Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland 3050040173, 9783050040172

Oikos und Polis stellen einen zentralen Gegenstand der althistorischen Forschung dar. Eine Vielzahl von Arbeiten hat sic

362 103 13MB

German Pages 558 Year 2004

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland
 3050040173, 9783050040172

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Winfried Schmitz

Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland

Akademie Verlag

Gedruckt mit Hilfe der GeschwisterBoehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaftenin Ingelheimam Rhein

ISBN 3-05-004017-3 ISSN 1438-7689

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2004

Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer, Berlin Druck: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany

fürMargot, Sebastian und Benjamin

Inhalt

Vorwort .......................................................................................................................

8

I. Zwischen Oikos und Polis. Zu Thema, Fragestellung, Methode und Ziel .............

9

II. Nachbarschaft und dörfliche Ordnung im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr .................

26

A. Die Welt der Bauern: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft bei Hesiod und frühgriechischen Lyrik .......................................................................................

27

1. Subsistenzwirtschaft und traditionale Gesellschaft ...................................... 27 Die bäuerliche Schicht 29 - Die Basileis 31 - Die unterbäuerliche Schicht 33 - Handwerker und Bettler 38 - Identitäten jenseits der sozialen Schichtung 38 -Die soziale Ordnung der bäuerlichen Welt 41

2. Das literarische Werk und die Welt jenseits der Literatur- Formen einer bäuerlichen Sondersprache in Hesiods Lehrgedicht ..................................... 3. Der Bauer und seine Nachbarn. Zur Bedeutung des Wortes yehcov ............ 4. Die Gemeinschaft der Bauern im Dorf- Der Status des Vollbauern ........... 5. Symmetrische Nachbarschaft ....................................................................... 6. Asymmetrische Nachbarschaft ..................................................................... 7. Die Dorfgemeinschaft und ihre Normen ........... .. .. ..... .......... ..... .. .. .. .. .. ... ...... Arbeitsamkeit 75 - Rechtschaffenheit 77 - Nachbarliche Solidaritiit und Hilfe

42 52 60 63 71 74

78 - Die Autorität des Mannes im bäuerlichen Haus 83 - Die Übergabe des Hofes vom Vater auf den Sohn 94 - Geselligkeit und Kommunikationsformen 99

8. Die Dorfgemeinschaft und ihre Sanktionen .................................... ........... 101 B. Die Welt des Adels: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft in den homerischen Epen ............................................................................................

105

1. Nachbarn in den homerischen Epen ...........................................................

105

Nachbarn und Umwohnende: zur Terminologie 105 - Die soziale Bedeutung von Nachbarn (ydrow:r:;) in der homerischen Gesellschaft 106

6 2. Freundschaft versus Nachbarschaft. Die Ursachen für die geringe

Bedeutung der Nachbarschaft in der Welt des Adels ................................. 109 Die Struktur des adeligen Hauses 111 -Hetairie und Gastfreundschaft 119

C. Ergebnisse ........................................................................................................ 127 III. Von der Norm zur Satzung: Bäuerliche Ordnung und Gesetzeskodifikation ....... 148

A. ,Nachbarn' (yd-rove~) im archaischen Athen ................................................. 158 1. Die ältesten Belege für ,Nachbarschaft' in Attika ...................................... 158 2. Nachbarn im attischen Recht: Regelungen zum Grenzabstand und zur Wassernutzung ............................................., ................................ 160 B. Brauch und Recht ............................................................................................ 166 1. Die Gesetze und der Tod - Die Macht der Toten und der Schutz der Lebenden .................................................................................................... 166 Die athenischen Bestattungsgesetze 168 - Die Deutung der Bestattungsgesetze in der Forschung 169 - Bestattungsgesetze außerhalb Athens 173 Bestattungsbräuche in volkskundlicher Sicht 175 - Vergleich mit den Bestattungsgesetzen bei Platon und Cicero 185 - Zusammenfassung 187

2. Die Gesetze und die Arbeit- Der nomos argias ........................................ 190 Die Quellen zum nomos argias 190 - Zur Deutung des nomos argias in der Forschung 192 - Der nomos argias als Verpflichtung zu Arbeit und rechtschaffen erworbenem Unterhalt 194 - Die btiuerliche Ordnung und das Gesetz gegen Untätigkeit 201

3. Die hausväterliche Gewalt .......................................................................... 202 Der Hausvater und seine Söhne 205 - Der Hausvater und die Stellung der Frau im Oikos 213 - Die Versorgung der alten Eltern 230

4. Zum Ursprung der ,Popularklage' .............................................................. 233 C. Ergebnisse ........................................................................................................249 IV.Rügebräuche und Schandstrafen im archaischen und klassischen Griechenland ... 259 A. Methodische Vorbemerkungen ........................................................................ 259 B. Diffuse Sanktionen - Gespött und Gerede ....................................................... 273 C. Rügebräuche ....................................................................................................277 1. Charivari .....................................................................................................277

7 Die lambendichtung 277 - Die verschiedenen Spielarten von Komoi: kamevaleske Umzüge und entttiuschte Liebhaber 280-Formen gewalttcitiger Komoi 287 - Die Rekonstruktion eines Strafrituals 300 - Die dike aikeias: das gesetzliche Verbot der Rüge 306

2. Heischebräuche .......................................................................................... 312 3. Der Rügebrauch des Heimsuchens und Ausfressens .................................. 320 D. Rügebräuche und Schandstrafen ...................................................................... 330

1. Die Bestrafung des vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehrs ............ 330 Rechtsbestimmungen und -verfahren zum vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr 331 - Peinliche und entehrende Strafen gegen den moichos in Athen 338 - Peinliche und entehrende Strafen gegen den moichos außerhalb Athens 348

2. Verfluchung und Hauswüstung .................................................................. 354 Belege far Hauswüstungen in Athen 357 - Belege far Hauswüstungen außerhalb Athens 366 - Weitere, unsichere Belege für Hauswüstungen 369 - Rügebrauch, sakrale Veifl.uchung und die Rechtsordnung der Polis 370

3. Weitere Schandstrafen ................................................................................ 3 80 Schuldner und Stelitai 382 - Entziehung vom Kriegsdienst und Sykophanten 384 - Stock und Pranger (Podokake und Kyphon) 386

4. Steinigung ...................................................................................................

393

E. Ergebnisse ........................................................................................................

401

V. Zwischen bäuerlicher und bürgerlicher Gesellschaft. Die Abkehr von der traditionalen Ordnung im 5. und 4. Jahrhundert ................................................... 411 1. Von der Nachbarschaft zum Nachbarn. Struktur und Begrifflichkeit von Nachbarschaft in klassischer Zeit .................................................................... 2. Die Wertschätzung des Nachbarn .................................................................... 3. Die Nachbarschaftshilfe ................................................................................... 4. Die Identität der Dorfgemeinschaft ................................................................. 5. Nachbarliche und dörfliche Normen ................................................................

