwehr einer Physiognomie enthalten, in denen er die eigene Lebensklugheit zu gediegener Behaglichkeit und gewinnorientierter Effizienz entstellt buchstabieren konnte.
Pannieren Buonapartes das gelobte Land zu erobern und eine Bruderrepublik mit den Neufranken zu stiften." (S. 122).
I
Bertuch und die großen Autoren
Renate Stauf
Wieland und Bertuch Die Idee des Weltbürgertums im Selbstverständnis des Poeten und des Handelsherrn
I
Wieland und Bertuch, das ist die Geschichte einer frühen Interessengemeinschaft und lebenslangen, wenn auch nicht ungetrübten Freundschaft 1 - einer Freundschaft, in der dem Älteren zunächst die Rolle des Protektors und Mentors zufällt, die sich aber im Verlauf der Jahre zugunsten des jüngeren fast in ein ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis verwandelt. Es ist aber auch eine Freundschaft, an der sich beispielhaft zeigen läßt, wie grundsätzlich unvereinbar der Dichter und der homo oeconomicus im bürgerlichen Bewußtsein der Deutschen um 1800 sind - selbst dann, wenn wie bei Wieland und Bertuch die weltanschaulichen und politischen Überzeugungen weitgehend übereinstimmen. Anders als in England oder Frankreich vermögen die bürgerlichen Intellektuellen in Deutschland die wirtschaftlichen Interessen des zu politischer Passivität verurteilten Bürgertums in der Regel nicht oder kaum zu vertreten. 2 Von Wieland über Lessing, Herder und die Romantiker bis hin zu Heine ist man weit mehr an der individuellen Vervollkommnung des Menschen, an seiner inneren, sittlichen Freiheit als an seinem äußerlichen Glück und Wohlstand interessiert. Die Möglichkeit eines Zuwachses an politischem Einfluß - und damit auch an Demokratie - auf der Basis erfolgreicher ökonomischer Betätigung kommt in den Traktaten der deutschen Aufklärer so gut wie überhaupt nicht in den Blick. Der aufgeklärte Intellektuelle fühlt sich hier vielmehr dem alltäglichen Streben nach Erwerb überlegen. 3 Er negiert im Zeichen einer lichtvolleren und höheren Erkenntnis des Humanen alles, was auch nur den Anschein eines Eigeninteresses erkennen läßt und fordert bei allen Handlungen ein Absehen von eigenem Nutzen oder Schaden. 4
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Dieser Freundschaft wird in den Abhandlungen über Bertuch große Bedeutung zugemessen, in der Literatur über Wieland wird sie indes nur selten oder gar nicht erwähnt. Eigenständige Untersuchungen über das Verhältnis der beiden zueinander und über die Hintergründe ihrer zeitweiligen Schwierigkeiten miteinander fehlen gänzlich. Auch der einzige mir bekannte Aufsatz über Bertuch und Wieland bringt hier keinen Aufschluß. Vgl. Hugo Wernekke: Bertuch und Wieland, in: Hamburgische Zirkel-Correspondenz. Jg. 30, Hamburg 1996/1997, S. 17-22 und S. 37-43. Vgl. Henning Scheffers: Höfische Konvention und die Aufklärung. Wandlungen des ,,honnête-homme"-Ideals im 17. und 18. Jahrhundert. Bonn 1980. Das hat Irmtraud Sahmland am Beispiel von Wielands Idee des Weltbürgertums überzeugend belegt. Vgl. dies.: Christoph Martin Wieland und die deutsche Nation. Zwischen Patriotismus, Kosmopolitismus und Griechentum. Tübingen 1990, S. 227ff. Vgl. zum Beispiel Friedrich Carl von Moser: Beherzigungen. Frankfurt a.M. 1761, S. 247.
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Renate Stauf
Ausnahmen sind selten. Unter den deutschen Schriftstellern und Gelehrten des 18. Jahrhunderts ist es der Friedrich Justin Bertuch in vielem geistesverwandte Osnabrücker Jurist und Staatsmann Justus Moser, der sich entschieden für eine Akzeptanz des bürgerlich-ökonomischen Erwerbsdenkens einsetzt. Moser zufolge finden die deutschen Schriftsteller und Philosophen einen echten Patrioten „nirgends anders als in ihrem Kopf oder höchstens auf dem Papier", weil sie „in seinem Gemälde und Charakter [...] nicht einen Strich von Eigennutz dulden."5 Der wahre Patriot ist für Moser aber derjenige, der sich zu seinen persönlichen Interessen bekennt und dessen „Eigennutz das gemeine Beste gleich mitbefördert."6 Die Idee eines uneigennützigen Dienstes am Gemeinwesen schadet - so Moser - dem Nationalinteresse. Dieses braucht konkrete Bezugspunkte. Kehrt doch keiner, der es zum Beispiel im Ausland zu etwas gebracht hat, „aus Liebe zum Lande oder seiner Verfassung zurück" und malt sich doch keiner „dasselbe reizender als ein fremdes Land, wenn es ihn verhindert, seine Knöpfe und Schnallen zu zeigen"7. Die Neigung des deutschen Bürgertums, alle Ehre im Fürstendienst zu suchen und den Fürstendienern überall große Vorzüge einzuräumen, ist für Moser ein Zeichen seiner ökonomischen Schwäche. Er will die „Tyrannei, welche darin steckt, wenn Führnehmere sich alles erlauben und den Geringeren alles untersagen wollen"8, durch eine Verbesserung der ökonomischen Situation bürgerlich-handwerklicher Schichten aufbrechen und verspricht sich davon einen Zuwachs an Demokratie9 und eine neue Auffassung der gesellschaftlichen Rang- und Wertfrage: Alle sprechen von führnehmen und geringen Bürgern. Wer ist aber der führnehme und geringe? Der Mann, der aus seinem Comtoir der halben Welt Gesetze und Königen Kredit giebt, oder der Pflastertreter, der in einem langen Mantel zu Rate geht? Der Handwerker, der tausend dem Staate gewinnt, oder der Krämer, der sie herausschickt? Der Mann, der von seinen Zinsen, oder der, so von Besoldung lebt und dem gemeinen Wesen in der Futterung gegeben ist? Der Taugenichts, der seines wohledlen Großvaters Rang noch mit geerbtem Stock und Degen behauptet, oder der Meister, der die beste Arbeit macht? 1 0
Das ist im Geiste Bertuchs gesprochen. Jeden einzelnen Satz Mosers hätte Bertuch gewiß unterschrieben. So ist es denn auch nicht zufällig Mosers Tochter Jenny, die in Tönen der höchsten Begeisterung von Bertuch spricht und ihm nach einem Besuch in Weimar schreibt: Kan ich dafür, das mir das Andenken an Sie sogar bis Lintorf verfolgt und nicht gleich erlöscht, wie das meinige bei Ihnen; kan ich dafür, das Sie mich auf den ersten Blick zutraun einflösten. 1 1
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Justus Mosers Sämtliche Werke. Hg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Oldenburg u.a. 1943ff., Bd. 8, S. 253. Ebenda. Justus Mosers Sämtliche Werke. Bd. 7, S. 75. Justus Mosers Sämtliche Werke. Bd. 4, S. 132. Vgl. dazu auch Renate Stauf: Justus Mosers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe. Tübingen 1991, S. 276ff. Justus Mosers Sämtliche Werke. Bd. 4, S. 131. Zitiert nach Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) - bewundert, beneidet, umstritten. Berlin und New York 1989, S. 94.
Wieland und Bertuch
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II Die deutsche Spezifik einer Distanzierung gegenüber der pragmatischen Seite der Aufklärung offenbart sich im Falle Wielands und Bertuchs vor allem an der Idee des Weltbürgertums, eines patriotischen Kosmopolitismus, den Wieland propagiert und den sein Schüler Bertuch als wirtschaftlicher Pionier in dem kleinen deutschen Fürstentum - freilich unter anderer Akzentsetzung - fast immer erfolgreich in die Tat umzusetzen versucht. Bertuch verehrte in dem vierzehn Jahre älteren Wieland - wie er nach dessen Tod an Böttiger schreibt - den Weltbürger, „in dessen Herz und Geiste ich mich stets spiegelte"12. Und in der Tat gibt es vieles, was die beiden bei allem sozialen und geistigen Gefälle verbindet: ihre Tätigkeit als Übersetzer, das Streben nach schriftstellerischer und ökonomischer Unabhängigkeit, die erfolgsorientierte Planung der eigenen Karriere trotz schwierigster Anfänge, diplomatisches Gespür und weltmännisches Auftreten und nicht zuletzt eine aufgeklärt liberale Weltanschauung, die sich in den Dienst einer Verbreitung und Popularisierung der fortschrittlichen Ideen des Zeitalters stellt, ohne die monarchische Staatsform ernsthaft in Frage zu stellen. Bertuch knüpft den ersten Kontakt zu Wieland schon gegen Ende seines Studiums, besucht den bereits berühmten Dichter in Erfurt und stellt ihm seine Erstlingswerke vor, die ganz im Stil des Meisters gehalten sind. Daß Bertuch dabei nicht ohne Originalität ist, zeigt sein 1772 publiziertes Poem „Das Märchen vom Bilboquet". Es ist ein ungewöhnlich frisches, humorvolles Gedicht über den antiken Götterhimmel, in dem bereits die Lust des späteren Handelsherren am Erwerb und am kaufmännischen Denken zum Ausdruck kommt, das aber auch als Plädoyer für eine Gesellschaft gelesen werden kann, in der nicht nur bürgerlicher Fleiß, sondern auch Schönheit und Genuß ein Lebensrecht haben sollen: Die Göttin Juno hat in einem Anfall von Zorn allen Tand, welcher den Göttern zum Vergnügen, zum Genuß und zur Kurzweil diente, verbrannt; die Götter sind darüber verzweifelt, im Göttersaal herrscht Langeweile, alles ist öde und traurig. Da kommt dem gesellschaftsliebenden Zeus die rettende Idee. Er schickt Merkur auf die Erde um einzukaufen, natürlich nach Paris! Bertuch malt den Jubel der Götter über den Entschluß des Zeus sowie Merkurs Einkaufsmission genüßlich aus: [...] „Merkur! rief er, komm, schaff uns Ruh „Fahr nunter an die Seine; „Du kennst ja dort die bunte Stadt „Wo man von Babiolen „Und Tändeleyn Boutiken hat, „Du sollst uns welche holen; „Nimm deine größte Tasche mit, „Hier ist ein voller Beutel; „Kauf ein, und handle hiipsch, damit „Doch, es ist alles eitel ! -
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Bertuch an Böttiger, 11. Februar 1813. Zitiert nach Gustav Bohadti: Friedrich Johann Justin Bertuch. Jugend- und Altersgenosse jener großen Männer, die an Weimars Namen den höchsten Ruhm deutscher Literatur geknüpft haben. Sonderdruck der H. Berthold Messinglinienfabrik und Schriftgießerei AG. Berlin und Stuttgart [1970], S. 38.
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Merkur fliegt in die Unterwelt! Gieng schnell von Mund zu Munde. Gleich war der Himmel ausgeheilt, Die Sonne schien zur Stunde. Das war ein Fest! Man seh nur an Wie alle Götter lachten! Wie Kinder um den Puppenmann Am Tage vor Weyhnachten, So hüpften froh um Majens Sohn Die Göttermädchen alle. „Merkur!" rief die, rief jene schon, Und endlich schrien sie alle. „Zum Guckuck! - fing Sir Hermes an, „Mesdam's! ich will nicht schwören, „Allein, beym Jupiter! man kann „Sein eigen Wort nicht hören." Der Donner sas auf seinem Thron Und hielt den Bauch für Lachen; Befahl nochmals dem lieben Sohn den Handel gut zu machen. Der Bothe gieng indessen ab Empfahl sich aller Enden, Und schwur bei seinem Heroldsstab Bald wieder anzulanden. Den armen Krämern von Paris War diese Messe selten. Merkur kauft viel, zahlt baar, und ließ Kein Restchen; - beym Sanct Velten! Das ist ein Ehrenmann! Man schenkt Ihm drum aus frohen Muthe, Ein schönes Flugwerk - denkt doch! denkt! Nebst einem neuen Huthe. [•••I13
Bertuch gelingt es offenbar, Wieland nicht nur von seinen poetischen, sondern auch von seinen kaufmännischen Qualitäten, seinem Unternehmergeist und seiner Weitsicht zu überzeugen. Mit Wieland spricht er vermutlich vieles ab, was ihm später seine Existenz in Weimar sichern hilft.14 Bertuch wird Hofmeister bei dem Freiherrn Bachoff von Echt auf Gut Dobitschen bei Altenburg und eignet sich während dieser Zeit nicht nur jene Kenntnisse an, die seine Laufbahn als Übersetzer, Schriftsteller und Herausgeber begründen, sondern auch jenen gesellschaftlichen Schliff, der ihn zu einem sicheren und formvollendeten Umgang mit der Hofgesellschaft befähigt. Als er 1773, 26jährig, als freier Schriftsteller nach Weimar zurückkehrt, unterstützt Wieland ihn zunächst in jeder Hinsicht. Er bietet ihm die Mitarbeit am „Teutschen Merkur" an, ermutigt ihn bei seiner Übersetzung des „Don Quijote", die zum literarischen Ereignis wird, und plant 13 14
Friedrich Justin Bertuch: Das Mährchen vom Bilboquet. Altenburg 1772, S. 16-20. Vgl. Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (Anm. 11), S. 35.
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mit ihm zusammen die Gründung einer Verlagsbuchhandlung, mit der Absicht, „unter dem Schutz und mit Unterstützung unseres jungen vortrefflichen Fürsten [...] die besten Schriftsteller Teutschlands durch höhere Bezahlung ihrer Werke mit uns zu verbinden, der großen Buchhändler-Rotte dadurch das Gleichgewicht zu halten, und folglich dieselben zu nöthigen gerechter und billiger gegen verdienstvolle Gelehrte zu seyn, die sie jetzt als ihre Tagelöhner halten und bezahlen"15. Wielands Empfehlung verdankt Bertuch schließlich auch die Berufung zum Geheimsekretär und Verwalter der Privatschatulle des jungen Herzogs Carl August, bereits einen Tag nach dem Regierungswechsel von 1775. Doch nun schlägt der Schützling jenen erfolgreichen Weg als vielseitiger Geschäftsmann ein, der Wieland die von Bertuch beschworene Geistesverwandtschaft mehr als einmal fragwürdig erscheinen läßt. Bertuch gibt seinen dichterischen Ehrgeiz aufgrund fehlender öffentlicher Anerkennung gänzlich auf und verabschiedet sich 1796 auch vom Hofdienst. Er entwickelt sich in den kommenden Jahren zu einem der bedeutendsten journalistischen Unternehmer. Mit seinem Journal „London und Paris" und der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" schafft er zwei Organe von hohem kulturhistorischen und wissenschaftlichem Rang. Dazu kommen ein Modejournal, das zugleich ein Handelsblatt ist, eine Gartenzeitung, ein „Bilderbuch für Kinder", vielbändige Serien von Reisebeschreibungen sowie wichtige geographische Werke. Bertuch begründet eine „Blaue Bibliothek aller Nationen", die als Sammlung von Volksmärchen, Sagen und Ritterromanen gedacht ist und wird schließlich auch im Bereich des politischen Zeitschriftenwesens aktiv. 1814 bietet er mit der „Nemesis", einer „Zeitschrift für Politik und Geschichte", den liberalen Bestrebungen der studentischen Gruppen ein Forum. 1817 nutzt er die von Carl August eingeführte Pressefreiheit zur Gründung des ,,Oppositions-Blatt[es]", der ersten größeren deutschen politischen Tageszeitung.16 Doch in diesen verlegerischen Unternehmungen erschöpfen sich Bertuchs wirtschaftliche Aktivitäten bei weitem noch nicht. Er regt die Gründung einer Zeichenschule an und zählt auch eine Druckerei, eine Gravieranstalt sowie eine Fabrik für künstliche Blumen zu seinen Institutionen. Für das Herzogtum, das immer noch überwiegend von der Landwirtschaft lebt und weder über eine nennenswerte Industrie noch über größere Handelsunternehmen verfügt, sind Bertuchs Unternehmungen, die er 1791 in dem sogenannten Industrie-Comptoir zusammenfaßt, ein Segen. Beschäftigt er doch zeitweise über 450 Personen und gibt damit ungefähr einem Sechstel der Weimarer Bevölkerung Arbeit und Brot.17 Neuere Forschungen zeigen, daß er bei all dem kein kleinlicher, engstirniger Geist ist, nicht die bornierte Krämerseele, als die er vielen Repräsentanten des Weimarer Parnasses erscheint. Bertuch vertritt einen Wirtschaftsliberalismus im Geiste Adam Smiths und denkt weit über die Grenzen des deutschen Kleinstaates, in dem er wirkt, hinaus. Er stellt sich nicht nur in den Dienst eines künftigen deutschen Nationalstaates, sondern setzt sich auch für einen Warenaus15
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Bertuch an Gleim am 7. November 1774. Zitiert nach Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch, S. 39. Vgl. Ilse-Marie Barth: Literarisches Weimar. Kultur, Literatur, Sozialstruktur im 16.-20. Jahrhundert. Stuttgart 1971, S. 102. - Zur Entstehung und zur Situation des Zeitschriftenmarktes vgl. auch Jürgen Wilke: Literarische Zeitschriften des 18. Jahrhunderts (1688-1789). Teil I und II. Stuttgart 1978. Vgl. auch Ilse-Marie Barth: Literarisches Weimar, S. 103.
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tausch mit den angrenzenden europäischen Ländern ein und versucht sogar Handelsverbindungen mit Nordamerika anzuknüpfen.18 Als Aufklärer ist Bertuch Europäer und Weltbürger - ein Weltbürger, der die deutsche Situation im weltwirtschaftlichen Ganzen klar erkennt und auch den lokalen Bereich entsprechend einzuordnen weiß, für den Aufklärung weder „Gelehrsamkeit", noch „Verfeinerung unserer Empfindung und Einbildungskraft", noch „Empörungsgeist" ist, der „nur Länder in Flammen setzen [...] und einen Despotismus von anderer Art einführen will"19, sondern „gesunde Vernunft", was bedeutet: ,.richtige Einsicht der wahren Verhältnisse der Dinge zu unserer Bestimmung, und bey dem einzelnen Menschen, richtige Kenntnis seines persönlichen Wirkungskreises in seiner wahren Verbindung mit dem Ganzen, dessen Theil er ist"20. Bertuch ist ein Weltbürger, der offen als patriotischer Demokrat auftritt und seine liberal-demokratischen Bestrebungen ganz auf einen Zuwachs an ökonomischer Macht im Bürgertum gründet. Sein Gemeinsinn fallt mit dem Eigennutz in eins. Das bringt er in seinem 1793 verfaßten Aufsatz über „Die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland" auf den Punkt: Privatnutzen und persönliches Interesse ist die Zauberruthe, die hier Wunder thut, und man muß erstaunen, wie schnell oft solche Entreprisen durch Privat-Fleiß und geschickte Führung eines einzigen Mannes aufblühen und einem ganzen Lande wohlthätige Früchte tragen.21
Ein neuer bürgerlicher Stil kommt hier zu Wort, der auf Wohlstand und auf Unabhängigkeit vom Hof setzt und der - wie zahlreiche weitere Äußerungen Bertuchs erkennen lassen - auch ein Mitbestimmungsrecht der Bürger an der Regierung im Blick hat. In England wäre Bertuchs Geisteshaltung sicher ganz anders goutiert worden. Ein Mann wie er hätte vermutlich dort die höchsten Ehren als gentleman genossen. Verkörperte doch der Kaufmann, der sich als Träger nationaler Forderungen an Hof und Adel verstand, in England sozusagen das Leitbild einer ganzen Epoche.22 In Deutschland hingegen fällt der Kaufmannsgeist im Zuge der literarischen Geniebewegung jener Verachtung anheim, die aus der Gegenüberstellung von geschäftigem Philister und harmonisch ausgebildeter Persönlichkeit resultiert. Wer sich hier an Amt und Stand verdingt, fürchtet um seine individuelle Bildung. Kein Geringerer als Goethes Wilhelm Meister legt davon ein eindrückliches Zeugnis ab, wenn er das Angebot ausschlägt, in ein Handelsgeschäft großen Stils einzusteigen und der Verlockung widersteht, „durch alle Art von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und Wohlbefindens an uns zu reißen, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führet". Wilhelm versagt sich sogar die Aussicht, „den Vorteil jedes Augen-
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Das hat besonders Siglinde Hohenstein überzeugend dargelegt. Friedrich Justin Bertuch: Vorschlag das Mode-Wort, Aufklärung, abzuschaffen, in: Journal des Luxus und der Moden. Hg. von Friedrich Justin Bertuch und Georg Melchior Kraus. Weimar 1786ff. Teilnachdrucke aus Bd. 1^40, Bd. 1, Hanau 1967, S. 307. Ebenda, S. 308. Friedrich Justin Bertuch: Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland, in: Journal des Luxus und der Moden. Hg. von F.J. Bertuch und G.M. Kraus. August und September 1793, hier September-Heft, S. 451. Vgl. Henning Scheffers: Höfische Konvention und die Aufklärung (Anm. 2), S. 143.
Wieland und Bertuch
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blickes dieser großen Zirkulation zu genießen"23, weil er gelernt hat, das Gewerbe zu verachten und es für eine „drückende Seelenlast" hält, für „Pech, das die Flügel seines Geistes verleimte"24. Das ist ganz im Sinne Herders gesprochen, der bereits 1769 im ,Journal meiner Reise im Jahr 1769" dem modernen Handelsgeist den Kampf ansagte: Da wird man sehen, wie der bloße Handelsgeist den Geist der Tapferkeit der Unternehmungen, der wahren Staatsklugheit, Weisheit, Gelehrsamkeit u.s.w. aufhebet oder einschränket; man kanns zum Theil in Holland schon jetzt sehen. Ist hier wahres Genie? [...] Alles ist in Holland zu Kauf: Talente, und die werden also Fleiß: Gelehrsamkeit und die wird Fleiß: Menschheit, honnêteté, alles wird vom Kaufmannsgeiste gebildet - [...].25
III In Wielands freundschaftlicher Beziehung zu Bertuch schwingt diese Verachtung des Handelsgeistes stets mit - und das ungeachtet des Faktums, daß Wieland kein realitätsferner Träumer war und seine eigenen ökonomischen Interessen durchaus zu wahren wußte. Bertuchs eminente Begabung für das, was in einer sich durch Technik, Industrialisierung und neues ökonomisches Denken umstrukturierenden Welt vordergründig real oder konkret nützlich ist, kann er trotzdem nicht rückhaltlos anerkennen. Es fallt auf, daß es ihm immer schwerer fällt, in dem ehemaligen Protektionskind weiterhin jenen ,,redlichste[n], gutherzigstefn] Junge[n]", den „Gottes Boden trägt", zu sehen, als den er ihn 1774 noch Gleim empfohlen hatte.26 Aus späteren Äußerungen geht vielmehr hervor, daß Wieland Bertuchs wirtschaftliche Aktivitäten eher mit Skepsis und Ablehnung verfolgt. Es heißt dort über Bertuch: „Der versteht, wo Barthel den Most holt"27 oder - als Kommentar zu Bertuchs im großen Stil erbauten Villa - : „Sonderbar ist's, daß der ehrliche Cervantes, der in seinem undankbaren Vaterlande fast Hungers starb, einem Deutschen, einer thüringer Heringsnase, ein Haus erbauen mußte".28 Rückblickend scheint es Wieland so, als habe Bertuch ihre Freundschaft nur ausgenutzt, um privaten ökonomischen Nutzen daraus zu ziehen: 23
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Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Hg. von Ernst Beutler. Zürich 1977, hier: Bd. 8, S. 636. Ebenda, S. 549. Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise aus dem Jahr 1769, in: Herders Werke in fünf Bänden. Hg. von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Berlin und Weimar 1969, Bd. 1, S. 144. Wieland an Gleim am 8. November 1774, in: Wielands Briefwechsel. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, durch Hans Werner Seiffert. Bd. 5, Berlin 1983, S. 315. Vgl. ebenda, S. 350: Wielands Brief an Staatsrat von Gebler am 7. April 1775, in dem er Bertuch als einen Gelehrten von „vorzüglichen Talenten und vieler Geschicklichkeit" empfiehlt und von ihm behauptet: „Ich liebe ihn wie meinen Sohn." Zitiert nach Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (Anm. 11), S. 91. Aufzeichnung Böttigers nach einem Gespräch mit Wieland am 6. März 1796. Zitiert nach Thomas C. Stames: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. 3 Bde. Sigmaringen 1987, hier: Bd. 2, S. 495.
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Zur Abonnententrommel [für das „Magazin der spanischen Literatur", R.S.] bediente sich Bertuch des Mercurs, der ihm überhaupt treffliche Dienste leistete, um seine Bekanntschaften zu erweitern. Übrigens weiß ich wohl, wie weit Bertuch's Feundschaft gilt. Er hat mir statt Ducaten schön glänzende Souverainsd'ors aufgeschwatzt, wobei er das Agio trefflich zu benutzen wußte. Ich war Kind genug, um die blanken Goldstücke lieb zu haben. Da gab er mir die Puppe. Er hat mich beschwatzt an der dessauer gelehrten Buchhandlung Theil zu nehmen, und ich habe baare 1000 Taler dabei verloren, worüber er mir nie eine Rechnung vorgelegt hat. 2 9
Das klingt zweifellos nach persönlicher Mißgunst oder nach Neid auf den ehemaligen Schützling. Wieland hatte Bertuch 1783 aus finanziellen Gründen die Teilhaberschaft an seinem „Teutschen Merkur" gegen ein Drittel des Reingewinns übertragen30 und mußte ihm noch dankbar sein, als er ihm das Blatt für 100 Taler Pension schließlich ganz überlassen konnte.31 Neidisch könnte Wieland auch auf Bertuchs weitgespanntes Netz von Unternehmungen gewesen sein, das diesen zum reichsten Mann Weimars werden ließ, während Wieland selbst immer mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Doch der Neidverdacht ist eine unzureichende Erklärung für Wielands wachsende innere Distanz zu Bertuch. Daß sein Unbehagen an Bertuchs geschäftlichem Erfolg weitaus tiefere Gründe hat, wird deutlicher, wenn man sich Wielands Idee des Weltbürgertums vor Augen führt. Denn auch Wielands Begriff des Weltbürgers ist - wie bei den meisten deutschen Schriftstellern und Gelehrten des 18. Jahrhunderts - ganz an der idealen Norm einer individuellen Vervollkommnung ausgerichtet. In seinem Merkur-Aufs atz „Das Geheimnis des Kosmopolitenordens" führt er dazu aus: Die Natur [...] hat einem jeden Menschen die besondere Anlage zu dem, was er seyn soll, gegeben, [...] er kann kein angelegeneres Geschäfte haben, als das Bestreben, der Vollkommenheit in seiner Art, die in gewissem Sinn keine Grenzen hat, so nahe zu kommen als möglich [...]. 32
Im 1770 erschienenen „Diogenes" läßt Wieland seine Titelfigur auf die Frage, wen man denn einen Weltbürger nennen könne, antworten: Einen Menschen, wie ich bin, - der, ohne mit irgend einer besonderen Gesellschaft in Verbindung zu stehen, den Erdboden für sein Vaterland, und alle Geschöpfe seiner Gattung - gleichgültig gegen den zufälligen Unterschied, [...] als seine Mitbürger oder vielmehr als seine Brüder ansieht. [...] Der Weltbürger allein ist einer reinen, unparthey29 30
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Ebenda, S. 495. Vgl. Hans Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im 18. Jahrhundert. Berlin 1914, S. 99. Zu den zeitweiligen Verstimmungen zwischen Wieland und Bertuch über die Merkur-Angelegenheit vgl. auch die Aufzeichnungen Böttigers nach einem Gespräch mit Bertuch, wo es heißt: „Im Jahre 1785 errichtete nun W[ieland], der sich [bei der Herausgabe des „Merkur"] gar nicht mehr zu helfen wußte, einen förmlichen Contract mit Bertuch auf gleichen Gewinn und Verlust, und daß der Überlebende von Beiden der Familie des Andern eine gewisse Entschädigung geben solle. Bald kam Reinhold aus Wien und wußte Wieland's Herz und Tochter zu gewinnen. Nun hätte W. gern für Reinhold die Teilhaberschaft am Mercur gehabt, getrauete sich's aber doch nicht, Bertuchen laut zu sagen. Es gab allerlei Verdrießlichkeiten." Zitiert nach Thomas C. Stames: Christoph Martin Wieland. Bd. 2, S. 64. Christoph Martin Wieland: Das Geheimnis des Kosmopolitenordens, in: Der Teutsche Merkur. Weimar 1773 ff., hier: 1788/11, S. 109f.
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ischen, durch keine unächte Zusätze verfälschten Zuneigung zu allen Menschen fähig. Ungeschwächt durch Privatneigung schlägt sein warmes Herz desto stärker bey jeder Aufforderung zu einer Handlung der Menschlichkeit und Güte. 33
Nur indem er sich selbst zur vollkommenen Persönlichkeit ausbildet und sich dabei über alltägliche Lebensinteressen erhebt, gewinnt also der Aufklärer nach Wieland jene Freiheit und Objektivität, die es ihm ermöglichen, seine hohe Verpflichtung als Anwalt der Menschheit wahrzunehmen. Nur indem er dem Eigennutz völlig abschwört, kann er das, was er als Wahrheit erkannt hat, „ohne Scheu sowohl vor den erklärten und heimlichen Feinden - als vor den unverständigen Freunden [...] mündlich und schriftlich" ausbreiten.34 „Es ist mir unmöglich einem Menschen hold zu seyn, der nur für sich selbst lebt", läßt Wieland den weisen Danischmend in seiner gleichnamigen Geschichte resümieren.35 Obgleich also der Weltbürger bei Wieland kein gleichgültiger Zuschauer des Lebens sein, sondern seine Erkenntnisse und Fähigkeiten zum Nutzen der Menschheit einsetzen soll, sind seinem Engagement doch Grenzen gesetzt. Das Maßhalten in allen Dingen ist ein oberstes Gebot. Wieland will für alles bürgerliche Handeln ein „goldenes Mittelmaß" gewahrt wissen.36 Wie aus einem von Reinhold verfaßten Merkur-Artikel über „Die drey Stände" hervorgeht, scheint der bürgerliche Mittelstand für dieses maßvolle Handeln geradezu prädestiniert zu sein. Wird er doch als ein Stand charakterisiert, der von „Armuth und Reichthum, vom Adel- Pfaffen- und Baurenstolz gleich weit entfernt" ist und der „durch kein persönliches Interesse weder für noch gegen was immer für eine der bisherigen politischen Verfassungen, philosophischen Hypothesen, und herrschenden Vorstellungsarten eingenommen" ist, weil er von dem ,,geheime[n] Einfluß des Eigennutzes auf die Denkart" durch sein „äusseres Schicksal abgeschnitten" ist.37 Die hier vorausgesetzte mittelständische Interesselosigkeit engt den bürgerlichen Handlungsspielraum auf der staatlich-politischen oder auch ökonomischen Ebene erheblich ein. Sie verurteilt den weltbürgerlich gesinnten Staatsbürger gewissermaßen zur Passivität, verpflichtet ihn auf eine eher privat-häusliche Existenz. Wieland hat diese bürgerliche Selbstbeschränkung gelegentlich selbst als eine erzwungene Abstinenz empfunden. In seiner „Betrachtung über die Abnahme des menschlichen Geschlechts" klagt er: [...] weil wir keine Nerven mehr haben, und in dem Staat, worinn wir zu leben die Ehre haben, nichts thun können oder dörfen, [...] schwingen wir uns über die partheyischen
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Christoph Martin Wieland: Nachlaß des Diogenes von Sinope. Aus einer alten Handschrift, in: C.M. Wieland: Sämmtliche Werke. Leipzig 1794ff. (Reprint-Ausgabe Hamburg 1984), Bd. 13, S. 112f. (Hervorhebungen von Wieland). Christoph Martin Wieland, in: Der Neue Teutsche Merkur. Weimar 1790ff., hier: 1791/III, S. 137. Christoph Martin Wieland: Geschichte des Danischmend, in: C.M. Wieland: Sämmtliche Werke. Leipzig 1794ff. (Reprint-Ausgabe Hamburg 1984), Bd. 8, S. 79. Vgl. dazu auch Irmtraud Sahmland: Wieland und die deutsche Nation (Anm. 3), S. 230f. Die drey Stände - ein Dialog, in: Der Neue Teutsche Merkur. 1792/1, S. 340 (Hervorhebungen von Reinhold).
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kleinfügigen Bürgertugenden hinweg, und - schwatzen von allgemeiner Weltbürgerschaft. 38
Es überrascht nicht wenig, daß Wielands skeptische Einsicht in die Bedingungen der eigenen Theoriebildung ohne Folgen für seine Beurteilung der Bertuchschen Aktivitäten geblieben ist. Hätte ihm doch Bertuchs Leben und Werk durchaus als Beispiel dafür dienen können, wie man die beklagte bürgerliche Ohnmacht erfolgreich überwinden kann. Wie tief der Graben zwischen Wielands geistig-moralischem und Bertuchs ökonomisch-pragmatischem Weltbürgertum indessen bleibt, läßt sich an dem 1784 um die „Allgemeine Literaturzeitung" ausgetragenen Konflikt ablesen, der die bis dahin zwölfjährige Freundschaft der beiden ernsthaft zu gefährden droht. Es ist ein Konflikt, aus dem Wieland schließlich deshalb siegreich hervorgeht, weil er eine vorgebliche Überlegenheit des Poeten über den Handelsherrn geschickt auszuspielen weiß.
IV Wieland hatte sich bereits mit einem beträchtlichen Wechsel an dem von Bertuch angeregten Zeitungsprojekt beteiligt, als er, noch vor dem Erscheinen der ersten Nummer, Bertuch seine Teilhaberschaft wieder aufkündigte - aus Ärger über den Dritten im Bunde, den als Redakteur vorgesehenen, höchst angesehenen Jenaer Professor für Poesie und Beredsamkeit Christian Gottfried Schütz, wohl aber auch, weil er am Erfolg des Unternehmens zunehmend zweifelte. Die Hintergründe des Streites mit Schütz sollen hier nicht interessieren.39 Wichtig ist hingegen das großzügige Angebot, das Wieland mit seinem Rücktrittsgesuch an Bertuch schickte. Er schlägt diesem vor, das von ihm selbst eingebrachte Kapital in dem gemeinsamen Projekt zu belassen und so das Risiko des ersten Jahrgangs mitzutragen. Bertuch nimmt dieses Angebot an, nachdem seine Vermittlungsversuche zwischen Schütz und Wieland erfolglos geblieben sind. Er arbeitet einen fairen Vertrag aus, der dem Freund zwar das Risiko eines Verlustes aufbürdet, ihn dafür aber auch an einem möglichen Gewinn des ersten Jahrgangs beteiligt. Doch darin will nun Wieland für sich keinen Vorteil mehr erkennen. In seiner Antwort - die ein Meisterstück dichterischer Selbstbehauptung darstellt teilt er Bertuch mit, daß es die ganze Vertragsidee niemals hätte geben dürfen. Bertuchs schnelle Bereitschaft, den Freund beim Wort zu nehmen und sich im Verlauf der Auseinandersetzung sogar noch mehrfach auf dieses zu berufen, hat ihn in Wielands Augen ebenso diskreditiert wie der kühle, geschäftsmäßige Ton, in dem Bertuch die ganze Angelegenheit behandelt. Wieland wirft Bertuch vor, daß ihm wahrer Seelenadel mangele. Selbst die Tatsache, daß er das eingebrachte Kapital von Bertuch längst wieder zurückerhalten hat, vermag ihn nicht 38
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Christoph Martin Wieland: Betrachtung über die Abnahme des menschlichen Geschlechts, in: Der Teutsche Merkur. 1771/1, S. 221f. Vgl. dazu auch Irmtraud Sahmland: Wieland und die deutsche Nation, S. 270. Vgl. dazu die Dokumentation des Briefwechsels über diesen Konflikt und den Kommentar von Hans Wahl: Wieland und die Allgemeine Literatur-Zeitung, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, Bd. 19, 1933, S. 167-202.
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milder zu stimmen. Adel der Seele hätte Wieland Bertuch nur dann zugestanden, wenn dieser sein Anerbieten, den Verlust des ersten Jahrgangs mitzutragen, von Anfang an abgelehnt und stattdessen versucht hätte, ihn mit aller ihm zu Gebote stehenden Überzeugungskraft zur Fortsetzung der Sozietät zu bewegen. 40 Ein edler Mensch und wahrer Freund - so Wielands Argumentation - hätte so gehandelt. Er hätte ihm „alle nur ersinnlichen Vorstellungen" gemacht, um ihn von dem „so augenscheinlich in der Hitze der Leidenschaft gefaßten und so ganz unmercantilischen Entschluß" seines Ausscheidens abzubringen.41 Für Wieland ist Bertuchs geschäftsorientiertes Verhalten ein Beweis dafür, daß die Freundschaft zwischen Poet und Kaufmann immer eine „ungleiche Partie"42 ist und deshalb etwas zutiefst Unvereinbares bleiben muß. Vermag sich doch der Kaufmann Bertuch nicht einmal im Falle der Freundschaft43 zu jenem Altruismus emporzuschwingen, den Wieland von einem humanistisch fundierten Weltbürgertum erwartet. Wieland will Bertuch die Engstirnigkeit des Kaufmannsgeistes vor Augen führen, wenn er ihm schreibt: Sie sind ein Dichter gewesen, und ich bin noch dato eine Art von Geschäfts- und Handelsmann, si Vous voulez; aber ganz unstreitig hatte es die Natur bey Ihnen auf den Geschäftsmann und Negocianten und bey mir auf den Dichter angelegt, und zwey verschiedenere Stempel hat die bona Mater schwerlich in ihrer Rüstkammer als diese beyden. [...] Sie behalten in Geschäfts-Verhältnissen immer hellen Kopf und kaltes Blut; bey mir darf sich nur eine auffallende Dissonanz des moralischen Verhältnis drein mischen, so ist alles auf einmal aus. Sie schreiben keine andre Billiette, als die man als Actenstücke aufheben und alle Augenblicke einer hochpreislichen Regierung vorlegen kann; ich schreibe nur gar zu oft (jedoch heutiges Tages nur an Personen, die ich eines unbegrenzten Vertrauens werth achtete) in Augenblicken der hitzigsten Aufbrausung Billiette, die sich nicht vor Gericht stellen lassen und die ein Damon, anstatt sie jemals als Waffen gegen seine Pythias zu gebrauchen, entweder auf der Stelle verbrennen oder ihm den folgenden Tag mit einem kleinen freundschaftlichen: Nachbar, mit Rath! zurückschicken würde. [...] Es ist uns beyden was Menschliches begegnet, mir, daß ich Ihnen in der Hitze einer aufgebrachten Einbildung, die vielleicht nur einem Dichter verzeyhlich ist, ein Billjett zu meinem eignen Nachtheil schrieb, Ihnen, daß Sie es wie ein Kaufmann aufnahmen. Ich denke, wir wollen es uns beiderseits zur Witzigung dienen lassen, und ich meines Orts
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Vgl. Wielands Brief an Bertuch vom 26. Januar 1985, zitiert nach der Dokumentation des Briefwechsels von Hans Wahl: Wieland und die Allgemeine Literatur-Zeitung, S. 197. Daß Bertuch Wieland auf keinen Fall mehr als Sozius haben wollte, geht aus einem Brief an Schütz vom 3. Januar 1785 hervor: „Wegen der dem Herrn Socio zu machenden Propositionen zu Ostern haben Sie mich mißverstanden, ich meine bloß, ihn ex nexu zu laßen, wenn wir zu Ost[ern] Schadenfrey sind, und das künftige Risico dann allein zu tragen. Dieß war meine Meinung, nicht ihn wieder zur Theilnahme an der ALZ einzuladen. Dieß wäre tolle bonhommie und vestigia me terrent so gut wie Sie." Zitiert nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland, Bd. 2 (Anm. 28), S. 2. Zitiert nach der Dokumentation des Briefwechsels von Hans Wahl: Wieland und die Allgemeine Literatur-Zeitung, S. 198. Vgl. ebenda, S. 192. Wieland schreibt: „Ich denke mir bei diesem Worte eine dreyfache Bedeutung. In der ersten hat es Cicero in seinem .Laehus' und Lucian in seinem .Toxaris' genommen. Ich besorge, diese Art von Freundschaft ist eine sehr seltne Erscheinung unter Sterblichen; aber auch ihr bloßer Schatten ist schon so liebenswürdig, daß wir warmen enthusiastischen Seelen ihm von Jugend an nachlauffen, immer nach ihm haschen und nicht selten darüber in häßliche Pfützen und Froschgräben geraten. Von dieser Freundschaft ist eigentlich die Rede, wenn man sagt, daß Handelschaft keine Freundschaft leide." Ebenda, S. 193.
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habe es meinem Genius zugeschworen, daß ich auch an meinen besten Freund keinen Wisch mehr schreiben will, der als ein Actenstük gegen mich gebraucht werden könnte. 4 4
Es muß für Bertuch nicht leicht gewesen sein, derartige Charakterisierungen ohne Groll hinzunehmen. Doch er beweist Großmut. Ohne jede weitere Rechtfertigung und Erklärung geht er in seiner Antwort nur auf den versöhnlichen Schluß des Wielandschen Briefes ein und übersieht die für ihn kränkenden Passagen. So ist das gute Einvernehmen zwischen beiden bald wieder hergestellt und bleibt bis zu Wielands Tod ungetrübt.45 Zumindest scheint es so. Wie Bertuch über den Streit und über die von Wieland aufgestellten Behauptungen wirklich gedacht hat, läßt ein Brief an Schütz erahnen, den er am 20. Januar 1785 schreibt, also wenige Tage vor dem Erhalt des oben zitierten Wielandbriefes. Hier entwirft Bertuch aus der Sicht des Kaufmanns ein Portrait des Dichters. Er argumentiert unverblümt, mit der ihm eigenen Verachtung für alle „systematischen Luftbaumeister"46 seiner Zeit. Wieland erscheint in Bertuchs Portrait als ein Mensch, auf den in geschäftlichen Dingen keinerlei Verlaß ist, als „schwacher, stolzer, inkonsequenter Mann, der nicht einen Gran Festigkeit im Charakter hat, morgen nicht mehr will, was er heute heiß wünschte, morgen in die Hölle schmeißt, was er gestern in den Himmel erhob - kurz, ein Poet, und der uns noch tausend Noth und Ärger machen wird, wenn wir nicht eine Parthie ergreiffen, die dieß alles verhindert"47. Schonungslos und verärgert legt Bertuch die Karten des Wielandschen Verhaltensspiels offen: Der Mann muß wiircklich Anfälle von Delirio haben [...]. Stellen Sie sich vor, am Dienstag Abend erhalt ich von W. ein Missive von sechs Blättern voll solch ungeheurer Impertinenzien gegen Sie und mich, strotzendem Stolze und Inconsequenzen, und worinn er uns nichts weniger Schuld giebt, als conspirirt zu haben ihm zu einem pacto leonino zu n o t z ü c h t i g e n , mit richterlicher Gewalt droht, sein ganzes letztes schriftliches pactum widerruft, Herders Recension für ein Muster von Schiefheit und hämischer Bosheit erklährt, die die ganze unpartheyische Welt in kurzem durch ihn so finden werde und solle; und solch Zeugs weiter. Sie können dencken, daß dieß die sonst mächtig starcken Dämme meiner Gedult zerriß. Mein Schwerd war einmal aus der Scheide; ich schlug los; und ich hoffe er hat für uns beyde, Sie und mich, satt. Meinen Brief kann ich alle Stunden drucken lassen; die seinigen würden fein daneben figurieren. Auf den Sonnabend sollen Sie beyde lesen. Lachen Sie indeßen über die Thorheit des Mannes - doch nein dieses ehrsamen Nahmen verdient er nicht - dieses ungezogenen Kindes, und lassen Sie uns unseres Wercks warten. 4 8 44 45
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Ebenda, S. 194f. und S. 199f. (Hervorhebungen von Wieland). Bertuch bezeugt ein letztes Mal seine lebenslange Dankbarkeit gegenüber dem ehemaligen Gönner, indem er den toten Wieland in seinem Haus aufbahren läßt und für eine würdige Beerdigung sorgt. Zitiert nach Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (Anm. 11), S. 73. Bertuch an Schütz, 9. Dezember 1784, zitiert nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Bd. 2 (Anm. 28), S. 27f. Selbst nach der längst erfolgten Versöhnung zwischen Wieland und Schütz warnt Bertuch den letzteren: „Die Wiedererscheinung von Wieland und seiner Familie in ihrem Haus ist auch mir eine angenehme Erscheinung. Indessen liebster Freund, wissen Sie ja so gut wie ich, wie sicher Sie auf diesen Sonnenschein zu rechnen haben, und werden also auch als weiser Mann nicht gleich Ihren Mantel deßhalb wegwerfen, der Ihnen bey gewiß wieder eintretendem Aprillen Wetter doch gute Dienste leisten möchte." Bertuch an Schütz. 22. April 1787. Zitiert nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland, Bd. 2 (Anm. 28), S. 94. Zitiert nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland, Bd. 2 (Anm. 28), S. 33f.
Wieland und Bertuch
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Auf Poeten - so die Erfahrung des Kaufmanns - ist in der Geschäftswelt keinerlei Verlaß. Sie sind nicht die Verbündeten des Bürgertums, können nicht an den im bürgerlichen Alltags- und Erwerbsleben geltenden Regeln gemessen werden.49 Poeten haben Launen, doch es sind für Bertuch Launen, die man ihnen verzeihen kann und muß: Wielands Launen sind Wolken an einem hellen Sommerhimmel [...] nie nimmt sein Herz Theil dran, welches gewiss eins der besten ist, das Gott einem Sterblichen gab. 50
Diese Einsicht hat Bertuchs Freundschaft zu Wieland getragen, und er hat bis zu dessen Tod danach gehandelt - wohl auch, weil er in Wieland das dichterische Genie verehrte,51 das ihm selbst versagt blieb und weil Bertuch nichts weniger war als jene „merkantilische Seele", welche die Großen des Weimarer Parnasses so gerne in ihm sehen wollten.52
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Nach Beilegung des Streites und Wielands Aussöhnung mit Schütz erklärt Bertuch dem letzteren, daß man Poeten zwar lieben könne, aber keine Geschäfte mit ihnen machen sollte: „Wieland hielt Ihnen [Schütz] im Clubb eine mächtige Lobrede, und trug mir ordentlich auf Ihnen doch zu melden wie lieb er Sie habe und wie hoch er Sie schätze!! Es ist doch ein gutherziger Sterblicher, den man mit all seiner beständigen Excentrität immer lieben, nur aber kein Geschäft mit ihm haben muss." Bertuch an Schütz, 11. August 1788. Zitiert nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland, Bd. 2 (Anm. 28), S. 145. Zitiert nach Wilhelm Feldmann: Friedrich Justin Bertuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Goethezeit. Mit der Rede des Kanzlers von Müller auf Bertuch. Saarbrücken 1902, S. 48. Vgl. dazu den Brief Bertuchs an Göschen vom 6. November 1793, wo es heißt: „Wieland ist ohnstreitig der erste klassische Dichter der Nation; man wird ihn immer kaufen, und jeder Teutsche, der nur ein paar Dutzend Bücher sammelt, und nur auf einen Schatten von Litteratur und Geschmack Anspruch macht, wird seinen Wieland so gut haben müssen, wie der Franzoß seinen Voltaire und der Engländer seinen Milton und Pope hat ...". Zitiert nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland, Bd. 2 (Anm. 28), S. 326. Der Ausdruck stammt von Schiller, der zwar mehrmals Bertuchs finanzielle Unterstützung in Anspruch nahm, ihm aber deswegen keine freundschaftlichen Gefühle entgegenbrachte. Er machte sich vielmehr noch einen Spaß daraus, Bertuch gelegentlich Interesse am Handel vorzutäuschen, um sich später mit Freunden über dessen Freude daran zu belustigen. Bei Herder steigerte sich die Antipathie gegenüber Bertuchs kommerziellen Unternehmungen fast bis zum Haß, und selbst Goethe, der Bertuch durchaus schätzte, nannte ihn in seinem Tagebuch abfällig einen „entsetzlich behagliche[n] Laps". Vgl. dazu Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (Anm. 11), S. 76 und 89ff.
Heinrich Macher
Goethe und Bertuch Der Dichter und der homo oeconomicus im klassischen Weimar
In seiner Rede an Bertuchs Grab bezeichnete der Kanzler von Müller am 6. April 1822 den soeben verstorbenen Logenbruder als „Jugend- und Altersgenosse [n] jener großen Männer, die an Weimar's Namen den höchsten Ruhm deutscher Literatur geknüpft haben".1 Diese Bemerkung trifft, obwohl auf alle Weimarer Literaturgrößen der klassischen Zeit bezogen, zweifellos in besonderem Maße auf Goethe zu, denn seit dessen Ankunft in Weimar bis zu Bertuchs Tod haben beide, jeder auf seinem Gebiet Außerordentliches leistend, fast fünfzig Jahre miteinander, nicht selten aber auch neben- oder sogar gegeneinander gewirkt und dem klassischen Weimar in dieser langen Zeit gerade in der Verschiedenheit, wenn nicht sogar Gegensätzlichkeit ihrer elementarsten Bestrebungen als Dichter und Unternehmer wichtige, lange nachwirkende Impulse gegeben. Ihre widersprüchlich-wechselvolle und facettenreiche Beziehung hier in allen Details darzulegen ist freilich kaum möglich und zudem auch nicht nötig, da sie in ihren Grundzügen und wesentlichen Fakten bereits von Wilhelm Feldmann, Albrecht von Heinemann, Siglinde Hohenstein und - was das Verhältnis AutorVerleger anbelangt - erst unlängst von Siegfried Seifert ausführlich dargestellt worden ist.2 Daher will ich mich, und das durchaus in dem Bewußtsein, daß sich darin ihr Verhältnis zueinander nicht erschöpfte, im folgenden auf die Frage konzentrieren, welche Konsequenzen es für ihre Beziehung zueinander hatte, daß sie sich als Dichter und Unternehmer begegneten. Diese thematische Beschränkung läßt sich durchaus rechtfertigen, denn nach den vorliegenden Untersuchungen über sein Leben und Schaffen kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Bertuch von Anfang an einen im geistig-kulturellen Zentrum Weimar alternativen, kommerziell ausgerichteten und auf den Erwerb von Unabhängigkeit, Geltung und Reichtum orientierten Lebensentwurf verfolgte3 und daß gerade dessen konsequente Realisierung ein Stein des Anstoßes 1
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[Friedrich von Müller:] An Bertuch's Grabe im Namen der Loge Anna Amalia zu Weimar gesprochen in der Morgenstunde des 6. April 1822. Als Manuskript für Freunde. [Weimar 1822], S. 5. Vgl. Wilhelm Feldmann: Friedrich Justin Bertuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Goethezeit. Mit der Rede des Kanzlers von Müller auf Bertuch. Saarbrücken 1902; Albrecht von Heinemann: Ein Kaufmann der Goethezeit. Friedrich Justin Bertuchs Leben und Werk. Weimar 1955; Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) - bewundert, beneidet, umstritten. Übersetzer mit Verdiensten, Dichter ohne Talent. In Weimar kluger Verwalter der fürstlichen Privatschatulle, erfolgreicher Herausgeber und Verleger, Freund Goethes. Ein Kapitalist und Philanthrop der Aufklärung. Berlin, New York 1989; Siegfried Seifert: „Verbertuchte Literatur" oder Die unendliche Geschichte vom Autor und Verleger am Beispiel Goethes und Friedrich Justin Bertuchs, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 5 ( 1 9 9 5 ) S. 111-134. Vgl. Hohenstein (Anm. 2), S. 41.
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für viele seiner Zeitgenossen war. Damit war Bertuch, der seine Karriere als mittelloses Waisenkind begonnen und, nach abgebrochenem Studium, als armer Schöngeist fortgesetzt hatte, außerordentlich erfolgreich: Vom Drang nach sozialer Anerkennung und materieller Sicherheit getrieben, entwickelte er sich nicht nur zum bedeutendsten Unternehmer und reichsten Bürger Weimars, sondern auch zum Anwalt eines Fortschritts, der ökonomisch auf die freie Entfaltung aller Kräfte im Sinne des wirtschaftlichen Liberalismus, publizistisch auf die Pressefreiheit und politisch auf die Emanzipation des Bürgertums setzte. Mit seiner weitausgreifenden kommerziellen Tätigkeit, in der er das private Interesse geschickt mit dem öffentlichen zu verbinden wußte, sowie in seiner Lebensführung verkörperte Bertuch auf eine für damalige Weimarer Verhältnisse singulare Weise den neuen, zukunftsweisenden, zugleich aber auch widerspruchsvollen Typus des homo oeconomicus. Gerade auf die aus heutiger Sicht großartigen, vorwärtsweisenden Züge in Bertuchs Leben und Wirken reagierten viele seiner Zeitgenossen jedoch mit Befremdung und Kritik, sei es nun, daß sie, wie etwa Schiller und Herder, von einer höheren geistigen Warte aus mit Geringschätzung auf seine „mercantilische Seele"4 herabsahen, sei es, daß sie ihn, wie der Kreis um Carl August, als „Spießbürger" und „Philister" einschätzten oder daß sein Gewinnstreben sogar moralisch und politisch verurteilt wurde. Letzteres geschah beispielsweise dezidiert in den in Rebmanns „Obscuranten-Almanach auf das Jahr 1801" enthaltenen „Fragmenten über die Bertuchs-Indüstrie zu Weimar", die alle Register der Polemik gegen die kaufmännische Gesinnung des „Chevallier d'Industrie" [sic] Bertuch zogen: Dieser sei mit seinen Zeitschriften zum „reichsten Pfründenbesitzer in der deutschen Gelehrtenrepublik" geworden und habe sich „nebenbey [...] fast Fürstentümer (erindüstriert)".5 Auch die Beziehung zwischen Goethe und Bertuch ist gekennzeichnet von beträchtlichen Spannungen, die sich in diesen Kontext einordnen lassen. Als der Dichter 1775 voller Hoffnung in Weimar eintraf, in dem kleinen Herzogtum eine „Weltrolle" spielen zu können6, durfte er mit Recht erwarten, in Bertuch einen gleichgesinnten Verbündeten zu finden, hatte sich dieser doch schon als Dichter, Übersetzer und Verfasser einiger Denkschriften, seit 1773 besonders auch als Mitarbeiter an Wielands „Teutschem Merkur", einen Ruf als Schöngeist erworben, der über die Grenzen Weimars hinaus bereits bis nach Frankfurt gedrungen war: Als der mit ihm befreundete Maler Kraus dort kurz vor Goethes Abreise nach Weimar um Subskribenten für Bertuchs „Don Quijote"-Übersetzung warb und bei dieser Gelegenheit Goethe von diesem erzählte und ihm dessen Porträt zeigte, war er jedenfalls um diesen Kontakt schon allgemein beneidet worden.7 Als Protégé und Parteigänger Wielands empfing Bertuch den Neuankömmling, dessen 1774 publizierte Farce „Götter, Helden und Wieland" seinen Mentor empfindlich getroffen hatte, allerdings zunächst mit einiger Reserviertheit. Doch 4
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Schiller an Körner, 23. Februar 1788, in: SNA, Bd. 25. Hg. von Eberhard Haufe. Weimar 1979, S. 19. Obscuranten-Almanach auf das Jahr 1801. Paris [eigentlich Mainz] (1800), S. 153-187, Zitate S. 184 und S. 153. Goethe an Merck, 22. Januar 1776. WA IV, 3, S. 21. Vgl. Hohenstein (Anm. 2), S. 40.
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bald kamen sich die beiden fast Gleichaltrigen im Kreis um Carl August, dem Bertuch als kurz zuvor ernannter Verwalter der herzoglichen Privatschatulle und Geheimsekretär des Fürsten und Goethe zunächst als dessen „Favorit und factotum"8 angehörten, aber auch auf der Grundlage gemeinsamer Interessen näher, so daß Bertuch bereits nach wenigen Wochen zu Goethes engsten Weimarer Bekannten zählte. Emotionaler Höhepunkt dieser Phase größter Annäherung war die von ihnen Weihnachten 1775 gemeinsam mit Kalb, Einsiedel und Kraus unternommene „Geniereise" nach Waldeck im Amt Bürgel bei Jena, wo Goethe mit Bertuch und den anderen Teilnehmern einen Freundschaftsbund Schloß und das brüderliche Du tauschte. Im Waldecker Forst entdeckten beide auch ihr gemeinsames Interesse für die Natur und die Landschaftsgestaltung,9 ein weiteres sie seit 1776 verbindendes Element wurde ihre Mitwirkung am Weimarer Liebhabertheater. Ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten müssen sich jedoch schon zu dieser Zeit Spannungen angebahnt haben, über die wir von Seiten Bertuchs nur sehr wenig wissen, da er sich sogar in Briefen an Freunde über Goethe und seine Beziehung zu ihm ausschwieg.10 Einiges darüber kann man allerdings Goethes Tagebüchern und Briefen entnehmen. So lassen die Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1776 darauf schließen, daß Goethes vertraulicher Umgang mit Bertuch noch bis zum Jahresende anhielt;11 letztmalig heißt es jedoch am 1. Dezember 1776: „Nachts bey Bertuch"12, danach wird dieser mehr als drei Jahre überhaupt nicht mehr erwähnt. Erst im Januar 1780 bringt die vielzitierte lapidare Tagebuchbemerkung „Kam Bertuch. Entsezlich behaglicher Laps"13 den nächsten auf ihn bezogenen Eintrag, der nun schon das Unbehagen des Dichters über den Genannten drastisch zum Ausdruck bringt. Weitere Zeugnisse für die inzwischen eingetretene Entfremdung sind der von Goethe bereits 1779 in einem Brief an Charlotte von Stein gebrauchte Begriff des „Verbertuchens" für ein den gängigen Publikumsgeschmack bedienendes Literatentum14 sowie eine Warnung an Lavater, der über Bertuch eine Zahlung aus der herzoglichen Kasse zu erwarten hatte und dem Goethe im August 1780 schrieb, er möge „höflich gegen den Mann doch nicht zu gut" sein.15 Ein knappes Jahr später schließlich erfolgte die brieflich erstmals am 8. März 1781 dokumentierte Rückkehr Goethes zum distanzierten „Sie".16
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Wieland an Lavater, Januar/Februar 1776, in: Flodoard Frhr. von Biedermann u.a. (Hg.): Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, Bd. 1. Leipzig 1909, S. 74. Vgl. Goethe an Carl August, 23.-26. September 1775, in: Goethes Werke, WA IV 3, S. 10-12; sowie Tagebuch vom 19. Februar 1831; W A III, 13, S. 32f. Die Reise nach Waldeck ist ausführlich dargestellt in Heinrich Düntzer: Goethes Eintritt in Weimar. Leipzig 1883, S. 65-71. Hohenstein (Anm. 2), S. 92, deutet diese Zurückhaltung als Zeichen ,,kluge[r] Reserve und Distanz" auch nach der Verbrüderung. Vgl. dazu die Tagebuch-Einträge vom 13. und 22. Juni 1776. WA III, 1, S. 14f.; sowie vom 9. und 16. September 1776. Ebenda, S. 352 (Lesarten) und S. 22. Ebenda, S. 28. Tagebuch-Eintrag vom 19. Januar 1780. Ebenda, S. 106. Vgl. Goethe an Charlotte von Stein, 20.-27. Oktober 1779. WA IV, 4, S. 91. Den Hinweis auf diese Briefstelle verdanke ich Siegfried Seifert (Anm. 2), S. 127. Goethe an Lavater, 28. August 1780. WA IV, 4, S. 275. Vgl. Goethe an Bertuch, 8. März 1781. Ebenda, Bd. 5, S. 69.
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Heinrich Macher
Der aus diesen Belegen ersichtlichen Abkühlung des Verhältnisses folgte eine mit den Jahren zunehmende Entfremdung und Distanzierung, die vor allem in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre und zu Beginn des neuen Jahrhunderts dazu führte, daß sich Goethe und Bertuch in zentralen literarisch-publizistischen Fragen als Antipoden verstanden. Solche Differenzen kamen jedoch nur gelegentlich offen und in aller Schärfe zum Ausdruck, so z.B. 1802 anläßlich einer von Böttiger verfaßten kritischen Rezension der Aufführung von August Wilhelm Schlegels Drama „Ion" am Weimarer Theater oder kurz danach in den Auseinandersetzungen um die Verlegung der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" von Jena nach Halle. Ansonsten herrschte ein geschäftsmäßig-sachlicher und höflicher, wenn auch distanziert-kühler Umgang zwischen beiden vor; man arrangierte sich im Bewußtsein, in der gemeinsamen Tätigkeit als Beamte Carl Augusts, in der Beziehung als Autor und Verleger sowie als Angehörige der Weimarer Gesellschaft aufeinander angewiesen zu sein. Was nun tatsächlich gegen Ende der 70er Jahre zur Wende in ihrem Verhältnis zueinander geführt hat, konnte bislang im Detail noch nicht mit hinreichender Klarheit ermittelt werden, zumal sich weder Goethe noch Bertuch dazu je explizit geäußert haben. Ein erster Anstoß für die Entfremdung könnte freilich die für beide Seiten problematische Position Bertuchs als „Scatolier" des Herzogs und seine damit zusammenhängende Abneigung gegen das unkonventionelle und kostspielige Genietreiben im Kreis um Carl August gewesen sein. Bemüht darum, die herzogliche Kasse in Ordnung zu halten und die Ausgaben für die Vergnügungen der „Genies" zu begrenzen, kam Bertuch sehr schnell in den Ruf des kleinlichen Pfennigfuchsers und Philisters, zumal ihm auch, wie Seifert gezeigt hat, das Verständnis für die tiefere, fürstenerzieherische Funktion des sich im Geniewesen des Weimarer Kreises artikulierenden Bruchs mit gesellschaftlichen Konventionen abging. Jedenfalls begegnete man ihm, wie selbst Goethes Briefe aus der Zeit ihrer Annäherung schon bezeugen,17 etwas von oben herab und spielte ihm zuweilen auch gern kleine, mehr oder weniger derbe Streiche. In der Bertuch-Literatur wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf einige von Böttiger übermittelte Anekdoten verwiesen, die auf Bertuchs eigene spätere Berichte zurückgehen und nach denen dieser bei nächtlichen Trinkgelagen des Herzogs in seiner Stube und sogar am eigenen Hochzeitstag Zielscheibe deftiger Späße Carl Augusts und seines Kreises gewesen sein soll.18 Siglinde Hohenstein hat die sich aus Bertuchs Amt ergebenden Differenzen mit Goethe ausführlicher dargestellt und dabei die Abkühlung ihrer persönlichen Beziehung darauf zurückgeführt, daß Bertuch für Goethe „uninteressant und in jeder Weise entbehrlich" gewesen sei. Diese Ansicht teile ich nicht; ihre in diesem Zusammenhang geäußerte Meinung, Bertuch sei Goethe „gelegentlich auch ein Ärgernis" gewesen,19 möchte ich allerdings aufgreifen und dahingehend erweitern, daß ich den Begriff „Ärgernis" im Sinne einer generellen Provokation, 17 18
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Vgl. Seifert (Anm. 2), S. 115f. Vgl. Hohenstein: (Anm. 2), S. 42f., die sich allerdings hier auf die sehr umstrittenen Berichte Böttigers bezieht. Zur Kritik an dessen Berichterstattung vgl. Diintzer (Anm. 9), S. 55 und 146f. Hohenstein (Anm. 2), S. 92.
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einer grundsätzlichen Herausforderung verstehe, die der erfolgreiche Verleger und Unternehmer als homo oeconomicus für Goethe darstellte. Schon für die Entfremdung beider gegen Ende der 70er Jahre scheint mir dies wesentlich zu sein, steuerte doch Bertuch bereits zu diesem frühen Zeitpunkt zielstrebig eine eigene unternehmerische Tätigkeit an. Seine stark ausgeprägten wirtschaftlichen, von Anfang an auf geschäftliche Unternehmungen aller Art gerichteten Interessen verhehlte er anderen gegenüber keineswegs;20 sie werden demzufolge auch für Goethe kein Geheimnis gewesen sein. Dessen kritische Bemerkungen über Bertuch lassen jedenfalls den Schluß zu, daß auch dem Dichter im näheren Umgang mit ihm sehr bald die primär ökonomischen Bestrebungen des anderen klar wurden und damit einem auf gleiche Interessen und Gesinnungen begründeten freundschaftlichen Umgang offensichtlich der Boden entzogen wurde. Daß dabei auch eine durch sein wirtschaftliches Handeln bewirkte Beeinträchtigung von Bertuchs Amtstätigkeit eine Rolle gespielt habe, hat Düntzer behauptet, der die um 1779/80 eingetretene Entfremdung zwischen beiden allerdings sehr einseitig darauf zurückführte, daß Goethe nach seiner zweiten Schweizreise vom September bis Dezember 1779 sehr ungehalten über Bertuch gewesen sei, weil dieser die Geschäfte des Herzogs nach dem Erwerb des Baumgartens und dem Beginn eigener unternehmerischer Tätigkeit saumselig betrieben und hinter seine eigenen zurückgestellt habe.21 Inwieweit diese Auffassung zutrifft, wird sich heute kaum noch feststellen lassen; diesbezügliche Äußerungen des Herzogs, der seinem „Scatolier" bekanntlich sehr gewogen war und dem dessen Geschäftstätigkeit später ja auch bei seinen geheimen diplomatischen Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Eintritt Sachsen-Weimars in den Fürstenbund sehr gelegen kam, sind nicht überliefert. Auf Bertuchs Seite scheinen die Erfahrungen, die er im Umgang mit Wieland und den anderen Weimarer „Genies" gemacht hatte, bewirkt zu haben, daß er zu diesen eine ironische Distanz entwickelte;22 außerdem ließen seine seit 1775/76 immer intensiver hervortretenden wirtschaftlichen Interessen auch das schöngeistige Element in seinem Leben hinter das ökonomische zurücktreten. Etwa zum Zeitpunkt seines Amtsantritts als „Scatolier" und Privatsekretär des Herzogs hat er jedenfalls seine eigene poetische Produktion eingestellt, was Hohenstein zu Recht dahingehend interpretiert, daß diese für den dichterisch wenig talentierten Bertuch nur ein Mittel, in der Weimarer Gesellschaft Fuß zu fassen, 20
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Ganz charakteristisch für die Offenheit, mit der er diese Interessen vertrat, ist ein Brief an Merck vom 19. November 1784, in dem Bertuch unter Bezugnahme auf eine Reise Mercks zu Camper, die er gern mitgemacht hätte, schreibt: „Ich denke, wir hätten Beide unser Conto dabei finden sollen, und während Sie mit Campern und Consonen über ein os innominatum oder einen processum coracoideum disserirt hätten, wäre ich durch Waarenlager, Fabriken und Werkstätten gekrochen und auf technologische Beute ausgegangen". Zitiert nach: Karl Wagner (Hg.): Briefe an Johann Heinrich Merck von Goethe, Herder, Wieland und anderen bedeutenden Zeitgenossen. Darmstadt 1835, S. 433. Vgl. Düntzer (Anm. 9), S. 147. Vgl. Bertuch an Gleim, 18. Dezember 1777: „Im Grunde ists ein wahrer Spaß, mitanzusehen wie unsre jungen Genien, die doch immer nur Ephemeren sind, rasen". Zitiert nach Gustav Bohadti: Friedrich Justin Bertuch. Sonderdruck der H. Berthold Messinglinienfabrik und Schriftgießerei AG Berlin und Stuttgart [1970], S. 29.
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sowie ein „Sprungbrett für lukrativere Tätigkeiten" war. 23 Tatsächlich gelang es ihm danach, in nur wenigen Jahren (und das neben seiner aufwendigen amtlichen Tätigkeit, die er freilich auch geschickt für den Ausbau weitreichender persönlicher Beziehungen zu nutzen wußte) eine Reihe von Unternehmungen ins Leben zu rufen, die er dann bekanntlich 1791 zum Industrie-Comptoir zusammenfaßte. Es kann hier nicht darum gehen, im einzelnen darzulegen, wie Bertuch durch seine Tätigkeit als Übersetzer und Herausgeber, durch den Erwerb von Grundstücken und den Bau eines eigenen Hauses, das nach Schillers nicht ganz neidlosem Urteil bereits in der Ausführung von 1782 das schönste Weimars war, 24 durch die Einrichtung diverser Produktionsstätten für die Herstellung von Farben, Papier, Kunstblumen und typographischen Erzeugnissen sowie die Etablierung eines warenhausähnlichen Reklame- und Vertriebssystems für eigene und fremde Produkte zum Erfolg kam. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist vielmehr, nach dem Geheimnis dieses Erfolgs zu fragen. Bei dessen Erklärung ist zunächst auf eine Fähigkeit Bertuchs zu verweisen, welche in der Grabrede des Kanzlers von Müller als Vermögen umschrieben wird, „in richtiger Erkenntnis der Zeitbedürfnisse [...] jede Gunst des Augenblicks" verständig benutzen zu können. 25 Gemeint ist jenes sichere, ja geradezu instinktive Gespür für Marktlücken, aktuelle Trends und Publikumsbedürfnisse, über das Bertuch zweifellos in hohem Maße verfügte. Dieses Gespür zahlte sich erstmals für ihn bei seiner Übersetzung des „Don Quijote" und den nachfolgenden Publikationen spanischer und portugiesischer Literatur aus, mit denen er seit Mitte der 70er Jahre eine Lücke des Literaturmarktes gewinnbringend ausfüllen konnte. Es zeigt sich jedoch am deutlichsten darin, daß er als einer der ersten in Weimar nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung des Verlagswesens im allgemeinen, 26 sondern auch des neuaufkommenden Zeitschriftenwesens im besonderen 27 erkannte und daraus, wie die Erfolgsgeschichte seiner wichtigsten Zeitschriften und Periodika beweist, richtige unternehmerische Konsequenzen zog. Des weiteren ist Bertuchs Erfolg in dem Geschick begründet, seine verschiedenen Unternehmungen aufs engste zu verflechten, 28 wofür man exemplarisch die „Einleitung" seines „Journals der Moden" vom Januar 1786 heranziehen kann: Darin kündigte er mit der Eröffnung seiner Zeitschrift zugleich „eine kaufmännische Einrichtung und Correspondenz" an, welche „alle Aufträge, Bestellungen und Verschreibungen von Waaren der Mode und des Geschmacks, aus Frankreich, England, Italien oder Teutschland, und zwar aus der ersten Hand, gegen die gewöhnliche kaufmännische Commiss. Provision [...] übernehmen,
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Hohenstein (Anm. 2), S. 39. Vgl. Schiller an Körner, 18. (und 19.) August 1787. SNA, Bd. 24. Hg. von Karl Jürgen Skrodotzki und Walter Müller-Seidel. Weimar 1989, S. 136. [von Müller:] An Bertuch's Grabe im Namen der Loge Anna Amalia (Anm. 1), S. 4f. Vgl. Friedrich Johann Justin Bertuch: Gedanken über den Buchhandel (1774). Nachdruck in: Archiv für Geschichte des Buchwesens VII (1967), Sp. 1797-1810. Vgl. Fritz Körner: Das Zeitungswesen in Weimar (1734-1849). Ein Beitrag zur Zeitungsgeschichte (Abhandlungen aus dem Institut für Zeitungskunde an der Universität Leipzig, Bd. 1, H. 2). Leipzig 1920, S. 54. Vgl. Dietrich Kreidt: Der Kapitalist und die Dichterfürsten, in: Memo. Das Magazin von heute über das Leben von gestern. Nr. 6, Juni 1981, S. 18.
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und aufs schnellste besorgen" sollte.29 Diesem Vorhaben entsprechend baute Bertuch das dem Modejournal beigelegte „Intelligenzblatt" zu einem lukrativen Annoncenblatt aus. Daß er dieses auch für ausländische Anbieter öffnete, die ihre Anzeigen in der jeweiligen Landessprache publizieren konnten, trug ihm allerdings scharfe Angriffe von „teutschen Biedermännern", d.h. Verfechtern patriotisch-merkantilistischer Auffassungen, ein.30 Fortan betrieb er in der Tat eine Art Warenhaus, in dem es bis hin zu „blechernen Kaffekannen u.s.w." nahezu alles zu kaufen gab, was die sich darüber mokierenden Weimarer nach Böttigers Bericht „als seiner unwürdig" ansahen.31 Bertuch setzte sich jedoch über seine Kritiker hinweg und hielt nicht nur an seiner Linie fest, sondern baute sein Unternehmen noch weiter aus. Gerade in solchen unternehmerischen Entscheidungen artikuliert sich jedoch sein wichtigstes Erfolgsgeheimnis, führte er doch seine vielfältigen Geschäfte im Geist einer für das damalige Weimar geradezu avantgardistischen Wirtschaftsgesinnung. Der daraus erwachsende Unternehmungsgeist ließ ihn auch über die Grenzen seines Kleinstaates hinausstreben, wie zahlreiche weiter ausgreifende Projekte zeigen, die er seit Mitte der 80er Jahre in Angriff nahm, aber nur teilweise realisierte;32 darunter auch das Projekt der Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika, das er als Kommissionär Carl Augusts Mitte der 80er Jahre ergebnislos betrieb und ein Jahrzehnt später aus eigenem Antrieb erneut aufgriff, als er mit Böttiger die Herausgabe eines „Amerikanischen Journals für Teutschland" plante und in diesem Zusammenhang auch die - dann ebenfalls nicht verwirklichte - Gründung einer Landhandelkompanie mit Amerika ins Auge faßte.33 Bertuchs Wirtschaftsgesinnung setzte, wie nicht erst seine Denkschrift „Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland" von 1793 zeigt, in erster Linie auf „Privatnutzen und persönliches Interesse" als „Zauberruthe" ökonomischen Handelns.34 Diese Position ist das Ergebnis einer schon früh eingeleiteten Entwicklung seiner ökonomischen Auffassungen. Seit der quasi geschäftsführenden Tätigkeit in Wielands „Teutschem Merkur"35 und dem Amtsantritt als „Scatolier" des Herzogs eignete er sich, zunächst unterstützt vom befreundeten Weimarer Theaterdirektor Abel Seyler, der zuvor als Kaufmann in Hamburg Bankrott gemacht hatte, und danach im Selbststudium, umfassende kaufmännische und ökonomische Kenntnisse an. 29 30 31
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Friedrich Justin Bertuch: Einleitung, in: Journal der Moden, Januar 1786, S. 13. In „Das Journal von und für Deutschland" (1. Stück 1786), vgl. Körner (Anm. 27), S. 58f. K.W. Böttiger (Hg.): Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl August Böttiger's handschriftlichem Nachlasse, Bd. 2. Leipzig 1838, S. 265. Vgl. ebenda, S. 79f. Vgl. Bertuch an Böttiger, 16. Juli 1795, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Leipzig 1886, Nr. 176, Sp. 4110; sowie: K.W. Böttiger (Anm. 31), Bd. 2, S. 281; und Feldmann (Anm. 2), S. 28. Friedrich Justin Bertuch: Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland, in: Journal des Luxus und der Moden. August 1793, S. 409-417, September 1793, S. 4 4 9 - 4 6 2 . Zitat S. 451. Zu Bertuchs Mitarbeit am „Teutschen Merkur" vgl. Hans Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im achtzehnten Jahrhundert (Palaestra CXXVII). Berlin 1914, S. 23-25, 160-169, 253-255.
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Davon, daß er mit den Hauptrichtungen des zeitgenössischen ökonomischen Denkens gut vertraut war, zeugen einige kleinere Denkschriften und Abhandlungen der Folgezeit, die auch immer wieder sein stark ausgeprägtes Interesse an wirtschaftlichen Fragen und weitreichende Einsichten in ökonomische Zusammenhänge hervortreten lassen. Neben den Schriften über den Buchhandel von 1774, die Nachdruckproblematik von 178436 und die Armenfrage von 178237 sowie den im Umfeld des Modejournals entstandenen Darlegungen zur Luxusproblematik38 sind hier besonders die beiden Denkschriften „Über die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland" von 1793 und „Kann ein Staat zu viel Geld haben?" von 179539 hervorzuheben, in denen Bertuch entschieden von merkantilistischen Positionen abrückte und eine liberale Wirtschaftsauffassung vertrat. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Bertuchs wiederholte explizite Bezugnahme auf den Hamburger Wirtschaftstheoretiker Johann Georg Büsch (1728-1800). Dessen 1780 in Hamburg und Kiel erschienene zweibändige „Abhandlung von dem Geldsumlauf in anhaltender Rücksicht auf die Staatswirthschaft und Handlung" gilt als erste breit angelegte Auseinandersetzung eines führenden deutschen Wirtschaftstheoretikers mit der epochalen „Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichtums" von Adam Smith, die 1776 herausgekommen war und nur wenig später erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Büsch, der seine Theorie vom „Geldsumlauf' in kritischer Auseinandersetzung mit der Arbeitswerttheorie von Smith entwickelte, war sich ungeachtet dieser Differenz in grundlegenden Positionen mit dem schottischen Nationalökonomen einig, so z.B. in der Betonung des Eigennutzes als stärkster Triebfeder wirtschaftlichen Handelns sowie in der Forderung nach freier Konkurrenz.40 Die in Bertuchs ökonomischen Abhandlungen vertretenen Positionen sowie die Tatsache, daß Smith darin kein einziges Mal erwähnt wird, lassen allerdings vermuten, daß - wenigstens bis zur Mitte der 90er Jahre - nicht dessen „Wealth of Nations", sondern Büschs Abhandlung die Hauptquelle seiner ökonomischen Anschauungen gewesen ist.41 36
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Vgl. Friedrich Justin Bertuch: Erniedrigt oder erhöht der Nachdruck die Bücherpreise?, in: Teutscher Merkur, Mai 1784, S. 189-192. Vgl. Friedrich Justin Bertuch: Wie versorgt ein kleiner Staat am besten seine Armen und steuert der Betteley? Ein möglicher Versuch (1782). Nachdruck Stadtmuseum Weimar 1978 (Weimarer Schriften zur Heimatgeschichte und Naturkunde; 39). Vgl. [Ankündigung des Journals der Moden von Bertuch und Kraus], in: Teutscher Merkur, November-Stück 1785, S. CLXXXVIf.; Friedrich Justin Bertuch: Giebts Mittel dem Luxus zu steuern?, in: Journal des Luxus und der Moden. August 1787, S. 255-262, sowie Bertuch: Einleitung (Anm. 29), S. 3-9. Friedrich Justin Bertuch: Kann ein Staat zu viel Geld haben?, in: Journal des Luxus und der Moden. Mai 1795, S. 222-229. Vgl. dazu im einzelnen Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen zum Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den .Amtlichen Schriften" (Tübinger Studien zur deutschen Literatur; 6). Frankfurt a.M. 1982, S. 357-399. Für die Vermutung Hohensteins (Anm. 2), S. 114, Bertuch habe unmittelbar Kenntnis von der ersten, 1777 in Leipzig erschienenen deutschen Übersetzung des Originals genommen, läßt sich in den von mir eingesehenen Schriften Bertuchs kein Beleg finden. Dagegen zitiert er aus dem „ganz vortrefliche[n] Werke" Büschs zweimal wörtlich längere Stellen: In „Giebts Mittel dem Luxus zu steuern" (Anm. 38), S. 256f., und „Einleitung" (Anm. 29), S. 5 (Fußnote), bezeichnet er Büsch als maßgebende „Autorität" in seinem Fach und „würdigen
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Der Hauptthese des Merkantilismus, der Reichtum eines Herrschers und seines Volkes bestehe im Besitz einer möglichst großen Menge baren Geldes oder edlen Metalles, stellte Bertuch jedenfalls schon seit seiner Armenschrift von 1782 immer wieder die offensichtlich von Büsch entlehnte Auffassung entgegen, nicht im Ansammeln, sondern in der „Circulation" des Geldes sei das Mittel zur Belebung der Wirtschaft und zur Hebung des Volkswohlstands zu sehen.42 In der Abhandlung „Kann ein Staat zu viel Geld haben?" von 1795 hat er dann seine bislang implizite Auseinandersetzung mit der Theorie der Schatzanhäufung mit einer expliziten Kritik an der merkantilistischen Hauptthese abgeschlossen, „Geld allein" mache eine Nation reich, und am Beispiel Spaniens dargestellt, wie eine an Schätzen reiche Nation „ohne Landes-Industrie und lebhafte Circulation seines Geldes" in den Ruin getrieben werden kann.43 Im Kontext dieser Überlegungen steht gleichfalls, wie die ausführlichen Zitate zu diesem Thema aus Büschs Abhandlung zeigen, 44 seine Auseinandersetzung mit dem Luxusbegriff, die er auch mit dem Ziel der Legitimation des eigenen verlegerischen und wirtschaftlichen Handelns führte. Bertuch stellte nämlich in seinen Ausführungen zur Luxusproblematik der einseitigen physiokratischen Verurteilung45 und bürgerlichen Perhorreszierung des Luxus einen differenzierten Luxusbegriff gegenüber. Dieser hielt zwar - und das durchaus noch mit stänGelehrten". Inwieweit Bertuch seine nationalökonomischen Kenntnisse tatsächlich aus dem Original oder aus dessen Rezeption durch Büsch oder möglicherweise andere bezogen hat, kann nur eine eingehende, in Zusammenarbeit mit Spezialisten zu leistende Untersuchung der Quellen klären. Unabhängig von dieser noch ausstehenden Aufgabe scheinen mir die genannten Schriften Bertuchs zu erweisen, daß Bertuch weniger unter dem Einfluß merkantilistischer als vielmehr unter dem nationalökonomischer Theoreme stand. Meine These ist, daß Bertuchs Argumentation im wesentlichen strategische Motive hatte und er deshalb in Wirklichkeit unter der merkantilistischen Folie in entscheidenden Fragen geradezu antimerkantilistische Positionen einnahm. Dies würde auch der gegen Ende des 18. Jahrhunderts üblichen Praxis entsprechen, merkantilistische Termini in wirtschaftlichen Abhandlungen zu belassen, den Text aber völlig mit neuem Gedankengut zu füllen, was freilich häufig zu einer schwer durchschaubaren Begriffsverwirrung führte. Auch Büsch, der Verfasser der für Bertuch wohl wesentlichen Quelle, ist in die Geschichte der Wirtschaftstheorie als „liberaler Eklektiker" eingegangen, der einerseits das Merkantilsystem scharf kritisiert, aber doch noch nicht völlig verworfen habe (vgl. Wilhelm Roscher: Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland. München 1864, S. 559 und S. 561). Auch Goethe, der 1784 Büschs Werk für seine eigene Bibliothek kaufte, hat übrigens daraus nach Bernd Mahls Untersuchung seine erste genauere Kenntnis des ökonomischen Liberalismus bezogen. 42
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In „Wie versorgt ein kleiner Staat seine Armen ..." (Anm. 37), S. 27f., sieht er in sozialer Not „immer Zeichen einer schwachen Zirkulation" in einem Lande und rät gar zur zinsgünstigen Aufnahme fremden Geldes, um es „im Lande in Zirkulation" zu setzen, „neues Blut in die Adern des Staats" zu pumpen und dadurch mehr Menschen als zuvor zu nähren. Bereits in seinen „Gedanken über den Buchhandel" (Anm. 26), Sp. 1804, empfiehlt Bertuch dem Weimarer Landesherrn, das im Schloßbaufonds totliegende Kapital lieber zu einem „dem Lande nützlichen Werk" in Umlauf zu bringen (gemeint ist die Buchhandlung der Gelehrten), durch die zahlreiche Gewerbe gefördert und Menschen in Lohn und Brot gebracht werden könnten (vgl. Sp. 1799f.). Bertuch: Kann ein Staat zu viel Geld haben? (Anm. 39), S. 222f. Zu Bertuchs weitreichenden Vorschlägen, wie die in Deutschland vorhandene Geldmenge produktiv in Umlauf gebracht werden könnte, vgl. S. 228f. Vgl. Bertuch: Giebts Mittel den Luxus zu steuern? (Anm. 38), S. 256f., und Einleitung (Anm. 29), S. 5. Vgl. ebenda, S. 4.