411 418 423 431 437

Die Solidaritcit von Nachbarn und Demoten 438 - Geschlechterrollen und Autoritcitsstruktur im bciuerlichen Haus 444

6. Nachbarn im Streit ........................................................................................... 7. Ergebnisse ........................................................................................................

454 464

VI. Die Kontrolle der sozialen Kontrolle. Zusammenfassung und Ausblick .............. 467 Literaturverzeichnis .................................................................................................... Quellemegister ............................................................................................................ Namen- und Sachregister ............................................................................................

493 535 543

Vorwort

Geboren wurde die Idee, Nachbarschaft und bäuerliche Dorfgemeinschaft in der Antike zum Thema einer wissenschaftlichen Untersuchung zu wählen, nicht in einem kleinräumigen Dorf, sondern in Berlin. In Anbetracht der zahlreichen Arbeiten zur Entstehung der Polis und der verstärkten Aufmerksamkeit hinsichtlich Haus und Familie schien mir ein Bereich vernachlässigt, der das Ineinandergreifen, aber auch die Abgrenzung beider Institutionen auf einer sehr konkreten Ebene faßbar werden läßt. Lange Zeit bestanden Zweifel, ob das Thema hinreichende Relevanz hätte. Es war das Buch von Martine Segalen „Mari et femme dans la societe paysanne", das der Arbeit entscheidende Impulse vermittelt hat. Arbeiten von Karl Meuli, Karl-Sigismund Kramer, Michael Mitterauer und David Cohen, sowie Feldstudien über traditionale mediterrane Gesellschaften haben mich weitergeleitet. Aufgrund dieser Anregungen ist die vorliegende Arbeit durch den historischen und volkskundlich-ethnologischen Vergleich geprägt. Zu danken habe ich während der Jahre der Entstehung vielen, Hans-Joachim Gehrke für einen intensiven und kritischen wissenschaftlichen Austausch über viele Jahre in Berlin und Freiburg, Peter Funke, Mischa Meier, Eckhard Wirbelauer und Ulrich Maneval für wichtige Anregungen und das stete Interesse. Insbesondere aber danke ich Jochen Martin, der mir den Weg gewiesen hat zur Historischen Anthropologie und dessen analytische Schärfe mir stets ein Anspruch sein wird. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich Dank zu sagen für die Förderung im Rahmen eines Habilitandenstipendiums, dem Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands dafür, daß die Arbeit auf dem Historikertag in München 1996 mit dem Historikerpreis ausgezeichnet wurde. Für die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens und die Mitarbeit an den Indizes danke ich Jan Timmer, Lars Rohrandt, Astrid Rabenstein und den studentischen Mitarbeitern am Seminar für Alte Geschichte in Bonn. Daß die Publikation erst so spät erfolgt ist, ist allein meine Schuld. Der größte Dank gilt meiner Frau und meinen Kindern. Sie haben auch in schwierigen Phasen den Mut und das Vertrauen nicht verloren, daß der beschrittene Weg trotz aller Unsicherheiten zu einem erfolgreichen Ende führen würde. Sie haben mit ihrer Geduld den Fortgang und Abschluß der Arbeit ermöglicht. Overath, im November 2003

Winfried Schmitz

I. ZwischenOikosund Polis. Zu Thema, Fragestellung,MethodeundZiel

Oikos und Polis stellen seit langer Zeit einen zentralen Gegenstand der althistorischen Forschung dar. Eine Vielzahl von Arbeiten hat sich mit der Entstehung der Polis als politischem Verband auseinandergesetzt und dabei den Weg vom Oikos (dem Haus bzw. der Hausgemeinschaft) als dominierender sozialer Einheit in archaischer Zeit zur Polis, dem übergeordneten politischen Verband, nachgezeichnet 1• Durch die Gegenüberstellung wird der Antagonismus von Oikos und Polis betont: In vorsolonischer Zeit sei der Oikos die soziale Institution schlechthin gewesen; ohne die Zugehörigkeit zu einem Oikos blieb nur die marginale Existenz eines Bettlers. Einem Mann ohne Haus war eine Integration in die Gesellschaft, die als Summe aller Oikoi definiert werden kann, verwehrt. Eine Polis als bürgerliche Gemeinschaft, als politischer Verband, der auf gemeinsame Interessen ausgerichtet war, existierte zu dieser Zeit erst in Ansätzen. Der athenische Gesetzgeber Solon war es, der in seinen eindringlichen Appellen bewußt machte, daß das Wohlergehen des Oikos vom Wohlergehen der Gemeinschaft abhängig war. Durch seine Reformen und seine Gesetzgebung sei ein politisches Bewußtsein wesentlich gestärkt worden, und deshalb markiert sein Archontat einen entscheidenden Schritt hin zur Polisbildung. Die Folgezeit ist geprägt vom Spannungsverhältnis zwischen Oikos und Polis: Die Polis griff durch die Gesetzgebung massiv in die Belange des Oikos ein und zwang ihn, die Polis als übergeordnete Instanz zu akzeptieren. Der Oikos wurde zur Loyalität gegenüber der Polis verpflichtet, indem z.B. im 5. Jahrhundert Heiraten mit Frauen, die nicht aus athenischen Familien stammten, nicht mehr als rechtsgültige Ehen akzeptiert und damit Heiratsallianzen mit Häusern anderer Poleis 2 unterbunden wurden . Bereits Aristoteles hat Oikos und Polis als grundlegende Institutionen der sozialen und politischen Ordnung der griechischen Gesellschaft angesehen. Zu Beginn der Politika behandelt Aristoteles die Hausgemeinschaft, die durch die Gemeinschaft von Mann Exemplarisch sei auf den von Peter Spahn 1990 in der Historischen Zeitschrift publizierten grundlegenden Aufsatz mit dem Titel Oikos und Polis verwiesen. Weitere Literatur ist unten S. 127ff. detaillierter diskutiert. Zum Gegensatz und zu den Konflikten zwischen Oikos und Polis hinsichtlich rechtlicher Bestimmungen, der Wirtschaft, der Religion und der Geschlechterverhältnisse Humphreys, Oikos und Polis. Vgl. dies., Public and Private Interests.

10

!. ZwischenOikos und Polis

und Frau, von Vater und Kindern und von Herr und Sklave konstituiert wird. Für Aristoteles ist das Haus der Grundbaustein für die Polis, wobei aber das Haus strikt von der Polis zu unterscheiden ist. Nach seiner Vorstellung ist das Haus die „natürliche Gemeinschaft für das tägliche Zusammenleben" 3• Die nächst folgende Gemeinschaft, die aus mehreren Häusern besteht, ist das Dorf (1tKTlow:c;die um TI1ebenherum liegenden Städte. Simonides 506 Page (21 D). 7,u den i':mv(Kux des Simonides Bowra, Pcetry 310-317. Bowra bezieht JtEQLKn6voov entsprechend der Satzstellung auf tv ayo:iVL,versteht darunter also einen lokalen Agon im Gegensatz zu einem bei den vier großen Spielen. Lokale Agone auch in Pindar N. XI 19; P. IV 66f.; vgl. N. VI 39; VIII 9; P. X 8; I. VIII 64; fr. 94b 43 Snell; Bakchyl. XII 35.