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dischen Implikationen - an der zeitgenössischen Kritik an „Luxus, Pracht, Verschwendung, Ueppigkeit und Prasserey" als ,,schädliche[n] Abartungen" des Luxus fest,46 nahm den Luxus der Gebildeten, Vornehmen und Reichen davon jedoch ausdrücklich aus, denn dieser sei „die reichste Quelle für den Staat; der allmächtige Hebel der Industrie, und das kräftigste Triebwerk der Circulation."47 Gänzlich antimerkantilistisch und in völliger Übereinstimmung mit grundlegenden Thesen der Nationalökonomie sind Bertuchs Positionen in Fragen der Organisation, Lenkung und Funktionsweise wirtschaftlicher Abläufe, aus denen er auch beträchtliche politische Konsequenzen zog. Gegen die für den Merkantilismus charakteristische obrigkeitlich-staatliche Steuerung ökonomischer Prozesse setzte er im Sinne des wirtschaftlichen Liberalismus ganz entschieden auf die freie Konkurrenz privaten Unternehmertums bis hin zur Idee eines Freihandels48, wobei er, wie schon erwähnt, „Privatnutzen und persönliches Interesse" als „Zauberruthe" ökonomischen Handelns begriff. Deshalb wandte er sich entschieden gegen staatliche Eingriffe in den wirtschaftlichen Kreislauf, z.B. in Gestalt der Etablierung ,,landesherrliche[r] [...] Industrie-Fabrik- oder HandelsEntreprisen"49 sowie der Vergabe von Monopolen und Privilegien50 an Privatleute, die gängige Praktiken staatlich gelenkter merkantilistischer Wirtschaftspolitik waren und nach seiner Ansicht zu schwerwiegenden Konkurrenzverzerrungen zum Nachteil privaten Unternehmertums führen mußten. In wirtschaftlichen Fragen, so Bertuchs tiefste Überzeugung, habe sich die Rolle des Staates darauf zu beschränken, dem freien Unternehmertum die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, indem die Administration durch „kluge Modificationen der Staatsverwaltung"51 bestimmten Fehlentwicklungen, z.B. im Währungssystem, entgegenwirkt; vor allem jedoch müsse der Staat „die im Allgemeinen noch liegenden Hindernisse der Landesindustrie wegräumen, und diese dadurch erwecken, den Privat-Handels-Unternehmungen aber sodann überlassen [...] sie weiter empor zuheben f...]."52 Damit sind diejenigen Punkte kurz umrissen, welche aus heutiger Sicht den modernen, auf die aufkommende kapitalistische Wirtschaftsverfassung vorausweisenden Kern von Bertuchs ökonomischen Auffassungen ausmachten. Gerade dieser für seine Zeit verhältnismäßig moderne, frühkapitalistisch-merkantile 46 47 48
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Bertuch: Giebts Mittel dem Luxus zu steuern? (Anm. 38), S. 255f. Bertuch: Einleitung (Anm. 29), S. 4. Vgl. Bertuch: Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute (Anm. 34), S. 453, wo er „die wohlthätige, freye und lebhafte Circulation" der „Fabricate und Handels-Pruducte" eines Landes als Voraussetzung jeglichen wirtschaftlichen Wohlergehens auffaßt und in diesem Zusammenhang auch klarstellt, daß seine Kritik an der Einfuhr von Luxuswaren aus England und Frankreich nicht als grundsätzliche Ablehnung des Handels mit anderen Nationen zu verstehen sei. Die für den Merkantilismus charakteristische Idee wirtschaftlicher Autarkie, nämlich „in Einer Provinz alle ihre Bedürfnisse selbst [zu] fabriciren", geißelt er hier als ,,lächerliche[n] Industrie-Don-Quixotismus". Ebenda, S. 450f. Vgl. Bertuch: Gedanken über den Buchhandel (Anm. 26), Sp. 1805; sowie: Wie versorgt ein kleiner Staat seine Armen (Anm. 37), S. 21f. In seiner eigenen unternehmerischen Praxis nahm Bertuch allerdings fürstliche Privilegien durchaus noch in Anspruch, wie die Geschichte seines Landes-Industrie-Comptoirs zeigt. Bertuch: Kann ein Staat zu viel Geld haben? (Anm. 39), S. 228. Bertuch: Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute (Anm. 34), S. 460f.
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Geist, der in seiner Wirtschaftsgesinnung sowie in seinem wirtschaftlichen Handeln zu erkennen ist, hat freilich auch in Weimar zu den schon erwähnten kritischen Reaktionen geführt, zumal viele seiner Zeitgenossen weder die historische Dimension seines ökonomischen Wirkens erkannten noch die von ihm schon sehr früh aus seinen wirtschaftsliberalen Positionen gezogenen politischen Schlußfolgerungen teilten. Die von ihm klar erkannte ökonomische Notwendigkeit, den Einfluß des Staates auf die Wirtschaft zurückzudrängen sowie Handel, Gewerbe und Industrie einen breiteren Spielraum zu schaffen, veranlaßte Bertuch nämlich in zunehmendem Maße, patriotische, liberale und demokratische Positionen zu beziehen, die ihn des öfteren auch in Widerspruch zu Goethe geraten ließen. Dies zeigte sich bereits in den 80er Jahren anläßlich der Beitrittsbestrebungen Sachsen-Weimars zum Fürstenbund, in dem Bertuch offensichtlich so etwas wie die Keimzelle einer künftigen, ökonomisch erforderlichen nationalstaatlichen Entwicklung Deutschlands sah. Deshalb unterstützte er Carl August nicht nur in der Sache selbst, sondern auch bei der diplomatischen Vorbereitung des im August 1786 vollzogenen Beitritts, indem er den in dieser Angelegenheit erforderlichen geheimen Briefwechsel zum Schutz vor den mißtrauischen Österreichern, gegen deren Hegemoniebestrebungen der Fürstenbund ja vor allem gegründet worden war, unter dem Deckmantel der eigenen geschäftlichen Korrespondenz führen ließ. Carl August setzte sich dabei über Goethes Widerstand hinweg, der den Eintritt Sachsen-Weimars in den Fürstenbund ablehnte und das ganze Unternehmen auch noch viele Jahre später als „Verschwörung" charakterisierte, die gerade aufgrund ihres konspirativen Charakters, an dem Bertuch mitgewirkt hatte, den Keim zum Mißerfolg schon in sich getragen hätte. 53 Danach artikulierte Bertuch seine in zunehmendem Maße patriotischen und liberal-demokratischen Positionen in aller Vorsicht sowohl über die Propagierung seiner ökonomischen Auffassungen als auch über die unverhohlene Bewunderung englischer Verhältnisse, die wiederum einherging mit der Ablehnung der Entwicklung in Frankreich. So begründete beispielsweise die in seiner Schrift „Ueber die Landes-Industrie-Institute" öffentlich erhobene Forderung nach einer ,,freye[n] und lebhaften Circulation seiner Fabricate und HandelsProducte in und durch alle [...] Provinzen (Teutschlands)" 54 implizit die Notwendigkeit der Überwindung trennender regionaler und staatlicher Schranken vom Ökonomischen her, und der ebenfalls schon in dieser Denkschrift zum Ausdruck gebrachte Respekt vor dem „vervollkommnete[n] Kunstfleiß" englischer Fabriken und der ,,geschmackvolle[n] Simplicität und Solidität" britischer Produkte, anschaulich gemacht durch eine mehrseitige, ein umfangreiches Verzeichnis englischer Waren enthaltende Fußnote, gipfelte in der Warnung an Deutschland, im Konkurrenzkampf mit dem industriell überlegenen und in seiner Exportförderung geschickter operierenden England den Kürzeren zu ziehen, 55 wenn es nicht Reformvorschläge wie die von Bertuch in seiner Schrift entwickelten beachte. Nur wenig später wurde die seit 1798 erscheinende Zeitschrift „London und 53
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Vgl. Goethe an Christian Wilhelm von Dohm [Konzept], 16. November 1814. WA IV, 25, S. 79. Bertuch: Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute (Anm. 34), S. 453. Ebenda, S. 410-414.
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Paris", die schon in der Reihenfolge der im Titel genannten Hauptstädte einen Hinweis auf die von Bertuch gesetzten Prioritäten gab, zum Medium einer durchaus auch politisch intendierten anglophilen Agitation, sah Bertuch doch in der konstitutionellen Monarchie und in der liberalen wirtschaftlichen Verfassung des Königreichs auch ein politisches und ökonomisches Modell für Deutschland. Als Beispiel für die parteiliche Berichterstattung, mit welcher in dieser Zeitschrift die Gegensätze zwischen Deutschland und England scharf akzentuiert und die politische Zurückgebliebenheit Deutschlands gegeißelt wurden, sollen hier nur die im ersten Jahrgang 1798 erschienenen „Geständnisse eines nach London zurückkehrenden Deutschen" herangezogen werden. Darin begründet der bürgerliche deutsche Rückkehrer dem Londoner Korrespondenten der Zeitschrift gegenüber seine Bevorzugung Englands nicht nur mit der den dortigen Alltag prägenden höheren Lebensqualität, sondern auch mit explizit politischen Argumenten: Im Vergleich zu Deutschland, wo der „Schlagbaum des Standes" unüberwindbar sei und „die Excellenz auf den reichen Bürger" herabsehe, griffen in England „alle Stände so in einander", daß die Standesunterschiede durch individuelle Tüchtigkeit und Reichtum überwunden werden könnten. Daher könne hier, wo selbst ein Herzog um die vermögende Bürgerstochter freie und der König dem reichen Bürger bei Hofe die Hand schüttle, auch der „geringe Privatmann" durch Vermögen und Fleiß bis zur Pairswürde gelangen. Während die gegenüber England zurückgebliebenen Verhältnisse in Deutschland zur „Unterthänigkeit und Knechtlichkeit meiner Art Leute, das heißt des Mittelstandes, gegen die Herren von und zu mit und ohne Etcäteras" führten, empfänden auch die einfachsten Engländer „ihre Würde als Bürger, als Familienhäupter, als Menschen, als Briten", weil die „Englische Freyheit" ihnen trotz der zeitweiligen Aufhebung der „Habeas Corpus Acte"56 immer noch einen größeren ökonomischen Spielraum und weitgehendere Bürgerrechte bewahrt habe als seinen Landsleuten in Deutschland. Dessen kleinstaatliche Verfassung ist dann der eigentliche Zielpunkt der die „Geständnisse" abschließenden Kritik des LondonRückkehrers an den polizeistaatlichen Praktiken der deutschen Länder.57 Bertuchs Begeisterung für englische Verhältnisse war begleitet von einer zunächst vor allem ökonomisch, dann auch politisch motivierten Ablehnung des französischen Einflusses auf Deutschland im allgemeinen und der Französischen Revolution, die er mit Goethe teilte, sowie der nachrevolutionären Entwicklung in Frankreich im besonderen. In seiner Schrift über die „Landes-Industrie-Institute" von 1793 legte er einleitend dar, dabei durchaus auch pro domo sprechend und geschickt immer noch allgemein verbreitete merkantilistische Argumente für seine Zwecke einsetzend, wie Frankreich Deutschland bislang durch die Einfuhr von Luxusgütern „an einer wahren Sclavenkette geführt" und welche gefährlichen Konsequenzen dies sowohl für die deutsche Handelsbilanz als auch die Ausbildung des eigenen industriellen und gewerblichen ,,Kunstfleiße[s]" gehabt habe. Die an die Überzeugung, daß Frankreich inzwischen „durch seine Revolution und seine Insolenz [...] diese Kette selbst zerbrochen" habe, geknüpfte Hoff56
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Während der antijakobinischen Gewaltherrschaft des jüngeren Pitt seit 1796. Vgl. George Macaulay Trevelyan: Geschichte Englands, Bd. 2. München, 4. Auflage 1949, S. 642. Geständnisse eines nach London zurückkehrenden Deutschen, in: London und Paris. Erster Jahrgang, Nr. 5, Weimar 1798, S. 35-41.
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nung, Deutschland werde sich auf seinen eigenen Wert und seine Kräfte besinnen und „sich dies schimpfliche Joch nie wieder auf den Nacken legen" lassen,58 erfüllte sich jedoch aufgrund der Napoleonischen Eroberungspolitik nicht, die ja neben der politischen Unterdrückung auch schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für Deutschland hatte. So nimmt es nicht wunder, daß Bertuch, anders als Goethe, im antinapoleonischen Befreiungskampf entschieden patriotische Positionen bezog, womit er auch ein beträchtliches unternehmerisches und persönliches Risiko auf sich nahm. Nachdem bereits seine Zeitschrift „London und Paris" das Mißfallen der französischen Zensurbehörden erregt hatte und Bertuch 1804 ihrem drohenden Verbot nur durch die Verlegung des Erscheinungsortes von Weimar nach Halle entgangen war, sah er sich nach der Schlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 sogar in höchster Gefahr für Leib und Leben, weil er auf Befehl des preußischen Königs den Kriegsaufruf des preußischen Oberbefehlshabers, des Herzogs von Braunschweig, in seinem Landes-Industrie-Comptoir publiziert hatte. Wenige Tage später kehrte er von einer Reise nach Erfurt, bei der er dieses preußische Manifest in der handschriftlichen Originalfassung mit sich führte, nicht nach Weimar zurück und ging vorübergehend ins Exil in die Nähe von Gotha. Auch wenn er kurz darauf unbehelligt zurückkehren konnte, weil seine Mitwirkung an der Veröffentlichung und Beförderung des Kriegsaufrufs den französischen Militärbehörden offensichtlich verborgen blieb, war diese Vorsichtsmaßnahme durchaus angebracht, hatte doch erst kurz zuvor ein französisches Militärgericht den Nürnberger Verlagsbuchhändler Johann Philipp Palm wegen der Verbreitung einer antifranzösischen Schrift zum Tode verurteilt und hinrichten lassen.59 Im Windschatten der kriegerischen Auseinandersetzungen hatte Bertuch bereits zuvor mit der 1805 unter der Herausgeberschaft von Christian David Voß gegründeten Zeitschrift „Die Zeiten oder Archiv für die neueste Staatengeschichte" auch einen ersten, wenngleich noch durch scharfen Zensurdruck beeinträchtigten Versuch unternommen, publizistisch in die politischen Debatten seiner Zeit einzugreifen. Doch erst der mit den Befreiungskriegen der Jahre 1813-15 einhergehende Aufschwung der politischen Presse sowie das nach der 58 59
Bertuch: Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute ... (Anm. 34), S. 409f. Im einzelnen vgl. dazu Christina Junghanß: Die Flucht und ihre Gründe. In: Ch. J. (Hg.): Friedrich Justin Bertuch: Meine Hegira. Tagebuchaufzeichnungen von 1806. Weimar: Stadtmuseum 1997 (Weimarer Schriften; 54), S. 7-19. Junghanß bezweifelt anhand von ihr aufgefundener Dokumente die Darstellung von Heinemann und Hohenstein, wonach der Kriegsaufruf in den vom preußischen König angeordneten 4.000 Exemplaren tatsächlich vollständig gedruckt und verbreitet worden und er die Ursache für Bertuchs Entfernung von Weimar gewesen sei. Aus dem mit dem Datum 9. Oktober 1806 in deutscher und französischer Sprache ,,[a]us dem [preußischen - H.M.] Haupt-Quartier zu Erfurt" (vgl. Junghanß, S. 10) erlassenen Kriegsmanifest geht jedenfalls nicht eindeutig hervor, ob es zu den 4.000 geforderten Exemplaren gehörte, was Junghanß dazu veranlaßt, die Möglichkeit eines Probedrucks oder eines Drucks von nur wenigen Exemplaren für ausgewählte Adressaten zu erwägen. Sicher dagegen ist, daß Bertuch das handschriftliche Original bei sich trug, als er am 14. Oktober nach Erfurt reiste und sich damit angesichts des allgegenwärtigen französischen Geheimdienstes in höchste Gefahr begab. Nach Junghanß ist es sehr wahrscheinlich, daß die „Hegira" Bertuchs gar keine Flucht, sondern eine Dienstreise war, von der Bertuch in Anbetracht der ihm drohenden Gefahr, mit dem belastenden Dokument aufgegriffen zu werden, nicht zurückkehrte und die er erst nachträglich in seinem Tagebuch zur Flucht stilisierte.
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Niederlage der Franzosen von Carl August 1816 als erstem deutschen Fürsten eingelöste Verfassungsverprechen schufen die notwendigen Rahmenbedingungen, unter denen der bislang immer noch sehr vorsichtig agierende Bertuch endlich seine politischen Überzeugungen offen zu vertreten wagte. Dies geschah zunächst in den von Heinrich Luden herausgegebenen Zeitschriften „Nemesis" (1814-18) und „Allgemeines Staatsverfassungs-Archiv" (1814—18), in denen neben der französischen Fremdherrschaft Themen wie bürgerliche Grundrechte, Pressefreiheit und Neuordnung Europas sowie Verfassungsfragen diskutiert wurden, und nach der in Weimar gewährten Pressefreiheit insbesondere in der Tageszeitung „Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung", die 1817-20 in seinem Verlag erschien. Damit und mit seinem Kampf gegen den Nachdruck und die Zensur machte sich Bertuch zum Anwalt patriotischer und liberal-demokratischer Bestrebungen, welche die Beteiligung des ökonomisch erstarkten Bürgertums an der Macht im Rahmen „gemäßigter Regierungsformen" - so im Untertitel des „Allgemeinen Staatsverfassungs-Archivs" - zum Ziel hatten. Daß Goethe diesen publizistischen Aktivitäten, mit denen Bertuch nach einem Urteil Hohensteins die „journalistische Führung der progressiv-nationalen Bewegung" übernahm,60 keineswegs wohlwollend gegenüberstand, auch wenn er den mäßigenden Einfluß des risikoscheuen Weimarer Verlegers auf radikalere oppositionelle Bestrebungen durchaus zu schätzen wußte, zeigt Ludens Aufzeichnung über ein im November 1813 geführtes Gespräch, in dem er auf Wunsch Bertuchs Goethe als Mitarbeiter an der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Nemesis" zu gewinnen suchte. Goethe räumte Luden gegenüber zwar ein, daß dieser aufgrund der liberalen Weimarer Verhältnisse das Recht habe, eine politische Zeitschrift herauszugeben; er lehnte jedoch jegliche Mitarbeit daran ab und riet auch Luden nachdrücklich, von dem Vorhaben abzusehen, weil das deutsche Volk noch nicht reif dafür sei und zudem mannigfaltiger Widerspruch der Großen und Vornehmen, ja entschiedene Gegenwirkung ausländischer Mächte zu erwarten seien, müsse doch Luden bei seinem politischen Anliegen „die Hütten [...] gegen die Paläste" vertreten und „die Sache der Schwachen [...] gegen die Hand der Starken" führen.61 Goethe empfahl Luden bezeichnenderweise, zu seinen gelehrten geschichtlichen Arbeiten zurückzukehren, statt seine Kräfte in einem politischen Journal zu verschleißen, und wie er selbst „in der Wissenschaft und in der Kunst [...] die Schwingen" zu finden, mit denen man sich über die Zurückgebliebenheit und Unreife des deutschen Volkes hinwegsetzen könne. Luden hat es später gar nicht gewagt, alles, was ihm der Dichter in dem „schärfer" und „individueller" werdenden Gespräch mitteilte, für die Nachwelt aufzuzeichnen;62 für Goethes Verhältnis zu Bertuch und die Bewertung von dessen politisch-publizistischen Bestrebungen sind indessen
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Hohenstein (Anm. 2), S. 72. Zu Bertuchs politischen Zeitschriften und seinen politischen Auffassungen vgl. ebenda, S. 71-74, sowie S. 146-149 (Oppositionsblatt). In der Tat haben die liberalen und demokratischen Tendenzen der Bertuchschen Zeitschriften das Mißtrauen Preußens, Österreichs und Rußlands hervorgerufen; Rußland entsandte sogar August von Kotzebue nach Weimar, um die Weimarer Presse vor Ort überprüfen und darüber Bericht erstatten zu lassen. Vgl. dazu Hohenstein (Anm. 2), S. 73. Vgl. Ludens Gespräch mit Goethe, 13. Dezember 1813, in: von Biedermann (Hg.): Gespräche mit Goethe, Bd. 2. Leipzig 1909, S. 210-217. Dort auch die vorangegangenen Zitate.
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schon der abweisende Tenor und die Geringschätzung politischen Handelns charakteristisch, die das ganze Gespräch zum Ausdruck bringt. Ungeachtet solcher immer wieder hervortretenden Differenzen war Goethes Verhältnis zu Bertuch jedoch meines Erachtens viel ambivalenter als das der anderen Weimarer Geistesgrößen. Obwohl er sich seit etwa 1779/80 ständig an ihm rieb und den engeren persönlichen Umgang mit ihm vermied, hat der Dichter des öfteren, wie seine Briefe an ihn zeigen, Bertuchs weitverzweigte geschäftlichen Kontakte genutzt, um sich Bücher und andere Dinge von ihm besorgen zu lassen, wobei er sich auf Bertuchs Sachverstand voll verließ.63 Darüber hinaus vermittelte dieser ihm ab 1786 auch den Druck der ersten Ausgabe seiner „Schriften", die 1787-90 bei dem noch relativ unbekannten Verleger Göschen in Leipzig erschien, dessen stiller Teilhaber Bertuch seit 1784 war. 1789 wurde, von Bertuch und Kraus veranstaltet, die Buchausgabe des „Römischen Carneval" bei Ettinger in Weimar und Gotha publiziert, der ein vollständiger Abdruck des Textes im Januarheft 1790 des Modejournals sowie eine separate Edition der darin enthaltenen Kupfertafeln folgte.64 Auch später noch hat Goethe einige seiner Schriften bei ihm erscheinen lassen und sich auch der vielgelesenen „Allgemeinen Literatur-Zeitung" gern bedient, um die im Zusammenhang mit den Weimarer Kunstausstellungen von 1799 bis 1803 gestellten Preisaufgaben und Berichte darüber öffentlichkeitswirksam zu publizieren. Die näheren Umstände, unter denen die Publikation seiner „Schriften" bei Göschen sowie die Buchausgabe des „Römischen Carneval" zustande kamen, zeigen allerdings auch, daß das Mißtrauen, das Bertuch in Goethe bei anderen Gelegenheiten, z.B. als Administrator der Ilmenauer Porzellanfabrik65, geweckt hatte, sich gleichermaßen auf dessen literarische Vermittlungstätigkeit und verlegerische Entscheidungen erstreckte, hinter denen der Dichter immer wieder eigensüchtige Motive witterte.66 Am entschiedensten jedoch hat Goethe Bertuchs Geschäftssinn, sein unternehmerisches Wirken und seinen sich daraus ergebenden beträchtlichen Einfluß in Weimar als Provokation empfunden, wenn es ihm die eigenen literarischen, kulturpolitischen und - wie im Fall der Abwanderung der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" aus Jena zur Jahreswende 1802/03 - wissenschaftspolitischen Intentionen zu stören schien. Er scheute dabei gelegentlich auch davor nicht zurück, seinen Einfluß beim Herzog Bertuch gegenüber in autoritärer Weise geltend zu machen wie im Falle der für die ALZ vorgesehenen kritischen Böttiger63 64
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Vgl. z.B. Goethe an Bertuch, 20. März 1781. WA IV, 5, S. 91. Vgl. dazu Michael Schütterle: Bemerkungen zur Editionsgeschichte einer bibliophilen Kostbarkeit. In: M. Sch. (Hg.): „Untadeliche Schönheit". Kommentarband zum Rudolstädter Faksimile von Johann Wolfgang von Goethe: „Das Römische Carneval". Rudolstadt 1993, S. 7 - 3 0 ; sowie Seifert (Anm. 2), S. 120-123. Vgl. Hohenstein (Anm. 2), S. 43. Goethe ließ beispielsweise während seines Italienaufenthalts die Korrespondenz, die er mit Göschen wegen der Herausgabe seiner „Schriften" führte, zu einem beträchtlichen Teil über Herder und den Manuskriptfluß über seinen Diener Seidel laufen, obwohl Bertuch den Druck vermittelt hatte (vgl. Seifert [Anm. 2], S. 118f.). Später verdächtigte er Bertuch und Kraus, die Auflagenhöhe des „Römischen Carneval" aus kleinlichen unternehmerischen Bedenken zu gering gehalten zu haben (vgl. Goethe an Anna Amalia, 14. Dezember 1789. WA IV, 9, S. 168).
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Rezension von August Wilhelm Schlegels „Ion", deren Publikation Bertuch nach einem scharfen, in ultimativem Ton gehaltenen Brief Goethes67 unterband. Selbst an Bertuchs einstigen Mentor Wieland wandte sich der gereizte Dichter in dieser Sache in einem den verhaßten Verfasser der Rezension als „Herrn Überall" und „Tigeraffen" schmähenden Brief, um einer eventuellen Veröffentlichung im „Teutschen Merkur" vorzubeugen.68 Siegfried Seifert hat in seinem schon erwähnten Aufsatz den Goetheschen Begriff des „Verbertuchens" zum Ausgangspunkt einer zutreffenden und detaillierten Analyse der diesbezüglichen Konfliktpunkte zwischen beiden gemacht und dabei gezeigt, wie sehr Goethe nach Italien, seit 1794 auch im Bunde mit Schiller, das den Publikumsgeschmack bedienende, auf Unterhaltung und Belehrung angelegte populäre Erfolgskonzept der Bertuchschen Journale, das dem Verleger ja vor allem das gewinnbringende Eindringen in den umkämpften literarischen Markt ermöglichte, als Gegenpol zum eigenen, hohen ästhetischen Maßstäben verpflichteten „klassischen" Konzept einer autonomen Literatur verstand. Insbesondere das „Journal des Luxus und der Moden" wurde aufgrund seines die unterschiedlichsten Bedürfnisse des Publikums bedienenden Inhalts zur Zielscheibe ironischer Invektiven Schillers und Goethes.69 Auch Herder Schloß sich dieser Polemik an, indem er den Erfolg des „Modejournals" bissig und nicht ganz ohne Neid „auf die Eitelkeit, Frivolität und Anekdotensucht unseres Publikums" zurückführte.70 Goethes Haltung gegenüber Bertuch ist in diesem Zusammenhang also von dem in verschiedenen Texten und Projekten, wie z.B. den gemeinsam mit Schiller verfaßten „Xenien" und den „Dilettantismus-Fragmenten", erkennbaren Bemühen bestimmt, das seiner Ansicht nach das angestrebte literarische Niveau beeinträchtigende „Journalwesen"71 wie auch andere vom Autonomiekonzept abweichende literarische Bestrebungen aus dem Bereich der eigentlichen Kunst auszugrenzen. Dies führte im übrigen auch dazu, daß er den - freilich erst aus einer heutigen distanzierteren und differenzierteren Sicht klarer ersichtlichen kulturellen Wert der Bertuchschen Zeitschriftenproduktion verkannte.72 Goethes Reaktion auf den Geschäftsmann Bertuch läßt sich jedoch keineswegs auf solche aus aktuellen persönlichen, literarisch-publizistischen und politischen Differenzen hervorgegangene Gegensätze reduzieren. Er hat vielmehr auf die Spannungen zwischen Künstler und homo oeconomicus auch als Dichter reagiert und dabei früher als viele seiner Weimarer Zeitgenossen zu erkennen gegeben, daß ihm die geschichtliche und gesellschaftliche Bedeutung von Men67
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Vgl. Goethe an Bertuch, 12. Januar 1802. Ebenda, Bd. 16, S. 3; zur Sache vgl. auch Seifert (Anm. 2), S. 129. Vgl. Goethe an Wieland, 13. Januar 1802. W A IV, 16, S. 4f. Vgl. Goethes und Schillers Xenion „Du bestrafest die Mode, bestrafest den Luxus, und beide / Weißt du zu fördern; du bist ewig des Beifalls gewiß" (1796), sowie Goethes Gedicht „Journal der Moden" (1814). In: Goethe, BA, Bd. 2. Berlin, Weimar, 2. Aufl. 1973, S. 460 und 418f. Herder an seinen Sohn Ludwig, 1802. Zitiert nach Seifert (Anm. 2), S. 127. Zu Goethes ablehnender Position gegenüber dem „Journalwesen" vgl. seinen Brief an Schiller, 25. Juli 1798. WA IV, 13, S. 226. Grundsätzliches dazu bei Alphons Silbermann: Die Kulturzeitschrift als Literatur, in: IASL 10 (1985), S. 94-112.
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sehen wie Bertuch nicht verborgen geblieben ist. Die poetische Bewältigung dieser Spannungen erfolgte in seinem Wilhelm-Meister-Roman, in dem er in der Werner-Figur zugleich auch die im Typus des ökonomischen Menschen verkörperte tiefere Lebensproblematik in einer so subtilen Weise erfaßte, daß mit der Widerspriichlichkeit dieses Kaufmanns zugleich auch die historische Dimension von dessen Wirken dargestellt ist. Dies geschah freilich in so weitgehender Abstraktion von empirisch nachvollziehbaren Vorgängen und Vorbildern, daß es gewagt erscheinen will, die Kaufmannsfigur Werner auf Bertuch zu beziehen. Demgegenüber ist aber zu bedenken, daß die Ausarbeitung der Erstfassung des Romans, der „Theatralischen Sendung", nach den vorliegenden Zeugnissen von 1776 bis 1786, also in einer Zeit der intensiven Annäherung und nachfolgenden Entfernung von Bertuch, und deren Überarbeitung zu den „Lehrjahren" zwischen 1794 und 1796 erfolgte, als Bertuch mit seinem „Industrie-Comptoir" so erfolgreich war wie kein anderer Unternehmer Sachsen-Weimars und zugleich auch mit seinem Wirken immer stärker mit Goethe in Konflikt geriet. Darüber hinaus geht die im homo oeconomicus Werner dargestellte Widerspruchsproblematik in ihrer Modernität weit über das hinaus, was Goethe in seinen vorausgegangenen Kaufmannsdarstellungen im „Pater Brey", im „Götz von Berlichingen" oder in den „Geschwistern" geleistet hat. Der Dichter, der in Frankfurt, einer der bedeutendsten Handelsstädte seiner Zeit, aufgewachsen war und in zwei anderen - Leipzig und Straßburg - studiert hatte, kannte gewiß die kaufmännische Sphäre schon vor Weimar aus eigener Anschauung; er hatte sich zudem seit der Zeit der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen" auch mit ökonomischen Fragen befaßt. Was indessen moderner Handelsund Spekulationsgeist zuwege bringen konnte, wurde ihm in den Jahren der Entstehung des Romans aus nächster Nähe in Weimar durch Bertuch vor Augen geführt. Diese Argumente rechtfertigen durchaus die in unserem Zusammenhang interessierende Frage, inwieweit Werner als - wenn auch stark objektivierter poetischer Reflex konkreter Erfahrungen im Umgang mit Bertuch angesehen werden kann. Bei der Suche nach entsprechenden Analogien und Korrespondenzen fallen vor allem Werners moderner unternehmerischer Geist, die von ihm vertretenen ökonomischen Auffassungen sowie die utilitaristisch-egoistische Motivation seiner Bestrebungen ins Auge. Seinen Unternehmungsgeist und die ihm zugrundeliegenden ökonomischen Ideen legt Werner bereits im vermutlich um 1782 entstandenen Schluß des zweiten Buches der „Sendung" in einer Gesprächspassage mit Wilhelm dar, die - von Schiller übrigens zutreffend als „Apologie des Handels" bezeichnet73 auch in die Endfassung übernommen wurde.74 Gegenüber dem bekanntlich künstlerische Neigungen verfolgenden, vom Vater jedoch zum Kaufmann bestimmten Wilhelm entwickelt Werner hier in deutlicher Abgrenzung von der geschichtlich rückständigen Handelstätigkeit von Wilhelms Vater eine Auffas73
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Schiller an Goethe, 9. Dezember 1794, in: Siegfried Seidel (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe, Bd. 1. Leipzig 1984, S. 39. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. BA, Bd. 9. Berlin, Weimar, 3. Aufl. 1976, S. 376-379; sowie: Wilhelm Meisters Lehrjahre. BA, Bd. 10. Berlin, Weimar, 3. Aufl. 1976, S. 38-40.
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Heinrich
Macher
sung des eigenen ökonomischen Wirkens, die ihn zum Anwalt einer neuen, auf Welthandel, Angebot und Nachfrage, wechselseitige Abhängigkeit der Individuen und Zirkulation des Geldes orientierten Form bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaftens macht. So wie Bertuch dies zu diesem Zeitpunkt bereits zu tun im Begriffe war, will Werner „durch alle Arten von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes an [sich] reißen, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf [an anderer Stelle ist die Rede von „Zirkulation"] führt". 75 Analog zu Bertuch, dem die eigene wirtschaftliche Tätigkeit ja ebenfalls den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte, erscheint Werner der Handel in der von ihm beschriebenen Ausprägung gerade in einer ständisch geteilten Wirklichkeit als neue, den gegebenen Verhältnissen adäquate Form des Erwerbs und der Eroberung der Welt. Aus dieser Auffassung bezieht er in beiden Romanfassungen auch ein leidenschaftliches Pathos, das seine Rechtfertigung in der künftig erhofften Verbindung zwischen der neuen Ökonomie und dem Glück der Menschen findet. Die das Gespräch mit Wilhelm in den „Lehijahren" abschließende Verheißung, dieses Glück als „die Göttin der lebendigen Menschen" nicht „in Zahlen allein" zu finden76, wird allerdings in beiden Fassungen in sehr unterschiedlicher Weise erfüllt: Während Werner mit ihr in der „Sendung" aus der Handlung entlassen wird, nicht ohne daß kurz zuvor die Möglichkeit einer zumindest partiellen Realisierung seines Lebensanspruchs erzählerisch ins Bild gesetzt wird, 77 steht seine „Apologie des Handels" in den „Lehrjahren" am Anfang einer Entwicklung, welche diese Hoffnungen entschieden als illusionär entlarvt. Zu diesem Zweck vertiefte der Dichter das Philiströse, Einseitige und Begrenzte, das dem Werner der Erstfassung schon anhaftete, bis hin zu jener auch physischen Degeneration, in der uns der Kaufmann am Ende des Romans gegenübertritt. 78 Von einer solchen extrem philiströsen Haltung, die „um die übrige Welt sich nicht mehr bekümmert, als insofern man sie nutzen kann" 79 , war der vielseitige, sich auch für soziale und gemeinschaftliche Belange einsetzende Bertuch allerdings weit entfernt, auch wenn ihm, wie bereits dargestellt, der Vorwurf des Philistertums in Weimar nicht erspart blieb. In bezug auf die in Werners „lustigem" utilitaristischen „Glaubensbekenntnis" artikulierte Orientierung auf Geschäft und Gelderwerb in den „Lehrjahren" 80 ist er jedoch durchaus mit Werner vergleichbar. Die hier evident gemachte kritische Sicht des Dichters auf Werners merkantil geprägte Lebensweise und deren seinen Alltag bestimmenden depravierenden Konsequenzen geht allein schon über die zeitgenössischen spätaufklärerischen Kaufmannsdarstellungen weit hinaus, 81 das eigentlich Neue und Bedeutende an seiner 75
Ebenda, S. 38; vgl. auch Theatralische Sendung, S. 376f. Goethe: Lehrjahre, S. 40; vgl. auch Theatralische Sendung, S. 378f. 77 Vgl. Goethe: Theatralische Sendung, S. 374f. 78 Vgl. Goethe: Lehrjahre, S. 522f. 79 Ebenda, S. 300. Vgl. auch Werners zu Lothario geäußerte philiströse Haltung gegenüber dem Gemeinwesen, ebenda, S. 532. SO Vgl. ebenda, S. 300. 81 Vgl. z.B. den Kaufmann Colbert in Christian Gotthilf Salzmann: Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend, Theil III. Carlsruhe 1784, S. 164-172, Theil IV. Carlsruhe 1785, S. 238-243 und 354f.; sowie die Titelfigur in Johann Jakob Engel: Herr Lorenz Stark. Ein Charaktergemälde. Berlin 1801 (Teil-Vorabdruck in Schillers „Hören", Tübingen 1795/96). 76
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dichterischen Vergegenwärtigung des homo oeconomicus in den „Lehrjahren" ist jedoch darin zu sehen, daß Goethe sich auf eine solche einseitige Kritik nicht beschränkt, sondern vielmehr auch die historische Dimension und gesellschaftliche Relevanz von Werners Existenz und Wirksamkeit erzählerisch ins Bild gesetzt hat. Zu diesem Zweck entfaltete er darüber hinaus, daß er ihn in der „Apologie des Handels" ohnehin schon zum Vertreter einer historisch neuen Auffassung von Handel und Ökonomie werden läßt, auch noch ein selbst über die Zeit ihrer Trennung wirksames Beziehungsgeflecht zwischen Wilhelm und Werner. Dabei zeigt Goethe, indem er die von modernem Geschäftsgeist getragene Tätigkeit des Handelsmanns und insbesondere dessen finanzielle Transaktionen als Verwalter von Wilhelms väterlichem Erbe nicht nur für Wilhelms eigene Entwicklung, sondern auch für die Pläne der Turmgesellschaft bedeutsam werden läßt, auch im Romangeschehen deren geschichtliche Konsequenzen auf. 82 Das Amerika-Vorhaben der Turmgesellschafter, im 1796 entstandenen achten Buch der „Lehrjahre" von Jarno entwickelt, 83 korrespondiert übrigens mit dem von Bertuch Mitte der neunziger Jahre verfolgten und bereits erwähnten Projekt einer Landhandelskompanie mit Amerika in auffälliger Weise, ohne daß sich ein solcher Zusammenhang von den entstehungsgeschichtlichen Quellen des Romans her belegen ließe. Immerhin hat Bertuch seine diesbezüglichen Überlegungen noch vor Goethes Arbeit am Text, nämlich in der Mai-Ausgabe 1795 des „Modejoumals", öffentlich gemacht, in der er „den Handel mit Ländereyen in Nord-Amerika" als die „zugleich [...] wichtigste und gewinnreichste HandelsSpeculation" bezeichnete, „die dermalen in Europa gemacht werden kann, wenn sie mit der nöthigen Sachkenntnis, Vorsicht, und vorauszusetzenden SicherheitsAnstalten betrieben wird". 84 Goethes widersprüchliche, auch die historische und gesellschaftliche Dimension wirtschaftlicher Tätigkeit erfassende Darstellung Werners ist in den „Lehrjahren" schließlich die Grundlage dafür, daß das Wirken des homo oeconomicus in jenes weitgespannte, das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis der Individuen mitreflektierende Konzept menschlicher Tätigkeit integriert werden kann, das der Roman am Schluß in Wilhelms Lehrbrief entwickelt. Darin heißt es: „Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor. [...] Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus." 85 Einsichten dieser Art, die schon in der zuvor entwickelten Ambivalenz der Werner-Figur erzählerisch zur Darstellung gelangten, lassen dem homo oeconomicus poetische Gerechtigkeit widerfahren und durchbrechen damit übrigens 82
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Vgl. dazu Heinrich Macher: Wilhelm und Werner. Zur Persönlichkeitskonzeption in Goethes „Wilhelm Meister", in: Helmut Brandt, Manfred Beyer (Hg.): Ansichten der deutschen Klassik. Berlin, Weimar 1981, S. 209-232 und 343f. (Anm.). Vgl. Goethe: Lehrjahre (Anm. 74), S. 590f. Bertuch: Kann ein Staat zu viel Geld haben? (Anm. 39), S. 229. Die den kleinen Aufsatz abschließende vage Ankündigung einer künftigen Gelegenheit, „dem Publico mehr darüber zu sagen", verstehe ich als Hinweis auf die zusammen mit Böttiger verfolgten diesbezüglichen Pläne. Goethe: Lehrjahre (Anm. 74), S. 579.
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auch die für die anderen Weimarer Geistesgrößen charakteristische und überhaupt zeittypische Geringschätzung wirtschaftlichen Handelns. Mögen diese Auffassungen Goethes nun tatsächlich, wie aufgrund der Quellenlage nur vermutet werden kann, auch auf konkrete Erfahrungen mit Bertuch zurückgehen oder nicht - sie sind meiner Auffassung nach nicht ohne Folgen für sein weiteres Verhältnis zu diesem und die eigene dichterische Konzeption geblieben. Der Dichter hat sich jedenfalls nicht nur, nach einer durch die Querelen um die Böttigersche Schlegelrezension und die Abwanderung der ALZ nach Gotha verursachten Phase äußerster Zurückhaltung, zu dessen größter Verblüffung im August 1804 ganz von selbst Bertuch wieder genähert, 86 ihn vier Jahre später als Meister vom Stuhl für die wiedereröffnete Freimaurerloge „Anna Amalia" vorgeschlagen und in der Folgezeit noch manches gemeinsame Projekt in Zusammenarbeit mit ihm verwirklicht, er hat darüber hinaus auch wiederholt - wenngleich nicht öffentlich geäußerte - Worte der Anerkennung für Bertuchs ,,unermüdlich[es]" 87 und beispielhaftes Wirken „im Literarischen, Merkantilischen und Technischen" 88 gefunden. Hinter einer solchen zumindest partiellen Akzeptanz des ihm Fremden und Andersartigen, das ihn ein ganzes Menschenleben lang in Weimar in Gestalt Bertuchs begleitete, sind signifikante Veränderungen im Weltbild und Geschichtsverständnis des Dichters zu erkennen, die sein Verhältnis zum Ökonomischen und Merkantilen berühren. Diese haben ihre Spuren auch in seinem Spätwerk hinterlassen, z.B. in den „Wandeijahren", in denen auch der einst in all seiner Widersprüchlichkeit kritisch dargestellte Kaufmann Werner noch einmal wiederkehrt: Nach dem den Lesarten zu entnehmenden Verzicht darauf, ihn explizit unter „unsere ältesten Freunde" einzureihen, die „von ihrer Seite [...] die höchste Thätigkeit fortsetzen]" 89 , verbleibt es dann auch in der Endfassung bei der schon für die erste Fassung gewählten Textversion, die Werner in einer kurzen Episode ohne jeglichen kritischen Unterton in absentia als ,,[u]nser[en] alte[n], geprüftefn] Handelsfreund" vorstellt, der sich „zunehmenden, ja gleichsam ins Unendliche sich vermehrenden Geschäften" 90 widmet. Im Handlungsnexus, der nun schon maßgeblich von der epochalen Bedrohung des Hergebrachten durch das neuaufkommende „Maschinenwesen" 91 bestimmt ist, kommt ihm jedoch nur noch die Funktion des fernen Dienstherrn eines in das Romangeschehen eingreifenden Gehilfen zu. 92 Eine dergestalt periphere, die 86
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An Böttiger schreibt Bertuch am 18. August 1804: „Vor 8 Tagen sprach und sah ich Göthen zum erstenmale wieder seit Michael, in Tieffurth bey der Herzogin w o ich und mein Sohn gegessen hatten, und er gegen Abend hinkam. Er that so freundlich und höflich gegen mich, als sey er mein dickster Freund. Eben so sahen wir uns auch wieder bei Gore", in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Leipzig 1886, Nr. 288, Sp. 7170. Johann Wolfgang von Goethe: Schema zu einem Aufsatze. WA II, 6, S. 236. Johann Wolfgang von Goethe: Vorschlag einer vollständigen Ausgabe zu Goethes Nachlass, von ihm selbst entworfen. BA, Bd. 17. Berlin, Weimar 1970, S. 608. Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. WA I, 25/2, S. 133 (Lesarten). Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. BA, Bd. 11. Berlin, Weimar, 3. Aufl. 1976, S. 470; vgl. dazu auch die erste Fassung, WA I, 25/1, S. 273. Vgl. Goethe: Wanderjahre, S. 361. Vgl. ebenda, S. 470.
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einst zentrale Widerspruchsproblematik kaufmännischer Existenz und Lebensweise nicht wieder aufgreifende Behandlung des in die Jahre gekommenen Werner signalisiert eine Sichtweise des alten Goethe, die im Handel und Wandel, im beschleunigten Warenumschlag und in verbesserten Verkehrsverhältnissen jene inzwischen längst als selbstverständlich betrachteten, wenn auch nicht unkritisch hingenommenen Charakteristika der „verwickelte [n] Verhältnisse"93 eines neuen Zeitalters sah, dessen dichterische Bewältigung er sich in seinem Spätwerk zur Aufgabe machte. Daß diese Sichtweise im Hinblick auf die eigene Position in der gewandelten Welt auch resignative Züge aufweist, gibt ein Brief an Zelter vom 6. Juni 1825 zu erkennen, der in der Forschung durchaus zu Recht als Stellungnahme Goethes auch zu Bertuch aufgefaßt worden ist.94 Darin werden „Reichthum und Schnelligkeit [...] Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication" als Kennzeichen eines Zeitalters der allgemeinen „Mittelmäßigkeit" und der ,,mittlere[n] Cultur" bezeichnet, das sich dem kritischen Betrachter darstellt als ein „Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind". Diesen gegenüber sieht sich Goethe inzwischen in der Defensive, gemeinsam „mit vielleicht noch wenigen", die „an der Gesinnung halten in der wir herankamen", als „die Letzten [...] einer Epoche die sobald nicht wiederkehrt".'« Es zeugt indessen von Goethes dichterischer Größe, daß er sich mit einer solchen Feststellung nicht begnügte, sondern vielmehr in seinen letzten Lebensjahrzehnten den Zusammenhang zwischen den entwickelteren ökonomischen Verkehrsformen und den Veränderungen in der literarischen Kommunikation tiefgreifend erfaßte und für sein Poesiekonzept produktiv machte. Seine diesbezüglichen Überlegungen kulminierten, wie Altenhofer gezeigt hat,96 im Begriff der Weltliteratur, den der in seinem Alterswerk analoges Denken und Darstellen bevorzugende Dichter nicht zufallig wiederholt mit Metaphern aus der Sphäre des Handels und - so müßte man hinzufügen - des Geldverkehrs97 sinnfällig zu machen suchte. Dies ist schon in den 1816-18 entstandenen „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans" der Fall, in deren „Einleitung" Goethe bei seinen Bemühungen um die Aneignung und Vermittlung der fremden Kultur als ein Reisender angesehen werden möchte, der in dem Bestreben, das Zurückgebrachte zum Behagen der Seinigen schneller in Umlauf zu bringen, nach seiner Heimkehr „die Rolle eines Handelsmanns (über93
Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-Östlichen Divans. BA, Bd. 3. Berlin, Weimar, 3. Aufl. 1979, S. 227; ähnlich S. 201 („verwickelte Zustände"). 94 Vgl. Hohenstein (Anm. 2), S. 93. 9 5 Goethe an Zelter, 6. Juni 1825. WA IV, 39, S. 216. 96 Vgl. Norbert Altenhofer: Poesie als Auslegung; sowie: „Geistiger Handelsverkehr". Poetik und Hermeneutik beim späten Goethe, in: N.A.: Poesie als Auslegung. Schriften zur Hermeneutik. Hg. von Volker Bohn und Leonhard M. Fiedler (Frankfurter Beiträge zur Germanistik; 26). Heidelberg 1993, S. 19-46 und 167-181. 97 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: „German Romance" Vol. IV. Edinburgh. BA, Bd. 18. Berlin, Weimar 1972, S. 396.
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nimmt), der seine Waren gefällig auslegt und sie auf mancherlei Weise angenehm zu machen sucht".98 In seiner Rezension der Edinburgher Zeitschrift „German Romance" (1827) wird die merkantile und pekuniäre Metaphorik über den Prozeß der „Vermittlung" hinaus auch auf die „wechselseitige Anerkennung" einander fremder Kulturen bezogen, zu der die Deutschen schon seit langem ihren Beitrag leisteten. Wer die deutsche Sprache verstehe und studiere, befinde sich „auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert". Dementsprechend wird „jeder Übersetzer [...] als Vermittler dieses allgemein-geistigen Handels" angesehen, der „den [kulturellen - H.M.] Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht".99 In seiner Rezension der Übersetzung von Carlyles „Leben Schillers" (1830) schließlich wird der neuartige, „Weltliteratur" konstituierende kommunikative Zusammenhang mit dem geistigen „Verlangen" der „sämtlichen Nationen" erklärt, „auch in den mehr oder weniger freien geistigen Handelsverkehr mit aufgenommen zu werden".100 Es kann hier nicht im einzelnen dargelegt werden, welche Konsequenzen eine solche Analogisierung von merkantil-pekuniären und literarisch-kommunikativen Prozessen, in denen sich Goethes Auffassung von poetischen Werken als Waren und vom Leser als potentiellem Käufer ihren sinnfälligen Ausdruck schafft, für Goethes Verhältnis zum eigenen Werk und zum Publikum, namentlich aber zum klassischen Autonomiekonzept hatte.101 Wesentlich in unserem Zusammenhang ist, daß die hier nur kurz angedeutete, sich auch auf sein Poesieverständnis nachhaltig auswirkende Entwicklung von Goethes Position gegenüber Handel und Verkehr auch dazu beigetragen haben dürfte, das Verhältnis zu Bertuch zu entspannen und dem Zeitgenossen, der gerade durch die enge Verbindung von Kunst, Kultur und Kommerz sowie seine kulturelle und wissenschaftliche Vermittlertätigkeit für maßgebliche, auch vom späten Goethe als wesentlich erachtete neue Entwicklungstendenzen stand, eine von subjektiven Implikationen freiere Beurteilung zuteil werden zu lassen. Das beeindruckendste Zeugnis dafür ist die schon einleitend zitierte Grabrede des Kanzlers von Müller, an deren Ausarbeitung Goethe nach seinen eigenen Tagebuchnotizen mitgewirkt hat.102 In ihr werden Bertuchs Leistungen gemäß den Gattungstraditionen des Totenpreises und entsprechend den freimaurerischen Ritualen umfassend gewürdigt, darunter auch seine schon erwähnte Rolle als Vermittler kultureller und wissenschaftlicher Errungenschaften.103 Die Rede weist aber ebenso nachdrücklich auf die „Schwierigkeiten" und „feindlichefn] Gegenwirkungen" hin, welche der gerade Verstorbene mit „Willens- und Thatkraft", ,,eiserne[r] Beharrlichkeit", geistiger Regsamkeit und „folgerechte[r] Thätigkeit" überwunden habe.104
98
Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des WestÖstlichen Divans (Anm. 93), S. 164.
99
Goethe: „German Romance" (Anm. 97), S. 396.
100
103
Johann Wolfgang von Goethe: Thomas Carlyle, „Leben Schillers". Aus dem Englischen. Eingeleitet durch Goethe. BA, Bd. 18, S. 398f. Vgl. dazu Altenhofer: „Geistiger Handelsverkehr" (Anm. 96), S. 169ff., wo diese Konsequenzen eingehend entwickelt werden. Vgl. Goethes Tagebucheintragungen vom 5. und 8. April 1822. W A III, 13, S. 182f. Vgl. [von Müller:] An Bertuch's Grabe im Namen der Loge Anna Amalia (Anm. 1), S. 5.
104
Ebenda, S. 3f.
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In der Tat hat Bertuch zeit seines Lebens aufgrund solcher Eigenschaften und seiner erfolgreichen unternehmerischen Strategie die meisten der ihm begegnenden Widerstände überwinden können. Auch Goethes langjähriger Gegnerschaft ist er zunächst mit kluger Zurückhaltung und später, nach seinem Erfolg als Unternehmer, mit einem beträchtlichen Selbstbewußtsein entgegengetreten. Zu einer Wiederbelebung ihrer einstigen Freundschaft kam es indessen nicht, und so erfolgte auch die Anerkennung, die der große Dichter Bertuchs Lebensleistung schließlich doch noch zollte, von Seiten Goethes im anhaltenden Bewußtsein der Entfernung, die ihn von dem ihm wesensfremden ,,geschäftstätige[n] Mann" 105 trennte. Ganz in diesem Sinne bezeichnete er Bertuch in einem Gespräch mit dem Kanzler von Müller noch kurz vor dessen Tod, gleichsam als wolle er den seiner Ansicht nach unüberbrückbaren Abstand des produktiven Dichtergenies zu ihm kennzeichnen, als ,,größte[en] Virtuos [en] im Aneignen fremder Federn". 106 Einen diskreten Hinweis auf verbliebene Differenzen scheint auch, bei aller gattungskonformen Epideiktik, die Grabrede noch zu enthalten, wird doch in ihr Bertuchs „eigenthümlichste Lebenskunst" nicht nur darin gesehen, daß er sein Leben „zu vervielfachen und in zahlreichen Geisteswirkungen zu verewigen verstand" 107 , sondern daß er auch, wie schon zitiert, „in richtiger Erkenntnis der Zeitbedürfnisse [...] jede Gunst des Augenblicks" verständig zu benutzen wußte. In solchen Formulierungen schwingt außer Anerkennung auch eine nur verhüllt zur Darstellung gelangende Distanz mit, die, wenn inzwischen auch geringer geworden, das Verhältnis zweier so unterschiedlicher, ja wesensfremder Menschen wie Goethe und Bertuch über viele Jahre maßgeblich bestimmt hatte. Um so bedeutsamer ist, daß ganz in der Nähe Friedrich von Müllers, als er „in der Morgenstunde des 6. April 1822" in Bertuchs Garten seine von Goethe mitformulierte Grabrede hielt, auch dessen Büste als Zeichen der Verehrung des „Kaufmanns der Goethezeit" 108 für den großen Dichter unter den vom Kanzler erwähnten „Denksteinen unsterblicher Zeitgenossen" stand. 109 Der sich in dieser geradezu symbolischen Konstellation artikulierende Respekt vor der Lebensleistung des jeweils anderen kann auch uns noch helfen, das klassische Weimar als Zusammenspiel vielfältiger und widersprüchlicher Bestrebungen zu begreifen.
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Johann Wolfgang von Goethe: Zur Geschichte der „Jenaischen Literaturzeitung". Schema. BA, Bd. 17, S. 666. Gespräch mit F. von Müller, 18. Mai 1821, in: von Biedermann (Hg.): Gespräche mit Goethe (Anm. 62), Bd. 2, S. 502. [von Müller:] An Bertuch's Grabe im Namen der Loge Anna Amalia (Anm. 1), S. 3. So die Titelformulierung bei von Heinemann: Ein Kaufmann der Goethezeit (Anm. 2). [von Müller:] An Bertuch's Grabe im Namen der Loge Anna Amalia (Anm. 1), S. 6.
Manfred Koch
Bertuch und Herder
I Äußerungen Herders über Bertuch sind vergleichsweise spärlich überliefert, ihr Tenor ist in den meisten Fällen geringschätzig, zuletzt ausgesprochen feindselig. In der allgemeinen Weimarer Konstellation ,Der Kapitalist und die Geistesfürsten' besetzt diese Beziehung eindeutig den negativen Pol: mit keinem der Weimarer Großen verstand Bertuch sich so schlecht wie mit Herder. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen: 1777/1778 lernte Herder im Zusammenhang mit seinem Volksliedprojekt ein wenig Spanisch bei Bertuch, man las gemeinsam Auszüge aus dem „Don Quijote". Als hispanistischen Meister wollte der neue Generalsuperintendent den weithin gerühmten Cervantes-Übersetzer aber keinesfalls anerkennen: „Auch habe ich im Anfange des Winters aus Noth mich um etwas Spanisches bewerben müssen und einige Stunden mit Bertuch (der selbst nicht viel kann) gelesen. Künftigen Sommer denke ich mit Jagemann, der ganz ein andrer Mensch ist, als jener, an Dante zu gehen und verspreche mir große Freude."1 Bei aller Freudlosigkeit war der mittelmäßige Literat und immerhin hilfreiche Übersetzer aber wohl die Seite der Bertuchschen Persönlichkeit, die Herder noch am ehesten gelten lassen konnte. Mit dem herzoglichen Schatullenverwalter gab es Reibereien über die Kirchengebühr, die Bertuch für die Taufe des Erbprinzen nicht in angemessener Höhe entrichten wollte. Herder setzte einen ,3randbrief" auf und drohte unverhohlen damit, das Gerücht in Umlauf zu bringen, der Herzog sei ein „Vater [...], der sein Kind taufen läßt und Kirchner u. Kirchenwärter nicht bezahlen will". „Unter dem Volk", so der boshafte Herder weiter, „riecht sowas unbeschreiblich übel."2 Herders Antipathie erreichte allerdings erst ihren Höhepunkt, wo Geld und Literatur auf ihm verdächtige Weise zusammentrafen: bei Bertuch, dem Verleger, dem Herausgeber von Journalen und populären Lesereihen. Glaubt man Schiller, dann „[haßten] Bertuch und Herder einander wie die Schlange und des Menschensohn" [sie].3 Kristallisationspunkt für diese Feindschaft war die herbe Kritik der Herderschen „Ideen", die Kant ausgerechnet in Bertuchs und Schützens „Allgemeiner Literatur-Zeitung" veröffentlicht hatte (Januar 1785). Das negative Prädikat war dann bald gefunden. 1786 schreibt Herder an Gleim, er wolle nichts mehr mit dem „Deutschen Merkur" zu tun haben, der „jetzt unter der Bude des Mode-Journalisten steht".4 Caroline sekundiert wie immer und nennt Bertuch einen „Juden"5 und „Wechselkrämer".6 Zwar scheint sich die Lage später entspannt zu haben - in 1
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Johann Gottfried Herder: Briefe 1763-1803. Hg. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold. 10 Bde. Weimar 1977-1996 (künftig: DA). Bd. 4, S. 61. DA, Bd. 4, S. 256. SNA, Bd. 24, S. 146. DA, Bd. 5, S. 180. DA, Bd. 6, S. 238. DA, Bd. 7, S. 187.
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einem Brief an Böttiger 1800 behauptet Caroline gar, ihr Mann stehe „in keinem Übeln Verhältniß" mit Bertuch 7 - , die Frontlinien sind dennoch klar gezogen: hie der Theologe und Menschheitsschriftsteller, der die Welt aus dem Geist vereinigen will, dort der Kaufmann mit seiner sprichwörtlichen .Geschmeidigkeit', der alles über das Medium des Markts zusammenbringt. Mit dieser idealtypischen Kontrastierung aus der Sicht der Familie Herder ist natürlich nicht viel gewonnen. Sie bestätigt zunächst nur Eigenarten der Persönlichkeit, die in Weimar Gegenstand des Klatsches wurden. Daß Herder jemanden nicht leiden konnte, ist bekanntlich kein sonderlich trennscharfes Kriterium (fast alle Vorträge mit dem Titel ,Herder und ...' könnten so beginnen und hätten zumindest für einen bestimmten Zeitraum recht). Ebenso weiß man, daß ihm die kommerzielle Seite der Literaturproduktion und -distribution ein Greuel war. Caroline mußte für ihn in Honorarfragen die Geschäfte führen, „weil es meinem Mann äußerst fatal ist seine Bücher zu verhandeln". 8 Herders hochfahrender Stolz, gepaart mit weitgehender Ahnungslosigkeit in ökonomischen Dingen, sorgte im Verein mit Carolines Knausrigkeit dafür, daß phasenweise sogar die Beziehung zu Hartknoch, dem alten Freund und großzügigen Verleger der meisten Schriften des jungen Herder, auseinanderzubrechen drohte. Das Verhältnis wurde mühsam - durch Vermittlung Hamanns - wieder gekittet, die alte Intimität wollte sich aber nicht mehr einstellen. Hartknoch starb, als Herder eben auf der Rückreise von Rom nach Weimar war. „So ist Hartknoch auch todt", schreibt Herder nach Hause, „nun ruhe wohl, guter Mensch, auch Du hast ausgestöhnet." 9 Daß Hartknoch zuletzt sehr viel über seinen ehemaligen Lieblingsautor zu stöhnen hatte, klingt in dem Brief nicht an.
II Fünf „Götter" des modernen Zeitalters nennt Friedrich Schlegel in seinen „Philosophischen Fragmenten": „Credit ist der dritte Gott des Zeitalters, neben der Mode und der Industrie. [...] Luxus ist der vierte Gott des Zeitalters, Circulation desgleichen." 10 Bertuch erscheint unter diesen Voraussetzungen geradezu als der Hohepriester einer neuen merkantilen Religion. Luxus, Mode und Industrie figurieren in den Titeln seiner wichtigsten Publikationen an zentraler Stelle, auf eine Belebung der „Circulation" zielen, wie er im Modejournal schreibt, alle seine Anstrengungen ab. Die Stimulation von Luxus- und Modebedürfnissen hat darin ihre Rechtfertigung, daß sie zur Beförderung der Zirkulation beiträgt: Luxus ist [...] schlechterdings nicht von dem menschlichen Societäts-Leben zu trennen; er ist das unmittelbare Resultat der Volks-Industrie, welche zu befördern sich ja selbst unsere Fürsten jetzt mit Recht so viel Mühe geben; und er ist, so lange er nur nicht in
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DA, Bd. 8, S. 446. DA, Bd. 5, S. 74. DA, Bd. 6, S. 144. Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. Hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Paderborn 1988, Bd. 5, S. 69.
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Üppigkeit ausartet, Zeichen des Wohlstandes einer Nation, und das kräftigste Triebwerk einer lebhaften Circulation; die allein einen Staatskörper gesund erhält. 11
Wie viele Zeitgenossen beschwor Bertuch unter dem Eindruck kameralistischer und liberalistischer Wirtschaftstheorien die „Circulation" - oder wie es auf deutsch hieß: den „Umlauf' - als geradezu metaphysische Macht, die die Menschen in den modernen Gesellschaften miteinander verbindet und in Wohlstand und Frieden zusammenleben läßt. 12 Gerade das Schnelle, Flüchtig-Vorübergehende des modernen Waren-, Geld- und Ideenverkehrs galt als heilsam: durch den Umfang und die Geschwindigkeit dieser Umläufe werden weit mehr Menschen miteinander in Kontakt und Kommunikation gebracht, als dies im zwar innigeren, aber eben beschränkten Sozialleben traditionaler Gesellschaften der Fall war. Bertuch konnte seine Umtriebigkeit als Journalist, Verleger und Kaufmann im Lichte einer im 18. Jahrhundert topischen Glorifizierung des Händlertums deuten. Der Esprit de commerce war es demnach, der Menschen entferntester Herkunft miteinander verknüpfte, ihre Produkte einander zur Kenntnis brachte und dadurch auf geradezu menschheitsvereinigende Weise zu einer allgemeinen Milderung der Sitten und Befriedung der Welt beitrug. Luxus, Mode, rasante Zirkulation, industrielle Tüchtigkeit und großzügiges Kreditwesen wurden dadurch zu Phänomenen von hohem moralischem Rang. Der Verleger, der in seinen Zeitschriften einen „beständigefn] Zusammenfluß neuer Producte der Litteratur und Kunst" präsentiert, 13 steigert den geistigen Wohlstand seiner Nation. 14 Für Herder hingegen waren Journalismus, Luxus und Mode drei gleichermaßen besorgniserregende Phänomene der Moderne; eine Zeitschrift, die all dies im Titel vereinigte, mußte eine Provokation für ihn darstellen. 15 „Unsre Zeit", heißt es gleich zu Beginn seiner ersten großen Schrift, der „Fragmente über die neuere deutsche Literatur" (1767), sei „um so viel reicher an Journälen, als sie an Originalwerken arm wird." 16 Nicht zufällig fällt gleich darauf der Name Rousseau: „Je mehr Bücher, sagt Roußeau, desto weniger Weisheit; je mehr Ehebruch, desto weniger Kinder: je mehr Journäle, desto minder wahre Gelehrsamkeit. Man läuft auf die Märkte, Neuigkeiten zu hören [...] und der wahren Bürger sind 11
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Journal des Luxus und der Moden. Hg. von F.J. Bertuch und G.M. Kraus. Teilnachdruck aus den Bänden 1-40 (1786-1825). 4 Bde. Hanau 1967-1970. Bd. 1, S. 36. In lebhafte Zirkulation versetzt werden mußte nach dieser Theorie alles, wenn die Gesundheit des Staatskörpers nicht leiden sollte: Waren, Geld, aber natürlich auch Gedanken. 1814 eröffnet der Jenaer Historiker Luden seine gemeinsam mit Bertuch herausgegebene Zeitschrift „Nemesis" mit einem programmatischen Essay „Über den freien Geistesverkehr". Journal des Luxus und der Moden. Bd. 1, S. 332. Es gibt im „Journal" allerdings auch die warnende Stimme; so z.B. wenn es heißt, daß Lesegesellschaften „eine Menge schlechter und oft gefährlicher Schriften beym Publico in schnelleren Umlauf brächten". Ebenda, Bd. 1, S. 330. Ähnlich empört reagierte 1980 die deutsche Linke auf die bloßen Reizwörter .Luxus' und ,Mode', als Hans Magnus Enzensberger seine neugegründete Zeitschrift „TransAtlantik" vorstellte, deren Eröffnungsteil ein „Journal des Luxus und der Moden" bildete. Weil selbstverständlich kaum jemand wußte, daß dieser Titel ein Zitat war, galt für viele Enzensbergers Übergang zur Dekadenz als ausgemacht. Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hg. von Martin Bollacher u.a. Frankfurt a.M. 1985ff. Bd. 1, S. 169 (künftig: HW).
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so wenig, daß man auch selbst schon zu den Neuigkeiten Fremde braucht."17 Während Herder Lieder alter Völker sammelt, stellt Bertuch Kleider und „Nippes"18 aus den neuen Weltstädten London und Paris vor. Daß das „Journal des Luxus und der Moden" auch in anspruchsvollerem Sinn auf die weibliche Bildung einwirken wollte, verschlimmerte die Sache für Herder eher. Mit der Mischung von Neuigkeiten aus dem Bereich des Designs und des Geistes schien es einen Frauentyp anzusprechen, der Elemente zweier von Herder gleichermaßen verabscheuter Weiblichkeitsbilder in sich vereinigte: das gelehrte Frauenzimmer und die putzsüchtige Kokette. Bertuchs Zeitschrift war abzulehnen, weil sie in ihrem Spekulieren auf weibliche Eitelkeit den Gemeingeist im Haus tendenziell wohl auch im ganzen Vaterland - zu untergraben drohte: „Verderbliche Modejournale, die durch stets veränderten Aufwand den häuslichen Wohlstand untergraben, und wie sie das Gemüth eitel machen, so der Gesundheit, Moralität und aller beßern Zweckhaftigkeit schaden; sie zertrümmere der echte griechische Geschmack f...]."19
III Somit scheint es leicht, die Positionen abzustecken und einander zu konfrontieren. Auf der einen Seite Bertuch, der Agent einer neuen Zeit, in der alles auf Mobilität, weitgespannte Handels- und Informationsnetze und rasche Verwertbarkeit ankommt. Auf der anderen Seite der Zivilisationskritiker Herder, der Bertuchs Versatilität als Oberflächlichkeit und die Popularität der Bertuchschen Journale als Zersetzung wahren Volksgeistes deuten mußte. Die „Mode" - von Goethe als „augenblickliche Überlieferung"20 apostrophiert - steht gegen die tragende Tradition aus der Tiefe der Zeit, die Aktualität gegen das menschheitsgeschichtliche Erinnern, „London und Paris" gegen Athen und Jerusalem. Soweit es um die persönliche Beziehung der beiden Männer geht, ist damit in der Tat alles gesagt. Herder hat den Menschen Bertuch wohl nach dem Raster solcher Oppositionspaare als bedenkliche Verkörperung des Zeitgeists gesehen.21 Die beiden mochten sich wechselseitig nicht, und sie hatten nachvollziehbare Gründe dafür. Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man jenseits von persönlichen Antipathien, die schnell zu schematischen Urteilen greifen lassen, die Rolle untersucht, die der Typus Bertuch - der weltgewandte Kaufmann und Verleger - in 17
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HW 1, S. 170. Später dekretiert Herder bündig, Journale seien die „Modekrankheit unsrer Zeit" (HW 1, S. 269). „Nippes" wird als einer der Gegenstände, denen sich das „Journal" widmen soll, von Bertuch ausdrücklich in der Einleitung genannt: Journal des Luxus und der Moden, Bd. 1, S. 30. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan, Bd. 24, Berlin 1886, S. 340f. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde, hg. von Friedmar Apel u.a. Frankfurt a.M. 1985ff., I. Abt., Bd. 13, S. 105 (künftig: FA). Als Dienerin am Zeitgeist hat sich die Modezeitschrift ja selbst verstanden: „Wir schreiben die Chronik des Geistes unserer Zeit, in so fern er von der Mode beherrscht, geleitet und geformt wird" (Journal des Luxus und der Moden, Bd. 1, S. 315).
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Herders Humanitätsphilosophie spielt. Um diese Fragestellung anzugehen, möchte ich versuchsweise die Dyade Herder-Bertuch durch Einbeziehung Goethes zur Trias erweitern und unter einem thematischen Gesichtspunkt einen Vergleich anstellen. Dieser leitende Aspekt soll der Begriff der Weltliteratur sein. Meine These lautet: an Bertuch kann exemplarisch verdeutlicht werden, was Goethes Konzept einer „Weltliteratur" 22 von Herders Humanitätsprogramm unterscheidet. Herders schwieriger Begriff der Humanität hat ja (wie man im Vorgriff auf die spätere Begriffsbildung sagen könnte) unübersehbar eine weltliterarische Dimension. Von seinen Anfängen an geht es Herder, der 1768 den Begriff „Nationalliteratur" ins Deutsche einführt, 23 immer um die Vereinigung der Stimmen der Völker zu dem Chor der einen Menschheit. 24 Nationalliteraturen sollen in Wechselbeziehungen - in kulturellem Austausch und Konkurrenz voneinander lernen, gerade dadurch ihre Eigentümlichkeit ausbilden und derart miteinander das Gesamttableau einer reichgestaltigen Menschheit abgeben. Man hat deshalb in der Herder-Forschung zuletzt öfters von Herders „Weltliteratur" gesprochen 25 , ohne jedesmal eine genügend scharfe Trennung von Goethes berühmtem Begriff vorzunehmen. Schlaglichtartig kann diese Trennlinie, so denke ich, am Beispiel von Friedrich Justin Bertuch gezogen werden. In Goethes Äußerungen zur Weltliteratur begegnen durchgängig zwei Bildfelder: das eine schließt an die biblische Sprache religiöser Vereinigung an (das johanneische „Kindlein liebet euch"), das andere an die Terminologie der englischen Freihandelstheoretiker. Die merkantile Metaphorik (geistiger Handelsverkehr, Ideen in Umlauf, Umschlagplatz für Ideen) ist so auffallig, daß in Arbeiten über Goethe und Bertuch der Weimarer Großkaufmann schon öfters als geradezu allegorische Personifikation jener modernen „großen Zirkulation" 26 , durch die die Epoche der Weltliteratur eintritt, ins Auge gefaßt wurde. 27 Pointiert gesagt: Weltliteratur ist „verbertuchte Literatur". 28 In der Person Bertuchs schien Goethe jenen neuen Typus des „leichtfassendefn] praktische[n] Menschen" vor sich zu haben, den der berühmte Brief an Zelter vom 6. Juni 1825 beschreibt; im 22
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Goethe hat den Begriff „Weltliteratur" bekanntlich 1827 zum ersten Mal verwendet (das Wort gibt es vorher schon bei Wieland). Das Konzept der Weltliteratur läßt sich bis in die 90er Jahre des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan u.a. 33 Bde., Berlin 1877-1913. Bd. 2, S. 118 (künftig: SWS). Der Titel „Stimmen der Völker in Liedern" stammt von Caroline und Johannes von Müller. Herder selbst sprach ausdrücklich von der einen „Stimme der Völker, ja der Menschheit selbst" (SWS 24, S. 266). Vgl. z.B. Andreas Kelletat: Herder und die Weltliteratur. Frankfurt/M. u.a. 1984; Hans Adler: Weltliteratur - Nationalliteratur - Volksliteratur, in: Regine Otto (Hg.): Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Herders. Würzburg 1996, S. 271ff. FA 1/9, S. 390. Das Zitat stammt aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre". Es spricht Wilhelms Schwager Werner, der später gemeinsam mit der Turmgesellschaft bis nach Amerika ausgreifende Geschäfte plant. Vgl. z.B. Siegfried Seifert: ,Verbertuchte Literatur' oder Die unendliche Geschichte vom Autor und vom Verleger am Beispiel Goethes und Friedrich Justin Bertuchs, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 5, 1995, S. 111-134; hier S. 126f. Seifert verweist u.a. auf die „Blaue Bibliothek der Nationen", eine Reihe, die einen „weltliterarisch angelegten, literaturpädagogischen Effekt" haben sollte. Vgl. ebenda, S. 127.
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Weltliteratur ist „verbertuchte Literatur".28 In der Person Bertuchs schien Goethe jenen neuen Typus des „leichtfassende[n] praktischefn] Menschen" vor sich zu haben, den der berühmte Brief an Zelter vom 6. Juni 1825 beschreibt; im Bertuchschen Presse-Imperium begegnete ihm vor Ort eine Maschinerie, die von der ungeheuren Beschleunigung der „Fazilitäten der Kommunikation"29 profitierte und sie vorantrieb. Nicht zuletzt den vielen Kanälen der Bertuchschen Medienlandschaft, durch die die Informationen aus aller Welt in die deutsche Provinz flössen, war es zu verdanken, daß ein „Weimaraner" zugleich „Weltbewohner" sein konnte.30 Goethes verstreute Äußerungen über „Weltliteratur" lassen sich systematisch rekonstruieren als eine frühe Kommunikationstheorie der modernen Literatur. Weltliteratur ist Literatur unter Bedingungen moderner Austauschverhältnisse, sowohl in materieller wie in geistiger Hinsicht. Den nationalen Ökonomien, die zu Bestandteilen einer Weltwirtschaft' werden, den Nationalstaaten, die über ihre Geschicke nurmehr im Rahmen einer ,Weltpolitik' entscheiden können, entsprechen auf kulturellem Gebiet die nationalen Leserschaften, die zunehmend in eine durch schnellen planetarischen Informationsfluß hergestellte Weltöffentlichkeit' eingehen. Parallel zu jenem .Weltmarkt'31, auf dem reale Güter von überallher ausgetauscht werden, entsteht ein kultureller Weltmarkt, auf dem Kunstelemente auftauchen, die verschiedensten Kulturen und Traditionen entstammen. Weltliteratur ist auch Literatur unter Bedingungen eines universellen Reflexivwerdens und damit einer universellen Verfügbarkeit von Traditionen. Ihr Fluchtpunkt ist jener Zustand, den wir heute erreicht haben und den man um die neue Unübersichtlichkeit des bereits von Goethe beschriebenen Prozesses zu markieren - vielleicht als ,Globalliteratur' bezeichnen könnte: jedem Schriftsteller steht an jedem Punkt der Erde die Gesamtheit aller literarischen Traditionen und Techniken virtuell zur Verfügung. In der „veloziferischen" Ausweitung und Verdichtung der internationalen Kommunikation hat Goethe immer auch etwas Luziferisches gesehen.32 Zugleich war ihm klar, daß diese Prozesse
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„Blaue Bibliothek der Nationen", eine Reihe, die einen „weltliterarisch angelegten, literaturpädagogischen Effekt" haben sollte. Vgl. ebenda, S. 127. FA 11/10, S. 277. Vgl. F A I / 2 , S. 661. Auch dieses Wort taucht im Deutschen zum ersten Mal bei Herder auf, allerdings nicht in dem ökonomischen Sinn, den es später annimmt; vgl. HW 6, S. 48. „Weltwirtschaft" ist zuerst belegt bei Herders und Goethes Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck; die meisten der genannten Komposita mit „Welt-" werden um 1800 geprägt, in jener ersten Globalisierungsdiskussion, die im Zeitalter der Spätaufklärung geführt wurde. .Weltliteratur' ist wortgeschichtlich eine Parallelbildung zu diesen Komposita und eine Oppositionsbildung zu .Nationalliteratur'. „Für das größte Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten, ein guter Kopf könnte wohl noch Eins und das Andere interpolieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der Übrigen; und so springt's von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch." FA 11/10, S. 333f.
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IV Herder scheint auf den ersten Blick von solcher Offenheit für das moderne Maschinenwesen und die modernen Kommunikationsformen weit entfernt. Spontan ergibt sich die Assoziation, der Theoretiker organisch gewachsener Nationalkulturen, die ihren Mittelpunkt keimartig in sich tragen und darauf bezogen bleiben, dürfe all dies gar nicht zur Kenntnis genommen haben (abgesehen davon, daß er annähernd 30 Jahre vor Goethe starb und den Industrialisierungsschub des frühen 19. Jahrhunderts gar nicht miterlebte). Diese gängige Charakterisierung Herders sollte mit Vorsicht genossen werden. Von den „Fragmenten" an behandelt Herder jene von ihm so benannte deutsche „Nationalliteratur" als Element eines europäischen Literatursystems, in dem eine Unzahl von Rezeptionsprozessen, Mischungen und Anverwandlungen stattgefunden hat. Topisch ist in der zweiten Jahrhunderthälfte die Klage, daß durch das beschleunigte Aneinanderrücken der Staaten, ihre wachsende ökonomische und politische Verflechtung, die Individualität der Einzelkulturen abgeschliffen werde. Herder stimmt in sie ein: „Nationalcharaktere, wo seid ihr?" 33 , ruft der Autor der Bückeburger Geschichtsschrift aus und gibt selbst die Antwort: „alles neigt sich in Europa zur allmähligen Auslöschung der Nationalcharaktere". 34 Daß die Moderne eine Geschlossenheit autochthoner Kulturen und Kulturkreise nicht mehr kennt, führt auch Herder auf die Medienrevolutionen zurück, mit denen die globale Expansion Europas seit der Frühen Neuzeit einherging. Im 57. Humanitätsbrief legt er dar, daß in einem Zeitalter fortschreitender ökonomischer Interdependenz, in dem die Nationen bei Strafe des Untergangs die wissenschaftlich-technischen Innovationen ihrer Nachbarn mitvollziehen müssen, ein beständiger Ideenfluß in planetarischem Maßstab in Gang kommt, der die alte Vorstellung eines vaterländischen Publikums obsolet macht. Alle Ideen, die eine Kultur produziert, richten sich tendenziell an ein Weltpublikum: Durch alles Reiben der Völker, der Gesellschaften, Zünfte und Glieder unter einander erwuchs immer ein größeres oder feineres Publikum, das in Streit und Friede, in Liebe und Leid einander Teil nahm. Auf diesem Wege bekam die rohe Kunst, der vom Bedürfnis erpressete Fleiß der Einwohner Europens nicht nur diesen ganzen Weltteil, sondern durch ihn auch alle Weltteile zum gemeinschaftlichen Boden. [...] alle Völker Europa's greifen [...] in einander und halten unsem Erdball für das Publikum, worauf sie zu wirken haben. 35
Das technische Medium, das die Herausbildung eines Weltpublikums ermöglicht hat, ist der Buchdruck: Welche Mühe kostete es in altern Zeiten, Bücher zu haben, mehrere zu vergleichen und über einen Inbegriff von Wissenschaft zu urteilen! Jetzt überschwemmen sie uns; eine Flut Bücher und Schriften, aus allen für alle Nationen geschrieben. Ihre Blätter rauschen so stark und leise um unser Ohr, daß manches zarte Gehör schon jugendlich übertäubt wurde. In Büchern spricht Alles zu Allem; niemand weiß zu Wem? Oft wissen wir auch nicht, Wer spreche? denn die Anonymie ist die große Göttin des Marktes. Von einem sol-
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HW, Bd. 4, S. 75. HW, Bd. 6, S. 706. HW, Bd. 7, S. 320.
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chen Publikum wußte weder Rom, noch Griechenland; Guttenberg und seine Gehülfen haben es für die ganze Welt gestiftet. 36
In diesem Zitat klingt untergründig eine alte Skepsis gegen den Buchdruck noch an, der - so hatte Rousseau es formuliert - eine „greuliche Unordnung" 37 in die Köpfe von Menschen bringe, die früher unschuldig und unwissend, dafür aber geborgen in der Sicherheit eines unangezweifelten Weltbilds lebten. Die kleinen, umhegten, durch mündliche Kommunikation zusammengehaltenen Gemeinschaften der Vormoderne werden demnach zersetzt durch eine Druckschriftkultur, die entfernteste Lebenswelten miteinander verbindet und deren traditionelle Wertvorstellungen und eingespielte Praktiken in einer Flut fremder Information gleichsam hinwegspült. Herder hat die typographische Kultur der Moderne, die etwa gleichzeitig mit der Entdeckung der Neuen Welt die technischen Voraussetzungen für eine planetarische Kommunikation bereitstellt, meist ambivalent beurteilt. Der Buchdruck erweitert den Wirkungskreis des Geistigen, speziell der Literatur, unendlich; die Abstraktheit der bloßen Lektüre und die Masse des Geschriebenen, der der Leser nun ausgesetzt ist, führt aber zu einer oberflächlichen Rezeption. 38 Schon in der Vorrede zu den „Ideen" jedoch redet Herder von der Schädlichkeit des neuzeitlichen Mediums nurmehr im Konjunktiv: „Dies unsichtbare Commercium der Geister und Herzen ist die einzige und größeste Wohltat der Buchdruckerei, die sonst den schriftstellerischen Nationen eben so viel Schaden als Nutzen gebracht hätte." 39 Der positive Aspekt eines weltumfassenden geistigen Handelsverkehrs, den der Buchdruck ermöglicht, überwiegt offensichtlich die Sorgen über die Zerstreutheit und Desorientiertheit des modernen Lesepublikums. In den „Humanitätsbriefen" erkennt man dann leicht Herders geschichtsphilosophische Argumentationsfigur, nach der die „Weite" oder der „Umfang" der globalen Kommunikation den Verlust an Intensität, an Eindringlichkeit und Tiefe des Gesprächszusammenhangs in traditionalen Gesellschaften kompensiert. 40 Herder ist offenbar auch fasziniert von den technischen Möglichkeiten, die sich am Ende des Jahrhunderts auftun und noch einmal neue Perspektiven für die globale Verständigung der ganzen Menschheit eröffnen. Wo Goethe von den „Fazilitäten" moderner Kommunikation sprechen wird, die Fernstes und Nächstes in unbegreiflicher Schnelle miteinander zu verknüpfen erlauben, behandelt Herder schon in den „Humanitätsbriefen" den Buchdruck als „Telegraph menschlicher Gedanken" 41 - eine erstaunliche Metapher für die Zeit um 1795. In der Vervielfachung, Technisierung und planetarischen Ausweitung des Ideenumlaufs will Herder also keineswegs eine Katastrophe sehen. Auch darin 36 37
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HW, Bd. 7, S. 323. Jean-Jacques Rousseau: Schriften in zwei Bänden. Hg. von Henning Ritter. München und Wien 1978, Bd. 1 , S . 5 7 . „Die Buchdruckerei hat viel Gutes gestiftet; der Dichtkunst hat sie viel von ihrer lebendigen Wirkung geraubet." HW, Bd. 4, S. 200; vgl. auch ebenda, S. 77. HW, Bd. 6, S. 13. Diese Argumentationsfigur findet sich schon in der Bückeburger Geschichtsschrift von 1774, dort aber noch überdeckt von bitterem Spott über die mechanische ,Policierung', mit der Europa die ganze Welt überzieht. HW, Bd. 7, S. 323.
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bleibt er der Anti-Rousseauschen Wendung seines Frühwerks treu. Die Modernisierungsphänomene, die die Humanitätsbriefe (schon unter dem Eindruck von Adam Smiths Wirtschaftstheorie)42 so eindrucksvoll beschreiben, weisen trotz aller Gefährdungen für Herder auf einen sinnvollen Fortgang der Gattungsgeschichte. „Die physische Gewalt der Menschheit nimmt zu", so kommentiert er in einem anderen Brief die Wucht der einsetzenden Industrialisierung.43 Die Dynamik der beschleunigten Weltgeschichte, die Kräfte, die die Menschheit dabei freisetzt, erhalten bei Herder eine höhere Rechtfertigung, indem sie in ein monistisches Grundkonzept integriert werden. Alles läuft letztlich auf eine Erweiterung des „Schauplatzes" der Demonstration Gottes hinaus: die erhabene Macht, die die Menschen in der permanenten Revolutionierung ihrer Lebenswelt verspüren, ist letztlich doch eine Offenbarung der „Überschwänglichen Herrlichkeit" Gottes in der Geschichte. Die vernetzte Welt der Moderne ist darin geradezu heilig, daß sie in gigantischem Umfang die Menschen und ihre Handlungen miteinander verknüpft, durch die Vervielfachung von Berührungspunkten die Kräfte intensiviert und zumindest die Möglichkeit einer planetarischen Harmonie im Spiel dieser potenzierten Kräfte eröffnet. Gott will die Weltgesellschaft, weil sie die Menschheit zusammenhängender und kraftvoller macht und weil unterstellt werden darf, daß diese Totalisierung nicht auf eine anarchisch-destruktive Entfesselung, sondern auf eine proportionierliche Fügung der gewachsenen Menschheitskräfte hinausläuft. Humanität - ein Ausdruck, der „nur ein anderer Name für Zusammenstimmung und Maß" ist44 - wäre dann am eindrucksvollsten realisiert, wenn eine unendlich verflochtene Menschheit auf dem ganzen Erdball das Schauspiel eines immerwährenden, umfassenden Ausgleichs der verschiedensten Bestrebungen, Handlungen und Organisationsformen menschlichen Lebens böte. Unter diesen Voraussetzungen kann Herder auch versöhnt die „Vorteile der Geistes-Industrie"45 - den Nutzen also des kommerzialisierten Verlagswesens, der Presse, der modernen Medien allgemein - anerkennen. Eine Figur wie Bertuch bekommt damit sogar ihren Platz im Programm der Humanität. Solchen Einsichten in die Motorik der ,künstlichen Bildung' seiner Zeit steht indessen unverbunden das Beharren auf einer homogenen kulturellen Identität gegenüber und das Phantasma einer Weltkultur, die ein Garten ist, in dem viele bunte Völker blühen. Beide Momente sind beim späten Herder nur vermittelt durch jenen Begriff der Humanität, der normativ einfach voraussetzt, daß größtmögliche Vereinigung bzw. größtmögliche „Zusammenstimmung" bei größtmöglicher Verschiedenheit stattfinden muß. Trotz aller Einsicht in die Reflexivität moderner Literatur hält Herder weiter an einem Ideal substantieller Lebensformen fest, in denen der Geist einer Literatur, der Geist der Nation bzw. des Volkes und der Geist ihrer Sprache sich bruchlos zusammenschließen. Literatur ist (und soll weiter sein) das „Nationalmedium der Denkart"46, die gemeinsame 42
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Herder hat Smiths „Wealth of Nations" vermutlich bald nach Erscheinen der deutschen Übersetzung von 1794 gelesen; vgl. den Kommentar von Hans Dietrich Irmscher: HW, Bd. 7, S. 901. HW, Bd. 7, S. 126. Ulrich Gaier: Poesie und Geschichtsphilosophie. Herders Antwort auf Kant, in: J.G. Herder. Geschichte und Kultur. Hg. von Martin Bollacher. Würzburg 1994, S. 1-17; hier S. 12. HW, Bd. 7, S. 34. HW, Bd. 4, S. 128.
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Sphäre, in der ein Kollektiv sich ausdrückt und seine kulturelle Identität begründet. Daß Literatur in modernen Gesellschaften ein sozialer Teilbereich ist, der mit Max Weber gesprochen - eigengesetzlich geworden ist und der immanenten Logik von Forminnovationen gehorcht, will Herder nicht wahrhaben. Goethes Weltliteraturkonzept beruht dagegen auf „Entsagung": dem Bewußtsein, daß das Zeitalter der „Einseitigkeiten"47 gekommen ist, in dem die Fragmentarisierung des sozialen Lebens und das Wuchern spezialisierter Diskurse kulturelle Entitäten wie aus einem Guß nicht mehr bestehen lassen. Der Sinn, den Literatur produziert, kann das Gemeinwesen nicht in der Weise unmittelbar und innig durchdringen, wie Herder sich das vorstellt. Was in Literatur an Erfahrung erschlossen wird, gerät durch die Kanäle eines eigengesetzlichen Literaturbetriebs in sozialen Umlauf und trägt nur in hochkomplexen Vermittlungsprozessen mit anderen kulturellen Teilsystemen zum ,Geist' eines Gemeinwesens bei. Die „Geistesindustrie", wie Bertuch sie anschaulich verkörperte, hat deshalb bei Goethe einen anderen Stellenwert. Sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene ist nicht nur ihre Vermittlungsfunktion entscheidend, die medialen Zwänge, aber auch die Möglichkeiten, die der kulturelle Weltmarkt in sich birgt, prägen die Literatur vielmehr bis ins Innerste. Werke, die unter weltliterarischen Bedingungen entstehen, sind nicht einfach mehr Gewächse eines jeweiligen nationalen Bodens, sondern synthetische Gebilde, die Stile und Kunsttechniken verschiedener Kulturen kombinieren, neu zusammensetzen und so zu einer spezifischen Sprache der Kunst verarbeiten. Zwar wird ihnen weiterhin eine Färbung zu entnehmen sein, die auf den kulturellen, regionalen, ja lokalen Lebenshintergrund des Autors verweist. Gleichgewichtig wird ihre Form aber bestimmt sein durch jenes übernationale Idiom, das sich in der verdichteten Kommunikation von Künstlern herausbildet, die unerhört schnell und in großer Breite Ideen und Innovationen der anderen aufnehmen und umsetzen können. Weltliteratur· Werke partizipieren damit sowohl an der jeweiligen Kultur, aus der heraus sie geschrieben wurden, als auch an einer Weltsprache der Dichtung, die sich aufgrund einer eigenen Formlogik in dieser Kommunikation weiterentwickelt. Beide Momente hat Goethe unnachahmlich lakonisch im Motto zu den ,.Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans" zusammengestellt: „Wer das Dichten will verstehen / Muß in's Land der Dichtung gehen; / Wer den Dichter will verstehen / Muß in Dichters Lande gehen."48 In Herders Traum einer individuellen Poesie, die zur Stimme eines individuellen Volkes wird und mit den Stimmen der anderen harmonisch akkordiert, hat der Manager des Ideenhandels zwar eine anerkannte Vermittlungsfunktion. In den eigentlichen Bezirk des Literarischen aber dringt er nicht vor. Die Form und Gestalt .wahrer' Literatur wird von den modernen Kommunikationsverhältnissen nicht versehrt. Die Weltkultur soll so letztlich doch ein Blumengarten authentischer individueller Gewächse bleiben, auch wenn Herder die Zeiten chemischer
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FA, Bd. 1/10, S. 295. FA, Bd. 1/3.1, S. 137.
Bertuch und Herder
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Mischungen und artifizieller Montage schon heraufziehen sah.49 Eine „verbertuchte Literatur", die sich das Warenlager der Weltkulturen für Experimente und neue Formen zunutze machen würde, kam für ihn nicht in Betracht. Vielleicht nicht zufällig kam Herder deshalb in Rom, als es ihm nicht mehr gelingen wollte, die Kultur der Antike als lebendige Ganzheit zu erfahren und die Altertümer ihm als zerstreute, entseelte Fragmente begegneten, ausgerechnet sein Weimarer Unternehmer in den Sinn: „einst wars eine schöne Blüthe [...] jetzt aber ists eine Blumenfabrik wie unsrer Freunde Krause und Bertuchs."50
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„Wo die Natur durch Sprache, Sitten und Charakter die Völker geschieden; da wolle man sie doch nicht durch Artefacta und chemische Operationen in Eins verwandeln." HW, Bd. 7, S. 654. DA, Bd. 6, S. 101.
Bernd Leistner
Schiller und Bertuch
Am Abend des 21. Juli 1787 traf Schiller, aus Dresden kommend, in Weimar ein. Mit der Reise in die thüringische Residenzstadt verband sich ihm der Wunsch nach Horizonterweiterung und Kontaktgewinn. Und nicht zuletzt hoffte er auf die Eröffnung einer Lebensperspektive, die geeignet sei, ihm bei befriedigendem Tun halbwegs hinreichende Einkünfte zu sichern. Dabei wurde ihm nur allzu bald bewußt, daß es sich bei diesem Weimar, auf das sich seine Erwartungen richteten, um einen höchst komplizierten Mikrokosmos handelte. Unmittelbar nachdem er weimarischen Boden betreten hatte, fand er sich bei Charlotte von Kalb ein; durch sie sah er sich in ein Bild gesetzt, das ihm gar Angst machen konnte. Am 23. Juli schrieb er an Körner: „Ich habe mit keinen Kleinigkeiten zu thun und die vielerlei Verhältnisse in die ich mich hier zertheilen muß, in deren jedem ich doch ganz gegenwärtig seyn muß, erschröckt meinen Muth und läßt mich die Einschränkung meines Wesens fühlen."1 Aber der Entschluß, Weimar als Chance zu begreifen, blieb gleichwohl unirritiert. Und im nämlichen Brief an Körner teilte Schiller auch mit, daß er sich bereits bei Wieland angemeldet und im übrigen die Frau von Imhoff kennengelernt habe: „[...] bei der leztern habe ich wie ich glaube einen ziemlich erträglichen Eindruck gemacht, was mir lieb ist, weil sie noch denselben Abend in einer großen Assemblee den ersten Laut von mir wird haben erschallen lassen." Danach der Ausblick: „Die übrigen Weimarischen Götter und Götzendiener werde ich in dieser Woche schon expedieren. Wieland soll mir hierinn einige politische Maaßregeln vorzeichnen. Göthe ist noch in Italien, Bode in Paris, Bertuch ist auch abwesend, Rheinhold ist schon in Jena. Mlle Schröder sehe ich wahrscheinlich bei Charlotten. Mlle Schmidt soll ein redseliges affektiertes und kaltes Geschöpf seyn; also aus der Parthie wird nichts. Schlagt mir eine bessere vor."2 Diese „Mlle Schmidt" war die Tochter des Wirklichen Geheimen Assistenzrates Johann Christoph Schmidt; offenbar war der nach Weimar reisende Schiller von Körner sowie von dessen Frau und deren Schwester mit der Empfehlung ausgestattet worden, auf das Fräulein mitsamt seiner Mitgift ein Auge zu werfen. Wenn aber im gegebenen Zusammenhang auch Bertuch erwähnt wurde, so verweist dies darauf, daß Schiller ihn den „Weimarischen Göttern und Götzendienern" entschieden zurechnete. An ihn hatte er sich bereits im November 1784 von Mannheim aus gewandt: mit der Bitte, in seinen „Zirkeln und Korrespondenzen" die „Avertissiments" für die „Rheinische Thalia" zu verbreiten.3 Und er war dabei nicht zögerlich gewesen, dem Umworbenen gehörig Schmeichelhaftes zu sagen: Sich auf Bertuchs Übersetzung des „Don Quijote" beziehend, hatte er ihn als einen Mann apostrophiert, „den Teutschlands und Spaniens Litteratur nie
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Schiller an Christian Gottfried Körner, 23. [-25.] Juli 1787. SNA, Bd. 24, S. 106. Schiller an Körner, 23. [-25.] Juli 1787; SNA, Bd. 24, S. 106f. Schiller an Friedrich Johann Justin Bertuch, 12. November 1784; SNA, Bd. 23, S. 161.
Bernd Leistner
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vergeßen werden".4 Nun freilich war der als wichtig eingestufte Mann abwesend, genauer: er hielt sich zur Kur in Karlsbad auf; und da die Rückreise über Dresden erfolgte, war es nicht Schiller, sondern Körner, der von den beiden die Bekanntschaft mit Bertuch als erster machte. Noch in Erwartung des ihm angekündigten Besuchs schrieb Körner unter dem 2. August 1787 an den Freund: „[...] also darfst Du Dir nicht zu viel einbilden. Wir kriegen auch eine weimarsche Rarität zu sehen, und keine unbedeutende - einen Geschmacks-Minos."5 Man wird, so ist anzunehmen, bei diesem Dresdener Gespräch über Schiller ausgiebig geredet haben; und sicher hat ihm Körner über das Treffen detailliert Bericht erstattet. Der Brief jedoch, in dem das geschehen sein dürfte, ist nicht überliefert. Nachlesbar ist indessen derjenige, in dem Schiller über Bertuch schrieb, nachdem der letztere in Weimar endlich angelangt und es bei Charlotte von Kalb sogleich auch zu einer Begegnung gekommen war. Ein Urteil allerdings enthält dieser Brief nur indirekt; denn Schiller begnügte sich damit, dem Dresdener Freund pointiert die kurrenten Lobsprüche wiederzugeben, mit denen Bertuch ihn und die Frauen und den Finanzrat von Wagner und dessen Schwester und auch noch die Neumanns wortreich bedacht habe.6 Dem Passus eignet einiges an Süffisanz. Schiller, so läßt sich mutmaßen, war nicht sehr angetan von dem Gespräch; zu wenig galt es offenbar ihm, zu ausschließlich redete ihm Bertuch von den Dresdenern. Aber die Einladung zu einem Besuch in Bertuchs Haus und Garten nahm er natürlich an. Nur wenige Tage nach der Erstbegegnung fand er sich ein; der Bericht steht im Brief an Körner vom 18. [und 19.] August. Und daß ihm das Bertuchsche Haus sowie die Gartenanlage einen starken Eindruck machten, verschwieg Schiller nicht. Durchaus räumte er ein, daß alles Gesehene von „Geschmack" zeuge; namentlich rühmte er das in einem Teil des Gartens kunstreich gestaltete „Labyrinth". Im übrigen hob er Bertuchs kluge Disposition hervor, die sich ihm darin erwies, daß der verbleibende Teil des Gartengeländes in 75 kleine Pachtstücke parzelliert worden war. Indem er dies aber beschrieb, räsonierte er zugleich: „Die Bertuchs müssen in der Welt doch überall Glück haben. Dieser Garten, gestand er mir selbst, verinteressiert sich ihm zu 6 pro Cent und dabei hat er das reine Vergnügen umsonst! Wie hoch mußt Du dieses anschlagen!"7 So sprach sich im Brief an Körner ein widerwilliger Respekt aus. Er galt einem Geschäftstüchtigen, der ihm als Vertreter einer Spezies im Grunde mißliebig war und dem er doch konzedieren mußte, daß er nicht nur erfolgreich, sondern auch noch ein Mann von Geschmack und von einigem Kunstsinn sei. Zehn Tage später dann kam Schiller, wieder in einem Brief an Körner, neuerlich auf Bertuch zurück. Er schrieb dem Freund über die spannungsvolle Beziehung des letzteren zu Herder. „Bertuch und Herder hassen einander wie die Schlange und des Menschensohn. Bei Herdern geht es soweit daß sich alle seine Züge verändern sollen, wenn Bertuchs Name genannt wird. Aber auch der geschmeidige Bertuch ist an dieser einzigen Stelle sterblich und fühlt etwas
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Schiller an Bertuch, 12. November 1784; SNA, Bd. 23, S. 161. Körner an Schiller, 2. August 1787; SNA, Bd. 33 I, S. 133. Vgl. Schiller an Körner, 12. [und 13.] August 1787; SNA, Bd. 24, S. 130f. Schiller an Körner, 18. [und 19.] August 1787; SNA, Bd. 24, S. 136.
Schiller und Bertuch
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höchstseltenes - Leidenschaft."8 Derart wurde Bertuch als ein Mann von Glätte gekennzeichnet, als einer, dem affektive Regungen fremd seien. Und die Fortsetzung des Brieftextes belegt, daß Schiller ebendiese Glätte des Betragens mit jenem geschäftsmännischen Kalkül zusammendachte, von dem bereits zehn Tage zuvor geschrieben worden war. Denn der Bericht wandte sich hernach der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" zu; und Schiller teilte mit, daß Bertuch 2.500 Taler pro Jahr an ihr verdiene (wobei die gleiche Summe auch Christian Gottfried Schütz, dem Mitherausgeber und ersten Redakteur des Blattes, zufließe). Im folgenden heißt es: „Eigentlich ist doch eine Recensierende Societät eine brutale und lächerliche Anstalt, und ich muß Dir gestehen, daß ich zu einem Complott gegen diese geneigt bin. Vorher aber müssen sie mich in ihr Heiligthum führen."9 Die trotzig abgrenzende Geste, geltend dem Unternehmen, war nicht zuletzt gegen den gerichtet, der es ins Leben gerufen hatte und dem es so ärgerlich viel Geld einbrachte: gegen Bertuch. Und noch ein weiteres Mal kommt Bertuch in diesem Brief vom 29. August 1787 vor. Schiller schrieb, daß er mit ihm in jenem Club der Bürgerlichen zusammengetroffen sei, in den er kurz nach seiner Ankunft in Weimar durch Wieland eingeführt worden war; und er habe Bertuchs Gast sein müssen: Ich machte mir die Lust ihn auf sein Steckenpferd zu setzen und verbreitete mich ganz erstaunlich weise und mit einer Art Begeisterung über Commercespeculationen. Er wurde warm und machte mir große Confidencen, unter andern auch die Idee eines teutschen Bücherhandels nach Paris, Amsterdam und England, den er gar sehr in Affection genommen hat. Ich sprach mit soviel Achtung von dem Handel daß ich ihn bald ganz weg hatte und er mir am Ende einfiel ob ich - stelle Dir vor! ich! nicht Lust hätte mich in eine solche Carriere einzulaßen. Als wir auseinander giengen drückte er mir die Hand und sagte: Es freue ihn, daß wir einander nun hätten kennen lernen! Der Mann bildet sich ein, daß wir Berührungspunkte hätten und denkt mich auf einer neuen Seite betreten zu haben. Uebrigens aber gestehe ich Dir werde ich Bertuchs Bekanntschaft nie ganz aufgeben. Wer weiß ob nicht Du vielleicht einmal von seiner Thätigkeit, seinem Handelsgeist und seinem Glücke profitieren kannst, wenn sich Fälle ereignen sollten. Vielleicht auch ich selbst. 10
Bertuch als versatiler Mann des ,.Handelsgeistes": Der Episodenbericht bekräftigte ein weiteres Mal die Distanz, die Schiller zwischen sich und dem Unternehmer gegeben sah. Zugleich aber macht der Bericht deutlich, daß Schiller sich auf Bertuch einließ, daß er spielerisches Gefallen daran fand, mit ihm auf dessen Ebene zu konversieren, und daß es ihn ziemlich befriedigte, von seinem Redepartner ernst genommen worden zu sein. Zudem dokumentiert der Bericht, daß Schiller bei allem Kluftbewußtsein durchaus gesonnen war, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Der Mann, dies die nüchterne Erwägung, würde ihm unter Umständen nützlich sein können. So auch kam es zu weiteren Besuchen bei Bertuch;" und unter dem 14. September 1787 schrieb Schiller an Huber: Am vorigen Sontag war ich zu Bertuch zu einem sehr weitläuftigen Soupee geladen wo ich mich unter einer höchst abgeschmackten Menschenklaße, den Räthen und Räthinnen 8 9 10 11
Schiller an Körner, 29. August 1787; SNA, Bd. 24, S. 146. Schiller an Körner, 29. August 1787; SNA, Bd. 24, S. 147. Schiller an Körner, 29. August 1787; SNA, Bd. 24, S. 150. Vgl. Schiller an Körner, 10. September 1787; SNA, Bd. 24, S. 152.
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von Weimar, sehr übel berathen fand. In einer solchen Dürre des Geistes war Bertuch für mich ein wohlthuendes Wesen und das ist viel gesagt. Aber ich kann Dir versichern, daß unter allen hiesigen Menschen Bertuch mir noch beinahe der liebste ist, weil ich mich über gewiße Dinge bei ihm schon zum voraus resigniere und alles finde was ich bei ihm suche. 12
Aufs neue brachte Schiller, indem er sich über Bertuch äußerte, gehörige Distanz zum Ausdruck. Der Passus bezeugt freilich auch - im Gegensatz zum vorab an Körner Geschriebenen - eine Bereitschaft, den Mann nicht mehr nolens volens nur in Rechnung zu stellen, sondern ihn in seiner Wesens- und Betragensart gar akzeptabel zu finden. Schillers Kriterium: Jedenfalls wisse man bei ihm, woran man sei. Und einen Monat später, als Schiller den Freund Körner für eine eventuelle Laufbahnperspektive in Weimar zu erwärmen trachtete, wurde dann Bertuch sogleich als dritte Ortsgröße nach Wieland und Herder genannt - die Namensreihe, die hernach noch Bode, Voigt, den Hofmedikus Christoph Wilhelm Hufeland, Ridel, Schmidt, Corona Schröter, Charlotte von Stein, Luise von Imhoff sowie Knebel anführt, war als Werbung für die Stadt gemeint. Bezeichnend dabei auch, daß Schiller, von dem Kömer im bisherigen doch eher Verächtliches über Bertuch vernommen hatte, nach dessen Nennung noch die Bemerkung anfügte, „im Umgang" seien der Mann und seine Frau „recht sehr genießbar".13 Kein Zweifel also: Gewiß blieben die Schillerschen Vorbehalte ungetilgt - und im Februar 1788 fiel schließlich das ätzende Wort von ,3ertuchs mercantilischefr] Seele"14 - , aber sukzessive verfreundlichte sich die Beziehung. So auch änderte sich die Haltung Schillers der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" gegenüber. Bereits im September 1787 hatte er bei Bertuch sein Interesse an Mitarbeit deutlich signalisiert;15 Mitte Oktober wurden ihm der „Contract zum Untersiegeln und die Statuten"16 zugesandt. Dabei spielte jene taktische Erwägung, wie sie im August gegenüber Körner zum Ausdruck gebracht worden war, keinerlei Rolle mehr. Daß er sich nun einließ auf das Unternehmen, kommentierte er im Brief an Huber vom 26. Oktober 1787 mit den Worten: Es ist, wenn ich mehr mit Dir darüber spräche, eine nicht verwerfliche Speculation. Der Bogen wird mit 15 Thalern bezahlt, die Hauptsache ist daß ich dadurch angehalten bin, vieles zu lesen, weil um ein mittelmäßiges Buch zu recensieren, oft zwei gute gelesen werden müssen. Die Bücher werden mir geschickt und ich habe das Lesen umsonst. Eine nähere Connexion mit der Allgemeinen] Literatur] Z[eitung] ist auch darum nicht zu verwerfen weil sie in der gelehrten Welt ein ansehnlicher Cörper ist und noch weit mehr werden wird. 17
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Schiller an Ludwig Ferdinand Huber, 14. September 1787; SNA, Bd. 24, S. 155f. Schiller an Körner, 14. Oktober 1787; SNA, Bd. 24, S. 165. Schiller an Körner, 23. Februar 1787; SNA, Bd. 25, S. 19. Vgl. Schiller an Huber, 26. Oktober 1787; SNA, Bd. 24, S. 171. Schiller an Huber, 26. Oktober 1787, SNA, Bd. 24, S. 171. Schiller an Huber, 26. Oktober 1787; SNA, Bd. 24, S. 171. - Zur Geschichte der Schillerschen Mitarbeit an der Zeitung vgl.: Norbert Oellers: Die .Jenaische Allgemeine LiteraturZeitung" und Schiller, in: Studien zur Goethezeit. Festschrift für Lieselotte Blumenthal. Hg. von Helmut Holtzhauer und Bernhard Zeller. Weimar 1968, S. 302-329.
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Im gleichen Brief gibt es dann auch die Mitteilung, er werde bei der beabsichtigten Reformierung des „Teutschen Merkur" als Wielands Partner fungieren; und wenn es sich mit der Zeitschrift wie erwünscht füge, so gewinne er aus ihr „1000 Thaler reinen Profit".18 Durchaus also hatte sich Schiller nach kurzem Aufenthalt in Weimar zu der Disposition bestimmt, dem Literaturgeschäft und seinen Möglichkeiten nicht mehr nur mit skeptischer Reserviertheit zu begegnen. Was sich ihm vorab als „verwerflich" dargestellt hatte, begriff er zunehmend für sich als Chance. Und entschieden war es der Kontakt mit Bertuch, wodurch diese Freisetzung des Schillerschen Literaturgeschäftssinnes stark mitbefördert wurde. Eine Existenz begann ihm vorzuschweben, bei der sich geistig-literarische Produktivität mit Bertuchschem Merkantilismus verbinden lassen müßte. So recht wollte es freilich mit solcher Symbiose nicht gelingen. Der Plan, mit Wieland zusammen den erneuerten „Merkur" zu besorgen, zerschlug sich schließlich; und für die „Allgemeine Literatur-Zeitung" wurde Schiller zwar durchaus tätig - wobei er auch einiges sehr Gewichtige lieferte - , doch von andauernd reger Rezensieraktivität kann keine Rede sein. Das Besprechungsgeschäft agil zu betreiben verwehrte sich ihm. Auch andere Vorhaben gediehen nicht auf eine Weise, durch die sich die drückende Geldnot hätte beheben lassen können. Es war aber Bertuch, der bei einigen von ihnen die Rolle eines Mittlers spielte und hierbei sich bemühte, zu Schillers Gunsten wirksam zu werden. Entsprechend fand er sich im April 1788 auf Schillers Bitte hin" bereit, gelegentlich einer Reise nach Leipzig in dessen Interesse mit Göschen und Gottlieb Christian Götz zu verhandeln. Zugrunde lag dieser Bitte eine Schillersche Verärgerung: Götz, der Geschäftsführer der Schwanschen Buchhandlung zu Mannheim, hatte mehrmals Nachauflagen der „Räuber", des „Fiesko" sowie von „Kabale und Liebe" veranstaltet, ohne den Autor zu verständigen, geschweige denn ihn zu honorieren. So war denn Schiller auf die Idee gekommen, die Texte sich nochmals vorzunehmen; und Göschen sollte dafür gewonnen werden, die überarbeiteten Stücke nebst einem in Aussicht genommenen neuen als Sammelband zu verlegen. Dabei war es Schiller namentlich darum zu tun, daß schon auf der Ostermesse von Göschen eine diesbezügliche Absicht kundgegeben werde. An ihn schrieb er unter dem 19. April, mit dieser Absicht solle er Götz auf der Messe konfrontieren und ihm dabei die Schändlichkeit seines Verhaltens deutlich vor Augen führen. Im übrigen sei zum Mitstreiten Bertuch bereit, der das zu verfechtende Anliegen „eifrig unterstützen" wolle. Das Anliegen aber selbst betreffend, so sei in erster Linie zu erreichen, daß Götz unter Druck gesetzt werde: in eine „Furcht", die groß genug sein müßte, ihm für die letzte Auflage 100 Taler abzupressen. Wie jedoch, wenn er trotzdem zu zahlen sich weigere? „Thut Götz es nicht und will ers darauf ankommen laßen, so zerstreuen Sie wo möglich noch auf der Meße, eh er seine Auflage losschlägt, das Avertissement der meinigen, welches Bertuch Ihnen so gütig seyn wird aufzusetzen."19 Der Plan, wie man weiß, ging ins Leere; und wenn es auf der Leipziger Ostermesse von 1788 ein Gespräch zwischen Göschen, Bertuch und Götz tatsächlich gegeben hat, so wurde in ihm nicht der erwünschte Effekt erzielt. Schiller freilich mußte auf die Nachricht, wie es sich in seiner Angelegenheit gefügt habe, 18 19
Schiller an Huber, 26. Oktober 1787; SNA, Bd. 24, S. 171. Schiller an Georg Joachim Göschen, 19. April 1788; SNA, Bd. 25, S. 45.
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ziemlich lange warten. Im Brief an Göschen vom 1. Mai 1788 bat er den Adressaten: „Herrn L[egationsrath] Bertuch empfehlen Sie mich recht sehr, und schicken Sie ihn uns bald wieder [,..]."20 Doch erst sechs Tage später traf der heiß Zurückersehnte in Weimar wieder ein. Am gleichen Tag schrieb Schiller an Körner: „Bertuch ist vor einigen Stunden aus Leipzig wiederangekommen und ich erwarte ihn alle Augenblick bey mir. Du kannst leicht denken, ob ich begierig seyn werde, den Ausgang der Götzischen Angelegenheit von ihm zu erfahren. Ob er mir wohl gar Geld bringt? - Dann will ich seinen Pfad mit Rosen bestreuen."21 Und gewiß nun mochte die Enttäuschung Schillers groß gewesen sein; an Bertuch indessen, der sicherlich getan hatte, was er konnte, und dies auch dargelegt haben dürfte, hielt sich Schiller, wenn es um geschäftliche und pekuniäre Dinge ging, auch im folgenden. Akute Geldnöte brachten ihn gar dazu, Bertuch zu bitten, ihm kurzfristig aus der einschlägigen Verlegenheit herauszuhelfen. Ein solcher Bittbrief ist der vom 22. Oktober 1788: „Hundert Rthlr. müßtens seyn, und zwischen heute und acht Tagen wünschte ich sie zu haben."22 Zugleich erfährt man aus diesem Brief, daß Schiller etliche Monate zuvor schon einmal mit dem Anliegen, ihm Geld zu leihen, an Bertuch herangetreten war.23 Damals hatte Bertuch unzögerlich der Bitte entsprochen; und er tat es auch jetzt. Nach Rudolstadt, wo Schiller sich aufhielt, sandte er sofort acht Carolin; die restlichen 50 Taler folgten nach einigen Tagen. Daß der Dienst übrigens nicht mürrisch geleistet wurde, dafür gibt es ein Indiz. Im nämlichen Brief, in dem Bertuch seine entgegenkommende Reaktion zum Ausdruck brachte, unterbreitete er aus freien Stücken auch das Angebot, für Schiller, der aus Rudolstadt zurückzukehren plante, in Weimar ein günstiges Quartier zu beschaffen. 24 Und auch hernach, als er sich in Weimar wieder eingefunden hatte, konnte Schiller bemerken, daß Bertuch ihm mit zuneigender Aufmerksamkeit begegnete. Im Brief vom 27. November 1788 bekam Caroline von Beulwitz diesen Bericht zu lesen: Bertuch will sich das Ansehen einer ^teilnehmenden Sorgfalt um mich geben, oder der Himmel weiß, was es ist. Ich glaube gar, er will mich verheurathen. Vergebs ihm der Himmel, daß ihn seine Freundschaft soweit führte. Er plazte neulich etwas plump damit heraus; im Ernst er hat etwas mit mir vorgehabt, und weil ich mich in einem gewißen Clubb noch nicht habe sehen laßen, so mag ich ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Es gieng mir mit ihm, wie Hamlet mit Güldenstern, als dieser ihn sondiren wollte; zum Unglück fehlte mir der witzige Einfall und eine Flöte, um ihm eine ähnliche Abfertigung zu geben. Meynt er es wirklich gut mit mir, so mag mir der Himmel verzeyhen, daß ich es ihm nicht zutraue. 25
Was damit sich neuerlich geltend machte, war die vor Jahr und Tag gegründete Skepsis dem Mann des puren Kalküls gegenüber. Ein Verhalten, das davon frei 20 21 22 23 24
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Schiller an Göschen, 1. Mai 1788; SNA, Bd. 25, S. 50. Schiller an Körner, 7. Mai 1788; SNA, Bd. 25, S. 56. Schiller an Bertuch, 22. Oktober 1788; SNA, Bd. 25, S. 123. Vgl. Schiller an Bertuch, 22. Oktober 1788; SNA, Bd. 25, S. 122. Der Bertuchsche Brief ist nicht erhalten. Sein Inhalt läßt sich jedoch aus dem Schillerschen Antwortschreiben erschließen. Vgl. Schiller an Bertuch, 31. Oktober 1788; SNA, Bd. 25 S. 125. Schiller an Caroline von Beulwitz, 27. November 1788; SNA, Bd. 25, S. 147.
Schiller und
Bertuch
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wäre, vermochte Schiller mit diesem Bertuch nicht in Verbindung zu bringen. Gleichwohl nahm er dessen unterstützungsbereite Freundlichkeit noch immer in Anspruch, wenn es eben nicht ums Menschliche, sondern um Geld, um Merkantiles, um geschäftliche Vermittlungsdienste ging. Und sein vorwaltendes Mißtrauen hielt ihn nicht davon ab, nur wenig später mit Bertuch eine Projekt-Idee zu besprechen und dabei auf dessen Engagement zu rechnen. Nach französischem Vorbild wünschte Schiller eine Reihe zu edieren, die „historische Mémoires" präsentieren sollte; am Neujahrstag 1789 beriet er sich darüber mit Bertuch; und er bekam Zuspruch, es wurde ihm Unterstützung zugesagt. Sodann, am 5. Januar 1789, schrieb Schiller an seinen Gesprächspartner noch einen Brief, der sich auf die Unterredung bezog und in dem er das Konzept der Reihe, von der alljährlich vier Bände erscheinen sollten, knapp fixierte. Gegen Ende des Briefes heißt es: „Wißen Sie jemand, der in diese Speculation hineingehen dürfte, so überlaße ich es Ihnen ganz, davon Gebrauch zu machen. Mit diesem Sommer würde ich anfangen können. Unter einem Carolin für den Bogen möchte ich mich der Arbeit nicht unterziehen, die, weil ich meinen Nahmen dazu gebe, Genauigkeit erfodert." 26 Und Bertuch enttäuschte Schiller nicht. Er gewann den Jenaer Verlagsbuchhändler Johann Michael Maucke für das Projekt; bereits am 12. Februar 1789 wurde der „Contract" geschlossen. 27 Über dessen Konditionen schrieb Schiller unter dem 25. Februar an Körner: Mein Contract mit Mauke in Jena wegen der Memoires ist [...] durch Bertuchs Verhandlung sehr vortheilhaft für mich. Macht er eine 2te Auflage von dem Werke, so bekomme ich von dem Bogen 2 rth., und wenn ich das Werk aufs neue durchsehe, daß er verbeßerte Auflage auf den Titel setzen kann, so erhalte ich das ganze Honorarium, von 1 Carolin dafür. Bei Ablieferung des ganzen Mscrpts zu einen Bande ist stipulirt, daß er mir sogleich 16 Carolin baar und den Rest nach Vollendung des Drucks bezahlt. 2 8
Wenn Bertuch damit einen in der Tat ziemlich günstigen Vertrag für Schiller erwirkte, so nutzte ihn dieser dann freilich keineswegs in der vorbedachten Weise. Bereits das erste Manuskript lieferte er mit ziemlicher Verspätung; 29 und es vergingen immerhin neun Monate, bis er den Folgeband fertig hatte. Schließlich, ab 1792, firmierte er für die „Allgemeine Sammlung Historischer Memoires" als Herausgeber nur mehr noch formal. An seiner Stelle besorgte fortan der Orientalist Heinrich Eberhard Gottlob Paulus die (bis 1806 weitergeführte) Reihe. Es war jedoch nach Lieferung des dritten Bandmanuskriptes, als Maucke sich auf Reisen befand und Schiller die vertraglich festgelegten 16 Carolin nicht sogleich erhielt. Da wandte er sich am 9. Oktober 1790 kurzerhand an Gottlieb Hufeland mit dem Ersuchen, daß der ihm die dringend benötigte Summe vorschieße - und hinzu fügte er: „Können Sie es aber nicht, so muss ich mich an Bertuch halten, und Sie verzeyhen mir meine unhöfliche Zumuthung." 30 Die „Allgemeine Literatur-Zeitung", deren Redakteur Hufeland war, wurde bei 26 27 28 29
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Schiller an Bertuch, 5. Januar 1789; S N A , Bd. 25, S. 181. Der Text findet sich abgedruckt im Anmerkungsapparat des Bandes 25 der S N A (S. 605). Schiller an Körner, 25. Februar 1789; SNA, Bd. 25, S. 213. Dieser erste Band, eröffnet durch den von Schiller auf den 25. Oktober 1789 datierten „Vorbericht", kam Ende November/Anfang Dezember mit dem Erscheinungsjahr 1790 heraus. Schiller an Gottlieb Hufeland, 9. Oktober 1790; SNA, Bd. 26, S. 50.
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Maucke gedruckt; Schiller konnte also sein Ersuchen mit dem Hinweis darauf versehen, daß sich die Summe im Zahlungsverkehr zwischen den beiden Geschäftspartnern würde verrechnen lassen können. Und wenn er als gegebenenfalls anzusprechenden Nothelfer just Bertuch und keinen anderen benannte, so bezog er sich dabei auf diese Geschäftsverbindung nicht minder; im Blick war der Mitherausgeber des Journals. Doch Bertuch stand gleichsam als letzte und zweifelsfrei zugängliche Rettungsinstanz schlechthin vor Augen. Und in ähnlicher Weise war Bertuch vorab in Betracht gezogen worden, als Schiller in seinem Brief an Körner vom 24. Dezember 1789 dargelegt hatte, wie er sich die Anfangsfinanzierung seines in Aussicht genommenen Ehelebens vorstelle. Da hieß es: Göschen gibt mir 400 rth. für einen Aufsatz über den 30jährig[en] Krieg im historischfen] Kalender. Die Arbeit ist leicht, da der Stoff so reich und die Behandlung bloss auf die Liebhaber zu berechnen ist. Diese 400 Thal[er] kommen mir gar gut um diese Zeit. Einige Bände Memoires die ich zugleich übersetzen laßen will, Vorschüße von der Mutter und etwas fixes vom Herzog, das mir Bertuch vorschießen muß - dieses zusammen schafft mir doch gegen 1000 rth. in die Hände, womit ich schon recht gut anfangen kann. 31
In diesem Falle war es der herzogliche Schatullenverwalter, den Schiller einkalkulierte. Eben der freilich war jener Mann, bei dem er sich sicher sein konnte, daß die entsprechende Bitte an ihn bestimmt nicht auf Ablehnung stoßen würde. Auch dies aber hat etwas Bezeichnendes, daß Schiller in puncto des vorzuschießenden Fixums an Bertuch dann doch nicht herantrat. Bereits in einem nur zwei Wochen später verfaßten Brief an Körner schrieb er: „Was m[eine] Pension anbetrift, so werde ich nicht nöthig haben, sie mir vorschießen zu lassen. Ich kann, was ich an Geld brauche durch meine Memoires zwingen."32 Tags zuvor hatte er mit Maucke verhandelt und erreicht, daß dieser in die Bresche sprang. Gelungen war es ihm, Maucke zur Zahlung von 51 Talern Vorschuß für den zweiten Band der „Memoires" zu bewegen. Und zudem hatte er dem Verlagsbuchhändler wohl ziemlich forsch zu verstehen gegeben, daß es mit dieser vorgezogenen Zahlung nicht sein Bewenden haben könne. An Bertuch schrieb Maucke unter dem 6. Januar 1790, Schiller wünsche „balde wieder soviel. Auch sagt er, daß er mit dem bestimmten Honorar, pro Bogen 1 Carldor nicht auskommen könnte, weil seine Mitarbeiter noch fast mehr verlangten und er also seine Arbeit umsonst tun müßte. Das Format wäre zu groß und zu kompress, es ginge zuviel auf 1 Bogen."33 Mit dem klagenden Tonfall Mauckes hatte es übrigens seine Bewandtnis; er befand sich in geschäftlichen Schwierigkeiten. Bertuch aber war es gewesen, der ihm den Vertrag mit Schiller eingefädelt hatte. Und ein Jahr später sah Maucke zu einem einschlägig klagenden Bericht an Bertuch neuerlich Anlaß: „Zugleich lege ich hier ein Billet von Herrn Hofr. Schiller bey. Er verlangt wieder 16. Carlins wie Sie ersehen werden; ich bin aber außer Stande gesezt, und meine Cassa ist in diesen Tagen so leer geworden, daß ich seinem Gesuche nicht dienen kann, sondern ich brauche selbsten sehr 31 32 33
Schiller an Körner, 24. Dezember 1789; SNA, Bd. 25, S. 374. Schiller an Körner, 6. Januar 1790; SNA, Bd. 25, S. 381. Johann Michael Maucke an Bertuch, 6. Januar 1790; SNA, Bd. 42, S. 126.
Schiller und Bertuch
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nothwendig Geld."34 Bertuch sandte an Maucke auf Grund dieses Briefes reichlich 100 Taler. Schiller freilich bekam nichts ab von der Summe. Im Bestätigungsbrief Mauckes vom 31. Dezember 1790 heißt es: „[...] ich brauche es [das Geld] selbst höchst nothwendig, und muß am Ende Geld aufnehmen, weil von allen Seiten her kein Geld eingehet."35 Warum aber wandte sich Schiller in seinen Nöten nicht mehr, wie er es vorab immerhin getan hatte, an ebendiesen Bertuch selbst, von dem er schließlich wußte, daß der, ein Mann finanzieller Potenz und Verfügungsmacht, ihn keineswegs abblitzen lassen würde? Kein Zweifel, es fiel Schiller leichter, einen Hufeland oder einen Maucke anzugehen. Hufeland war gleichaltriger Professorenkollege und jener „Literatur-Zeitungs"-Redakteur, mit dem es einen direkten Arbeitskontakt gab; und in dem Verlagsbuchhändler Maucke sah Schiller nichts als seinen Geschäftspartner, auf den er einen gewissen Druck ausüben konnte. Was indessen Bertuch betraf, so war das Verhältnis komplizierter. Eine zumindest mittelbare Geschäftsbeziehung wäre zwar auch bei ihm in Anschlag zu bringen gewesen, so daß sich Schiller nicht eben nur als armer Bittsteller hätte betragen müssen. Doch wovor er zurückscheute, war die souverän sich gebende Geldfürstlichkeit des Mannes. Jedenfalls dürfte er zunehmend ein inneres Widerstreben empfunden haben, einen Widerwillen, sich unterstützen zu lassen durch den Bourgeois, den er in Bertuch erblickte. Im Brief an Körner vom 6. Januar 1790 machte er nachdrücklich Mitteilung auch davon, daß er, was Bertuch betreffe, „in gar keiner Geldabhängigkeit" stehe; und er fügte hinzu: „[...] im Gegentheil, er hat mir noch die berühmte Frau zu bezahlen."36 Das so betitelte Schillersche Gedicht war 1789 in Bertuchs Jahrbuch „Pandora" erschienen. Künstlerstolz vor Unternehmerthronen. Soweit ersichtlich ist, hat Schiller in seinen permanenten Geldnöten sich an Bertuch auch fürderhin nicht wieder gewandt. Und überhaupt wurde der Kontakt, wohl mit bedingt dadurch, daß Schiller seit 1789 in Jena lebte, sukzessive lockerer. Was blieb, war ein von Schiller kaum noch beanspruchtes Verhältnis im Zeichen gemessener Freundlichkeit. Und daran änderte sich auch nichts mehr in der Zeit nach seiner Rückübersiedelung. Wenn so aber die Beziehung schon seit Anfang der neunziger Jahre - und nicht nur vorübergehend - sich ins Beiläufige verlor, ist gleichwohl bewußt zu halten, daß Bertuch zuvor für Schiller eine wichtige Person war, die er mit beträchtlicher Aufmerksamkeit bedachte. Und bei allem Vorbehalt näherte er sich diesem Bertuch und gewann er sich ihn als einen Förderer, der ihm in literaturgeschäftlichen wie auch in pekuniären Angelegenheiten willkommene Unterstützung zuteil werden ließ. Entsprechend wird man resümieren können, daß Bertuch dem nach Weimar Gekommenen doch einige Starthilfe geleistet hat. Vielleicht auch war es wirklich so, daß er sich gar sorgte, dem Unbeweibten eine Frau zu vermitteln, will sagen: für Schiller den Weg zu einer guten Partie zu bahnen. Eine solche Starthilfe war allerdings mitnichten erwünscht. In puncto seiner Heirat mochte Schiller sich höchstens die Einmischung von Freunden gefallen lassen, wie ihm Körner einer war.
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Zitiert nach: SNA, Bd. 26, S. 450 [Anmerkung]. Zitiert nach: SNA, Bd. 26, S. 450 [Anmerkung]. Schiller an Körner, 6. Januar 1790; SNA, Bd. 25, S. 381.
Ulrich Kaufmann
„Zur Gewohnheit gewordene Güte und Theilnehmung gegen Fremde ...". Lenz und Bertuch
Im November 1986 hatte am Deutschen Nationaltheater Weimar Horst Ulrich Wendlers „dramatische Grille" „Lenz oder die Empfindsamen" Premiere, ein Stück, das Motive aus Goethes Gelegenheitsarbeit „Triumph der Empfindsamkeit" aufnimmt: Die Damen Goechhausen, Werther und Kotzebue sowie die Herren Lenz, Bertuch und Einsiedel sind im November 1776 dabei, Goethes „Grille" „Triumph der Empfindsamkeit" einzustudieren. Der Autor, der auch als Regisseur und in der Rolle des Andrason zu wirken gedachte, bleibt den Schlußproben fem und übergibt - wie dies auch in der Realität gelegentlich geschah - alle Aufgaben an Friedrich Justin Bertuch. Grund für Goethes Fehlen ist Lenzens „Eseley", die als Anlaß für dessen Verbannung aus Weimar dient. Dem Lenz des Stückes war die Freude am Spiel bereits vorher vergangen, zumal er mit seiner Kritik an Goethes schwachem Stück nicht hinterm Berg hielt. Wendlers Kammerstück ist Fiktion. Bertuch und Lenz haben, soweit wir wissen, niemals gemeinsam Theater gespielt. Goethes „Grille", in der er satirisch Lenzens Scheitern in Weimar thematisiert, war 1776 noch ungeschrieben. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die Beziehungen zwischen Lenz, dem Dichter aus Livland, und dem in Weimar geborenen Bertuch tatsächlich aussahen. In der Forschung blieb diese Frage bislang unbeachtet. Wilhelm Feldmann geht in seiner Bertuch-Monographie (1902) auf Beziehungen ein, die Bertuch zu Literaten seiner Zeit unterhielt. So arbeitet er die freundschaftlichen Kontakte heraus, die etwa zu Gleim, Bürger, Merck und dem „Genieapostel" Kaufmann bestanden1, auch die engen Bande zu dem Lenz-Förderer Boie sind bekannt. Auf der anderen Seite ist Bertuchs Abneigung gegenüber Klinger belegt. Sie beruhte auf Gegenseitigkeit, wie Klinger 1796, zwanzig Jahre nach seinem Weimarer Intermezzo, mitteilt: „Gegen Bertuch sprechen Sie [gemeint ist Elise von der Recke - U.K.] meinen Namen nicht aus, kurz Sie kennen mich - und wen Sie sehen, dem merken Sie es ja wohl an, ob ich mit ihm in Kontakt stehen könnte."2 Zu Lenz lesen wir bei Feldmann: „Über Bertuchs Verhältnis zu [...] Lenz sind wir nicht näher unterrichtet." Vermerkt wird lediglich, Lenz habe sich 1780 „sehr höflich" an Bertuch gewandt.3 Darauf wird zurückzukommen sein. Das überlieferte Wort, wonach es sich bei Bertuch um einen „Allerweltskerl" handele, drückt - unabhängig davon, ob es von Goethe stammt oder nicht4 gleichermaßen Achtung vor dessen Vielseitigkeit, aber zugleich eine gewisse Distanz aus. Jakob Michael Reinhold Lenz kam mit Bertuch (der bereits am 1 2 3 4
Wilhelm Feldmann: Friedrich Justin Bertuch. Saarbrücken 1902, S. 7ff. Max Rieger: Briefbuch zu Friedrich Maximilian Klinger. Darmstadt 1896, S. 31. Feldmann (Anm. 1), S. 9. Zitiert unter anderem bei Fritz Kühnlenz: Weimarer Porträts. Rudolstadt 1961, S. 284. Im „Goethe-Wörterbuch" (Bd. 1, Berlin, Köln, Mainz 1978) ist der Begriff „Allerweltskerl" nicht verzeichnet.
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4. September 1775, dem zweiten Tag der Regentschaft Carl Augusts, zum Geheimsekretär ernannt wurde) nur in einer kurzen, wenngleich bedeutenden Phase seines Lebens zusammen. Dabei ist ihm Bertuch vor allem als herzoglicher Schatullier und Dichter begegnet. Für die Geschichte der Lenz-Rezeption hätte Bertuch durch seine verlegerischen und verlagsreformerischen Bemühungen Jahre später wichtig werden können. Der literarisch vielseitig interessierte Bertuch hatte, lange bevor Lenz seinem Freunde Goethe nach Weimar folgte, von dessen Werken gehört - wenngleich unter falschen Voraussetzungen. „Götz von Berlichingen" und „Goethens Hofmeister" (!) hätten, schrieb Heinrich Scherf bereits im Herbst 1774 an Bertuch, seine Furcht überwunden, „dass ein Deutscher je mit Shakespeare glücklich wetteifern würde".5 Im gleichen Jahr fragte Christian Felix Weiße (1726-1804) bei Bertuch an, ob er den „Neuen Menoza" (in dem Weiße neben andereren zeitgenössischen Dichtern einen Seitenhieb abbekommen hatte) schon kenne. „Der Verf. ist ein gewisser Lent [!] aus Strassburg, ein Freund Goethes [an anderer Stelle ist von ,Goethe und Consorten' die Rede - U.K.], der auch den Hofmeister geschrieben hat."6 Als Lenz zwei Jahre später, am 1. April 1776, leibhaftig nach Weimar kam, hatte er zunächst mit Bertuch in dessen Eigenschaft als Verwalter der herzoglichen Privatschatulle zu tun. Bei Lenzens materiellem Elend einerseits und seiner Spottlust auf der anderen Seite waren Reibungen mit dem als penibel geltenden „Rechtskandidaten" Bertuch vorprogrammiert. Carl August Böttiger (17601835), nach 1795 leitender Redakteur des „Journals des Luxus und der Moden" sowie, ab 1779, des „Teutschen Merkur", berichtet - und dies wird ihm Bertuch, sein Vertrauter, übermittelt haben - , Lenz sei „sehr zerlumpt und abgerissen in Weimar im Erbprinzen"7 angekommen. Den Kontakt zwischen Bertuch und Lenz hat man sich nicht allzu eng vorzustellen, zumal der ansonsten vielbeschäftigte Bertuch gerade die Monate Mai und Juni 1776 zeitweise krankheitsbedingt im Bett verbringen mußte. Dr. Hufeland gelang es, ihn vom „Gallenfieber" zu befreien. Eine Folge von Bertuchs Erkrankung ist es, daß die Quellenbasis für unser Thema zugegebenermaßen etwas schmal ist. Bertuchs Unlust, „Genies zu füttern und zu kleiden", ist indessen vielfach überliefert.8 Erst Jahre später konnte er „mit Vergnügen von einer eigenen Rubrik in seinen Rechnungen" sprechen, „die er damals anlegen mußte und die fast nichts als Hosen, Westen, Strümpfe und Schuhe für deutsche Genies enthielt, welche schlecht mit
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Heinrich Scherf an Friedrich Justin Bertuch, 29. September 1774. Zitiert nach: Peter Müller (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte. 3 Bde. Bern 1995, Bd. 1, S. 88. Christian Felix Weiße an Bertuch, ? 1774. Zitiert nach: Lenz im Urteil [...], Bd. 1, S. 103. Von Weiße gibt es ein Opernlibretto „Die Liebe auf dem Lande" (1767). Offenkundig übernimmt Lenz für sein berühmtes Gedicht, in dem er Goethes Umgang mit Friederike Brion thematisiert, diesen Titel. Karl Wilhelm Böttiger (Hg.): Literarische Zustände und Zeitgenossen. Schilderungen aus Karl August Böttiger's handschriftlichem Nachlasse. Leipzig 1838, S. 18. K.A. Böttiger hatte Wieland und Bertuch auch nach „Lenzens Eseley" befragt, ohne dabei Substantielles in Erfahrung bringen zu können. Vgl. dazu u.a. Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) - bewundert, beneidet, umstritten. Berlin, New York 1989, S. 43.
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diesen Artikeln versehen, zu Weimars Toren einwanderten".9 Bei den Kleidungsstücken handelte es sich nicht selten um einen blauen Frack und um gelbe Nankinghosen, die Werther-Kleidung also. Goethe hatte sie zur Mode gemacht, aber auch der Herzog und Lenz haben sie des öfteren getragen.10 In ihrer RomanBiographie „Vögel, die verkünden Land" liefert Sigrid Damm ein Musterbeispiel dafür, wie wesentlich die Finanzunterlagen Bertuchs für die Erforschung der Vita des Dichters Lenz waren. So ist der Beginn des folgenden Zitats etwa Beleg für Lenzens einzigen Besuch in Ilmenau: „, Am 8., 9. und 10. Mai für den ganzen Tag, je 12 Stunden = 36 Groschen.' Bertuch [...] zahlt, trägt es in die herzoglichen Rechnungsbücher unter die laufende Nummer 629 ein: ,Pferdemiete für Herrn Lenz aus Serenismus Schatulle bezahl. 3. Juni'. Zum anderen sind die Gasthofrechnungen des Wirtes ,Zum Erbprinzen' im Weimarer Staatsarchiv aufbewahrt. Für ,Zehrung und Logis Herrn Lenzens' findet sich da. Genau aufgeführt ist, wann Jakob gefrühstückt, ob er Kaffee oder Tee dazu getrunken, das Mittagsmahl im Gasthof eingenommen hat, dort zu Abend aß, ein Glas oder einen Krug Schwarzbier trank."11 Im April 1776, dem Monat von Lenzens Ankunft in Weimar, heiratete Bertuch im engsten Kreise Caroline Slevoigt. Mit einiger Verspätung kam Gleims Hochzeitsgedicht in Weimar an, welches auch Lenz „mit Freuden" lesen durfte.12 Bertuchs Gattin wohnte in dem thüringischen Waldeck bei Bürgel, einem Ort, den auch Goethe in jener Zeit mehrfach besuchte. Dies ist nur deshalb der Erwähnung wert, weil Lenz Wochen später in Berka an dem Stück „Henriette von Waldeck oder Die Laube" arbeitete und den tatsächlichen Namen der Protagonistin „Waldner" in „Waldeck" veränderte. Albrecht von Heinemann legte in seiner Bertuch-Monographie „Ein Kaufmann der Goethezeit" (1955) dar, daß Bertuchs bereits erwähntes „Gallenfieber", an dem er fast gestorben wäre, nicht nur mit „schrecklichem Ärger in Amtsgeschäften" (wie es im Brief an Gleim heißt)13 zu tun hatte. Böttiger, Bertuchs Mitarbeiter, hat Jahrzehnte später übermittelt, daß es nicht zuletzt die teilweise widerlichen „Streiche" des Herzogs waren, die Bertuch mächtig zusetzten. Bei Heinemann, sich auf Böttiger berufend, heißt es: „Am ersten Abend, an dem Bertuch mit seiner Frau nach der Hochzeit in Weimar eingetroffen sei, habe ihn der Herzog in Goethes Begleitung aufgesucht. Der junge Fürst habe in der Wohnung des Paares die Spiegel zerschlagen wollen, habe Bücher zerrissen und die ganze Einrichtung spießbürgerlich gescholten. Später habe Goethe die Schauspielerin Corona Schröter bei Bertuch einlogiert, und der Herzog sei ihr täglicher Gast gewesen, so daß man den Hausherrn schon in der ganzen Stadt als Kuppler beredet habe."14
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Anita und Walter Dietzc (Hg.): Treffliche Wirkungen. Anekdoten von und über Goethe. Bd. 1, Berlin 1987, S. 97. Vgl. Hohenstein (Anm. 8), S. 42 sowie Albrecht von Heinemann: Ein Kaufmann der Goethezeit - Friedrich Justin Bertuchs Leben und Werk. Weimar 1955, S. 39. Sigrid Damm: Vögel, die verkünden Land - Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. Berlin 1985, S. 188. Bertuch an Gleim, 22. Juni 1776. Zitiert nach Müller (Anm. 5), S. 223. Einen anderen Teil des Briefes von Bertuch an Gleim vom 22. Juni 1776 gibt Heinemann in seiner Bertuch-Monographie (Anm. 10), S. 36 wieder. Ebenda, S. 37.
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Bertuch gehört zu den wenigen Persönlichkeiten Weimars, an die sich der an diesem Ort im Herbst 1776 grausam und folgenreich gescheiterte Dichter Lenz noch Jahre später wandte. In dem bislang einzigen auf uns gekommenen ausführlichen Brief vom 6. April 1780 aus St. Petersburg (welchen wir im folgenden nach der Weimarer Handschrift zitieren) hob Lenz aus zeitlicher Distanz an dem ,,hochgeschätzte[n] Freund" dessen „zur Gewohnheit gewordene Güte und Theilnehmung gegen Fremde" 15 hervor. In Bertuch sah Lenz nicht lediglich den kühlen Rechner, der seine merkantilen Fähigkeiten zunehmend besser zu nutzen verstand, sondern zugleich einen Menschen, der, seinen Freimaureridealen folgend, das Allgemeinwohl im Auge behielt. Bei dem Lenz-Brief an Bertuch handelt es sich um ein Dokument, das einige Facetten der widersprüchlichen Beziehung zwischen den beiden Literaten erkennen läßt. Anlaß des Schreibens (von dem wir nicht wissen, ob es von Bertuch beantwortet wurde) war der Versuch, einem Bekannnten, Theodor Bause, der 1782 Mathematikprofessor in Moskau wurde, über Bertuch die Wege in Weimar und Dessau zu ebnen. Bause wird von Lenz zugleich als Mitarbeiter für ein Dessauer „Erziehungsjournal" empfohlen, in das er „gesammelte und bewährte Erfahrungen [...] von einem anderen Klima her" 16 einbringen könne. Sigrid Damm spricht in diesem Zusammenhang irrtümlicherweise von „Bettuchs Erziehungsjournal" 17 , einer Publikation, welche dieser um 1780 gar nicht edierte. Zudem geht aus dem Kontext der Briefstelle („Sie brauchen einen Mittarbeiter an ihr Erziehungsjournal") hervor, daß Lenz mit „Sie" nicht etwa Bertuch, sondern, in der Pluralform, eindeutig die Dessauer Pädagogen meinte. Ganz entschieden plädiert der Erziehungsreformer Lenz dafür, daß Lehrer und Forscher einen Ortswechsel vornehmen sollten, um den „Kakochymischen Spleen wegen ihrer gleichförmigen Arbeit", einer Schwermut, die auf üble Beschaffenheit der Säfte zurückgeht, „abzulegen". Bause, meint Lenz, würde der „Anblick des Vaterlandes" und die „Unterhaltung mit würdigen und verdienstvollen Gelehrten" guttun. Zu klären wäre, ob der Moskauer Gelehrte um 1780 überhaupt in Weimar bzw. Dessau auftauchte. Besagter Brief belegt ein zweites Mal 18 , was Peter Hacks noch 1990 bestreitet, 19 daß Lenz im Frühjahr 1776 tatsächlich ein langfristiges berufliches Angebot aus Dessau vorlag: „Man trug mir einmal auf, Schriftsteller beym Philanthropin zu werden; ich kann mich nicht besser rächen als durch Empfehlung eines Tüchtigern [gemeint ist B a u s e - U . K . ] . " Über Bertuch versuchte der in diesem Jahr bereits totgesagte Lenz, wieder Kontakt zum Weimarer Hof herzustellen, oder wenigstens „einige Neuigkeiten" aus der Stadt an der Ilm in Erfahrung zu bringen. Bitterkeit spricht aus den darauffolgenden Sentenzen: „Dem Triumvirat in W. [gemeint sind Goethe, Herder und Wieland - U.K.] darf ich nicht bitten, mich zu empfehlen. Sie haben zu viel zu thun, um an mich zu denken. Auch wär's ihnen zu verargen, wenn sie die
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Lenz an Bertuch, 6. April 1780. Nach der Handschrift im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 06/1126. Ebenda. Damm: Vögel, die verkünden Land (Anm. 11), S. 337. Der erste Beleg ist Simons Brief an Lenz vom 4. April 1776, in: Lenz: Werke und Briefe. Hg. von Sigrid Damm. Leipzig 1987, Bd. 3, S. 422. Vgl. Peter Hacks: Lenzens Eseley, in: Transatlantik. August 1990, S. 37-42.
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Gunst des freundlichsten der Fürsten minder beschäftigte."20 Lenz, der begnadete, jedoch zu seinen Lebzeiten kaum gespielte Stückeschreiber, äußert sich in obigem Brief aus dem Jahre 1780 abschließend zu Bertuch als dramatischem Autor, namentlich zu dessen erfolgreichstem Stück, dem Trauerspiel „Elfride". Er, schreibt Lenz, habe den Vorzug, von einer Nation zu seyn, die vielleicht in der Krise der unverdorbensten Originalität steht. Eine Nation bey der Werther, der mißverstandne Werther in 24 Stunden vielleicht mehr Verwüstungen anrichtet, als an den geschwätzigen Ufern des Rheins u. der Donau in soviel Jahren wo aber auch die stummen Szenen Ihrer Elfride auf eine Art ausgeführt und sentiert werden, von der Sie vielleicht (so große Hochachtung ich für manche Individua Ihrer Gegend habe) sich bey dem Gros der dasigen Karaktere, keine Vorstellung machen können. Mit dieser Achtung nenne mich, nach verbindlichstem Empfehl an Ihre lebene Elfride [gemeint ist Bertuchs Frau Friderike Elisabeth Caroline - U.K.] Ihren ergebensten Fr. und Diener J M R Lenz [Hervorhebungen von Lenz - U.K.] 21
Bertuchs dreiaktiges Trauerspiel „Elfride" hatte seine Premiere am 4. September 1773 am Weimarer Hoftheater, das sich seinerzeit noch im Schloß befand. Neben vielen anderen Verpflichtungen war Bertuch am Hoftheater auch als „Vorsager" (Souffleur) tätig. Der Erfolg des in Prosa abgefaßten Stücks, das aus Anlaß des 16. Geburtstages von Carl August zur Aufführung kam, ist nicht zuletzt der Darstellungskunst Conrad Ekhofs zu danken. Dem berühmten Schauspieler, der bis zum Schloßbrand im Mai 1774 in Weimar wirkte, hatte der Autor die Rolle des Grafen Olgar auf den Leib geschrieben. Lenz wird das Stück durch eigene Anschauung, wohl auch durch Lektüre gekannt haben. Erstaunlich ist, daß er sich Jahre später, nachdem er schlimme Krisen hinter sich hatte, an Details („stumme Szenen") zu erinnern vermochte. Neben Lenz wissen auch andere Zeitgenossen Teile von Bertuchs dramatischen Bemühungen zu schätzen. Wieland nennt „Elfride" ein „wahres Meisterstück"22, und Corona Schröter spricht im Dezember 1774 von Bertuch als einem „großen Dichter".23 Wenig bekannt ist, daß Schiller im Jahre 1804 ebenfalls an einem „Elfride"-Drama arbeitete. Zu jener Zeit kaufte er sich in Weimar Bertuchs gleichnamiges Trauerspiel und besorgte sich auch Friedrich Maximilian Klingers „Elfride"-Stück (Riga 1787).24 Das 20. Jahrhundert geht mit Bertuch als Dichter weitaus strenger ins Gericht. Die Rede ist da vom Verfasser einiger eher „schwächlicher Dramen"25 und vom
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Lenz an Bertuch, 6. April 1780 (Anm. 15). Ebenda. Wieland an Gebler. Zitiert nach: Feldmann (Anm. 10), S. 67. Corona Schröter nennt Bertuch im Brief vom 7. Dezember 1774 einen „gelehrten Mann". Zitiert nach: Heinemann (Anm. 10), S. 38. Vgl. Schillers Werke, SNA, Bd. 12. Dramatische Fragmente. Hg. von Herbert Kraft. Weimar 1982, S. 594f. Vgl. Effi Biedrzynski: Goethes Weimar - Das Lexikon der Personen und Schauplätze. Zürich 1992, S. 25.
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„Dichter ohne Talent". 26 Den Stoff zu seinem Trauerspiel, das Jahrzehnte im Inund Ausland erfolgreich gespielt und 1778 ins Holländische übertragen wurde, entlehnte Bertuch David Humes „Geschichte von England". Zugleich stützte er sich, namentlich in den ersten beiden Aufzügen, 27 auf das einaktige Stück „Elfrida" (1752) des Engländers William Mason (1725-1797), der einige Tragödien im klassischen Stil verfaßte. Masons „Elfrida" wurde 1772, ein Jahr vor Bertuchs Version, ohne großen Erfolg uraufgeführt. Mit Mason sieht sich Bertuch einleitend nicht als „Geschichtsschreiber, sondern als Dichter", der es sich erlaubte, „den Thon meiner Menschen zu modeln, wie ich es bedurfte, und nicht Alle ganz so denken, reden und handeln zu lassen, als sie vielleicht würklich thaten". 28 Die Handlungszeit um 950 sei, wie der Autor an gleicher Stelle zu Recht betont, nur wegen der „altbritischen Kleidung, worin auch dieses Stück von der Seylerschen Gesellschaft aufgeführt worden ist", von Interesse. Das von Bertuch mehrfach überarbeitete Trauerspiel, in welchem er feudale Willkür entschieden zurückweist, hat eine packende Fabel. Die Zeichnung der Figuren ist dem Autor jedoch zu eindimensional geraten. Namentlich Elfride bleibt letztlich eine Rührseligkeit auslösende Heroine, deren Konflikte psychologisch nicht wirklich erfaßt werden. Ein sich durch manche Parallele aufdrängender Vergleich mit Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti" (welches im gleichen Jahr in Weimar zu erleben war) würde dies weiter verdeutlichen. In dem von Lenz geschätzten Stück erzählt Bertuch folgende Geschichte: Graf Atelwold erhält vom englischen König Edgar den Auftrag zu prüfen, ob Elfride, die Tochter des Grafen Olgar von Devonshire, so schön sei, wie es diesem wiederholt berichtet wurde. Atelwold verliebt sich sofort in Elfride und heiratet sie. Fernab vom Londoner Hof lebt sie fortan, oft lange auf den Gatten wartend, auf dessen Schloß im abgeschiedenen Harewood. Atelwold verbreitet die Legende, Elfride sei keineswegs eine schöne Frau. Lediglich ihr Reichtum habe ihn angezogen. Der Graf Olgar will in Erfahrung bringen, was aus seiner Tochter geworden ist. Als Bettler verkleidet, erhält er Zugang zum Schloß und begreift, daß die Tochter durch seinen Schwiegersohn de facto um die Königskrone betrogen worden war. Als König Edgar während einer Jagd in der Nähe ist, will er Atelwold, den er noch immer für einen engen Vertrauten hält, einen Besuch abstatten. Erneut wird Elfride, die ihren Mann innig liebt, verleugnet: Eine Erkrankung hindere sie daran, den König zu empfangen. Olgar erzählt dem König und seinem Gefolge, was sich in Wahrheit um Elfride (die der Vater unter allen Umständen als Königin sehen will) ereignet hat. Es kommt daraufhin zum Duell zwischen Edgar und Atelwold. Letzterer, voller Schuldgefühle, kämpft schlecht motiviert und stirbt. Elfride (die in Masons Stückversion ins Kloster geht) verweigert sich dem König, dem „Ungeheuer", dem „Tyrannen", und folgt ihrem Gatten freiwillig in den Tod. Seinem Rührstück ohne versöhnlichen Schluß stellt Bertuch ein englischsprachiges Motto voran, unter dem lediglich der Autorname 26
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Auch für Hohenstein (Anm. 8) ist Bertuch, wie bereits der Untertitel ihres Buches anzeigt, ein „Dichter ohne Talent". Vgl. Wilhelm Bode: Der weimarische Musenhof. Berlin 1920, S. 129. Zu Bertuchs Stück „Elfride" informiert Wilhelm Feldmann (Anm. 1, S. 64ff.) zuverlässig. Wir (wie auch Siglinde Hohenstein [Anm. 8], S. 104ff.) stützen uns im folgenden auf seine Ausführungen. Friedrich Justin Bertuch: Elfride. Trauerspiel in drey Aufzügen. Weimar 1778, im Vorspann „Dem Leser".
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„Shakespeare" steht. Entlehnt hat der Autor das Motto, welches als Parteinahme für Atelwold und als Kritik am Verhalten Edgars zu lesen ist, aus „Hamlet" (III/2). Bevor der Prinz von Dänemark Horatio auf das Theaterspiel einstimmt in dem dann der Mord am Vater dargestellt wird - , spricht Hamlet (in der Übersetzung August Wilhelm Schlegels von 1793) zu seinem Freund: Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft Nicht macht zum Sklaven, und ich will ihn hegen Im Herzensgrund, ja in des Herzens Herzen, [...] 29
Lenzens knappe Bemerkungen zu Bertuchs Drama „Elfride" lesen sich so, als hätte er in seiner baltischen Heimat eine weitere Aufführung des Stückes gesehen. Auch wenn taktische Erwägungen im Spiel gewesen sein könnten, ist es erstaunlich, daß Lenz die stummen Szenen des Bertuchschen Trauerspiels in einem Atemzug mit der von ihm wiederholt bewunderten „Werther"-Dichtung nennt. Wenngleich Bertuch in „Elfride" stofflich in der feudalen Sphäre verbleibt, treffen in dem Stück die Sehnsucht nach Geborgenheit in der (bürgerlichen) Familie mit der Willkür höfischer Intriganten hart aufeinander. Von daher ist erklärbar, weshalb der Autor die stummen Szenen (Tableaus) nur den verzweifelt um ihre Liebe ringenden Figuren - gleich dreifach ist Elfride ohne Worte zu erleben, einmal Atelwold - zubilligt. Lenz, in dessen Stücken derartige „stumme Szenen" nicht vorkommen, hat diese bei Bertuch als dramaturgische Besonderheit herausgestellt.30 Die „Theaterstreiche" hingegen werden von den dramatischen Gegenspielern initiiert. „Die coups de théâtre sind am Hof zuhaus," schreibt Peter Szondi, „sie spiegeln die Wandelbarkeit fürstlicher Launen, die Unbeständigkeit der Koalitionen dort, wo jeder auf der Jagd ist, nach Macht, nach Gunst, nach Glück, [...]. Zum coup de théâtre wird der plötzliche Umschlag erst einem Publikum, das ihn nur aus dem Theater kennt, dem bürgerlichen."31 Zur ersten stummen Szene macht der Autor - in der bei Hoffmann in Weimar gedruckten Fassung von 1778 - folgende Anmerkung: „Die Kunst des Schauspielers muß für diese und dergleichen Scenen, wozu ihm der Dichter nur eine sehr unvollkommene Skizze liefern kann, alles thun. Der Leser bleibt kalt dabey, und muß es bleiben [...]."32 Diese sowie eine Fußnote am Ende des 2. Aufzugs zeigen, daß Bertuch mit den „stummen Szenen" nicht nur theatralisch neue Mittel erprobt, sondern interessanterweise Grenzen des für ihn Gestaltbaren mitreflektiert. Zugleich spricht das folgende Zitat für die Dramatik der stofflichen Vorlage. „Wer Lust hat, das Bild der Hypocrisie in seiner ganzen Abscheulichkeit zu sehen, der lese Dav. Hume's Geschichte von England, Kap. 2 des Isten Bandes, die Geschichte des unglücklichen Edwy und der beweinenswürdigen Elgiva".33 29
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Bertuch gibt das Motto wie folgt wieder: „— Give me that man / That is not passion's slave, and I will wear him / in my heart's core; ay in my heart of heart. / SHAKESPEARE". Vgl. William Shakespeare: Dramatische Werke in sechs Bänden. Berlin und Weimar 1964, Bd. 4, S. 165. Vgl. auch Bode (Anm. 27), S. 124. Peter Szondi: Tableau und coup de théâtre - Zur Sozialpsychologie des bürgerlichen Trauerspiels bei Diderot. Mit einem Exkurs über Lessing, in: Peter Szondi: Schriften Π. Frankfurt a.M. 1977, S. 214. Bertuch: Elfride (Anm. 28), S. 49f. Ebenda, S. 74.
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Von Bertuch, dessen Nachlaß erst noch gründlich zu erschließen ist, sind bislang umgekehrt keine Dokumente bekannt, in denen er sich explizit zu poetischen Texten Lenzens äußert. Zwar hatte der theaterbegeisterte Schatullier, der sich seinerzeit vornehmlich deutschsprachigen Stücken zuwandte, im Frühjahr 1776 gemeinsam mit Kindern zwei „Stückchen eingeübt": „Der Hofmeister" und „Der kleine Don Quichote".34 Bei ersterem Stück handelt es sich kaum um Lenzens Textvorlage. Möglich wäre ein Rückgriff auf das Stück „Der kluge Hofmeister" (1675), welches Christian Weise (1642-1704) schrieb. Wahrscheinlicher aber ist, daß Bertuch das Stück „Der Hofmeister" aus der Feder des Namensvetters und Zeitgenossen Felix Christian Weiße spielte. Weiße hatte in seiner Zeitschrift „Der Kinderfreund" bis 1782 insgesamt 24 Schauspiele für Kinder veröffentlicht. Friedrich Justin Bertuch hat in Weimar, das wissen wir sicher, den Autor der „Soldaten" bei der Materialbeschaffung zu seinem groß angelegten Projekt einer Militärreform unterstützt. Aus einem Brief Lenzens an Goethe und dessen Diener Seidel (der vor der Flucht in die Waldeinsamkeit Berkas entstand) geht hervor, daß es sich um „einige Karten die mir Bertuch verschafft", ,3üschings Geographie der Teile von Frankreich" und Schriften von Abbé de Saint Pierre (1658-1743), des Verfassers der politischen Annalen Ludwig XIV., handelt.35 Von Interesse ist, daß der Weimarer Geheimsekretär auch das dem Herzog als „Eintrittsbillett" geschenkte Gedicht „Placet" sowie den vierseitigen Text „expositio ad hominem" in seinen Papieren aufbewahrte. Beide Lenz-Texte sind erst seit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts bekannt.36 Der genannte Prosatext, in dem Lenz den Vorschlag macht, eine „Leyhkasse" zu gründen, um die Schriftsteller von der Abhängigkeit von Verlegern und Buchhändlern zu befreien, fehlt bislang in allen Lenz-Werkausgaben.37 Ungeklärt bleibt, wie die Lenz-Texte in den Bertuch-Nachlaß gelangt sind. Möglicherweise hat Lenz die kleine Reformschrift dem Brief von 1780 beigelegt, zumal sich Bertuch zunehmend auch als Verlagsreformer hervortat. So gehörte er zu jenen, die das Experiment der Dessauer „Buchhandlung der Gelehrten" (1781) wagten. Friedrich Justin Bertuch hätte, was wenig bekannt ist, neben den Leipzigern Weygand und Reich der dritte bedeutende Lenz-Verleger werden können. Lange bevor sich der Pionier der Lenz-Forschung, der livländische Arzt Georg Friedrich Dumpf (1777-1849), an Tieck, den späteren Lenz-Editor, wandte und ihm uneigenützig seinen Lenz-Fundus zur Verfügung stellte, schrieb er an seinen berühmten Kollegen Christoph Wilhelm Hufeland. Dumpfs Plan war es, über Hufeland an einen Verleger zu gelangen. Hufeland verfaßte daraufhin am 28. September 1816 ein Schreiben an Bertuch und zitierte bei dieser Gelegenheit 34 35 36
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Bode (Anm. 27), S. 300. Lenz an Goethe und Seidel, 27. Juni 1776, in: Werke und Briefe (Anm. 18), Bd. 3, S. 472. „Expositio ad hominem" wurde von Elisabeth Genton in „Etudes Germaniques", Paris 1962 (Juli/September), S. 259-269 erstmals abgedruckt. Der Erstdruck des Textes „Placet" als Gedicht (!) erfolgte in der zweibändigen Lenz-Ausgabe von Titel/Haug, Stuttgart 1966/1967. In Freye/Stammlers Ausgabe „Briefe von und an J.M.R. Lenz" (Leipzig 1918) stand „Placet" als Brieftext. Jüngst wurde Lenzens Reformschrift erneut ediert. Vgl. Wolfgang Albrecht und Ulrich Kaufmann: Lenzens „expositio ad hominem" in historisch-kritischer Edition (mit Faksimile), in: U. Kaufmann, W. Albrecht, H. Stadeler: J c h aber werde dunkel sein" - Ein Buch zur Ausstellung Jakob Michael Reinhold Lenz. Jena 1996, S. 78-91.
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ausführlich aus Dumpfs Brief: „Ich erhielt [...] von einem gewissen Dr. Dumpf [...] ein Schreiben, in welchem er mir unter anderem seinen Entschluß mitteilt, eine Schrift, den verstorbenen Dichter Lenz betreffend, herauszugeben und dessen bekanntlich in Goethe's Leben in einer nicht eben rühmlichen Weise gedacht wird."38 Der emsige Dumpf, der unzählige Papiere aus Lenzens Umfeld zusammengetragen hatte, suchte nicht nur einen Verleger für seine (bis heute ungedruckte!) Lenz-Biographie, sondern mit gleicher Post bot er die hinterlassenen Dramen „1. Katharina von Siena, ein Trauerspiel, 2. Die Laube, ein Schauspiel, und 3. eine höchst geniale und interessante Skizze unter dem Titel: Pandaemonium Germanicum [...]" an. Zudem machte Dumpf auf „eine bedeutende Anzahl herrlicher Briefe von Herder, F.L. Grafen zu Stolberg, Lavater, Klinger, Merck und andern vorzüglichen Männern" aufmerksam, welche seit 40 Jahren „ungekannt" lägen. Aus Hufelands Brief geht hervor, daß Dumpf bei dieser Gelegenheit auch an Goethes Meinung zu diesem Projekt interessiert war und gar auf dessen Unterstützung hoffte. „Die letztere Bitte mußte ich ihm natürlich abschlagen", schrieb Hufeland, „da der so reizbare Goethe den Mangel an Delikatesse, den eine solche, einen ihm verhaßten Gegenstand betreffende Frage verraten würde, sehr übel aufnehmen könnte."39 Hufelands Mitteilung, daß er sich an Bertuch, den namhaften Verleger, in dieser Angelegenheit gewandt habe, löste bei Dumpf „große Freude" aus. Zugleich nährte sie die trügerische Hoffnung, durch Bertuchs „Güte noch manche wichtige Aufklärungen über Lenzens Aufenthalt in Weimar (zu) erhalten [,..]".40 Diese Äußerung ist Indiz dafür, daß Dumpf mit seiner Lenz-Biographie ins Stocken geraten war: Im Jahre 1821 hatte er die Vita seines Landsmannes erst bis in das Jahr 1773 dargestellt.41 Dumpfs Projekt blieb Fragment nicht nur, weil der Autor im Hauptberuf als Arzt überlastet war, sondern vor allem der beträchtlichen Materiallücken wegen. Eine Reaktion Bertuchs auf Dumpfs Angebote ist nur indirekt bekannt. Verlockend dürften die Vorschläge für Bertuch gewesen sein, auch wenn das große Geld mit den Publikationen des vergessenen Dichters nicht zu verdienen war. Bertuch „erklärte sich geneigt für Lenzens Andenken, lehnte aber eine Mitwirkung ab, [...] weil er (es) des Goethe's und des Großherzog's wegen nicht wagen dürfe".42 Trotz mancher Differenz, die er mit Goethe nicht zuletzt im Umfeld der „Allgemeinen Literaturzeitung" hatte, hielt sich auch Bertuch an die eiserne Regel, das Weimarer Tabuthema Goethe - Lenz nicht aufzunehmen. Noch zu Goethes Lebzeiten (1828) erschien Tiecks verdienstvolle, wenngleich mit wenig Sorgfalt herausgegebene dreibändige Lenz-Ausgabe, in der Dumpfs beträchtlicher Anteil kaum gewürdigt wurde. Nicht auszuschließen ist, daß Bertuch seinen Einfluß im „Teutschen Merkur" für Lenz geltend gemacht hat. Auch nach Lenzens Ausweisung sind kleinere Texte dieses Dichters in Wielands Zeitschrift erschienen. Ob Bertuch in seinen nach 1784 erschienenen Zeitschriften und Journalen den einen 38
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Christoph Wilhelm Hufeland an Bertuch, 28. September 1816. Zitiert nach: Lenz im Urteil [...] (Anm. 5), Bd. II, S. 32. Ebenda, S. 33. Ebenda. Dumpf an Tieck, 20. April/12. Mai 1821. Zitiert nach: Lenz im Urteil [...] (Anm. 5), Bd. II, S. 53. Dumpf an Tieck, 26. Mai/7. Juni 1820. Zitiert nach: Lenz im Urteil [...] (Anm. 5), Bd II, S. 47.
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Kaufmann
oder anderen Lenz-Text druckte, bedarf noch der Klärung. Für das „Journal des Luxus und der Moden" kann dies weitgehend ausgeschlossen werden. Schiller ist wohl in der Tat der Einzige aus Goethes Umkreis, der nachgelassene Lenziana zum Druck beförderte. Der Bertuch-Nachlaß beansprucht für den Lenz-Forscher ein besonderes Interesse auch dadurch, daß in ihm eines der jeweils nicht vollständig überlieferten elf handschriftlich verbreiteten Exemplare des „Tiefurter Journals" (1784) liegt. Zu den absichtsvoll nicht genannten Autoren dieses Almanachs gehörte - neben Goethe, Herder und Vertretern des Hofs - auch Jakob Lenz. Goethe hat nachweislich mehrfach Gedichte seines ehemaligen Freundes in das „Tiefurter Journal" gegeben.43 Für ein differenziertes Goethe-Bild ist dies von Interesse. Der Geheime Rat verwischte einerseits die Spuren Lenzens, andererseits trug er, trotz des Bruchs, gelegentlich zur Veröffentlichung einzelner Lenz-Texte bei. Die Arbeit an einer dringend erforderlichen historisch-kritischen Lenz-Ausgabe macht es notwendig, die umfangreiche Materialsammlung der Redakteure Goechhausen und Einsiedel (aus der das jeweilige Heft [„Stück"] zusammengestellt wurde) auszuwerten. Dieses im Weimarer Hauptstaatsarchiv liegende Konvolut enthält mehrere Lenz-Handschriften.44 Vergleichend wären die anderen Exemplare des „Journals" heranzuziehen. Im übrigen gilt die Bertuchsche Sammlung der Hefte des „Tiefurter Journals" als besonders wertvoll, da sie sich durch eine relative Vollständigkeit auszeichnet.45 Kehren wir in das Jahr 1776 zurück, in dem sich Lenz und Bertuch persönlich begegneten. Den Schlußpunkt zu Lenzens Weimarer Zeit bildet ein Brief Philipp Seidels vom 30. November 1776 an Lenz. Ohne selbst dabeigewesen zu sein, berichtete Seidel von der Aufführung des Goethe-Stücks „Die Mitschuldigen", das - im Unterschied zu dem eingangs apostrophierten Stück des gleichen Autors - tatsächlich in den späten Novembertagen in Weimar gespielt worden war. „Es soll wieder außerordentlich schön gewesen sein", teilte Seidel mit.46 Anzunehmen ist, daß - der ohnehin nicht geladene - Lenz nach seiner Ausweisung, an seinem letzten Tag in Weimar, wenig Interesse für diesen Bericht aufbrachte. Unter günstigeren Umständen hätte er in besagter Aufführung des Goethe-Stücks Bertuch, dem einige Begabung, vor allem im komischen Fach, bescheinigt wurde,47 als Söller erleben können. Aus der theatergeschichtlichen Literatur wissen wir, daß Jakob Lenz im Falle der „Mitschuldigen" lediglich eine Probe verpaßt hat. Die Premiere fand erst am 9. Januar des folgenden Jahres statt.48
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Vgl. Eduard von der Hellens Kommentar zum „Tiefurter Journal", in: Schriften der GoetheGesellschaft. Hg. von Bernhard Suphan. Weimar 1882, Bd. 7, S. 384ff. Thüringer Hauptstaatsarchiv Weimar, HAA XVIII, Nr. 150. In meinem Aufsatz „Neuer Blick auf alte Funde - Lenziana in Weimar" (In: J.M.R.Lenz - Studien zum Gesamtwerk. Hg. von David Hill. Opladen 1994, S. 214-221) habe ich Lenzens Anteil am „Tiefurter Journal" genauer untersucht. Vgl. Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 7, S. 384ff. Seidel an Lenz, 30. November 1776, in: Werke und Briefe (Anm. 18), Bd. 3, S. 518. Vgl. Heinemann (Anm. 10), S. 40. Vgl. Gisela Sichardt: Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung. Weimar 1957 S. 40.
Bertuch undJ.M.R.
Lenz
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Friedrich Justin Bertuch gereicht es zur Ehre, daß in der von ihm begründeten „Allgemeinen Literatur-Zeitung" (in dem dazu gehörenden, zweimal wöchentlich erschienenen „Intelligenzblatt") vom 18. August 1792 - da war Jakob Lenz bereits ein Vierteljahr tot - einer der ganz wenigen Nekrologe überhaupt erschien, wenngleich dieser der Lebensleistung des Dichters nicht annähernd gerecht wird. Jerzembsky, der Moskauer Korrespondent des in Jena verlegten Blattes, teilt seinen Lesern lapidar mit, daß „allhier Jac. Mich. Reinh. Lenz der Verfasser des Hofmeisters, des neuen Menozas etc. von wenigen betrauret, von keinem vermisst"49 verstorben sei. Lenz und Bertuch, die beide Theologie und Jura studierten, brachen ihr Studium ab, um sich anschließend „hofmeisternd" durchzuschlagen. Dennoch können die Lebenswege zweier Literaten im 18. und frühen 19. Jahrhundert kaum gegensätzlicher verlaufen. Während Bertuch sich in seiner Geburtsstadt etablierte und zu einem der reichsten Männer Weimars avancierte, trennte sich Lenz von seinen Ursprüngen und scheiterte. Bertuch wurde zu einem der bedeutendsten Verleger seiner Zeit; Lenz, der Bohemien, dagegen schenkte seine Manuskripte des öfteren Freunden und brauchte lange, um seine literarischen Arbeiten als Grundlage einer möglichen Existenz anzusehen. Bezeichnend ist, daß der auf vielen Gebieten produktive und nicht selten auf Bühnen gespielte Literat Bertuch das Werk des ungespielten Originalgenies Lenz kaum zur Kenntnis nahm. Umgekehrt ist es bei dem dramentheoretisch ambitionierten Lenz interessant, wie er scharfsinnig an Bettuchs Stück „Elfride" neuartige dramatische Möglichkeiten beobachtet.
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Intelligenzblatt der Allgem. Literatur-Zeitung, Nummer 99. Sonnabends den 18ten August 1792. Das .Journal des Luxus und der Moden", das über Jahre einen informativen Theaterteil besaß, brachte indessen keinen Nachruf auf Lenz.
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Bertuch als Autor
Heide Ellert
Bertuch und das zeitgenössische Theater
Unter den so verblüffend vielfaltigen Unternehmungen Friedrich Justin Bertuchs (1747-1822) nimmt der Anteil des Sektors „Theater", den ich im folgenden auszuleuchten suche, nicht geringen Raum ein. Man kann Bertuchs Aktivitäten auf diesem Gebiet nach drei Wirkungsfeldern unterscheiden: Wir begegnen zunächst dem Theaterpraktiker Bertuch. Darüber hinaus war Bertuch als Anreger, Vermittler, Theoretiker und Kritiker tätig, und nicht zuletzt präsentierte er sich mit einigen Bühnentexten auch selbst als Theaterautor. Während ich die beiden ersten Tätigkeitsbereiche nur knapp skizzieren möchte, sollen die Bühnenwerke etwas eingehender aus theater- und literaturhistorischer Sicht analysiert werden.