B. Die Welt des Adels

107

Kia -r' lyyuc, lµüo -rauyµiva), damit sie ihm und Telemachos Gefährten und Brüder seien (hugm 'tE KaOLyvlJ'tffi-rc)4. Da Kaa(yv11-roc,in diesem Fall nicht den leiblichen Bruder meint, kann der Begriff nur auf die affektive Bindung zwischen ehemaligem Herrn und Knecht zielen. Odysseus bindet die ehemaligen Knechte also trotz der Nähe der Häuser nicht durch Nachbarschaft, sondern durch das Bindungsverhältnis der Hetairic und Verwandtschaft an sich. Sehen wir uns die weiteren Belege an, die Auskunft über das Nachbarschaftsverhältnis in den homerischen Epen geben. In einem Gleichnis am Ende des fünften Gesangs der Odyssee ist der yELtmv als derjenige erwähnt, an den man sich wendet, wenn das Feuer im eigenen Haus erloschen ist (V 488-490). Die Stelle läßt keine sichere Entscheidung zu, ob mit dem Begriff unmittelbare Hausnachbarn oder alle Bauern im Dorf gemeint sind. Die Ausleihe von Gerät und Kleidung, ja selbst von Zugvieh und Wagen ist für traditionalc Gesellschaften häufig bezeugt und setzt ein gegenseitiges Vertrauen voraus. Die Bitte um Feuer (oder Wasser in Gebieten, wo es reichlich vorhanden ist) zu erfüllen, gewährt man jedoch unabhängig von Sympathie oder Vertrauen. Es ist eine der geringsten Nachbarschaftshilfcn, zu der man unabhängig von der Form nachbarlicher 5 Beziehungen bereit ist . Die Verweigerung dieser Bitte kommt einem bewußten Ausschluß aus der Gemeinschaft gleich. So werden die Grundbedürfnisse des Lebens, Wasser, Feuer, Brot und ein Dach über dem Kopf, dem entzogen, über den ein Fluch 6 ausgesprochen wurde . Ein weiteres Mal sind yd-rovcc, im vierten Gesang der Odyssee genannt. Als Telemachos mit Peisistratos zum Haus des Menelaos, des Königs der Spartaner, gelangte, bei dem er sich nach seinem Vater erkundigen wollte, wurde dort gerade eine Doppelhochzeit gefeiert. Die eheliche Tochter Hermione verließ das Haus, da der Vater sie in Troia dem Achill als Ehefrau seines Sohnes Neoptolemos versprochen hatte. Da Helcna nach der Geburt der Hermione keine Kinder mehr bekommen hatte, sollte Megapenthes, den Mcnelaos mit einer Magd (EK öotlATJC,) gezeugt hatte, die Nachfolge im Haus übernehmen. Zur Hochzeit des Megapenthes, der die Tochter des Alektor aus Sparta heiratete, waren die frm (Od. IV 3 und 16) und die Nachbarn (yü-rovcc,; nur in Od. IV 16) geladen7. Bei den frm handelt es sich wahrscheinlich um eine Verwandtschaftsgruppe, die über den engen Kreis der Geschwister und Vettern ersten Grades (der Kaa(yv11-rm)hinausgeht8. Da die Hochzeitsgesellschaft innerhalb des Hauses des Menelaos speiste,

Od. XXI 215f. - Auch der Nebenmann m der Phalanx ist nicht ein yd-rffiv, sondern 6 JtAT)olov (Tyrtaios 12 West; 9 Gentili/Prato; 9 D Z. 19). Vgl. Eur. Herc. l 9lf. ( oi Jtrlw;). Auch in Lys. I 14 und Xen. oik. II 15 wird Feuer vom Nachbarn geholt. Weitere Quellen aus römischer Zeit bei Schulze, Sittengeschichte 189-191. Im Römischen die tecti et ignis et aquae interdictio; dazu Schulze, Sittengeschichte 200; vgl. 190. Zur Verfluchung ausführlich unten S. 354ff. Wickert-Micknat, Frau 96. Dazu Latte, Strafrecht I 34f: "Erm seien die durch Verschwägerung verbundenen Verwandten; ausführlich dazu Andrewes, Phratries 134f.; vgl. Siurla-Theodoridou, Familie 122-124; Heubeck/ West/Hainsworth, Commentary l 93. Ohne weitere Gründe zu nennen, zweifelt Murray, Symposion 196 Anm. 11 daran, daß es sich bei i:,T)~ um einen ,,kinship tenn" handelt. Nach van Wees, Princes 165 Anm. 38, sind die i:-rm eher „fellow-townsmen" als ,,kinsmen" oder „companions".