I Als Theaterpraktiker, namentlich als Spielleiter, Dramaturg und Darsteller, bewährte Bertuch sich vor allem bei der Etablierung des Weimarer Liebhabertheaters seit 1774.1 Dieses hatte bekanntlich - nach dem Schloßbrand am 6. Mai des Jahres - die Lücke zu schließen, die durch den Fortgang der Seylerschen Truppe und ihres Leiters Conrad Ekhof nach Gotha entstanden war. Der Verlust einer eigenen Hofbühne schmerzte um so empfindlicher, als sich nach der Hochzeit Carl Augusts mit Luise von Hessen-Darmstadt gerade das Interesse an höfischen Festlichkeiten gesteigert hatte.2 So formierte sich unter der Leitung von Bertuch ein von gebildeten Laien aus der Hofgesellschaft getragenes Liebhabertheater. Unterstützt wurde Bertuch vor allem durch den vielseitigen Autor Johann Carl August Musäus (1735-1787) und, bald nach dessen Ankunft in Weimar, natürlich von Goethe, der, wie man weiß, mit nicht wenigen eigenen Stücken das Repertoire dieser Bühne anreicherte. Die Aufführungen des Liebhabertheaters beschränkten sich nicht auf Weimar, man spielte - freilich immer vor geschlossenem Zuschauerkreis - auch in Tiefurt und Ettersburg. Dekorationen und Bühnenbilder stammten dabei vielfach von dem seit 1774 in Weimar ansässigen Maler Georg Melchior Kraus (1733-1806). Nicht zuletzt dessen Theater-Radierungen und -Aquarelle vermitteln uns auch 1
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Vgl. die maßgebliche Darstellung von Gisela Sichardt: Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung. Weimar 1957 (Beiträge zur deutschen Klassik. Abhandlungen Bd. V) sowie Jörn Göres (Hg.): Gesang und Rede, sinniges Bewegen. Goethe als Theaterleiter. Eine Ausstellung des Goethe-Museums Düsseldorf. Düsseldorf 1973. - Zahlreiche Details sind in den Erinnerungen eines Weimarer Hofpagen überliefert, auf die auch Sichardt verschiedentlich zurückgreift: Karl Freiherr von Lyncker: Am Weimarischen Hofe unter Anna Amalia und Karl August. Erinnerungen. Berlin 1912. Neuerlich ist eine vervollständigte neue Ausgabe erschienen, hg. von Jürgen Lauchner (Köln, Weimar, Wien 1997). Vgl. zu dieser Entwicklung: Göres (Anm. 1), S. 72f.
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Heide Ellert
einen Eindruck von Bertuchs eigenen Schauspielerauftritten, die sonst allenfalls noch durch Vermerke in den Rechnungsbüchern, etwa über Kostümkosten, zu rekonstruieren sind. 3 Nach diesen Zeugnissen wirkte Bertuch am 25. Januar 1776 gleich in zwei verschiedenen Aufführungen mit: In dem „Lustspiel in 2 Aufzügen" „Der Postzug oder die noblen Passionen" von Cornelius von Ayrenhoff, wo er den „Notarius" verkörperte (Abb. 3)4, sowie in dem französischen Singspiel „Das Milchmädchen und die Beiden Jäger" von Louis Anseaume (deutsche Bearbeitung von Christian Friedrich Schwan, Mannheim 1772), wo er in der Rolle des Nielas zu sehen war (Abb. 4) 5 . In den Aufführungen von Goethes Lustspiel „Die Mitschuldigen" am 30. November 1776 sowie am 9. Januar und am 30. Dezember 1777 trat Bertuch (neben Goethe als Alcest und Corona Schröter als Sophie) jeweils in der Rolle des Söller auf und spielte außerdem in Goethes „Jahrmarktsfest zu Plunderweilern" am 20. Oktober 1777 in Ettersburg den Amtmann. Wir wissen, daß er noch im März 1782 in Friedrich Wilhelm Gotters Komödie „Zwey Onkels für einen" sowie am 21. März 1783 und im darauffolgenden Sommer in Gozzis „fabelhaftem Trauerspiel in fünf Akten" „Zobeis" mitwirkte, wo er, wiederum nur durch ein Aquarell von Kraus dokumentiert, Beder, den König von Ormus, darstellte. 6 Von Zeitgenossen besitzen wir nur wenige Äußerungen über die Qualität von Bertuchs Darstellungsstil. Neben anekdotischen, von Mitspielern wie Hufeland überlieferten Zwischenfällen - so habe er beispielsweise einen Schauspieler, der seinen Text vergessen hatte, durch eine zu rasche Replik „getötet" - wird etwa von Carl August Böttiger seine „außerordentlich treue", von „trefflicher Wahrheit" gekennzeichnete Rollengestaltung herausgehoben. 7 Durchaus innovativ waren Bertuchs Impulse für die Spielplangestaltung. So gab er den Anstoß zur Aufnahme von „Kinderkomödien" in das Repertoire, worüber Carl von Lyncker berichtet: „Den Anfang von Theatervorstellungen hatte Bertuch mit einem Kinderstück gemacht, ,der Hofmeister' genannt, wobei eine Hauptrolle der zu Berlin verstorbene Geheimrat Hufeland erhalten hatte". 8 3
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Solche Kostenaufstellungen stammten im übrigen zumeist von Bertuch selbst. Erhalten ist beispielsweise ein Eintrag: „Kosten der Comedie Zobeis den 21. Mart 1783", wobei er in den Rechnungen selbst als Mitspielender genannt wird. Vgl. Sichardt (Anm. 1), S. 169 und passim. Die Abbildung gehört zu der Bilderserie von G.M. Kraus: „Figuren aus der Comedie der Postzug, aufgeführt auf dem Liebhaber-Theater zu Weimar den 24ten Jänner 1776. Im Geschmack bunter Zeichnungen ausgeführt und herausgegeben von G.M. Kraus", Weimar 1776. Über die Unstimmigkeiten der Datierung hier wie auch in der Serie zum „Milchmädchen": Vgl. Sichardt (Anm. 1), S. 132. Der „Postzug" wie das „Milchmädchen" wurden am 1. Februar wiederholt, wie gleichfalls nur einer Rechnung, diesmal von Tischlermeister Mieding, zu entnehmen ist: Sichardt, S. 132f. - Für die Hinweise auf die Abbildungen von Kraus und ihre jeweiligen Fundstellen danke ich Christian Deuling. Dieser Kupferstich entstammt der Serie „Figuren aus der Operette Das Milchmädchen, aufgeführt auf dem Liebhaber-Theater zu Weimar den 24ten Jànner 1776. Im Geschmack bunter Zeichnungen und herausgegeben von G.M. Kraus", Weimar 1776. Vgl. Sichardt (Anm. 1), S. 132. Das Original dieses Aquarells von Kraus hängt in Schloß Tiefurt. Sichardt (Anm. 1), S. 124f. Ebenda, S. 133.
Bertuch und das zeitgenössische
Theater
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Zu der beachtlichen theaterpraktischen Kompetenz Bertuchs trug zweifellos auch die enge Beziehung zu Friedrich Wilhelm Gotter (1746-1797) bei, mit dem sich bereits Goethe in Wetzlar angefreundet hatte. Dieser hatte im Januar 1773 in Gotha ein Liebhabertheater gegründet, das den Boden für das 1775 von Ekhof gegründete Hoftheater bereitete. Gerade diese Bühne aber, in der Weimarer Tradition vielfach wurzelnd, gewann rasch Vorreiterfunktion in Deutschland. 9 Auch das Ekhof-Theater beschäftigte als Hausdramaturgen nach wie vor Gotter; man sicherte sich darüber hinaus die Mitwirkung führender Komponisten wie Anton Schweitzer und Georg Benda und ermöglichte die Debüts von später so berühmten Schauspielern wie August Wilhelm Iffland, Heinrich Beck oder Johann David Beil. Die überregionale Bedeutung dieser Bühne bezeugt nicht zuletzt der seit 1775 erscheinende „Theater-Kalender" von Heinrich August Ottokar Reichard (1751-1828), das maßgebliche Theater-Publikationsorgan der Epoche. Gerade die lebhaften Kontakte zum Gothaer Hoftheater aber wirkten in vielfacher Weise auf das Weimarer Liebhabertheater und die begleitende journalistische Tätigkeit Bertuchs zurück.
II So waren es enge persönliche Kontakte, Kenntnisreichtum sowie ein erstaunlicher Spürsinn für modische .Trends' und zukunftsweisende Strömungen, die Bertuchs stupende Vertrautheit mit den maßgeblichen theatertheoretischen Diskursen der Zeit erklären, die ihn darüber hinaus zum wichtigen Anreger und Vermittler auch fremdsprachiger Quellen und Textmaterialien werden ließen. Ein frühes Dokument für Bertuchs Interesse an Fragen der Theaterpraxis liegt mit seiner Übersetzung einer Schrift von Rémond de Sainte Albine: „Le Comédien" (1747) vor, die er unter dem Titel: „Der Schauspieler. Ein dogmatisches Werk für das Theater" 1772 mit einer Widmung an Herzog Carl August publizierte. 10 Dabei konnte Bertuch an Lessing anknüpfen, der 1755 Auszüge aus dieser Schrift übersetzt und im Dritten Stück der „Theatralischen Bibliothek" publiziert sowie den Plan zu einer eigenen Schrift über „körperliche Beredsamkeit" mitgeteilt hatte. 11 Wie um die gleiche Zeit Riccoboni und Diderot so hatte auch Sainte Albine die Frage nach dem adäquaten Bühnenausdruck seelischer Empfindungen ins Zentrum seiner Ausführungen gestellt, und gerade diese starke Betonung der Emotionalität kam den Bedürfnissen einer empfindsamen Generation auch in Deutschland besonders entgegen. Als kontrovers erwies sich nur die Frage nach der Lehr- und Lernbarkeit des dramatischen Ausdrucks, wie sie sich etwa in Konrad Ekhofs Forderungen nach einer „Grammatik" der Schauspielkunst, in Lessings Erwägungen zu einem Re-
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Zu Geschichte und Rang des Gothaer Hoftheaters, der ersten „stehenden" Bühne Deutschlands: Elisabeth Dobritzsch: Barocker Bühnenzauber. Das Ekhof-Theater in Gotha. München 1995. Vgl. Göres (Anm. 1), S. 82. Ebenda, S. 26f.
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gelkodex „mechanischer" Wechselwirkungen von Körper-Rhetorik und SeelenAusdruck niederschlug.12 Ausdrücklich beklagt Bertuch noch in seiner Vorrede das Fehlen einer „Theorie der Mimik" - Versuche dieser Art lagen in Deutschland ja auch erst Jahrzehnte später mit den richtungweisenden Schriften von Johann Jakob Engel und von Einsiedel vor13 - , und er kann dementsprechend den Mangel an guten Schauspielern, eine der entscheidenden Ursachen für das mäßige Niveau der deutschen Bühnen, auf den Mangel an geeigneter Bildung und Ausbildung zurückführen. Sein Ideal des „denkenden" Schauspielers profiliert er nach dem Phantombild des „französischen" Schauspielers, der sein Metier nicht als „Handwerk", sondern als „Kunst" betrachte, „in welcher er durch seinen Fleiß immer höher steigen" könne: „Er lernet seine Stücke nicht nur auswendig, nein, er studiert sie, und denkt darüber."14 Neben dem theatertheoretischen Engagement bekundet sich in Bertuchs Übersetzung der „Schauspieler"-Schrift bereits der andere Schwerpunkt seiner Vermittlertätigkeit: die Bereitstellung gerade auch fremdsprachiger Texte für die eigene Theatertätigkeit. So gab er 1782 das „Theater der Spanier und Portugiesen" (Dessau, Leipzig) heraus, wiederum mit einer Widmung an Anna Amalia versehen, eine Sammlung wichtiger Bühnentexte, die er nicht nur übersetzte, sondern auch für die Weimarer Theatererfordernisse bearbeitete.15 Zu den bedeutenderen Werken dieses Corpus gehörten das Schauspiel „Der schmerzliche Zwang" von Lope de Vega, Cervantes' Posse „Die Teufel aus der Kohlenkammer", das Trauerspiel „Ignez de Castro" von Domingo Dos Reis Quita (auch: Alcino Micenio) sowie die „Comödie in drey Akten" „Bristo" von Antonio Ferreira. Bertuch fügte seinen Bearbeitungen erläuternde Kommentare bei, die über den pragmatischen Zweck hinaus seine eigenen dramaturgischen und theatertheoretischen Positionen profilierten. Dabei orientieren sich seine Wertungskriterien durchgängig am Natürlichkeits- und Wahrscheinlichkeits-Postulat des 18. Jahrhunderts, insbesondere des Sturm und Drang, „ächte Sprache der Natur und wahre Darstellung" gelten ihm als die eigentlichen Qualitätsmaßstäbe.16 12
Vgl. zu der Auseinandersetzung Lessings mit Sainte Albine, dessen Vorstellung von einer „natürlichen" Zuordnung der „äußerlichen Modifikationen des Körpers" zur „innern Beschaffenheit der Seele" er die Notwendigkeit einer regelgeleiteten Einübung „äußerlichefr] Kennzeichen und Merkmale" entgegenhält, damit der Schauspieler in den Stand gesetzt werde, seelische Zustande „auf die allervollkommenste Art" auszudrücken: Wolfgang F. Bender: V o m „tollen" Handwerk zur Kunstübung. Zur „Grammatik" der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, in: Wolfgang F. Bender (Hg.): Schauspielkunst im 18. Jahrhundert: Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992, S. 11-50, hier: S. 29ff.
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Johann Jacob Engel: Ideen zu einer Mimik. Zwei Teile. Berlin 1785/1786. - Friedrich Hildebrand von Einsiedel: Grundlinien zu einer Theorie der Schauspielkunst. Leipzig 1797. Abgedruckt in: Göres (Anm. 1), S. 82. Vgl. dazu den Beitrag von Dietrich Briesemeister in diesem Band. Unter diesem Aspekt sucht er etwa den barocken Manierismus eines Lope de Vega für den zeitgenössischen Leser zu relativieren, wenn er im Kommentar zum „Schmerzlichen Zwang" schreibt: „Unter dem Schwall von Phöbus, von originell spanischen Antithesen, Wort- und Gedankenspielen, und verschnörkeltem Witz, liegt oft ächte Sprache der Natur und wahre Darstellung [...] Kurz, das ganze Stück hat bey allem Fehlerhaften des damaligen Geschmacks, jener Verhältnisse, Zeiten und Sitten, doch immer das reine Gepräg des grossen
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Ein weit größeres Wirkungsfeld öffnete sich dann natürlich ab 1786 mit dem zusammen mit Georg Melchior Kraus herausgegebenen populären „Journal des Luxus und der Moden".17 In dieser Zeitschrift nehmen Theaterfragen einen so bedeutenden Raum ein, daß sie auch heute noch zu den wichtigen theaterhistorischen Quellen der Epoche gehört und eine Spezialuntersuchung rechtfertigen würde.18 Daß sich diese Akzentsetzung auch den persönlichen Neigungen und Kenntnissen der Herausgeber verdankt, leidet keinen Zweifel. Gerade in diesem Medium sind für Bertuch Information und Vermittlung erst recht vorrangige Anliegen. So wird den Berichten über auswärtige Theaterereignisse - Inszenierungen wie interne Bühnenprobleme etwa in Hamburg, Berlin, Kopenhagen, Paris oder Warschau - große Bedeutung beigemessen. Dem Titel des reich illustrierten Publikationsorgans entsprechend, widmen sich überdies zahlreiche Artikel Dekorations- und Kostümfragen; einen Kernbereich aber bilden weiterhin bühnenpraktische wie dramaturgische Grundsatzdiskussionen. Dabei konturieren sich Reflexionen zur Schauspielkunst wie zum Schauspielerstand überhaupt als eigene Themenschwerpunkte heraus. Der allgemeine „Schlendrian" der Schauspieler, ihre „mangelnde Textkenntnis" (1790) oder „schlechte Aussprache" (1791) werden ebenso offen erörtert wie arbeitsrechtliche und soziale Fragen, nicht zuletzt das Problem einer Altersversicherung für Schauspieler. Theaterhistorisch besonders relevant sind innerhalb dieses Themenkreises die vielzitierten Berichte über Ifflands Schauspielstil, so der vom Mai 1796: „Iffland auf dem Weimarischen Theater".19
III Die eigenen Texte Bertuchs stammen sämtlich aus den Jahren 1773-1774, also aus der Zeit unmittelbar vor seiner Ernennung zum Geheimsekretär und Schatullenbewahrer am Weimarer Hof. Außer dem Libretto zu einer komischen Oper in zwei Aufzügen für das Weimarer Hoftheater, „Das große Loos" (1774) von Ernst Wilhelm Wolf, einer anspruchslos-harmlosen Adaption des „Coq de Village" von Charles-Simon Favart, liegen uns vor: ein Ballett-Libretto „Scipio" (1773), das Trauerspiel „Elfride" (1773) sowie das lyrische Monodrama „Polyxena" (1774).20
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Genies und des Kenners menschlicher Herzen und ihrer geheimen Leidenschaften." (Theater der Spanier und Portugiesen, herausgegeben von F.J. Bertuch. Erster Band, Dessau und Leipzig 1782, S. 121.) Vgl. zu Intention und Anlage des .Journals" den Beitrag von Doris Kühles in diesem Band. Die speziellen „Theaternachrichten" verzeichnet der Katalog von Jörn Göres (Anm. 1), S. 245. Ihr Umfang betrug zwischen 1790 und 1809 jährlich im Schnitt immerhin 80 bis 90 Seiten. Journal des Luxus und der Moden, Bd. 11 (1796), S. 268. Diese Texte verzeichnet mit kurzer Inhaltsangabe auch die Monographie von Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) - bewundert, beneidet, umstritten. Berlin und New York 1989, S. 103-105. - Für die Bereitstellung der zumeist schwer zugänglichen Texte Bertuchs danke ich Gerhard R. Kaiser und Angela Borchert.
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„Scipio, ein heroisches Pantomim-Ballet" ist wohl der erste Versuch Bertuchs, sich als Theaterautor beim Weimarer Hof, insbesondere aber der Herzogin Anna Amalia, zu empfehlen. Sein Förderer Wieland veröffentlichte das Libretto im August 1773 in seinem „Teutschen Merkur". Das Ballett wurde am 18. September 1773, dem Geburstagsfest des Prinzen Constantin, am Weimarer Theater aufgeführt. Das uns vorliegende Libretto läßt auf eine Ballettdarbietung schließen, die nach Sujet und Umfang dem zeitgenössischen höfischen Geschmack vollkommen entsprach. Solche häufig aufgeführten, für höfische Theater bestimmten Ballette waren zumeist nicht abendfüllend, sondern wurden als „Divertissement", häufig im Anschluß an eine andere Theatervorführung, dargeboten. Im Gothaer Theaterspielplan etwa war eine solche Praxis bereits fest etabliert. 21 Bertuch resümierte den Ablauf der getanzten Aktion selbst in einem knappen Vorspann („Innhalt"). Danach steht der erst 24jährige Scipio Africanus nach seiner Eroberung Neukarthagos in Spanien im Mittelpunkt der Handlung. Ihm wird von seinen Soldaten eine ungewöhnlich schöne Gefangene von vornehmer Abkunft, Demonessa, als Beute zugeführt. Diese aber ist bereits mit dem gleichfalls gefangenen - keltiberischen Prinzen Allucius verlobt. Auf diese Nachricht hin habe Scipio nach ihm .geschickt'; er „empfieng ihn freundlich, und schenkte ihm sogleich seine Braut und Freyheit wieder. Die Eltern der Braut boten, entzückt über diese Edle That dem großmütigen Scipio ansehnliche Geschenke an." Scipio schlägt auch diese aus, gibt sie nach weiterem Drängen aber schließlich als Morgengabe der Braut an Allucius weiter. „Diese heldenmüthige Mäßigung", so schließt Bertuch, „macht einen Scipio nicht weniger glänzend, als seine größten Siege und unsterblichen Thaten." (A 202f.) 22 Damit legt bereits der Vorspann die Tendenz des gesamten Bühnenwerks dar, die dem festlichen Aufführungsanlaß vorzüglich entgegenkam: mit dem ausdrücklichen Lob des großmütigen Herrschers, der Toleranz, Güte, Selbstbeherrschung und Entsagung üben kann, wird das Fürstenideal des aufgeklärten Absolutismus propagiert, wie um die gleiche Zeit auf dem Musiktheater etwa mit Mozarts .opere serie' „Mitridate" (1770) und „Lucio Silla" (1773). Das Ballett selbst ist in zwei Aufzüge zu jeweils mehreren Szenen unterteilt. Der erste spielt auf einem öffentlichen Platz in Karthago, der zweite im Haus der von Römern bewachten Eltern der Demonessa. Zwar liegt uns nur Bertuchs Libretto-Text vor, doch lassen sich diesem verschiedene signifikante Hinweise auf Inszenierungs- und Darstellungspraxis entnehmen. Demnach lag bereits ein wesentlicher Akzent der Ballett-Darbietung auf dem differenzierten Gefühlsausdruck der Protagonisten. Im Vordergrund standen dabei ausgeprägte, intensive Emotionen ebenso wie plötzliche Stimmungs- und Gefühlsumschwünge sowie auch komplexere seelische Konfliktlagen. Diese ohne alle Worte den Zuschauern zu verdeutlichen, war Aufgabe pantomimisch-tänzerischer Aktionen, die das Libretto den Darstellern ausdrück-
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Vgl. Dobritzsch (Anm. 9), S. 41. Die dem jeweiligen Zitat mit der Sigle A nachgestellten Seitenangaben beziehen sich auf die Originalausgabe in: Der Teutsche Merkur. Des dritten Bandes Zweytes Stück. Augustus 1773. Hg. von Christoph Martin Wieland. Weimar 1773, S. 202-208.
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lieh abverlangt: „Demonessa und ihre Mutter drücken zugleich die Empfindungen ihrer Herzen aus", heißt es beispielsweise in II, 3 (A 207). Expressive Gefühlsausbrüche begegnen im ersten Aufzug mit Scipios Zornesausbruch angesichts der zügellosen Plünderungen seiner Soldaten (A204), im zweiten dem wilden Schmerz von Demonessas Mutter, die sich erdolchen will (A 205). Zu den Präsentationen abrupter Stimmungswechsel - wie sie in der barocken Theater- und Operntradition noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vertraut waren - gehören Scipios blitzartige Betroffenheit bei Demonessas Anblick in I, 4 (A 205), sein plötzlicher Impuls zur Selbstdisziplin: „Auf einmal siegt Scipio's große Seele" (A 205) oder - in II, 3 - der radikale Gefühlsumschlag des anfangs argwöhnischen Verlobten, als er sich von Scipios Großmut überwältigt finden muß: „Allucius fällt seinem wohlthätigen Sieger voller Entzücken um den Hals, und wird auf einmal sein Freund" (A 207). Ein nuancierteres Spiel erfordert hingegen die Darstellung widerstreitender Empfindungen und Konfliktlagen, die das Libretto gleichfalls vorsieht. An ihnen vor allem werden Prüfung und Bewährung des Protagonisten demonstriert: „Sein Herz schwankt", so heißt es etwa von Scipio, bevor er sich entschließt, den Gesichtsschleier der jungen Gefangenen entfernen zu lassen. „Er fühlt die Gefahr der Verführung [...] und doch - widerspricht sein heißes jugendliches Blut der Stimme der Vernunft." (A 204). Ihr Anblick treibt den inneren Widerstreit vollends auf die Spitze: „Seine Pantomime drückt Bestürzung und Unruhe aus. Er will ihr entfliehen; ein geheimer Zug führt ihn zurück." (A 205) Die Einzelszenen sind zumeist von großer Hektik, Unruhe und Verwirrung bestimmt, die sich in stark bewegter, drastischer Gebärdensprache, in mehrfachen Fußfällen oder Fluchtversuchen, widerspiegeln und nicht auf klassizistisch geschönte, statische ,Tableaux' abzielen. Dem Genre des heroisch-höfischen Balletts wie dem feierlichen Anlaß genügend, gipfelt die Handlung indessen in einer heiteren und farbenprächtigen Schlußszene, die alle Hauptakteure nochmals zusammenführt. Alle „Umstehenden" drücken Scipio, so heißt es, „ihren Dank, ihre Freude mit dem feurigsten Enthusiasmus aus. Der Vater der Demonessa ordnet zur Feyer dieses Tages ein Freudenfest an." (A 208) Auch hier enthält Bertuchs Text genaue Anweisungen für die choreographische Realisation der Szene:23 „Der Held nimmt in einigen Solos Theil an dem allgemeinen Vergnügen. Allucius und Demonessa drücken das Glück ihrer Wiedervereinigung in den zärtlichsten Duets aus, und die Domestiken schliessen mit einem allgemeinen Tanze." (A 208) Theater- und tanzhistorisch erscheint Bertuchs Libretto vor allem unter zwei Aspekten aufschlußreich: Es legt zum einen das Scenario für ein sogenanntes „Handlungsballett" vor, und es appelliert zum anderen an eine nuancierte Darstellung seelischer Empfindungen. Damit stellt der Autor sich in eine BallettTradition, wie sie sich erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts etablierte. Bis dahin dominierten gerade in den höfischen Tanzdarbietungen die sogenannten Entrées, Abfolgen maskierter Gruppen, die prächtige Bilder zumeist allegorischen oder mythologischen Gehalts darboten, gewöhnlich von Gesang und 23
Ich kann mich somit dem negativen Urteil von Siglinde Hohenstein nicht anschließen, die Bertuchs Szenenanweisungen als „knapp", „platt" und „pauschal" abqualifiziert: Hohenstein (Anm. 20), S. 103.
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kommentierender Rezitation begleitet wurden, aber noch keinen zusammenhängenden Handlungsablauf vorführten. Erst die Ausdrucks- und Charaktertänze, die seit den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts vor allem auf englischen Bühnen in Mode kamen und in denen als eine der ersten die berühmte Tänzerin Sallé brillierte, bereiteten der Darbietung dramatischer, gerade auch psychologisch motivierter Handlungsabläufe den Weg.24 Mit Blick auf diese tanzästhetische Entwicklung kommentiert noch die Theatergeschichte A.E. Brachvogels (1877) eine Aufführung im Königlichen Opernhaus Berlin im Jahre 1745, bei der im Zwischenakt einer Oper von Graun als Divertissement „Pygmalion und Psyche" mit der berühmten Barbarina als Statue getanzt wurde: Ganze Bailete, also große choreographisch-mimische Schöpfungen, getanzte Dramen, wie in unserer Zeit, kannte man noch nicht und höchstens einzelne kleine Piecen hatten eine in sich abgeschlossene Handlung, gingen aber nicht über den Rahmen eines Divertissements, also Zwischenakt-Tanzes hinaus [...] .Pygmalion' (war) schon ein förmliches kleines Tanz-Drama [...]. Es ist das erste Ballet, was uns hier also in einer dramatisch künstlerischen Einheit und einem geistigen Abschlüsse entgegentritt, sich also über die bloße Allegorie oder die gewöhnliche Ballet-Arabeske der Oper erhebt. 25
Entscheidende Impulse verdankte die Entwicklung des Handlungsballetts dann bekanntlich dem Tänzer, Choreographen und Tanzthereotiker Jean-Georges Noverre.26 Auszüge aus dessen wegweisenden „Lettres sur la Danse, et sur les Ballets" von 1760 lagen, von Lessing und Bode übersetzt, seit 1769 auch in deutscher Sprache vor. Bertuch dürfte diese Schrift ebenso gekannt haben, wie ihm Wieland Eindrücke aus der Stuttgarter Choreographenarbeit Noverres vermittelt haben wird.27 Die herausragende Bedeutung der pantomimischen Elemente kommt bereits im Untertitel des „Scipio" zum Tragen, indem Bertuch dem Werk die Gattungsbezeichnung „Pantomim-Ballet" hinzufügt. Ein solcher Terminus begegnet in der Ballettgeschichte erst spät. Rameau wendet ihn 1748 für seine „Pygmalion"Komposition an,28 doch zentrale Bedeutung gewinnt er erst in der Tanz-Theorie und -Praxis von Noverre und dessen Konzeption einer „danse-ballet-pantomime". Für Noverre stellt die Pantomime das eigentliche Ziel der Tanzbewegung dar, er bezeichnete sie als „l'âme de la danse", als das, „was die Gefühle und Erregungen der Seele durch Gesten ausdrückt."29 In diesem Konzept kam bereits 24
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Vgl. zu dieser Entwicklung die instruktiven Darstellungen durch Kirsten Gram Holmström: Monodrama. Attitudes. Tableaux vivants. Studies on some trends of theatrical fashion 17701815. Uppsala 1967, sowie Manfred Krüger: J.G. Noverre und das .Ballet d'action'. JeanGeorges Noverre und sein Einfluß auf die Ballettgestaltung. Emsdetten 1963. A.E. Brachvogel: Das alte Berliner Theater-Wesen bis zur ersten Blüthe des deutschen Dramas. Ein Beitrag zur Geschichte Berlins und des deutschen Theaters. Nach Originalquellen. Berlin 1877, S. 126f. Vgl. die grundlegende Studie von Krüger (Anm. 24). Kenntnisse über die Stuttgarter Ballett-Ereignisse hat Wieland sicher auch während seiner Jahre im schwäbischen Biberach seit 1760 gewin'nen können. Sein großes Interesse an Tanz und Pantomime belegt im übrigen seine Übersetzung der klassischen Tanzschrift des Lucian (1789). Vgl. Holmström (Anm. 24), S. 41. So Noverre in seiner Vorrede zu „Euthyme et Eucharis" (1776); vgl. Krüger (Anm. 24) S. 35.
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die um die Jahrhundertmitte sich Bahn brechende Einsicht in einen Zusammenhang von „innerem" und „äußerem Bewegungsbild" zum Tragen, dem Verständnis des Körpers als „fühlbar gewordener Seele" (Herder), wie es zunehmend auch die Gebärdensprache auf der Schauspielbühne bestimmte. 30 Mit „Elfride, Trauerspiel in drey Aufzügen" hatte Bertuch zuvor schon seinen größten Bühnenerfolg erzielt. Das Stück wurde von der Seylerschen Truppe am 4. September 1773, dem Geburtstag des Erbprinzen, auf dem Weimarer Hoftheater uraufgeführt und war bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts ein Repertoirestück deutschsprachiger Bühnen. 1778 erschien es auch in einer holländischen Übersetzung. 31 Wie Bertuch im Vorwort der Buchausgabe von 1778 selbst mitteilt, wählte er den Stoff zu seinem Trauerspiel aus David Humes Geschichte von England, wobei er überdies auf eine dramatische Vorlage von William Mason zurückgreifen konnte. Er datiert die am englischen Königshof spielenden Geschehnisse auf die Zeit „um 950". Dementsprechend hatten die Schauspieler „Costume der altbrittischen Kleidung" zu tragen (E 3). 32 Im Zentrum der Handlung steht Graf Atelwold, der Günstling König Edgars von England, der seit drei Monaten mit der schönen Elfride von Devonshire verheiratet ist, es aber konsequent vermeidet, seine Frau bei Hof vorzustellen. Abt Dunstan, der Atelwold aus Mißgunst und wegen dessen antiklerikaler Haltung aus dem Weg räumen will, hat Elfrides Vater von dem rätselhaften Verhalten des Schwiegersohns in Kenntnis gesetzt und schürt überdies die Neugier des Königs auf Elfrides weibliche Anziehungskraft. So beschließt Edgar einen Jagdaufenthalt auf Atelwolds Landschloß Harewood. Dort aber ist um dieselbe Zeit Elfrides Vater, Graf Olgar, als Bettler verkleidet, angelangt. Atelwold gibt nun der Gattin sein Geheimnis preis: Auf Brautschau für Edgar, hatte er sich selbst in die vielgerühmte Schönheit verliebt und sie dem König gegenüber herabgesetzt. Nun scheut er die Aufdeckung seiner eigennützigen Handlungsweise. Elfrides Vater, der dieses Geständnis heimlich belauscht hat, steigert sich bei dem Gedanken, daß seiner Tochter der Königsthron entgangen ist, in höchsten Zorn und ist zu wilder Rache entschlossen. Doch muß er gar nicht mehr in Aktion treten, denn der König selbst fordert nach seiner Ankunft Atelwold empört zum Zweikampf, und dieser läßt sich ohne entschiedene Gegenwehr von ihm töten. Elfride aber weigert sich standhaft, nun Edgars Gattin zu werden, und erdolcht sich am Leichnam des geliebten Atelwold. Bertuchs Stück bot also eine durchaus spannende, straff gefügte, auf drastische Effekte abzielende und zum tragischen Ausgang hin zügig sich zuspitzende Handlungsabfolge dar. Diese Merkmale dürften, zusammen mit der „Rührung" über das Los der in Liebe verbundenen Ehegatten, den großen Aufführungserfolg des Werks beim zeitgenössischen Publikum erklären. Die literarische Qualität des Textes indessen leidet - neben offenkundigen sprachlichen Schwächen 30
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Vgl. zu dieser Entwicklung auch: Claudia Jeschke: Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Bender (Anm. 12), S. 85-111. Vgl. zur Bühnengeschichte des Werks auch: Hohenstein (Anm. 20), S. 104f. Die Seitenangaben, den Zitaten mit der Sigle E jeweils in Klammern nachgestellt, folgen der Originalausgabe: Elfride. Trauerspiel in drey Aufzügen. Weimar 1778.
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unter psychologischen Mängeln der Figurenzeichnung und - damit verbunden einer Häufung höchst unwahrscheinlicher Reaktionen und unzureichend motivierter Handlungsweisen der Protagonisten. Die Fäden der Hauptintrige erscheinen deshalb vielfach nur dünn geknüpft. So fallen die Figuren des Stücks auch noch auf die plumpsten Tricks, Täuschungsmanöver oder Verleumdungen herein.33 Andererseits läßt sich gerade die Brutalität der entscheidenden Aktionen mit den Charakteranlagen der Hauptfiguren nur schwer in Einklang bringen.34 Bertuch kombiniert in seinem Trauerspiel verschiedene Dramentypen: Das historische Schauspiel ist hier deutlich von dem empfindsamen Rührstück im Geschmack der Zeit, insbesondere jedoch vom Muster des Bürgerlichen Trauerspiels überlagert. So sind die Bezüge zu Lessings „Emilia Galotti" (1772) bis in Wortwahl und Metaphorik zu verfolgen: „Trauest du meinem Herzen nicht mehr?" so fragt Elfride etwa ihren Gatten im siebten Auftritt des Ersten Aufzugs, und Atelwold antwortet: „Deinem Herzen wohl, aber nicht deiner Schönheit. Was kann die Rose dazu, daß sie gebrochen wird? Nichts, als sie blühte zu sichtbar." (E 26f.) Statt politisch motivierter Vorgänge, wie der historische Stoff sie nahelegte, stellt Bertuch hier also die Tragödie der verfolgten weiblichen Unschuld auf die Bühne, die ihre .Tugend' vor den Nachstellungen eines zügellos triebhaften Herrschers zu bewahren hat. „Schönheit" sei es, so versichert Atelwold, die Edgar „oft aus dem sanftesten Monarchen zum grausamsten Tyrannen" mache: „Kein hungriger Tyger ist so schrecklich, als Edgar, wenn er weibliche Reitze verfolgt. Er bricht durch die heiligsten Gesetze [...] und greift nach Beute für seine Lüste." (E 27) Im Unterschied zu den Konventionen des Bürgerlichen Trauerspiels muß Elfride ihre Tugend hier aber auch noch gegen den engherzigen und verblendeten Vater verteidigen. „O Allmacht! kanst du Tugend so tief sinken lassen" (E 85), so bejammert sie deshalb ihr Schicksal. Im Vater verkörpert sich die absolutistische Gewalt im Rahmen der Familie. „Sie muß, Sire", so kann er den König über Elfrides Bereitschaft zur Ehe beruhigen, „ich bin ihr Vater!" (E 90) In der unglaubhaften Porträtierung des Vaters liegt meiner Ansicht nach eine der gravierendsten Schwächen des Schauspiels. Aller aristokratischen Würde bar, verkörpert dieser Graf Olgar offenkundig den Typus des .polternden Alten' aus dem Figurenarsenal der Wandertruppen. Dieser ,Graf' führt sich weit eher als kleinbürgerlicher Hausvater auf, dem es um Ordnung in der .guten Stube' und Wahrung des Besitzstandes zu tun ist, denn als Verfechter ernsthafter dynastischer Interessen. Die unfreiwillige Komik seines aufbrausenden Verhaltens 33
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So genügt bereits ein falscher Bart, damit die Tochter den eigenen Vater nicht erkennt. Ihre „Schönheit" glaubt Elfride durch Übermalung vor dem König verbergen zu können. Und der König selbst durchschaut auch nicht die durchsichtigsten Anschwärzungen Atelwolds durch den Abt Dunstan. Mit solchen Strategien zeigt sich das Werk durchaus noch der Tradition des Wander- und Schmierentheaters verpflichtet. So ist es wenig wahrscheinlich, daß ein fähiger, achtunggebietender Monarch sich in einem einzigen Moment zur zähnefletschenden Tigerbestie wandelt, wenn er von der Schönheit einer Hunderte von Kilometern entfernten Frau auch nur durch Hörensagen erfahrt. Der scheinheilig-heuchlerische Kleriker Dunstan, Molières Tartuffe nachgebildet, wirkt eher als komische Karikatur denn als ernstzunehmender Dialogpartner des Königs, und auch das ängstliche Jammern von Atelwold über seinen „Verrat" stimmt wenig zu seiner Rolle als sieghafter Liebhaber und innig geliebter Gatte Elfrides.
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wie seine schnoddrige Redeweise unterminieren gleichermaßen die Wirkungsintention einer Trauerspielhandlung, so bereits mit seinem Auftrittsmonolog in I, 3, wenn er dem Schwiegersohn auflauert: „Nu das soll heraus; soll raus, raus, heut noch, [...] heut muß er kommen. Dunstan schreibt's. In dem Küttel da, will ich lauern, und diesen Bart, Wahrheit zu hören. [...] Nu, wir wollen sehn; [...] Nu das wolle Gott! Hsch! Frisch dran!" (E llf.) Gleiches gilt für die unbeherrschten Zornesausbrüche der Tochter gegenüber: Holl' und Todt! Dir eine Krone zu rauben! Meinem Blute, meinen Enkeln den Thron! Verfluchter, du sollst's büßen! - Wie ich das hörte, ich hätte mögen vorspringen wie ein Löwe, und ihn erwürgen; [...] Ha! daß ich vorhin nicht den Wurm zertrat, wie er da lag, und winselte! [...] Schande meines Bluts! (E 39, 42)
Am besten gelungen ist Bertuch zweifellos das Porträt der weiblichen Titelfigur. Hier gewinnt das Schauspiel eindrucksvolle Momente in der Vergegenwärtigung widersprüchlichster Stimmungs- und Gefühlslagen, im Nachzeichnen des seelischen Spannungsbogens von sehnsüchtig-banger Liebeserwartung, mit der Elfride in I, 5 eingeführt wird, bis hin zu ihrer jammervollen Verzweiflung in den Schlußszenen. Auf diese Gestalt ist die Sympathielenkung des Stücks vorwiegend gerichtet, ihr gehören die für den Zeitgeschmack so wichtige ,Rührung' und Empathie der Zuschauer. Zu dieser Rührung tragen nicht zuletzt Mimik und Gestik Elfrides bei, die sie mit den immer wieder „gen Himmel" gerichteten Blicken und Armen im Bild einer Märtyrerin vorführen - „Sie ringt die Hände, blickt zuweilen mit einem Seufzer gen Himmel, und drückt ihren stummen Schmerz blos durch Bewegungen aus" (E 75)35 - , während ihre „wilden" Blicke und „gräßlich" flatternden Haare ihr später auch Aspekte einer rasenden Mänade verleihen können (E 92). Die verzweifelte Hilflosigkeit dieser ausweglos gequälten Unschuld drückt sich gegen Schluß des Dramas im wachsenden Zurücktreten der Wort- gegenüber der Gebärdensprache aus. So berichtet schon die Kammerfrau Emma: „[...] ihre Lippen zitterten, aber kein Wort, keine Sylbe kam; - [...] ich konnte den jammervollen Anblick nicht länger aushalten [...]" (E 92f.). „Von diesem Augenblicke an spricht sie nicht mehr", so heißt es in der Regieanweisung zum vorletzten Auftritt, und Elfrides Tod wird vollends als stumme Pantomime vorgeführt: Da (Elfride) ihren Gemahl erblickt, prallt sie erschrocken zurück. Sie fällt auf ihn, umarmt ihn nochmals, reißt sich aber wieder los. In der äußersten Verzweiflung irrt sie nochmals im Zimmer umher. Sie kommt wieder an das Ruhebett, und bleibt tiefsinnig stehen. Nun zieht sie den Dolch, den sie Atelwolden aus der Hand riß, hervor, betrachtet ihn lächelnd, küßt ihn mit Innbrunst, blickt seufzend gen Himmel, und ersticht sich. Sie sinkt am Bette nieder, der Dolch fällt zu ihren Füssen hin. (E 95)
Gerade die genau kalkulierte Gebärdenregie, auf die die detaillierten Nebentexte des Trauerspiels verweisen, zeigt einmal mehr den Übersetzer der SchauspielerSchrift von Saint Albine auf der Höhe der theaterästhetischen Entwicklung seiner Zeit. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich in Frankreich mit Schauspielern wie Lekain oder der Clairon, den Theoretikern Riccoboni und Diderot, ein 35
Ähnlich auch: E 4 1 , 4 2 , 7 1 , 9 4 .
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„natürlicher" Schauspielstil herauszubilden begonnen, der sich nicht mehr mit stereotypen „rhetorischen" Gesten begnügte, sondern den ganzen Körper der Akteure in die Darstellung mit einbezog. Im Zentrum maßgeblicher Theatertraktate stand die Frage nach der adäquaten Umsetzung „innerer" in „äußere" Bewegungsbilder, nach der „Ablesbarkeit" seelischer Affekte an physischen, „natürlichen" (weil an der Körperoberfläche manifesten!) Zeichen. In Deutschland gehörte Conrad Ekhof, der Prinzipal der Seylerschen Truppe, zu den wichtigsten Vermittlern dieses neuen Stils, so daß die enge Zusammenarbeit mit diesem bedeutenden Schauspieler Bertuchs Trauerspieltext und Aufführungskonzeption zweifellos entscheidend mitbestimmt hat.36 Eine Textanmerkung des Verfassers ist in diesem Zusammenhang besonders aufschlußreich, da sie die Dominanz des Körperausdrucks eigens thematisiert. Es handelt sich um die pantomimische Darstellung, in der in Szene II, 3 Graf Atelwold in schmerzlichem Seelenkampf vorgeführt wird: Atelwold, so heißt es hier, geht mit in einander geschlagnen Armen, gesenktem Haupte und weiten langsamen Schritten einigemal auf und nieder. Er seufzt schmerzlich und tief. Seine Bewegungen sind schrecklich und verrathen den Kampf, der in seiner Seele vorgeht. Seine Augen erheben sich zuweilen. Seine Minen drücken höchste und stumme Verzweiflung aus, und nur einigemal entreißen sich ihm gebrochne unartikulirte Töne des innern Schmerzens. (E 49f.)
Diesen Auftritt kommentiert Bertuch mit der folgenden Fußnote: Die Kunst des Schauspielers muß für diese und dergleichen Szenen, wozu ihm der Dichter nur eine sehr unvollkommne Skizze liefern kann, alles thun. Der Leser bleibt kalt dabey, und muß es bleiben: Denn wenige haben eine so warme Phantasie, daß Sie [sie] Gegenstände eines Sinnes durch den andern genießen könnten. Aber man setze sich mit freyem empfindlichen Herzen vor die Bühne, und sehe dergleichen Tableaux, von Schauspielern, von Meistern ihrer Kunst, vollkommen ausführen, und fühle dann, was sie für Würkungen thun. (E 49f.)
Hier bekennt Bertuch sich somit nachdrücklich zu der Überlegenheit einer sinnenhaft, „aisthetisch", vor allem mit dem optischen Sinn wahrgenommenen Rezeption über die Anweisungs- und Appellfunktion des nur gelesenen oder rezitierten Textes. In welchem Maße er dabei mit den körpersemiotischen Reflexionen der Epoche vertraut war, enthüllt sich darüber hinaus auch in Details, etwa der Einsicht in die Funktion „nicht freiwilliger Gebärden", über deren pathognomischen Wert, die „zuverlässigen" Rückschlüsse auf das „innere Gefühl", bereits Lessing im Dritten Abschnitt der „Hamburgischen Dramaturgie"
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„Es ist Ekhofs Schauspielkunst", so resümiert Erika Fischer-Lichte die spezifischen Verdienste dieses Künstlers, „welche einerseits auf der Bühne die Illusion von Wirklichkeit herstellt, die seit Diderot und Lessing von allen Theoretikern eines bürgerlichen Theaters der Aufklärung gefordert wird, und welche andererseits im Zuschauer Empfindungen erweckt, wie es die Poetik des rührenden Lustspiels und des bürgerlichen Trauerspiels als wichtigstes Ziel der Dramaturgie postuliert. Die Schauspielkunst - beispielsweise eines Ekhof - stellte also sicher, daß die Ziele des bürgerlichen Theaters erreicht wurden; und zwar auch dann, wenn sie aus den gespielten Stücken selbst (beispielsweise aus Trivialdramen) nicht unmittelbar abzuleiten waren." Dies.: Entwicklung einer neuen Schauspielkunst, in: Bender (Anm. 12), S. 51-70, hier: S. 66.
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reflektiert hatte.37 Durch eine solche unwillkürliche Gestik verrät sich beispielsweise der Intrigant Dunstan in II, 10, bei der Schilderung von Atelwolds Tod, auf abstoßende Weise. Elfride, so heißt es in Bertuchs Bühnenanweisung, „schweigt noch einige Augenblicke mit gesenkten Augen, und erhebt sie dann mit einem tiefen Seufzer gen Himmel", während Dunstan „durch unfreywillige Gesten seine innere Freude verräth." (E 71) Erst das sich allmählich entwickelnde ganzheitliche Körperverständnis der Epoche ermöglichte eine so weitgehende Einsicht in das Wechselverhältnis von seelischem Antrieb und körperlichem Ausdruck, führte zu den gerade für den Schauspielstil so folgenreichen Erkenntnissen über eine „körperliche Beredsamkeit". Sehr vorsichtig wird noch Johann Jakob Engel in seinen „Ideen zu einer Mimik" (1785/1786) diesen Erkenntnisstand referieren, wenn er mit Bezug auf die Gebärdensprache von Schauspielern schreibt: „Wir kennen die Natur der Seele nur durch ihre Wirkung, und sicher würden wir manchen Aufschluß mehr über sie erhalten, wenn wir diese Art ihrer Wirkungen, die mannigfaltigen Ausdrücke ihrer Ideen und Bewegungen im Körper, fleißiger beobachten wollten."38 Den theaterästhetisch avanciertesten Text Bertuchs haben wir indessen mit dem „lyrischen Monodrama" „Polyxena" vorliegen, das ebenfalls für das Weimarer Hoftheater vorgesehen war und im Oktober 1774 in Wielands „Teutschem Merkur" publiziert wurde.39 Aus heutiger Sicht ist an diesem Werk vor allem die Gattungszuschreibung interessant. Das gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland sehr beliebte Mono-, manchmal auch Duodrama, nahm eine Zwischenstellung zwischen Oper und Schauspiel ein.40 Die Deklamation der Figuren wurde in diesen Schauspielen nur gelegentlich von Orchestermusik begleitet, zumeist wechselte sie mit den rezitativischen Partien ab. Der Komponist Christian Gottlob Neefe suchte diese Besonderheit am Beispiel von Johann Christian Brandes' vielgespieltem Duodrama „Ariadne auf Naxos" zu erläutern: Bald geht die Musik voraus, bald mit der Deklamation zugleich, bald hinter der Deklamation, um die Leidenschaft und die daraus entspringende Handlung vorzubereiten, zu unterstützen und zu erhöhen, oder fortzuführen, wenn der Schauspieler oder die Schauspielerinn den inneren Drang selbst nicht mehr auszudrücken vermochte. 41
Man kann dieses Genre deshalb sicher auch zurecht als „ein Experimentierfeld zur Ausbildung eines musikdramatischen Stils" sehen.42 Das Muster für diese dramatische Zwittergattung, die auch von Singspiel und Melodram nicht immer scharf abzugrenzen war, schuf bekanntlich Jean-Jacques 37
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Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. Kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann. Stuttgart 1978, S. 16. Johann Jacob Engel: Ideen zu einer Mimik. Zwei Teile. Berlin 1802. Teil 1, S. 17. Friedrich Justin Bertuch: Polyxena. Ein lyrisches Monodrama, in: Der Teutsche Merkur vom Jahre 1774. Des Achten Bandes Erstes Stück. October 1774. Hrsg. von Christoph Martin Wieland. Weimar 1774, S. 64-72. Vgl. die maßgebliche Arbeit von Holmström (Anm. 24). Über Herrn Bendas Arbeiten fürs deutsche Theater, in: Theater-Journal für Deutschland vom Jahre 1777. Zweytes Stück. Gotha 1777, S. 74f. So Hans-Albrecht Koch: Das deutsche Singspiel. Stuttgart 1974, S. 56.
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Rousseau mit seiner .Scène lyrique' „Pygmalion", die, wohl 1763 entstanden, 1770 in Lyon uraufgeführt und 1771 im „Mercure de France" publiziert wurde. Rousseaus Text unterscheidet noch deutlich zwischen den gesprochenen und den von Musik begleiteten pantomimischen Passagen, wobei auch die Dauer der einzelnen Auftritte genau vorgegeben ist. Das Stück wurde bereits am 13. Mai 1772 in Weimar mit der Musik von Anton Schweitzer (1737-1787) und Johann Michael Böck in der Rolle des Pygmalion, Franziska Koch als Galatea, aufgeführt und 1774 dort wiederholt. Diese Inszenierung dürfte der unmittelbare Anlaß zu Bertuchs eigenem Libretto gewesen sein, zu dem gleichfalls Schweitzer die Musik schrieb (Abb. 5)43. Der Hofbrand von 1774 hat wahrscheinlich auch in diesem Fall den Aufführungsplan vereitelt und Bertuch um die verdiente Anerkennung für die so frühe Adaption des neuen Bühnengenres gebracht. Diesen Ruhm errangen statt seiner dann vor allem Johann Christian Brandes und Georg Benda mit dem 1775 in Gotha uraufgeführten Duodrama „Ariadne auf Naxos", mit dem Brandes nicht zuletzt eine bühnenwirksame Rolle für seine Frau Charlotte schreiben wollte. Benda komponierte wenig später auch die Orchestermusik zu dem Monodrama „Medea" nach Friedrich Wilhelm Gotter, das mit Madame Seyler in der Titelpartie 1775 in Leipzig uraufgeführt und noch 1778 von Mozart in Mannheim mit fasziniertem Interesse kommentiert wurde. Man wählte für diese Monodramen mit Vorliebe weibliche Gestalten des antiken Mythos oder der Geschichte, so neben Ariadne und Medea noch Dido, Niobe oder Sophonisbe. Bertuch schloß sich mit der Wahl seines Sujets somit auch diesem Trend an. Wie er in der einleitenden Inhaltsangabe mitteilt, stützt er sich mit dem Handlungsgrundriß seines Monodramas auf die Darstellung des Trojanischen Krieges bei Philostratus (um 170-250 n. Chr.). Es handelt sich bei „Polyxena" um eine sehr kurze Szene, die kaum für eine abendfüllende Aufführung bestimmt war. Das Szenenbild ist dem von Brandes' „Ariadne" dabei verblüffend ähnlich: dem „wüsten Gestade am Meer" entspricht hier die „rauhe Gegend" am „Ufer des Sigäischen Vorgebirges" (P Ó5)44. Folgende Vorgänge gehen der Szene vorauf: Während der Kämpfe um Troja hat Achilles sich in Priamos' schöne Tochter, Polyxena, verliebt und sie von diesem zur Ehe erbeten. Die Trauung findet während eines Waffenstillstandes im Tempel des Thymbräischen Apollo statt. Paris aber, Polyxenas Bruder, tötet, hinter der Skulptur Apolls verborgen, Achilles durch einen Pfeilschuß in seine Ferse. Die Griechen lösen den Körper aus und begraben ihn auf dem Sigäischen Vorgebirge. Polyxenas Trauer steigert sich noch durch den Beschluß ihres Vaters, nun sie selbst anstelle der Helena dem Menelaus als Gattin und Kriegsbeute auszuliefern. So entflieht sie im Schutz der Nacht, um Achills Grab aufzufinden. Die .Handlung' des lyrischen Monodramas umfaßt nur diese letzte Etappe: Polyxenas Suche nach dem Grab des Geliebten, das sie erst in dem Augenblick ent43
44
Wie die Partitur zeigt, war hier allerdings auch für die weibliche Protagonistin eine Notation vorgesehen, so daß zumindest diese Fassung eher singspiel- bzw. opemartige Züge trägt. Seit kurzem liegt eine Einspielung des Werks durch das Landessinfonieorchester Thüringen, Gotha, auch auf Compact Disc vor. Für Informationen zu der musikalischen Realisation des Werks danke ich Uta Kühn, die eine Ausgabe des Briefwechsels zwischen Bertuch und Anton Schweitzer vorbereitet. Die nach der Sigle Ρ dem jeweiligen Zitat in Klammern nachgestellten Seitenangaben beziehen sich auf die in Anm. 39 angegebene Druckfassung.
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deckt, da sie bereits entschlossen ist, sich ins Meer zu stürzen. Nun erdolcht sie sich stattdessen am Grabmal des Gatten. Die psychische Gestimmtheit der weiblichen Protagonistin ist somit wesentlich einförmiger und gleichmäßiger als etwa die der Ariadne in Brandes' Melodram, die sich anfangs bei der Begegnung mit Theseus noch der Illusion höchsten Liebesglücks hingibt. In Bettuchs Szene dominieren demgegenüber Trauer und Verzweiflung. Diese psychische Grundverfassung der Polyxena wird nur durch Momente des Zorns bei der Rückerinnerung an die Untaten von Bruder und Vater, an die eigene Erniedrigung zum Tauschobjekt sowie durch die elegischsanfte Anrede an den verstorbenen Geliebten und die liebevolle Zwiesprache mit seiner Urne variiert, die gewissermaßen dem Liebesdialog der Ariadne korrespondiert. Der Text enthält einige gereimte Passagen, wobei der literarische Wert solcher Verse weder dem des Textbuchs von Brandes oder bekannter Opernlibretti der Zeit, selbst demjenigen zu Glucks „Orpheus und Eurydice", kaum nachstehen dürfte. So fleht Polyxena, als sie sich mit dem Gedanken an ihren Tod vertraut gemacht hat: Empfangt mich ihr Schaaren der seeligen Schatten, Führt jauchzend zum Reiche der Freuden mich ein. Schon seh' ich am Ufer den wartenden Gatten; Schon füllt ihr die Schaale des Lethe mir ein. Ich komme, ich komme, ihr seeligen Schatten; Empfangt mich, und führt in Elysium mich ein. (P 69f.)
Die Monotonie der Situation, zumeist die Lamentationen der weiblichen Titelgestalt, wurden von Anfang an als die hauptsächliche Gefahr dieses Genres erkannt. Besonders sarkastisch war unter diesem Betracht der Kommentar einer Rezension im „Mercure de France" (23. Juli 1781), nachdem Brandes' „Ariadne" in der Pariser Comédie Italienne gegeben worden war. Gerügt wurde die Beschränkung auf eine einzige dramatische Situation, ein einziges Bild, während das Publikum doch ins Theater ginge, um eine ganze Galerie zu sehen. Außerdem empfand man in diesem Fall auch die Deklamation als störend für die musikalische Komposition, die aufgrund der permanenten .Unterbrechungen' ein Thema nicht voll entfalten könne. Im Deutschland der empfindsamen Generation stießen aber gerade Mono- wie Melodrama auf große Aufnahmebereitschaft, kamen sie doch der Neigung zu seelischer und nervlicher Übererregung, zu Rührung und Tränenseligkeit offenbar besonders entgegen Dem entspricht etwa die Schilderung, die Heinrich August Reichard über seine Empfindungen während einer Aufführung von Bendas „Ariadne" mitteilt: Die Ouvertüre hub an und nun stellte ich mich in Positur, um zu beobachten; aber schon des Vorhangaufziehens war ich mir, hingerissen durch die unaussprechlich herrliche Ouvertüre, kaum halb bewußt; so war das Stück zu Ende, und ich stand von namenlosen Gefühlen durchdrungen, hin und hergeworfen, meiner selbst unbewußt, wie angezaubert da.
128
Heide Eilert
Andere Zuschauer waren angeblich „so zu Tränen gerührt, daß sie das Theater verlassen mußten".45 Neben diesem Zugeständnis an den Zeitgeschmack eines .empfindsamen' Publikums zeichnet sich Bertuchs Text erneut durch aufschlußreiche Hinweise auf eine ausdrucksstarke Gebärdenregie aus, ist also ein weiteres Dokument für sein Interesse an körpersemiotischen Phänomenen. So zielen auch hier die Bühnenanweisungen auf starke Expressivität der Gestik und fordern insbesondere die Einbeziehung des gesamten Körpers in die Bewegungsregie. So heißt es von Polyxena: „Sie stürzt im höchsten Grade der Leidenschaft auf das Grabmal zu und sinkt ohnmächtig daran nieder. Nach einiger Zeit erholt sie sich wieder, und richtet sich mit halbem Leibe a u f (P 70), oder: „Sie umarmt die Urne und sinkt, dran weinend, mit halbem Leibe über das Monument. Nach einer Pause erhebt sie den Kopf." (P 71) Kirsten Gram Holmström hat an einem späteren Text ausführlich dargelegt, in welchem Maße gerade die Aufführungspraxis dieses Theatergenres Anlaß bot, den vieldiskutierten Zusammenhang von Seelen- und Körperbewegungen zu analysieren und dem Zuschauer unmittelbar vor Augen zu führen.46 So fertigte J.F. von Goez 1783 für sein Melodrama „Lenardo und Blandine" (1779) nach einem Vorwurf von Gottfried August Bürger ein Konvolut von 160 Kupferstichen an, die er mit umfangreichen psychologischen Erläuterungen und Analysen versah, um an ihnen die jeweiligen körperlichen Gesten der Figuren als sichtbare äußere Zeichen ihrer inneren Bewegung darlegen zu können. Bis in die Einzelformulierungen tritt hier der enge Konnex mit den zeitgenössischen Schauspieltheorien zutage, die sich, wie zu zeigen versucht wurde, gleichermaßen in Bertuchs Texten widerspiegeln: „[...] die gegen Himmel aufgehobne, und gegen die Erde niederzeigende Hand", so räsoniert der Verfasser beispielsweise, „kan(n) eben so se(h)r Zufal(l), oder Verwunderung, als begleitende Bewegung des Sinns der gegenwärtigen Rede sein; würde aber das leztere angenommen: so gehörte die Veranlassung dazu dennoch immer unter die unwillkürlich entspringenden Bewegungen."47 Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß Bertuch nicht zuletzt mit seinen literarischen Texten zum Theater außerordentlich avancierte Positionen bezog und sich auf der Höhe auch der theoretischen Diskussionen der Epoche bewegte. Er trug auf der einen Seite dem Zeitgeschmack und ganz pragmatischen Bühnenerfordernissen Rechnung, er lag, wie wir heute sagen würden, „voll im Trend", zugleich aber bewies er erstaunlichen Spürsinn für kommende Entwicklungen, die er vor allem als Publizist und Medien-,Imperator' weg- und richtungweisend mitbestimmen konnte.
45 46 47
Vgl. Holmström (Anm. 24), S. 52. Ebenda, S. 53ff. Ebenda, S. 68.
Bertuch und das zeitgenössische Theater
129
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Abb. 3:
Friedrich Justin Bertuch als Notarius in dem Lustspiel „Der Postzug oder Die noblen Passionen" von Cornelius von Ayrenhoff. Kolorierter Kupferstich von Georg Melchior Kraus, 1776.
Heide Eilert
130
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Abb. 4:
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70
• Realisierter Gewinn % ü Kalkulierter Gewinn %
Diagramm 4: Verlegergewinne Bertuchs im Jahre 1807. Quelle: GS A 06/5209.
Selbst zu Zeiten der napoleonischen Herrschaft, als die Vertriebswege des deutschen Buchhandels blockiert waren, als die französische Zensur in den besetzten Gebieten noch schlimmer drückte als seinerzeit die antirevolutionären Verbote, als daher ein beträchtlicher Teil der Journale sein Erscheinen einstellen mußte, befand sich Bertuchs Industrie-Comptoir bei den meisten Verlagsartikeln in der Gewinnzone. Das war schon eine beachtliche kaufmännische Leistung. Bertuchs Vermögen wuchs denn selbst in dieser Zeit nahezu kontinuierlich. Allein der Umfang des Vermögens war für jene Zeit groß. Die stetige Vermehrung aber war in jener Kindheitsphase des Kapitalismus, als Unternehmertätigkeit noch den starken Beigeschmack von Spekulation hatte und Vermögen flüchtig waren, mindestens ebenso erstaunlich.
Helga Schultz
346
Rtl
I
Diagramm 5:
1 Aktiva i m Passiva
Vermögen
Bertuchs Vermögen in napoleonischer Zeit. Quelle: GSA 06/5209: Zur Geschichte des Comptoirs.
So gewann Bertuch nicht nur Freunde und Geschäftspartner, sondern auch reichlich Gegner und Neider. Die jährlichen Wachstumsraten, die man etwa mit dem Gesamtertrag von Bertuchs Geschäften gleichsetzen kann, lagen im besten Jahr bei 6,8% Gewinn, im schlechtesten Jahr bei 2,2% Verlust. In den anderen Jahren bewegten sie sich zwischen knapp 2,5% und reichlich 5% Gewinn. Das war gewiß nicht schlecht, zumal in solche Zeiten, wo Buchhändler wie der Hamburger Friedrich Perthes als Gegner Napoleons ihre ganze Existenz aufs Spiel setzten, oder wie der Frankfurter Johann Philipp Palm sogar das Leben verloren. Beharren und Erfolg in diesen Zeiten waren nicht nur dem Geschäftssinn des Weimarer Buchhändlers geschuldet, sondern auch seiner Anpassung an den Zeitgeist, der dort zu wehen schien, wo der große Kaiser der Franzosen war. Der Verleger befand sich hier in der Gesellschaft seines Herzogs und der Weimarer Großen.
VII
Das Verlagsprogramm
Bertuchs Programm bewährte sich also auch im Kaufmännischen. Sein Verlagsprogramm scheint relativ schmal, fast stromlinienförmig, ganz auf die Journale und Reihen konzentriert. Solche Unternehmungen hatten an sich schon kaufmännische Vorteile: Damit ließ sich sowohl ein langfristiges Programm verfolgen als auch ein Kundenstamm über das Abonnement gewinnen. Dazu mußten die Zeitschriften und Serien aber ein ausreichend großes Publikumsinteresse be-
Bertuch als Kaufmann und
Literaturpolitiker
347
dienen. Wir dürfen davon ausgehen, daß Bertuch gerade diesen Punkt immer bedacht hat. Das „Journal von und für Rußland" ist wahrscheinlich eben deshalb nicht zustande gekommen, weil der relativ enge Interessentenkreis schließlich doch die geplanten 1.000 Exemplare nicht garantiert hätte. Denn die Sympathien mit Rußland waren zwar in ganz Europa unter der aufgeklärten Politik der Kaiserin Katharina Π. mächtig gewachsen, sie zerstoben aber auch wieder, als Rußland die Freiheit des eben zur Verfassung gelangten Polen vernichtete. In diesen Zwiespalt geriet der 1790 entworfene Journalplan. Bertuchs Journale gehörten zu den erfolgreichsten und langlebigsten der Zeit. Das gilt für die von ihm selbst herausgegebenen, wie das Modejournal und „London und Paris", ebenso wie für jene, an denen er als Verleger oder Geschäftspartner beteiligt war, wie den ,.Merkur" und die „Allgemeine Literaturzeitung". Die Journale sind zweifellos eine Säule von Bertuchs kaufmännischem Erfolg gewesen. Ebenso wichtig war vielleicht das, was fehlte: die schöne Literatur. Denn damit war sicherlich ein großes Risiko ausgeschaltet. In diesem Bereich boomte zwar der Markt am heftigsten, hier war er andererseits auch am unberechenbarsten. Mit der ,31auen Bibliothek der Nationen" hatte Bertuch zwar in den frühen neunziger Jahren gute Geschäfte gemacht, aber infolge der relativ niedrigen Übersetzerhonorare war das verlegerische Risiko hier gering gewesen. Mit dem Verlegen von Originalromanen hat er sich augenscheinlich nicht befaßt. Und die großen Dichtungen der Weimarer Klassiker fanden in Bertuch zwar einen engagierten Vermittler, aber keinen Verleger auf eigenes Risiko. Die Konzentration auf Journale und Reihen entsprach aber nicht nur geschäftlichem Kalkül des Verlegers, sie korrespondierte offensichtlich mit Bertuchs Engagement als Aufklärer. Interessen und Geschäft verbanden sich bei Bertuch stets auf das Glücklichste. Darin lag Friedrich Justin Bertuchs Leistung und Stärke. Er verkörperte wie die anderen bedeutenden Verleger seiner Zeit, wie sein Freund Göschen in Leipzig, wie Nicolai in Berlin und wie Cotta in Tübingen, den neuen Typ des Verlegers als Literaturpolitiker. Die Leistung Bertuchs lag in der Verknüpfung von Marktorientierung und Literaturpolitik. Er gewann, indem er dem Zeitgeist Tribut zollte. Das bedeutete nicht eine bedingungslose und gesinnungslose Anpassung an den Publikumsgeschmack. Bertuch schmiegte sich also nicht jeder Regung des Marktes an, sondern nur jenen, die mit seinen Überzeugungen und Anliegen Berührung hatten. Als Schriftsteller wurde er Unternehmer, um ein Programm zu verfolgen, das sich geistig der Aufklärung, wirtschaftlich der Industrialisierung und politisch dem Liberalismus zuordnen läßt. Vom ,3ilderbuch" über das Modejournal und die ALZ bis zu den naturwissenschaftlichen, ökonomischen und geographischen Publikationen und schließlich bis zur „Nemesis" und dem „Oppositionsblatt" läßt sich dies verfolgen. Man wird sagen können, daß ein im weitesten Sinne bürgerliches Publikumsinteresse angesprochen wurde. Gerade dieses Interesse breitete sich im Zeitalter der französischen Revolution, der napoleonischen Kriege und der Verfassungskämpfe aus. Und gerade die mittleren und unteren bürgerlichen Schichten wuchsen an Zahl und an Lesefähigkeit. Bertuch hatte sich also auf einem rasch wachsenden Marktsegment etabliert.
348
Helga Schultz
Ein Verlagsprogramm darf nicht einseitig sein, wenn es erfolgreich sein will. Bertuchs Programm war es nicht, es bediente weite Bereiche der Wissenschaft, des populären Sachbuchs und der gehobenen Unterhaltung. Andererseits ist gerade bei den Journalen zu beobachten, wie Bertuch immer weniger vor politischer Parteinahme zurückscheute. Zur Zeit der französischen Revolution hatte er sich weder zum Verlag von revolutionären Propagandaschriften noch zur Übernahme eines antirevolutionären Blattes bereit gefunden. Ein entsprechendes antirevolutionäres Projekt des Gothaers Reichardt lehnte er ebenso ab wie das Anliegen Schlözers zur Rettung der bedrängten „Statsanzeigen".29 Seine Journale wie die ALZ oder „London und Paris" gingen einen gemäßigten Mittelweg der aufgeklärten Kritik und bürgerlichen Emanzipation durch Reform. Altgeworden scheint er Bedenken und Rücksichten mehr und mehr abgelegt zu haben. Nach den Befreiungskriegen mischte er sich mit einer radikal liberalen Zeitung wie dem „Oppositionsblatt" unmittelbar in die politischen Kämpfe um deutsche Verfassungen ein. Die daraus erwachsenen Konflikte mit Hof, Regierang und Gesellschaft des klassischen Weimar sind bekannt. Dazu gehörte dann doch weit mehr als eine mercantilische Seele. Man kann Bertuchs unternehmerische Leistung nur im Verein mit seiner engagierten Persönlichkeit würdigen. Aber benötigt denn der Kaufmann Friedrich Justin Bertuch noch immer eine Rechtfertigung gegen das zeitgenössische Weimar?
29
Vgl. den Briefwechsel mit Heinrich August Ottokar Reichardt und Briefe von August Ludwig Schlözer, Göttingen, vom 20. Dezember 1793 bis 21. Februar 1794, GSA 06/1653.
Bertuch als Kaufmann und Literaturpolitiker
349
Tabelle 3 Leistung
Jahr
Quelle
5
Autor
1740
Goldfriedrich 119
Weidmann
1,6
Autor
1744
Goldfriedrich 119
Weidmann
1,3
Autor
1745
Goldfriedrich 119
2
Autor
1746
Goldfriedrich 118
Empfänger
Verleger
1.
Christian Wolff
Renger
2.
Teller
3.
Bahrdt
4.
Geliert
Wendler
Rtl.
5.
Klopstock
Hemmerde
3
Gedicht
1749
Goldfriedrich 119
6.
Lessing
Reich
2
Übersetzer
1755
Goldfriedrich 120
7.
Wieland
Orell
3,5
Autor
1760
Goldfriedrich 120
8.
Klopstock
Hemmerde
12
Autor
1762
Goldfriedrich 119
9.
Wieland
Reich
8,5
Autor
1769
Goldfriedrich 120
10.
Minderer Autor
Schwickert
3
Autor
1769
Goldfriedrich 122
11.
Besserer Autor
Schwickert
5
Autor
1769
Goldfriedrich 122
12.
Bode
Reich
5
Übersetzer
1770
Goldfriedrich 120
13.
Reinhold Forster
Reich
7
Ubersetzer
1770
Goldfriedrich 120
14.
Autoren
Reich
5
Autor
1770
Goldfriedrich 119
15.
Klopstock
Hemmerde
12
Gedicht
1773
Goldfriedrich 119
16.
Hartmann
Reich
5
Autor
1773
Rosenstrauch 103
17.
Wieland
Reich
16
Autor
1774
Goldfriedrich 121
18.
Autoren
Reich
6
Autor
1775
Goldfriedrich 119
19.
Spitzenautoren
Reich
12
Autor
1775
Goldfriedrich 120
20.
Bürger
Dieterich
20
Gedichte
1775
Goldfriedrich 633
21.
Gelehrte
Reich
6
Autor
1775
Goldfriedrich 119
22.
Jurist
Voß
5
Autor
1777
Goldfriedrich 123
23.
Meiners
Helwing
7,5
Autor
1780
Rosenstrauch 101
24.
Merkur
Bertuch
10
Autor
1782
Kontrakt
25.
Merkur
Bertuch
6
Ubersetzer
1782
Kontrakt
26.
ALZ
Bertuch
20
Rezensent
1784
Schönfuß 7
12,5 Autor
1784
Goldfriedrich 121
27.
Herder
Hartknoch
28.
Merkur
Bertuch
8
Gedicht
1785
an Gleim
29.
Merkur
Bertuch
6
Prosa
1785
an Gleim
30.
Merkur
Bertuch
5
Ubersetzer
1785
an Gleim
31.
Boie
Reich
5
Autor
1785
Rosenstrauch 103
32.
Huber
Wucherer
6
Journal
1785
Goldfriedrich 633
Helga
350
Schultz
Leistung
Jahr
Quelle
6
Übersetzer
1786
Rosenstrauch 105
Bertuch
7
Rezension
1786
Abrechnung
Empfanger
Verleger
33.
Garve
Reich
34.
Archenholz
Rtl.
35.
Halem
Dieterich
5
Gedichte
1787
Goldfriedrich 633
36.
Bertuch
Schwickert
5
Autor
1788
Goldfriedrich 633
37.
Bertuch
Schwickert
6
Autor
1788
Goldfriedrich 633
38.
Jung-Stilling
Decker
5
Autor
1789
Goldfriedrich 633
39.
Blaue Bibliothek
Bertuch
5
Übersetzer
1789
Plan
40.
Hufeland und Co.
Bertuch
3
Journal
1790
Verlagsvertrag
41.
ALZ
Bertuch
15
Rezensent
1790
Schütz an Bertuch
42.
Spitzenautor ALZ
Bertuch
25
Rezensent
1790
Schütz an Bertuch
43.
Blaue Bibliothek
Bertuch
5
Ubersetzer
1791
Abrechnung
44.
Blaue Bibliothek
Bertuch
4
Übersetzer
1791
Abrechnung
45.
Goethe
Unger
20
Autor
1792
Wittmann 165
46.
Goethe
Vîeweg
100
Autor
1796
Wittmann 165
47.
Bertuch
Bertuch
4
Herausgeber
1797
Industriecomptoir
48.
Bertuch
Bertuch
5
Herausgeber
1797
Industriecomptoir
49.
Böttiger
Bertuch
8
Herausgeber
1802
Anschlag Bertuch
50.
Friedrich Schlegel
Wilmans
15
Herausgeber
1803
an Wilmans
51.
Schütz
Bertuch
20
Autor
1805
an Bertuch
52.
Johannes Müller
Bertuch
35
Rezensent
1805
an Bertuch
53.
Johannes Müller
Perthes
20
Autor
1806
an Perthes
54.
Böttiger/Wieland
Bertuch
5
Herausgeber
1808
an Bertuch
55.
Luden
Bertuch
19
Journal
1815
an Bertuch
56.
Johanna Schopenhauer
Bertuch
6
Rezension
1817
Quittung
Tabelle 3: Bogenhonorare nach eigenen Recherchen im Bertuch-Nachlaß, in anderen Verlagsarchiven und aus Angaben in der Literatur, vornehmlich Goldfriedrich.
Christina Killius
Bertuchs Beitrag zur Antiqua-Fraktur Debatte
I
Einleitung
Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde in Deutschland die Frage nach der Verwendung von Fraktur oder Antiqua für nationalsprachige Texte kontrovers diskutiert. Die europäischen Nachbarländer hatten sich nach und nach von der gotischen Schrifttradition gelöst und setzten nahezu sämtliche Druckwerke in Antiqua.1 In Deutschland hingegen verwendete man die Antiqua lediglich für fremdsprachige, lateinische und wissenschaftliche Texte; deutschsprachige Veröffentlichungen wurden in der Fraktur gesetzt. Die Fraktur steht in der Tradition der gotischen Kursivschriften und ist eng mit der Bastarda verwandt. Sie wurde erstmals für Drucke Kaiser Maximilians (1459-1519) verwendet. Als Ausgangspunkt für die Tradition der Frakturschriften wird allerdings erst die wenig später in Nürnberg entwickelte einfachere Form des Schreibmeisters Johann Neudörffer und des Schriftschneiders Hieronymus Andreä angesehen.2 Die Entstehung der Antiqua geht auf eine Schriftentwicklung italienischer Humanisten um 1400 zurück. Sie schufen die sogenannte humanistische Minuskel. Die früheste gedruckte Variante stammt aus
Der bisher detaillierteste Überblick zur Antiqua-Fraktur Debatte findet sich bei Frithjof Lühmann: Buchgestaltung in Deutschland 1770-1800. Phil. Diss. München 1981. Des weiteren: Fritz Funke: Buchkunde. Ein Überblick über die Geschichte der Schrift. 5. Auflage. München (u.a.) 1992, S. 42-43. Werner Doede: Schön schreiben, eine Kunst. Johann Neudörffer und die Kalligraphie des Barock. 2. Auflage, München 1988, S. 12. Vgl. auch meine Dissertation: Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung. Wiesbaden 1999 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft; 7). Georg Kurt Schauer: Schrift und Typographie, in: Buchkunst und Literatur in Deutschland 1750-1850, Bd. 1, hg. von Ernst L. Hauswedell und Christian Voigt. Hamburg 1977, S. 7-57, hier S. 17. Weitere Literatur zur Entwicklungsgeschichte der Fraktur: Albert Kapr: Fraktur. Form und Geschichte der gebrochenen Schriften. Mainz 1993. Ders.: Schriftkunst. Geschichte, Anatomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben. 2. Auflage, Dresden 1976. Otto Mazal: Paläographie und Paläotypie. Zur Geschichte der Schrift im Zeitalter der Inkunabeln. Stuttgart 1984 (Bibliothek des Buchwesens, hg. von Reimar W. Fuchs, Bd. 8). Heinrich Fichtenau: Die Lehrbücher Maximilians I. und die Anfänge der Frakturschrift. Hamburg 1961. Kurt Gschwend: Die „unlesbare" Fraktur, in: Typographische Monatsblätter - Schweizer Grafische Mitteilungen 109 (1990), Nr. 6, S. 9-16. Frantisek Muzika: Die schöne Schrift in der Entwicklung des lateinischen Alphabets. Bd. 1, Hanau/Main 1965. Peter Zahn: Beiträge zur Epigraphik des sechzehnten Jahrhunderts. Die Fraktur auf den Metallinschriften der Friedhöfe St. Johannis und St. Rochus zu Nürnberg. Kallmünz/Opf 1966 (Münchner Historische Studien. Abt. geschichtliche Hilfswissenschaften, Bd. 2, hg. von Peter Acht). Ders.: Nürnberger kalligraphische Fraktur 1493-1513 in Handschriften aus dem Besitz des Kirchenmeisters Sebald Schreyer, in: Grundwissenschaften und Geschichte. Festschrift für Peter Acht. Kallmünz/Opf 1976 (Münchner Historische Studien. Abt. geschichtliche Hilfswissenschaften, Bd. 15, hg. von Waldemar Schlögel, Peter Herde).
352
Christina
Killius
dem Jahr 1465. Die deutschen Drucker Konrad Sweynheym und Arnold Pannartz schnitten sie für eine Ausgabe von Ciceros „De oratore".3 Der Streit um die Verwendung von Antiqua oder Fraktur für deutschsprachige Veröffentlichungen war schon einmal um die Mitte des 18. Jahrhunderts geführt worden. Zu dieser Zeit waren es vor allem einzelne Schriftsteller, die für die Antiqua eintraten, weil sie dadurch unter anderem auf eine bessere Akzeptanz der deutschen Literatur im Ausland hofften.4 Am Ende des 18. Jahrhunderts gewann die Debatte dann eine ganz neue Qualität. Jetzt schalteten sich vor allem Drucker und Verleger in die Diskussion ein. Die Schriftfrage wurde nun vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Reformbestrebung im Bereich des Buchgewerbes gesehen. Dort war man sich der eigenen Rückständigkeit im Vergleich zum Ausland bewußt geworden und wollte sich auf dem Gebiet der Buchherstellung qualitativ in den europäischen Länderkanon eingliedern.5 Im Bereich des Ästhetischen wirkten klassizistische Formideale auf die Kontrahenten. Dabei plädierte man für eine Übereinstimmung von Form und Inhalt der Werke. Bevorzugt wurden klare, einfache Formen; Schnörkel und Ecken charakteristische Merkmale der Fraktur - sollten vermieden werden.6 Vor
3
4
5
6
André Gürtler: Die Entwicklung der frühen Antiqua-Druckschriften, in: Typographische Monatsblätter - Schweizer Grafische Mitteilungen 101 (1982), Nr. 2, S. 4 - 5 , hier S. 4. Zur Entwicklung der humanistischen Minuskel: Klaus Friedland: .Antiqua". Geschichtliches und Kritisches zum Namen unserer Schrift, in: Philobiblon 20 (1976), S. 213-222. Mazal: Paläographie 1984. Frantisek Muzika: Schöne Schrift. Berthold Louis Ulimann: The origin and the development of humanistic script, in: Storia e Letteratura. Racolta di Studi e Testi 79 (1960). Albinia C.A. de la Mare: Humanistic script: The first ten years, in: Fritz Krafft, Dieter Wuttke (Hg): Das Verhältnis der Humanisten zum Buch. Boppard 1977 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Kommission für Humanismusforschung. Mitteilungen IV), S. 8 9 110. Zur weiteren Entwicklung der Antiqua: Muzika: Schöne Schrift, Bd. 2. Mazal: Paläographie 1984. Kapr: Schriftkunst. Hermann Zapf: Zur Stilgeschichte der Druckschriften, in: Imprimatur 10 (1950/1951), S. 83-108. Wolfgang von Ungern-Sternberg: Schriftstelleremanzipation und Buchkultur im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 8 (1976), S. 72-98. Ludwig Sickmann: Klopstock und seine Verleger Hemmerde und Bode. Ein Beispiel zur Druckgeschichte von Klopstocks Werken mit Einschluß der Kopenhagener Ausgabe des „Messias", in: AGB 3 (1961), Sp. 1473-1610. Lühmann: Buchgestaltung, hier vor allem S. 100-109. Zu den Veränderungen in der Buchgestaltung: Irmgard Kräupl: Buchausstattung. Papier. Typographie. Bucheinbände, in: Jörn Göres (Hg.): Lesewuth, Raubdruck und Bücherluxus. Düsseldorf 1977, S. 148-204. Zeitgenössische Stellungnahmen zur Rückständigkeit des deutschen Buchgewerbes: Christian Gottlob Täubel: Orthotypographisches Handbuch. Nachdruck der Ausgabe Halle und Leipzig 1785. Hg. von Martin Boghardt u.a. Pinneberg 1984, S. 233. Johann Ludewig Schwarz: Der Buchdrucker. Erster Theil, vierzigstes Stück. Hamburg 1775, S. 514-524, hier S. 514f. Ders.: Der Buchdrucker. Zweiter Teil. 75. Stück 1775, in: Friedrich Bauer (Hg.): Der Schriftgießer Christian Elias Schurig in Hamburg 1773 und seine Nachfolger. Berlin 1928, S. 29-39, hier besonders S. 36. Johann Friedrich Unger: Etwas über Buchhandel, Buchdruckerey und den Druck außerhalb des Landes, in: G.A.G. Bogeng (Hg.): Berühmte Druckschriften. I. Die Unger-Fraktur. Heidelberg 1922, S. 11-29. A. Plott: Bertuch: Gedanken über den Buchhandel (1774), in: AGB 7 (1967), Sp. 1798-1810. Zu Klassizismus und Ästhetik siehe u.a. Wulf D. v. Lucius: Anmut und Würde. Zur Typographie des Klassizismus in Deutschland, in: Monika Estermann, Michael Knoche (Hg.): Von Göschen bis Rowohlt. Festschrift für Heinz Sarkowski. Wiesbaden 1990, S. 33-63. Schauer: Schrift. Lühmann: Buchgestaltung, hier vor allem S. 145ff. Paul Raabe: Klassi-
Bertuchs Beitrag zur Antiqua-Fraktur
Debatte
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diesem Hintergrand kristallisierten sich innerhalb der Schriftdebatte zwei kontroverse Positionen heraus. Die einen wünschten die Verwendung der Antiqua wegen ihrer klaren, einfachen Formen, die gut mit den klassizistischen Gestaltungsvorstellungen harmonierten. Die anderen plädierten für die Beibehaltung der Fraktur, die von vielen als typisch deutsche Schrifttype empfunden wurde. Allerdings gab es am Ende des 18. Jahrhunderts auch in den Kreisen der Frakturbefiirworter Stimmen, die die gebrochene Schrifttype reformieren wollten.7 Innerhalb der Diskussion über die Verwendung von Antiqua- oder Frakturtypen für deutschsprachige Veröffentlichungen nahm Friedrich Johann Justin Bertuch eine wichtige Rolle ein. Der einflußreiche Verleger konnte durch die hohe Auflagenzahl seiner Verlagswerke, in denen er seine Stellungnahmen zur Schriftfrage veröffentlichte, einen bedeutenden Beitrag zur Meinungsbildung in der literarischen Öffentlichkeit leisten. Bertuch plädierte zwar für einen langsamen Übergang zu einer allgemeinen Verwendung der Antiqua, ließ sich aber bei der konkreten Gestaltung seiner Verlagsprodukte von Publikumswünschen und praktisch-wirtschaftlichen Gesichtspunkten leiten.
II Die theoretischen Überlegungen Bertuchs zur Schriftfrage Der Verleger Bertuch war ein Exponent des aufstrebenden Bürgertums im 18. Jahrhundert. Ganz den Ideen der Aufklärung verpflichtet, behielt er die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands auf der Grundlage eines durch pädagogische Schulung verbesserten Handwerks im Auge. Er proklamierte die Besinnung auf eigene nationale Werte und Fertigkeiten und bemängelte die Rückständigkeit der deutschen Wirtschaft. Bei der Analyse der Stellungnahmen Bertuchs im Schriftstreit und der praktischen typographischen Ausführung in seinem Verlagswerk müssen immer der kaufmännisch geschulte Geist des Verlegers und seine wirtschaftlichen Ziele mit einbezogen werden. Bertuch war grundsätzlich ein Befürworter der Antiquatype, die er aus ästhetischen Gründen der Fraktur vorzog. Bereits im „Vorbericht der Unternehmer" in der ersten Ausgabe der ALZ von 1785, die in Antiqua gesetzt war, hatten er und seine Mitherausgeber sich ausdrücklich für die lateinische Schrift ausgesprochen. Die beiden Schriftgattungen wurden im Vergleich einander gegenübergestellt: Oder sollte wohl noch jemand glauben, daß unsere eckichten und höckerichten deutschen Buchstaben schöner aussähen, als die runde und simple lateinische Schrift? 8
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zistische Typographie in Europa, in: Gutenberg. 550 Jahre Buchdruck in Europa. Weinheim 1990. (Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek; 62), S. 124-129. Ernst Crous: Campe-Fraktur. Der Einsiedler von Warkworth. Ein Beitrag zur Geschichte der Schriftreform und Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Berlin 1925. Die erste Probe Didotscher Lettern aus der Schriftgießerei J.G.L. Prillwitz zu Jena. Hg. von Ernst Crous. Berlin 1926. G.A.E. Bogeng (Hg.): Berühmte Druckschriften. I. Die Unger-Fraktur. Friedrich Justin Bertuch u.a.: Vorbericht der Societät der Unternehmer der ALZ, in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1785. Erster Band, S. 1-3, hier S. 3.