108

II. Nachbarschaftund dörflicheOrdnungim 8. und 7.Jahrhundertv. Chr.

dürfte sie einen nicht zu großen Kreis umfaßt haben. Die Teilnahme aller Bewohner an einer Hochzeit galt in der Regel für den Hochzeitszug, in dem der Bräutigam die Braut durch die Straßen der Stadt zu seinem Haus geleitete und dem die Frauen von den Häusern aus zuschauten 9 . In vielen ländlichen Gebieten sind aber auch ,Dorfhochzeiten' üblich, an denen die gesamte Dorfbevölkerung regen Anteil nimmt. Es ist nicht auszuschließen, daß der Dichter bei der Schilderung der Hochzeit des Megapenthes an eine solche dachte 10. Die nebeneinander genannten e-rm und yet-rovec;würden dann den yet-rovec;und x,io( in Hes. erg. 345 entsprechen. Andere in den Epen genannte Hochzeiten helfen nicht wesentlich weiter. Eine wichtige Funktion erfüllen ,Nachbarn' allein nach dem Angriff des Odysseus und seiner Gefährten auf die Kikonenstadt Ismaros. Nachdem die Angreifer die am Meer liegende Stadt der Kikonen zerstört, die Männer getötet, die Frauen, die Kinder und das Vieh als Beute zu den Schiffen getrieben hatten, kamen den Verschleppten stammesverwandte Kikonen, die im Binnenland ihre Nachbarn (ye(-rovec;)waren, zu Hilfe 11. Es ist möglich, daß das Wort yet-rovec;an dieser Stelle nichts anderes als eine lokale Nähe angeben soll, also yet-rroveine Bedeutung annehmen kann, die sich der von JtEQt1Kalv6-reeov Kat 1euvreeov ÜA.A.o ywm1e6c; - ,,es gibt nichts Schrecklicheres und nichts Hündischeres als eine Frau". Besonders nachhaltig wird in dieser Passage davor gewarnt, der Frau zu viel 44 Vertrauen entgegenzubringen . Abgesehen von diesen Versen ist in den homerischen Epen keine besondere frauenfeindliche Einstellung festzustellen, so daß ein deutlicher Unterschied zwischen den Epen einerseits und den Werken und Tagen Hesiods bzw. Liederndes Semonidesund Hipponaxandererseitszu konstatierenist, ein Unterschied, der auf die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen bei Adeligen und Bauern zurückzuführen ist. Der leichtere Ausgleich von Spannungen, der bei der gesicherten materiellen Grundlage der Adeligen möglich war, hatte zur Konsequenz, daß ein außerhalb des Oikos stehendes Korrektiv nicht oder nur selten vonnöten war. Die Dorfgemeinschaft mußte in den Häusern der Adeligen nicht so konsequent auf die Einhaltung der Autorität des Mannes achten, nicht die ehelichen Kinder vor Ansprüchen außerehelicher Kinder schützen. Da der Bestand des adeligen Hauses nicht von der unablässigen eigenen Mitarbeit auf dem Feld und der eigenen Arbeit der Frau abhängig war, bestand auch kein Anlaß, Untätigkeit des Mannes zu rügen oder die Frau ständig kritisch zu kontrollieren. Hinzu kommt, daß die Lebensverhältnisse im adeligen Oikos von den Bauern nicht als Gefährdung ihrer bäuerlichen Ordnung angesehen wurden, gegen die sie hätten einschreiten müssen. Insgesamt also waren die Beziehungen zwischen den Mitgliedern des adeligen Oikos einem freieren und unbelasteteren Spiel der Kräfte überlassen. Die für den Adel geltenden Normen waren variabler und vielfältiger, nicht so einheitlich und bindend wie bei den Bauern, und dies gilt selbst für grundsätzliche Prinzipien der Binnenstruktur des Hauses: -

-

43 44

45

In vielen Adelshäusern übergaben die Väter zu Lebzeiten die hausväterliche Gewalt an die Söhne und zogen sich auf ein Altenteil zurück. Andere hingegen perpetuierten die hausväterliche Gewalt über die Heirat der Kinder hinaus. Auch in der Schicht der Adeligen war die Patrilokalität vorherrschend 45, doch kennen Ilias und Odyssee matrilokale Ehen, sei es, damit die ,Königswürde' mit der Tochter an den Schwiegersohn überging, sei es, weil die Einbindung der Schwiegersöhne die Macht des ,Königshauses' stärken sollte, sei es aber auch nur, weil der Schwiegersohn ein Fremder

Wickert-Micknat, Frau l l 7f.; Mauritsch, Sexualität 37f. Od. XI 441-443; 454-456. Die misogyne Färbung in diesem Teil wird auch daran deutlich, daß die Schuld am Mord Agamemnons allein der Klytaimestra zugesprochen wird, nicht wie im dritten Gesang dem Aigisthos (Od. III 255-275; 301-304; vgl. auch Od. XXIV 199-202). Daß die Patrilokalität vorherrschend war, zeigt neben der Schildbeschreibung ( die Bräute werden zum Haus des Bräutigams geleitet; TI.XVIII 490-496) auch die Sprache: civciyeLvövbe ö6µovbe und olK6vb' /iyecrßm sind Umschreibungen für ,heiraten' (Od. m 272; VI 159; XXI 316: o'CKaM µ' /i~ecrßUL;TI. IX 146f.: ciyfoßro :JtQoc;olKov IlT]Ai'joc;;= IX 288f. u.ö.). Vgl. Hes. scut. 274. Dazu Wickert-Micknat, Frau 95 mit Anm. 531. - Zu unterschiedlichen Deutungen Masse, Femme 151 (Patrilokalität als Normalform, Matrilokalität als Sonderfälle); Wickert-Micknat, Frau 93. Allgemein zu Bedingungen für Matri- bzw. Patrilokalität Murdock, Social Structure 204-207.

116

II. Nachbarschaftund dö,jliche Ordnungim 8. und 7.Jahrhundertv. Chr. 46

-

war, der sich von seiner Heimat getrennt hatte . Wenn der Schwiegersohn durch eine Heirat in das Haus des Schwiegervaters wechselte und die ,Königswürde' übernahm, mußte das die Stellung der Tochter erheblich stärken. Bei der Wahl der Heiratspartner waren die Adeligen nicht an die Norm gebunden, eine Frau aus der eigenen Siedlung zu nehmen. Adelige heirateten vorrangig homogam; lokale Endogamie war demgegenüber nachgeordnet.

Die Unabhängigkeit des adeligen Oikos von der Nachbarschaft wurde mehr noch durch die Zahl der Bediensteten gewährleistet. Knechte waren als Landarbeiter und Hirten eingesetzt, und allein ihre Differenzierung nach verschiedenen Viehgattungen weist auf ihre ansehnliche Zahl hin47 . Die weibliche Dienerschaft wurde von der ,Beschließerin', einer besonderen Vertrauensperson wie z.B. der früheren Amme der Ehefrau, zur Arbeit angewiesen48 . Diese in den Oikos integrierte Personen (öµcpeq'öµc.pa(;aµcpGtoAmund olx:11e;)waren teils langfristig an das Haus gebundene Abhängige, teils in Taglohn gedungene freie Theten oder auch für die Erntezeit angeworbene Arbeitskräfte. In unserem Zusammenhang ist die langfristig in das Haus aufgenommene Dienerschaft wichtiger, wobei nach wie vor umstritten ist, welchen Status die meisten der Bediensteten hatten und wie die Relation von freien und unfreien Personen einzuschätzen ist. Während Jakov A. Lencman in den Bediensteten weit überwiegend Sklaven gesehen hatte, erkannnte Gisela Wickert-Micknat in ihnen fast ausnahmslos Freie. Den Argumenten von Wickert-Micknat trat indes Thomas Fatheuer mit gewichtigen Einwänden entgegen, der die Zahl der unfreien Dienerschaft wiederum höher einschätzte 49 . Da es in der

46

47

48

49

Erlangung der ,KönigsWÜrde': bei der Ehe von Menelaos und Helena und bei einer zweiten Ehe der Penelope, dw-ch die die Freier auch die Stellung des Basileus zu erreichen versuchten. Heirat eines Fremden: die als potentiell möglich dargestellte Heirat des Odysseus und der Nausikaa (zu weiteren Beispielen siehe Wickert-Micknat, Frau 92-94). -Nach Weinsanto, Mariage 51 sind von 99 Ehen in der Ilias 17 % und von 35 in der Odyssee 6 % matrilokal. Patrilokal sind in der Ilias 67 %, in der Odyssee 37 % der Ehen (unbestimmt 16 bzw. 57 %). Vgl. aber die von Weinsanto angeführten Einschränkungen bzgl. der Auswertbarkeit. BouK6Aoi;, µT]AOßOTilQ,abt6AOL /ivÖQei;,uLMTJV; zur Lösung von Freundschaften vgl. auch 10911102 und 1151f. 82 In Theognis 851 f. kann allein Zeus den betrügenden, unaufrichtigen Freund vernichten. Auch die Ausführungen bei Val. Max. IV 7 sind geprägt von der Zwiespältigkeit der Freundschaftsbeziehung: Neben der Hilfe, Vertrauen und Erfüllung emotionaler Bedürfnisse findenden Seite der Beziehung taucht immer wieder die Gefahr auf, daß in der Not der Freund einen fallen läßt.

II. Nachbarschaftund döifliche Ordnungim 8. und 7.Jahrhundert v. Chr.

124

hung, die in günstigen Stunden gesucht wurde. Bei den Bauern dominierte die Sorge vor den schlechten Zeiten. Daraus resultiert, und dies scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein, eine grundsätzlich andere Bindung gegenüber der Gemeinschaft. Die Nachbarschaft ist stets auf die Gemeinschaft der Dorfbewohner bezogen, geht mit ihr konform. Die Freundschaft dagegen stellt sich ganz bewußt in den Gegensatz zur Gemeinschaft. ,,Freund Aisirnides! Wer sich wn des Volkes Gerede k1lmmert, dem begegnet gewiß weniges, das ihn erfreut!"

oder: „Tu, was dir Freude bereitet! Und laß böswillige Bürger schlecht oder weniger schlecht reden, wie's ihnen gefällt".

oder besonders deutlich: ,,Dies sagt Phokylides auch: Es muß der Freund wn den Freund sich sorgen, was immer die Bürger auch heimlich wider ihn wispern"83 .

Die unbedingte Treue dem Hetairos gegenüber hat Vorrang selbst vor den Interessen und Zielen der Dorfgemeinschaft. Diese einer Schwurgemeinschaft gleichkommende Treue der Hetairoi fordert, den Gefährten selbst gegen Angriffe des Demos zu schützen84. Das Treuebündnis mit dem Hetairos gibt dem Adeligen die Möglichkeit, sich gegen andere Adelige durchzusetzen, aber auch die Einbindung in das einengende Netz von Normen, Rollen und Sanktionen der bäuerlichen Nachbarschaft abzuwehren. Kümmere dich nicht um das Gerede der Leute, ist ihr Ratschlag, der die Distanz zur bäuerlichen Ordnung verrät. Auch in diesem Fall ist also eine bäuerliche Maxime in ihr Gegenteil gekehrt: Hesiod hatte ausdrücklich gemahnt, daß man sich in der Nachbarschaft so verhalten solle, daß kein Gerede entsteht. Den Adeligen kümmert dieses Gerede nicht 85. Auch sonst grenzten sich die Adeligen betont gegen die bäuerliche Schicht ab: ,,Bäurisch" - äygmKoc; hat für sie abwertenden Charakter 86. An Versen 83

84

85

86

Archilochos F 14 West (9 D): Almµ(liT],li11µouµev E:TtLQQT]OlV µdeliu(vrov oMEi~ iiv µ6.Aa :n:6U' iµeQ6Evta :n:6.ßOL; vgl. Treu, Archilochos 177-185. - Mimnermos F 7 West (12 GentiliPrato; 7 D): ,iJv oumoü cpQEVCl TEQ:n:e· liuoT]AEyerov M :n:oAL,Erov iiAAO~n~oe KUKä>~, iiUo~ iiµeLvovEQEL. - Phokylides F 5 D: Kal ,6/ie roKuA(liero· XQll'tOL,ov e,a(Qou cpQovril;eLv, &aa' /iv :rtEQLyoyyü;rom :n:oAt,m.Vgl. Pind. P. XI 28 (KaKoA6yOL lie :n:oAI,aL- ,,die Bürger reden Böses"). Theogn. 529f.; vgl.811-814: Vom Freund verraten zu werden, ist bitterer als der Tod und alles, was einem begegnen kann; 869-872: Dem Freund muß man beistehen, selbst wenn der Himmel herabstürzt. Auf diesen Unterschied macht auch Wunder, Bäuerliche Gemeinde 19, aufmerksam: ,,Freilich spielte in der Einstellung der Dorfbewohner zueinander eine ganz entscheidende Rolle, ob die Gemeinde eine Dorfsiedlung oder eine Streusiedlung war. Josef Schepers zitiert als Beleg für die Mentalität von Einzelhofbauern den Ausspruch: ,Was k1lmmernuns die Leute!' Dagegen fragen die Bauern im Dorf: ,Was werden die Leute sagen?"'. Alkaios F 130 Lobel-Page/Voigt (24C D): uygofon(Kuv; Sappho F 57 Lobel-Page/Voigt (61 D): uygo(ronc;;Alkman F 16 Davies (13 D): uviJg uygetoc;. Zur abwertenden Bedeutung von uygoI-

125

B. Die Weltdes Adels

dieser Art wird die geringe Polisbezogenheit des Adels deutlich, ein Charakteristikum, 87 das bis in die klassische Zeit hinein wirksam war . Adelige und Bauern als Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten haben also aus ihren Bedürfnissen heraus ihnen eigene Nahbeziehungen favorisiert. Hetairia und Geitonia sind schichtenspezifische Phänomene und zeugen von unterschiedlichen Strukturen in den sozialen Beziehungen. Die Bauern ,organisieren' sich in der Nachbarschaft und verpflichten sich darin zur gegenseitigen Solidarität und zur Einhaltung der dörflichen Ordnung. Die Adeligen schaffen sich unabhängig davon eigene soziale Einheiten. Für die treuen Dienste, die die Knechte Eumaios und Philoitios dem Odysseus erwiesen haben, versprach ihnen Odysseus: ,,Land und Häuser, nahe dem meinen erbaut, und beide sollt ihr mir alsdann des Telemachos Gefährten und Brüder sein" 88. Obwohl Odysseus die Knechte Eumaios und Philoitios sich und Telemachos zu Nachbarn macht, indem er ihnen ein Haus nahe dem seinen baut, versteht er diese Beziehung nicht als Nachbarschaft, sondern bindet sie durch die Hetairie und eine imaginäre Verwandtschaft89. Die ehemaligen Knechte bleiben als eine Art Gefolgschaft an den Herrn gebunden. Auch gleichgestellte Gefährten (e-rai:Qotund -0EQa.::rtovn:OQ€LV.