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Es waren ästhetische Aspekte, die die Herausgeber der ALZ für die Antiqua einnahmen. Darüber hinaus erfüllte die „simple" lateinische Schrifttype wohl auch die Forderungen nach Klarheit und Zweckmäßigkeit der Form in einer zunehmend rationaleren, aufgeklärten Welt. Im November 1793 veröffentlichte Bertuch im „Journal des Luxus und der Moden" seinen ersten größeren programmatischen Aufsatz zur Schriftfrage: „Über den typographischen Luxus mit Hinsicht auf die neue Ausgabe von Wielands Sämmtlichen Werken".9 Er war von dem Leipziger Verleger der Werke Wielands, Georg Joachim Göschen, gebeten worden, eine Art Werbeschrift für das geplante Verlagsprojekt, das in Antiqua herausgegeben werden sollte, zu verfassen: Ihnen hat Gott die Gabe verliehen auf das Publikum zu wirken. [...] so würde ich Sie bitten dieses außerordentliche Unternehmen durch eine außerordentliche Schrift zu unterstützen und in das Modejournal einen besonderen Aufsatz über dieses Werk einzurücken. In der That ist es eine Sache der Nation daß das Unternehmen mit gutem Erfolg ausgeführt wird. Dieser Erfolg wird ein Maßstab für die Nachwelt sein wie das Zeitalter seine großen Schriftsteller geschätzt hat, ein Beleg ob die deutsche Nation große Unternehmungen zu unterstützen geneigt war oder ob sie es nicht werth war das etwas der Art geschah. In England würde die Sache keine Schwierigkeiten finden, ob in Deutschland? Das wird der Erfolg lehren. Doch, ich habe Muth zu behaupten, daß es uns bey unsem Landsleuten auf einen glücklichen Stoß ankommt der sie elektrisiert. Deshalb bitt ich denn auch Sie Sich unser anzunehmen und uns einen solchen Funken auf eine geschickte Weise beyzubringen der die Hand in die Beutel treibt und die Begüterten ehrgeitzig genug macht ihren Namen als Beförderer von den Künsten und Wissenschaften vorgedruckt zu sehen.10
Göschen äußerte unmißverständlich seine Beweggründe für die Herausgabe der Werke Wielands. Er wollte die Besonderheit der Veröffentlichungen „großer Schriftsteller" auch durch eine herausragende typographische Gestaltung hervorheben. Dabei hoffte er auf das Interesse zahlungskräftiger Kunden, die eine solche nationale Unternehmung aus Ehrgeiz mit ihrer Pränumeration unterstützen könnten. Im Vergleich zu England sei diese Absicht zwar mühsam zu verwirklichen, jedoch nicht unmöglich, wenn nur durch eine geschickte Werbestrategie das Interesse des Lesepublikums geweckt werden würde. Die Werke Wielands sollten in Antiqua herausgegeben werden. Mit der ausdrücklichen Absicht des Verlegers, einem herausragenden Werk eine adäquate äußere Gestalt zu verleihen, avancierte die lateinische Schrifttype zum typographischen Gestaltungsmittel kostbarer Veröffentlichungen und konnte so per se keine große Verbreitung finden. Göschen hatte sich im Bewußtsein der Bekanntheit des Weimarer Verlegers und der hohen Auflagenzahl des Modejournals an Bertuch gewandt. Er wußte, daß er für den Plan, das Gesamtwerk Wielands in typographisch hochwertiger Ausführung und lateinischer Schrifttype herauszugeben, die größtmögliche Unterstützung brauchte. Angeregt durch die Bitte Göschens um eine größere 9
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Bertuch: Über den typographischen Luxus mit Hinsicht auf die neue Ausgabe von Wielands Sämmtlichen Werken. 1793, in: Richard von Sichowsky, Hermann Tiemann (Hg.): Typographie und Bibliophilie. Hamburg 1971, S. 30-35. Göschen an Bertuch, 29. Oktober 1793, Brief Nr. 161, GSA 06/627. Teilabdruck in: George J. Viscount Goschen: Das Leben Georg Joachim Göschens. Band 2. Leipzig 1905, S. 57.
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Abhandlung zu dessen geplantem Verlagsprojekt, verfaßte Bertuch eine ausführliche Stellungnahme über die nationale Bedeutung von Luxusdrucken, die Verwendung von Fraktur oder Antiqua für derartige Veröffentlichungen und den Zustand des deutschen Buchgewerbes: Ich halte es für eine glückliche Erscheinung bey einer Nation, wenn sie den Druck ihrer Bücher verschönert, ja selbst wenn sie in gewissen Stücken, und bey gewissen Werken, die als Beweise und ehrende Denkmale ihrer höheren Cultur in Künsten und Wissenschaften auftreten sollen, in typographischen Luxus übergeht. 11
Eindeutig befürwortete Bertuch eine besonders sorgfältige Ausstattung inhaltlich bedeutender Werke und vertrat damit das klassizistische Ideal der Übereinstimmung von Inhalt und äußerer Form einer Veröffentlichung. Ganz dem aufklärerischen Gedankengut verpflichtet, begrüßte der Verleger einen Fortschritt in Wissenschaft, Kunst und Wohlstand der Gesellschaft. Er sah in der Herausgabe von typographisch sorgfältig gestalteten Luxusausgaben der besten Schriftsteller einer Nation einen Indikator für ihre fortschreitende Entwicklung. Der Gedanke, Werke, deren Inhalt als besonders wertvoll erachtet wurde, auch durch ihre Ausstattung von anderen Druckwerken zu unterscheiden und kenntlich zu machen, knüpfte an die Überlegungen einzelner Schriftsteller aus der Mitte des Jahrhunderts an. Man hatte der deutschsprachigen Literatur im Ausland zu mehr Ansehen verhelfen wollen und versucht, gerade mit der Antiquatype den Werken ein einheitliches Aussehen zu verleihen. Während Bertuch dieser Tendenz positiv gegenüberstand, verurteilte er scharf, jede Veröffentlichung derart sorgfältig auszustatten: Freylich hat auch dieß seine Gränzen, und so allgemein auch typographischer guter Geschmack und Sauberkeit als wesentliche Stücke in allen Druckereyen eingeführt seyn sollten, so wenig darf dieser doch bey Büchern des täglichen Bedürfnisses, und bey jedem fliegenden Blatte in einen unnötigen Luxus ausarten, der gemeinnützige Werke mit Unrecht vertheuert, den Geist der Nation verwöhnt, und ihn verführt, den ganzen Werth eines Buches in geglättet Velin- oder Schweizer-Papier, Didotsche Lettern und Kupfer von Chodowiecky oder Lips zu setzen; wodurch jetzt mehrere teutsche Buchhändler manchem höchst mittelmäßigem Werke eine Folie unterzulegen glauben, und gerade dadurch beweisen, daß sie ihr Handwerk schlecht verstehen. 12
Der Weimarer Verleger nannte die Verwendung der Antiqua in Verbindung mit einer gleichzeitig sorgfaltigen und teuren Ausstattung der Werke. Die Antiqua erhielt somit eine Aura des Besonderen, einsetzbar ausschließlich als typographisches Gestaltungsmittel „außergewöhnlicher" Veröffentlichungen. Bertuch verurteilte es, die lateinische Schrift für weniger anspruchsvolle Werke zu verwenden, entstünde doch dadurch ein Mißverhältnis zwischen der äußeren Form und dem inneren Gehalt. Gleichzeitig kritisierte der Verleger eine durch die Verwendung der Schrift eintretende Verteuerung „gemeinnütziger Werke". Dieser Kritikpunkt Bertuchs entbehrte jedoch der Grundlage, da trotz ansteigender Verwendung der Antiqua für deutschsprachige Veröffentlichungen die überwältigende Mehrheit der Publikationen in Fraktur gesetzt wurde. Gerade 11 12
Bertuch: Luxus, in: Typographie (Anm. 9), S. 30. Ebenda.
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die Aufklärungsliteratur erschien ausschließlich in der für den Großteil der Bevölkerung gewohnten gebrochenen Schrifttype.13 Seine Kritik noch verschärfend, wies Bertuch an anderer Stelle der Abhandlung noch einmal auf den vermeintlich übermäßigen Einsatz der Antiqua für deutschsprachige Veröffentlichungen hin: Jeder neugebohme Dichterling, Romanschreiber und Kalendermacher wollte nun auf geglättet Schweizer-Papier, mit Didotschen Lettern, Kupfern und Vignetten gedruckt, und in Marroquin gebunden seyn; und so paradirten oft die schaalsten Producte im schönsten Gewände. Dieß ist ein Mißbrauch, der die Kunst herabwürdiget, und den die Kritik immer züchtigen sollte. Unsern klassischen Schriftstellern, deren Werke Jahrhunderte dauern werden, und auf deren, auch bey andern Nationen Europens allgemein anerkannten Werth Teutschland mit Recht stolz seyn darf, gebührt vor andern diese Ehre. 1 4
Bertuch bezog sich hier besonders auf die gegen Ende des 18. Jahrhunderts weit verbreiteten und in hohen Auflagen erscheinenden Kalender und Almanache. In diesen Publikationen, von denen einige in Antiqua herausgegeben wurden, fanden sich natürlich auch Beiträge minderer Qualität.15 Abgesehen von der Frage nach der Verwendung von Antiqua oder Fraktur, war es der Tenor der Zeit, Werke, deren Wert als überzeitlich angesehen wurde, in einer außergewöhnlichen, guten Ausstattung herauszubringen. Carl Ludwig von Knebel hatte die Übersetzung von Lukrez' „De rerum natura" beendet, weigerte sich aber, diese Ausgabe bei Cotta erscheinen zu lassen. Er glaubte, der Tübinger Verleger lege zu wenig Wert auf einen sorgfaltigen Druck. Knebels Freund Griesbach schrieb darüber: „Aber Knebel ist des Glaubens, ein alter herrlicher Klassiker dürfe nicht in einem schmutzigen Kittel vor dem Publikum producili werden, sondern so gekleidet, daß er sich selbst, wenn er wieder erstünde, mit Wohlgefallen beschauen könne."16 Ein Brief des Leipziger Verlegers Göschen an den Professor Karl Simon Morgenstern verdeutlicht einmal mehr, wie sehr man typographische Gestaltung in Zusammenhang mit dem inneren Wert der Veröffentlichung sah. Morgenstern wollte seine Festrede über den klassischen Altertumsforscher Winckelmann, die er am 12./24. Dezember 1803 am Geburtstag des Zaren gehalten hatte, gedruckt wissen. Göschen fragte Morgenstern, ob er lateinische oder deutsche Lettern bevorzuge und in welchem Format er die Rede herausgeben solle. Schließlich erschien die Veröffentlichung in sorgfältiger Gestaltung in der Prillwitz-Antiqua. Der Verleger schrieb dazu an
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Reinhart Siegert: Aufklärung und Volkslektüre, in: AGB 19 (1978), Sp. 565-1348, hier Sp. 611. Von Lucius: Anmut, S. 33, gibt an, daß zu dieser Zeit 90-95% aller Druckwerke in Deutschland in Fraktur gesetzt waren. Bertuch nutzte hier eventuell das Mittel der Übertreibung, um vor einer möglichen Entwicklung dieser Art zu warnen. Vgl. zum Thema Aufklärungsliteratur: Lühmann: Buchgestaltung, S. 254-267, Siegert: Aufklärung. Walter Hartmann: Bauernliteratur der Aufklärung, in: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Verlorene Klassik? Tübingen 1986, S. 152-166. Bertuch: Luxus, in: Typographie (Anm. 9), S. 33. Zu Kalendern und Almanachen vgl. York-Gothart Mix (Hg.): Kalender? Ey, wie viel Kalender! Hannover 1986 (Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek; 50). Brief Griesbachs vom 27. Oktober 1808, in: Johann Goldfiriedrich (Hg.): Aus den Briefen der Göschensammlung des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler zu Leipzig. Leipzig 1918, S. 70.
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Morgenstern: „Ich wünsche, daß der Druck und das Äusere der Schrift Ihnen beweisen möge, wie hoch ich den neuren Werth derselben schätze."17 Bei der Bewertung von Bertuchs Argumentationsünie darf nicht vergessen werden, daß der Verleger in erster Linie eine Werbeschrift für die Herausgabe der Werke Wielands verfaßt hatte. Dabei legte er Wert darauf, einem potentiellen, finanziell liquiden Käuferkreis die inhaltliche und gestalterische Besonderheit des geplanten Verlagsunternehmens vor Augen zu führen. Um das Kaufinteresse des begüterten Lesepublikums zu wecken, sprach Bertuch auch die nationale Dimension eines derartigen Unternehmens an. Wielands Werke sollten der Beginn einer „National-Bibliothek" werden, in der nur herausragende Autoren erscheinen sollten, die der Nation zur Ehre gereichen konnten. Demgegenüber verurteilte Bertuch den in England und Frankreich herrschenden vermeintlichen ,3ücherluxus": Mochte es doch sonst in Frankreich, und mag es jetzt noch in England bloß Ton der großen Welt und Mode seyn, prächtige Ausgaben im Bücherschrank zu haben; bey uns sey es nicht bloß blinde Mode, sondern raisonnirtes Prinzip, schöne Ausgaben unserer Klassiker und großen Männer, und zwar wenn sie ihr Werk vollendet haben, sie uns diesselbe von letzter Hand geben, und diesen also keine Veränderung mehr droht (denn außerdem wäre es Mißbrauch unserer Beutel) zu sammeln, uns dadurch selbst bey unsern Zeitgenossen und der Nachwelt zu ehren, und dadurch unsern stolzen Nachbarn, bey denen der typographische Luxus oft bloße Ostentation ohne Sinn ist, eine Reihe besser verstandener National-Monumente entgegenzusetzen, für denen sie bey all ihrem National-Stolze doch Respekt haben müssen.18
Bertuch mußte eine allgemeinere Verwendung der Antiqua und eine sorgfältigere typographische Gestaltung der Bücher in diesem Zusammenhang verurteilen, um die Besonderheit des geplanten Unternehmens herauszustellen. Das Lesepublikum sollte das Bewußtsein haben, ein außergewöhnliches abgeschlossenes Werk eines international anerkannten Schriftstellers in typographisch herausragender Ausstattung zu erwerben, dessen Veröffentlichung für das Ansehen Deutschlands in Europa von äußerster Wichtigkeit sei. Bertuch begrüßte in seiner Abhandlung von 1793 die Reformen, die im Bereich des Druckgewerbes in Deutschland stattgefunden hatten. Angeregt durch Baskerville in England, den Spanier Ibarra, Didot und Fournier sowie andere Drucker und Schriftkünstler, darunter auch den Verleger Breitkopf aus Leipzig, bemühe man sich nun um bessere Schriftschnitte und eine sorgfältigere typographische Ausgestaltung der Druckwerke.19 Hatte der Verleger bereits den positiven Einfluß des europäischen Auslands auf die deutsche Druckkunst hervorgehoben, wies er im Verlauf seiner Abhandlung noch einmal ausdrücklich auf die, gemessen an deutschen Verhältnissen, zahlreichen Luxusausgaben in England und Frankreich hin.20 Bertuch kritisierte die vermeintlich übertrieben hohe 17
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Zitiert nach Stephan Füssel: „Ich versage mir jetzt das Vergnügen, Ihr Verleger zu sein ..." Der Briefwechsel zwischen Georg Joachim Göschen und Karl Simon Morgenstern, in: Von Göschen bis Rowohlt, S. 1-32, hier S. 10. Bertuch: Luxus, in: Typographie (Anm. 9), S. 33. Ebenda, S. 30f. Ebenda, S. 31. Wobei Bertuch betonte, daß in Frankreich durch die Revolution derartige Veröffentlichungen zurückgegangen seien.
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Zahl dieser sorgfältig gestalteten Veröffentlichungen als „ungeheure Verschwendung". Als Beispiel nannte er eine von Hawkesworths ins Englische übersetzte ,,Télémaque"-Ausgabe, die in London herausgegeben worden war und in aufwendiger typographischer Gestaltung erschien: Ich muß bekennen, bey einer Nation, wo ein Buchhändler noch solch eine Unternehmung mit einer neuen Ausgabe einer bloßen Uebersetzung des Telemach, den doch gewiß jeder Mensch von Geschmack lieber in Fénelons schönem Originale liest, und schon als Kind gelesen hat, wagen darf, ohne zu fürchten sein Capital zu verliehren, muß es leicht seyn, Enterprisen für typographischen Luxus zu machen.21
Ein Hauch von Bedauern schwingt in dieser Aussage des Weimarer Verlegers mit. Zwar übte er Kritik an den Luxusausgaben, betonte aber auch die besseren Absatzmöglichkeiten solcher Werke im Ausland durch ein interessiertes, zahlungskräftiges Publikum.22 Bertuch appellierte erneut an den Stolz des Lesepublikums, nicht hinter dem Ausland zurückzubleiben und ein solches Unternehmen nationalen Belangs zu unterstützen. Der Weimarer Verleger versuchte, Gründe für das Zurückbleiben Deutschlands auf dem Gebiet der Druckkunst gemessen an den anderen europäischen Nationen zu finden: Teutschland, das für alle großen Unternehmungen des National-Gemein-Geistes überhaupt kältere, mehr ökonomisierende, durch seyn Privat-Interesse mehr getheilte, auch vielleicht wegen seines Nachdruckergezüchts [...] furchtsamere Teutschland folgt seinen Nachbarn, England und Frankreich, im typographischen Luxus nur langsam und schüchtern nach [...].23
Als wichtigstes Hindernis für die Herausgabe von Luxusausgaben führte Bertuch aber die Verwendung der Fraktur für deutschsprachige Werke an. „Mit dieser war und ist nicht an ein Meisterstück typographischer Schönheit zu denken, ohngeachtet Breitkopf und Haas aus ihr, noch was möglich war, gemacht hatten."24 Man habe, so Bertuch, mit dem Druck einer Prachtausgabe in lateinischen Lettern so lange warten müssen, bis das deutsche Publikum sich durch kleinere Publikationen an die ungewohnte Schrifttype gewöhnen konnte und schließlich mit einem schön gedruckten Buch nur die Antiqua Baskervilles, Didots oder Bodonis verband. Bertuch brachte typographisch vollendete Drucke in einen unauflöslichen Zusammenhang mit der Antiqua. Nur diese Schrift galt für ihn als typographisches Gestaltungsmittel für qualitativ herausragende Veröffentlichungen. Die Fraktur, die er als „eckigte schnörckelreiche Mönchsschrift" bezeichnete, könne auch nach möglichen Reformversuchen die Schönheit der Antiqua nicht erreichen. Der Weimarer Verleger erwähnte lobend die Versuche Johann Friedrich Ungers, die Didot-Antiqua für deutschsprachige Veröffentlichungen zu verwenden.25 Außerdem wies er auf andere in Antiqua erschienene Drucke, unter 21 22
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Ebenda, S. 32. Auch Göschen hatte in seiner Bitte um eine Werbeschrift Bertuchs darauf hingewiesen, daß das von ihm geplante Unternehmen in England bestimmt Erfolg haben würde. Bertuch: Luxus, in: Typographie (Anm. 9), S. 32. Ebenda. Zu den Bemühungen Ungers um die Einfuhrgenehmigung für die Didot-Antiqua siehe: Ernst Crous: Die Schriftgießereien in Berlin von Thurneysser bis Unger. Berlin 1928, hier vor allem S. 69-84. Das erste größere Werk Ungers in Didot-Antiqua: Johann Wolfgang Goethe:
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anderem das von ihm selbst seit 1785 herausgegebene ,3ilderbuch für Kinder" hin. Durch diese Publikationen sollte das Lesepublikum allmählich an die Antiqua gewöhnt werden. Noch einmal bekräftigte Bertuch jedoch, daß die Anzahl der Antiquadrucke begrenzt bleiben sollte. Dessen ungeachtet verwies er in einer Fußnote darauf, daß er das von ihm herausgegebene Bilderbuch in lateinischer Schrifttype setzen ließ, um dadurch „die Abschaffung der teutschen Lettern durch die Kinderstube am sichersten befördern zu helfen". Noch niemand habe sich bei ihm deswegen beschwert.26 Bertuch beschrieb die gelungene Gestaltung der Werke Wielands und hob die Besonderheit von Form und Inhalt dieses Verlagsunternehmens hervor. Der Verleger wies zudem darauf hin, daß er in der folgenden Ausgabe des .Journal des Luxus und der Moden" eine ausführliche Stellungnahme zur Schriftfrage verfassen wolle. Die zweite große Abhandlung des Weimarer Verlegers zur Schriftfrage erschien schließlich im darauffolgenden Heft der Modezeitschrift.27 Johann Friedrich Unger aus Berlin hatte ihm seine „Probe einer neuen Art deutscher Lettern" zugesandt und Bertuch um eine Stellungnahme gebeten.28 Dies zeigt erneut, wie hoch der Einfluß des Weimarer Verlegers auf das Publikum eingeschätzt wurde. Ausdrücklicher als in seiner ersten Abhandlung trat Bertuch nun für eine allgemeine Einführung der Antiqua für deutschsprachige Veröffentlichungen ein. Er sah dies als Notwendigkeit für Deutschland an, um sich in den europäischen Länderkanon einordnen zu können, billigte dieser Entwicklung aber eine Dauer von 30 bis 40 Jahren zu.29 Den angestrebten langsamen Schrifttypenwechsel begründete Bertuch damit, daß die Druckereien noch zu viel Frakturschriften auf Lager hielten, die bei einem schnellen Übergang zu einer allgemeinen Verwendung der Antiqua unbrauchbar werden würden. Außerdem müsse man Rücksicht auf die Lesegewohnheiten des Volks nehmen, das sich nicht so schnell auf eine neue Schrift einstellen könne. Auch in den Ländern, in denen man die Antiqua überwiegend verwende, habe man zumindest bei Volksbüchern noch lange an der gebrochenen Schrifttype festgehalten.30 Bertuch leitete seine Begründung für den Übergang zur Verwendung der Antiqua auch in Deutschland von dem gemeinsamen Ursprung beider Schriftgattungen ab. Die „Mönchsschrift"31 sei keine originär deutsche Schrift und könne aus diesem Grund gegen die
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Das Römische Carneval. Rudolstadt 1993. (Faksimiledruck der Ausgabe Berlin: Unger 1789). Dazu: „Untadeliche Schönheit". Kommentarband zum Rudolstädter Faksimile von Goethe „Das Römische Karneval". Hg. von Michael Schütterle. Rudolstadt 1993. Zur Diskussion um die Nachschnitte der Didot-Antiqua vgl. Lühmann: Buchgestaltung, S. 156-162. Gustav Bohadti: Die Walbaum-Schriften und ihre Vorläufer. Berlin und Stuttgart 1960, S. 38-66. Bertuch: Luxus, in: Typographie (Anm. 9), S. 32 und S. 35, Fußnote 5. Bertuch: Mein Votum über lateinische und teutsche Lettern, als typographische Mode betrachtet, in: Gustav Bohadti: Friedrich Johann Justin Bertuch. Berlin und Stuttgart, S. 135-146. Johann Friedrich Unger strebte eine Reform der Fraktur im Sinne klassizistischer Formvorstellungen an. Bertuch: Mein Votum (Anm. 27), S. 135. Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 138. Bertuch bezeichnete die Fraktur als Mönchsschrift, da er ihren Ursprung in den Handschriften der Klöster sah.
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lateinische Type ausgetauscht werden.32 In Deutschland habe man die gebrochene Schrifttype nur so lange beibehalten, weil sie zu Beginn des 16. Jahrhunderts verbessert worden war. Das europäische Ausland hingegen hätte sich direkt von der „häßlichen Mönchsschrift" zugunsten der Antiqua Garamonds abgewandt.33 Bertuch beklagte den Verfall der Druckkunst im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Erst um die Jahrhundertmitte sei es zu Reformen des Druckwesens gekommen: In der Mitte des Jahrhunderts stieg aus den Trümmern der schönen Aldinischen, Garamondschen, Stephanischen, Plantinischen, Frobenschen, Oporinschen, Rafflenghschen, Elzevirschen und Sheldonschen Ausgaben gleichsam ein neuer Geist in den europäischen Druckereien auf, und Baskerville in England, Fournier und Didot in Frankreich, Ibarra in Spanien und Bodoni in Italien, fiengen fast zu gleicher Zeit an in allen diesen Ländern den gesunkenen typographischen Geschmack zu verbessern; indessen auch Haas in Basel und Breitkopf in Leipzig nochmals versuchten unsern teutschen Lettern ihre Schnörkel wegzuschneiden, und ihnen möglichste Simplizität zu geben, deren sie ihrem Wesen nach fähig ist. 34
Der Weimarer Verleger verwies auf den Vorbildcharakter des Auslands für die Reform typographischer Gestaltungsprinzipien in Deutschland. Er erkannte klar, daß die durch Breitkopf und Haas in ihrer Form veränderte Fraktur Teil einer neuen Gesamtkonzeption in der Buchkunst war. „Simplizität", Einfachheit und klare Formen, waren Ausdruck einer sich verändernden, der Aufklärung verpflichteten Welt. Die Verzierungen der gebrochenen Schrift, die Schnörkel, waren entbehrlich, sogar störend geworden. Bertuch billigte der Fraktur aber lediglich eine bedingte Möglichkeit zur Veränderung zu. Er sprach von ihrem „Wesen", das nur bis zu einem gewissen Grade vereinfacht werden könne, weshalb Bertuch gerade den Reformversuch der Fraktur durch den Berliner Verleger Johann Friedrich Unger heftig kritisierte.35 Bertuch trat jetzt für die allgemeine Verwendung der Antiqua ein, weil er sie nicht als eine ausschließlich deutsche Schöpfung ansah, sondern vielmehr den europäischen Ursprung der Schrifttype betonte. Außerdem gab er der Antiqua den ästhetischen Vorrang vor der Fraktur. Die Übernahme der lateinischen Schrifttype in Deutschland knüpfte der Weimarer Verleger jedoch an einige Bedingungen hinsichtlich der guten Lesbarkeit deutschsprachiger, in Antiqua gesetzter Texte. Die Lesehemmnisse verschwänden ganz, wenn man 1) in den mit lateinischen Lettern gedruckten Büchern ebenso größere Anfangsbuchstaben oder Versalien braucht, als bey teutschen, und überhaupt die lateinische Schrift, in Rücksicht unserer Diphtonge, Doppel-Vokalen und dergleichen, völlig auf teutsche Sprache eingerichtet, wie die Schriftgießer jetzt schon thun; und 2) wenn man nicht jedes Pamphlet luxuriös prächtig druckt, und bey guten Werken das Papier nicht bis zum Glänze glättet, sondern nur sanft preßt. 36 32
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Bertuch leitete die beiden Schriftgattungen aus dem gotischen Alphabet des Bischofs Ulfilas ab. Er entwickelte einen Abriß der Schriftgeschichte auf der Grundlage des damaligen Wissensstands. Bertuch: Mein Votum (Anm. 27), S. 141. Ebenda. Ebenda, S. 142. Ebenda, S. 144.
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Das nahezu wichtigste, immer wiederkehrende Argument der Frakturbefürworter, daß die deutsche Sprache nur mit der gebrochenen Schrift adäquat wiedergegeben werden könne, entkräftete der Verleger mit dem Hinweis, die Antiqua auf deutsche Sprachbesonderheiten einzurichten. Abschließend betonte Bertuch noch einmal die Notwendigkeit eines langsamen Übergangs zu einer allgemeinen Verwendung der Antiqua: Dies zu bewiirken, gehe man langsam, aber nach einem bestimmten Plane fort, und drucke nur wissenschaftliche Werke, oder unsre klassischen Schriftsteller, von letzter Hand, mit lateinischen, populäre Bücher, Volksschriften, Gesetze, politische Zeitungen u.s.w. aber noch lange hin mit teutschen Lettern.37
In den Volksschulen solle man die Kinder lehren, auch die deutsche Sprache in lateinischer Schrift zu lesen und zu schreiben. Diese Maßnahmen würden nach und nach zu einer Gewöhnung an die Antiqua führen. Erst dann könne man sie auch allgemein verwenden. Für die Druckereien wäre diese Entwicklung eine große Entlastung und Erleichterung.38 Bertuch wies auf den Vorteil der Verwendung von nur einer Schriftgattung für deutschsprachige Texte und fremdsprachige Veröffentlichungen hin. Ohne Zweifel verringerten sich die Lagerkosten, und es würde eine Vereinfachung der Arbeitsgänge mit sich bringen. Der Schrifttypenwechsel innerhalb eines Satzes entfiele, und man müßte bei der Antiqua als Auszeichnung lediglich auf deren Kursive zurückgreifen. Trat Bertuch auch für einen Wandel ein und betonte die langfristigen Vorteile für das Drukkergewerbe, so erkannte er doch, daß es kurzfristig zu Schwierigkeiten bei einem abrupten Wechsel der Schrifttype käme. Die Druckereien hätten viel Kapital in die Fraktur investiert und hielten sie am Lager, bei einem schnellen Übergang zur Antiqua entstünde ein finanzieller Verlust, weil die gebrochene Schrift nicht mehr angewendet werden würde. Der Verleger ging kein Risiko ein. Lediglich wissenschaftliche Werke oder Veröffentlichungen herausragender Schriftsteller sollten in Antiqua gesetzt werden. Die Herausgabe von belletristischen Antiquadrucken schränkte Bertuch zudem noch ein, sollten doch nur Gesamtausgaben oder Werke „letzter Hand" in dieser Form erscheinen. Die Antiqua als typographisches Gestaltungsmittel außergewöhnlicher, vollendeter und abgeschlossener literarischer Veröffentlichungen wurde somit von Bertuch zur Schrifttype von Luxusausgaben stilisiert. Ganz ausdrücklich sprach er sich für das klassizistische Ideal der Entsprechung von Form und Inhalt aus. Wissenschaftliche Veröffentlichungen wurden auch in Deutschland teilweise in Antiqua gesetzt. Insofern konnte mit der Verwendung der lateinischen Schrifttype für diese Drucke keine gravierende Veränderung der Lesegewohnheiten herbeigeführt werden. Wissenschaftler und Gelehrte waren durchaus in der Lage, die lateinische Schrift zu lesen, bei einem Teil des Käuferkreises der teuren Ausgaben „letzter Hand" ist anzunehmen, daß die Antiqua dieser Klientel zumindest nicht ganz fremd war. Sämtliche Drucke mit größerer Verbreitung, darunter interessanterweise auch die politischen Zeitungen, wollte Bertuch in Fraktur gesetzt wissen. Dem „Volk", nicht an die Antiqua gewöhnt, sollte also der Zugang zu wichtigen Informationen nicht entzogen werden. Die einzige Möglichkeit, die 37 38
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Antiqua allgemein einzuführen, sah Bertuch darin, bereits Kinder mit der lateinischen Schrifttype vertraut zu machen. Eine Möglichkeit, die durchaus Probleme mit sich brachte. Die zeitgenössische Schulausbildung, gerade auf dem Land, war äußerst dürftig. Viele Kinder konnten nach dem Besuch der Schule nur rudimentär lesen und schreiben. Dazu kam noch, daß die Lehrer dieser ländlichen Schulen wahrscheinlich selbst auch nicht die lateinische Schrift lesen konnten.39 Der Verleger Bertuch beachtete bei seiner Stellungnahme zur Schriftfrage besonders den wirtschaftlichen Aspekt eines Schrifttypenwechsels. Die Vorschläge zu einer langsamen Einführung der Antiqua waren durchaus wohlmeinend, aber wie bereits angedeutet, wenig effektiv.
III Die Verwendung von Antiqua und Fraktur in Bertuchs Verlagspraxis Die „Allgemeine Literatur-Zeitung" Seine theoretischen Überlegungen zur Schriftfrage setzte Bertuch recht konsequent in die Praxis der Verlagsarbeit um. Der weitaus größte Teil seiner Druckwerke erschien in der einem breiten Lesepublikum gewohnten Fraktur. Gemäß seiner pädagogischen Absicht, bereits Kinder an die Antiqua zu gewöhnen, ließ er sein ,3ilderbuch für Kinder" in der lateinischen Schrifttype setzen. Die „Allgemeine Literatur-Zeitung" (Jena), ein Rezensionsorgan für das gebildete Lesepublikum, erschien ebenfalls in Antiqua, während das populäre, weit verbreitete Modemagazin „Journal des Luxus und der Moden" oft sehr unsorgfältig in der gewöhnlichen gebrochenen Schrifttype gedruckt erschien. Die Herausgeber der ALZ, Bertuch, Wieland und Schütz, planten gemeinschaftlich die Gestaltung der Zeitung, die 1785 erstmals erschien.40 Im „Plan einer Universal Litteratur Zeitung" wurde die äußere Form der ALZ genau festgelegt: „Alle Tage erscheint 1, die sonntage ausgenommen, also wöchentlich und jährlich 387 Stücke auf 1/2 Median Quart Bogen, mit gespaltenen Kolumnen und lateinischer Petit Schrift, ohngefähr in Form des Journal de Paris".41 Direkt bezogen sich die Herausgeber auf ein bereits existierendes französisches Vorbild. Sie orientierten sich an ausländischen Druckerzeugnissen, da sie eine internationale Ausrichtung des Rezensionsorgans anstrebten. Selbst die äußere Form der Ankündigungen der ALZ wurde bis ins kleinste Detail besprochen und genau dem Erscheinungsbild der Zeitung in Format, Papier, Schrifttype und Satzaufteilung angepaßt.42 Die Bekanntmachung für das ab 1787 erscheinende Intelligenzblatt der ALZ war in ihrer äußeren Gestalt ebenfalls identisch mit der 39 40
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Zur Lesefahigkeit siehe die in Anmerkung 13 genannte Literatur. Vol. I. Acta Secreta die Allg. Litterat. Zeitung betreffend (1784-1787): Unterlagen und Aufzeichnungen über die Gründung und drucktechnische Gestaltung der ALZ (GSA 06/5477). Ebenda: Plan einer Universal Litteratur Zeitung. Dieser Vorschlag wurde von Bertuch geschrieben (GSA 06/5477 II, 803 M). Ebenda: Unmaßgebliche Proponenda an die Herrn Unternehmer der Alg. Litt. Z. - Schütz unterbreitete die Vorschläge, während Bertuch und Wieland entweder zustimmten oder ergänzende Kommentare beifügten.
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Literatur-Zeitung.43 Während die Ankündigung der ALZ, wie auch die Werbeschrift zum Intelligenzblatt des Rezensionsorgans, publikumswirksam als einheitliches Ganzes in gleicher Schrifttype gedruckt wurde, erschien eine direkt an die Buchhändler und nicht an einen möglichen Käuferkreis gerichtete Annonce für das Anzeigenblatt in Fraktur.44 Im Vorbericht der ersten Ausgabe der ALZ äußerten sich die Herausgeber zu der von ihnen gewählten lateinischen Schrifttype. Man habe ihnen nahegelegt, daß die Zeitung weitaus erfolgreicher sein könnte, wenn sie nur in Fraktur gesetzt wäre.45 Für diese Art der Kritik zeigten die Herausgeber jedoch kein Verständnis. Geschickt wiesen sie darauf hin, daß die gelehrten Leser ohne Probleme die Antiqua lesen könnten. Darüber hinaus betonten sie, daß die lateinische Schrifttype schöner sei als die Fraktur: Wir haben also, da zumal dieses Journal auch in allen europäischen Ländern außer Deutschland, gelesen wird, und dem Ausländer bey Erlernung unsrer Sprache, unsre Druck- und Handschrift doppelt und dreyfache Mühe verursacht, hierinn keine Änderung machen können, besonders da auch in Deutschland bey weitem dem größten Theile unsrer Abonnenten die lateinischen Lettern wo nicht besser, doch eben so gut gefallen, als die deutschen.46
Bertuch und seine Mitherausgeber hatten ganz pragmatische Gründe, die ALZ in der für das deutsche Lesepublikum ungewohnten Antiqua setzen zu lassen. Sie strebten einen Absatz ihrer Zeitung bei deutschsprachigen Abonnenten in ganz Europa an und versuchten deshalb, sie auch äußerlich dem europäischen Standard anzupassen. Außerdem verwiesen sie auf die Schwierigkeiten eines Ausländers, sowohl die deutsche Cúrrente als auch die Fraktur erlernen zu müssen. Das selbstbewußte Eintreten der Herausgeber für die Verwendung der Antiqua muß also in Zusammenhang mit dem von Bertuch, Wieland und Schütz angestrebten Zielpublikum gesehen werden. In der „Acta secreta" zur ALZ wurde das Zielpublikum der Zeitung noch konkreter als im Vorbericht zur ersten Ausgabe der ALZ aufgeführt. Die Ankündigungen der ALZ sollten an „sämmtl. Schulcollegia lateinischer Schüler Gymnasien", an „sämmtl. geistliche Inspectienz und Adjuncturien", „an sämtl. Regimenter, den trey Feldpredigern", „an sämtl. Buchhandlungen und Intelligenz Comptoire etc." versendet werden.47 Bertuch fügte dem Vorschlag des späteren Redakteurs der Zeitung, Schütz, noch hinzu: „Auch an alle LandesCollegia, Regierungen, Consisterla u. s. w."48 Dieser favorisierte Kreis von Abonnenten war sehr wohl in der Lage, die lateinische Schrift zu lesen, da lateinische wissenschaftliche und fremdsprachige Abhandlungen ohnehin auch in Deutschland in der Antiqua gedruckt wurden. Deshalb wandte sich Bertuch im Vorbericht der Zeitung rhetorisch geschickt an die Gelehrten
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Ankündigung eines mit der Allgemeinen Literatur Zeitung künftig zu verbindenden Literarischen Intelligenzblattes (Buch- und Schriftmuseum Leipzig D 3a 26/1). Ebenda: Anzeige von der Allg. Lit. Zeitung, aufs Jahr 1787. Vorbericht, in: ALZ (1785), S. 3. Ebenda. Unmaßgebliche Proponenda (Anm. 42). Ebenda.
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Deutschlands mit der Bemerkung, daß das Lesen der lateinischen Schrift ihnen wohl keinerlei Schwierigkeiten bereiten dürfte.49 Bertuch und seine Mitherausgeber wollten, wie bereits erwähnt, ihre Zeitung auch im Ausland absetzen. Christian Gottfried Schütz hatte bereits in den „Unmaßgeblichen Proponenda" gefordert, die Ankündigungen des Rezensionsorgans auch ins Ausland zu versenden, was von Wieland und Bertuch unterstützt wurde: „Es ist auch ein Avertissement überall hinzusenden, wo die deutsche Sprache außerhalb Deutschlands geredet wird, als in Copenhagen, Stockholm, Petersburg, London, Amsterdam [...]".5° Angesprochen wurden sicher in erster Linie im Ausland lebende Deutsche, die durchaus in der Lage waren, Fraktur zu lesen, da sie ja bei der Lektüre von muttersprachlichen Texten zwangsläufig mit dieser Schrifttype konfrontiert wurden. In diesem Fall ist also das Argument des besseren Absatzes deutscher Verlagsprodukte durch die Verwendung der lateinischen Type nicht zwingend. Zudem dürfte es selbst für deutschsprechende Ausländer unproblematisch gewesen sein, mit einer neuen Sprache auch deren Schriftzeichen mitzulernen. Das Interesse der Herausgeber an der äußeren Gestalt der ALZ erschöpfte sich bereits in der Frage nach der Verwendung von Antiqua oder Fraktur. Zwar verwendete man die lateinische Schrifttype, ohne sich jedoch in engerem Sinne einer klassizistischen Auffassung des Gesamtkunstwerks verpflichtet zu fühlen. Der Druck der ALZ ist sehr unregelmäßig, manchmal zu durchscheinend, oft aber auch mit zu viel Druckfarbe aufgetragen. Allerdings wahrten die lateinische Type und die sparsam eingesetzten typographischen Zierleisten zumindest im Ansatz die geforderte Einheit von Form und Inhalt. Auffallend ist, daß trotz des verlegerischen Glaubensbekenntnisses für die Verwendung der Antiquatype im gesamten ersten Jahrgang der ALZ in den Rezensionen kaum auf typographische Fragen eingegangen wurde. Ein Grund hierfür könnte sein, daß Bertuch, wie er in einem Brief vom 16. Juni 1785 an Johann Heinrich Merck mitteilte, nur wenig mit der Redaktion und dem literarischen Teil der Zeitung zu tun hatte.51 Zudem bezogen sich die Besprechungen vorwiegend auf inhaltliche und weniger auf gestalterische Probleme.
Das „Journal des Luxus und der Moden" Im Vorwort der ALZ von 1785 hatte Bertuch die Notwendigkeit der Antiquatype unter anderem mit der gewünschten Verbreitung der Zeitung im Ausland begründet. Für das ebenfalls nicht national begrenzte Journal des Luxus und der Moden, das einen Leserkreis in England, Frankreich, dem Elsaß und den Niederlanden hatte, verwendete er jedoch die Fraktur.52 Der Hauptabnehmerkreis 49 50 51
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Vorbericht, in: A L Z (1785), S. 3. Unmaßgebliche Proponenda (Anm. 42). Leo Grünstein: Briefwechel mit J.H. Merck, in: Goethe-Jahrbuch 31 (1910), S. 6 - 4 2 , hier S. 34. Albrecht von Heinemann: Ein Kaufmann der Goethezeit. Friedrich Justin Bertuchs lieben und Werk. Weimar 1955, S. 61, gibt an, daß Bertuch in den ersten handschriftlichen Entwürfen des Modejournals noch eine Verwendung der lateinischen Type beabsichtigt hatte. Die Verfasserin konnte bei ihren Recherchen diesen Entwurf leider nicht finden.
Bertuchs Beitrag zur Antiqua-Fraktur
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der Modezeitschrift war nicht ein gebildetes Publikum, sondern ein zahlungskräftiges Bürgertum im weitesten Sinne. Gemäß den theoretischen Forderungen Bertuchs aus dem Jahr 1793, nur wissenschaftliche Veröffentlichungen oder Ausgaben berühmter Autoren in Antiqua herauszugeben, ließ er das populäre Modemagazin in Fraktur setzen. Der Verleger vermied durch die allgemein bekannte Frakturtype das Absatzrisiko der erschwerten Lesbarkeit für das Gros des Leserkreises bei Verwendung der Antiquatype. Es ist außerdem anzunehmen, daß die Leser im Ausland sich aus dort lebenden Deutschen rekrutierten, da man in England und Frankreich über eigene Veröffentlichungen zur Mode verfügte. Die ALZ dagegen war international ausgerichtet, und man konnte sich einen Absatz der Zeitung auch in Gelehrtenkreisen des Auslands vorstellen. Bertuch trat für einen langsamen Schrifttypenwechsel ein. Eine Gewöhnung an die Antiqua sollte hauptsächlich durch den Schulunterricht bei den Kindern erreicht werden. Dabei ließ er die zum Zeitpunkt seiner theoretischen Abhandlungen bereits erwachsenen Leser außer acht. Gerade die lange Erscheinungsdauer des weit verbreiteten, populären Modemagazins hätte Bertuch für eine Gewöhnung des Lesepublikums an die Antiqua nutzen können. Hier hat sich in erster Linie der Geschäftsmann und Verleger Bertuch für die jeweilige Schrifttype entschieden.
Das ,.Bilderbuch für Kinder"
Das ,Bilderbuch für Kinder", das Bertuch ab 1790 herausgab und das noch nach seinem Tod bis 1843 erschien,53 steht in der Tradition der pädagogischen Aufklärungsliteratur. Neben der aus pädagogischen Erwägungen verwendeten Vielzahl von Abbildungen leiteten den Verleger Bertuch auch bei der Wahl der Schrifttype erzieherische Absichten. Er ließ das Werk in Antiqua setzen, da er gerade bei jugendlichen Lesern die Möglichkeit sah, diese an den Gebrauch der lateinischen Schrifttype zu gewöhnen. Gleichzeitig lehnte er aber einen sofortigen Schrifttypenwechsel ab.54 Außerdem betonte er in der Vorrede des Bilderbuchs" seine Absicht, Kinder frühzeitig mit der Antiqua vertraut zu machen, da er die Fraktur aus ästhetischen Gesichtspunkten ablehne: Ich habe den Text des Bilderbuchs mit lateinischen Lettern drucken lassen, weil ich herzlich wünschte, daß wir endlich unserer altfränkischen widrigen teutschen Mönchsschrift loswerden, und in teutschen Werken auf die lateinischen weir (sie) schöneren Typen aller abendländischen Völker von Europa allgemein übergehen könnten, wie es England und Frankreich schon vor etlichen Jahrhunderten gethan hat. 55
Seiner persönlichen Stellungnahme zur Frage nach der Verwendung von Antiqua- oder Frakturtypen im Vorwort des ,3ilderbuchs" ließ der Verleger noch 53
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Die genaue Datierung des Erscheinungszeitraums liefert erstmals Uwe Plötner: Friedrich Justin Bertuchs „Bilderbuch für Kinder". Intentionale Kinder- und Jugendliteratur als Resultat der Kulturverdichtung im Weimar-Jenaer Raum um 1800 (Magisterarbeit Jena 1996). Bertuch: Plan, Ankündigung und Vorbericht des Werks, in: Bilderbuch für Kinder. Erster Band. Weimar und Gotha in der Expedition des Journals des Luxus und der Moden und in Commission der Ettingerischen Buchhandlung (1790), S. 1-6, hier S. 6. Ebenda.
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einen Aufruf an seine Schriftstellerkollegen folgen: „Da ich nun gerade ein Buch für Kinder schreibe, halte ich es für meine Pflicht, mein Scherflein zum Ganzen mit beyzutragen. Thun 5000 bis 6000 Schriftsteller dies eben so wie ich in Teutschland, so wird die Reforme bald durchgeführt." Ein weiterer Grund für die Verwendung der Antiqua, den Bertuch allerdings nicht ausdrücklich nannte, könnte in den drucktechnischen Besonderheiten des „Bilderbuchs" gelegen haben. Bei dem mehrsprachigen Werk war es einfacher und rationeller, den deutschen Text wie auch den fremdsprachigen in der gleichen lateinischen Type zu setzen. Zum „Bilderbuch" gehörte auch ein Kommentar, der sich direkt an Lehrer und Eltern richtete und ab 1798 in zwölf Bänden erschien.56 Sein Verfasser, der Direktor am Dessauer Schullehrerseminar Karl Philipp Funke, war auch als Autor pädagogischer Abhandlungen bekannt.57 Beim Kommentarband zum „Bilderbuch für Kinder" achtete der Weimarer Verleger Bertuch nicht wie bei seinem Modejournal und der Zeitschrift „London und Paris" auf eine passende typographische Gestaltung der zusammengehörenden Veröffentlichungen. Bertuch wählte für den Kommentarband die Fraktur, ohne eine Begründung in einem programmatischen Vorwort zu geben. Seine Entscheidung für die gebrochene Schrifttype schließt sich aber lückenlos an sein bisheriges Begründungsmuster für die Verwendung der einen oder anderen Schrifttype an. Der Kommentarband richtete sich weder explizit an ein gelehrtes Publikum noch direkt an die Kinder, die an die Antiqua gewöhnt werden sollten.
Die weiteren Verlagswerke: Ausgewählte Beispiele Das Verlagsprogramm Friedrich Johann Justin Bertuchs zeugt von seiner Vorliebe für geographische, biologische oder allgemein naturwissenschaftliche Themenstellungen. Bei allen Veröffentlichungen folgte er seinen Grundsätzen für die Verwendung der Antiqua- oder Frakturtype. Dabei ging er kein verlegerisches Risiko ein. Populärwissenschaftliche Abhandlungen erschienen in der für den weitaus größten Teil des Lesepublikums gewohnten gebrochenen Schrifttype, wie zum Beispiel die Zeitschrift „Der teutsche Obstgärtner".58 Die zahlreichen Kupfertafeln sind, wie auch beim „Bilderbuch für Kinder", in der lateinischen Cúrrente beschriftet. Auch in der von Bertuch 1790-1800 herausgegebenen ,.Blauen Bibliothek aller Nationen"59, die in Fraktur gesetzt wurde, 56
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Ausführlicher Text zu Bertuchs Bilderbuche für Kinder. Ein Commentar für Eltern und Lehrer, welche sich jenes Werks bei dem Unterricht ihrer Kinder und Schüler bedienen wollen. Verfasset von C.Ph. Funke. Erster Band, welcher Tf. 1 - 5 0 oder Heft I - X des Bilderbuchs begreift. Weimar im Verlage des Industrie-Comptoirs 1798. Friedrich Justin Bertuch. Bilderbuch für Kinder. Eine Auswahl, hg. von Hubert Göbels. Dortmund 1979, S. 180. Die hier angegebene Jahreszahl 1796 als Erscheinungsjahr des ersten Bandes ist falsch. Der teutsche Obstgärtner oder gemeinnütziges Magazin des Obstbaues in Teutschlands sämmtlichen Kreisen verfasset von einigen practischen Freunden der Obstcultur, und herausgegeben von J.V. Sickler. Zwanzigster Band. Mit ausgemahlten und schwarzen Kupfern. Weimar, im Verlag des Industrie-Comptoirs 1803. Die blaue Bibliothek aller Nationen [...]. Erster Band. Gotha in der Ettingerschen Buchhandlung 1790.
Bertuchs Beitrag zur Antiqua-Fraktur
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verwendete man die lateinische Schreibschrift für die Untertitel der Kupferstiche. Im 18. Jahrhundert, der Zeit der Entdeckungen und Erforschungen, waren Reisen und damit auch Länder- und Reisebeschreibungen bei einem großen Teil des Lesepublikums sehr beliebt, so daß Veröffentlichungen aus verschiedenen Erdteilen im Verlagsprogramm Bertuchs nicht fehlten. Der Bericht über Peru, „Peru, nach seinem gegenwärtigen Zustande dargestellt aus dem Mercuriano Peruano"60, wie auch die „Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen"61, erschienen beide in der zu der Zeit für deutsche Rezipienten gewohnten gebrochenen Schrift. Die Wissenschaftlichkeit der „Allgemeinen Geographischen Ephemeriden" unterstrich Bertuch jedoch durch die Verwendung der Antiquatype. Im ersten Band, der 1798 erschien62, nannte der Verleger in der Einleitung die Zielsetzung der Zeitschrift: Allein der Zweck dieser Zeitschrift soll sich nicht bloß darauf einschränken, unsre Leser mit allem Wissenswürdigen, was im Fache der Geographie, Astronomie und Statistik erscheint, bekannt zu machen, [...] sondern er geht auch, und zwar vorzüglich dahin zur Fortrückung und Verbreitung dieser Wissenschaften möglichst beyzutragen und durch neue und eigene Arbeiten die Gränzen derselben zu erweitern. 63
Zwar betonte der Verleger auch, daß selbst „der bloße Liebhaber und Dilettant, der Karten-Zeichner und Sammler"64 die Zeitschrift beziehen konnte, doch ist dies wohl mehr unter der Kategorie .Understatement' einzuordnen. Die „Allgemeinen Geographischen Ephemeriden", die bis 1831 in 82 Bänden erschienen sind, können als erstes auf fundierter Wissenschaftlichkeit beruhendes geographisches Fachorgan bezeichnet werden.65 1799 veröffentlichte Bertuch eine in Antiqua gedruckte Schrift, in der er, ganz seinen naturwissenschaftlichen Neigungen entsprechend, die fehlende Verbindung zwischen „Naturgeschichte" und dem täglichen Leben anprangerte.66 Er 60
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Peru, nach seinem gegenwärtigen Zustande dargestellt aus dem Mercuriano Peruano. Zweiter Theil. Aus der spanischen Urschrift übersetzt von E.A. Schmidt und herausgegeben von F.J. Bertuch. Mit einer Charte. Weimar, im Verlage des F.S. pr. Landes-Industrie Comptoirs 1808. Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen zur Erweiterung der Erd- und Völkerkunde in Verbindung mit einigen anderen Gelehrten gesammelt und herausgegeben von Dr. F.J. Bertuch, H.S Weimarischen Legations-Rathe. Zweite Hälfte der ersten Centurie. Erster Band. Mit Charten und Kupfern. Weimar, im Verlage des Landes-Industrie-Comptoirs 1815. Allgemeine geographische Ephemeriden Verfasset von einer Gesellschaft Gelehrten und herausgegeben von F. v. Zach, H.S.G. Obristenwachtmeister und Director der Herzoglichen Sternwarte Seeberg bey Gotha. Erster Band. Weimar, im Verlage des Industrie-Comptoirs 1798. Ebenda, S.4. Ebenda, S. 52. Zur Bedeutung der Zeitschrift: Helmut Arnhold: Das Geographische Institut zu Weimar. Wissenschaft und Industrie. Weimar: Druckkhaus Weimar 1984 (Tradition und Gegenwart, Weimarer Schriften; 11), S. 9. Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen und in das practische Leben einzuführen; nebst einem Plan und Ankündigung einer Folge dahin abzweckender Werke, von F.J. Bertuch, Herzogl. S. Weimar. Legat. Rath; der zu Erfurth, der Freyen ökonomisch. Gesellschaften zu Jena, sowie auch der Westphälischen naturforschenden Gesellschaft zu
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forderte eine bessere Vermittlung der Naturwissenschaft an eine breitere Öffentlichkeit.67 Als Adressaten dieser Veröffentlichung des Verlegers sind wohl ausschließlich Lehrer, Pädagogen und Wissenschaftler anzunehmen. Auch die in der Denkschrift geäußerten, dem „Allgemeinwohl" verpflichteten Gedanken wußte Bertuch ins verlegerische Kalkül mit einzubeziehen. Er warb für verschiedene geplante naturwissenschaftliche Verlagsprojekte des Weimarer Industrie-Comptoirs, die einem verbesserten Unterricht dienen könnten.68 Wie bei der Frage nach der Verwendung von Antiqua oder Fraktur für deutschsprachige Veröffentlichungen zeigte sich die Abhängigkeit des Verlegers von den Wünschen des Publikums: Das Publikum selbst mußte erst wohl geprüft werden, ob es auch wiirklich das Bedürfniß eines populären naturgeschichtlichen Unterrichts habe; ob es ein solches Werk wünsche; und wenn es erschiene, ob es daßelbe gut aufnehmen und mit Wärme unterstützen werde?69
Der Verleger Friedrich Johann Justin Bertuch ist nicht zur typographischen Avantgarde seiner Zeit zu zählen. Zwar plädierte er für eine Einführung der Antiqua, ging dafür aber kein verlegerisches Risiko ein. Wie in seiner theoretischen Abhandlung „Mein Votum die lateinischen Lettern betreffend" dargelegt, trat er für einen langsamen Übergang zur Antiqua ein. Nur herausragende literarische Werke, wissenschaftliche Veröffentlichungen und Bücher für Kinder sollten in der dem deutschen Lesepublikum ungewohnten Schrifttype gesetzt werden. Weder bei der für einen gebildeten Leserkreis konzipierten ALZ noch bei der geographischen Fachzeitschrift war ein Absatzrisiko zu erwarten, wurden doch wissenschaftliche Titel ohnehin in der lateinischen Schrift gedruckt. Mit dem „Bilderbuch für Kinder" erfüllte Bertuch sein pädagogisches Postulat, bereits die Jugendlichen an die Verwendung der Antiqua zu gewöhnen. Der Feststellung von Lucius, Bertuch sei kein klassizistischer Verleger gewesen, muß unumwunden zugestimmt werden, nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, daß Bertuch diesen Anspruch auch nie für sich selbst erhoben hatte.70 Der Verleger befolgte seine theoretischen Abhandlungen genau. Während die anspruchsvolle ALZ in Antiqua erschien, veröffentlichte er das populäre .Journal des Luxus und der Moden" in Fraktur.
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Brokhausen Ehren- und ordentlichen, und der Teutschen Gesellschaft zu New York correspondierenden Mitgliede. Weimar, im Verlage des Industrie-Comptoirs 1799. Ebenda, S. 3. Ebenda, S. 17-38. Ebenda, S. 25. Von Lucius: Anmut und Würde, in: Von Göschen bis Rowohlt (Anm. 6), S. 43.
Marie-Kristin Hauke
„Wenns nur Lärmen macht..." Friedrich Justin Bertuch und die (Buch-)Werbung des späten 18. Jahrhunderts
„Die Kunden kommen einem jetzt freylich nicht mehr ins Hauß gelaufen, sondern man muß sie zusammentrommeln."1 Dieser Satz stammt nicht aus dem Munde eines Marketing-Experten des späten 20. Jahrhunderts, sondern findet sich in einem Brief, den der Weimarer Verleger und Unternehmer Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) am 28. Dezember 1784 an den Mitherausgeber und Redakteur der „Allgemeinen Literatur-Zeitung", Christian Gottfried Schütz (1747-1832), schickte. Werbung, das zeigt dieses Zitat deutlich, war damals bereits ein fester Bestandteil des buchhändlerischen Alltags; sogar mehr als das: Werbung war an der Wende zum 19. Jahrhundert für Buchhändler und Verleger ein Muß, wollten sie sich auf dem hart umkämpften Buchmarkt der Zeit behaupten. Friedrich Justin Bertuch gehörte zu jenen, denen dies gelang. Sein Erfolg beruhte auf seiner Marktkenntnis, seinem Geschäftssinn, seinem zeitgemäßen Verlagsprogramm und nicht zuletzt auf seiner Fähigkeit, seine Unternehmungen geschickt ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. In einer Zeit, in der sich der moderne Buchhandel und mit ihm neue Werbemethoden zu etablieren begannen, war er einer dexjenigen, die diese Entwicklung beeinflußten und prägten. Welche Rolle Bertuch bei diesen Umwälzungen spielte, welcher Mittel er sich bei seinen Werbefeldzügen bediente und welche Mittel er im Austausch anderen zu diesem Zweck an die Hand gab, soll im folgenden dargestellt werden. Dazu ist es nötig, vorab einen kurzen Blick auf die Situation des Buchmarktes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu werfen. In der Friedens- und wirtschaftlichen Aufbauphase nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges begann unter der Ägide des Leipziger Verlegers Philipp Erasmus Reich (1717-1787) eine Neuordnung des Buchhandels, die den Markt zunächst in zwei Fraktionen spaltete: In die Nettohändler unter der Führung Leipzigs, die nach dem Konzept einer reinen Barzahlung, niedriger Buchhandelsrabatte und eines Ausschlusses des Remissionsrechts arbeiteten, und in die sogenannten Reichsbuchhändler, die den Konditionshandel als eine modernisierte Version des alten Tausch- oder Changehandels pflegten.2 Die finanziellen Erfolge der Nettohändler, die durch hohe Honorare die beliebtesten zeitgenössischen Autoren an ihre Verlage binden konnten, verführten viele Seiteneinsteiger, die auf schnelle Gewinne spekulierten, dazu, sich ebenfalls als Verleger 1
2
Friedrich Justin Bertuch an Christian Gottfried Schütz in Jena, Weimar, 28. Dezember 1784. Zitiert nach Walther Schönfuß: Das erste Jahrzehnt der Allgemeinen Literatur-Zeitung. Dresden 1914, S. 34. Vgl. dazu und im folgenden Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1991. Dort auch weiterführende Literaturhinweise.
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zu versuchen. Der Buchmarkt erlebte vor allem in den Bereichen Sachliteratur und Belletristik, aber auch im Bereich der Zeitschriften, einen ungeheuren Aufschwung. Alles schien sich in dieser Zeit zu vervielfachen: Die Zahl der Autoren, der Buchhändler, der Neuerscheinungen und nicht zuletzt auch der Leser. Letztere organisierten sich seit Beginn der siebziger Jahre in Lesegesellschaften, die ihnen gegen einen Jahresbeitrag eine Fülle von Zeitungen, Zeitschriften und Literatur „zum Nutzen und Vergnügen" zur Verfügung stellten, die sich der einzelne sonst nicht hätte leisten können. Weniger begüterte Lesergruppen suchten die in dieser Zeit ebenfalls entstehenden Leihbibliotheken auf, um sich dort kostengünstig mit Literatur einzudecken. Die Neuorganisation der Lektürebeschaffung brachte allerdings für den Buchhandel sinkende Absatzzahlen mit sich. Auch Bertuch beklagte sich, daß ein Exemplar seiner „Allgemeinen Literatur-Zeitung" durch 40 und mehr Hände ginge; verkauft würde es allerdings nur einmal.3 Mit anderen Worten: Die Buchhändler standen vor dem Problem, daß der Kuchen, den es zu teilen galt, zwar insgesamt größer, die Stücke für den einzelnen jedoch kleiner geworden waren. Der erhöhte Konkurrenzdruck und die zunehmende Anonymisierung des Marktes verlangten eine Umstellung der bisher praktizierten Werbemethoden. Als Bertuch in den siebziger Jahren mit seinen ersten Projekten auf dem Buchmarkt startete, bewegte sich das Informationssystem Buchhandel - Publikum noch in relativ eingespielten Bahnen.4 Zum Standardrepertoire buchhändlerischer Werbung gehörten damals vor allem die verschiedenen Kataloge, die übers Jahr verteilt gedruckt und an die Kundschaft ausgegeben wurden: halbjährliche Meßsortimentskataloge mit den neuesten Erwerbungen von der Leipziger Messe, allgemeine und fachspezifische Sortimentsverzeichnisse, Angebote gebundener und preisreduzierter Bücher sowie die in etwas größeren Abständen publizierten offiziellen Verlagskataloge. Leergebliebene Bogenreste am Schluß eines Buches füllte man gerne, wie es heute noch üblich ist, mit Ankündigungen eigener Verlagsprodukte; war kein Platz mehr dafür, legte man den Büchern zumindest den aktuellen Novitätenzettel oder einen mehrseitigen Katalogauszug bei. Sowohl die Einführung des Nettohandels als auch die Ausweitung des Handels zwischen den Messen hatten zu einem Aufschwung der Buchanzeigen in Zeitungen, Zeitschriften und Intelligenzblättern geführt. Mit ihnen versuchte man, dem Bedürfnis des Publikums nach kontinuierlicher Information über den Buchmarkt Rechnung zu tragen. Von den Verlegern wurden dabei besonders gern die Zeitschriften als kostengünstiger Werbeträger für eine überregionale Bekanntmachung der eigenen Buchproduktion genutzt.5 Gelegentlich räumte man auch Geschäftspartnern am Ende der Zeitschrift oder auf den Innenseiten der Papierumschläge etwas Anzeigenraum ein. 3 4
5
Vgl. Vorwort zum Allgemeinen Literarischen Anzeiger, Leipzig 1798, S. 5f. Der folgende Kurzüberblick beruht auf den Ergebnissen meiner Dissertation „In allen guten Buchhandlungen ist zu haben ...". Buchwerbung in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Erlangen 1998 (überarbeitete Version im Druck). Zeitungen und Intelligenzblätter hatten bis auf wenige Ausnahmen eine ungleich geringere räumliche Verbreitung als die Zeitschriften, deren Leser sich über ganz Deutschland verteilen konnten. Zudem hatten die Eigenanzeigen natürlich den Vorteil, daß sie im Gegensatz zu den Anzeigen in Zeitungen und Intelligenzblättern kostenlos waren.
Bertuch und die Werbung
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Viele der eben beschriebenen Werbemaßnahmen liefen bis in die siebziger Jahre hinein sehr routiniert und schematisch ab. Größere Aktivitäten entfalteten Buchhändler und Autoren vor allem dann, wenn es um Subskriptions- und Pränumerationsprojekte ging. Um ihre Verwirklichung zu befördern, wurden Werbebriefe verschickt, lobpreisende Inserate verfaßt, Geschäftspartner aktiviert und sogenannte Pläne gedruckt, die nähere Informationen zu Sinn, Zweck und Inhalt des angekündigten Werkes sowie zu organisatorischen Fragen enthielten und von den Interessenten kostenlos über ihre Buchhandlung oder einen der Kollekteure, meist Freunde und Bekannte des Autors, bezogen werden konnten.6 Bertuch nutzte für seine ersten Projekte zunächst dieses eingespielte System, bevor er daran ging, ihm neue Dimensionen zu verleihen. Nachdem er durch die Übersetzung des „Don Quixote" (1775) bekannt geworden war, startete er 1778 als neues Selbstverlagsprojekt eine achtbändige Werkausgabe des Nürnberger Meistersingers Hans Sachs (1494-1576) auf Subskriptionsbasis. Als Mitarbeiter an Christoph Martin Wielands (1733-1813) „Teutschem Merkur" (Weimar 1773-1810) war es ihm ohne weiteres möglich, seine mehrseitige Subskriptionsanzeige dort im Mai und Oktober 1778 an exponierter Stelle, nämlich im redaktionellen Teil, unterzubringen. Außer dieser Anzeige druckte er noch einen ungewöhnlich umfangreichen Plan, den er mit Textproben und einem Kupferstich von Georg Melchior Kraus (1733-1806) ausschmückte.7 Heinrich Christian Boie (1744—1806), ein Freund Bertuchs seit gemeinsamen Studientagen in Jena und Herausgeber einer der wichtigsten Zeitschriften der Aufklärung, des „Deutschen Museums" (Leipzig 1776-1791), reagierte ebenso positiv auf Bertuchs Bitte, sein Projekt zu befördern, wie Christian Felix Weiße (1726-1804), der Herausgeber der „Bibliothek der Schönen Wissenschaften und freyen Künste" (Leipzig 1757-1811), der Bertuch trotz einiger Zweifel an der Realisierbarkeit des Projektes die Unterstützung durch seine Zeitschrift und seinen Bekanntenkreis zusicherte: „Ich werde Alles beytragen, was in meinem Vermögen ist, und habe es in meinen Briefen nach Wien, Dännemark, Schwaben, die Schweiz und das Reich nicht nur schriftlich empfohlen, sondern es auch in dem Stücke der Bibliotheck gethan, das nächster Tage die Presse verlassen wird."8 Obwohl es Bertuch damit gelungen war, sein Projekt in drei der wichtigsten zeitgenössischen Zeitschriften zu piazieren, scheiterte sein Unternehmen am mangelnden Interesse des Publikums.
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Bis zur Perfektion hatte Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) diese Methode anläßlich seiner im Selbstverlag herausgegebenen „Gelehrtenrepublik" (1773) entwickelt. Nachdem die Leser, die eine Wiederholung des Erfolgs von Klopstocks „Messias" erwartet hatten, von der „Gelehrtenrepublik" zutiefst enttäuscht waren, stießen ähnliche Projekte lange Zeit beim Publikum auf Mißtrauen. Zu Klopstocks Werbestrategie für die „Gelehrtenrepublik" vgl. Helmut Pape: Klopstocks Autorenhonorare und Selbstverlagsgewinne, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 10 (1969/1970), Sp. 1-268. Friedrich Justin Bertuch: Proben aus des alten teutschen Meistersängers Hans Sachsens Werken, zu Behuf einer neuen Ausgabe derselben ausgestellet von F.J. Bertuch. Weimar: Carl Ludolf Hoffmann 1778. 14 Bl. mit 1 Kupferstich. Christian Felix Weiße an Friedrich Justin Bertuch in Weimar, Leipzig, 4. August 1778. Zitiert nach: Herbert G. Göpfert, Mark Lehmstedt: Literaturvermittlung. Zeugnisse aus einer Sammlung zur Geschichte des Buchwesens. Wiesbaden 1992, S. 51. (Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte; 1).
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Gewiß trug dieser Mißerfolg dazu bei, Bertuchs Blick für die aktuellen Trends des Buchmarktes weiter zu schärfen. Sein ausgeprägter Geschäftssinn ließ ihn konsequenter als andere seiner Zeitgenossen das Buch als „literarischen WaarenArtickel"9 begreifen. Nur ein .Produkt', dessen ,Name' in der Öffentlichkeit bekannt und präsent war, bekam eine Chance auf dem Markt. Nach diesem Prinzip gestaltete Bertuch auch seine Werbekampagne zur Markteinführung der „Allgemeinen Literatur-Zeitung" (ALZ), einer neuen Rezensionszeitschrift, die der Informationskrise, die durch die Unübersichtlichkeit des Buchmarktes entstanden war, entgegenwirken sollte. Bewundernswert ist Bertuchs Werbefeldzug nicht nur wegen der intensiven und umfassenden Öffentlichkeitsarbeit, sondern auch wegen der Kürze der Zeit, die ihm dafür zur Verfügung stand. Zwischen der Veröffentlichung der ersten Ankündigung im Juli 1784 und dem Erscheinen der ersten Ausgabe der ALZ Anfang Januar 1785 lag gerade ein halbes Jahr. Als Auftakt von Bertuchs Kampagne erschien eine von ihm, seinem Mitherausgeber und Redakteur Christian Gottfried Schütz und Wieland10 entworfene Ankündigung, die Bertuch nicht nur durch den „Teutschen Merkur", sondern auch durch die größeren Zeitungen von Hamburg bis Wien monatelang im Reich verbreiten ließ.11 Parallel dazu versandte er entsprechende Zirkulare an den Buchhandel, um sich dessen Mitarbeit zu versichern: „Die Absendung an alle Buchhandlungen ist jetzt das notwendigste," drängelte Bertuch Anfang September in einem Brief an Schütz, „damit sie noch vor der Messe Notiz bekommen, und ihre Commissionaires in Leipzig zur Ablieferung ihrer Verlagsartikel beordern können."12 Zusätzlich verfaßten Bertuch und Schütz persönlich gehaltene Briefe an eine ganze Reihe bekannter Gelehrter, in denen sie diese zum Bezug der ALZ einluden. Damit noch nicht zufrieden, entwarfen sie zusammen eine Liste der bekanntesten Personen und Institutionen im In- und Ausland, die ebenfalls die Ankündigung der ALZ, einen Probebogen und ein persönliches Schreiben erhalten sollten. Dieses Verzeichnis umfaßte alle Fürsten, Regierungen, Domkapitel, „gelehrten Klöster", Akademien im Reich, „alle Orte Teutschlands woher noch kein Exemplfar] bestellet worden" sowie Adressen in Paris, London, Edinburgh, Oxford, den deutschen Kolonien in Amerika, in Norwegen, St. Petersburg, Ofen, Cadiz und Douai.13 Um die Schreiben an die Generalität verschiedener Armeen wie auch um die Briefe an die Fürsten kümmerte sich Bertuch persönlich, wobei er plante, beides erst „nach Michaelis auszuschicken, damit das Ding in recenti memoria bleibt".14 9
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Vgl. Ankündigung der ALZ im .Anzeiger" des „Teutschen Merkur", Drittes Vierteljahr 1784, S. CXXXIII-CXXXIV. Wieland, der sich zunächst noch finanziell und ideell an dem Unternehmen ALZ beteiligt hatte, stieg kurz darauf aus dem Projekt aus. Vgl. W. Schönfuß: Das erste Jahrzehnt, S. 23ff. Die politischen Zeitungen des 18. Jahrhunderts hatten unstreitig die höchsten Auflagen- und Leserzahlen von allen Druckmedien. Über sie konnten mehr Leserschichten erreicht werden, als über jede Zeitschrift oder Intelligenzblatt. Vgl. u.a. Martin Welke: Zeitung und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, in: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München 1977, S. 71-99. Zitiert nach W. Schönfuß: Das erste Jahrzehnt (Anm. 1), S. 29. GSA 06/5482. Bertuch an Schütz in Jena, Weimar 28. Juli 1784. Zitiert nach W. Schönfuß: Das erste Jahrzehnt (Anm. 1), S. 31; tatsächlich gingen die Briefe an verschiedene Fürsten erst im Dezember 1784 ab.
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Bertuchs Strategie des ,Lieber-zuviel-als-zuwenig' ging auf: Begeistert meldete er schon Ende September 1784 an Schütz in Jena: Die Berichte in den Zeitungen haben ihre Schuldigkeit gethan, sie haben das Publikum aufmerksam und neugierig gemacht. [...] Unsere Ankündigung fangt an allenthalben Sensation zu machen, natürlich schwatzt nun das profanum vulgus die Kreuz und die Quer drüber, lobt und tadelt, freuet sich oder fletscht die Zähne, je nachdem es sein Interesse heischt. Tant mieux pour nous; wenns nur Lärmen macht! 15
Bertuchs „Lärmen" verschaffte der ALZ tatsächlich einen furiosen Auftakt: Bis zum Ende des Jahres konnte sie ihre Startauflage von 600 Exemplaren fast verdoppeln.16 Mit ähnlichem Elan machte sich Bertuch ein Jahr später daran, seine neueste Zeitschrift, das „Journal des Luxus und der Moden", in Zusammenarbeit mit der Ettingerischen Buchhandlung in Gotha auf den Markt zu bringen. Für die ersten beiden Jahrgänge 1786 und 1787 ließ er jeweils 10.000 und für den dritten Jahrgang noch einmal 8.000 Ankündigungen drucken.17 Wie im „Accord über den HauptCommissionsDebit des Journal der Moden" vom 23. November 1785 vereinbart,18 kümmerte sich Ettinger zusätzlich um die Plazierung von Inseraten in den verschiedenen Zeitungen. Der gesamte Text der Ankündigung wurde in jeweils zwei Hamburger und Frankfurter Zeitungen19 sowie im „Leipziger Intelligenzblatt" veröffentlicht. Nach Erscheinen des Journals genügte eine monatlich geschaltete Anzeige des aktuellen Journalinhalts, um das Blatt im Gespräch zu halten. Diese Ankündigungspraxis behielt Bertuch in den folgenden Jahren bei, erweiterte allerdings den Kreis der Werbeträger um die „Vossische" und „Haude-Spenersche Zeitung" in Berlin sowie um die „Bayreuther", „Jenaische" und „Leipziger Zeitung". Ständige Medienpräsenz machte jedoch nur einen Teil von Bertuchs Kampagnen aus. Eingedenk der Macht der Sprache war Bertuch bemüht, in seinen Anzeigen stets den richtigen Ton und die überzeugendsten Argumente für den jeweiligen Adressatenkreis zu finden. In der Ankündigung 15
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Bertuch an Schütz in Jena, Weimar, 27. September 1784. Zitiert nach W. Schönfuß: Das erste Jahrzehnt (Anm. 1), S. 46f. Vgl. Siegfried Seifert: „Eine vollständige Uebersicht der Kantischen Grundsätze". Die Jenaer „Allgemeine Literatur-Zeitung" und ihr Beitrag zur Kritik in einer Zeit des Umbruchs und Aufbruchs, in: Friedrich Strack (Hg.): Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Stuttgart 1994, S. 275-293. Vgl. GSA 06/5526: Abrechnungen zum „Journal des Luxus und der Moden" für 1786, 1787, 1788. Für Papier, Druck, Falzen und Schneiden der Ankündigungen zahlte Bertuch 1786 und 1787 jeweils ca. 20 Rth., 1788 ca. 16 Rth. Vgl. GSA 06/5526: „Die Ettingerischer Buchhandlung in Halle übernimmt 1. vom Journal der Moden die Haupt-Commission für Buchhändler, besorgt die nöthigen Bekanntmachungen, Inserat in den Leipz. MeßCatalogen und alles was sonst zu Beförderung des Debits dieses Wercks nöthig ist, und behandelt es mit eben der Sorgfalt als einen eigenen Verlagsartikel. Dagegen berechnet sie den Herausgebern was sie an Inserat-Gebühren und anderen Kosten zu Beförderung des Werks auslegt. [...] Weimar und Gotha den 23. Novembr. 1785." Bei den genannten Zeitungen handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach erstens um den „Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten", der politischen Zeitung mit der höchsten Auflagenziffer des 18. Jahrhunderts, zweitens um die „Hamburgischen Adreß-ComptoirNachrichten", eines der meistgelesenen Intelligenzblätter, drittens um die „Frankfurter OberPost-Amts-Zeitung" sowie um das „Frankfurter Journal" oder das „Frankfurter Staats-Ristretto".
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der ALZ fanden sich beispielsweise die für die gelehrte Welt so wichtigen Reizwörter „Allgemeinheit", „Vollständigkeit", „Zuverlässigkeit", „Gründlichkeit", „Unpartheylichkeit", „Schleunigkeit der Anzeige" oder „guter Ton". Zielgruppengerecht war auch die Anzeige zum Modekalender „Pandora, oder Kalender des Luxus und der Moden", den Bertuch und G.M. Kraus als Ergänzung zum „Journal des Luxus und der Moden" zwischen 1787 und 1789 zusammen mit dem Leipziger Verleger Georg Joachim Göschen (1752-1828) herausgaben. Die Anzeige wandte sich in erster Linie an den weiblichen Teil des Publikums, für den man das Bild der potentiellen „Pandora"-Leserin als das einer „aufgeklärten" Frau beschwor, die das Interesse am „Geist der Zeit" und des „Geschmacks" mit der Neugier auf weiteren „Unterricht" verband, gleichzeitig aber auch dem „Vergnügen" eines Hauchs von Luxus nicht abgeneigt war.20 Die Ankündigung erinnerte dabei zunächst an den Erfolg des „Journals des Luxus und der Moden", das, wie es hieß, allerdings nicht mehr „als Zeitung ist und sein soll" und daher nur „die Nouvelle du lour des Luxus und der Moden" beinhalte, „deren ephemerische Existenz wie ein Glas Champagner im Moussiren genossen werden muß". In den neuen Kalender dagegen gehörten eher „Tableaux von ausgewählter Komposition und delikaterem Kolorit", „kleine Abhandlungen über Luxus, Moden und verfeinertes Wohlleben bei allen Völkern der Erde", „gleichsam kleine Kabinettstücke von guter Hand, die, sie mögen hängen in welchem Rahmen sie wollen, immer ihren Werth behalten". Die Dame sollte „ihn an der Toilette mit Vergnügen durchblättern und Zeitvertreib und Unterricht zugleich daraus schöpfen", aber auch ihr Gatte, ein „Mann von Kenntnissen", könnte „Spuren eines soliden Studiums ohne Pedanterei darin finden". Schließlich drückte man noch die Hoffnung aus, daß das „Kalenderchen, das dem Ansehen nach ein bloses Joujou des Dames [ist], [...] durch den Gehalt seiner andern Artikel das Glück [erhält], bei Manchem länger als nur ein Jahr zu leben [...]."21 Bertuch setzte bei seinen Anzeigen und Plänen nicht nur auf das Wort, sondern auch auf Illustrationsproben, die den Lesern einen Eindruck von der materiellen Qualität des angebotenen Buches vermitteln sollten. Anders als das Gros seiner Kollegen, die außer bei teuren Fachbüchern die Kosten der Herstellung von Probekupfern zu Werbezwecken scheuten, leistete sich Bertuch öfter diesen Luxus: Schon dem Plan zu seiner Hans Sachs-Ausgabe von 1778 hatte er einen Kupferstich von G.M. Kraus beigefügt. Seine 1799 veröffentlichte Ankündigung „Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen und in das practische Leben einzuführen, nebst Plan und Ankündigung einer Folge dahin abzweckender Werke" schmückte sich gleich mit drei kolorierten Kupfertafeln. Selbst einer Anzeige zu A.J. Batschs „Geöffnetem Blumen-Garten", die im Dezember 1795 im Intelligenzblatt des „Journals des Luxus und der Moden" erschien, ließ er eine kolorierte Kupfertafel samt Erklärung als Probe beilegen, obwohl sich diese Zeitschrift nicht an die gelehrte Fachwelt, sondern ,nur' an
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Die Anzeige zur „Pandora" erschien auch als Separatdruck in einer Auflage von 5.000 Exemplaren, die Bertuch mit 13 Rth. für das Papier, 42 Rth. 2 gr. für den Druckerlohn, 6 Rth. 21 gr. für „planiren, falzen und beschneiden" abrechnete; zwei Ankündigungen in den Hamburgischen Zeitungen kosteten zusätzlich 12 Rth. 6 gr. Vgl. GSA 06/5536. Alle Zitate nach der Anzeige in: Deutsches Museum, 10. Stück, Oktober 1786, S. 389-392.
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„Frauenzimmer und ungelehrte Pflanzenliebhaber" wandte.22 Selbst bei der Förderung fremder Verlagsprodukte zeigte sich Bertuch gelegentlich äußerst großzügig. Wurde ein Buchhändler damals von einem Kollegen darum gebeten, die Anzeige eines seiner Subskriptionsprojekte in seiner Zeitschrift zu verbreiten und sich als Kollekteur zur Verfügung zu stellen, so war es üblich, die Anzeige nach Wunsch abzudrucken und mit der schlichten Zeile „Ich nehme bis zum [...] Subskription/Pränumeration darauf an" zu ergänzen. So hielt es Bertuch zwar auch in der Regel, wenn ihn jedoch ein Projekt besonders interessierte oder am Herzen lag, gab er offensichtlich die Zurückhaltung auf und ergänzte mit einigen zusätzlichen Zeilen die Ankündigung des Kollegen. Ein interessantes Beispiel, das noch einmal die sprachlichen Finessen Bertuchscher Formulierungskunst zur Geltung bringt, ist sein Kommentar zu einer Anzeige des Berliner Verlags Haude und Spener zur deutschen Ausgabe von „Cooks dritter Entdeckungsreise" aus dem Jahr 1787: Die so lang erwartete, und auch hier in diesem Journal im April d.J. ausführlich angekündigte vortrefliche Übersetzung von Cooks dritter und letzter Entdeckungs-Reise hat nun endlich im Haude und Spenerschen Verlage zu Berlin die Presse verlassen, und ich habe den ersten Theil davon in den Händen. In der That haben hier Schriftsteller und Verleger mit der skrupulösesten Sorgfalt all das Ihrige gethan, um dem teutschen Publiko ein wichtiges und höchstangenehmes Geschenk zu machen; und erwägt man Hrn. G.R. Forsters sowohl eigne hinzugethane Original-Arbeit, als auch die mit beständigen erläuternden Anmerkungen begleitete Uebersetzung, ferner das schöne Ganze in Papier, Anordnung des Drucks, Wahl und Schönheit der Kupfer im Stich und Abdruck, dabey den verhältnismäßig sehr billigen Preis, kurz den ganzen innern und äussern Werth dieser Ausgabe, so ist man gewiß sehr geneigt den etwas langen Verzug der Lieferung, wodurch unsere Geduld zwar geprüft wurde, aber das Werk auch so sehr gewonnen hat, zu verzeihen. Durch Forsters vorangeschickte Abhandlung: Cook der Entdecker, welche 116 Quart-Seiten hält, und ein Meisterstück seiner Hand ist, so wie auch durch die den Text beständig commentirenden Noten, hat diese Uebersetzung selbst vor dem englischen Originale, das jetzt zu 20 bis 25 Guiñeen verkauft wird, einen beträchtlichen Vorzug erhalten; und was die Kupfer betrift, so kann ich, da ich beyde Ausgaben miteinander verglichen, bezeugen, daß sie nicht allein die in den vorigen Bänden der Hawkesworthschen Sammlung der neuesten Süd-See-Reisen (welche nun durch diese sich schließt) befindlichen, weit übertreffen, sondern sich selbst den vortreflichen Englischen Originalen nähern [,..]. 23
Bertuchs Engagement für die Projekte anderer Unternehmer beschränkte sich nie auf den Buchhandel allein; schließlich war er selbst stets mit den verschiedensten Wirtschaftsprojekten befaßt und immer bereit, sich auf neue Dinge einzulassen, die ihm, aber gleichzeitig auch anderen, finanziellen Nutzen bringen konnten. Dies zeigt sich vor allem an der Einrichtung des „Journals des Luxus und der Moden", dem er ein „Intelligenzblatt" beigab, in dem ,jeder Künstler [...] und 22
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Vgl. Ankündigung zu „Der geöffnete Blumen-Garten, theils nach dem Englischen von Curtis Botanical Magazine neu bearbeitet, theils mit neuen Originalien bereichert, und für Frauenzimmer und Pflanzenliebhaber, welche keine Gelehrten sind, herausgegeben von Dr. A.J.G.C. Batsch, Professor zu Jena", in: Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden vom 24. Dezember 1795, S. 219-222. Vgl. Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden, Nr. 8, August 1787, LIX-LX. Ähnliche Unterstützung erfuhr auch die Anzeige zu Joseph Jacob Plencks „Icones plantarum medicinalium secundum systema Linnaei digestarum", die im Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden, Nr. 2, Februar 1788, S. ΙΧ-ΧΠ erschien.