32

33

Zu diesen Strafen Latte, Strafrecht II l 32f.; 135; 149; 156; ders.,Moicheia2447; 2449; Saintyves, Charivari 19f.; Dover, Clouds 227; MacDowell, Law 124; Cole, Sexual Assault 104 Anm. 28; 108 Anm. 49; Lloyd-Jones, Ten Notes 58f.; Cohen, Aristophanes 385-387. Von einer sehr ähnlichen Fragestellung geht Cohen in seinem Kapitel „Tue law of adultery" aus. Es gehe ihm darum, sowohl legale wie außerlegale Formen von Sanktionen und Kontrollen und ihre Wechselseitigkeit zu untersuchen (Law 98).

D. Rügebräucheund Schandstrafen

339

In der rechtshistorischen Literatur sind die bei Aristophanes genannten peinlichen und entehrenden Strafen überwiegend als in der Realität praktizierte Strafen anerkannt worden 34. David Cohen hat allerdings die Frage aufgeworfen, ob es sich um eine literarische Fiktion handelt, um eine groteske Situation einer Komödie oder ob die Anspielungen auf einen spektakulären Fall gemünzt waren, den jeder in der Stadt kannte, der aber singulär blieb 35. Nach meiner Einschätzung ist Cohen in seiner Wertung allzu skeptisch, weil in einigen Fällen die Quellen eine weitergehende Interpretation erlauben, weitere Verse heranzuziehen sind und eine der Strafformen von Cohen ganz außer acht gelassen wurde, nämlich das Kahlscheren des Ehebrechers oder der Ehebrecherin. Ich will mit letzterem beginnen: In den Acharnern des Aristophanes preist der Chor den paradiesischen Zustand auf der Agora des Dikaiopolis, der einen Privatfrieden mit den Feinden abgeschlossen hat. Auf dieser Agora gibt es keine Sykophanten, keine Gauner und kein übles Volk, und so auch keinen Kratinos, ,,der stets wie ein moichos mit der Klinge geschoren ist, so ein übler Artemon". Kratinos, der in dieser Zeit etwa 90jährige Komödiendichter, glich von seinem Äußeren einem malträtierten Ehebrecher36. Der Ehebrecher wurde nicht mit einer Schere (füx1.:fj µcixmQa), sondern mit einem Messer kahlgeschoren. Der Vers ist nicht auf einen singulären Fall bezogen, sondern zeigt eindeutig, daß das Kahlscheren eine bei Ehebruch verbreitete, allgemein 37 bekannte Form der Strafe war . Aristophanes nennt Kratinos einen Artemon, über den bereits Anakreon gespottet hatte und der seitdem als übler Geselle sprichwörtlich bekannt war. Nach Anakreon F 82 war dem Artemon Haupthaar und Bart ausgerupft worden (K6µ1')vxroyrovci-r' eKTETLA.µi::vo~), ganz offenbar wegen moicheid 8. Die Strafe sollte den Übeltäter durch Entstellung entehren, seine Untat jedem, der ihm auf der Straße begegnete, sichtbar machen. Deswegen wurde der Ehebrecher an einer solchen 39 Körperstelle malträtiert, die er nicht verdecken konnte . Dies ist ein auch für die Rüge

34

35

36

37 38 39

So Latte, Strafrecht II 156; ders., Moicheia 2447; 2449; Gardner, Male Anxiety 51; Karabelias, Peine l 14f. mit Anm. 276. Weitere Angaben bei Cohen, Aristophanes 385. Cohen, Aristophanes 387: ,,lt may have occured once in a scandalous case, it may have never happened at all, or it may indeed have been common practice; my point is simply that we are not in a position to draw any other inferences from the available evidence. Adulterers were taken in the act and ransomed, they were sometimes mistreated by outraged husbands, this much we know, but as to what ,commonly' happened or what the ,favorite' practices were, we are, unfortunately, utterly ignorant". Vgl. auch kurz Cohen, Law 116 Amn. 56. Aristoph. Ach. 849f.: KQu-rivoi; covet;.

351

D. Rügebräuche und Schandstmfen 94

ders solche Personen stechen, die geschlechtlichen Verkehr gehabt hatten . In einer seiner Quaestiones natura/es geht Plutarch dieser volkstümlichen Vorstellung unter der Frage: ,,Warum stechen Bienen eher diejenigen, die vorher Unzucht begangen hatten" nach. Bienen reagierten danach nicht nur auf geschlechtlichen Verkehr überhaupt, sondern vor allem auf unsittlichen Verkehr. Da Bienen aufgrund ihrer Reinheit und ihres feinen Geruchssinns umeinen Geschlechtsverkehr wahrnehmen könnten, wäre ihre Abneigung größer und sie würden daher gerade solche Personen angreifen 95 . Da die Ehrenstrafe vor dem Amtsgebäude vollstreckt wurde, ist auch in diesem Fall davon auszugehen, daß der, der die Sittlichkeit der Frauen verletzte, in einem regulären Verfahren verurteilt bzw. durch Apagoge zur Agora geführt worden war und die Strafe von Amtspersonen vollzogen wurde. Schließlich erfahren wir aus einem dem Aischines zugeschriebenen Brief, daß in manchen Poleis Personen, die die Sittlichkeit qer Frauen schändeten (in diesem Fall eine Parthenos während der Hochzeitsfeierlichkeiten in 96 Troia), auf das Rad gebunden wurden . Angesichts dieser für Athen und andere Städte zu rekonstruierenden Verfahren sind auch die für Gortyn überlieferten Strafen neu zu bewerten. In Gortyn konnte der ergriffene Ehebrecher zu einem Archonten geführt werden, der ihn mit Wolle bekränzte und mit einer Geldstrafe belegte. Ich halte es nicht für gerechtfertigt, dieses durch Aelian bezeugte Verfahren als verworren überlieferte Anekdote abzutun. In der Regel wird den inschriftlichen Bestimmungen der Vorzug gegeben und die bei Aelian überlieferte Strafe als frühere oder spätere Praxis erklärt. Im inschriftlich erhaltenen Recht von Goi-tyn war festgelegt: Wenn ein Mann beim Ehebruch mit einer freien Frau im Haus ihres Vaters, ihres Bruders oder ihres Ehemannes ergriffen worden war, hatte er 100 Statere zu bezahlen, wenn er im Haus einer anderen Person ergriffen worden war, 50 Staterc. Niedriger waren die Strafen bei apetairoi. Wurde der Ehebrecher, der fünf Tage den Verwandten zur Auslösung angeboten werden mußte, nicht ausgelöst, konnte der, der ihn ergriffen hatte, nach Belieben verfahren 97 . In der Regel werden die in Kolumne II Z. 20-45 genannten Bestimmungen als die Gesetze Gortyns zum Ehebruch angesehen, neben denen es weitere nicht gab. Demnach wäre eine Tötung des bei der Tat ergriffenen Ehebrechers in Gortyn erst dann gestattet, wenn man den Ergriffenen fünf Tage den Verwandten angeboten hatte und diese ihn nicht ausgelöst hatten. Die Buße konnte 94

9 '

96

97

Colum. IX 14,3; Gcopon. XV 2,15; vgl. Pind. F 252 Snell; Theokr. Id. I 105. - Abscheu der Bienen vor üblem Geruch und Gestank: Ael. nat. I 58; Aristot. hist. an. VIII (IX) 40, 626a 25-29; Plin. NH XI 8 (18); 19 (61); 24 (72); Varro rust. III 16. Magerstedt, Bienenzucht 42; 51 Das Übergießen der Täter mit Honig und Milch dürfte aus dem Opferkult übertragen sein; denn die Opfertiere wurden mit Milch, Wein und Honig begossen (ebd. 94). Plut quaest. nat. 36 (Mor. 919 E): Cur apes citius pungunt qui stuprum dudum fecerunt?; vgl. Plut. coniug. praec. 44 (Mor. 144 D). [ Aischin.] ep. X 7. Zum Rad als Instrument der Strafe, die der Hinrichtung vorausging, Roos, Rad 88. ICret IV 72 eo!. II 20-45. Kohler/Ziebarth, Stadtrecht von Gortyn 77f., erklären die Abstufung in der Höhe der Bußen damit, daß der Ehebruch im eigenen Haus zugleich eine Beschimpfung der Hausgötter war. Wahrscheinlicher aber ist, daß die verletzte Ehre des Vaters, Bruders oder Ehemannes größer war, wenn die Tat im eigenen Haus geschehen war. ·

352

IV. Rügebräuche und Schandstrafenim archaischenund klassischenGriechenland

nicht frei vereinbart werden, sondern war gesetzlich festgelegt. Der Gesetzgeber hatte 98 also die Eigenmacht des Betroffenen gegenüber dem Täter erheblich eingeschränkt . In der Poikile historia Aelians ist die Verfahrenweise gegen den Ehebrecher in Gortyn in zwei Versionen überliefert. Nach XII 12 wurde der ertappte Ehebrecher den Amtsträgern übergeben. War er des Vergehens überführt, bekränzte man ihn mit Wolle, als Zeichen unmännlichen und verweichlichten Verhaltens und als Frauenheld. Außerdem wurde von ihm eine Strafe von bis zu 50 Stateren gefordert, die er in die öffent99 liche Kasse zu zahlen hatte, und er verlor alle Ehren und bürgerlichen Rechte . Nach einer anderen, davon leicht abweichenden Version in XIV 46a wurde er nach Vollzug der Schandstrafe öffentlich zum Kauf angeboten; er war damit vollkommen ehrlos und 100 hatte keinen Anteil mehr an den gemeinsamen Angelegenheiten . Rudolf Hercher hatte in seiner Ausgabe des Textes dem Paragraphen XIV 46a den Vorzug gegeben und diesen an die Stelle von XII 12 gesetzt. Kurt Latte, der nur diese zweite Version kannte, sah in dem Text Unstimmigkeiten, die vielleicht auf einem völlig verworrenen Exzerpt beruhten und durch Stilisierungen Aelians noch verstärkt wurden. Eine radikale Skepsis sei bei so vielen Anstößen vorzuziehen. Latte gründete seine Bedenken vor allem darauf, daß es keinen Sinn gebe hervorzuheben, daß ein öffentlich Verkaufter ehrlos und von den bürgerlichen Rechten ausgeschlossen sei. Außerdem stehe die Angabe in Widerspruch zum Recht von Gortyn, nach dessen Bestimmungen der ergriffene Ehebrecher Bußgelder unterschiedlicher Höhe je nach Schwere der Tat und sozialem Stand zu zahlen verpflichtet war. Wenn man die Angaben Aelians halten wolle, müsse es wegen der Mitwirkung des Beamten und des Wegfalls der Gefangenschaft im Haus des Ehe1 mannes bzw. des Vaters eine jüngere Regelung sein 1° . Kohler und Ziebarth hielten in ihrem Kommentar die von Aelian wiedergegebene Bestimmung hingegen für älter als 102 das Recht von Gortyn . Mit der Edition von Mervin R. Dilts ist eine neue Grundlage geschaffen; er beließ die Version von XII 12 an seinem Platz, die gegenüber der Version in XIV 46a vorzuziehen ist. Der in XII 12 gegebene Text läßt sich sinnvoll sowohl mit dem Recht von Gortyn 98

99

100

'°1

102

So Cole, Sexual Assault 108-110. - Ähnlich Latte, Moicheia 2446f., und Kohler/Ziebarth, Stadtrecht von Gortyn 77. Ael. var. XII 12: Ö't'LEVKQT]Tflev foQ't\J\lll µmxos (l/1,0US ijyno t:n:i-rus iiQxas Kai Ev e:rcrnµ(otKaµcpLcrßTJTOUVToov ö' oi.rrn-ro1'.rroov oü-r' iiHou -rmvYELT6voov o-i>öcv6c;); vgl. 4. Demosth. LV 17f.; 2lf. Vielleicht waren auch die Zeugen in LV 12; 14 und 27 Nachbarn. ICret IV 81 Z. 2-3: -rov 6µ6gov twfo ol btcivKLcr-ra. Jtc:Jta.µtvm.Im weiteren Text entfiel die Präzisierung (Z. 18-20: cruvcKcroµ6cra.ßßm Tov6µ6[QOV-röv)twfo -rgüvc;;vgl. Z. 22f.). Vgl. zu ähnlichen Regelungen u. S. 430f.