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jede Fabrik oder Handlung die für Luxus und Moden arbeiten, hier ihre Erfindungen, Arbeiten, Neuigkeiten, so wie auch die Preiß-Courante ihrer gewöhnlichen Waaren anzeigen" konnte. Den Lesern bot er an, „gegen die gewöhnliche kaufmännische Commiss [ions] Provision" entsprechende Bestellungen aus dem In- und Ausland für sie abzuwickeln. Die Expedition der Zeitschrift wurde damit zum Intelligenzcomptoir umfunktioniert und zur Keimzelle des 1791 eingerichteten Landes-Industrie-Comptoirs. Bertuch griff hier ein Konzept der Wirtschaftsförderung auf, das bereits seit den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts praktiziert wurde. In den gängigen Intelligenzblättern fanden sich sowohl amtliche Nachrichten als auch Fleischund Brottaxen, Stellenangebote und -gesuche, Suchmeldungen, Bücheranzeigen, Mobilien- und Immobilienanzeigen oder Hinweise auf Waren außerhalb des üblichen Angebotes. Ihre Reichweite war jedoch stets auf ein Territorium oder eine Region begrenzt. Bertuch, dem die Funktionsweise der Intelligenzblätter wohl vertraut war - sein Onkel hatte schließlich die „Weimarischen Anzeigen" herausgegeben - , verschaffte nun dem Intelligenzblatt als regionalem Werbeträger durch die Kopplung mit einer Zeitschrift einen überregionalen Wirkungskreis. Die Beibehaltung des programmatischen Titels ,Intelligenzblatt' sollte vermutlich den Wiedererkennungseffekt beim Publikum gewährleisten und den kaufmännischen Aspekt des Vorhabens betonen. Bertuch zog aus diesem Unternehmen mehrere Vorteile: Er schuf ein offizielles Werbeforum, auf dem er sowohl die Produkte seines Verlags als auch seiner anderen Wirtschaftsunternehmen präsentieren konnte. Durch die Öffnung des Intelligenzblattes für andere Unternehmen konnte er auf zusätzliche Einnahmen durch die Anzeigengebühren24 sowie durch die Provisionen für die ausgeführten Kommissionsgeschäfte hoffen. Gleichzeitig bot er seinen Inserenten aber auch eine Werbeplattform, die ihnen die Möglichkeit gab, weithin bekannt zu werden und neue Kunden zu erreichen. Nicht überall stieß Bertuchs Idee jedoch auf Begeisterung. Insbesondere kleinere handwerkliche Betriebe taten sich schwer, jahrhundertelang verinnerlichtes Zunftdenken, das Gewinnstreben und Konkurrenzdenken als unchristlich abstempelte, abzuschütteln. Es waren eher neue Manufakturunternehmen und Künstler,25 die einen vorsichtigen Versuch wagten, ihre Waren öffentlich anzubieten. Wie groß die Mißverständnisse zwischen Herausgeber und Inserenten zu Beginn waren, zeigt ein Vorbericht zur Märzausgabe des „Intelligenzblattes" aus dem Jahr 1786: Wir finden nöthig einen Mißverstand zu erläutern, den verschiedene Künstler und ModeWaaren-Fabriken, zu Bekanntmachung und Verbreitung von deren Erfindungen und Fabrikaten wir das Journal der Moden, und dieß Intelligenzblatt hauptsächlich bestimmt haben, zu hegen scheinen. Sie stehen nemlich in den Irrwahne als würden Sie sich durch Bekanntmachung ihrer Erfindungen oder Waaren die sie fabriziren und führen Schaden 24
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Aus den Jahren 1786-1789 ließen sich bisher keine Aufstellungen über die Erlöse aus dem Intelligenzblatt finden. 1790 betrugen die Einnahmen 89 Rth., 1791 bereits 106 Rth. Damit ließen sich bereits die Werbeausgaben für das Journal des Luxus und der Moden decken. Diese hatten 1790 55 Rth. und 1791 ca. 66 Rth. betragen. Vgl. GSA 06/5526. Unter den ersten Inserenten fanden sich z.B. die Breitkopfische Tapetenfabrik in Leipzig, die Löschenkohlsche Fächerfabrik zu Wien, Thomas Daniels Silver-Plate Manufactory in London, vor allem aber verschiedene Bildhauer, Kupferstecher und Kunsthandlungen.
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thun; [...] Dieß ist ein Zeichen daß sie uns und unser gutwilliges Anerbieten offenbar mißverstanden haben. Wir haben nie verlangt, daß ein Künstler oder eine Fabrik, bey ihren einzuschickenden Nachrichten und Anzeigen von ihren neuen Erfindungen und Fabrikaten, uns auch zugleich das Arkanum ihrer Erfindung, es bestehe nun in Materie, Composition oder Form, oder eine Handlung ihre Handelswege, durch welche sie ihre Waare bezieht, mit bekannt machen solle. Dieß wäre ein bischen gar zu treuherzig von uns gemeynt gewesen, und unmöglich konnten sie uns solche ein Ansinnen zutrauen
Um das Inseratengeschäft weiter anzukurbeln, machte Bertuch zu Beginn des Jahres 1788 bekannt, daß er jede Anzeige, sofern sie nicht länger als 18 Zeilen oder eine halbe Oktavseite sei, unentgeldlich abdrucken werde. Am Ende des Jahres widerrief er dieses Angebot allerdings bereits wieder. Künftig kostete „jede Median-Oktav Format-Zeile mit Petit-Schrift 8 Pfennige Sächs. oder 3 Kreuzer Reichs-Courant Inseratgebühren; ein Preiß, den die Einsender, für die Gewißheit, ihre Anzeigen ohne weitere Mühe und Kosten schnell und in einem großen Zirkel bekannt machen zu können, sicher billig finden werden". Außerdem werde man dem Journal keine separat gedruckten Ankündigungen von Büchern oder Warenverzeichnisse mehr beiheften oder beilegen, „theils weil dadurch das Broschiren des Journals verteuert, und die schnelle Spedition der Monatsstücke aufgehalten, theils auch, beym bloßen Einlegen, die Avertissements heraus geworfen und verlohren werden, und folglich nicht einmal der Einsender seinen Zweck dabey erreicht."27 Woran es letztlich lag, daß weniger die angepeilte Zielgruppe der Modewarenfabrikanten regen Gebrauch von Bertuchs Intelligenzblatt machte, läßt sich nicht sicher feststellen. Vielleicht überwog das Mißtrauen gegenüber Bertuch, von dem man wußte, daß er selbst an entsprechenden Unternehmen beteiligt war, vielleicht sah man auch die Vorteile nicht oder war noch zu sehr im alten Zunftdenken verhaftet. Einbußen bei den Einnahmen aus seinem Intelligenzblatt mußte Bertuch deswegen allerdings nicht hinnehmen, da die Buchhändler und allen voran die Geschäftspartner Bertuchs, was Buchanzeigen betraf, keine Skrupel kannten und den Wert des Intelligenzblattes als Werbeträger durchaus zu schätzen wußten. Das Intelligenzblatt zog jedoch auch Inserenten an, auf die Bertuch überhaupt keinen Wert legte. So erschien im Juni 1793 eine, nicht wie üblich von der Expedition des „Journals", sondern von Bertuch persönlich unterzeichnete „Vorerinnerung an die InseratenEinsender", in der er deutlich machte, daß er nicht bereit sei, sein Publikum „durch Aufnahme offenbarer Täuschungen und Betrügereyen" zu hintergehen. Er verbat sich daher fortan die Zusendung von 1. Anzeigen und Empfehlungen aller Arzneymittel, Quacksalbereyen, Universal-Tincturen und Marcktschreyereyen wie sie auch Nahmen haben mögen [...]. 2. Alle Buchhändeler-Recensionen [!] ihrer Verlagswerke. Es ist nehmlich seit kurzem Mode geworden, daß einige Herren Buchhändler, um kürzer und sicherer zu ihrem Zwecke zu gelangen, förmliche Recensionen von einigen ihrer Verlagswerke, statt der gewöhnlichen einfachen InnhaltsAnzeigen, machten oder machen ließen, und sie ohne Unterzeichnung ihres Nahmens, an uns zum Einrücken gegen die Insertions-Gebühren 26
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Vgl. Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden Nr. 3, März 1786, S. XXIX-XXX. Vgl. Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden Nr. 12, Dezember 1788, S. CXXI-CXXIII. Die Anzeige wurde im Januarheft 1789, S. Ι-ΙΠ wiederholt.
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sandten. Wie reichlich darinn Lob und Weyrauch verschwendet war, und wie höchstvortreflich Recensent das Werk immer fand, kann man denken. Im Grunde sind das elende Nothhülfen, die sich junge Buchhändler bey falschen oder schlechten Speculationen, die sie aus Unkenntniß der Dinge gemacht haben, geben wollen, und die nie Stich halten. Wir wollen wenigstens keine Charlatanerien dieser Art befördern helfen. 3. Alle Bekanntmachungen schmutziger und schlüpfriger Schriften, vor deren Bekanntmachung und Empfehlung ohnehin jeder Mensch von guten und reinen Sitten erröthen sollte. 28
Bertuch war damit der erste, der sich für den Ausschluß der weitverbreiteten Heilmittel- und Kurpfuscheranzeigen aus den Intelligenzblättern einsetzte. Dies dürfte nicht bei allen Buchhändlern auf Gegenliebe gestoßen sein, da seit dem 17. Jahrhundert der Vertrieb von Universaltinkturen und Heilmitteln in Kommission eine beliebte Nebenerwerbsmöglichkeit des Buchhandels darstellte.29 Gegen die sogenannten Selbstrezensionen hatte sich Bertuch schon einmal im Dezember 1788 verwahrt, gleichzeitig aber auch darauf hingewiesen, daß es .jedem Unternehmer und Verleger [...] hingegen unverwehrt sey, den Innhalt und Zweck seiner neuen Verlagswerke, als Waare und mit Unterzeichnung seines Namens etwas ausführlicher dem Publiko anzuzeigen, wie z.E. Hr. Buchhändler Wever in Berlin, im September unsers Intelligenzblatts von diesem Jahr gethan hat".30 Die Weversche Buchhandlung hatte in der Septemberausgabe tatsächlich auf acht Seiten 14 Titel angekündigt, die zur Jubilatemesse 1788 erschienen waren, und dabei jeden einzelnen Titel durch eine Inhaltsangabe im Stil eines gemäßigten Selbstlobs versehen.31 Wo die Grenze zwischen einer tolerierten, „etwas ausfuhrlicheren Anzeige" und einer der verpönten Selbstrezensionen lag, ist heute nur noch schwer auszumachen. Beide Anzeigenformen sind jedoch ein Symptom für den zunehmenden Konkurrenzdruck auf dem Buchmarkt, der die Buchhändler auch in der Werbung zu aggressiveren Methoden trieb.32
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Vgl. Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden Nr. 6, Juni 1793, unpaginierte „Vorerinnerung". In den Zeitungen und Intelligenzblättern finden sich noch nach der Mitte des 18. Jahrhunderts entsprechende Kombinationsanzeigen, in denen vor allem Buchhändler auf dem flachen Land sowohl Bücher als auch Heilmittel anboten. Vgl. Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden Nr. 12, Dezember 1788, S. CXXIII. Vgl. Intelligenzblatt des Journals des Luxus und der Moden Nr. 9, September 1788, S. LXXVI-LXXXIII. Auch die Werbeargumente machten in dieser Zeit eine Wandlung durch. Wo nicht mehr das Wort überzeugen konnte, verlegte man sich auf handfeste ökonomische Angebote. Die Unsitte der Rabattgewährung an Privatkunden machte sich breit. Auch Bertuch benutzte diese Art der Kundenwerbung gerne; in einer Programmschrift von 1802 heißt es sogar, daß er der Trendsetter in diesem Bereich gewesen sei: „Seit der Existenz des Industrie Comtoirs in Weimar ist eigentlich der Rabatt in dem Buchhandel zur Mode geworden. Der Eigenthümer dieses Etablissements sezt auf jeden Umschlag der in einem Verlage erscheinenden Journale, daß der Particulier, der 5 Exemplare sammelt sich directe an das Industrie Comtoir wenden und von dem Betrage 20 p% für seine Mühe abrechnen kann. Eine Operation dieser Art muß nothwendig jeden Particulier ermuntern, in seiner Sphäre einige Bekannte anzuwerben um auf 25 Thlrn seinen Louis d'or in die Tasche zu stecken." Vgl. Ueber die Gebrechen des Buchhandels in Deutschland, ihre Ursachen und die Mittel Sie zu heilen von J.S.B, in W. 1802. Zitiert nach: Roland Schäfer: Zum Buchhandel um 1800. Dokumente aus dem Archiv
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Bertuch, der offenbar die Lage richtig einzuschätzen verstand, zog aus dieser Situation seinen geschäftlichen Nutzen. 1787 erhielt auch die ALZ ein „Intelligenzblatt", das ausschließlich der Ankündigung von Büchern, Kupferstichen, Kunstwerken und Landkarten diente. Buchhändlerische Novitätenverzeichnisse, Auktionstermine, Manuskriptangebote, Anfragen zu seltenen oder vergriffenen Büchern, Nachrichten von interessanten „literarischen Anstalten", Lektionsübersichten von Universitäten und Gymnasien sowie Gegendarstellungen von Autoren, die sich durch Rezensionen der ALZ ungerecht behandelt fühlten, ergänzten das Angebot. Für jede Anzeige galt ein einheitlicher Preis von 8 Pfennigen oder 1 Mgr. pro Zeile, so daß eine Ankündigung von zwölf Zeilen 8 Gr. und von 36 Zeilen 1 Rthl. kostete.33 Das neue literarische Intelligenzblatt der ALZ war so erfolgreich, daß Bertuch es ab 1789 nicht nur einmal, sondern zwei- bis dreimal wöchentlich ausgeben ließ.34 Gleichzeitig beschloß er, es künftig „ungesperrt, so wie die Kurze Nachrichten in der Zeitung" zu drucken, „so daß statt 60. Zeilen, 80. auf die Columne kommen." Dadurch gewann er 160 Zeilen à 1 gr. pro Ausgabe.35 Die ALZ und ihr literarisches Intelligenzblatt entwickelten sich in den folgenden Jahren, wie Johann Christian Gädicke 1827 im Rückblick feststellte, zu einem „Ausrufemarkt für den Buchhandel, wie man ihn bisher noch nicht gekannt hatte".36 Die Kombination von Rezensionszeitschrift und buchhändlerischem Werbeforum war bestechend, solange das Publikum auf der Suche nach Orientierung auf dem Buchmarkt zuerst nach den Rezensionszeitschriften griff. Die Erwähnung eines Buches in diesen Zeitschriften gehörte in dieser Phase zu den Grundbedingungen des Erfolgs. Da die Buchhändler wußten, daß die meisten Lesegesellschaften die ALZ abonniert hatten, konnten sie auf einen großen Kreis potentieller Kunden hoffen, sofern es ihnen nur gelang, eine Rezension ihrer Bücher im redaktionellen Teil zu erreichen und genügend Anzeigen im Intelligenzblatt zu piazieren. Auf die Tatsache, daß auch Bertuch diesen Weg ganz selbstverständlich beschritt, sich als Besitzer der Zeitschrift noch nicht einmal anstrengen mußte und offenbar auch Geschäftspartnern die Wege in die Spalten der ALZ ebnete, reagierte man allerdings zunehmend gereizt: Die Bertuchszeitung hat es sehr bald begriffen, daß die guten Bücher, der von ihr nicht begünstigten Autoren und Buchhandlungen immer sehr spät angezeigt werden dürfen, um so wohl ihre eignen Industrie-Artikel, als auch die derjenigen Behörden, welche mit ihr fraternisirt haben, desto herrlicher hervorstechen lassen zu können; [...] Ueber diese Partheylichkeit und dieses Kliquenwesen der Bertuchszeitung ließe sich ein Großes sagen. Die Schriften der Anhänger, Spiesgesellen und aliirten Buchhändler werden so frühzeitig und oft in so hellem Posaunenton ausgeschryen, besonders der eigne Verlag Bertuchs,
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Paul Gotthelf Kummers als Quelle für die Forschung, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 4 (1994), S. 290-296, hier: S. 293. Vgl. Nachricht die Allgemeine Literatur-Zeitung welche zu Jena herauskömmt aufs Jahr 1788 betreffend. Angebunden an: Allgemeine Literatur Zeitung. Nr. 1, 1. Januar 1788. Vgl. GSA 06/5483: Ankündigung zum Jahrgang 1789. Vgl. GSA 06/5483: „Conferenz-Prothocoll der A.L.Z. geführt von FJBertuch, Jena 12. Oct. 1788." Wie hoch der Ertrag Bertuchs aus dem Intelligenzblatt der ALZ tatsächlich war, ließ sich bisher noch nicht feststellen. Johann Christian Gädicke: Einige Mittheilungen über den jetzigen deutschen Buchhandel. Allen besonders jungen Buchhändlern gewidmet. o.O. (Kassel) 1827. Zitiert nach Johann Goldfriedrich: Geschichte des deutschen Buchhandels Bd. 3, Leipzig 1909, S. 552.
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daß der allmächtige nervus rerum gerendarum, Gunst und Geld, durchaus nicht einem Augenblick verkannt werden mag; [...] Dagegen kommen die nicht befreundeten Schriftsteller und Buchhändler desto schlimmer weg, und mögen immer den Himmel danken, wenn sie nur mit Stillschweigen übergangen werden. 3 7
Bertuch ignorierte diese Vorwürfe. Der Erfolg gab ihm schließlich recht. Die ALZ und das „Journal des Luxus und der Moden" fanden rasch Nachahmer, die ihre Zeitschriften ebenfalls mit einem Intelligenzblatt verbanden.38 Mangelnde Inserentenzahlen brauchten sie alle nicht zu fürchten. Selbst diejenigen unter den Buchhändlern, die über genügend eigene Verlagsprodukte verfügten, um darin kostenneutral werben zu können, fühlten sich schließlich gezwungen, zusätzlich kostenintensive Inserate in den bekanntesten Blättern zu schalten. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse um die Jahrhundertwende verschärfte sich die Krise des Buchmarktes. In den in dieser Zeit kursierenden buchhändlerischen Reformschriften fiel erstmals der Begriff .Bekanntmachungsunkosten'. Werbung - und darunter verstand man in diesem Moment hauptsächlich die Inserate - war anders als in den Jahrhunderten davor am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Kostenfaktor geworden, der sich einen festen Platz in den buchhändlerischen Kalkulationen zu erobern begann. Friedrich Justin Bertuch war nicht schuld an dieser Entwicklung, aber seine Verlagsprodukte, allen voran die ALZ, die zu wichtigen Werbeträgern für seine Buchhandelskollegen wurden, bildeten einen nicht zu unterschätzenden Schritt auf dem Weg zur Durchsetzung moderner Werbeformen am Ende des 18. Jahrhunderts. Auch im neuen Jahrhundert gingen zahlreiche Impulse von ihm aus. Dazu gehört insbesondere der seit Januar 1805 herausgegebene „Typographische Monatsbericht", der als Urform der heute noch im Buchhandel verbreiteten Kundenmagazine gratis an das Publikum ausgegeben wurde, um es monatlich über laufende Verlagsprojekte, neuerschienene Bücher und über den Inhalt der aktuellen Zeitschriftenausgaben des Landes-Industrie-Comptoirs und des Geographischen Instituts zu informieren.39 Kundenbindung und -gewinnung durch Überwindung der Anonymität des Marktes: Bertuch war auch in dieser Hinsicht seinen Zeitgenossen voraus.
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[Georg Friedrich Rebmann:] Obscuranten-Almanach auf das Jahr 1800. Paris (tatsächlich Altona), bei Gerard Fuchs, Nationalbuchhändler, S. 162f. Zu den wichtigsten gehörten beispielsweise die „Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung" in Salzburg und der in Leipzig erscheinende „Allgemeine Literarische Anzeiger". „Monats-Bericht des F.S. privil. Landes-Industrie-Comptoirs so wie auch des Geographischen Instituts zu Weimar von allen im Laufe des Monats bei beiden Instituten erschienenen literarischen Neuigkeiten und Nachricht von ihren Unternehmungen". Der zumeist aus 16 Seiten bestehende „Monatsbericht" wurde allen Zeitschriften des Landes-Industrie-Comptoirs und des Geographischen Instituts beigelegt, konnte aber auch gratis über die Buchhandlungen und Postämter bezogen werden.
Michael Schütterle
Bertuchs Verlagsunternehmungen in Rudolstadt
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dehnte Friedrich Justin Bertuch seine Verlagsunternehmungen auch auf Rudolstadt aus: Zunächst veranstaltete er im Zeitraum von 1801 bis 1803 zweimal eine ,3ücher- und Kunstwaaren-Lotterie". Von 1807 bis 1816 betrieb er hier die „Hof-Buch- und Kunsthandlung Rudolstadt". Der vorliegende Beitrag entstand durch Zusammenfassung und Überarbeitung einer in zwei Teilen erschienenen Arbeit, die sich als Versuch versteht, die geschäftlichen Beziehungen Bertuchs zu Rudolstadt auf der Grundlage der bisher dazu ermittelten und ausgewerteten Quellen zu beschreiben und dadurch sowohl zur Aufarbeitung Rudolstädter Druck-, Verlags- und Buchhandelsgeschichte beizutragen als auch die aktuellen Bemühungen zur Bestimmung der historischen Leistung seiner Persönlichkeit zu unterstützen.1
I Die ,3ücher- und Kunstwaaren-Lotterie" 1801-1803 Was mag Bertuch veranlaßt haben, das 40 Kilometer von Weimar entfernte Rudolstadt als Standort für eine Filiale seines Industrie-Comptoirs auszuwählen? Die Residenzstadt des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt befand sich am Ende des 18. Jahrhunderts auf einem Höhepunkt ihres geistigen und kulturellen Lebens. In Schloß Heidecksburg herrschten von der Gedankenwelt der Aufklärung beeinflußte Fürsten wie Ludwig Günther Π. (1708-1790, Regent seit 1767) und Ludwig Friedrich II. (1767-1807, Regent seit 1793)2, die höfische Repräsentanz durch die Förderung der Künste und Wissenschaften zu erreichen suchten. In ihren Diensten standen einige gebildete Adelsfamilien sowie bürgerliche Gelehrte und Künstler, die der Residenz zu einem über die Landesgrenzen hinausgehenden Ruf verhalfen. Das gedruckte Buch spielte dabei eine wesentliche Rolle. Seit 1663 wurden in Rudolstadt Bücher gedruckt und verlegt. Unter anderem betrieb hier von 1799 bis 1802 Johann Hartknoch (1768-1819), der Sohn des Verlegers Johann Friedrich Hartknoch, eine Verlagsbuchhandlung.3 Neben der 1748 gegründeten Fürstlichen öffentlichen Bibliothek und der 1778 ebenfalls öffentlich zugänglich gemachten fürstlichen Privatbibliothek in Schloß Hei1
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Vgl. Michael Schütterle: Friedrich Justin Bertuchs Verlagsfiliale in Rudolstadt. Teil 1 : Die Bücher- und Kunstwaaren-Lotterie 1801-1803, in: Blätter der Gesellschaft für Buchkultur und Geschichte. Rudolstadt, Jg. 1, 1997, S. 27-38. Teil 2: Die Hof-Buch- und Kunsthandlung 1807-1816, in: Blätter der Gesellschaft für Buchkultur und Geschichte, Jg. 2, 1998, S. 47-72. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß maßgebliche Primärquellen wie vor allem der Bertuch-Nachlaß im Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar für diese Arbeit nicht herangezogen werden konnten. Vgl. Die Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt 1710-1918. Hg. vom Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt. Rudolstadt 1997. Vgl. Claudia Taszus: Der Buchhändler und Verleger Johann Hartknoch in Rudolstadt 17991801, in: Blätter der Gesellschaft für Buchkultur und Geschichte, Jg. 2, 1998, S. 73-88.
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Michael
Schütterle
decksburg entwickelten sich Privatbibliotheken wie vor allem die von Carl Gerd von Ketelhodt (1738-1814), die um 1804 etwa 16.000 Bände zählte, zu beachtlicher Größe.4 Zum benachbarten Weimar gab es vielfaltige persönliche Beziehungen, die sowohl einen verwandtschaftlichen und gesellschaftlichen Hintergrund hatten als auch von der Übereinstimmung geistiger Interessen geprägt waren. Besonders Friedrich Schillers enges Verhältnis zu Rudolstadt führte dazu, daß seit 1787 einige Jahre lang bedeutende Zeitgenossen wie zum Beispiel die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, Carl Theodor von Dalberg, Carl Ludwig von Knebel, Johann Gottlieb Fichte, Heinrich von Gleichen-Rußwurm, Wilhelm von Wolzogen, Johann Joachim Bellermann oder Charlotte von Stein hierher fanden. Man traf sich dann vor allem in jenem Haus der heutigen Schillerstraße 25, das in dieser Zeit Luise von Lengefeld (1743-1823) zusammen mit ihren Töchtern Caroline und Charlotte sowie Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz (1755-1829) bewohnten.5 Der Geheime Rat und spätere Kanzler, aus einer alteingesessenen adeligen Beamtenfamilie stammend, war bis 1794 mit Caroline von Lengefeld (1763-1851) verheiratet und Gastgeber vieler Gesprächsrunden. Hier lernte Friedrich Schiller am 6. Dezember 1787 seine Frau Charlotte, geb. von Lengefeld (1766-1826) kennen, und hier begegnete er am 9. September 1788 erstmals persönlich Johann Wolfgang von Goethe. Auch Bertuch und dessen Sohn Carl (1777-1815) dürften zu Gast in diesem Haus gewesen sein. Die Bekanntschaft mit F.W.L. von Beulwitz begann bereits 1777.6 Spätestens Mitte der neunziger Jahre gab es persönliche Kontakte zu dem seit 1793 regierenden Fürsten Ludwig Friedrich.7 Nachdem am 9. November 1801 Carl Bertuch in die Rudolstädter Freimaurerloge aufgenommen worden war und sein Vater selbst auch Mitglied werden wollte8 - die Weimarer Loge „Anna Amalia zu den drei Rosen" hatte 1782 auf Friedrich Justin Bertuchs Antrag hin ihre Tätigkeit eingestellt und blieb bis 1808 geschlossen - , kam es häufiger zu Besuchen in Rudolstadt. Bereits im Juli 1802 wurde Carl Bertuch „[...] in Rücksicht seiner erworbenen Kenntnisse und sonstigen guten Eigenschaften [...]" von Fürst Ludwig Friedrich zum Landkammerrat ernannt.9 Die offensichtlich freundschaftlichen Beziehungen zum Fürsten und vor allem zu dem genannten Geheimen Rat und Vizekanzler von Beulwitz, der ebenso wie Bertuch selbst Freimaurer war, könnten Bertuch darin bestärkt haben, die Aktivitäten seines 1791 gegründeten Industrie-Comptoirs, in dem der Handel 4
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Vgl. Michael Schütterle: Die Historische Bibliothek der Stadt Rudolstadt. Geschichte und Sammlungen im Überblick. Rudolstadt 1995, besonders S. 17-30, 76-79 (Schriften der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt; 1) sowie Frank Stewing: Die Lutherdrucke des 16. Jahrhunderts in Rudolstädter Bibliotheken. Teil 1: Katalog. Rudolstadt 1997, S. 14ff. (Schriften der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt; 2). Vgl. grundsätzlich zu Friedrich Schiller und Rudolstadt sowie das Lengefeld-Beulwitzsche Haus, das heutige „Schillerhaus", betreffend, Lutz Unbehaun: „Ein wertes Band der Freundschaft". Friedrich Schiller und seine Zeit in Rudolstadt. Rudolstadt 1996, hier besonders S. 72ff. GSA 06/161, Nr. 1. Horst Heischer: Vom Leben in der Residenz. Rudolstadt 1646-1816 (Beiträge zur schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte; 4), Rudolstadt 1996, S. 259. Ebenda, S. 281. Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt (im folgenden ThStAR). Geheimes Ratskollegium. Geh. Acta in Betref der erbetenen Raths Predicate [...] Sign. E VII 3b, Nr. 3, Bl. 29.
Bertuchs Verlagsuntemehmungen
in Rudolstadt
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von Druckwerken und Gebrauchsgegenständen verschiedenster Art eine wichtige Rolle spielte, mittels einer Lotterie auf Rudolstadt auszudehnen. Seit einer 1661 von dem Londoner Verleger John Ogilby (1600-1676) inszenierten Bücherlotterie zum Abbau seiner Bücherbestände war diese Methode vor allem im 18. Jahrhundert bei Buchhändlern zum gewinnbringenden Verramschen von Lagerresten üblich geworden. Mit dem Verweis auf ein vorangegangenes Gespräch in Rudolstadt bat Bertuch in einem nicht selbst geschriebenen, aber eigenhändig unterzeichneten Schreiben vom 10. April 1801 darum, „[...] eine Bücher- und Kunstwaaren-Lotterie, zu mehrerer Beförderung nützlicher Landesindustrie f...]"10 etablieren zu dürfen. Er bot 200 Taler für jede Lotterie und erwartete dafür „[...] sowohl mit jeder anderweitigen wie auch unbekannten Abgabe und Unkosten dieser kleinen Unternehmung gnädigst verschont zu bleiben, [...] und daß kein erhaltener Lotterie Gewinn mit einem gerichtlichen Arreste beschlagen werden könne".11 Am 20. April 1801 erteilte Fürst Ludwig Friedrich „[...] gedachtem Legations-Rath Bertuch die erbethene Erlaubnis dergestalt, daß solange sein Institut bestehet und fortgehende Dauer hat, keiner andern, seinem Plane ähnlichen Bücher- und Kunst-Waaren-Lotterie in Rudolstadt sich zu etablieren verstattet sein soll [...] wobei wir schließlich noch erklären, daß mit dieser dem Legations Rath Bertuch ertheilten Concession nicht die geringste Garantie verbunden ist, daß solcher diese Lotterie blos auf seine eigenen Kosten zu besorgen hat f...]".12 Bertuch gab seine Absichten in einem gedruckten Lotterieplan bekannt13, den er zusammen mit einem vom 16. Juli 1801 datierten Brief an F.W.L. von Beulwitz nach Rudolstadt schickte. Darin unterstrich er seine Absicht, den Plan „[...] durch große Mannigfaltigkeit und Gemeinnützigkeit der Gegenstände dem Publiko annehmlich zu machen".14 Im einzelnen informierte er ausführlich über den Ablauf, die Bedingungen und die Gewinne der Lotterie. Einleitend bemerkte er, zur Belebung des Buchhandels beitragen und auch weniger zahlungskräftigen Interessenten den Erwerb von Literatur und Kunst ermöglichen zu wollen. Wohl wissend um betrügerische Lotterien, bemühte er sich mit der ausführlichen Darlegung seines Lotterieplanes um das Vertrauen des Publikums und betonte: Wir wollen keinen Rück- noch Seitenblick auf andre falsch angelegte, oder schlecht, confus und unredlich geführte dergleichen Entreprisen werfen, wodurch das Publikum leider schon oft hintergangen, und sein Zutrauen schändlich mißbraucht wurde, sondern unsern ganz einfachen Plan demselben offen hinlegen, und ihn solid und thätig ausführen. Vielleicht gelingt es uns dadurch, seinen Beyfall so wie seine Unterstützung für unsre Anstalt zu gewinnen. Wenigstens ist sie von dem Vorwürfe frey, den man zuweilen gewissen Arten von Geldlotterien macht, daß sie Spielsucht unter den niedem Volksklassen verbreiten, und ihre Moralität verderben; denn unsre Lotterie ist so geeignet, daß sie teutsche
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ThStAR. Geheimes Ratskollegium. Das Gesuch des Hr. Legations Rath Bertuch zu Weimar um eine Concession zu einer Bücher-und Kunstwaaren-Lotterie, betreffend. Sign. Ε, VI 5 f, Nr. 17, Bl. [1] a. Ebenda, Bl. [1] bf. GSA 06/5252. Plan der von Sr. Hochfürstl. Durchl. zu Schwarzburg-Rudolstadt gnädigst concedierten und privilegiirten Ersten Bücher- und Kunst-Waaren-Lotterie des Fürstl. Sächs. privil. IndustrieComptoirs zu Weimar. Weimar 1801. Vgl. Anm. 10, Brief vom 16. Juli 1801, Bl. [21] a.
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Michael Schütterle Industrie befördert, und nur auf ein gebildetes Publikum, und gewiß nicht anders als wohlthätig, wirken kann. 15
Dem Plan zufolge war die Lotterie ein eigenständiges Unternehmen mit Direktion und Offizianten (d.h. Hilfsbediensteten) innerhalb des Industrie-Comptoirs. Sie bestand aus 12.000 Losen ohne Nieten, die, auf 6 Klassen verteilt, im Abstand von jeweils 2 Monaten gezogen wurden. Die Einlagen betrugen je Klasse 8 bis 16 Groschen oder zusammen 3 Reichstaler. Die in Kupfer gestochenen Original-Lose - die Duplikate wurden im Letterndruck hergestellt - trugen die Siegel der zur Aufsicht bestimmten Schwarzburg-Rudolstädtischen Kommission sowie des Industrie-Comptoirs und konnten brieflich bei der Direktion der Lotterie in Weimar bezogen werden. Für die Auslieferung der Gewinne bis nach Leipzig, Nürnberg und Frankfurt am Main übernahm die Direktion die Kosten, von da an gingen sie zu Lasten der Empfanger. Der Gewinn des ersten Bandes eines mehrbändigen Werkes versprach die Möglichkeit, die dazugehörenden Bände unter Angabe der Losnummer mit einem Rabatt von 20 Prozent käuflich zu erwerben. Zu gewinnen waren: Bücher aus dem eigenen Verlag, Landkarten, Erd- und Himmelsgloben und andere geographische Geräte, Kupferstiche, Gemälde, Handzeichnungen, Plastiken, Mineralienkabinette, mathematische, physikalische und optische Geräte aller Art sowie Musikinstrumente wie etwa Fortepianos, Geigen, Violoncellos, Flöten etc.16 In einer zum Plan gehörenden Gewinnliste wurden die einzelnen Buchtitel und Gegenstände für jede der 6 Klassen - 1.000 Gewinne in der ersten, je 800 in den nachfolgenden und 7.800 in der sechsten Klasse - aufgeführt. Bertuch gab auch den Wert der einzelnen Gewinne an, der sich für die 6 Ziehungen der ersten Lotterie auf insgesamt 26.482 Reichstaler belief. Die meisten der zum Gewinn ausgeschriebenen Bücher und „Kunstwaaren" stammten aus den im Industrie-Comptoir zusammengeschlossenen Unternehmungen, aber auch aus anderen Verlagen und Werkstätten. Einen großen Teil der angebotenen Kupferstiche lieferte die Chalcographische Gesellschaft zu Dessau, die 1797 nach einem Plan Bertuchs entstanden war und in dessen Auftrag vor allem Nachstiche von Gemälden produzierte.17 So gab es zum Beispiel in der zweiten Klasse „[...] 6 Blatt Dessauer Kupfer, nämlich: 1) die reuige Magdalena nach Battoni von Pichler, schwarze Kunst. - 12 rthl. 2) Johannes in der Wüste, von demselb. - 12 rthl. 4 Blatt Ansichten von Wörliz, nämlich das Schloß, das gothische Haus, der Venustempel und die Vulkan-Klippe - 16 rthl [...]".18 Zur Verlosung kam u.a. im Wert von 50 Reichstalern ein Band von Bertuchs „Bilderbuch für Kinder" mit kolorierten Kupferstichen,19 einem seiner verlegerischen Meisterleistungen. Das von Bertuchs ökonomischem Weltbild 15 16 17
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Vgl. „Plan"(Anm. 13), S. 1. Vgl. ebenda, S. 2, Punkt 3 a-1. Die Chalcographische Gesellschaft in Dessau bestand von 1796-1806 und war unter der künstlerischen Leitung des Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736-1800) einer der bedeutendsten Kunstverlage der Zeit. - Vgl. Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) - Bewundert, beneidet, umstritten. Berlin und New York 1989, S. 70. Vgl. Anm. 13, Gewinnst-Vertheilung, S. 1. Ebenda, S. 1. Friedrich Justin Bertuch: Bilderbuch für Kinder enthaltend ein angenehme Sammlung von Thieren [...] Bd. 1-12. Weimar: Industrie-Comptoir (ab 1803: LandesIndustrie-Comptoir) 1792-1830.
Bertuchs Verlagsunternehmungen in Rudolstadt
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geprägte Verlagsprogramm des Industrie-Comptoirs war mit Werken über Landwirtschaft, Gartenbau, Botanik, Nationalökonomie oder Geographie vertreten. Im Verhältnis dazu standen nur wenige poetische Werke bereit, wie zum Beispiel die von ihm mitherausgegebene und vor allem Märchen und Sagen enthaltende ,31aue Bibliothek aller Nationen".20 Die Ziehungen der ersten Lotterie fanden, wie im Plan bereits angekündigt, am 3. September und 3. November 1801 sowie am 4. Januar, 3. März, 3. Mai und 5. Juli 1802 in der Ludwigsburg, einem 1742 für Fürst Ludwig Günther II. von Schwarzburg-Rudolstadt fertiggestellten Stadtpalais, statt.21 Die Aufsicht hatte eine vom Fürsten Ludwig Friedrich berufene Kommission unter Leitung von Christian Wilhelm Schwartz (1771-1831). Offensichtlich schien es Bertuch der „[...] Beyfall, den das verehrte Publikum unsrer ersten nunmehr ordentlichen und solid beendigten Bücher- und Kunstwaaren-Lotterie schenkte [...]"22, lohnenswert, eine zweite Lotterie folgen zu lassen, deren Ziehungen dann auch am 7. März, 18. April, 13. Juni, 12. August, 17. Oktober und 12. Dezember 1803 wiederum in der Ludwigsburg stattfanden. Sowohl in der Anzahl als auch im Gesamtwert der Gewinne entsprach sie der ersten Lotterie. Ein großer Teil der in der Liste zur ersten Lotterie angeführten Gewinne wurde auch in der zweiten Lotterie wieder eingesetzt. Bertuch kam den Lotterieteilnehmern noch ein weiteres Mal entgegen, indem er jedem Gewinner ein Umtauschrecht auf „[...] ein ihm unbrauchbares Stück f...]"23 zusicherte. Bertuch bezahlte für beide Lotterien jeweils 200 Reichsthaler, deren Erhalt Prinz Karl Günther (1771-1825) am 27. Januar 1802 und der als Polizist benannte Ludwig Friedrich Röhler am 21. September 1803 bestätigten.24 Bereits 1801, nur wenige Tage nach Erhalt seiner Konzession für die Lotterie, war es zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen Bertuch und der fürstlichen Regierung gekommen. Den Grund dafür lieferte die Erteilung eines vergleichbaren Privilegs zur Durchführung einer Lotterie für Tapeten an den Tabakfabrikanten Christian Friedrich Fleischer aus Jena.25 Bertuch, der sich in kluger Voraussicht das ausschließliche Privileg für seine Lotterie gesichert hatte, witterte sofort Konkurrenz und mahnte in einem Brief an von Beulwitz die Einhaltung der gegebenen Zusicherung an, um „[...] die Verwirrungen und tausendfachen Confusionen, Mißbräuche ja selbst Betrügereyen zu vermeiden, welche ganz unfehlbar daraus entstehen würden, wenn solche sich ähnliche Entreprisen an einem Ort zusammen existierten, und fast einerley Firma und Concession hätten
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Ebenda, S. 3. Die Blaue Bibliothek aller Nationen. Hg. von Christian Friedrich Wilhelm Jacobs und Friedrich Justin Bertuch. Bd. 1-12. Gotha: Ettingersche Buchhandlung. (Bd. 1012: Weimar: Industrie-Comptoir) 1790-1800. Vgl. „Plan" (Anm. 13), S. 2, Punkt 6. Plan der von Sr. Hochftirstl. Durchlaucht Herrn Ludwig Friedrich regierenden Fürsten zu Schwarzburg-Rudolstadt etc. gnädigst concedierten und privilegierten Zweyten Bücher- und Kunst-Waaren Lotterie des Fürstl. Sachs, privil. Landes-Industrie-Comptoirs zu Weimar. Rudolstadt 1803, S. 1. Ebenda, S. 1. Vgl. Anm. 10, Bl. [47] a. Ebenda, Schreiben von C.W. Schwartz an C.F. Fleischer in Jena vom 6. Mai 1801, Bl. [15]af.
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[...]".26 Wenige Zeilen weiter gab er sich wieder unbesorgt, verwies aber noch einmal auf sein Vorrecht: Herr Fleischer, der jetzt eine Tobacksfabrik in Jena hat, dazu ich ihm die hiesige fiirstl. Concession verschaffte, wollte diesen Waaren Rest schon im vorigen Herbste nach der hiesigen Classen Lotterie ausspielen lassen, allein der Unternehmer derselben, Hofrat Gemeiner, war eben so ungefällig gegen diese als gegen meine Proposition, und vermutlich hat sich nun Herr Fleischer deshalben an Ihren Durchl. Fürsten gewandt. Da Herr Fleischer kein eigenes Vermögen besitzt, so zweifle ich auch, daß er Willens sey diese Unternehmung weiter als auf die einzige Ausspielung dieses Lager Restes auszudehnen, und insofern steht sein Vorhaben meinem Institut gar nicht im Wege. Es könnte aber gar wohl kommen, daß ein oder der andere Spéculant, wenn er sähe, daß meine Entreprise gelänge, Lust bekäme auch eine Dette zu machen, wie mir es schon mit mehreren Unternehmungen ginge, und sich neben meinem Institute in Rudolstadt zu etablieren; für diesen Fall muß ich mir die Exclusivam für meine Concession ausdrücklich unterthänigst bedingen [...]. 27
Weitaus mehr muß ihn kurz darauf die Erteilung einer Konzession an Christian Adolf Freiherr von Seckendorff (1767-1833) beunruhigt haben, der ebenfalls mittels einer Lotterie seine eigene Bibliothek in Rudolstadt veräußern wollte. Auch in diesem Fall schien die damit verbundene Geldeinnahme für die Landeskasse den Fürsten zur Zusage bewogen zu haben. Um Bertuchs Privileg nicht zu berühren, sollte von Seckendorff seine Lotterie jedoch in Stadtilm, also außerhalb der Residenzstadt, abhalten. Gerade darüber aber entbrannte der Streit, denn Bertuch berief sich auf die Gültigkeit seines Privilegs für das ganze Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt und schrieb dazu: Ich fürchte zwar die Concurrenz der Seckendorffschen Bücherlotterie keineswegs, glaube auch schwerlich daß das Publicum ihrem Plane sein Vertrauen schenken wird, allein das fürchte ich mit Rechte, da nun auf einmal 2 f[ürstliche] Schw[arzburg] Rudolstädtische concedine Bücher Lotterien auftreten, und in einem Momente ihre Ankündigungen dem Publiko vorlegen, Verwirrung beym Publiko [...] entstehen, und [...] mit der meinigen verwechselt werden wird, woraus mir allerdings Nachteil und Verdruß erwächst. 28
Das fürstliche Ministerium dagegen verwies darauf, daß Bertuchs Konzession nur für Rudolstadt gelte. Um Versöhnung bemüht, schlug man ihm einen Kompromiß vor, auf den er aber nicht einging. Mit einer am 3. Mai 1802 getroffenen Festlegung wies der Fürst schließlich an, Bertuchs Privileg auf das ganze Fürstentum auszudehnen und von Seckendorffs Antrag entgültig abzulehnen.29 Aus diesem Vorgang läßt sich auf die Beharrlichkeit schließen, mit der Bertuch sich durchzusetzen wußte,30 wie auch auf sein Ansehen als eine der bekannten und einflußreichen Persönlichkeiten dieser Zeit, mit der man sich in Rudolstadt nicht überwerfen wollte.
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Ebenda, Brief von Bertuch an von Beul witz vom 16. April 1801, Bl. [5] b. Ebenda, Bl. [6] a. Ebenda, Bl. [24] af. Ebenda, Schreiben vom 27. Juli 1801. Das zeigt auch ein Konflikt, den Bertuch 1801/02 mit dem Weimarer Hofrat Johann Gottfried Gemeiner auszutragen hatte, und bei dem es um die Lotterie ging. Leider kann an dieser Stelle darauf nicht näher eingegangen werden. Vgl. GSA 06/5252.
Bertuchs Verlagsunternehmungen
in Rudolstadt
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Nach Beendigung der zweiten Lotterie gab Bertuch das Lotterie-Unternehmen auf. Ob sein Weggang aus Rudolstadt direkt mit der Kaiserproklamation Napoleons am 18. Mai 1804 und den drohenden Kriegsereignissen in Zusammenhang stand, die er zwei Jahre später persönlich zu spüren bekam, ist wenig wahrscheinlich. Die allgemeinen Verhältnisse waren zu dieser Zeit im politisch eher unbedeutenden Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt noch weitgehend ungestört. Beeinträchtigungen des bis dahin gewohnten gesellschaftlichen Lebens machten sich erst etwa ab Ende 1805 in der Residenzstadt bemerkbar. Hinweise auf Versuche des Fürsten, Zensur auszuüben, ließen sich in diesem Zusammenhang nicht finden. Ebenso auch keine Anhaltspunkte dafür, daß ähnlich wie im Fall von Seckendorffs eine unliebsame Konkurrenz Bertuch von der Fortsetzung der Lotterie Abstand nehmen ließ. Erst 1806 führte der Jenaer Buchhändler Wolfgang Stahl wieder eine Bücherverlosung in Rudolstadt durch.31 Es müssen vorrangig kommerzielle Gründe gewesen sein, die das Ende des Unternehmens herbeiführten. Auch wenn Bertuch zweifellos Verluste einkalkulierte, wo es ihm notwendig erschien, war er in erster Linie ein nüchtern rechnender Kaufmann, der im Interesse seines Gesamtunternehmens stets auf Gewinn bedacht war und unnötige Risiken zu vermeiden suchte. Konkrete Hinweise wie etwa Abrechnungen oder Bemerkungen Bertuchs, die seine Unzufriedenheit über die Ergebnisse der Lotterie zum Ausdruck bringen, sind gegenwärtig nicht zu belegen. Daß es zu Unregelmäßigkeiten bei der zweiten Lotterie gekommen sein muß, läßt sich aus einem Brief Goethes an den befreundeten Schriftsteller und Mediziner Nikolaus Meyer (1775-1855) herauslesen: In meiner Rechnung habe ich eine Quittung über die Lotterielose der Rudolstädter Bücherlotterie bey gelegt. Die Expedition, bey der es nicht zum ordentlichsten zugehen mag, macht mir wegen dieser Zahlung Mäuse, ich bitte daher mir gedachte Quittung gelegentlich wieder beyzulegen. Der ich mich geneigtem Andenken bestens empfehle. Weimar den 18. Januar 1804. Goethe. 32
Zugleich macht dieser Brief einen prominenten Teilnehmer der Lotterie namhaft. Er ist allerdings der einzige, der an dieser Stelle vorgeführt werden kann. Ebenso ist nicht zu benennen, welche Druckwerke und „Kunstwaaren" im einzelnen von wem erworben beziehungsweise gewonnen wurden.
II Die Hof-Buch- und Kunsthandlung 1807-1816 Nach der Aufhebung der französischen Verwaltung über das Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt am 24. März 1807 schien Bertuch die sich hier abzeichnende Entwicklung günstig, seine Verlagsfiliale in Halle aufzugeben und nach Rudolstadt zu verlegen. Diese hatte er 1804 in Halle eingerichtet, vor allem 31
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Vgl. Verzeichnis der Bücher und Prachtwerke, aus welchem den Gewinnern der von Sr. Hochfürstl. Durchl. z. Schwarzb. Rudolstadt gnädigst genehmigten Stahlschen Bücher-Verloosung die Auswahl freystehet. Rudolstadt 1806. Freundschaftliche Briefe von Goethe und seiner Frau an Nikolaus Meyer. Aus den Jahren 1800-1831. Leipzig: Hermann Härtung 1856, S. 13f. - Den Hinweis verdanke ich Herrn Prof. Dr. Erwin Leibfried aus Gießen.
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um sich der Zensur und dem Verbot zu entziehen, mit denen Weimar bereits zu dieser Zeit auf Druck der französischen Regierung einige seiner Verlagswerke belegt hatte. Die französische Besetzung von Halle 1806 zwang ihn jedoch dort schon bald zur Aufgabe seines Unternehmens. In einem am 25. Juni 1807 in Rudolstadt abgefaßten Schreiben erbat er von Karoline Luise (1771-1854, Regentin von 1807 bis 1814), die nach dem Tode ihres Gatten Ludwig Friedrich Π. am 28. April 1807 anstelle des noch minderjährigen Sohnes Friedrich Günther (1793-1867, Regent seit 1814) das Fürstentum regierte, eine Konzession zur Betreibung einer Hof-Buch- und Kunsthandlung Rudolstadt mit der Begründung: Ich bin nemlich entschlossen meine zu Halle bereits etablierte Buch- und Kunsthandlung von dort hierher zu verlegen, da hier noch kein Etablissement dieser Art ist, und damit zugleich ein Landes-Industrie-Institut zu verbinden, vermöge deßen ich auf meine Kosten den Versuch machen wollte, mehrere Zweige der Landes-Industrie zu beleben, und ihnen mehr Kraft und Wirkung zu geben. Ich habe durch mein größeres Etablissement in Weimar bereits schon glückliche Versuche dieser Art gemacht, und ich zweifle nicht, daß es mir durch Zeit und Beharrlichkeit in Verfolgung meines gemeinnützigen Zwecks, mit Eur. Durchl. gnädigster Unterstützung, auch hier gelingen sollte. 33
Die Zusage muß Bertuch aber schon eher erhalten haben, denn am 23. Juni also zwei Tage vor seinem schriftlichen Gesuch - erschien die bereits vom 14. Juni [!] zu Weimar datierte und mit „H. S. privil. Land. Industrie-Comptoir. Das geographische Institut" gezeichnete Ankündigung ihrer Eröffnung im Rudolstädter Wochenblatt: Wir zeigen hierdurch dem geehrtesten Publico in Rudolstadt und der umliegenden Gegend ergebenst an, daß wir, nach dem Wunsche mehrerer dortigen Bücher- und ChartenLiebhaber, ein kleines Commissionslager von allen unsern Verlags-Werken in Rudolstadt, unter der Aufsicht des Hrn. Cammer-Canzley-Secretärs Werlich, errichtet haben, und man daselbst alle unsere Charten, Bücher und andere Kunstwerke um eben den Preiß, als bey uns hier in Weimar, haben könne. 34
Bertuch erhielt die Konzession, ab dem 1. Januar 1808 für die Dauer von sechs Jahren unentgeltlich in den unteren Räumen sowie in Teilen des ersten Stockwerks des ehemaligen Regierungsgebäudes am Markt 7 (dem heutigen Rathaus) eine Hof-Buch- und Kunsthandlung zu betreiben.35 In seinem Dankschreiben an die Fürstin Karoline Luise versprach er, „[...] dieß neue Etablissement für Durchl. Residenz Stadt und dem Lande so nützlich als möglich zu machen [...]".36 Bis zum Einzug stellte der Kammersekretär August Karl Friedrich Werlich (1772-1833) ein besonders eingerichtetes Zimmer in seiner Wohnung zur Verfügung, in dem die Kunden Mittwoch und Sonnabend Nachmittag die Kataloge einsehen, sich von der Qualität der Verlagsprodukte überzeugen und
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ThStAR. Geheimes Ratskollegium. Die von dem Hern Legationsrath Bertuch zu Weimar gebethene Erlaubniß zu Etablirung einer Buch- und Kunsthandlung betreffend. Sign. E VI 5 f, Nr. 19. Rudolstädter Wochenblatt, 39 (1807), Nr. 23, S. 91. Vgl. Hugo Trinckler: Entstehungsgeschichte und Häuser-Chronik von Alt-Rudolstadt. Rudolstadt 1939, S. 59. Vgl. Anm. 33, Brief vom 24. Juli 1807.
Bertuchs Verlagsunternehmungen
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Bestellungen aufgeben konnten.37 Er führte zunächst die Aufsicht, bis dann August Renovanz (gest. 1843) die Funktion des Faktors übertragen bekam. Von Weimar aus kümmerte sich vor allem Carl Bertuch um die Buchhandlung. Welche Rolle hierbei Bertuchs Schwiegersohn Ludwig Friedrich von Froriep (1779-1847) spielte, der bei Trinckler38 als Mitinhaber erwähnt wird, lassen die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Akten des Thüringischen Staatsarchivs Rudolstadt nicht erkennen. Als die Konzession Ende 1813 auslief, stellte die Fürstliche Regierung in ihrem Bericht vom 4. Januar 1814 fest, daß der Plan, ein Industrie-Comptoir zu errichten, nicht erfüllt worden sei und deshalb „[...] dieses Local zu andern öffentlichen Zwecken sehr geeignet seyn möchte [,..]".39 Bertuch dankte mit einem Schreiben vom 6. November 1814 für die bisher gewährte Unterstützung und bat um eine Verlängerung der Konzession,40 die Fürst Friedrich Günther am 14. November 1814 bis zum Ende des Jahres 1820 genehmigte. In einem an diesen gerichteten Schreiben vom 18. Juli 1816 teilte Bertuch schließlich den Verkauf der Hof-Buch- und Kunsthandlung an seinen Faktor August Renovanz mit: Ew. Durchlaucht zeige ich hierdurch pflichtschuldig unterthänigst an, daß ich die mir von Ew. Hochfürst. Durchlaucht gnädigst concedierte hiesige Hof-Buch- und Kunsthandlung meinem bisherigen Faktor Renovanz in derselben, seiner geprüften Treue und seines Wohlverhaltens wegen, unterm 1. Juli d. J. käuflich überlassen habe. Mein hohes Alter und meine sinkenden Kräfte gebothen mir, mehr Ruhe als bisher zu suchen, mich von einem Theile meiner Geschäfte loszumachen und Einrichtungen zu treffen, die auch nach meinem Tode fortbestehen können. Die gnädigste Zufriedenheit, welche Ew. Durchlaucht sowie der ganze Hof und das hiesige Publicum stets äußerten, ließen mich darauf denken Rudolstadt ein gemeinnütziges Institut, so wie Ew. Durchl. einen braven, treuen Bürger und guten fleißigen Vater zu erhalten, und zugleich seine mir treu geleisteten Dienste einigermaßen zu belohnen. Dies glaube ich durch diesen Schritt, der mir zugleich mehr Ruhe schafft, gethan zu haben, und ich wage es die Hof-Buch- und Kunsthandlung und deren nunmehrigen Eigenthümer zu Höchstdero ferneren Gnade und höchsten Protection zu empfehlen, welche zu verdienen er sich mit doppelter Kraft bestreben wird [...]. 41
Obwohl Bertuch in diesem Zusammenhang seinen am 5. Oktober 1815 verstorbenen Sohn Carl nicht erwähnte, dürfte dessen Tod seine Entscheidung maßgeblich beeinflußt haben. Die Leistungen von Bertuchs Rudolstädter Filiale lassen sich im wesentlichen an mehreren Katalogen ablesen. Seit 1807 gab Bertuch zweimal jährlich, jeweils zur Frühjahrs- und Herbstmesse, einen gedruckten Katalog42 heraus, mit dem er das jeweilige aktuelle Angebot seiner Handlung bekannt gab. Dieses bestand sowohl aus aktuell erschienenen Büchern und Zeitschriften als auch, im Sinne 37 38
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Vgl. Anm. 34, S. 91f. Hugo Trinckler: Entstehungsgeschichte (Anm. 35). Da sich Froriep von 1808 bis 1816 in Tübingen aufhielt und erst 1818 in das Landes-Industrie-Comptoir eintrag, läßt sich eine Verbindung zur Rudolstädter Filiale nur schwer herstellen. Vgl. Anm. 33. Ebenda. Ebenda. Verzeichniß der neuen Bücher von der Oster-Messe [Michaelis-Messe] 1807[ff.], welche in der Fürstlich-Schwarzburg-Rudolstädtischen privilegierten Hof- Buch- und Kunsthandlung zu Rudolstadt um beigesetzte Preise zu haben sind. Nr. I [ff.]. Rudolstadt 1807[ff.]
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seiner Unternehmensstrategie, aus Kunstwaren und verschiedensten Gebrauchsgütern. Folgt man den Bücherlisten, so müßten im Durchschnitt etwa 1.000 Titel in den Regalen gestanden haben. Das Frühjahrsverzeichnis von 180843 zum Beispiel enthält etwa 2.300 Titel, alphabetisch geordnet nach soeben erschienenen Schriften in lateinischer und deutscher Sprache, Romanen, Schauspielen und fremdsprachigen Werken. Darunter befinden sich auch einige des Rudolstädter Verlegers Johann Gottlob Klüger (Lebensdaten nicht ermittelt). Zusätzlich zu den Messe-Verzeichnissen erschien 1812 ein Katalog, in dem auch ältere Literatur, Kupferstiche und Musikalien angeboten wurden.44 Anders als bei den genannten Verzeichnissen fand der Interessent darin das Angebot nach folgenden Sachgruppen geordnet vor: I. Theologie und Pädagogik; II. Jurisprudenz; ΙΠ. Philologie; IV. Medizin; V. Physikalisch-chemisch- und naturhistorische Literatur; VI. Arithmetik, Geometrie und Handlungswissenschaft; VII. Oekonomie, Technologie, Botanik, Forstwissenschaft und dergl.; VIH. Philosophie, Historie, Statistik, Politik, Geschichte, Kameralistik, Kriegswissenschaft, schöne Wissenschaften, bildende Künste und dergl.; IX. Kinder und Jugendschriften; X. Reisen; XI. Comödien; XII. Gedichte und Romane; ΧΙΠ. Vorschriften; XIV. Stick-, Strick- und Zeichenbücher; XV. Journale; XVI. Ausländische Bücher; XVII. Kupfer; XVIII. Theoretische Werke der Musik und Musikalien; XIX. Neue Musikalien; Anhang. Möglich ist, daß es sich hierbei um Lagerreste aus den zurückliegenden Jahren handelte, die nun zu herabgesetzten Preisen losgeschlagen werden sollten. Ein weiterer zusätzlich gedruckter Katalog erschien 1813 und enthielt die bis Ende 1812 in der Hof-Buch- und Kunsthandlung verlegten Schriften.45 Verzeichnet sind darin 70 Bücher und Zeitschriften einschließlich mehrteiliger Werke sowie fünf Kupferstiche. Davon waren siebzehn als Kommissionsartikel von Rabatten und Tausch ausgeschlossen. Als das wohl bedeutendste Verlagsprodukt der Hof-Buch- und Kunsthandlung kann die Zeitschrift „London und Paris"46 angesehen werden, die Bertuch 1798 begründete und sein Sohn Carl von 1808 bis 1815 in Rudolstadt herausgab, wo sie auch ihren Abschluß fand. Der mehrfache Wechsel ihres Titels und des Erscheinungsortes stand in einem engen Zusammenhang mit dem wechselhaften politischen Zeitgeschehen, über das die Zeitschrift in unterhaltender Form aus
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Vgl. ebenda, Nr. ΠΙ, 1808, mit XIV, 154,44, 12 S. das umfangreichste Verzeichnis. Erstes Verzeichniß einer Sammlung von alten und neuen Büchern, aus allen Wissenschaften und Sprachen, Kupfern und Musikalien, welche um die beigefügten, merklich herabgesetzten Preise gegen baare Zahlung in Species à 1 thlr. 10 gr. zu haben sind in der privil. Hof-Buchund Kunsthandlung in Rudolstadt. Januar 1812. Rudolstadt 1812. Verzeichniß der Verlagswerke der Fürstlich-Schwarzburg-Rudolstädtischen Hof-Buch- und Kunsthandlung, bis Ende d. J. 1812. Rudolstadt 1813. London und Paris. (Hg. von Friedrich Justin Bertuch). Bd. 1-12. Weimar: Industrie-Comptoir 1798-1803. Bd. 13-20. Halle: Neue Societäts-, Buch- und Kunsthandlung 1804-1807. London und Paris. (Hg. von Carl Bertuch). Bd. 21-24. Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1808-1810. Paris, Wien und London. Ein fortgehendes Panorama dieser drei Hauptstädte. (Hg. von Carl Bertuch). Bd. 1-2. Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1811. Paris und Wien. Ein fortgehendes Panorama dieser drei Hauptstädte. (Hg. von Carl Bertuch). Bd. 3-5. Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1812-1813. London, Paris und Wien. (Hg. von Carl Bertuch). Bd. 6. Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1815.
Bertuchs Verlagsunternehmungen
in Rudolstadt
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den damaligen Weltzentren berichten wollte.47 Allein während der Rudolstädter Erscheinungszeit änderte Carl Bertuch den Titel von „London und Paris" in „Paris, Wien und London. Ein fortgehendes Panorama dieser drei Hauptstädte", „Paris und Wien. Ein fortgehendes Panorama dieser beiden Hauptstädte" und zuletzt in „London, Paris und Wien". 1813 erschien in Kommission der HofBuch- und Kunsthandlung Rudolstadt, also auf Kosten des Autors, Arthur Schopenhauers Dissertation „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde".48 Der angehende Philosoph wohnte vom 9. Juli bis zum 5. November 1813 in dem Rudolstädter Gasthof „Zum Ritter", wo er seine in Berlin begonnene philosophische Abhandlung fertigstellte. Schopenhauers Brief vom 15. September 1813 an Bertuch in Weimar gibt Aufschluß über die Editionsgeschichte seines ersten gedruckten Werkes: Ewr: Wohlgeborn haben mir durch Hrn. Renovans sagen lassen, daß Sie mir riethen meine Abhandlung hier drucken zu lassen, als wo es wohlfeiler und unter meinen Augen geschehen könnte, daß Ewr: Wohlgeb: jedoch solche in Kommission nehmen wollten. Ich habe heute mit dem Hern: Junker gesprochen, der sie für 7 Rth den Bogen, alle Kosten Inbegriffen, 500 Exemplar, drucken lassen will, in sehr anständiger Gestalt. Da mir dies billig scheint gedenke ich sie ihm zu geben, welches jedoch erst gegen Ende des Monats geschehn wird, da sie erst nächste Woche der Universität wird übersendet werden können. Es scheint mir nicht zweckmäßig darauf zu setzen daß sie auf meine Kosten gedruckt ist und da ich hoffe Ewr: Wohlgeb: werden zufrieden seyn daß ich bloß ihre Firma darauf setze, bitte ich mir anzeigen zu lassen ob es die Weimarsche oder die Rudolstädtsche seyn soll. Wenn Censur nöthig seyn sollte, bitte ich Ewr: Wohlgeb: auch dafür zu sorgen, doch glaube ich es nicht, oder wenigstens kann es bloß der Form nach abgethan werden, da die Abhandlung spekulativen Inhalts ist, keine direkte Beziehung auf die Religion und auch nicht die entfernteste auf den Staat oder Politik hat, was schon am Titel Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde zu erkennen ist. Unter Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung nenne ich mich Ewr: Wohlgeborn ergebenen Arthur Schopenhauer 49
Die Schrift wurde in 500 Exemplaren in der Rudolstädter Hofbuchdruckerei von Heinrich Moritz Junker (1766-1814) gedruckt und kam Ende Oktober 1813 in der Hof-Buch- und Kunsthandlung zum Verkauf.50 Bei einem Umfang von neun und einem halben Bogen (148 Seiten) müßte der junge Philosoph nach Junkers Kostenanschlag insgesamt 67 Reichstaler bezahlt haben. Das einzige gegenwärtig in Rudolstadt bekannte Exemplar befindet sich in der Sondersammlung „Bibliothek Beulwitz" der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt.51
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Vgl. Siglinde Hohenstein (Anm. 17), S. 137f., und Gotthard Brandler: Friedrich Justin Bertuch und sein Journal „London und Paris". I. London und Paris und die Journalliteratur um 1800, in: Greizer Studien. Greiz 1989, S. 128-145. Arthur Schopenhauer: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Rudolstadt: In Kommission der Hof-Buch- und Kunsthandlung 1813. Zitiert nach Arthur Schopenhauer. Gesammelte Briefe. Hg von Arthur Hübscher. 2., verbesserte und ergänzte Auflage, Bonn 1982, S. 3. Vgl. Aus den Sammlungen der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt. Drucke, Handschriften, Autographen des 15. bis 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Michael Schütterle (Schriften der Historischen Bibliothek der Stadt Rudolstadt; 3). Rudolstadt 1998, S. 93. Vgl. Schütterle: Die Historische Bibliothek (Anm. 4), S. 72-75.
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Bertuch verlegte auch Johanna Schopenhauers zweibändige „Erinnerungen von einer Reise in den Jahren 1803, 1804, 1805".52 Ebenso erschien 1817 in der HofBuch- und Kunsthandlung, die sich zu dieser Zeit bereits im Besitz von August Renovanz befand, ihr Buch „Reise durch das südliche Frankreich"53, gedruckt in der Rudolstädter Hofbuchdruckerei von Carl Poppo Fröbel (1786-1824). Von einigen bisher kaum zur Kenntnis genommenen literarischen Versuchen des Beamten August Karl Friedrich Werlich, der sich vor allem um die Stiftung eines Denkmals für Friedrich Schiller verdient machte,54 kamen 1810 „Amarant"55 und 1816 „Amor und Psyche"56 durch die Hof-Buch- und Kunsthandlung ans Licht der Öffentlichkeit. Von dem als bedeutendsten Kompositionstheoretiker seiner Zeit geltenden Heinrich Christoph Koch (1749-1816), der ebenfalls aus Rudolstadt stammte und an der Residenz als Musiker wirkte, erschien hier 1812 eine seiner musiktheoretischen Schriften.57 Besonders die Kataloge von 1807 und 1808 verdeutlichen das Angebot von Kupferstichen und Landkarten sowie Kunstsachen und wissenschaftlichen Gegenständen. Mit den beiden letztgenannten Kategorien waren zum einen Gemälde und Plastiken gemeint, zum anderen überwiegend Lehrmaterialien, technische Instrumente, Malerutensilien wie auch Gegenstände für den häuslichen Gebrauch. Ein Auszug aus dieser Angebotsliste zeigt die Produktvielfalt dieser Abteilung: [...] Histor. Darstellungen von dem siebenjährigen Kriege aus den hinterlassenen Werken Fr. des Großen gezogen, gez. v. Dähling, gest. von den vorzüglichsten Meistern, 1. Heft enth. 4 Bl. qu. Fol. 2 thlr. [...]
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Johanna Schopenhauer: Erinnerungen von einer Reise in den Jahren von 1803, 1804, 1805. Bd. 1 und 2. Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1813 und 1814. 53 Johanna Schopenhauer: Reise durch das südliche Frankreich. Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1817. 54 Werlich schuf von 1828 bis 1830 die an einem Felsen in der Nähe von Schillers Wohnung in Volkstedt (1788 und 1789) bei Rudolstadt gelegene Gedenkstätte „Schillershöhe". Dazu ließ er einen Metallabguß von einer Schillerbüste Johann Heinrich von Danneckers anfertigen. Vgl. u.a. Heinz Deubler: Die Schillershöhe bei Rudolstadt-Volkstedt, in: Rudolstädter Heimathefte, Sonderheft im Schillerjahr 1959. Rudolstadt 1959, S. 3 8 ^ 7 . 55 August Karl Friedrich Werlich: Amarant. Von Carl Werlich. Erster bis dritter Abschnitt. Rudolstadt: In Kommission der Hof- Buch- und Kunsthandlung 1810. 56 August Karl Friedrich Werlich: Amor und Psyche, ein lyrisches Drama in vier Acten. Den schönen Vereinen edler, deutscher Frauen und Jungfrauen huldigend geweihet von Carl Werlich. Rudolstadt: Beim Verfasser und in Kommission der Hof-Buch- und Kunst-Handlung 1816. - Vgl. auch Ludwig Friedrich Hesse: Einladungsschrift zu der den 25. und 26. März dieses Jahres bevorstehenden Schulprüfung. Verzeichnis geborner Schwarzburger, die sich als Gelehrte oder als Künstler durch Schriften bekannt machten. 19. Stück. Rudolstadt 1828, S. 17-19. 57
Heinrich Christoph Koch: Versuch aus jeder harten und weichen Tonart, vermittelst des enharmonischen Tonwechsels in die Tonarten der übrigen Stufen der diatonisch-chromatischen Tonleiter auszuweichen. Rudolstadt: Hof-Buch- und Kunsthandlung 1812. Zitiert nach: Verzeichniß der neuen Bücher von der Oster-Meße ... (Anm. 42), S. 5. - Vgl. Markus Waldura: Heinrich Christoph Koch - Hofkapellmitglied, Musiktheoretiker und Komponist, in: Musik am Rudolstädter Hof. Die Entwicklung der Hofkapelle vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur schwarzburgischen Kunst- und Kulturgeschichte; 6). Rudolstadt 1997, S. 175. - Der bei Waldura zitierte Titel Kochs stimmt mit dem Original nicht überein.
Bettuchs Verlagsunternehmungen in Rudolstadt
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Bildnisse unserer berühmten Zeitgenossen, nach guten Originalen gesammelt und gestochen, Iste Lief. enth. C. M. Wieland u. F. J. Gall, in einem farbigen Umschlage 2 Laubthl. - Jedes Portrait einzeln 2 thlr. [...] Kleines Mineralien-Kabinet, zu den Bertuchschen Tafeln der allgem. Naturgeschichte gehörig, in einem Kästchen nebst einer charakterisierenden Darstellung, zum Unterricht in Schulen und zur Selbstbelehrung; herausg. v. Dr. Haberle, mit 2 Kpfrn. 4 Carol, od. 16 Laubthl. [...] Pomologisches Kabinet, enthaltend alle im T. Obstgärtner [d.i. Johann Volkmar Sicklers „Teutscher Obstgärtner", der von 1794 bis 1804 in Weimar erschien. - M. Sch.] beschriebene Obstfrüchte Teutschlands über die Natur selbst geformt, in Wachs mit möglichster Treue nachgebildet, und herausg. unter Aufsicht von J. V. Sickler. 19te Lieferung in einem Kästchen. 3 thl. 12 gr. [...] Eine kleine Handbuchdruckerei in einem Kästchen 3 thl. [...] Allerhand Geburtshülfl[!]-Instrumente, best, in einem compi. Fantom, einem Becken mit und ohne Durchmesser, einer Geburtszange, einer Kopfschere, einem Haken, einem silbernen Katheter, einem Führungsstäbchen, einem Touchier-Apparat, einer Schlinge, einem Cylinder und allerhand Scheiben-Bessaires und Bougies, [ohne Preisangabe! M.Sch.] [...] Feine engl. Tuschkasten von Rewees in London, von 16 gr. - 5 thl. wie auch einzelne Tuschen und schwarze Kreide zu verschiedenen Preisen. [...] Feine deutsche Concept- und andere Schreibpapiere. [...] Auch empfehlen wir uns mit einem schön assortierten Lager in geschmackvollen Arbeiten von feinem Maroquin; best, in Reise-Chatoullen, und mehrern Sorten ReiseNecessaires, Acten-Taschen, Portefeuilles mit und ohne Instrumenten mit silbernen und plattirten Garnirungen für Herren und Damen, feine und extrafeine Rasoirs, Schreibzeuge, Näh- und andere Etuis, Rollbeutel, Tabaksdosen, Etuis zu Zigaros, Knaulhalter, Bouteillenträgern, Geldtaschen, Brillen-Etuis, Notiz- und Tagebüchern, mit Papier oder ächter Oelhaut, Wechseltaschen, Arbeits- und Parfiimkörbchen. Gestochene Mustercharten für Zeuch, Tuch, Cattun, u. auch Stammbücher, und dergl. [...] 58
Zur Weihnachtszeit des Jahres 1811 kamen zum Beispiel auch Spielsachen zum Verkauf. Am 25. Dezember 1811 schrieb August Renovanz an Bertuch: [...] Ich hätte gewünscht, daß Sie unser Gewölbe in diesen Tagen gesehen hätten, die Literatur mußte einstweilen aus allen Fächern weichen, worinnen die größeren Spielsachen, als ganze Equipagen, prächtige Schlitten, Scheiben und Vogelschießkanonen, Billards, Toiletten, Bureaus und dergleichen nacheinander aufgesteliet waren, welche sich besonders abends beim brennenden Kronleuchter ganz trefflich machten [...]. 59
Bertuchs geschäftliche Bindung an Rudolstadt währte elf Jahre. Die von ihm in diesem Zeitraum betriebenen Unternehmungen unterschieden sich weniger hinsichtlich der formulierten Absichten als in den erkennbaren Ergebnissen. Im Gegensatz zur Lotterie, die sich als ein ausschließlich absatzorientiertes Unternehmen ohne feste Bindung an den Ort darstellt, erfüllte die Hof-Buch- und Kunsthandlung die Funktion einer Verlagsbuchhandlung mit einem ständig verfügbaren Sortiment an Büchern und Kunstgegenständen sowie dem Buchverlag in einem zentral gelegenen Gebäude der Stadt. Wie vorstehend aufgezeigt, kündigte Bertuch bei beiden Unternehmungen sowohl in der Antragstellung als auch in den öffentlichen Anzeigen an, zur Förderung einer „Landesindustrie" beitragen zu wollen. Dieses Versprechen entsprach seinen Bestrebungen, mit dem Industrie-Comptoir einen Kreislauf von 58 59
Verzeichnis der neuen Bücher von der Ostermesse 1808 [...] (Anm. 42), S. 5-12. Horst Fleischer (Anm. 7), S. 319.
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Michael
Schatterle
der Produktion und Verteilung geistiger Leistungen sowie von Kunst- und Modeartikeln zu organisieren und diesen auch über die Landesgrenzen des Herzogtums Sachsen-Weimar und dessen Hauptort Weimar hinauszutragen. Daraus ergibt sich die wesentliche Frage, inwieweit es Bertuch tatsächlich gelang, seine Ankündigungen zu verwirklichen. Bei der Lotterie ist kein Anhaltspunkt dafür zu erkennen. Bei der Hof-Buch- und Kunsthandlung dagegen stellt sich das Problem etwas anders. Nach Auffassung der fürstlichen Regierung von 1814 erfüllte Bertuch die in ihn gesetzten Erwartungen zur Errichtung eines Industrie-Comptoirs offensichtlich nicht (vgl. das in Anm. 39 nachgewiesene Zitat). Nachweislich waren jedoch mit der Tätigkeit der Hof-Buch- und Kunsthandlung Aufträge an das örtliche Gewerbe verbunden, die Bertuchs Prinzip der „Landesförderung" im Sinne seines Industrie-Comptoirs entsprachen. Das zeigen die in der Hofbuchdruckerei gedruckten Werke wie zum Beispiel die bereits erwähnte Dissertation Arthur Schopenhauers. Ob auch andere von Bertuch in Rudolstadt angebotene Güter aus Werkstätten des Fürstentums stammten beziehungsweise direkt in Auftrag gegeben wurden wie u.a. Spielzeug, sollte ein Gegenstand wieterer Untersuchungen sein. In diesem Zusammenhang erscheint schließlich die Suche nach konkreten Hinweisen auf ein gemeinsames Verständnis bzw. entsprechende Vereinbarungen zwischen Bertuch und der fürstlichen Regierung über die Leistungen des Rudolstädter Industrie-Comptoirs interessant, aus denen weitere Schlußfolgerungen zur Bestimmung des Verhältnisses von Anspruch und Wirklichkeit im Schaffen Bertuchs gezogen werden könnten.
Bernhard Fischer
Friedrich Justin Bertuch und Johann Friedrich Cotta Die „Phalanx" der Buchhändler*
Unvermeidlich und mit Recht denkt man bei der „Phalanx der Buchhändler" an die Deputation zum Wiener Kongreß, die zum berühmten Artikel 18 d der Deutschen Bundes-Akte führte: „Die Bundes-Versammlung wird sich bey ihrer ersten Zusammenkunft mit Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreyheit, unter Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck, beschäftigen." - Die Geschichte der Verhandlungen in Wien ist geschrieben und darf an dieser Stelle als bekannt vorausgesetzt werden;1 weitgehend unbekannt ist deren Vorgeschichte, um die es im folgenden geht: daß die Deputation die Schlußetappe eines langen gemeinsamen Wegs von Bertuch und Cotta bildete, der mit Vereins- und Reformprojekten wie gepflastert war - Projekten, die motiviert waren von der heillosen Organisation des deutschen Buchhandels und der Leipziger Börse im besonderen. Vorab: Daß Bertuch und Cotta zusammenfanden, verwundert wenig, sieht man die „Allgemeine Literatur-Zeitung", das „Journal des Luxus und der Moden", das „Garten-Magazin", „London und Paris", die „Allgemeinen Geographischen Ephemeriden" auf der einen, die „Europäischen Annalen", die „Allgemeine Zeitung", das „Morgenblatt" auf der anderen Seite. Bertuch und Cotta waren durch ihre Journale und Zeitungen national, ja international operierende Großverleger mit höchst leistungsfähigen Vertriebswegen und weitgespannten Korrespondentennetzen. Beide verkörpern einen neuen Typus von Verleger, der, statt bloß auf Manuskripte zu warten, die er dann als Bücher verbreiten könnte, durch das Angebot von Publikationsforen selbst zum Textproduzenten wird. Aber die Reihe der Periodika, die sich nicht nur bei Cotta noch um einige verlängern ließe, markiert auch den Unterschied zwischen einem wesentlich wissenschaftlich-kulturell und einem stark politisch ausgerichteten Verlag - welcher Unterschied ebenso aus der verschiedenen Generationszugehörigkeit der Verle-
*
1
Zu Dank verpflichtet bin ich der Stiftung Weimarer Klassik, die mir durch ein einmonatiges Bertuch-Stipendium die nötigen Vorstudien am Bertuch-Nachlaß im Goethe- und SchillerArchiv ermöglicht hat. Dem Goethe- und Schiller-Archiv verdanke ich die freundliche Genehmigung, Handschriften aus seinem Bestand in Auszügen zu veröffentlichen. Einschlägig: Siegfried Seifert: Der Weimarer Verleger Carl Bertuch und der Wiener Kongreß. Mit einem Anhang bisher ungedruckter Dokumente aus dem Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv, in: Mark Lehmstedt (Hg.): Beiträge zur Geschichte des Buchwesens im frühen 19. Jahrhundert. Ausgewählte Referate der Tagung des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens vom 25. bis 17. September 1992. Wiesbaden 1993. (Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens. Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte; 3), S. 25-51. - Vgl. zur Deputation auch die stark gekürzte Edition: Carl Bertuchs Tagebuch vom Wiener Congreß. Hrsg. von Hermann Freiherr von Egloffstein. Mit einem Bildniß. Berlin 1916. Vgl. auch den Vorabdruck in der „Neuen Rundschau" vom Oktober 1915 bis Januar 1916.
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Bernhard Fischer
ger rührte wie beider ausgebreitete nichtverlegerische, „industrielle" Aktivitäten. Dachte und handelte Bertuch letztlich merkantilistisch-kameralistisch in den Dimensionen der Manufaktur und Naturgeschichte, so Cotta, der in den 1820er Jahren zu einem entscheidenden Promotor der Dampfschiffahrt wird, in den Dimensionen der Technik, der Industrie und einer weltumspannenden öffentlichen Kommunikation. Blickt man noch einmal auf die Periodika, dann ist es kein Zufall, daß die erste Verbindung zwischen Cotta und Bertuch sich über die „Neueste Weltkunde", die spätere „Allgemeine Zeitung", herstellt. Als diese Zeitung kurz nach ihrer Gründung 1798 wegen ihrer revolutionsfreundlichen Tendenz vom Verbot bedroht war, sondierte Cotta über Carl August Böttiger die Möglichkeit, ob sie nach Weimar (oder Jena) umgesiedelt werden könnte und - im Falle, daß sie verlegt würde - ob Bertuch (oder Frommann) sich an dieser Zeitung beteiligen wollten. Böttiger wandte sich daraufhin an Frommann, denn „an Bertuch sei gar nicht zu denken", mußte aber melden, daß weder Jena noch Weimar „wegen des schlechten Postcursus der wohlgelegenste Ort zu einer solchen Unternehmung, die darum hier manche Kosten und Schwierigkeiten haben würde", sei, daß Frommann sich angesichts der notorischen Parteilichkeit der Zeitung auf keine Assoziation, wohl aber auf Unterhandlungen zur Übernahme einlassen würde.2 Bertuch war also aus dem Spiel, bevor es überhaupt angefangen hatte; dabei darf man annehmen, daß Böttiger nicht aus Intriganz darauf hinwies, daß bei der „Weltkunde" „an Bertuch gar nicht zu denken sei", sondern aus wahrhaftiger Kenntnis von dessen verlegerischen Interessen. War die erste Anknüpfung auch mißlungen, so ergab sich doch das Weitere wie natürlich aus der Interessengemeinschaft auf einem anarchischen Markt. Cotta wie Bertuch sahen sich als Großverleger den Fährnissen eines gerade in den 1790er Jahren explodierten Buchmarkts ausgesetzt, in dem die Spaltung des Buchhandels in Leipziger und Reichsbuchhandel, wie sie noch die „Nürnberger Schlußnahme" von 1788 markiert hatte, weitgehend beseitigt war und dessen dynamische Faktoren: die Entstehung einer „öffentlichen Meinung" im Gefolge der Französischen Revolution und die der klassischen deutschen Literatur, Cottas Verlag wie kein anderer repräsentiert. Leipzig bildete weiterhin das Zentrum, denn hier wirkten die Kommissionäre als Verteiler, und hier wurde zur Jubilatemesse wechselseitig abgerechnet und bezahlt. Doch so unbestritten Leipzig als Messeplatz und Drehscheibe von der Verdichtung des literarischen Diskurses profitierte, so unübersehbar waren die zentrifugalen Kräfte, welche die Verstetigung des buchhändlerischen Verkehrs mit sich brachte. Der Buchhandel löste sich zunehmend von den Messen: Der zuerst in Süddeutschland aufgetretene „Conditionshandel" wurde allgemeine Praxis auch unter den (größeren) Kollegen im Norden; neue Artikel wurden das ganze Jahr über „pro novitate" von den Verlagen an Buchhandlungen versandt und zumindest an große Handlungen ebenso regelmäßig auch per Fuhre geliefert. Die Geschäftstätigkeit der Groß2
J.F. Cotta an Carl August Böttiger, 17. Juli 1798 (SLB Dresden, Böttiger-Nachlaß), 28. August 1798 (SLB Dresden, Böttiger-Nachlaß; abgedruckt in: Ernst Friedrich Sondermann: Karl August Böttiger. Literarischer Journalist der Goethezeit in Weimar. Bonn 1983 [Mitteilungen zur Theatergeschichte der Goethezeit; 7], S. 122f.); Böttigers Antwort vom 6. September 1798 ist publiziert in: Sondermann: ebenda, S. 123f.
Bertuch und Cotta
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Verleger erstreckte sich von Königsberg bis nach Zürich, von Wien und Prag bis Hamburg, wobei sich die Großverleger eines Netzwerks von Kollegen bedienten, die nach gleichen Grundsätzen arbeiteten. Eine entscheidende Rolle bei der Verstetigung spielte die Intensivierung der Buchwerbung auf den Umschlägen der Zeitschriften und in den Literaturzeitungen. Namentlich die ALZ und ihr Intelligenzblatt zeigten mit wünschenswerter Vollständigkeit das bestehende Verlagsangebot und die Neuigkeiten im ganzen Reich an und erzeugten so eine Nachfrage, die schnell befriedigt sein wollte. An der Entwicklung der Verlagsverträge und der Honorare läßt sich nachvollziehen, wie sich im literarischen System der „Autor" neu definierte. Die exklusive Autorität der alten „Gelehrtenrepublik" zerging, aus den Nebenerwerbspublizisten entwickelte sich der professionelle Autor. Der florierende Buchmarkt, der permanente Hunger nach Lesestoff, zog wie „unzünftige" Verleger auch alle Sorten von „unberufenen" Textfabrikanten an - Ursache zur Klage der gestandenen Berufspublizisten nicht erst in den 1820er Jahren, sondern schon sehr viel früher. So erträumte sich Friedrich Buchholz schon 1807 angesichts des Prospekts von Cottas „Morgenblatt" eine gründliche Flurbereinigung: Mit großem Vergnügen hab ich den Prospectus zu Ihrem Morgenblatt gelesen: Wissen Sie, was Sie sind? Der Napoleon unter den Buchhändlern. Auch geht es Ihnen, unter uns gesagt, mit den Buchhändlern, wie Jenem mit den Königen. Hier [in Berlin, B.F.] jedenfalls nennt man Sie immer den literarischen Corsaren, der alles Gute für sich allein haben soll. Ich lache darüber; denn mir komt das recht gelegen. Hätten Sie es nur erst dahin gebracht, daß die Zahl der deutschen Buchhändler auf die Hälfte, wo nicht gar auf das Drittel reduzirt wäre! 3
Die literarische Konjunktur war der Nährboden für einen grassierenden Nachdruck. Er stellte den rechtlichen Buchhandel vor unlösbare Probleme: Der Rechtsschutz der Landesprivilegien reichte nur bis zur Landesgrenze, der des für das Reichsgebiet geltenden kaiserlichen Privilegs war ebensowenig durchzusetzen wie eine Klausel gegen den Nachdruck in der Wahlkapitulation Leopolds II. vom Jahre 1790. Der Ausschluß der Nachdrucke von den Messen traf die Nachdrucker wenig, da sie vor allem in abgeschlossenen Teilmärkten operierten. Die Nachdrucker von den Messen zu verbannen, hätte nur dazu geführt, sie ganz in die Anonymität zu treiben. Zudem war die Lage bei weitem nicht so durchsichtig, wie die immer wieder genannten Beispiele Trattner und Schmieder suggerieren. Denn bei vielen Verlagen - auch bei Trattner und Schmieder - lief der Nachdruck neben einem durchaus ehrenwerten Originalverlag mit, und wie bei den rechtlichen Kollegen diente er im Rahmen der Mischkalkulation dazu, wichtige, aber weniger verkäufliche Titel zu stützen; zudem kamen die rechtlichen Verleger nicht umhin, sich auch solcher Kollegen beim Druck oder Vertrieb zu bedienen. Das einzige Mittel, das den Originalverlegern blieb, war, durch den Verkauf des Originalartikels zum Preis des Nachdrucks diesem das Wasser abzugraben. Zum Nachdruck kamen ein „grauer" Markt, der von „unzünftigen" Nebenerwerbsbuchhändlern wie Posthaltern, Lehrern und Hausierern unterhalten wurde, die Schleuderer, die ihre Bücher mit Rabatten verkauften, und die unsoliden 3
Friedrich Buchholz an J.F. Cotta, 5. Januar 1807 (DLA/CA, Cotta Br. Buchholz).
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Kollegen, die, ohne ausreichendes Kapital und Sachkenntnis, angelockt vom schnellen Geld, die auf Vertrauen gegründeten Geschäftsusancen ausnutzten namentlich das Kreditgeben, das „Übertragen" und das Versenden „pro novitate" und die Bestellungen „à condition" - das Sündenregister wäre nachzulesen in Göschens „Gedanken über den Buchhandel" von 1802.4 Gerade die großen Verlage waren erheblichen Risiken ausgesetzt, und so war es kein Wunder, daß Bertuch und Cotta nach der ersten von Böttiger vermittelten losen Bekanntschaft alsbald auf dem Gebiet der Buchhandelsreform zusammenarbeiteten und daß ihre Lösungen ganz praktisch-merkantil orientiert waren. Schon in den Jahren 1800 und 1801 sehen wir Bertuch und Cotta beim Versuch, einen Verein der soliden und rechtlichen Buchhandlungen zu gründen - womit sie in die Spuren von Philipp Erasmus Reichs „Nettoreform" von 1764 traten. Die spärlichen Quellen lassen erkennen, daß es darum ging, nach einem internen „census" unterschiedlich Kredit einzuräumen und so die anderen Buchhandlungen durch schiere Marktmacht zu zwingen, ihre Geschäfte „rechtlich" zu führen. 5 Der Plan wurde allerdings ebensowenig verwirklicht wie jener einer Buchhandelsassekuranz gegen den Nachdruck, den Cotta im Jahr 1801 gegenüber Rudolf Zacharias Becker favorisierte.6 Gut möglich, daß er diesen Plan Bertuch verdankte, der ihn selbst schon Ende der 1780er Jahre erwogen und verworfen hatte. Damals sollte die Londoner „General Insurance" im Falle eines Nachdrucks einem Verleger seine Auslagen ersetzen. Wie Bertuch seine Kollegen einschätzte, zeigt, daß man in diesem Plan auch die Einrichtung eines Kommitees für nötig hielt, das zunächst einmal prüfen sollte, ob der versicherte Verleger „ein ehrlicher] Mann oder ein Schurcke" sei und ob die Nachdrucke nicht vom Verleger selbst fabriziert worden seien.7 Beide Ideen zeigen, wie drückend die Lage und wie überfordert die Börsenorganisation in Leipzig war, so daß man sich nur noch selbst helfen zu können glaubte. Beide Initiativen waren so etwas wie der Vorspann des sogenannten Horvath-Göschenschen Reformversuchs von 1802/1804, in der die Reformdebatte institutionelle Formen annahm und an der Cotta - nicht aber Bertuch führend beteiligt war; er war einer der sechzehn Deputierten, die in ihren Regio4
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Georg Joachim Göschen: Meine Gedanken über den Buchhandel und über dessen Mängel, meine wenigen Erfahrungen und meine unmaßgeblichen Vorschläge dieselben zu verbessern. Abgedruckt in: Der deutsche Buchhandel in Urkunden und Quellen. Hg. von Hans Widmannn, Horst Kliemann und Bernhard Wendt. Bd. 1. Hamburg 1965, S. 68-82. J.F. Cotta an F.J. Bertuch, 8. September 1801 (GSA 06/327). J.F. Cotta an Rudolf Zacharias Becker, 14. Dezember 1801 (Staatsarchiv Hamburg). - Laut Johann Ludwig Klüber stellte Becker selbst das Projekt 1802 in seinem Allgemeinen Reichsanzeiger vor (1802, Nr. 114, s. Klüber: Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815. Erlangen 1815, Bd. 4, H. 13, S. 24); die Assekuranz-Idee wurde dann wieder 1814 vom Nürnberger Correspondenten von und für Teutschland (Nr. 338, vgl. Klüber: ebenda) aufgegriffen, auch Cotta spielte im selben Jahr (9. Juli 1814, GSA 06/5316) und noch einmal am 7. September 1817 (GSA 06/327) gegenüber Bertuch diese Idee aus. - Ein weiteres frühes Zeugnis der Assekuranz-Idee: „Anzeige einer Bücherassecuranz ab alle respective Herrn Buchhändler und Bücherverleger" von Johann Friedrich Edler von Schönfeld und Trnowa und Franz Gualfinger (sie) Ritter von Steinsberg (datiert Wien im September 1792), findet sich in der Abschrift Carl Bertuchs im Bertuch-Nachlaß (GSA 06/5315). „Grund Sätze auf denen meines Erachtens die Operationen gegen den Nachdruck in Teutschland ruhen müßen" (GSA, 06/5315).
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nen Vorschläge sammeln sollten. Die Debatte, an der selbstverständlich auch die Schleuderer und Nachdrucker teilnahmen, führte zur Konzeption eines „Vertrags der Buchhändler über einige Gegenstände ihres Handels", einer Art Selbstverpflichtungserklärung zu bestimmten rechtlichen Normen, die jedermann unterschreiben konnte, weil sie keine justitiable Wirkung hatte und die projektierten Schiedsgerichte einen zu nichts hätten zwingen können8 - und so wurde der Vertrag folgerichtig nie praktisch wirksam. Die Lage des Buchmarkts wurde nach dem Ende des Alten Reichs (1806) schlichtweg katastrophal. Nur kurz schöpften Bertuch und Cotta Hoffnung, daß sich im neugegründeten Rheinbund etwas auswirken ließe - ein erster Ansatz immerhin, bei Regierungen selbst vorstellig zu werden. Aber die verschiedenen Staaten hatten kein Interesse an übergreifenden Staatsverträgen, ließ sich doch an der Privilegierung von Originalwerken wie an den Nachdrucken verdienen. So blieb es bei der Reform der Buchhandelsgesetze in einzelnen Staaten wie Baden und Bayern. Dazu kam noch die Buchhandelskrise im Gefolge der Napoleonischen Kriege und der „Kontinentalsperre": Waren die Messen nach 1800 schon nicht gut gewesen, so waren sie zwischen 1806 und 1813, abgesehen von jenem Irrlicht zu Ostern 1810, schlichtweg Desaster - die Ostermesse 1813 fiel gar aus. Sie waren gezeichnet von Geldmangel, wertlosem Papiergeld in Österreich und Zahlungsunfähigkeit - Zwänge, denen man nur dadurch ausweichen konnte, daß man den Verlag einschränkte und bei Brotartikeln Zuflucht suchte. So Bertuch, so auch Cotta - dieser aber hatte bei seiner Programmgestaltung eine so glückliche Hand, daß ihm Krieg und Krise nicht nur nichts anhatten, sondern daß er Jahr für Jahr sein Vermögen ausbauen konnte. Verantwortlich dafür waren zum einen die Zeitungen und Zeitschriften; zum anderen der Aufbau einer ganzen Reihe von „Longseilern", die auf Subskriptionsbasis über mehrere Jahre erschienen (zu nennen sind hier die Gesamtausgaben Goethes, Herders und Johannes von Müllers); zum dritten eine Auswahl leichterer Ware (Caroline Pichler, Kotzebue etc.) und vor allem ein breites und in hohen Auflagen auf den Markt geworfenes Angebot von französischen Sprachlehren, Dictionnaires und Übersetzungsbüchern des Abbé Mozin. Der entscheidende letzte Schlag gegen den deutschen Buchhandel kam aus Frankreich. Gestützt auf das napoleonische Februardekret von 1810 wurden drakonische Zölle und - mit Hinweis auf eine fehlende zweckmäßige Leipziger Zensur - schikanöse Prozeduren beim Import nach Frankreich eingeführt,9 dann 8
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Abgedruckt in: F. Hermann Meyer: Der deutsche Buchhandel gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhunderts, in: AGB 1882, Bd. 7, S. 199-249, hier S. 234-242. Bezeichnend für die Hilflosigkeit ist, daß das einzige Zwangsmittel gegen den Nachdruckverkäufer: ihm den Kredit zu verweigern, hier verworfen wurde. Am 5. Februar 1810 erließ die napoleonische Regierung für Frankreich ein Buchhandelsdekret, das Frankreich eine Reform des Urheberrechtes und der Zensur bescherte und das die Modalitäten des Schriftenimports neu und in durchaus schikanöser Weise regelte: Die Ware, die französische Buchhändler von Deutschland importierten, mußte vor Grenzübertritt mitsamt dem Grenzübertrittszollamt in Paris angezeigt werden; der Generaldirektor entschied dann auf Grundlage der Liste, ob er die angezeigten Titel zur Zensur anfordern wollte Periodika mußten nur beim ersten Bezug und bei der Abbestellung angegeben werden. Nach der Freigabe der Ware von Paris aus gelangten die Bücher in einer umständlichen Prozedur bis zu dem „Vérificateur à l'estampille", der die Ware in Gegenwart des Adressaten öffnete und nochmals mit der Liste der freigegebenen Bücher verglich. Die französische Regierung
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in den neu errichteten norddeutschen Hansedepartements10 fast alle auswärtigen deutschen Zeitungen und Journale einschließlich des Transits verboten, schließlich der Nachdruck in den (neu-)französischen Gebieten unterstützt. - Wieder schlug die Stunde für die Zusammenarbeit von Cotta und Bertuch, und die sollte die unmittelbare Wurzel für die Kongreßreise und die Blankovollmacht der Deputierten werden. Ihnen schloß sich Friedrich Perthes an, der im französisch besetzten Norddeutschland saß und früh die Drohung erkannte, daß die neufranzösischen Gebiete vom deutschen Buchmarkt abgeschnitten würden. Wenig zufällig waren es diese drei: Bertuch und Cotta waren durch ihr ausgedehntes Verlagsgeschäft, im besonderen durch ihre Zeitschriften und Zeitungen, Perthes aber als fast ausschließlicher Sortimenter wie sonst keiner abhängig von der Freiheit des Handels und Verkehrs und von liberalen Zensurbestimmungen, und dies nicht nur in Deutschland, sondern auch im internationalen Bereich. Ihr ausgedehntes Geschäft, ihr internationaler Aktionskreis zwang sie zum weitsichtigen Handeln; und wenig zufällig sollte Paul Gotthelf Kummer, der führende Leipziger Commissionär, später der Leipziger Verleger sein, der am engsten mit der „Phalanx" zusammenarbeitete. Angesichts der drohenden Gefahr offenbarte sich die völlige Ohnmacht des deutschen Buchhandels. Die Leipziger Buchhändler und die sächsischen Behörden agierten schleppend und wenig entschieden, überdies blockten sie alle weiterreichenden Vorschläge seitens der auswärtigen Bertuch, Cotta und Perthes ab. Bezeichnend ist, daß man nun, als zum ersten Mal nach Philipp Erasmus Reichs Tod Deputierte gewählt wurden, das Mandat von 1773 ignorierte und nur drei Leipziger, aber keine Auswärtigen wählte.11 Cotta äußerte sich in seiner Denkschrift vom 24. Mai 1810,12 die eine grundlegende Reorganisation des Buchhandels forderte. Die Grundlage bildete die Erkenntnis:
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11
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bediente sich des Arguments, diese eigene Zensur sei notwendig, weil die in Leipzig verhandelte Ware dort nicht hinreichend zensiert würde. Damit traf die Napoleonische Pressepolitik unmittelbar den Handel in Leipzig und seine Organisation. Am 18. Dezember 1810 wurden die Hansedepartements von Frankreich annektiert; am 20. August 1811 wurden die französische Constitution und Gesetze eingeführt. Geschichte des Deutschen Buchhandels. Im Auftrag des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler hg. von der Historischen Kommission desselben. Bd. 4: Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Beginn der Fremdherrschaft bis zur Reform des Börsenvereins im neuen Deutschen Reiche. (1805-1889). Leipzig 1913, S. 33. - Das Mandat vom 18. Dezember 1773 sah die Möglichkeit vor, zur Konsultation sechs auswärtige Buchhändler als Deputierte beizuziehen. Die Denkschrift findet sich in einem der Konvolute zur Wiener Buchhandelsdepuation im Nachlaß Carl Bertuchs (GSA 06/5315). Im selben Konvolut findet sich noch eine weitere Abschrift, die neben leichten Textveränderungen auch die letzten Absätze nicht bietet, dasselbe gilt für eine weitere Abschrift im Nachlaß Perthes im StA Hamburg (622-1 Fam Perthes I). - Deutlich orientiert sich Cottas Denkschrift an den „Fragepunkten" der sächsischen Commerzdeputation, zu der diese am 21. April 1810 von der Regierung aufgefordert worden war (Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels [1805-1889], S. 25), so daß man in ihr eine erste (angeforderte) Stellungnahme eines Nicht-Leipziger Buchhänders vermuten muß. Denkt man daran, daß Perthes wohl schon vor oder auf der Jubilatemesse 1810 die Buchhändler zu einer Petition beim sächsischen König bewegen wollte (so Perthes in seinem Gutachten zu den „Fragepunkten" vom Oktober 1810), denkt man an Perthes' Gutachten, so erklärt sich Goldfriedrichs Behauptung: „Die Verhandlungen über das Verlagsrecht [...] spielten sich nur in einem Schriftenwechsel der obersten Regierungsbehörden ab, und die über die Lage des Leipziger Buchhandels wurden im Juni 1811
Bertuch und Cotta
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Die dermalige Lage des Buchhandels ist keineswegs glänzend. Die Ursache davon ist zwar vorzüglich in den Zeitumständen zu suchen, doch ist der Hauptgrund, warum das Schlimme noch schlimmer wird, in den Buchhändlern selbst u. in der verkehrten Art, womit sie ihr Geschäft treiben, zu finden.
Deshalb sei der Buchhandel der staatlichen Aufsicht Sachsens zu unterstellen; diese solle eine weitreichende korporative, dabei merkantilisch gegründete Selbstverwaltung des Buchhandels organisieren. Zum einen sollte der „nationale" Buchhandel strikt in Leipzig zentralisiert werden - dies in Gestalt der „Commissionare", die allein den überregionalen Handel auf dem „Centralplatz" Leipzig abwickeln, aber auch über die Zulassung von Verlegern zum Handel entscheiden sollten, insofern ihnen die nötigen Fonds hätten ausgewiesen werden müssen. Zum anderen sollten aus der Bücherkommission „Büchergerichte" eingerichtet werden, die in finanziellen und verlagsrechtlichen Auseinandersetzungen entscheiden sollten. - Man sieht, wie Cotta den Lösungsansätzen der Horvath-Göschenschen Debatte von 1802/1804 obrigkeitliche Gewalt geben möchte. Diese Gedanken, die mit Sicherheit Ergebnis der Diskussionen von Bertuch, Perthes und Cotta waren, boten dann auch Perthes' Gutachten vom Oktober 1810 zu den „Fragepunkten" der sächsischen Commerzdeputation13 und seine „Vorschläge zur Abwendung der Gefahr die der Einheit des deutschen Buchhandels droht" von der Jubilate-Messe 1811.14 Interessant, weil Ausdruck der Desillusionierung über die französische Buchhändelspolitik wie des zunehmend politischen „nationalen" Tonfalls, ist dabei die deutlich veränderte Tendenz der beiden Schriften: Regte das Oktober-Gutachten noch an, die sächsische Regierung möge gegen den Nachdruck auf ein einheitliches Verlagsrecht im Rheinbund sowie auf ein sächisch-französisches Abkommen über das Verbot des Debits von Nachdrucken hinwirken, so fehlte dann in den „Vorschlägen" dieser Ansatz völlig; statt dessen pointierte er seine Lieblingsidee, der Buchhandel sei „das Mittel zur Einheit" der deutschen Nation. - Wie schon erwähnt, die sächsischen Behörden lehnten ab, oder erklärten sich für unzuständig; Böttiger erwies in dieser Lage den drei Verschworenen und der Sache des Buchhandels einen Bärendienst, als er Perthes' Gutachten von der Jubilate-Messe 1811 zu einem Brief an den sächsischen König umschrieb und mit Perthes', Bertuchs, Cottas und Campes Namen unterzeichnete - ohne diese informiert zu haben, was natürlich aufflog;15 alle
13 14
15
eröffnet" (Goldfriedrich: ebenda, S. 28f.) aus der „offiziellen" Perspektive einerseits der Commerzdeputation, andererseits der Börsencommission. Das Gutachten findet sich im Cotta-Achiv als Abschrift (DLA/CA, Cotta/Morgenblatt). Die Denkschrift ist in Abschriften im Cotta- (DLA/CA, Cotta Morgenblatt) und im BertuchArchiv (GSA 06/5315) überliefert. Kummer fragte angesichts des angeblichen Briefs von Perthes bei Cotta nach (J.F. Cotta an F.J. Bertuch, 9. Juli 1811 [GSA 06/327]) und wandte sich dann wegen des offenbaren Betrugs an Perthes (Friedrich Perthes an F.J. Bertuch, 14. August 1811 [GSA 06/1413]); an Böttiger schrieb Cotta am 25. August 1811: „Wenn ich Perthes Ideen bei fleissigem Durchlesen im Allgemeinen billigte, u. nur einige Modificationen rieth, so konte diß doch nicht so gedeutet werden, daß sie in meinem Namen unterschriben wurden - Hievon hätten Sie mich zuvor belehren sollen, ich würde dann den Aufsaz nur nach meinen Modificationen unterschriben haben - Übrigens sind alle dise Schritte u. Bemühungen umsonst; wolte die Regirung für den Buchh. etwas thun, so mußte sie voriges Jahr meinen Rath befolgen u. in Paris die nöthigen Schritte machen, dann wäre die Sache umgeleitet gewesen, ehe das Neue kam, wo nun alles eine andre Gestalt hat." (SLB Dresden, Böttiger-Nachlaß). - Böttigers Brief ist
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diese Denkschriften, Produkte der internen Diskussion, nahmen Cotta und Carl Bertuch dann übrigens auf den Wiener Kongreß als Argumentationshilfe mit. Die Erfahrung, daß die Buchhändler der Buchhändler ärgste Feinde waren, die Erfahrung, daß mit der von den Leipziger Buchhändlern dominierten Börsenorganisation und dem Königreich Sachsen nicht zu rechnen war, führte dazu, daß sich Bertuch und Cotta auf eigene Faust in Paris um Abhilfe mühten. Allerdings erfolglos - sie mußten einsehen, daß die napoleonische Politik Uberhaupt nicht an einer Lösung interessiert war, daß es ihr - wie auch an den gleichzeitigen drakonischen Zensurinitiativen gegen die Presse abzulesen - vielmehr um eine totale Kontrolle der öffentlichen Meinung ging und daß sie dabei vor einer Strangulation des Buchmarkts nicht haltmachte. Und es ist nicht zuletzt diese Erfahrung, die auf dem Wiener Congreß dazu führte, daß der sonst so zurückhaltende Cotta vehement für die Preßfreiheit warb, ja in dem auf dem Kongreß gemeinsam mit Carl Bertuch verfaßten kurzen Mémoire das Schwergewicht auf sie legte.16 Die Enttäuschung über Leipzig kam nicht überraschend: Im Grunde hatten Bertuch, Cotta und Perthes im Kampf gegen die französische Buchhandelspolitik von den Deputierten und der Börsencommission nichts anderes als unentschlossenes Debattieren erwartet, und so hatte schon nach der Jubilate-Messe 1810 Cotta an Bertuch geschrieben: Wir müssen uns nun entschlissen, falls die Regierung in Dresden nichts für uns thut, unsre Maasregeln durch den Verein von 6-12 Buchhändlern so zu nemen, daß wir mit nächstem Ostern eine neue Bahn beginnen - noch besser, wenn zuvörderst wir beide für unsre Sicherheit sorgen u. etwa durch geschribne Cicular, da, wo es Noth thut, das Nöthige insinuiren." 17
Und Bertuch hatte geantwortet: Allerdings müßen wir auf ernstliche Maasregeln denken, unsern Geschäften von künftiger O.Meße an eine andere Wendung, und ein festeres Band zu geben. Vom Sachs. Hofe dürfen wir sicher nicht viel erwarten. Ein engerer Bund von 6-12 festen und entschloßenen Männern, die zugleich festen Grund unter sich haben, ist dazu schlechterdings nöthig. Aber wer sollten die 12 seyn? Ich kenne die bisherigen Buchhändler Vereine, und wie wenig ihnen zu trauen ist. Nennen Sie mir also die 12 Elus, welche nach Ihrer Meinung den Phalanx der künftigen BuchhandelsReforme machen könnten, an die wir vorher schreiben, und die sich still verbinden müßten, von künftiger 0[ster]M[esse] an nach einerley Grundsätzen zu handeln. - Ich will Ihnen meine Meinung vertraulich] darüber sagen. Vor der Hand aber laßen Sie uns das strengste Schweigen über die Sache beobachten. 18
Wieder also zogen Bertuch und Cotta die Vereinspläne hervor, denn die finanzielle Lage spannte sich weiter an - wie drängend sie war, zeigen Cottas Ausstände (die Bertuchs werden kaum geringer gewesen sein), die seine „Generalabgedruckt in: F. Hermann Meyer: Der deutsche Buchhandel gegen Ende des 18. und zu An16
17 18
fang des 19. Jahrhunderts, in: AGB 1882, Bd. 7, S. 199-249, hierS. 243-249. Das auf den 1. November datierte Mémoire ist abgedruckt in: Actenstücke und Briefe zur Geschichte der Deputation der Deutschen Buchhändler beim Wiener Congresse, im Jahre 1814. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1837, Nr. 58 vom 21. Juli, Sp. 1189f. J.F. Cotta an F.J. Bertuch, 28. Oktober 1810 (GSA 06/5315). F.J. Bertuch an J.F. Cotta, 16. November 1810 (DLA/CA, Cotta Br. Bertuch, F.J.).
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Bertuch und Cotta
Inventuren"19 bei den Jahresabschlüssen von 1807 bis 1815 wie folgt für den Leipziger und den Reichsbuchhandel beziffern: 1.1.1808
1.1.1809
1.1.1810
brutto Lpz: 56.000 rth Reich:
Lpz: 60.800 rth Reich:
Lpz: 57.525 rth Reich:
(= 98.000 fl.) für 42.770 140.770 (=106.400 fl.) für 57.000 163.400
taxiert auf 70.000 fl. 29.000 99.000 75.000 fl. 37.000
112.000
(=100.670 fl.) für 48.200 148.870
70.000 fl. 32.000
102.000
1.1.1811
Lpz: 63.000 rth Reich:
(=110.000 fl.) für 63.720 173.720
76.000 fl. 42.000 118.000
31.12.1811
Lpz: 59.600 rth Reich:
(=104.300 fl.) für 57.600 161.900
79.000 fl. 39.000
118.000
(= 85.750 fl.) für
60.000 fl.
30.12.1812
Lpz: 49.000 rth Reich:
56,850 142.600
30.12.1813
Lpz: 49.600 rth Reich:
(= 86.800 fl.) für 41.400 128.200
35.000 95.000
60.000 fl. 30.000 90.000
Die Inventur von Anfang 1815 fehlt, da Cotta sich in Wien aufhielt. Kaum an anderer Stelle wird so deutlich, welches finanzielle Stehvermögen, welche .fonds" die Großverlage erforderten und in welchem Gegensatz die „Zahlungsmoral" zur Geschwindigkeit der Nachfrage und des Vertriebs stand, wobei die immensen Schulden der „Partikuliers" noch gar nicht gerechnet sind - am 1. Januar 1808 betrugen sie 108.500 fl. für 72.000 fl. bei einem Gesamtvermögen von - auf der Grundlage der taxierten, also vorsichtig angesetzten Werte errechneten - 336.000 fl.; am 1. Januar 1811 betrugen sie 95.400 fl. für 62.600 fl.bei einem Gesamtvermögen von 491.200 fl. Daß die Schulden bei Cotta kaum stiegen, resultierte aber nicht zuletzt aus seiner Vorsicht, liquide Mittel in Sachwerten zu sichern und eben nicht in den überaus lukrativen, aber im wesentlichen Schulden anhäufenden Verlag zu investieren. Angesichts der Entschlußlosigkeit und der allgemeinen - auch kriegsbedingten - finanziellen Misere beließen es Bertuch und Cotta einstweilen dabei, sich über die Zahlungsfähigkeit und -moral ihrer Kollegen auszutauschen und einander ihre ,.ratings" mitzuteilen: Listen mit den Namen der wichtigsten Geschäftspartner, säuberlich eingeteilt in verschiedene Kreditklassen. Erst 1812 - nachdem alle Verwendungen in Leipzig fruchtlos gewesen waren - nahmen Bertuchs 19
(DLA/CA, Cotta Interna B. Buchmessen XIII, 2).
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und Cottas Vereinspläne konkretere Gestalt an.20 Dieses Mal zeitigte die Initiative - möglicherweise indirekt - doch ein Ergebnis. Seit Februar 181321 zirkulierte ein Vorschlag „An die Buchhändler; das Abrechnungsgeschäft auf der Börse im Paulino zu Leipzig betreffend",22 wie man die Buchhandlungen zur Abrechnung in Leipzig zwingen könne, das zum 30. Mai 1814 von mehr als 100 Händlern unterschrieben worden war. Mit der Unterschrift unter dieses Cirkular verpflichtete man sich zur persönlichen Anwesenheit bei der Abrechnung und zum definitiven Rechnungsabschluß auf der Leipziger Messe - Rechnungsabschlüsse außerhalb des Paulinum sollten ausgeschlossen sein - , was Öffentlichkeit über die Zahlungsfähigkeit der Buchhandlungen und so eine sichere Risikoabschätzung bei Krediten ermöglicht hätte. Ging man hier auf der traditionellen Vereins-Bahn weiter, den Buchhandel durch eine Art privatrechtliche Verbindung in rechtliche Bahnen zwingen zu wollen, so reifte doch auch schon die Idee der politischen Initiative. Den ersten Keim markiert Perthes' Bemerkung gegenüber Bertuch, er habe schon im Winter 1813/1814 mit Joseph von Pilat, Metternichs Privatsekretär, über den Nachdruck gesprochen und ihn „ganz auf unserer Seite gefunden",23 die Schwierigkeit liege nicht einmal bei Österreich, sondern bei den „Nachdruckern im Reich". Ein zweiter Hinweis ist die Antwort von Friedrich Gentz an seinen Verleger Hartknoch, der sich - auf Anregung von Paul Gotthelf Kummer24 - nach der Möglichkeit erkundigt hatte, dem österreichischen Nachdruck einen Riegel vorzuschieben. Gentz antwortete am 18. März 1814: Was den Punct des Nachdrucks betrift, so denke ich darüber vollkommen wie Sie. Auch bin ich, Gottlob, nicht der Mächtigste im Oesterreichischen Staate der so denkt. Jezt ist natürlich der Augenblick nicht, wo eine Sache dieser Art in Bewegung gebracht werden könnte; ich hoffe aber, daß nach dem Frieden Veranlassungen eintreten werden, die man für einen so löblichen Zweck benutzen könne; und diese Veranlaßungen sollen nicht verloren gehen. Ich glaube, daß es nirgends wichtiger ist, dem Unwesen entgegen zu arbeiten, als in Wien; theils weil es in keinem großen teutschen Staate so tiefe Wurzeln geschlagen hat, als hier, und theils, weil das Beyspiel der Oesterreichischen Regierung in anderen Staaten nicht ohne Wirkung seyn würde.25
So trat die Nachdruckfrage im Spätjahr 1813 in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den Überlegungen zur deutschen Zukunft, zur Gestaltung der politischen Einheit Deutschlands. Die Grundlage für die verbindlichere Gestaltung der bis dahin ganz informellen Kontakte wurde dann auf der Leipziger Ostermesse 20
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J.F. Cotta an F.J. Bertuch, 11. Januar 1812; dabei: Uebersicht über die Solidität der teutschen Buchhandlungen OsterMeße 1810 (GSA 06/5315). - Vermutlich hierauf bezieht sich C.A. Böttigers Bemerkung im Messebericht: „Gegen diese Raubbienen kan nur eine Association der Arbeitenden im Bienestok helfen." (AZ 1812, Nr. 327 vom 22. November, S. 1305). Die Behinderung der Jubilatemesse 1813, die in die Schlacht von Großgörschen fiel, wurde auch zum Anlaß, die Verlegung der Abrechnungsmesse von Ostern auf Michaelis zu betreiben; die Michaelismesse 1813 fiel dann nahezu mit der Völkerschlacht zusammen. Vermutlich abhängig davon ist auch eine Denkschrift, wie man die Handlungen zur Abrechnung auf der Leipziger Messe zwingen könne, die Horvath, der sich mit den Gebr. Hahn aus Hannover verbunden hatte, an F.J. Bertuch am 8. Mai 1814 übersandte (GSA 06/5315). Friedrich Perthes an F.J. Bertuch, 20. Oktober 1814 (GSA 06/1413). Vgl. Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels (1805-1889), S. 66. Friedrich von Gentz an Hartknoch [Abschrift], 18. März 1814 (GSA 06/5315).
Bertuch und Cotta
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1814 gelegt, als Bertuch eine Deputation zu wählen anregte, wie er Rudolf Zacharias Becker, einem bekannten Vorkämpfer gegen den Nachdruck, schilderte, den er für die Unterschrift der Vollmacht gewinnen wollte: Ich besprach mich in letzter Leipziger Meße mit H. Cotta, Kummer, Hartknoch, Vogel, und mehrern rechtlichen Buchhändlern über die Benutzung des jetzigen vielleicht einzig günstigen Moments, um dem Teutschen Buchhandel mehr Ordnung, Form u. Sicherheit, kurz eine gute Constitution zu geben, und zugl. der scheußlichen Nachdruckerey durch ein bestimmtes Reichsgesetz den Hals zu brechen. Ich that den Vorschlag aus unserer Mitte eine Deputation zu formiren und uns von allen anwesenden Buchhändlern eine unterzeichnete Vollmacht, zur thätigsten Betreibung dieses Geschäfts geben zu lassen. 26
Das war der entscheidende Schritt an die Öffentlichkeit. - Schaut man sich diese „Deputation" genauer an, dann zeigt sich, daß die „Phalanx" die Lehre aus den Ereignissen von 1810/1811 gezogen hatte. Waren damals Bertuch, Cotta und Perthes trotz schärferer Einsicht und besserer Argumente von den sächsischen Behörden und den offiziellen „Deputierten" an den Rand gedrängt worden, so drehte Bertuch dieses Mal den Spieß um. Ohne jegliche behördliche Legitimation - die ohnehin heikel gewesen wäre, da eine Mitwirkung Sachsens als des treuesten deutschen Bundesgenossen Napoleons die Unternehmung von vornherein kompromittiert hätte - , usurpierte er den Namen „Deputation", der bis dahin den von dem Mandat von 1773 bestimmten „Deputierten" vorbehalten war. Beauftragt nur von Kollegen mit einer Blanko-Vollmacht, nicht als Repräsentanten des Leipziger, sondern des „deutschen" Buchhandels auftretend, konnten diese Deputierten selbständig handeln - was Carl Bertuch und Cotta in Wien etwa so ausnutzten, daß sie das Mandat gegen seinen ursprünglichen Sinn auf die Preßfreiheit hin akzentuierten. Mit dieser „Deputations"-Idee verschafften Bertuch und Cotta ihren alten Plänen einer Geheimgesellschaft einen repräsentativen Nimbus, sie behielten die Fäden in der Hand - konsequent übernahm Bertuch die Rolle des Geschäftsführers - , gleichwohl wahrten sie den äußeren Schein: die drei Leipziger Deputierten wurden in der Vollmacht zuerst genannt; Hartknochs Bedeutung lag in seiner Verbindung zu Gentz, die wie jede Anknüpfung nach Österreich sehr hilfreich sein konnte. Die ganz allgemein gehaltene Vollmacht hatte ihren Hintersinn. Obwohl die Jubilatemesse vor dem Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 lag - in ihm wurde erst definitiv bestimmt, daß in Wien auf einem „congrès général" die endgültigen
26
F.J. Bertuch an Rudolf Zacharias Becker, 3. Juni 1814 (GSA 06/2203) - vgl. dagegen Goldfriedrich, der Kummer als Initiator der Deputationsidee wie der Idee der Mission auf den Kongreß nennt (Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels [1805-1889], S. 66). Wie unabhängig die „Wahl" der Bevollmächtigten von den „Deputierten" des Dezembermandats von 1773 war, zeigt, daß auch die drei Leipziger, 1810 gewählten Deputierten Kummer, Richter und Vogel, noch einmal gewählt wurden und nicht etwa als „natürliche" Mitglieder dem Gremium angehörten; dies scheint m.E. auch ein Indiz dafür, daß die Idee der Deputation nicht von Kummer ausging, wie dieser - nach Goldfriedrich - mehrfach behauptete, sondern wirklich von Bertuch. Ebenso fragwürdig wie eine „mündliche" Festsetzung der Ziele Preßfreiheit und Sicherung des Geisteseigentums ist die These, daß die Initiative der Deputation auf den Kongreß von Kummer ausgegangen sei (Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels [1805-1889], S. 65f.).
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Regelungen verhandelt würden27 - , hatten Bertuch und Cotta den zu erwartenden Congreß für die deutschen Angelegenheiten als Ansatzpunkt der Aktivitäten schon ins Auge gefaßt.28 Auf Cottas Anfrage vom 24. Mai, ob er nach Wien zum Kongreß reise, antwortete Bertuch am 30. Mai: Es ist allerdings gewiß daß der allgemeine Friede in London abgeschloßen u. unterzeichnet, Teutschlands Arrangement u. neue Constitution aber auf einem Congreße in Wien bearbeitet u. vollendet wird. Da müßen nun durchaus ein Paar thätige Männer von uns auf dem Platze seyn, und von Genz geleitet u. unterstützt, unsre Sache gegen den Nachdruck persönlich betreiben, den schriftlich richten wir nichts aus. Ich bin entschloßen, mit Ihnen / denn allein gehe ich nicht / dahin zu gehen; und habe auch Fr[eun]d Hartknoch dazu aufgefordert. Wir drey können, mit unsrer Vollmacht, als eine achtungswerthe Deputation des teutschen Buchhändler-Corps, dort auftreten, und gewiß gut wirken. 2 9
Die Geschäfte sollten dort Bertuch, Cotta und Hartknoch führen - kein Wort von den Leipzigern. Kummer wurde, im Gegensatz zu Vogel und Barth, immerhin informiert, spielte aber kaum eine Rolle. Bezeichnenderweise war man nicht besonders glücklich, als er die Kotzebuesche Denkschrift30 präsentierte: Bertuch hatte dafür eigentlich die profunde Ludensche Abhandlung „Vom freien Geistesverkehr" vorgesehen, und an den Freiherrn vom Stein schickte er eine dritte Schrift: Eberhardts „Die deutschen Schriftsteller. Was sie thaten, was sie für Unrecht leiden, und was ihnen für Lohn gebührt".31 Perthes aber hielt sich im Hintergrund - er unterzeichnete nicht einmal die Vollmacht, für die man noch weitere und passendere Unterschriften einwarb - , er wurde von Bertuch nur auf dem Laufenden gehalten. In den Juli 1814 fielen dann die entscheidenden Einleitungen, bei denen Bertuch und Cotta die Zulassung oder Einladung zum Kongreß und die Unterstützung seitens der wichtigsten deutschen Staaten zu erreichen suchten. Gerade Bertuch setzte große Hoffnungen in den Wiener Kongreß und die auf ihm zu verabschiedende deutsche Konstitution - wie viele träumte er wenn nicht von einer Wiedergeburt eines „Reichs" mit Kaiser, so doch von einem deutschen Bundesstaat mit zentralen Institutionen, die ein Nachdruckverbot hätten durchsetzen können. Ablesbar ist das etwa daran, daß Heinrich Ludens und Bertuchs Schrift „Über freyen Geistes-Verkehr" im selben Band der „Nemesis" erschien wie Gruners Abhandlung „Ueber Teutschland's künftige Verfassung". Gruner war ein Gewährsmann der buchhändlerischen Hoffnungen, wenn er dort erklärte: „Auf dem ehrwürdigen Tage [d.i. dem Bundestage, B.F.] werden aber nicht nur die Gegenstände der Verfassung, sondern auch der Verwaltung verhandelt werden müssen."32 - Bertuch rechnete fest mit administrativen Festlegungen wie 27
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Pariser Friedensschluß Art. XXXII, in: Johann Ludwig Kliiber (Hg.): Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815. Erlangen 1815, Bd. 1, H. 1, S. 25. J.F. Cotta an F.J. Bertuch, 24. Mai 1814 (GSA 06/327). F.J. Bertuch an J.F. Cotta, 30. Mai 1814 (DLA/CA, Cotta Br. Bertuch, F.J.). Abgedruckt in: Actenstücke und Briefe zur Geschichte der Deputation der Deutschen Buchhändler beim Wiener Congresse, im Jahre 1814, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 1837, Nr. 50 vom 23. Juni (Sp. 1101-1102), Nr. 51 vom 27. Juni (Sp. 1113-1116), Nr. 52 vom 30. Juni (Sp. 1137-1142), Nr. 53. v o m 4 . Juli (Sp. 1161-1166). Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels (1805-1889), S. 69. Nemesis 1814, S. 303. Seine Forderungen waren neben der Einführung der deutschen Sprache als Verwaltungsprache ein ,,allgemeine[s] Nationalgesetzbuch[]" (S. 307), eine klar
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einer Reichspolizei, in deren Kompetenz auch das Nachdruckverbot gefallen wäre. Seine Erwartungen waren nicht haltlos, sondern gründeten in seinen vorbereitenden Kontakten zur preußischen Regierung, wie der Brief vom 10. August 1814 an Cotta zeigt: Ich bin indeßen nicht minder thätig gewesen, und habe mich Preußens zu bemächtigen gesucht. Ich sprach nemlich den Fürsten StaatsKanzler v. Hardenberg, bey seiner lezten Rückreise durch Weimar, und seine rechte Hand, den Geh. Legat[ionsrat] Jordan, über unsere Sache, und Hardenberg versicherte mich nicht allein des vollständigsten Schutzes in der ganzen Preußischen] Monarchie, sondern auch seiner kräftigsten Unterstützung in Wien, wohin er mich zum Congreße einlud. Jordan sagte mir noch überdieß daß, in der neuen Teutschen sehr kräftigen ReichsPolizey, bedingte Preßfreyheit und Sicherheit des Eigenthums der GeistesWerke, sowohl für Autor als Verleger, ein eigner bestirnter Artickel seyn werde. 33
Die Lobbyarbeit im Vorfeld des Kongresses war erfolgreich: was Bertuch bei der preußischen Regierung, bei Goethe und dem weimarischen Herzog, leistete Cotta bei Metternich, Graf Stadion und Wrede;34 nur Hartknoch fand keinen Weg wie Bertuch gegenüber Cotta des öfteren monierte - zu Gentz. Cotta und Carl Bertuch, der für seinen erkrankten Vater kurzfristig eingesprungen war, reisten am 15. respektive 21. September nach Wien. So sehr Metternich, Stadion, Stein, Humboldt und Wrede noch in Wien die Deputierten der Unterstützung Preußens, Österreichs, Hannovers und sogar Bayerns im Deutschen Kommittee, das mit der Ausarbeitung der deutschen Constitution betraut war, versicherten, so wenig erfüllte sich die Hoffnung auf einen schnellen Erfolg der Verhandlungen. Die Sitzungen, die Anfang November begannen, kamen, obgleich von Preußen und Österreich im besten Einverständnis geleitet, wegen der württembergischen und bayerischen Obstruktion bis November 1814 kaum voran; dann stockten die Verhandlungen wegen der polnisch-sächsischen Krise des Europäischen Kongresses ganz. Nach der Einigung in den polnischen und sächsischen Angelegenheiten schienen die Verhandlungen des Deutschen Kommittees durch die Humboldtschen Verfassungsentwürfe vom Februar 1815, was die Angelegenheit des Nachdruckverbots und der Preßfreiheit anging, aufs beste eingeleitet. Cotta reiste ab, nicht ohne zuvor mit Carl Bertuch einen optimistischen Zwischenbericht an die Mitdeputierten abgegeben zu haben. Da landete Anfang März 1815 Napoleon in Frankreich, die Alliierten mobilisierten erneut alle Kräfte, die Verhandlungen in Wien gerieten weiter unter Zeitdruck. Letztlich war es allein der Beharrlichkeit und Findigkeit Carl Bertuchs zuzurechnen, daß in dieser Lage doch noch die Bestimmungen über Preßfreiheit und Nachdruck in die Bundesakte eingingen, auch wenn der Artikel 18d die „Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreyheit, unter Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck" für die erste Zusammenkunft der Bundes-Versammlung nur in Aussicht stellte.
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gegliederte Gerichtsbarkeit, eine einheitliche Reichs-Polizey-Ordnung, Preßfreiheit, Freiheit und Sicherheit des Handels, Gleichheit der Münze, des Maaßes und des Gewichts, Bundespost, Reorganisation des Militär- und Steuerwesens. F.J. Bertuch an J.F. Cotta, 10. August 1814 (DLA/CA, Cotta Br. Bertuch, F.J.). J.F. Cotta an F.J. Bertuch, 9. und 26. Juli 1814, 19. August 1814 (GSA Weimar 06/5316).
Ian Maxted
Bertuch und England - Vorbild oder Nachklang?
Es ist nicht zu leugnen, daß Deutschland bisher von Frankreich an einer wahren Sklavenkette geführt wurde. [...] Jedoch Frankreich ist es nicht allein, dessen Zauberstab wir zu fürchten haben. England und der vervollkommnete Kunstfleiß seiner Fabriken wird und muß uns ebenso gefährlich werden. Die geschmackvolle Simplizität und Solidität, welche England allein seinen Fabrikwaren zu geben gewußt hat, ist für uns Deutsche so außerordentlich empfehlend, daß das Wort Englisch, englische Waren, schon dermalen einen unwiderstehlichen Zauberreiz für uns hat.
So äußert sich Bertuch im „Journal des Luxus und der Moden" in einem Artikel unter dem Titel „Über die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland" vom August und September 1793, einer Schrift, die er später als Sonderdruck herausbrachte.1 Bertuch hat in vieler Hinsicht England als ein Vorbild angesehen. Besonders in den ersten Jahrgängen des „Journals" findet man immer wieder positive Erwähnungen dieses Landes, in dem die industrielle Revolution sich tiefgreifender und umfassender entwickelt hatte als in jedem anderen europäischen Staat. Der Beitrag wird versuchen, Vorbilder für Bertuch in England zu entdecken. Er will keine tiefgehende Forschung zu diesem vielseitigen Mann leisten. Eher soll er ein Anreiz sein, Bertuchs Leistungen in einem europäischen Rahmen zu bewerten. Nehmen wir das Jahr 1787 als Beispiel, um Bertuchs Interesse an England zu untersuchen: Schon im Januar erscheinen im „Journal" zwei Kupferstiche; der eine stellt eine ,.Englische Dame im Full-Dress [...] nach einem ächten englischen Original", der andere ein ,,Englische[s] Negligée" dar. Im Februar erfahren wir in einem Artikel „Über Kinder-Kleidung"2 Genaueres zur Bedeutung englischer Mode: Wer weiß nicht, daß wir die Fortschritte, die ohngefähr seit 25 Jahren zu Verbesserung der physischen Kindererziehung in Teutschland geschehen, vornehmlich den Engländern schuldig sind. [...] Englands Lehrer war in diesem Stücke der große Locke. [...] Locke betrachtet die Kleidung der Kinder als eins der wichtigsten Stücke auf denen die Erhaltung ihrer Gesundheit ruht.
Die März-Ausgabe bringt einen Artikel über die Ungestaltheit „aus dem Englischen des William Hay Esq"3, einen Bericht über englische Moden: über die „Pantheon cap" und den „Treaty hat", und einen Kupferstich mit drei englischen Stühlen, die der begleitende Text als „einfach" beschreibt, eine Bezeichnung, die immer wieder für englische Waren verwendet wird. Das „Intelligenzblatt" 1
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Friedrich Justin Bertuch: Ueber die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Teutschland nebst einem Worte an Teutschland. 2. Auflage, Weimar 1814. Journal des Luxus und der Moden (im folgenden: JLM), Bd. 2 (1787), S. 55-62. JLM, Bd. 2 (1787), S. 73-89.
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desselben Monats enthält die Ankündigung einer Übersetzung von „Captain Cooks dritte[r] und letzte[r] Entdeckungsreise um die Welt in den Jahren 1776 bis 1780", übersetzt von Georg Forster.4 Im April wird ein „Vergleich zwischen dem Luxus der Franzosen und Engländer", ein Fragment der neuen sehr vermehrten Ausgabe von Archenholtz' „England und Italien"5, veröffentlicht. Es ist bedeutsam, in diesem Artikel zu lesen: „Die Franzosen halten viel auf reiche und prächtige Kleider. Die Engländer [...] ziehen eine simple, zu ihren Bedürfnisse passende Tracht vor. [...] Leute vom niedrigsten Stande in England tragen Wäsche, wie in Teutschland Personen vom Range." Und später lernen wir mehr von den geringeren sozialen Abständen, die in England zu gelten scheinen: Ein Luxus aber, der in London allein herrscht, sind die prächtigen Tavernen, und die darin üblichen Gastmähler von fünfhundert, von tausend, und mehr Personen. Da in Frankreich die Stände durch so grosse Unterschiede von einander getrennt sind, so wären dort gemischte, und so zahlreiche Versammlungen nicht denkbar.
Diese Bemerkung wird im Juli in einem Artikel mit dem Titel „Luxus der Londoner Tavernen" wiederholt.6 Bertuchs Leserschaft war auf diese Anglomanie schon vorbereitet.7 Seit der Veröffentlichung von Beat Ludwig von Muralts „Lettres sur les Anglois et les François" im Jahre 1725 hatte eine Reihe deutscher Reisender die intellektuellen und kulturellen Schwerpunkte Europas eher in England als in Frankreich gefunden. Die hannoversche Verbindung und die Gründung der Universität in Göttingen 1734 führten zur stärkeren Verbreitung englischer Ideen in Deutschland, und viele dieser Ideen waren dem Geist der Aufklärung sehr zugeneigt. Die verhältnismäßig liberale Verfassung Englands, die Gedanken- und Pressefreiheit, die Ideen von Philosophen wie Locke und Hume weckten durch die Werke von Bielfeld, Sturz, Lichtenberg, Fabricius und anderen Reisenden ein großes Interesse in Deutschland.8 In den achtziger Jahren trat unter dem Einfluß englischer Schriftsteller wie Richardson, Sterne und auch von Macphersons Ossian-Gedichten an die Stelle dieses rationalen Interesses die unkritische subjektive Schwärmerei des sentimentalen Reisenden. In diesem Jahrzehnt erschienen auch zahlreiche Reiseberichte, so die von Karl Philipp Moritz und Sophie von La Roche.9
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JLM, Bd. 2 (1787), S. XXV. JLM, Bd. 2 (1787), S. 134-139. Londoner Miscellaneen, in: JLM, Bd. 2 (1787), S. 238-243. William Douglas Robson-Scott: German Travellers in England 1400-1800. Oxford 1953, S. 117ff. Jacob Friedrich von Bielefeld: Lettres familières et autres. La Haye 1763. Helferich Peter Sturz: Briefe, im Jahre 1768 auf einer Reise im Gefolge des Königs von Dänemark geschrieben, in: Helferich Peter Sturz: Schriften. Leipzig 1779. Georg Christoph Lichtenberg: Briefe aus England, in: Deutsches Museum 1776-1778. Johann Christian Fabricius: Briefe aus London vermischten Inhalts. Dessau und Leipzig 1784. Karl Philipp Moritz: Reise eines Deutschen in England im Jahre 1782. Berlin 1783. Sophie von La Roche: Tagebuch einer Reise durch Holland und England. Offenbach 1788.
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Diese sentimentalen Reisenden nutzten als systematischen Wegweiser die Schriften von Johann Wilhelm von Archenholtz.10 Sein Werk „England und Italien" erschien zum ersten Mal 1785, und Bertuch druckte, wie schon erwähnt, ein Fragment aus seiner zweiten und verbesserten Ausgabe im Journal vom April 1787. Im „Intelligenzblatt" vom Juni desselben Jahres wird der „British Mercury" angezeigt, der von Archenholtz zwischen 1787 und 1791 wöchentlich in englischer Sprache in Hamburg herausgebracht wurde.11 Es ist schwierig, die Quellen von Bertuchs Berichten durch Vergleich mit den englischen Zeitschriften zu bestimmen. Eine Zeitschrift wie das „Lady's Magazine" von 1787 etwa enthält keinen einzigen der Artikel und Modestiche. In der Nummer vom September 1787 wird im Modejournal ein Beitrag über „ModeNeuigkeiten in Auszügen aus Briefen" veröffentlicht.12 Viele der Berichte beginnen mit einem Datum, so der Artikel „Londoner Mode-Neuigkeiten" im August 1787 mit dem Datum „London, den 6 Juni 1787"13; darin heißt es unter anderem: „Die größten Mode-Festen in London sind die Geburtstage des Königs und der Königinn; der letzte war vorgestern und alles erschien bey der Cour in neuen Gala-Kleidern und ausserordentlicher Pracht." Ob der Korrespondent selber gegenwärtig war oder ob er die Beschreibungen aus den Zeitungen entnommen hat, ist schwer einzuschätzen. Mit Sicherheit hat er die Zeitungen und Zeitschriften gelesen. Im Juli-Heft von 1787 findet sich unter „Londoner Miscellaneen" eine Beschreibung neuer elastischer Beinkleider, die einige Wochen zuvor in der „Morning Chronicle" erschienen war. Unter denselben „Miscellaneen" sind Sehenswürdigkeiten beschrieben, die der Korrespondent persönlich besucht haben könnte: eine neue Kunstmaschine, in Merlins Grotte im Pantheon ausgestellt, „ein eiserner Wagen, eine sogenannte Oscillatory-Maschine vermittelst welcher ein Mensch [...] sehr bequem und sicher selbst schaukeln kann [...] eine Bewegung der Gesundheit sehr zuträglich." Außerdem wird auf Ashton Levers Museum, das „für den Preis einer halben Krone gezeigt" werde, hingewiesen sowie, was Bertuch besonders interessiert haben dürfte, auf eine Ausstellung der Londoner Polygraphischen Societät in der Straße „Strand" am vierzehnten Mai mit der Absicht, „eine ausserordentliche Erfindung zu unterstützen, eine von Joseph Booth erfundene Kunst, vermittelst welcher Gemähide in Oelfarben, durch eine chymische und mechanische Operation, ohne im geringsten das Original zu verletzen, können vervielfältigt werden". Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts hielt sich eine große Anzahl Deutscher in London auf, darunter mehrere Buchhändler und auch Buchdrucker. In den neunziger Jahren gab es sogar eine deutsche Lesebibliothek.14 Ein bedeutender Einwohner war in dieser Zeit Gebhard Friedrich August Wendeborn, der zwischen 1767 und 1793 in England ansässig war und zwanzig Jahre als Pastor einer deutschen Kirche auf Ludgate Hill in London wirkte. Er hatte im Jahre 1780 die ,3eiträge zur Kenntnis Grossbritanniens" herausgebracht, eine außer10 11 12 13 14
Johann Wilhelm von Archenholtz: England und Italien. Leipzig 1785. JLM, Bd. 2 (1787), S. XLI. JLM, Bd. 2 (1787), S. 314f. JLM, Bd. 2 (1787), S. 262-267. Graham Jefcoate: The Deutsche Lese-Bibliothek and the distribution of German books in London, in: Library. 6 ser., vol. 9, no. 4, Dez. 1987. S. 347-364.
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ordentlich wichtige Beschreibung der englischen Zustände, und war zwischen 1779 und 1792 Londoner Berichterstatter für den „Hamburgischen Korrespondent".15 Ein anderer angesehener deutscher Schriftsteller im London dieser Zeit war der Übersetzer Johann Christian Hüttner (1766-1847), der für Bertuchs Zeitschrift „London und Paris" zahlreiche Artikel schrieb.16 Einige der Korrespondenten dürften begabte Künstler gewesen sein, welche die Skizzen für die Nachstiche von Georg Melchior Kraus und seinen Mitarbeitern lieferten. Als Herausgeber begnügte sich Bertuch nicht immer damit, die ihm zugesandten Berichte lediglich abzudrucken. Abgesehen von Artikeln, die er selber schrieb und in denen er den Geschmack, die wissenschaftlichen Entdeckungen und die liberalen Ideen der Engländer lobte, griff er immer öfter redigierend in die Artikel anderer ein, etwa wenn er im Oktober 1787 einem unter dem Titel „Drey Farben kleiden den Mann" veröffentlichten Beitrag über den männlichen Anzug17 als „Nachschrift des Herausgebers" hinzufügte: „Wir haben die Mode Frack, Veste und Beinkleider, jedes Stück von anderer Farbe zu tragen, hauptsächlich aus England erhalten." Wo waren in England die Menschen, die als Vorbilder für Bertuchs Tätigkeiten dienen konnten? Gab es in England Beispiele von kleineren Städten mit größeren Verlagsunternehmungen? Nehmen wir Exeter, wie Weimar eine etwas isolierte Stadt, etwa 300 Kilometer von der Hauptstadt London entfernt. Mit beinahe 17.500 Einwohnern war Exeter im Jahre 1801 zweimal so groß wie Weimar, und es besaß, obwohl die Stadt kein Fürstensitz war, eine Kathedrale mit einem Bischofssitz. Exeter diente auch, als Sitz der „Quarter Sessions", der Verwaltung der Graftschaft Devon. Es gab mehr Industrie in Exeter als in Weimar, obwohl sich die Textilindustrie zu jener Zeit im Niedergang befand. Um 1785 waren in Exeter vier Drucker, vier Buchhändler, mindestens ein Buchbinder und ein Kupferstecher tätig.18 Keine dieser Druckereien war groß, obwohl drei von ihnen in den achtziger Jahren eine Wochenzeitung herausbrachten. Diese regelmäßige wöchentliche Tätigkeit schien die Druckereien auszulasten, denn 1787 erschienen in Exeter nur wenige selbständige Titel, von denen sich zehn erhalten haben.19 Darunter befinden sich zwei Flugschriften über Hinrichtungen von Kriminellen in Exeter sowie kurze Predigten. Zwar gab es ein paar bedeutsamere Ausgaben, so zum Beispiel die Übersetzung von Vincent Mignots vierbändiger „Histoire de l'Empire Ottoman" oder „Barbarian cruelty", ein 260seitiger Bericht über die Sklaverei bei den Türken, den Thomas Troughton verfaßt hatte. Aber man findet keine Belletristik und keine wissenschaftlichen Werke. Die Buchhändler mußten sich die einschlägigen Werke in London besorgen, wie den Anzeigen der Zeitungen zu entnehmen ist. So lesen wir in der „Exeter Flying Post" am 28. April 1785, daß ein Vertreter des Buchhändlers Shirley Woolmer Bücher für dessen neue Leihbibliothek gekauft hatte.
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Robson-Scott: Gemían Travellers in England (Anm. 7), S. 163-167. Für den Hinweis danke ich Doris Kühles. JLM, Bd. 2 (1787), S. 331-339. lan Maxted: The Devon book trades: a biographical dictionary. Exeter 1991. Ian Maxted: Books with Devon imprints: a handlist to 1800. Exeter 1989.
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War Exeter vielleicht eine weniger rühmliche Ausnahme? Der englische Forscher John Feather bestätigt verallgemeinernd die Eindrücke, die man von Exeter gewinnt.20 Der englische Buchhandel hatte sich während des achtzehnten Jahrhunderts dergestalt entwickelt, daß Bücher von London in die Provinzen gebracht wurden und nicht umgekehrt. Fast überall waren die Verleger in den Provinzen von geringer Bedeutung und auch in ihrer Austattung bescheiden. Viele verfügten nur über eine einzige Presse, während Zeitungsverleger oft mehrere besaßen.21 Im Jahre 1799 zum Beispiel hatte Miles Swinney in Birmingham vier Pressen für seine Birmingham Chronicle"; Thomas Aris Pearson, ebenfalls in Birmingham, hatte fünf für seine Zeitung. Kein anderer Drucker in Birmingham schien damals mehr als zwei Pressen zu besitzen. Ausnahmen stellten natürlich die Universitätsstädte Oxford und Cambridge dar, und auch Warrington im Norden Englands, wo William Eyres die Schriften von Lehrern der bedeutenden nonkonformistischen Akademie druckte, wie die des Wissenschaftlers Joseph Priestley und von Johann Reinhold Forster, des Vaters von Georg Forster.22 Außer den Werken der nonkonformistischen Protestanten bewahrte die Provinzpresse auf den Gebieten Medizin und, wie zu erwarten, Heimatgeschichte, etwas mehr Unabhängigkeit von der Hauptstadt. Angesichts solch kleiner Betriebe muß man Vorbilder für Bertuchs Unternehmungsgeist eher in London suchen. London gehörte zu den größten Zentren des Buchhandels in Europa. Im Jahre 1781 zählte Antoine Perrin in seinem „Almanach de la Librairie" 73 Drucker und Buchhändler in London.23 Dagegen zählten Leipzig 39, Berlin neunzehn, Brüssel elf, Madrid achtzehn, Venedig sechzehn, Den Haag achtzehn, Lissabon achtzehn und Genf neunzehn. Innerhalb Frankreichs, wo Perrins Buch erschien, zählte Toulouse 25, Rouen 40, Lyon 46 und Nancy 27 Unternehmer. Nur Paris besaß mit 184 mehr Drucker und Buchhändler als London. Weimar hatte mit Hoffmann bloß einen Buchhändler. Natürlich sind diese Listen nicht vollständig, doch geben sie einen ersten Überblick. Im Jahre 1785 zum Beispiel zählte John Pendred in seinem „London and country printers, booksellers and stationers vade mecum", 124 Drucker und etwa 200 Buchhändler in London,24 also mehr als viermal soviel wie Perrin. Unter den vielen Londoner Namen befanden sich natürlich bedeutende Buchhändler. William Strahan (1715-1785) gehörte in jener Zeit zu den wichtigsten Unternehmern in London. Im Jahre 1766 erwarb er ein Drittel des Betriebs der königlichen Druckerei. Er druckte die Zeitung ,.London Chronicle" und brachte viele der bedeutendsten Schriften jener Zeit heraus, zum Beispiel „The Decline and Fall of the Roman Empire" von Edward Gibbon und „The Wealth of
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Feather, John: The provincial book trade in eighteenth century England. Cambridge 1985, S. 115. Ebenda, S. 99f. Padraig O'Brien: Eyres' press Warrington 1756-1803: an embryo university press. Wigan 1993. Antoine Perrin: Almanach de la librairie: réimpression anastatique de l'édition de 1781, préface par Jeroom Vercruysse. Aubel 1984. John Pendred: The earliest directory of the book trade (1785), edited by Graham Pollard. London 1955.
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Nations" von Adam Smith. Er unterhielt bis zu neun Pressen, während Bertuch über sechs Pressen verfügte.25 Ein anderer führender Buchhändler dieser Zeit, der etwas von der Vielseitigkeit Bertuchs aufweist, war John Bell (1745-1831). Im Jahre 1766 erwarb er die British Library in der „Strand", die eine der bedeutendsten Leihbibliotheken in London wurde. In den siebziger Jahren brachte er mehrere Reihen billiger Nachdrucke heraus, die teilweise in York und Edinburgh gedruckt wurden, so unter anderem: „The British theatre" 1776-1778 in 21 Bänden und „The Poets of Great Britain" 1777-1782 in 109 Bänden. Die letztgenannte Reihe stand in Konkurrenz zur Reihe ,3ritish Poets", die von einem Verband Londoner Verleger herausgebracht wurde, mit Einleitungen von Samuel Johnson, der jede Zusammenarbeit mit dem angeblichen Raubdrucker Bell ablehnte. Bell war sich seiner erzieherischen Rolle, gute Literatur zu mäßigen Preisen zu liefern, sehr bewußt, aber er versuchte auch, seine Leser in den verschiedenen Zeitungen, die er außerdem herausbrachte, zu unterhalten. Die Seiten seiner Zeitung „The Oracle" waren leichter, ja frivoler als frühere Zeitungen, und er gründete die erste illustrierte Modezeitschrift in England,,,La Belle Assemblée" (ein Wortspiel mit Beils eigenem Namen). Er sorgte auch für die Verbesserung der äußeren Erscheinung seiner Drucke und machte viele Verbesserungen in der Typographie. Im Jahre 1785 war er der erste englische Drucker, der das „lange S" abschaffte, und 1788 begründete er die ,3ritish Letter Foundry" mit Richard Austin als Schriftgießer.26 Persönlichkeiten wie Bell und Strahan waren jedoch Ausnahmen. Die meisten Unternehmungen in London waren klein. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts besaßen die Londoner Drucker durchschnittlich 2,7 Pressen.27 Von 139 Londoner Druckern, die mehr als eine Presse zwischen 1799 und 1849 von den Behörden registrieren ließen, verfügten nur acht über mehr als die sechs Pressen, die Bertuchs Unternehmen zur gleichen Zeit benutzte.28 Und auch die großen Londoner Unternehmer waren Bertuch nicht immer voraus und ließen ihre Bereitschaft erkennen, an Fortschritte des Kontinents anzuknüpfen. Sogar Bell schrieb in dem „Prospectus" für seine neuen Lettern im Jahre 1788: Ich habe mit Bedauern gesehen, daß die Druckkunst in England sehr vernachlässigt ist und daß sie sich immer noch in einem Zustand des Niedergangs befindet. [...] Angesichts des mangelnden Interesses Englands an dieser Kunst [...] ist es bemerkenswert, daß Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland sich um die Ehre der Presse streiten. [...] (Übersetzung von I. Maxted)
In der Tat war Bell nicht der Erste in Europa, der das „lange S" abschaffte. Schon in den siebziger Jahren hatten Bodoni in Italien, Ibarra in Spanien und Didot in Frankreich neue Lettern ohne „langes S" gegossen. Und Beils Mode-
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James Alkman Cochrane: Dr Johnson's printer: the life of William Strahan. London 1964. Stanley Morison: John Bell, 1745-1831. Cambridge 1930. Ian Maxted: The London book trades 1775-1800: a preliminary checklist of members. London 1977. S. X. William B. Todd: A directory of printers and other in allied trades, London & vicinity 18001840. London 1972.
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Zeitschrift „La Belle Assemblée" wurde erst 1806 begründet - fast zwanzig Jahre nach Bertuchs „Journal". Vielleicht kann man aber englische Vorbilder für einige der besonderen Schwerpunkte Bertuchs, wie die Erziehungsliteratur, finden. In London war John Newbery (1713-1767) der große Bahnbrecher im Bereich der Kinderliteratur, der von seinem Laden im Kirchhof von St. Paul's eine ganze Reihe kleiner Bücher für kleine Leser herausbrachte. Newbery, der 1744 von Reading nach London umgesiedelt war, gab seinen Waren bunte Pappeinbände und anziehende Titel, wie „Goody Two-Shoes" oder „Liliputian Magazine", die erste Zeitschrift für Kinder. Er versuchte nicht nur zu unterrichten, sondern auch zu unterhalten. Seine Werbung war sehr geschickt gemacht; so erwähnte er im Text der Geschichten andere Ausgaben seines Verlags. Doch waren die meisten Bücher, die Newbery, seine Partner und Nachfolger Thomas Carnan und John Harris sowie Mitbewerber wie Darton und Harvey oder Dicey und Marshall herausbrachten, lediglich schmale Bändchen. Zwar waren sie öfters illustriert, aber die Kupferstiche bzw. - häufiger - Holzschnitte waren nicht immer für das betreffende Werk entworfen, sondern wurden wiederholt verwendet. Zu einem großen Fortsetzungswerk mit eigens gestochenen Illustrationen von hoher Qualität und wissenschaftlicher Genauigkeit wie Bertuchs „Bilderbuch für Kinder" gab es in England kaum eine Entsprechung. Auch gibt es keine Parallele zu Gasparis geographischen Projekten. Erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts findet man bei Verlegern wie John Harris (1756-1846) Lehrbücher von besserer Qualität.29 Betrachten wir eine andere Spezialität Bertuchs, die Geographie, oder genauer: die Kartographie. Als er 1807 die topographisch-militärische Karte Deutschlands begann, hatte er zwar Reymann in Berlin im Blickfeld, aber dieser hatte erst zwei Jahre zuvor mit einem ähnlichen Projekt angefangen und mußte bald aufhören, als Berlin von den Franzosen besetzt wurde.30 In England war der „Ordnance Survey" als Verwaltungsabteilung schon 1791 gegründet worden, und die ersten Blätter, die die Grafschaft Kent abbildeten, erschienen 1801. Kurz danach entschloß sich der „Ordnance Survey", die Grenzen der Grafschaften nicht mehr zu beachten, und eine einheitlich numerierte Serie im Maßstab eine Meile zu einem Zoll (1:63.360) für das ganze Reich herauszubringen. Bis 1822 sind nur 38 - allerdings große - Blätter erschienen, die den Südteil von England abdeckten. In dieser Zeit hatte Bertuchs „Geographisches Institut" in Weimar etwa 400 - kleinere - Karten im Maßstab von 1:180.000 veröffentlicht, die das ganze deutsche Gebiet abdeckten. Erst 1869 beendete der „Ordnance Survey" die Landkarte von England und Wales.31 Ein besseres und älteres Vorbild gab es in Frankreich. Schon 1744 hatte César François Cassini de Thury die Dreiecksaufnahme des Königreichs begonnen. Während einer kurzen Zeit erhielt er in den vierziger Jahren offizielle Unterstützung, aber nachdem diese Subvention 1756 aufhörte, sah er sich gezwungen, ein kommerzielles Geschäft zu gründen, das die weitere Vermessung durch Verkauf 29
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Joyce Irene Whalley: Cobwebs to catch flies: illustrated books for the nursery and schoolroom 1700-1900. London 1974, S. 13ff. und 113ff. Helmut Amhold: Das Geographische Institut zu Weimar: Wissenschaft und Industrie. Weimar 1984, S. 15f. W.A. Seymour: A history of the Ordnance Survey. Folkestone 1980.
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der fertigen Karten finanzierte. Cassini starb 1784, nachdem er ganz Frankreich außer der Normandie und der Bretagne im Maßstab von 1:86.400 vermessen hatte. Die Aufgabe wurde von seinem Sohn Jacques Dominique zu Ende geführt. Die vollständige Reihe von 180 Karten konnte im Jahre 1789 der Assemblée Nationale vorgelegt werden.32 Der „Ordnance Survey" lieferte erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts mit seiner Karte im Maßstab 1:2.500 bzw. 1:10.560 für unbewirtschaftete Gegenden die ausführlichste nationale Vermessung Europas. Zu Bertuchs Zeit gab es für dessen Karten keine Entsprechung in England, das nur eine Reihe unzusammenhängender Landkarten einzelner Grafschaften aufweisen konnte. In diesem - wenn auch flüchtigen - Überblick ist uns kein englisches Vorbild vor Augen gekommen, das der Vielseitigkeit Bertuchs gleichkommt, auch nicht in der Weltstadt London. Man muß sich fragen, wie Bertuch in einer so kleinen Stadt wie Weimar so Bedeutendes leisten konnte. Die Anwesenheit der schönen Geister scheint nicht besonders dazu beigetragen zu haben. Goethes und Schillers Werke wurden von Göschen in Leipzig und später von Cotta in Tübingen herausgebracht. Göschen veröffentlichte auch viele Werke von Wieland, der sich höhnisch über Bertuchs Journal des Luxus und der Moden" äußerte. In Berlin druckte Unger viele Werke der klassischen Weimarer Autoren. Einen möglichen Grund für Bertuchs Erfolg sprach Goethe indirekt gegenüber Eckermann am 20. Oktober 1828 an: Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stünde, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht. Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich verteilte Universitäten und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken [...] denn jeder Fürst hat dafür gesorgt, dergleichen Schönes und Gutes in seiner Nähe heranzuziehen. 33
Die dezentrale Förderung von Kultur und Industrie durch die Fürsten der einzelnen Territorien wirkte völlig anders als die Zentralisierung in England. Kommerzielle Unternehmungen konnten vielleicht in kleineren Residenzstädten etwas leichter gedeihen als in England. Aber das allein kann nicht alles erklären. Bertuch verdankte seinen Erfolg hauptsächlich seinem unerschöpflichen Unternehmungsgeist. Von England aus kann man diese Faust-Figur, die hier in Weimar immer strebend sich bemühte, nur bewundern.
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„Prévost, M. César-François Cassini", Dictionnaire de Biographie Française, Bd. 7 (1956), S. 1328-1329. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Berlin 1922, S. 472.
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Schwerpunkte des Bertuchschen Verlagsprogramms
Uta Kühn-Stillmark
Zum Verlagsprofil des Landes-Industrie-Comptoirs und des Geographischen Instituts unter Friedrich Justin Bertuch in den Jahren 1791 bis 1822
Am 21. Oktober 1813 begab sich der junge Weimarer Verleger und Kunsthistoriker Carl Bertuch unter außergewöhnlichen und gefahrvollen Umständen zu den Schlachtfeldern von Leipzig. Er stand auf dem Hügel, von dem er das weite Panorama der verwüsteten Landschaft überblicken konnte. Hier hatten in den letzten Tagen - nur wenige Stunden zuvor - die schweren Entscheidungskämpfe der Alliierten gegen Napoleon stattgefunden. Carl Bertuch teilt später eine Vision mit, die er an diesem Orte von der Errichtung eines „würdigen Monuments]" hatte, welches das „Andenken dieser großen Zeit auch hier von Seiten der Deutschen dankbar" bezeugen sollte.1 Er schreibt: „Staunend steht der Beobachter, indem sich ihm als heilsame Folgen der Schlacht von Leipzig die Wiedergeburt deutscher Völker und Staaten ahnend zeigt".2 Seine Erkenntnisse und Gedanken, „aus vollem Herzen kommend"3, veröffentlichte er kurz darauf - im Januar 1814 - im Verlage des von seinem Vater Friedrich Justin Bertuch vom Landes-Industrie-Comptoir abgezweigten Geographischen Instituts. Die „Wanderung nach dem Schlachtfelde von Leipzig [...] Ein Beitrag zur neuesten Zeitgeschichte" ist eine der ersten, „aus zuverlässigen Quellen geschilderten" Dokumentationen4, die jenes einschneidende historische Ereignis wiedergibt. Die Authentizität von Carl Bertuchs Berichten liegt in seinen mit Sachkompetenz und politischem Scharfblick geführten Gesprächen begründet, die ihm einige Generalstabsoffiziere gewährten. Sie ermöglichten ihm die direkte Verbindung zu der „alliirten Haupt-Armee" unter dem Feldmarschall Fürst Schwarzenberg und dem General Graf Bennigsen, der den rechten Flügel der Verbündeten befehligt hatte. Ein den Dokumentarberichten beigefügter Schlachtplan war „nach den vorhandenen besten Charten entworfen".5 Der Autor verzeichnete darauf eigenhändig „die Operationen der alliirten Haupt-Armee, Uber deren Bewegungen er die meisten, bisher noch unbekannten Mitteilungen erhielt".6 Wie die Schrift seines Sohnes Carl trägt ein großer Teil der Publikationen aus Friedrich Justin Bertuchs Verlagsproduktion den Stempel von Aktualität und Quellentreue. Diese Kriterien bilden die beiden Säulen seines verlegerischen Werkes, sei es auf naturkundlichem, ökonomischem, medizinischem oder poli1
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Carl Bertuch: Wanderung nach dem Schlachtfelde von Leipzig im October 1813. Bin Beitrag zur neuesten Zeitgeschichte von C[arl] B[ertuch]. Weimar: Geographisches Institut 1814, S. 22. (Die Titel der in Bertuchs Verlag erschienenen Schriften werden hier weitgehend diplomatisch zitiert.) Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 38. Ebenda, Vorbericht des Verfassers, S. 1. Ebenda.
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tisch-historischem Gebiet. Bertuch, in der Epoche der Aufklärung herangebildet und in ihr tief verwurzelt, war als Bühnendichter, Schriftsteller, Übersetzer und Protektor weitgreifender wissenschaftlicher Unternehmungen imstande, kritisch über Positionen und Werke von Künstlern und Gelehrten zu urteilen. Mit vielen von ihnen verbanden ihn lebenslange freundschaftliche und berufliche Beziehungen. Ihren kreativen künstlerischen Bestrebungen, mutigen politischen Appellen, neuen Erfindungen und Fabrikaten sowie bahnbrechenden wissenschaftlichen Forschungsarbeiten ebnete er als regsamer Verleger den Weg. Auch war er maßgeblich als Mitautor beteiligt. Das verlieh seinem Unternehmen Gewicht und wachsende Anerkennung. Am anschaulichsten können die Leistungen des Landes-Industrie-Comptoirs und des Geographischen Instituts - neben der Karten- und Globenherstellung an ihrer Buchproduktion gemessen werden. Doch bislang war ihre umfassende Bewertung nicht möglich. Eine systematische Erarbeitung des BertuchNachlasses Schloß also auch die Erstellung eines Publikationsverzeichnisses ein. Ein solches Verzeichnis wurde von der Verfasserin dieses Beitrags in den Jahren 1996 bis 1999 im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Stadtmuseums Weimar (Bertuchhaus) erarbeitet und zum Druck vorbereitet. Es erfaßt die vielfaltige Buchproduktion beider inhaltlich miteinander verquickter Verlage vom Gründungsjahr des Industrie-Comptoirs 1791 an bis zum Todesjahr Bertuchs 1822. Die Basis bilden vor allem die Bestände der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek, doch wurden auch die vieler anderer Institutionen wie z.B. der Thüringer Landes- und Universitätsbibliothek Jena, der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha und der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart gesichtet. Als eine wertvolle Quelle erwies sich die im Goethe-Nationalmuseum zu Weimar aufbewahrte Bibliothek Johann Wolfgang Goethes. Sie enthält zahlreiche repräsentative Schriften naturwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Inhalts aus Bertuchs Buchproduktion. Mit der Vorlage der Bibliographie kann nun erstmals einem Kreis von Wissenschaftlern und Interessenten eine Orientierung vermittelt und die Nutzung eines bisher noch nicht aufgearbeiteten Komplexes, der auch eine wesentliche Voraussetzung für die Bertuchforschung darstellt, angeboten werden. Hier ist nur ein kleiner Einblick in die wichtigsten Schwerpunktgebiete möglich. Zu Beginn sei auf ein bibliographisches Kompendium verwiesen, das exemplarisch für die Bertuchsche Verlagstätigkeit ist. Es handelt sich dabei um das „Allgemeine Repertorium der Literatur" (acht Bände)7, das Bertuch im Jahre 1799 in das Industrie-Comptoir übernommen hatte, nachdem die ersten Bände in der Expedition der Allgemeinen Literatur-Zeitung in Jena erschienen waren. Das Werk zeichnet ein klarer systematischer Aufbau und verläßliche, um Vollständigkeit bemühte Informationen zu den natur-, geistes- und kunsthistorischen Schriften in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren (1785-1800) aus. Dabei bleibt es nicht auf die nationalen Publikationen beschränkt, sondern umfaßt auch die 7
Allgemeines Repertorium der Literatur für die Johann Samuel Ersch.] Bd. 1-8. - [Für die Jahre allgemeinen Literatur-Zeitung 1793-1794; [Für Industrie-Comptoir 1799-1800; [Für die Jahre Industrie-Comptoir 1807.
Jahre 1785-1800. [Zusammengstellt von 1785-1790; Bd. 1-3:] Jena: Expedition der die Jahre 1791-1795; Bd. 4-6:] Weimar: 1796-1800; Bd. 7-8:] Weimar: Landes-
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der wichtigsten europäischen Länder. Das entsprach dem wachsenden bürgerlichen Bewußtsein zu einer Zeit, als große revolutionäre Ereignisse auf alle menschlichen Lebensbereiche einwirkten. In Bertuchs Verlagen sind über vierzig Periodika und Magazine, von denen bis in die zwanziger Jahre eine beträchtliche Anzahl verlegt wurden, nachweisbar. Ein Teil war auch hier - wie im Fall anderer Verlage dieser Epoche kurzlebig. Das zeigt das Beispiel der in ökologischer und forstästhetischer Hinsicht informativen Zeitschrift „Der besorgte Forstmann"8, die der Freiherr Linker (Lyncker) von Lützenwieck mit erfahrenen Botanikern und Insektenforschern herausgab. Es wurden nur vier Hefte (1798) gedruckt. Zu wenige Interessenten hatten sich gemeldet, so daß die Kosten nicht abgedeckt werden konnten. Auf einem breitgefächerten kulturhistorischen, politischen, literarischen und naturwissenschaftlichen Sektor erschien unter Bertuchs Leitung jedoch eine Reihe von Zeitschriften mit einem festen Leserkreis über Jahre und Jahrzehnte. Ich erinnere an den seit 1774 mit Wieland herausgegebenen „Teutschen Merkur"9, der von 1803-1810 im Landes-Industrie-Comptoir publiziert wurde und in dessen frühen Jahrgängen u.a. Bertuchs Nachdichtungen aus dem Spanischen und Französischen sowie eigene Lyrik abgedruckt worden war. Sodann das mit dem Maler Georg Melchior Kraus 1786 begründete „Modejournal" (41 Bände, bis 1827)10, dessen Begriffe Mode und Luxus von einem weiten Bogen des häuslichen und kulturellen Lebens, der Wissenschaften, Philosophie, Musik und brennenden Zeitfragen umspannt werden. Erwähnen möchte ich die unter Christian August Vulpius erschienenen sehr originellen „Curiositäten der physischliterarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt; zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser"11 (1811-1825; 10 Bände), ein wahres Konglomerat von ernsten Geschichtsquellen, aufsehenerregenden archäologischen und naturkundlichen Neuentdeckungen, Berichten über absonderliche Zeitgenossen und satirischen Anekdoten. Repräsentativ für die wichtigen ökonomischen Editionen ist das „Magazin der Handels- und Gewerbskunde", zunächst von dem Kaufmann Johann Adolf Hildt, anschließend „von einer Gesellschaft von Gelehrten 8
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Der besorgte Forstmann. Eine Zeitschrift über die Verderbniß der Wälder durch Thiere, und vorzüglich Insecten überhaupt, besonders aber durch die jetzt in Teutschland herrschenden Kiefer- Fichten- Tannen- und Birken-Raupen. Gesammelt und herausgegeben von Joh[ann] Jac[ob] Freyherr von Linker [und Lützenwieck]. Bd. 1. Weimar: Industrie-Comptoir 1798. Der Teutsche Merkur. Herausgegeben von Christoph Martin Wieland. Bd. 1 ! Der Deutsche Merkur 1773. [Bd. 2-68:] Der Teutsche Merkur, 1774-1789; [Bd. 1-63:] Der Neue Teutsche Merkur, 1790-1810; Weimar: Im Verlag der Gesellschaft 1773; in Carl Ludolf Hoffmanns Verlag, 1774; [o. Verlagsang.:] 1790-1799; Gedruckt bey den Gebrüdern Gädicke 18001802; Landes-Industrie-Comptoir 1803-1810. Journal der Moden. Herausgegeben von F[riedrich] J[ustin] Bertuch und G[eorg] M[elchior] Kraus. Bd. 1: Journal der Moden, 1786. - Bd. 2-27: Journal des Luxus und der Moden, 1787-1812. - Bd. 28: Journal für Luxus, Mode und Gegenstände der Kunst, 1813. - Bd. 2 9 41: Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode, 1814-1826. - Bd. 42: Journal für Literatur, Kunst und geselliges Leben. - Weimar: In der Expedition dieses Journals, und Gotha, in der Ettingerschen Buchhandlung 1786-1790; In der Expedition dieses Journals 1791; Industrie-Comptoir 1792-1802; Landes-Industrie-Comptoir 1803-1827. [Spätere Hrsg. waren Carl Bertuch, J.M.H. Döring, E. Ost u. S. Schütze.] Curiositäten der physisch-literarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt; zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser. [Hg. von Christian August Vulpius.] 1.—10. Bd. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1811-1825.
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und Geschäftsmännern" herausgegeben ( 1 8 0 3 - 1 8 0 5 ) . 1 2 Besonderer Wert wurde hier auf die Kunde der historischen Entwicklung des Welthandels sowie auf eine aufgeklärte und moderne europäische Handelswissenschaft gelegt. Noch während der Koalitionskriege gegen Napoleon erschien neben verschiedenen Monographien zu Fragen auf dem militärisch-politischen Gebiet „Pallas. Eine Zeitschrift für Staats- und Kriegskunst" ( 1 8 0 8 - 1 8 1 0 ) unter dem preußischen General Rühle von Lilienstern. 13 Ab 1814 publizierte Bertuch politische und zeitkritische Magazine: „Nemesis" ( 1 8 1 4 - 1 8 1 8 ) 1 4 und „OppositionsBlatt" ( 1 8 1 7 - 1 8 2 0 ) . 1 5 Jedoch gebot ihrem Erscheinen die einsetzende Restauration ein Ende. Diesen und anderen Zeitschriften, wie z.B. „London und Paris" 1 6 , sind zu diesem Symposium eingehende Beiträge gewidmet, so daß ich nicht näher auf sie eingehe. Als letzte Zeitschrift - und damit leite ich zu einem wesentlichen Schwerpunkt in Bertuchs Verlagsprogramm über - nenne ich die „Allgemeinen Geographischen Ephemeriden", die seit 1798 erschienen sind (51 Bände bis 1816; 31 Bände in den nachfolgenden „Neuen A . G . E " , 1 8 1 7 - 1 8 3 0 ) . 1 7 Diese Edition gilt noch heute als die „erste geographische Zeitschrift mit wissenschaftlichem Niveau". 1 8 Hier war eine Vielzahl von namhaften Reiseschriftstellern, Naturwissenschaftlern, Geographen und Altertumskundlern beteiligt. Über drei Jahrzehnte konnte der von den Begründern, zu denen Franz X a v e r Freiherr von Zach, Astronom und Leiter der Sternwarte auf dem Seeberg bei Gotha, gehörte, angestrebte hohe Standard gehalten werden. Beiträge lieferten u.a. der Naturforscher Alexander von Humboldt, der baltisch-russische Weltumsegier Adam Johann 12
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Magazin der Handels- und Gewerbskunde. Herausgegeben von J[ohann] A[dolph] Hildt. Jahrgang 1803. 1.-2. Bd. - Magazin der Handels- und Gewerbskunde. Herausgegeben von einer Gesellschaft von Gelehrten und Geschäftsmännern. Jahrgang 1804. 1.-2. Bd. Jahrgang 1805. 1.-2. Bd. Weimar, Landes-Industrie-Comptoir 1803-1805. Pallas. Eine Zeitschrift für Staats- und Kriegs-Kunst herausgegeben von [Johann Jacob Otto August] R[ühle] v[on] L[ilienstern], 1 ,-A. Bd. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 18081810. Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte, herausgegeben von Heinrich Luden. 1.-12. Bd. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1814—1818. Oppositions-Blatt oder Weimarische Zeitung [Bd. 1-12]. - Oppositions-Blatt, Weimarische Zeitung [Bd 13-16]. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1817-1820. London und Paris. Bd. 1-24. - [Bd. 1-12:] Weimar: Industrie-Comptoir 1798-1803; [Bd. 13-20:] Halle 1804-1807; [Bd. 21-24:] Rudolstadt 1808-1810. Allgemeine Geographische Ephemeriden. Verfasset von einer Gesellschaft Gelehrten und herausgegeben von F[ranz] X[aver] von Zach [ 1 . - 4 . Bd.]; A[dam ] C[hristian] Gaspari und Friedrich] J[ustin] Bertuch [5.-11. Bd.]; Ffriedrich] Jfustin] Bertuch und Qhristian] G[ottlob] [Theophil] Reichard [12.-18. Bd.]; F[riedrich] J[ustin] Bertuch [19.-51. Bd.], Neue Allgemeine Geographische Ephemeriden. Verfasset von einer Gesellschaft von Gelehrten und herausgegeben von Dr. Friedrich] J[ustin] Bertuch £1.-10. Bd.]. - Neue Allgemeine Geographische und Statistische Ephemeriden. Verfasset von einer Gesellschaft von Gelehrten, und herausgegeben von dem Geographischen Institute. [11.-16. Bd.]. - Neue Geographische und Statistische Ephemeriden. Redigirt von dem Prof. Dr. G[eorg] [Heinrich] Hassel. [17.-26. Bd]; Herausgegeben von einer Gesellschaft von Gelehrten. [27. Bd.]. Verfasset von einer Gesellschaft von Gelehrten. Herausgegeben von dem Geographischen Institut [28.-31. Bd.]. Weimar: Industrie-Comptoir 1798-1802. - Landes-Industrie-Comptoir 1802-1830. Helmut Arnhold: Das Geographische Institut zu Weimar. Wissenschaft und Industrie. (Tradition und Gegenwart. Weimarer Schriften; 11). Weimar 1984, S. 9.