416

V Zwischenbäuerlicher und bürgerlicherGesellschaft

Gruppe von „Angrenzenden" bilden, die für den Eid auf eine kleinere Gruppe von tatsächlich Angrenzenden eingeengt wird. Aus einem Bedürfnis einer rechtlich präzisen Regelung ist offenbar der umfassendere Begriff öµoeot von der Nachbarschaftsgruppe auf die unmittelbareren Nachbarn eingeengt worden. Die Formulierung würde damit auf ein Übergangsstadium hindeuten. Auch wenn mit dem Begriff ,Nachbarn' eine größere Gruppe bis hin zu einem mit dem Demos weitgehend identischen Kreis bezeichnet werden kann, so gibt es im 5. und 4. Jahrhundert auch eindeutige Zeugnisse für yd-rcov als unmittelbaren Hausnachbarn. In den Wespen des Aristophanes bittet der eingeschlossene Philokleon, der als Geschworener zum Gericht eilen will, in seiner Bedrängnis den Heros Lykos um Hilfe. Der yehcov i,ecoc; solle ihn, den Nachbarn, als einen der hinter den Schranken urteilenden Richter aus den Händen des Sohnes befreien 24. Der Heros Lykos ist ein ,Nachbar' der Geschworenen, denn am Gericht stand seine Statue. Lykos ist quasi einer der Geschworenen und erhielt von ihnen eine Spende in Höhe des Richtersolds 25. Nun sollte er Philokleon seine nachbarliche Solidarität beweisen. Analog zum Hilferuf des Philokleon an den Heros Lykon beginnt Bdelykleon das in seinem Hause inszenierte Gericht mit 26 einem Gebet an den öfo:n:o-r' ävas yei:TOV'Ayue'Ü Touµoü :n:eolh'.leou:n:eo:n:uAate . Die Säule des Apollon Agyieus wird vor dem Haus gestanden haben; er war also tatsächlich unmittelbarer Nachbar des Philokleon. In der 17. Rede des Lysias bezeugen (wahrscheinlich unmittelbar angrenzende) Grundstücksnachbarn (-roü Kucuwoi: Tm)? yd-rovac;), daß der Sprecher seit drei Jahren Anspruch auf dieses Grundstück erhebt2 . Demosthenes erwähnt säumige Schuldner, die über das Dach zu Nachbarn flüchteten, da sie fürchteten, festgenommen zu werden28. Einzelne Nachbarn, von denen man Hilfe erwartet, sind auch in Xen. Mem. II 29 2,12 und Oik. 16,4 gemeint . Schließlich ist darauf zu verweisen, daß schon seit dem Ende des 5. Jahrhunderts auf Inschriften Grundstücke durch Angabe der Nachbarn genauer bezeichnet wurden, wie es z.B. auf den Listen des konfiszierten Besitzes der

24 25

26

27

28 29

Aristoph. vesp. 389 und 393: crrocrovvmi i:ov crm.rroü3'CAT]crt.6xrogov. Is. Frgt. 42,2. Aristoph. vesp. 389 mit Schol. 389a-c ed. Koster. MacDowell, Wasps 184f.; Sommerstein, Wasps. Aristoph. vesp. 875; Schal. Aristoph. vesp. 875a-d (Koster; a = Dieuchidas FgrHist 485 F 2b). Zu Apollon Agyieus als Hüter von Haus und Straße vgl. Men. Samia 309; 444. Vgl. in ähnlichem Sinn Plaut. Bacch. 170: saluto te, vicine Apollo, qui aedibuspropinquos nostris adcolis. Lys. XVII 8; zu ,:oü KLKuwot ist xrog(ou zu ergänzen. Es sind in diesem Fall also nicht die Nachbarn des Demos Kikynna, sondern die direkten Nachbarn eines umstrittenen Grundstücks in Kikynna. Osbome, Demos 18. - fd,:ow:c; als individuelle Hausnachbarn auch in Lys. Frgt. 75,3 Scheibe und 1,3 Scheibe(= 343 Thalheim). Beide Male geht es um städtisches Milieu. Demosth. XXII 53: ,:eyoc;roc;wuc; ye(wvac; im:egßa(vm. S.u. S. 426. Der ydi:rov als unmittelbarer Nachbar auch in Ion TGF I 19 F 37 Snell: a1.1.'m ßuge,:grov i:rovöe Kroµfji:m ßrnL Direkte Nachbarn scheinen auch die Zeugen zu sein, die in der Anklage gegen Leokrates aussagen, daß Leokrates im Krieg geflüchtet sei und Athen zu Schiff verlassen hat. Als Zeugen aufgeboten sind yd,:ovec; und die, die an dem Ort, wo Leokrates das Schiff bestiegen hat, ansässig sind (Lykurg. c. Leocr. 19).

V. Zwischenbäuerlicherund bürgerlicherGesellschaft

417

Dreißig Tyrannen von 402/1, im Liegenschaftsregister von Tenos oder im Verzeichnis 30 der Mitgiften aus Mykonos der Fall ist . Zeitlich nicht einzuordnen ist, wann die Anekdote über Themistokles entstanden ist, die Plutarch an mehreren Stellen seiner Werke aufgegriffen hat und die auch für Cato üb~rliefert ist: Danach ha?e Th~mistokles ein _Landgutzum Verkauf an~fboten ~d dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es emen guten Nachbarn habe . Der Smgular zeigt, daß die Anekdote von dem unmittelbaren Grundstücksnachbarn ausgeht. Darüber hinaus lassen sich Belege dafür anführen, daß sich das Begriffsfeld von yet"tcovin der klassischen Zeit ausgeweitet hat. So begegnet der Begriff seit klassischer 32 Zeit auch in der weiblichen Form yd'tova , genauso wie zum Begriff 1ecoµT]'TTJS die 33 weibliche Form 1ecoµfi'ttc;tritt . refrovec; bzw. 1ecoµfi"tatsind also nicht mehr nur die Männer, die für die dörfliche Ordnung Verantwortung tragen. Des weiteren wird der Begriff für eine Nachbarschaft von Städten gebraucht. So sind in Pindars 1. Pythischer Ode Bewohner Amyklais als Nachbarn der Tyndariden, also Spartas genannt, bei Euripides die Thraker als Nachbarn der Troianer, bei Aristophanes 34 die Boioter als yehovec; der Athener usw. . Auch diesen Gebrauch des Wortes yehcov findet man in Gerichtsreden: Von Lykurg sind die Megarer als yehovec; der Athener bezeichnet35. Vielfach wird für diese Nachbarschaft von Städten und Stämmen der spezifischere Begriff äo,:uyehcov verwandt36 • Xenophon benutzt in diesem Sinne mehrfach die Bezeichnung at xegwuO„ofrat 232 A 279 etaierov avfüvcov 338 A 31 ,; Ilt:1na1.a ''AQ't't~ 314 A 162 KA.Lµaril;tLV 391 A 282 IC'IJ(j)OlV 387 A 255, 392 A 285 1eroµi,-ru; 417 A 33 Mtyaetrov MICQ'Ua 178 A 54 Mt-raytL-mrov 158 A 2 öµotQtj; 162 A 27 ö-nxmöt 1eatywm1e[ 221 A 228 :JtOaya(a''AQTel,U~ 314 A 162 344 A. 63, 374 A. 206 391 A 282 KÄ.LµaKL~ELV 350 A 93, K'IJ(j)COVE~ 387f. A. 255/257-259, 390 A. 275, 392 A 285 417 A 33 KCOµT)'tl~ Mt:Tay EL'tv(cov 158 A 1 Meya1:,>tcov MKQva 178 A 54 µOL:it;6~ 339 A 37, 343 A. 56, 347 A 78 313 A 155 ''0µ1wo~ 'IuoµtVI]~

ön xaLbt Kat ywaLKL

221 A 228 oilTE O'UVxavco)..t{)QoLmv

452 A. 208 XEvt'EO'UQLYY(jl svÄ.q,

386 A 249 343 A. 54 386 A 247, 387 A. 251 343 A 56 Qa