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von Krusenstern (z.B. den Aufsatz „Über das Dasein von Davis-Land", 1805) und Goethe („Höhen der alten und neuen Welt bildlich verglichen. Ein Tableau vom Hrn. Rath von Göthe mit einem Schreiben an den Hrsg. der A.G.E.", 1813). Bertuch arbeitete mit den bedeutendsten Topographen und Kartographen seiner Zeit zusammen. Von den philanthropischen Ideen des ausgehenden 18. Jahrhunderts beseelt, bemühte sich der Geograph Adam Christian Gaspari um die Hebung des Erdkundeunterrichts in den Schulen. Er tat das mit originellen didaktischen und psychologischen Überlegungen und fand dabei Bertuchs Unterstützung in vollem Maße. Sein Ziel war es, die Geographie interessanter zu gestalten, das Kind spielend und ohne autoritären Zwang an den Gegenstand heranzuführen, und damit die Entwicklung eigener Ideen herauszufordern. In mehreren Kursen erlernte der heranwachsende Schüler die mathematische, physische und politische Geographie, und das ermöglichte ihm den Weg zu einer höheren Schulbildung. In den Jahren zwischen 1792 und 1800 erschienen der „Neue Methodische Schul-Atlas" 19 und der „Hand-Atlas" 20 - mit hervorragend gezeichneten Karten von Franz Ludwig Güssefeld. Diese Publikationen, dazu ein kleiner methodischer Erdglobus und ein Himmelsglobus, sind aus heutiger Sicht als eine besondere Leistung auf geographischem Gebiet anzusehen. Kartographen, Geographen, Stecher und Illuminierer waren über mehrere Jahre (1807-1821) an einem einmaligen Großprojekt beteiligt, an der Herstellung der ersten topographisch-militärischen Karte von Mitteleuropa. 21 Daneben entstanden zahlreiche Atlanten, Erd- und Himmelsgloben. Zur Zeit der Koalitionskriege erschienen Militärkarten von großem dokumentarischen Wert, Kriegsberichte und Aufrufe der preußischen und französischen Armeen, minutiöse Beschreibungen der Schlachten und Feldzüge. Bertuch gewann für das umfangreiche Betätigungsfeld des Landkartenwesens, das die Oberaufsicht über alle damit betrauten Mitarbeiter einschloß, den Offizier Christoph Friedrich Wilhelm Streit, der auch ein begabter Mathematiker war. Von 1807-1809 entstand unter dessen Leitung eine Reihe äußerst präzise angefertigter Militärkarten. Daß sich Bertuch dem königlich preußischen Hauptmann noch Jahre später verpflichtet fühlte, beweist die Publikation seines aus zehn Teilen bestehenden „Lehrbuches der reinen Mathematik" (18161833).22 Es bot dem Lernenden einen breit angelegten und für das Selbststudium geeigneten Einstieg in die Mathematik über die Anfangsgründe der Arithmetik, Gleichungslehre, Trigonometrie, Geometrie bis hin zur Differential- und Inte-
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Neuer methodischer Schul-Atlas entworfen von F[ranz] L[udwig] Güssefeld. 1. Cursus. Weimar: Industrie-Comptoir 1792. Allgemeiner Hand-Atlas der ganzen Erde: Nach den besten astronomischen Bestimmungen neuester Entdeckungen und kritischen Untersuchungen entworfen und zu A[dam] Cfhristian] Gasparis vollständigen Handbuche der neuesten Erdbeschreibung bestimmt. Weimar: Geographisches Institut [1800]. Topographisch-militairische Charte von Teutschland, im Westen bis an das diesseitige Rheinufer, im Osten bis an die Preussischen Provinzen Ost- und Westpreussens reichend, bestehend aus 204 illum. Blättern. [Nebst Supplement; 1831-1832 neu berichtigt], Weimar: Geographisches Institut 1807-1820. Lehrbuch der reinen Mathematik für den Schulunterricht bearbeitet von [Christoph] Friedrich Wilhelm Streit. Theil 1-10. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1816-1833.
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gralrechnung. Die Veröffentlichung eines mathematischen Fachbuches war offensichtlich eine der wenigen Ausnahmen in Bertuchs Verlag. Unter den spezifischen Standardwerken des Geographischen Instituts sei hier noch auf das fachkundliche „Vollständige Handbuch der Erdbeschreibung" (1806-1827) 23 verwiesen, über das seine Autoren in einer Anzeige im Jahre 1819 vermerkten: Überall haben die Verfasser bloß nach Quellen und den als sichere Führer anerkannten Hilfsmitteln gearbeitet, und unser Handbuch macht durch seine Erscheinung alle einzelne Choro-Topographien, wo nicht unnütz, doch entbehrlich; man findet wenigstens in denselben den Kern von dem, was uns in hundert andern Werken einzeln vorgeführt wird. 24
Der Bereich, der im Bertuchschen Unternehmen den größten Raum einnimmt, war die Reiseliteratur. Für das Jahr 1800 wurde das Erscheinen der „Allgemeinen Bibliothek der neuesten und wichtigsten Reisebeschreibungen" von Matthias Christian Sprengel25 angekündigt. Dieser strebte eine ganz neue Qualität auf dem Gebiet der damals so beliebten Reiseliteratur an. Seine Tätigkeit als Geograph und Polyhistor war universell. Als Professor in Halle hielt er Vorlesungen über den Sklavenhandel, den er auf das schärfste verurteilte. Sprengel akzeptierte nur authentische Berichte von Forschem, die sich wie Alexander von Humboldt mit den Entwicklungsprozessen der Natur und der Erkundung bislang noch unbekannter Völker und Staaten auseinandersetzten, fern von nationaler Eifersucht und Überschätzung.Von der „Reiseliteratur" erschienen zunächst fünfzig Bände. Sprengel, ein Schwiegersohn von Johann Reinhold Forster, war ein ausgezeichneter Kenner mehrerer Sprachen und Kulturen, vor allem aber auch der Poesie der westlichen und nordischen Länder Europas. Er starb, bevor er das über Jahre zusammengetragene umfangreiche Material auswerten konnte, im Jahre 1803. Bertuch erwarb den Nachlaß, da ihm die Fakten zu bevölkerungs- und wirtschaftlich-statistischen Zeitfragen unentbehrlich waren. Im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägten die Entdeckungsreisen europäischer Forscher und Handelsreisender das Kultur- und Geistesleben unseres Kontinents. Ihre Schilderungen, z.T. auch aus Sprengeis postumer Sammlung, verwertete Bertuch in seinem „Bilderbuch für Kinder" (1790ff.)26, dessen handkolorierte Kupfer von
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Vollständiges Handbuch der neuesten Erdbeschreibung. Bd. 1-23. [Hg. von] Ad[am] Christian] Gaspari, J[ohann] G[eorg] [Heinrich] Hassel, J[ohann] G[ünther] Friedrich] Cannabich, [Johann] Christoph] Friedrich] Gutsmuths [ab Bd. 5], [Friedrich August] Ukert [ab Bd. 12]. Weimar: Geographisches Institut 1819-1832. Anzeige und Ankündigung wegen der Fortsetzung des großen Handbuchs der neuesten Erdbeschreibung. Weimar, den 2. Febr. 1821, S. 3. Bibliothek der neuesten und wichtigsten Reisebeschreibungen und geographischen Nachrichten zur Erweiterung der Erdkunde, nach einem systematischen Plane gesammelt, und in Verbindung mit einigen Gelehrten bearbeitet und herausgegeben von M[atthias] Qhristian] Sprengel und T[heophil] Ffriedrich] Ehrmann. I.-L. Bd. Weimar: Industrie-Comptoir 18001803. Landes-Industrie-Comptoir 1804-1814. Bilderbuch für Kinderf,] enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften; alle nach den besten Originalen gewählt, gestochen, und mit einer kurzen wissenschaftlichen, und den Verstandes-Kräften eines
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hohem künstlerischem Wert sind. Die „Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen" (begonnen 1815, 64 Bände)27 wurde auf einer hohen fachwissenschaftlichen Stufe fortgeführt. Sie enthielt neben neuen geographischen Aufschlüssen kritische, unter ernsten sozialen Aspekten durchgeführte Erkundungen und Schilderungen. Einer ihrer markantesten Vertreter war der Orientforscher Johann Ludwig Burckhardt, der sich vor allem um die damals noch sehr lückenhafte biblische Erdbeschreibung verdient gemacht hat. Seit dem Jahre 1793 verfaßte der Gothaer Schriftsteller und Theaterintendant Heinrich August Ottokar Reichard instruktive Handbücher für Reisende innerhalb der europäischen Länder. Der „Guide des Voyageurs en Europe" erschien in vielen Neuauflagen, da sein Verfasser die einzelnen Bände ständig überarbeitete, um sie auf einen umfassenden und zeitgemäßen Stand zu bringen.28 Dadurch waren sie für Passagiere, Kaufleute und Handelsvertreter eine unentbehrliche Hilfe, zumal sie auch mit Karten und Taschenatlanten versehen wurden. Bertuch verlegte Reichards Reiseführer in französischer Sprache. Die deutsche Fassung hatten die Gebrüder Gädicke (Weimar und Berlin) übernommen. In der Medizin publizierte Bertuch ebenfalls Schriften, die sich nach dem neuesten Forschungsstand orientierten. Ein wichtiger Autor war Justus Christian Loder, dessen „Anatomische Tafeln zur Beförderung der Kenntniß des menschlichen Körpers" (1794—1804)29 zu den grundlegenden Studienwerken mehrerer Generationen gehörten. Nach Samuel Thomas Soemmerring, dem Entdecker des gelben Flecks im Sehorgan, erschienen kommentierte Darstellungen des menschlichen Auges und des menschlichen Ohres (1810 und 1811).30 Über diese Arbeiten hat sich Goethe persönlich mit Soemmerring unterhalten und sich von ihm belehren lassen. Auch über die sensationelle Brownsche Methode und ihre erfolgreich und lebensrettend dargestellte Anwendung in deutschen Krankenhäusern erschienen Veröffentlichungen, so z.B. von dem in Bamberg wirkenden
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Kindes angemessenen Erklärung begleitet. Bd. 1-12. Weimar: Industrie-Comptoir 17901805. Landes-Industrie-Comptoir 1805-1830. Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen und geographischen Nachrichten zur Erweiterung der Erd- und Völkerkunde; in Verbindung mit einigen Gelehrten gesammelt und herausgegeben von Dr. Friedrich] J[ustin] Bertuch; nach dessen Tode von mehreren andern Gelehrten. I.-LXV. Bd. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir, 1815-1835. Guide des Voyageurs en Europe par Mr. [Heinrich August Ottokar] Reichard. Weimar: Industrie-Comptoir 1793. [Zahlreiche Auflagen, vor allem auch von einzelnen Ländern wie der Schweiz, Italien, Frankreich, Skandinavien erschienen nachweislich bis 1819 in Bertuchs Verlag.] Dr. J[ustus] C[hristian] Loder's anatomische Tafeln zur Beförderung der Kenntniß des menschlichen Körpers, in 6 Abtheilungen mit 128 Kupfertafen, Teutschem oder Lateinischem Texte. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1794-1804. Das menschliche Auge nach der Darstellung des Herrn Geheimen Raths [Samuel Thomas von] Sömmering im Profildurchschnitt noch mehr vergrößert abgebildet und mit einer kurzen Beschreibung versehen von Johann Friedrich Schröter. Mit einem Vorbericht von Dr. Johann Rosenmüller. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1810. Das menschliche Ohr nach den Abbildungen des Herrn Geheimen Raths [Samuel Thomas von] Sömmering mehr vergrößert dargestellt und beschrieben von Johann Friedrich Schröter. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1811.
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Adalbert Friedrich Marcus. 31 Bertuchs Schwiegersohn Ludwig Friedrich von Froriep, ein bedeutender Arzt von vielseitiger Bildung, der nach dem frühen Tod Carl Bertuchs im Jahre 1815 die Leitung des Verlages 1817 übernahm, sorgte für die Übersetzung der Werke führender englischer und französischer Chirurgen, um die in Deutschland wirkenden Mediziner über den neuesten Forschungsstand zu informieren. Aber er ließ in diese Werke stets seine eigenen Erfahrungen als Praktiker und Heilkundiger mit einfließen. Dem Handbuch der Chirurgie von Cooper 32 setzt er in seiner „Vorrede" sechzehn Paragraphen voran, die er vor allem den angehenden Fachärzten als Richtschnur mitgibt. Er fordert vom Chirurgen nicht nur „Gesundheit, Gewandtheit [...], Festigkeit und mechanisches Geschick", sondern „Von Eigenschaften des Geistes und Gemüths: scharfe Beurtheilungskraft, eine plastische Einbildungskraft und einfen] gewiss[en] Sinn und Erfindungsgeist für Mechanik; - Unerschrockenheit, umsichtige Entschlossenheit und Kühnheit, Uneigennützigkeit und Menschenliebe." 33 Eine außergewöhnliche Leistung war die Herausgabe einer 16 Bände umfassenden chirurgischen Handbibliothek, mit der Froriep noch zu Lebzeiten Bertuchs begann. Hier ist vor allem die programmatische Leistung englischer Militär-Chirurgen hervorzuheben. 34 Froriep sorgte bereits um 1800 für die Verbreitung der Theorien des Gehirnforschers Franz Josef Gall. Dessen These, daß an den verschiedenen Schädelknochen des Menschen alle wesentlichen Eigenschaften zu erkennen seien, war sehr umstritten und wurde von vielen Gelehrten, z.B. von Hegel, massiv bekämpft. Froriep, damals ein noch sehr junger Medizinprofessor, setzte sich eingehend mit Galls Theorien auseinander. In dem Band „Darstellung der neuen, auf Untersuchungungen der Verrichtungen des Gehirns gegründeten, Theorie der Physiognomik des Hrn. Gall in Wien" 35 publizierte er Galls Ergebnisse über die im Gehirn befindlichen Organe des Mutes, der Schlauheit, der Empfindlichkeit („bei Weibern mehr ausgeprägt"), des Kunstsinnes, der Phantasie, der höhern Liebe. 36 Froriep betonte, weit davon entfernt zu sein, „durch sein Urtheil über die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit der die Theorie stützenden Gründe, dem Urtheile des Publikums vorzugreifen." 37 Obgleich er sich in seiner „Darlegung" sehr zurückhaltend über seinen eigenen Standpunkt äußert, ist er in diesen Jahren als ein begeisterter Verfechter von Galls Lehre 31
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Prüfung des Brownschen Systems der Heilkunde durch Erfahrungen am Krankenbette. Herausgegeben von Dr. Adalbert Friedrich Marcus. 1 .-4. Stück. Weimar: Industrie-Comptoir 1797-1799. Samuel Cooper's Handbuch der Chirurgie in alphabetischer Ordnung. Nach der dritten englischen Original-Ausgabe übersetzt. Durchgesehen und mit einer Vorrede versehen von Dr. L[udwig] F[riedrich v[on] Froriep. 1.-3. Band. Nach der dritten und vierten Englischen Original-Ausgabe übersetzt [...]. 4. Bd. 1.-2. Abtheilung. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1819-1822. Ebenda, Vorrede, S. VII. Chirurgische Hand-Bibliothek. Eine auserlesene Sammlung der besten neuern Chirurgischen Schriften des Auslandes. Bd. 1-16. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1820-1837. Darstellung der neuen, auf Untersuchungen der Verrichtungen des Gehirns gegründeten, Theorie der Physiognomik des Hn. Dr. [Franz Joseph] Gall in Wien. [Hg. von Ludwig Friedrich von Froriep.] Weimar: Industrie-Comptoir 1800. Ebenda, S. 5Iff. Ebenda, S. 4.
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anzusehen. Durch jene Veröffentlichung wurde vermutlich Goethe mit Galls „Organologie" erstmals bekannt. In einem Brief vom 18. November 1800 schreibt Bertuch an Froriep nach Jena: „Ihr Gallismus, und daß er sogar bis auf Göthe Sensation machte, macht mir Spaß. [...] Ich rathe Ihnen diese gute Gelegenheit zu benutzen sich Göthe zu empfehlen; der überhaupt ein bißchen das Außerordentliche liebt [,..]."38 Goethe hat sich sehr ernsthaft mit der Gehirntheorie beschäftigt. Er „sah wesentliche Bezüge zu" seiner „eigenen Vorstellung von der Metamorphose der Pflanze". 39 In Deutschland waren es die Dichter E.T.A. Hoffmann, Clemens Brentano und Georg Büchner, die sich mit Gall literarisch auseinandersetzten. Zu einer umfassenden phrenologischen Bewegung, die eine interessante Rezeption mit sich brachte, kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts vor allem in England und in Frankreich (z.B. bei E.A. Poe und H. de Balzac). Noch vor Frorieps Veröffentlichung von 1800 stand im „Teutschen Merkur", im 6. Stück des Jahrganges 1799, ein Spottgedicht von August von Kotzebue, in dem es hieß: Heil dir o Nachwelt! ja du wirst von Galls Genie die süßen Früchte erben Der Enkel darf nicht mehr, wie Du, o Fürst Durch Thaten erst Verdienste sich erwerben Bequemer, weit bequemer, steckt Er nur den Kopf hinaus, die Haare sich zu lüpfen, und die Bewunderung, die das Genie erweckt, Wird aus dem Herzen in die Finger schlüpfen [...] 40
Von den Organen, die Gall den Gehirnknochen zuordnete, hat sich nur das Sprachzentrum bestätigt. Auch sind seine Untersuchungen zur Gehirnanatomie für das Erziehungswesen und die Kriminalistk von großer Bedeutung. Im Jahre 1801 verbot Franz II. in Österreich Galls Lehre und erteilte dort dem Gelehrten ein Verbot seiner „religionsgefährdenden" Privatvorlesungen. Gall besuchte daraufhin viele deutsche Städte, darunter auch Berlin, Halle, Jena und Weimar, wo er Bertuch persönlich begegnete. Im Industrie-Comptoir hatte Froriep nach der zweiten vermehrten Auflage von Galls „Physiognomik" im Jahre 1801 noch eine dritte folgen lassen, die er ebenfalls überarbeitete und kommentierte. Auch andere deutsche Verlage bemühten sich um Publikationen von und über Gall. 41 Neben der Medizin kennzeichnen vor allem die Naturwissenschaften (Geologie, Chemie, Pharmazie) das Wesen des Verlagsprogramms. Bertuchs „Tafeln der allgemeinen Naturgeschichte nach ihren drey Reichen" - Mineral-, Pflanzenund Thier-Reich - erschienen im Jahre 1801.42 Hier gab es vor allem pädago38 39
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Brief Bertuchs an L.F. Froriep vom 18. November 1800. GSA 06/2735. Sigrid Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts. Stuttgart und New York 1990 (Soemmerring-Forschungen. Beiträge zur Naturwissenschaft und Medizin der Neuzeit. Hg. von Gunter Mann u.a. Bd. VIII. Mainz), S. 213. August von Kotzebue: Antwort. Wien den 3ten März. (Teutscher Merkur, Jg. 1799.), S. 287f. Z.B. erschien eine Darstellung des Gallschen Systems nach den damals in deutschen Universitätsstädten gehaltenen Vorlesungen bei Hemmerde und Schwetschke in Halle (1805). Tafeln der allgemeinen Naturgeschichte nach ihren drey Reichen. Nebst vollständiger Enumeration aller bis jetzt bekannten Naturkörper, und synoptischer Uebersicht ihrer Kennzeichen. Herausgegeben von Friedlich] Justfin] Bertuch. 1.-3. Theil. Weimar: IndustrieComptoir 1801.
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gische Aspekte, unter denen junge Forscher angeleitet und ausgebildet werden sollten. Es wurde aber auch „Ungelehrten" und „Frauenzimmern" anschauliches Studienmaterial angeboten. Bertuch befand sich in ständigem Gedankenaustausch mit dem Jenaer Botaniker August Johann Georg Carl Batsch, der mehrere spezielle Schriften zur Naturkunde verfaßte.43 Nach seinem Tod (1802) wurde sein Werk im Zuge des naturwissenschaftlichen Fortschrittes, vor allem auf dem Gebiet der Pflanzenkunde, stark kritisiert und geriet schließlich in Vergessenheit. Interessant ist die Tatsache, daß auf Anregung des Großherzogs Carl August ein spezielles Handbuch erarbeitet wurde, das den Schlüssel zu einem botanischen Werk von Weltrang bot. Es handelt sich um den zwölfbändigen „Hortus Indicus Malabaricus" von Hendrik Adriaan van Rhedde to Drakenstein (1637-1691). Das im botanischen Bereich einmalige Werk des niederländischen Gelehrten konnte auf der Basis der nun gültigen binären Nomenklatur nicht mehr verstanden und benutzt werden. Carl August gewann mit Bertuchs Hilfe den Naturwissenschaftler und Arzt August Wilhelm Dennstedt für die Erstellung eines „Schlüssels zum Hortus"(1819).44 Die Aufgabe wurde mit Akribie gelöst, unter genauer Beachtung der geltenden botanischen Gesetze und der Überwindung diffiziler Sachfragen. Zwei Jahre vor Erscheinen des Buches hatte Dennstedt über diese schwierige Zeit an Bertuch berichtet: Oft bin ich nach tagelangem Suchen noch immer auf dem Punkte ausging, das heißt: ich finde trotz alles Nachschlagens keine vorliegenden Pflanzen, und sehe mich endlich genöthigt selbst Namen zu geben, weil die nirgends aufzufindenden Pflanzen mit vollem betrachten sind. 4 5
von welchem ich Bestimmung der und Charakteristik Rechte u. neu zu
In Weimar nahmen Herder und Goethe starken Anteil an den physikalischen Experimenten des Jenaer Universitätslehrers Johann Wilhelm Ritter, der ein leidenschaftlicher Verfechter der aufsehenerregenden, später von Alessandro Volta widerlegten Lehre von der tierischen Elektrizität war. Sein „Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprozess in dem Thierreich begleite", erschien 1798 im Industrie-Comptoir.46 Der Schrift eines anderen jungen Jenaer Wissenschaftlers sei gedacht. Johann Gottlieb Fichte ließ seine Antrittsvorlesung „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie", die er 1794 vor einem großen Auditorium hielt, bei Bertuch verlegen. Sein darin geäußerter Grundsatz: „Alles Forschen muß auf den höchsten Zweck der 43
Ein Beispiel von Batschs, mit vielen ausgemalten Kupfern versehenen Schriften: Der geöffnete Blumengarten theils nach dem Englischen von Curtis Botanical Magazine, neu bearbeitet, theils mit neuen Originalien bereichert und für Frauenzimmer und Pflanzenliebhaber, welche keine Gelehrten sind, herausgegeben von Dr. Augfust] Ioh[ann] Ge[org] Carl Batsch. 1. Centurie. Weimar: Industrie-Comptoir 1796.
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Schlüssel zum Hortus Indicus Malabaricus, oder dreifaches Register zu diesem Werke; von Dr. August Wilhelm Dennstedt. Aus des II. Bds. 2ten Hefte des fortgesetzten Allgem[einen] Teutschen Garten-Magazins, für Pflanzenliebhaber besonders abgedruckt. Weimar: LandesIndustrie-Comptoir, 1818. Vgl. hierzu: Hermann Manitz: A.W. Dennstedt's Schlüssel zum Hortus Indicus Malabaricus (Reprinted from Taxon 17; 5). 1968. S. 496f. Brief Dennstedts an Bertuch vom 28. November 1817. GSA 06/355. Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Lebensprocess in dem Thierreich begleite. Nebst neuen Versuchen und Bemerkungen über den Galvanismus. Von Johann Wilhelm Ritter. Weimar: Industrie-Comptoir 1798.
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All
Menschheit, auf die Veredlung des Geschlechts, dessen Mitglieder wir sind, ausgehen"47, entsprach ganz der Lebenshaltung des Weimarer Verlegers. In die Reihe der politisch und geschichtlich orientierten Monographien nach dem Wiener Kongreß gehört die Schrift „Die entlarvte Inquisition, ein historischphilosophisches Gemälde dieses schrecklichen Gerichts", das 1817 nach einem spanischen Original des Don Antonio Puigblanch erschien.48 Es ist eine progressive Schrift. Neben der nachdrücklichen und drastischen Darstellung des über sechs Jahrhunderte währenden und damals noch immer existierenden Tribunals richtet der Autor den beschwörenden Appell an sein Land, nicht erst auf einen Eroberer zu warten, der - eine Besorgnis des französischen Geschichtsschreibers Abbé Raynal bestätigend - der Inquisition nach eigenen Vorstellungen ein Ende setzt. Laß es lieber Dein Werk seyn! Gieb damit den alliirten Mächten einen neuen Beweis, daß die großen Hoffnungen, die sie von Dir noch hegen, begründet sind, und Deinen Französischen Nachbarn ein Beispiel Deiner Einmiithigkeit, das ohne Zweifel dazu beitragen wird, daß ein neuer politischer Sturm den Thron des Tyrannen in die pestilenzialischen Gefilde, aus denen er stammt, zurückschleudert. 49
Ein Jahr vor Bertuchs Tod, 1821, erschien David Ricardos Standardwerk: „Grundsätze der politischen Ökonomie [...]" mit zahlreichen kritischen Anmerkungen des französischen Nationalökonomen Jean Baptiste Say.50 Dieses Beispiel zeigt, daß sich Bertuch bis zum Ende seines Lebens mit Fragen der Nationalökonomie, der Besteuerung, dem Ertrag der Erde und den Gesetzen, nach welchen die Verteilung der Güter in der Staatsgesellschaft stattfindet, eingehend befaßte. Noch ein ganz anderes Gebiet, von dem das Verlagsprofil geprägt wurde, muß hier erwähnt werden, nämlich das der Garten- und Obstkultur. Bertuch arbeitete mit zwei prominenten Pomologen zusammen, dem Kleinfahner Pfarrer Johann Volckmar Sickler und dem Jenaer Pfarrer Carl Wilhelm Ernst Putsche. „Der teutsche Obstgärtner" (1794-1804)51 war ein reichbebildertes Periodikum, das von Sickler, einem Pastor im Gothaischen Landkreis, herausgegeben wurde. Er studierte seit seiner Hofmeisterzeit in Altenburg, in der er bereits als junger 47
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Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft von Johann Gottlieb Fichte. Weimar: Industrie-Comptoir 1794. S. 67. Die entlarvte Inquisition, ein historisches Gemälde dieses schrecklichen Gerichts. Nach dem Spanischen Originale des Don Antonio Puigblanch und der Englischen Uebersetzung von William Walton im Auszuge bearbeitet. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1817. Ebenda, S. 167. Die Grundsätze der politischen Oekonomie oder der Staatswirthschaft und der Besteuerung. Von David Ricardo, Esq. Nebst erläuternden und kritischen Anmerkungen von J[ean] B[aptiste] Say. Aus dem Englischen, und in Beziehung auf die Anmerkungen, aus dem Französischen übersetzt von Christian] Aug[ust] Schmidt. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir,
1821. 51
Der teutsche Obstgärtner oder gemeinnütziges Magazin des Obstbaues in Teutschlands sämmtlichen Kreisen; verfasset von einigen practischen Freunden der Obstcultur und herausgegeben von J[ohann] V[olckmar] Sickler. Bd. 1-22. Weimar: Industrie-Comptoir 17941804. Später von Bertuch u.a. unter dem Titel: Allgemeines Teutsches Garten-Magazin [...] fortgeführt. 19 Bde. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1805-1828.
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Hauslehrer mit pomologischen Fragen in Berührung gekommen war, über mehrere Jahrzehnte die Obstkultur und deren herkömmliche Veredlungsmethoden, die er kenntnisreich weiterentwickelte. Aus seiner philanthropischen Überzeugung heraus versuchte er, die Lebensbedingungen seiner Gemeinde, die vorwiegend aus armen Bauern, Tagelöhnern und Landarbeitern bestand, zu verbessern. Er gab den Dorfbewohnern nützliche Hinweise für die Bestellung ihrer Felder (z.B. für den Kleeanbau) und ermunterte sie durch das Anlegen von Pflanzschulen zum Einrichten eigener Gärten. Die Züchtung verschiedener Obstsorten befähigte ihn zu der Erarbeitung einer „teutschen Nomenclatur", die es bis dahin auf diesem Sektor noch nicht gegeben hatte. Für Bertuch war die vielseitige Tätigkeit Sicklers von großem Interesse und Nutzen, erhielt er doch von ihm Impulse für den Obstanbau in Weimar und dessen Umgebung. Mit Putsche, einem gefragten Kenner des Hopfenanbaues, gab Bertuch eine „Monographie der Kartoffeln" (1819) heraus. 52 „Wir sammelten eine Menge Kartoffelarten von mancherlei Form und Natur, aus dem In- und Auslande, pflanzten sie [...] in ganz verschiedenen Boden, und beobachteten genau ihren Habitus, Wachsthum, Blüthe, Ertrag und innere Eigenschaften [...]", schreibt Bertuch hierzu. Unterstützt wurden die beiden Züchter von der Société d'agriculture de Paris und anderen maßgeblichen Gesellschaften. „Die meisten Schriftsteller über den Kartoffelbau", heißt es dann weiter, „haben immer Einer vom Andern [...] größtent e i l s wörtlich abgeschrieben, und es für etwas Neues und Eignes ausgegeben. Dieß konnte und durfte bei uns der Fall nicht seyn, und wo in unserm Versuche die besten Schriften ebenfalls benutzt wurden, sind überall die Quellen angegeben, aus welchen geschöpft worden ist." 53 Zu dieser Zeit war Bertuch Direktor der Königlich-Preußischen Akademie gemeinnützlicher Wissenschaften zu Erfurt. Von hier war man an beide Autoren mit der Bitte herangetreten, „diesen wichtigen Gegenstand ausführlich und für den Teutschen Landbau und Gewerbefleiß umfassend zu bearbeiten". Bertuch beließ es nicht bei den dem Buche beigefügten feinkolorierten Abbildungen der 33 ausgewählten Kartoffelsorten und der dem modernsten technischen Stand entsprechenden Maschinen. Er beauftragte darüber hinaus einen Künstler, „zu einem höhern Grade der Autopsie" die Erdfrüchte nach der Natur zu formen und in Wachs zu gießen, um „für wohlhabende Liebhaber, ein eignes, sehr interessantes Kartoffel-Cabinet herzustellen". 5 " Viele wichtige Werke wären an dieser Stelle zu nennen, z.B. die Schriften von den Kunsthistorikern Johann Heinrich Meyer, Carl August Böttiger und Friedrich Majer. Die beiden letzteren hatten ein „Mythologisches Lexicon aus Original-Quellen" (1803-1804) 55 verfaßt, über das Majer in seiner Vorrede äußert: „Die dabey benutzten Quellen sind genau und beynahe durchgängig nach eigener 52
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Versuch einer Monographie der Kartoffeln oder ausführliche Beschreibung der Kartoffeln, nach ihrer Geschichte, Charakteristik, Cultur und Anwendung in Teutschland. Bearbeitet von Dr. Carl Wilhelm Ernst Putsche, und herausgegeben von Dr. Friedrich Justin Bertuch. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1819. Ebenda, Vorbericht des Herausgebers, S. IV. Ebenda. Allgemeines Mythologisches Lexicon aus Original-Quellen bearbeitet [...] von Friedrich Majer [und Carl August Böttiger]. 1.-2. Bd. Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1803-1804.
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Landes-lndustrie-Comptoirs
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Ansicht und Revision angegeben, weil nur auf diesem ernsten und mühseligen Wege eine dereinstige kritische pragmatische, auf ächte Genealogie gegründete und mit einer systematischen Darstellung verbundene Geschichte aller Religionen zu erwarten seyn kann." 56 Ein „Handbuch der Classischen Literatur" von Wilhelm David Fuhrmann (1806) 57 galt als Grundlagenwerk auf höheren Schulen. Mehrere Auflagen erlebte Bertuchs Anthologie von Freimaurerliedern (1813) 58 mit Texten von Goethe, Fernow, Gleim und Hölty, die zunächst ausdrücklich für Bundesbrüder bestimmt war. Zum Schluß sei mir noch ein Wort zu den poetischen Werken in Bertuchs Verlag gestattet. „Die Blaue Bibliothek aller Nationen" (1790-1800, 12 Bände) 59 gehört zu den Schriften der Weltliteratur. Bertuchs eigene ernsten dichterischen Versuche lagen Jahre zurück. Er hat sie im Industrie-Comptoir nicht neu verlegt. Wohl aber brachte er 1793 sein lyrisches Monodrama „Polyxena" nach der Erzählung des Philostratos heraus. 60 Bertuch hatte das aus einer Szene bestehende Bühnenstück, angeregt durch Wielands Operndichtungen (z.B. „Alceste", 1773, von Anton Schweizer vertont) bereits im Jahre 1774 verfaßt und mit der Musik von Schweizer ein Jahr später aufgeführt. Da es nie zu einer Drucklegung gekommen war, fühlte sich Bertuch verpflichtet, das Andenken des 1787 in Gotha verstorbenen Kapellmeisters endlich zu ehren. In seiner „Vorrede" zitiert er aus einem begeisterten zeitgenössischen Urteil: „Schweizer war ein weitumfassendes Genie. Er verstund und fühlte seinen Dichter ganz. Seine Declamation ist unübertreflich schön. [...] Als Componist schien er ganz für das lyrische Drama geschaffen zu seyn." 61 Bertuch ließ die Partitur in Kupfer stechen, nicht in den sonst üblichen Zinnplatten, „um ihr all die einfache Eleganz zu geben, die ich solch einem vortrefflichen Werke schuldig zu seyn glaubte". 62 Wenn heute dieses kleine Bühnenstück wieder der Vergessenheit entrissen wurde, ist das namentlich Schweizers Musik zu verdanken. Er, der Komponist in „Werther-
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Ebenda, Vorrede. 1. Bd., S. IVf. Handbuch der Classischen Literatur, oder Anleitung zur Kenntniss der Griechischen und Römischen Schriftsteller, ihrer Schriften und der besten Ausgaben und Uebersetzungen derselben. Zum Gebrauch der Schullehrer, der Studierenden auf Gymnasien und Universitäten, und aller Freunde der class. Literatur. Von Wilhelm Fuhrmann. 1.-2. Bd. [1. Bd.:] Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1806. [2. Bd., 1. Abth.:] Halle 1807. [2. Bd., 2. Abth.:] Rudolstadt 1808. Gesänge für Freimaurer, zum Gebrauche aller Teutschen Logen [Hg. von Friedrich Justin Bertuch.] Weimar: [Industrie-Comptoir] 1813. Unter den Textdichtern finden sich z.B. außer den o.g.: Bertuch, J.A. Blumauer, M. Claudius, J.G. Herder, F. Schiller, J.H. Voß und C.M. Wieland. Die Blaue Bibliothek aller Nationen. [Hrsg. von Friedrich Justin Bertuch.] [Bd. 1-9:] Gotha in der Ettingerschen Buchhandlung 1790-1791; [Bd. 10-12:] Weimar: Industrie-Comptoir 1796-1800. - Die blaue Bibliothek für Kinder. [Hg. von Friedrich Justin Bertuch.] 1.-4. Bändchen. Weimar: Industrie-Comptoir 1802. Polyxena[,] ein Lyrisches Monodrama von Friedrich] J[ustin] Bertuch und A[nton] Schweizer. (Eine Komposition für Sopranstimme, Corni in Es, Fagotti, Violino I, Violino II, Viole, Basso). Weimar: Industrie-Comptoir [1793]. Ebenda, Vorrede. S. 2. Ebenda, Vorrede. S. 3.
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Uta Kühn-Stillmark
nähe"63, gewinnt immer mehr an Interesse.64 Für Bertuch war die späte Veröffentlichung von dessen Musik nicht nur eine Verpflichtung. In dem anregenden künstlerischen Kreis um die Herzogin Anna Amalia hatte Schweizer zu Beginn der siebziger Jahre neuartige Werke geschaffen. Aus dieser Zeit rührt auch ihre Freundschaft. Die Begegnung mit dem Komponisten hat Bertuchs Persönlichkeit mitgeprägt und für sein ferneres Wirken Maßstäbe gesetzt. Dreißig Jahre hat Friedrich Justin Bertuch die Publikationen des Landes-Industrie-Comptoirs und des Geographischen Instituts fachlich betreut und persönlich gefördert. Das bekunden die umfangreichen Korrespondenzen, Verträge und Manuskripte des im Goethe- und Schiller-Archiv zu Weimar aufbewahrten Nachlasses der Familien Bertuch und Froriep. Seine Sichtung und die Auswertung der eingangs genannten Bibliotheksbestände - bisher konnten etwa 700 Titel ermittelt und über 1.500 Einzelbände und Hefte nachgewiesen werden - ist für die überregionale Forschung von Belang, zumal damit auch endlich durch Unkenntnis entstandene tradierte Irrtümer in der Beurteilung Bertuchs und seines verlegerischen Wirkens berichtigt werden können.
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Ernst Bücken: Musik des Rokokos und der Klassik. Potsdam [1931], (Handbuch der Musikwissenschaft. Hg. von Ernst Bücken u.a.), S. 130. Im Sommer 1998 fanden mehrere Aufführungen des Monodramas „Polyxena" im EkhofTheater zu Gotha statt (gespielt vom Ländessinfonieorchester Thüringen unter Hermann Breuer; Solistin: Margot Stejskal, Sopran).
Zum Verlagsprofil des
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Verzeichnis von Verlagsprodukten des Industrie-Comptoirs, 1796.
Michael Diers
Bertuchs Bilderwelt Zur populären Ikonographie der Aufklärung 1
Eines rettet selbst den altmodischsten, befangensten Werken dieser Epoche das Interesse: die Illustration. Walter Benjamin: Alte Kinderbücher, 1924
I
„Popularisierung" als Programm
In einem Beitrag für das von ihm gemeinsam mit dem Maler und Zeichner Georg Melchior Kraus herausgegebene .Journal des Luxus und der Moden" streitet der Aufklärer Friedrich Justin Bertuch im Jahr 1792 ob des vielfältigen Mißbrauchs für die Abschaffung des Mode-Wortes Aufklärung und plädiert als Ersatz für das „Synonim" „gesunde Vernunft".2 Bertuchs Aufklärungsbegriff rangiert keineswegs auf der vertrauten gedanklichen Höhe der Zeit und ist weder im philosophischen noch im politischen Sinn emphatisch, vielmehr praktisch und pragmatisch gestimmt.3 Aufklärung, so erläutert er, „setzt immer [...] Wahrheit und richtige Verbindung der Begriffe voraus, und ist also überhaupt richtige Einsicht der wahren Verhältnisse der Dinge zu unserer Bestimmung, und bey dem einzelnen Menschen, richtige Kenntniß seines persönlichen Wirkungskreises in seiner wahren Verbindung mit dem Ganzen, dessen Theil er ist. Und was ist dies anders als - gesunde Vernunft?" Der Mensch ist das Maß aller Dinge, und die Vernunft hilft, die Welt auf jene „passenden" Begriffe zu bringen, die den Umgang mit ihr erleichtern. Aus dieser strikt empirischen Perspektive heraus gilt für die zeitgenössische Wissenschaft, daß sie, wie es in Bertuchs im Jahr darauf publiziertem 1
Der Text gibt die überarbeitete, im Bildteil stark gekürzte Fassung des Kolloquiumvortrages wieder. An dieser Stelle möchte ich Siglinde Hohenstein dafür danken, daß sie mir mit freundlichen Auskünften und einer Büchersendung die ersten bibliographischen Wege hin zu Bertuch geebnet hat. Des weiteren bin ich der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimar, sehr für die großzügige Hilfestellung bei der Bildbeschaffung verpflichtet, namentlich Herrn Dr. Michael Knoche als ihrem Direktor, Frau Dipl.-Bibliothekarin Doris Kühles sowie Frau Nebiger, Frau Schneider und Frau Fuchs von Bibliothek und Fotostelle. - Da sich der Themenkreis dieses Aufsatzes in einigen Punkten mit den Beiträgen von Wolfgang Braungart (Freie Zeichenschule) und Manfred Koch (Herder und Bertuch) im vorliegenden Band berührt, sei auf diese Texte als Ergänzung ausdrücklich hingewiesen.
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Friedrich Justin Bertuch: Vorschlag das Mode-Wort, Aufklärung, abzuschaffen, in: Journal des Luxus und der Moden. Weimar 1792. Zitiert nach Teilnachdruck aus Bd. 1-40 (17861825), Bd. 1-4, Hanau 1967-1970, Bd. 1, S. 305-309, hier S. 308. Vgl. dazu Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) - bewundert, beneidet, umstritten, in dem Ausst.-Kat. gleichen Titels, bearb. von ders., Gutenberg-Museum Mainz 1985, S. 12ff. - Vorschlag, das Mode-Wort, Aufklärung, abzuschaffen. Ein Aufsatz von F.J. Bertuch. Neu gedruckt, mit einem Nachwort von Siegfried Seifert. Weimar 1997.
3
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Aufsatz „Über die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute" für den Bereich der Naturgeschichte heißt, bei aller Fortgeschrittenheit „mit ihrer Anwendung noch sehr zurückgeblieben"4 sei: Wissenschaft hat nur dann erst ihre hohe edle Bestimmung erreicht, wenn sie ihre Wohltaten über das gemeine Leben verbreitet, das wissenschaftliche Gewand auszieht und ihre kostbaren Schätze dem Laien in die Hände legt; wenn dieser ihre Resultate für sein Leben benutzen und sich dadurch glücklicher machen kann.5
Diesen notwendigen Prozeß der Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in Formen angewandten Wissens nennt Bertuch „Popularisierung". Sich in diesem Sinne gemeinnützig zu machen, könnte, so Bertuch, für die Wissenschaft im übrigen auch bedeuten, im Gegenzug Beobachtungen des Alltags mitgeteilt zu bekommen, die der Gelehrte „im Zimmer" zwangsläufig übersieht.6 Aufklärung und Popularisierung gehören für Bertuch wie Theorie und Praxis aufs engste zusammen. Dem Programm einer gemeinverständlichen Unterrichtung und maßvollen Aufklärung („nicht Vielwisserey", „nicht Verfeinerung", „nicht Neuerungssucht", „nicht Empörungsgeist") seiner Zeitgenossen hat Bertuch seine verlegerischen und publizistischen Unternehmungen gewidmet. In diesem Kontext kommt dem Bild als Medium der Darstellung, Information und Unterhaltung größte Bedeutung zu. Pointiert gesagt läßt sich davon sprechen, daß Bertuch durch sein Wirken der Illustration als dem angewandten Bild nicht nur hinsichtlich der Quantität und der Qualität der technischen und künstlerischen Gestaltung, sondern auch im Hinblick auf die allgemeine Validität zu einem bis dahin ungewohnten Prestige verholfen hat. Dem Status und der Funktion der Illustrationen in den von Bertuch verfaßten, herausgegebenen oder verlegten Schriften nachzugehen, ist das Anliegen der folgenden Überlegungen. Darüber hinaus soll gleichzeitig auf die immense Bedeutung hingewiesen werden, die historisch dem Kommunikationsträger Bild ganz allgemein neben dem Wort und dem Begriff im Rahmen jenes Projektes zukommt, auf das die gesamte Epoche ihrem Namen nach getauft ist. Indem dabei vorrangig nach dem epistemologischen Rang des Bildes und nach dem Anteil der Bilder an der Verwissenschaftlichung der Weltbetrachtung gefragt wird, geht es weniger um einen Beitrag zur Geschichte der Buchillustration als um einen solchen zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Das Zeitalter des Bildes, das heißt die fortschreitend konsequente Inaugenscheinnahme, bildliche Schilderung und Aufzeichnung der Welt, setzt spätestens um die Mitte des 15. Jahrhunderts ein. Durch die Erfindung des Letterndrucks ist damals der Gedanke - mit einem Wort Aby Warburgs - „aviatisch" geworden, durch Holzschnitt und Kupferstich als Medium der Reproduktion das Bild 4
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F.J. Bertuch: Über die Wichtigkeit der Landes-Industrie-Institute für Deutschland [1793], Wiederabgedruckt in: Helmut Holtzhauer: Friedrich Justin Bertuch. Zum 150. Todestag am 3. April 1972. Weimar 1972 (Weimarer Schriften zur Heimatgeschichte und Naturkunde. Hrsg. vom Stadtmuseum Weimar; 18), S. 22. Ebenda. Ebenda, S. 23.
Bertuchs Bilderwelt
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zugleich „mobil".7 Von Anbeginn ging es in diesem Prozeß selbstverständlich nicht nur um die bloße Wiedergabe der sichtbaren (und von Teilen der unsichtbaren) Welt, sondern ebenso um die Konstruktion von Weltbildern. Mit Bertuch und seinem Weimarer Verlagshaus stehen wir bereits am Beginn der bis in die Gegenwart reichenden Ära der massenhaften Herstellung und Verbreitung des Bildes. Sein graphischer Großbetrieb ist nicht nur als immense Textverarbeitungsmaschine, sondern auch als eine veritable Bilderfabrik anzusehen, die bereits der Zahl nach für Millionen von Darstellungen verantwortlich zeichnet und als Institution einen Teil jener medialen Innovation repräsentiert, die das Bild in der Moderne zu einem der vorherrschenden Instrumente der WeltAnschauung, Welt-Beschreibung und Welt-Deutung hat werden lassen; und dies bevor noch die Fotografie erfunden war.
II „Bertuch der Große" Der versatile Geschäftsmann Bertuch konnte mit wachsendem Erfolg seiner Unternehmen bei den Weimarer Geistesgrößen nurmehr mit zurückhaltender Wertschätzung rechnen. Nicht selten spottete man jetzt sogar über den „Allerweltskerl von Weimar" (Goethe-Kreis), weil er sich allzusehr von der Gelehrsamkeit abund den Geschäften zugewandt hatte und dabei hehren Geist schnödem Kommerz zu opfern schien. Aber dennoch scheint selbst eine als Karikatur angelegte Zeichnung von der Hand Johann Heinrich Meyers, Künstlers, Kunstschriftstellers und Goethe-Freundes, dem Dargestellten qua Monumentalisierung insgeheim Respekt zu zollen (Abb. 49 im Anhang). Das wenig bekannte Blatt8, das sich auch gut dazu eignet, den ,3üdermann" Bertuch, also den Verleger illustrierter Blätter, vorzustellen, ist als Invektive auf den Medienzaren Bertuch gemünzt, der in der Gestalt eines Bergmonumentes in Erscheinung tritt. Ins bürgerliche Habit gekleidet thront er als eisiger, weißgrau gewandeter Koloß über der Landschaft, die vom Mississippi bis zum Schwarzen Meer und nach Rußland reicht - eine Anspielung auf Bertuchs globale Geschäftsstrategien.9 In den ausgebreiteten Armen hält der Gigant ein Modell der Stadt Weimar und auf der Gegenseite eines von Dessau, wodurch auf seine damaligen Hauptwirkungsstätten hingewiesen wird.10 Zwischen den Schenkeln, auf einem Vorsprung des Bertuch-Gebirges errichtet, erkennt man den Hauptbau des „Ffürstlich] S[äch7
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Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920), in: A.W.: Gesammelte Schriften. Leipzig und Berlin 1932, Bd. II, S. 487-558, hier S. 513. Eine Beschreibung des Blattes findet sich bereits bei Ludwig Geiger: Goethes Briefe an Bertuch, in: Goethe-Jahrbuch, Bd. 4, 1883, S. 197-229, hier S. 208f. - Das der Karikatur zugrundeliegende Bertuch-Porträt folgt dem Johann Christoph Philipp Gutbier zugeschriebenen Pastell, entstanden um 1796, Goethe-Nationalmuseum, Weimar; als Frontispiz abgebildet in Paul Kaiser: Das Haus am Baumgarten, Teil I: Friedrich Justin Bertuch, sein Haus „am Baumgarten" und die Wirksamkeit seines Landes-Industrie-Comptoirs. Weimar 1982 (Weimarer Schriften zur Heimatgeschichte und Naturkunde; 32); ferner abgebildet in Ausst.-Kat. „Bertuch" (Anm. 3), S. 226, Abb. 4. Über Bertuchs zahlreiche Handelsunternehmen siehe u.a. Paul Kaiser (Anm. 8), S. 20ff. In Dessau beteiligte sich Bertuch ab 1800 für einige Jahre an dem Unternehmen der Chalcographischen Gesellschaft (Kupferstecherei und -vertag); vgl. auch Frank A. Bechtolt und Thomas Weiss (Hg.): Weltbild Wörlitz. Stuttgart 1996.
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sisch] Privilegierten] Industriecomtoir[s]", die zentrale Produktionsstätte des Weimarer Hauses am Baumgarten.11 Gleich darunter erblickt man eine Höhle, in der „lebendige Quellen der Erkenntniss", so die Beischrift, entspringen. Linkerhand wird das Monument gerahmt von der von günstigen Winden beflügelten Gestalt des Handelsgottes Merkur. Dessen idealische Nacktheit bedecken in buntem Patchwork die Druckerzeugnisse des Comptoirs. Den Brustlatz bildet der lachsfarbene Umschlag des „Journals des Luxus und der Moden", den Hosenlatz jener der Zeitschrift „London und Paris". Auf den Papierrollen, die er unter dem Arm mit sich führt, sowie in der Inschrift, die wie ein Nimbus um Merkurs Haupt gewunden ist, findet man die Angaben „Literaturzeitschrift", „Vasengemälde", „Deutscher Merkur", „Correspondenznachrichten aus der ganzen Welt" etc. Als kräftig farbiger Fanfarenstoß .erklingen' schließlich als Schriftzug weitere Verlagstitel, darunter „Hans Sachs", ,3otanik für Damen", „Chalcographische Gesellschaft", „Schulatlas", „Geographische Ephemeriden", „Der deutsche Obstgärtner", „Bilderbuch", „Loders anatomische Tafeln", „Pomologische Tafeln" und „Blaue Bibliothek". Als nicht ganz gleichgewichtiges Pendant antwortet dem fliegenden Herold vis-à-vis die Sitzfigur eines en miniature gegebenen Zeichners, der gestiefelt und gespornt auf einem Dreibein hockt und mit Blick die Großfigur hinauf eben ein Porträt derselben anzufertigen scheint. Die neben diesen „Copisten"12 an einen Baum gelehnte Zeichenmappe mit der Aufschrift „Abc für d. Zeichenschüler/Mondscheine/Ansichten/Trachten"13 weist ihn als Eleven der Freien Zeichenschule aus, an deren Gründung und Einrichtung Bertuch selber größten Anteil hatte und an welcher der Karikaturenzeichner Meyer damals als Lehrer tätig war.14 Am Unterrand des Blattes liest man schließlich die etwas rätselhafte, auf eine zur selben Zeit im Goethe-Kreis geführte Karikatur-Debatte anknüpfende Widmungsinschrift: „Versuch in der Verhäßlichungskunst, dem großen Lobredner derselben gewidmet, des ersten Tausend erstes Stück."15 11 12 13
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Darüber informiert ausführlich Paul Kaiser (Anm. 8). Geiger (Anm. 8), S. 208 spricht von einem „Copisten". Vgl. dazu vor allem auch Siglinde Hohenstein: Friedrich Justin Bertuch (1747-1822) bewundert, beneidet, umstritten, Berlin und New York, 1989. S. 117, mit Hinweisen auf die Publikationen der Lehrer der Zeichenschule, so unter anderem „Uebungen für ZeichenSchüler als Fortsetzung des ABC des Zeichners G.M. Kraus", Weimar o.J. (Ausst.-Kat. „Bertuch" [Anm. 3] S. 285, Nr. 148) oder „Kleine Landschaften" (C. Horny) und „Nationaltrachten" (Kraus). Zur Gründung und Geschichte der Freien Zeichenschule siehe den Ausst.-Kat. „Die ersten hundert Jahre, 1774-1873. Zur Geschichte der Weimarer Mal- und Zeichenschule", bearb. von Konrad Paul. Stadtmuseum Weimar und Mal- und Zeichenschule Weimar e.V. 1996; ferner Paul Kaiser (Anm. 8), S. 10 und Ausst.-Kat. „Bertuch" (Anm. 3), S. 121 sowie W. Braungart im vorliegenden Band. Mit dem „Lobredner" ist der Karikaturen-Verleger Bertuch gemeint; der Begriff „Verhäßlichungskunst" spielt offenbar auf die in Goethes Gelegenheitsschrift „Die guten Weiber" (entstanden im Mai/Juni 1800) geführte Debatte über die Karikatur und die Notwendigkeit von Bilderläuterungen („Streit für und gegen Karikatur") an; siehe Goethes Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe, Bd. 16, Stuttgart und Berlin o.J., S. 305-332; vgl. ferner die Einleitung des Herausgebers Max Herrmann, ebenda, Llllff. sowie Iris Lauterbach: „London und Paris" in Weimar. Eine Zeitschrift und ihre Karikaturen als kunst- und kulturgeschichtliche Quelle der Zeit um 1800, in: Festschrift für Hartmut Biermann. Hg. von Christoph Andreas, Maraike Bückling und Roland Dorn, Weinheim 1990, S. 203-218.
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Daß das persönliche Verhältnis zwischen dem Zeichner des Blattes und dem im Bild repräsentierten Verleger nicht eben das beste war, ist bekannt.16 Die Karikatur jedoch hält mit ihrer Kritik eher zurück, zumindest ist der Grad des Spottes schwer auszuloten.17 Präsentiert wird ein äußerst umtriebiger, offenbar erfolgreicher Geschäftsmann, der die Geschicke Weimars und Dessaus in Händen hält und darüber hinaus seine Wirkkraft bis hin ins ferne Ausland entfaltet. Als ikonographisches Vorbild für Meyers Versuch, Bertuch im Bilde (un-)gerecht zu werden, hat das berühmte Kupfer „Der Macedonische Berg Athos in Gestalt eines Riesen" (Abb. 10) aus Johann Bernhard Fischer von Erlachs „Entwurf einer historischen Architektur" (1721) gedient. Der Stich zeigt die Gestalt Alexanders des Großen als Gebirgszug, ein Stadtprojekt, das der griechische Baumeister Deinokrates für seinen Herrscher konzipiert, das dieser jedoch als megaloman abgelehnt hatte. Mit Bezug auf diese Vorlage läßt sich das als „Karikatur auf die literarisch-artistischen Unternehmungen Bertuchs" geführte Blatt Meyers durchaus auch als eine Würdigung der Verdienste des Dargestellten ansehen. Im vorliegenden Zusammenhang jedenfalls liest es sich auch als ein Prospekt des äußerst umfangreichen Verlagsprogramms, für das Bertuch verantwortlich zeichnete. Zwar wird darin der Anteil der Bilder und Illustrationen über die erwähnten Titel nicht explizit gemacht, implizit aber sind sie vor allem über die aufgeführten Zeitschriften und Tafelwerke angesprochen, darüber hinaus nicht zuletzt auch durch die Kleinfigur des Schülers der Zeichenschule, die unter der Leitung von Kraus, später unter jener Meyers, einen wesentlichen Anteil an der Produktion und am qualitativen Erfolg der Illustrationen hat, die aus Bertuchs Manufaktur hervorgehen.18 Der Gegensatz zwischen der fabrikmäßigen Bildproduktion hier und den privaten Kunstübungen der Dilettantenkreise dort läßt sich für Weimar und die Zeit um 1800 kaum besser fassen als im Vergleich der zitierten Karikatur mit jenem Aquarell von Georg Melchior Kraus, das die Abendgesellschaft der Herzogin Anna Amalia vorstellt, eine Versammlung namhafter Repräsentanten des Weimarer Parnasses, darunter Herder, Goethe und „Hofrath" Meyer (Abb. 11). Man sitzt in trauter Runde beisammen, hängt Gedanken nach, liest, stickt oder zeichnet. Was dort skizziert wird, ist nicht zu erkennen; nicht ausgeschlossen, daß bei solcher Gelegenheit auch die Karikatur auf Bertuch entstanden ist. Und so steht der intimen Tafelrunde der Liebhaber der Zeichnungskunst um Anna Amalia auf der einen Seite der Betrieb Bertuchs gegenüber, ein unweit des apostrophierten höfischen Kulturzentrums des Schlosses gelegenes Geschäftshaus, das künftig, im Jahr 1826, „gegen 280 Künstler, Kupferstecher, Kupferdrucker, Lithographierer, Illuminierer, Setzer und Drucker, (sowie) sechs Pressen, eine eigene Kupferdruckerei und eine Lithographieanstalt"19 umfassen wird. Anstelle originaler und
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Dazu auch Geiger (Anm. 8), S. 208. Die Karikatur und ihr Anspielungsgehalt können an dieser Stelle nur gestreift werden; eine ausführlichere Würdigung soll bei anderer Gelegenheit erfolgen. Vgl. dazu die in Anm. 14 genannte Literatur. „Skizzierte Schilderung der Stadt Weimar", Stadtplan von Weimar, 1826, zitiert nach Paul Kaiser (Anm. 8), S. 46; vgl. auch Gustav Bohadti: Friedrich Johann Justin Bertuch. Jugendund Altersgenosse jener großen Männer, die an Weimars Namen den höchsten Ruhm
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privater Bilder entstehen hier reproduzierte und kommerzielle Bilder, statt auf künstlerische Ikonen setzt man auf veranschaulichende Indices, technische Zeichnungen, Sach- und Schaubilder, kurz auf die Gattung der angewandten Darstellung, auf „bloße" Illustrationen.
III „Unterricht durch's Auge" Mit einer Vielzahl seiner Veröffentlichungen setzt Bertuch auf das Bild. Gattung und Quantum der seinen Publikationen beigegebenen Illustrationen leiten sich ab aus dem Charakter der jeweiligen Schrift oder Zeitschrift. So bestimmen das „Journal des Luxus und der Moden" vornehmlich die Kostüm- und Modekupfer (Abb. 12), das „Gartenmagazin" die botanischen Illustrationen (Abb. 13), die politischen Blätter die Schautafeln und Diagramme, die journalistisch-unterhaltenden Veröffentlichungen die Karikaturen (Abb. 14), die geographischen Verlagswerke die Karten und Faltpläne (Abb. 15), das ,.Bilderbuch für Kinder" die Lehr- und Lerntafeln. Selbst einer politischen Tageszeitung wie dem „Oppositions-Blatt" gibt Bertuch Illustrationen mit auf den Weg, wobei er keine Mühe im Sinne des technischen Aufwandes - Faltung, Bindung oder Kolorierung scheut. So wird der politisch interessierte Leser zum Beispiel im ersten Heft des ersten Jahrgangs (1817) anhand einer farbig differenzierten „Welt-Charte der Regierungsformen" (Abb. 16) über die Streuung und Verbreitung von Monarchie, Autokratie, Despotie und Föderativem Staatssystem informiert. Noch aus kleinsten Buchformaten lassen sich mit Hilfe von Faltblättern ganze Bildlandschaften eröffnen, so wenn sich in einem Miniatur-Taschenkalender eine Übersichtskarte über den Stand der Zivilisation, gemessen am Standard der Bekleidung und graphisch durch Flächenkolorit markiert, großzügig wie ein Spektakel vor den Lesern ausbreitet (Abb. 17). Wie denn überhaupt zu den Vorzügen der Bertuchschen Bildbeigaben neben der besonderen Sorgfalt der Zeichnung und des Stichs das aufwendige, von Hand ausgeführte Kolorierungsverfahren gehört, das aus sparsam-abstrakten Schwarzweiß-Abbildungen farbenprächtige Illuminationen werden läßt. Bertuch setzt die Farbe, die für die Käuferschaft allerdings nur gegen einen beträchtlichen Aufpreis zu haben war, verschwenderisch ein. Sie verwandelt die Bilder in optische Sensationen, zeichnet sie vor dem monotonen Grau der Textpassagen aus und dient als Prädikat der Gegenstände (Abb. 50 im Anhang). Bedenkt man, wie aufwendig herzustellen, wie kostspielig daher und wenig verbreitet das qualitätvolle farbige Bild noch war,20 so läßt sich vorstellen, zu welcher besonderen Dignität und hohen Stufe der Anschaulichkeit die Blätter dadurch gelangt sind. Das ambitionierteste Illustrationsprojekt des Verlages stellt zweifellos das „Bilderbuch für Kinder" dar, das zwischen 1790 und 1830 in einer Auflage von 3.000 Exemplaren in 12 Bild- und 24 Textbänden mit insgesamt 1.185 Tafeln, die sich wiederum aus 6.000 Einzeldarstellungen zusammensetzen, erschienen
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deutscher Literatur geknüpft haben. Berlin und Stuttgart o.J. (1968), S. 114 (mit Angaben für das Jahr 1804). Im Jahr 1813 waren bei Bertuch 24 Frauen als Illuminiererinnen beschäftigt; Angabe nach Hohenstein (Anm. 13), S. 82.
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ist.21 Im „Unternehmen Bilderbuch"22 kulminiert nach pädagogischem Anspruch und auch quantitativ Bertuchs auf Popularisierung von Wissen gerichtetes Interesse. Hier nun gewinnt das Bild eindeutig die Oberhand. Der Illustration gebührt der uneingeschränkte Vorrang gegenüber dem Text, der, auf den ersten Blick ersichtlich, auf die Ebene der Bilderläuterung herabgestuft wird (Abb. 18). Dem Programm nach wird in den 237 Einzellieferungen dieses „Orbis pictus" der gesamte Erdkreis in den Blick und unter die Lupe genommen, ja geradezu inspiziert, sei es, daß es sich um unterseeische, sei es, daß es sich um überirdische Regionen handelt: Über den Arbeitsplatz in der Taucherglocke wird ebenso unterrichet wie über die Luftschiffahrt anhand der Darstellung diverser Aerostaten.23 Zugleich informiert die Enzyklopädie über die Vielansichtigkeit der Welt (und obendrein über die unterschiedlichen Modi der Bildberichterstattung), wenn zum Beispiel auf einer geteilten Tafel aus der Vogelperspektive eine Ansicht des Vesuvs und des am Fuße desselben gelegenen Örtchens Torre del Greco geliefert wird und auf einem anderen Blatt diesem eher nüchternen kartographischen Report die dramatischen Bilderzählungen zweier Vesuvausbrüche folgen (Abb. 19 u. 20). Ähnlich differenziert gestaltet ist eine Tafel aus der Serie der „Vermischten Gegenstände", die aus noch anderer Warte einen Blick auf die Welt richtet (Abb. 21): Das Kupfer des Jahrgangs 1821 stellt die ungewöhnlichen Unternehmungen des englischen Landschaftsmalers Thomas Hornor vor Augen, ein Panorama von London anzufertigen. Anläßlich der Restaurierung des Kreuzes auf der Kuppel der St. Paul's Cathedral im Jahr 1820 hatte sich der Künstler die Erlaubnis erwirkt, im Kuppelgerüst, demnach unmittelbar auf der Kirchturmspitze, sein Atelier einzurichten, um von hier aus die notwendigen topographischen Studien zu betreiben. Bertuchs Illustration, in drei horizontale Felder gegliedert, zeigt im mittleren Streifen die Vedute der Stadt, im oberen die Kuppel nebst Turmgerüst in den Wolken und ferner unten in Detailzeichnung die Malerhütte. Von der Totale bis zur Nahaufnahme springt die Illustration, einem Zoom gleich, von der Ferne zur Nähe, ein komplexer Bildaufbau, der kaum Konzessionen an Vereinfachung macht, wie man sie für ein Kinderbuch erwarten könnte. Im Dreischritt vom Allgemeinen zum Konkreten klärt die Illustration mit hoher Suggestionskraft die topographische und technische Konstruktion, um auf einer der folgenden Tafeln insofern .weiter im Bild' zu verfahren, als jetzt über das Ergebnis der Plackereien des Malers berichtet wird (Abb. 22).24 Vorgestellt wird 21
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Ausst.-Kat. „Bertuch" (Anm. 3), S. 122ff. (Werke XXIII). - Will man sich über die große Zahl an Illustrationen, die Bertuch geliefert hat, Rechenschaft ablegen, so kommt man allein für das ,3ilderbuch" bei insgesamt 1.185 Tafeln und einer Gesamtauflage von 3.000 Exemplaren auf die erstaunliche Zahl von 3.555.000 anzufertigenden Blättern; legt man die 6.000 Einzeldarstellungen, welche auf den Tafeln versammelt sind, zugrunde, so erhält man per Multiplikation die Summe von 18 Millionen Illustrationen. Für das .Journal des Luxus und der Moden" kommt man bei 42 Jahrgängen und drei Kupfern pro Monatsheft auf 36 Tafeln per anno und auf 1.814.400 Tafeln für die gesamte Auflage. Artur Koch: Ein „Orbis pictus" der Goethezeit. Friedrich Justin Bertuch und sein Bilderbuch für Kinder. Weimar 1975 (Weimarer Schriften zur Heimatgeschichte und Naturkunde; 26), S. 9. Vgl. die Tafeln im „Bilderbuch für Kinder", Bd. 10, S. 50 und Bd. 4, S. 79. Vgl. dazu ausführlich Stephan Oettermann: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt a.M. 1980, S. 103ff. sowie den Ausst.-Kat. „Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung". Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
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das im Regents Park eigens errichtete „Colosseum"-Gebäude, in dem der Rundblick auf London als Attraktion für ein Massenpublikum schließlich zur Ausstellung gelangte. Der Bildbericht über diesen spektakulären Akt der Aufzeichnung der Welt läßt sich im vorliegenden Zusammenhang auch als Hinweis darauf verstehen, wie stark zu Beginn des 19. Jahrhunderts inzwischen die allgemeine „Sehsucht"25 ausgeprägt war, wie denn überhaupt den Expeditionen ins Unbekannte und ins optisch Ungewisse, sei es ins Große des Makrokosmos, sei es ins Kleinste des Mikrokosmos in Bertuchs Enzyklopädie entschieden Tribut gezollt wird. So werden auf einer Tafel Herschels Riesen-Teleskop (Abb. 23) und auf einem anderen Blatt der „Planet Saturn mit seinen Ringen"26 vorgestellt, und so präsentiert eine andere Illustration mikroskopisch sezierte Süßwasserpolypen27, wobei das zugehörige Instrument in all seinen technischen Details auf einem zweiten Blatt nachgereicht wird (Abb. 24). In den Tafeln dieser illustrierten Enzyklopädie - wie generell in Bertuchs Verlagsproduktion - spricht sich einprägsam eine ebenso unbändige wie bis dato eher ungewöhnliche Bilderlust aus. Die ausgefeilten Formen der Darstellung der diversen Stoffgebiete, von denen die Tafeln des Bilderbuchs handeln, legen klar, daß Anspruch und Programm über den Rahmen einer üblichen Fibel weit hinausreichen. Nicht nur Kinder und Jugendliche, so läßt sich vermuten, sind durch diese Illustrationen über Jahrzehnte hinweg instruiert und amüsiert worden, sondern desgleichen deren Erzieher, denen der Umgang mit dem Medium Bild in der Mehrzahl ebensowenig wie die zahlreichen Themen der „Vermischten Gegenstände" vertraut gewesen sein dürften. Man wird daher nach den Ideen fragen können, denen der Verlag mit seinem der Illustration verpflichteten Programm folgt. Wenn Bertuch das Bild forciert, so tut er dies in erster Linie als Aufklärer und Intellektueller, wobei der (Verkaufs-)Erfolg sicherlich nicht zuletzt auch dem Geschäftsmann recht gegeben hat. Bereits mit seinem im Jahr 1774 dem Weimarer Hof vorgelegten „Entwurf einer mit wenigen Kosten hier zu errichtenden freien Zeichenschule"28 engagiert sich Bertuch für eine Institution, die sich zwecks Hebung der Standards von Handwerk und Gewerbe insbesondere durch Ausbildung in den „Anfangsgründen der Zeichenkunst" der Schulung des Auges und der allgemeinen Geschmacksbildung widmen sollte. Zielten diese Übungen auf die Praxis der Zeichnung und die Produktion von Bildern ab, so ist das Illustrationsprogramm der Bertuchschen Publikationen ganz der Rezeption und der Lektüre von Bildern verpflichtet. In beiden Fällen aber ging es Bertuch
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1993 (hier ist unter Kat.-Nr. II, 44 auch eine lithographische Abbildung aus Homors „Prospekt" wiedergegeben, die der in Abb. 14 zitierten Darstellung Bertuchs als direkte Vorlage gedient hat). Vgl. zu diesem Begriff den in Anm. 24 angeführten Katalog. Vgl. die Tafel im „Bilderbuch für Kinder", Bd. 3, S. 15 (Vermischte Gegenstände XV). Vgl. die Tafel im „Bilderbuch für Kinder", Bd. 12, S. 59 (Vermischte Gegenstande CCCLVII). Vgl. den Abdruck des Textes bei Hellmuth Freiherr von Maitzahn: Georg Melchior Kraus in Weimar und auf Reisen. Mit Briefen des Goethe- und Schillerarchivs, in: Goethe-Kalender auf das Jahr 1940. Leipzig 1939, S. 215-356, hier S. 218-226; Paul Kaiser (Anm. 8), S. 10 und Ausst.-Kat. „Bertuch" (Anm. 3), S. 121.
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um einen „Unterricht durch's Auge".29 In dieser Wendung ist ein zentraler Grundsatz seines Bildkonzeptes festgehalten, das sich nur anhand weniger verstreuter Bemerkungen klarlegen läßt. Eine der wichtigen Quellen ist der im Rahmen der Vorbereitungen der Edition des „Bilderbuchs für Kinder" als „Plan, Ankündigung und Vorbericht"30 veröffentlichte Einleitungstext. In acht Punkten werden darin die „Eigenschaften" eines guten Bilderbuches referiert.31 Wert gelegt wird insbesondere auf „schön und richtig gezeichnete Kupfer", um „das Auge des Kindes, gleich vom Anfange an, nur an wahre Darstellung der Gegenstände, richtige Verhältnisse, Eindrücke und Begriffe [...] und an schöne Formen und guten Geschmack zu gewöhnen".32 Auch sollten nicht allzu viele verschiedene Dinge auf einer Tafel versammelt sein, doch sollten dies möglichst „fremde und seltene, jedoch instructive Gegenstände (sein), die das Kind nicht ohnedieß schon täglich sieht".33 Desweiteren sollten die Darstellungen nicht zu klein sein, dürfe der Text nicht umfänglich und keineswegs „gelehrt" daherkommen und müsse das Ganze in einzelnen Heften ausgegeben werden, um „den Genuß und die Freude des Kindes" zu erhöhen und zu verlängern. Der scheinbaren Regellosigkeit der Aufeinanderfolge der Themen möge schließlich eine „versteckte Ordnung" korrespondieren, die weniger dem Kind als dem anleitenden Lehrer, etwa über ein beigegebenes Register, erkennbar gemacht werden müsse.34 Bertuch ist von der Präge- und spezifischen Aussagekraft der Bilder fest überzeugt. Indem sie sachlich zu informieren und zugleich die Phantasie zu beflügeln verstehen, stellen sie für ihn ein Erkenntnisinstrument sui generis dar. Gute Abbildungen, heißt es an anderer Stelle, dienen der „Versinnlichung"35 von bloß verstandesmäßig Erfaßtem, Bild und Begriff werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern als Komplemente erachtet. Den „orbis intellectualis" dem „Orbis sensualis" zu verbinden, hatte bereits Comenius als methodische Maxime propagiert.36 Daß diese Idee insbesondere im Bereich der Kindererziehung auf fruchtbaren Boden fiel, bedeutete für Bertuch keineswegs, sie nicht für allgemeingültig zu halten. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellt er in fast allen Veröffentlichungen dem Wort und der Beschreibung das Bild und damit die konkrete Anschauung zur Seite. Und damit geht er über jene pragmatische Vorstellung weit hinaus, wie sie beispielsweise bereits dem Bildteil der Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert zugrunde gelegt worden war. Uberall dort, so heißt es im „Discours préliminaire" (1750), wo eine „verständliche [Wort-]Erklärung der Dinge ziemlich schwierig war", „ergab sich die Notwendigkeit von Zeichnungen": 29
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F.J. Bertuch: Plan, Ankündigung und Vorbericht [zum Bilderbuch für Kinder], zitiert nach Hubert Göbels: Nachwort, in: Friedrich Justin Bertuch: Bilderbuch für Kinder. Eine Auswahl. Hrsg. von H. Göbels. Dortmund 1979, S. 172. Abgedruckt ebenda, S. 174ff. Ausführlich dazu Göbels ebenda, S. 172ff.; vgl. auch Koch (Anm. 22). Göbels (Anm. 29), S. 174. Ebenda, S. 175. Vgl. dazu Göbels (Anm. 29) und Koch (Anm. 22). Ueber die Mittel Naturgeschichte gemeinnütziger zu machen (1799), zitiert nach Ausst.-Kat. „Bertuch" (Anm. 3), S. 127. Vgl. die Praefatio/Vortrag von Johann Amos Comenius zu seinem „Orbis sensualium pictus", Nürnberg 1658; leicht zugänglich in dem Dortmund 1978 veranstalteten Nachdruck der Erstausgabe mit einem Nachwort von Heiner Höfener; vgl. auch Koch (Anm. 22).
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Es ließe sich an tausend Beispielen nachweisen, daß ein einfaches, rein definierendes Wörterbuch bei aller Güte der Ausführung nicht auf bildliche Darstellungen verzichten kann, ohne in Undeutlichkeit oder Unklarheit bei seinen Beschreibungen zu verfallen. Waren wir nun nicht um so mehr auf dieses Hilfsmittel angewiesen? Ein Blick auf den Gegenstand selbst oder auf seine bildliche Darstellung ist aufschlußreicher als eine seitenlange Besprechung. 37
Daß ein Bild verschiedentlich mehr als tausend Worte sagt, ist zu jener Zeit noch keine Binsenweisheit; daß Bilder helfen können, den Beschreibungsaufwand außerordentlich zu minimieren, ist folglich ein erster Grund, dem Wort als Hilfsmittel Illustrationen beizugesellen. Zu diesem Aspekt tritt bei Bertuch jedoch noch ein weiteres Argument hinzu. Während die Enzyklopädisten ihr Wörterbuch über die Verbindung von Text und Bild erstmals unmittelbar auf die Welt des Sehens ausgerichtet haben38, bezieht Bertuch bereits neben der didaktischen und der informativen Funktion auch den ästhetischen Gebrauchswert der Bilder und die Schaulust seiner Leserschaft ins Kalkül mit ein. Ihm gilt das Bild nicht mehr nur als bloßes Hilfsmittel sondern als Medium eigenen Rechts. Mit den Zeitungen, Zeitschriften und Büchern seines Verlages propagiert er geradezu die Ressource und das Prinzip Bild, indem er über seine qualitätvollen illustrativen Beigaben in großem Maßstab die Neugier darauf weckt. „Wo es nöthig und erfreulich ist", heißt es in der Ankündigung des „Oppositionsblattes", „werden wir es angelegen seyn lassen, den Inhalt des Blattes durch Charten, Kupferstiche, Caricaturen etc zu ergänzen und zu beleben."39 Wie das Zitat ausweist, folgt Bertuch mit seiner Praxis der Bilder nicht zuletzt dem Horazischen Motto eines „prodesse et delectare". Den Unterhaltungsaspekt der Illustrationen unterstreichend hatte er auch bereits in den Ausführungen zum B i l derbuch" geschrieben, er wolle die Kinder, denen das Werk gewidmet ist, „blos amüsieren".40 Wie es scheint, bedarf das Prinzip Bild auch um 1800 immer noch zur Beschwichtigung der Bildgegner und -Skeptiker der Legitimation; Amüsement wird derweil das unverfänglichste und gleichzeitig schlagendste Argument gewesen sein.
IV Prinzip Bild Daß Bertuch die detailliertesten Erörterungen zum Thema Bild und Illustration in Verbindung mit der Veröffentlichung seines „Bilderbuchs für Kinder" geliefert hat, ergibt sich zum einen ganz selbstverständlich aus der Sache, hat seine Begründung aber überdies wohl auch darin, daß die gelehrte Welt ringsum vielfach immer noch die überkommenen Vorbehalte gegen das Bild als Medium und als Organon der Erkenntnis pflegte. Mit der Bildpolitik seines Verlages bezieht 37
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D'Alembert: Discours préliminaire, zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Die Encyclopédie des Denis Diderot. Eine Auswahl. Hg. von Karl-Heinz Manegold. Dortmund 1983, S. 303f. So definiert F. Schalk s. v. Enzyklopädie im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (1972), Sp. 574f. Oppositionsblatt oder Weimarische Zeitung, Januar 1817, Nr. 1 (,.Nachricht"), Titelblatt verso; Hervorhebungen vom Verfasser. Zitiert nach Göbels (Anm. 29), S. 172.
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Bertuch Stellung gegen jene in den Wissenschaftskreisen seiner Zeit fortdauernde Diskreditierung des Bildes als eines Erzeugnisses, das ganz der Domäne der sinnlichen Erfahrung zugehöre und das den dargestellten Gegenstand gleichsam unbegriffen vor Augen stelle. Insofern nährt jedes Bild nur den allgemeinen philosophischen „Verdacht gegen das Sehen"41, wie er seit der Antike überkommen ist. Wie stark diese Bedenken selbst in den Kreisen der Aufklärung ausgeprägt waren, zeigt eingängig eine Erinnerung des Naturforschers Heinrich Steffens aus seiner Studienzeit in Kopenhagen, wo er im Jahr 1789 - als Bertuch eben den „Plan" zu seinem Bilderbuch abfaßt - bei Vahl, einem der letzten Schüler Linnés, Naturgeschichte studiert hat. Nur allzubald habe er erfahren, welch niedriger Rang der Abbildung nach klassischer Einschätzung zukam. Sah nämlich sein Lehrer, so Steffens, „daß wir bei der Bestimmung der Pflanzen, weil uns die Linnéische Beschreibung in den technischen Ausdrücken nicht geläufig war, etwa Abbildungen zu Hülfe nahmen, dann wies er uns jederzeit streng zurecht. ,Hier ist das Buch', sagte er dann, und gab uns den Linné; ,die Pflanze ist hier beschrieben, hier muß sie aufgesucht werden, Kinder amüsiren sich mit Bildern'." 42 Vahl, so erläutert Wolfgang Lepenies in seinem Buch „Das Ende der Naturgeschichte" die Steffens'sehe Passage, „verfuhr damit ganz im Sinne Linnés, der sich gegen die Verwendung von Abbildungen in den naturhistorischen Werken ausgesprochen hatte; aus Abbildungen nämlich sei ein sicherer Schluß bei der Bestimmung der Pflanzen nicht möglich, ,νοη niedergeschriebenen Worten aber gehet dieses sehr leicht'." 43 Daß Bilder der kindlichen Belustigung dienen mögen, wird zugestanden; in der Wissenschaft jedoch komme ihnen kein Platz zu. Dieses Axiom dient dazu, die „Vorherrschaft des Textes über die Abbildung"44 zu festigen und damit jene der traditionellen literalen über die sich mehr und mehr bahnbrechende bildgestützte Kultur. Und dennoch war der Siegeszug der „visuellen Form der Bildung"45, so Barbara Stafford, nicht aufzuhalten. Während im 18. Jahrhundert auf der einen Seite die Kritiker rangierten, welche in der Nachfolge Piatons für die „vernunftgemäße, angestrengte, von der Sprache geleitete Beobachtung"46 plädierten, traten deren wissenschaftliche Kontrahenten für das „sinnliche, kurzweilige oder bloß .neugierige'
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Vgl. dazu ausführlich Ralf Konersmann: Die Augen des Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens, in: ders. (Hg.): Kritik des Sehens. Leipzig 1997, S. 9-47 sowie Thomas Fechner-Smarsky: Dem Sehen beim Sehen zusehen. Ein Wiener Kongreß über „Die Geschichtlichkeit des Auges", in: Frankfurter Rundschau Nr. 217 vom 18. September 1997, S. 12. Zitiert nach Wolfgang Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. München 1976, S. 32. Ebenda. Ebenda. Barbara Stafford: Gewalt und Naturgeschichte. Über das dauerhafte Dilemma, wie etwas anschaulich zu machen sei, in: Vortrage aus dem Warburg-Haus, Bd. 1, Berlin 1997, S. 7 5 105, hier S. 81; vgl. zu diesem Thema auch dies.: Artful Science. Enlightenment, Entertainment and the Eclipse of Visual Education. Cambridge, Mass. und London 1994 (in dt. Übers.: Kunstvolle Wissenschaft: Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung. Dresden 1998). Stafford: Gewalt und Naturgeschichte, S. 78.
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Schauen"47 ein. Der Positivismus des 19. Jahrhunderts wird schließlich deutlich zwischen beiden entscheiden. Stafford hat es die bis heute andauernde ,Aufklärungsdebatte über verantwortliches versus unverantwortliches Sehen"48 genannt. Bertuch stand in diesem modernen Bilderstreit, der in der Auseinandersetzung um den Vorrang der ,zwei Kulturen' (Schrift/Sprache/Ratio - Bild/Anschauung/ Empfindung) bis heute fortdauert und erst in seinen Grundlagen erforscht ist, auf der Seite der materiellen Sensualisten, für die wie beispielsweise für den Genfer Biologen und Erben Réaumurs Charles Bonnet gilt, daß Lernen eng mit der „Reproduktion von Bildern und der Vervielfältigung von Bewegungen im Sinnesapparat"49 verknüpft war: Die ununterbrochene Stimulation der Gehirnfibern durch starke äußere Eindrücke bedeutete, daß die Neugierde oder das Betrachten für die Erzeugung von Ideen entscheidend war. [...] Zu den Leitmotiven [dieser Wissenschaft] gehörte daher die Auffassung, daß der Entdeckung von etwas Nützlichem häufig ein visuelles Vergnügen oder ,reine Neugierde' vorausging. 50
Bertuch knüpft als Verleger an diese Erfahrungen an; Text und Bild schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander und profitieren von ihrem Zusammenspiel. Durch die Vielfalt der vorgelegten Veröffentlichungen profiliert und diversifiziert Bertuch das Prinzip Enzyklopädie und propagiert das Prinzip Bild. So ist in jener exemplarischen Unordnung, die den Tafeln der „Vermischten Gegenstände" (Abb. 25) des Bilderbuches eigen ist, das barocke Modell der Kunst- und Wunderkammer aufgehoben.51 Waren hier auf Tischen, in Regalen und längs der Wände der Kabinette die Realia versammelt und zur Schau gestellt (Abb. 26), antwortet Bertuchs Tafelfolge der „ M i s c e l l a n e a " darauf mit der Präsentation des Wissens- und Sehenswerten in staunenerregenden und Aufmerksamkeit weckenden Ansichts- und Schaubildern, für deren oft hohe Darstellungsqualität unter anderem Künstlernamen wie Georg Melchior Kraus, Johann Heinrich Lips oder Theodor Goetz stehen.52 Wissen und Kenntnisse lassen sich umsetzen ins (Schau-)Bild (Visualisierung), und Bilder repräsentieren und stimulieren eigene Formen des Wissens und der Erkenntnis (Kogniti vierung). Mit seinem Verlag hat Bertuch einen Beitrag zur Aufklärung durch Bilder (und über das Bild als Medium) geleistet und das Bild im Zeitalter seiner massenhaften (Re-)Produzierbarkeit zur „Aufklärung" genutzt, durchaus im Sinne der Novalis-Auffassung
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Ebenda. Ebenda, S. 82. Ebenda, S. 91. Ebenda, S. 92f. Vgl. zu Theorie und Geschichte der Kunst- und Wunderkammer Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993. Zur konkreten Zusammenarbeit von Kraus und Bertuch am .Journal des Luxus und der Moden" vgl. die von von Maitzahn (Anm. 28) mitgeteilten Ausschnitte der Korrespondenz der beiden Herausgeber.
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von der „amüsirenden Ansicht der Wissenschaft"53 als einer legitimen Spielart des wissenschaftlichen Handelns. Durch populäre Bilder hat Bertuch nicht zuletzt auch das Medium Bild popularisiert. In der Gegenüberstellung eines höchst nobilitierten graphischen Programmblattes der Aufklärungsliteratur und eines jener „banalen" Kupfer, die das „Journal des Luxus und der Moden" auszeichnen, läßt sich der Abstand zwischen dem hohen und dem faßlichen Gebrauch des Bildes darlegen. Das von Cochin gezeichnete Frontispiz zur Enzyklopädie von 1769 stellt eine hehre Versammlung antikisch gewandeter, allegorischer Frauengestalten vor Augen, die es gerade unternehmen, in der Himmelsregion der Ideen die im Glanz des Lichtes erstrahlende Gestalt der Wahrheit zu entschleiern (Abb. 27).54 In Bertuchs Graphik hingegen begegnet dem Betrachter ein halbes Jahrhundert später eine junge Frau, die ein prächtiges mit „Schnüren verziertes englisches Kleid von Gros de Naples" trägt; gelassen sitzt sie auf einem Empire-Schemel und hält in ihren Händen ein illustriertes Magazin. Eben geht ihr Blick aus dem Bilde, gleich anschließend wird sie sich weiter über die neuesten Ideen der Mode aufklären lassen (Abb. 28), und zwar anhand von Beschreibungen und speziell durch Bilder.
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Novalis: Das allgemeine Brouillon - Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99, in: Schriften, 3. Bd. Das philosophische Werk II. Hrsg. von Richard Samuel, S. 205-478, Darmstadt 1968, zitiert nach Lepenies (Anm. 42), S. 214. Vgl. ausführlich zu diesem Blatt Alexander Perrig: Das Frontispiz der „Encyclopédie" oder die hohe Kunst der Verbliimung, in: Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle, Bd. 9, 1990, S. 67-92 sowie sowie Martin Warnke: Chimären der Phantasie, in: ders.: Nah und Fern zum Bilde. Beiträge zu Kunst und Kunsttheorie. Hg. von Michael Diers. Köln 1997, S. 259-277, hier S. 268ff.
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Abb. 12:
„Eine Dame in einer Robe à la Turque", koloriertes Kupfer, 1786.
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Abb. 13:
„Ceder vom Libanon im Jardin des Plantes zu Paris", kolorierter Kupferstich, 1804.
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Abb. 18:
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„Boa Constrictor", kolorierter Kupferstich, 1807.
Abb. 19:
„Der Vesuv mit seiner umliegenden Gegend", kolorierter Kupferstich, 1798.
456
Michael
Diers
/¿•(tênçu JQZ.
Abb. 20:
„Vesuv-Lava und Aschenbrüche desselben", kolorierter Kupferstich, 1798.
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Abb. 21:
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„Das Gerüst auf der Spitze der St. Paulskirche für das Panorama von London", kolorierter Kupferstich, 1821.
Abb. 22:
„Das Colosseum im Regents Park in London", kolorierter Kupferstich, 1830.
Bertuchs
Abb. 23:
Bilderwelt
„Herschels Teleskop", kolorierter Kupferstich, 1798.
459
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460
'fmjta
Abb. 24:
„Vergrösserungsgläser und mikroskopische Belustigungen", kolorierter Kupferstich, 1834.
Bertuchs
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Abb. 25:
Bilderwelt
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