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German Pages 325 [336] Year 2007
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber/Editor Jörg Frey (München) Mitherausgeber/Associate Editors Friedrich Avemarie (Marburg) Judith Gundry-Volf (New Haven, CT) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL)
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Wolfgang Speyer
Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld Kleine Schriften III herausgegeben von Veronika Coroleu Oberparleiter
Mohr Siebeck
Wolfgang Speyer, geb. 1933; Studium der Klass. Philologie, Alten Geschichte und Philosophie sowie Katholischen Theologie in Köln und Bonn; Promotion Köln 1959; Habilitation Salzburg 1972; wissenschaftlicher Mitarbeiter am F.J. Dölger-Institut zur Erforschung der Spätantike, Universität Bonn 1963–1975; ao. Univ. Prof. 1976; o. Univ. Prof. 1987.
e-ISBN PDF 978-3-16-151502-6 ISBN 978-3-16-149264-8 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2007 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Times-Antiqua gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Der Erneuerung Europas aus dem Geist von Antike und Christentum gewidmet
Vorwort In einer Zeit der geistigen Abbrüche, aber auch der Aufbrüche zu noch neuen unbekannten Ufern, in einer Zeit, die die Visionen der Antike von der einen Menschheit und des Christentums von dem einen neuen Volk Gottes auf dieser Erde in eine andere Sprache, die teils noch gefunden werden muss, zu übersetzen sich anschickt, ist es notwendig, die kulturellen Wurzeln Europas gegenwärtig zu halten. Nur so können wir erkennen, wo wir heute seelisch und geistig angelangt sind und welche Inhalte der Vergangenheit für die Zukunft tragfähig sind oder geradezu wieder entdeckt werden müssen. Dabei haben wir nicht nur die Vergangenheit zu befragen, sondern müssen uns auch von ihr befragen lassen. Aus diesem Dialog zwischen den Zeitepochen und Kulturen können wertvolle Impulse für die Zukunft gewonnen werden. Dieser großen Aufgabe dienten zu ihrem bescheidenen Teil die beiden Bände ‚Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld‘, die dankenswerter Weise 1989 und 1999 im Verlag J. C. B. Mohr / Paul Siebeck erscheinen konnten. Nunmehr folgt der dritte Band. Dass diese dritte Aufsatzsammlung, die teils bereits Erschienenes in überarbeiteter Form, teils Unveröffentlichtes bietet, heute vorgelegt werden kann, verdanke ich dem Herrn Verleger Dr. Georg Siebeck, sodann den Herausgebern der Reihe ‚Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament‘, den Herren Professoren Martin Hengel, Tübingen, und Jörg Frey, München. Frau Univ.-Ass. Dr. Veronika Coroleu Oberparleiter, die sich um meine Arbeiten seit dem zweiten Band dieser Studien verdient gemacht und nunmehr die Herausgabe dieses dritten Bandes übernommen hat, gilt besonders mein von Herzen kommender Dank. Ferner möchte ich Frau Brigitta Bichler für die technische Ausarbeitung der Druckvorlagen freundlich danken. Ferner habe ich der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg für einen Druckkostenzuschuß zu danken. Schließlich ist der Verlag, vertreten durch seinen Cheflektor Dr. Hennig Ziebritzki, nicht zu vergessen; für die gute Zusammenarbeit sei herzlich gedankt! Salzburg, am Fest des Hl. Benedikt, des Patrons Europas, 2006
Wolfgang Speyer
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
2. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens . . . . .
35
3. Der Gott des Universums und die Vierheit . . . . . . . . . . . . . .
47
4. Gewalt und Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
5. Die Offenbarungsübermittlung und ihre Formen als mythische und geschichtliche Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
6. Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes . . . . . . . . . .
89
7. Zu den antiken Mysterienkulten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103
8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum . . . . . . . . . . . .
121
9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum . . . . . . . . . . . . .
137
10. Die Stadt als Inbegriff der menschlichen Kultur in Realität und Symbolik der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen . .
183
13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens . . . . . . . . . . .
201
14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker .
215
15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
16. Der christliche Heilige der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
17. Das Leben im Garten Eden nach Dracontius . . . . . . . . . . . . .
271
X
Inhaltsverzeichnis
18. Zum antiken Hintergrund der Ikone . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Bibliographische Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
291
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer . . . . . . . . . . .
293
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
Einleitung I. Zu den Gemeinsamkeiten von Antike und Christentum Der hier vorgelegte dritte Band, mit dem selben Titel wie der erste, 1989 erschienene, und der zweite, 1999 herausgekommene Band, führt meine Studien auf dem Gebiet der Aus- und Ineinandersetzung von Antike und Christentum weiter1. In der Einleitung zur vorliegenden Aufsatzsammlung möchte ich nachdrücklicher, als dies in den Einleitungen der ersten beiden Bände geschehen ist, auf das Gemeinsame von Antike und Christentum eingehen. Der Grund für die Betonung gerade dieses Blickpunktes liegt in der Sache selbst, der Anlass aber in der heutigen Lage der Menschen: Einerseits schicken sich Europa und Nordamerika an, den erstmals von den Kynikern und Stoikern entdeckten und von ihnen bereits formulierten Gedanken der einen Menschheit Wirklichkeit werden zu lassen; andererseits haben heute viele Menschen der westlichen Welt die religiöse Dimension, die in der menschlichen Natur grundgelegt ist, vergessen oder zumindest in sich verdunkelt. Zwei Zugänge stehen uns zur gesamten Überlieferung des menschlichen Geistes, seiner Seele und seines Verstandes, seines Gemütes und seines Willens von der ältesten Zeit bis heute offen: der geschichtliche Zugang mit Hilfe der philologisch-historischen Methode und der systematische, wie ihn die aus der Mythologie und Theologie der frühgriechischen Denker entfaltete Philosophie der Griechen und ihrer Erben gefunden hat. In diesen systematischen Zugang sind auch die Ergebnisse der Völker- und der Individualpsychologie einzubringen, die seit dem 19. Jahrhundert die nunmehr selbständig betriebene Psychologie, zuvor Teil der Philosophie, gefunden hat. Eine Verbindung der geschichtlichen und der systematischen Sichtweise müsste die bereits von Carl Otfried Müller (1797–1840) in den Blick gebrachte „Geschichte des menschlichen Geistes“ vornehmen 2 ; denn das bisher über die einzelnen Völker und Kulturen Erforschte weist über das rein Historische hinaus. Alles 1 Vgl. auch meine ‚Religionsgeschichtliche Studien‘ = Collectanea 15 (Hildesheim, Zürich, New York 1995). 2 Zu C. O. Müller R. Pfeiffer, Die Klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen (München 1982) 228–230; G. Pflug, Methodik und Hermeneutik bei Karl Otfried Müller: H. Flashar / K. Gründer / A. Horstmann (Hrsg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert (Göttingen 1979) 122–140.
2
Einleitung
Konkrete in Natur- und Geisteswelt zeugt von einem ihm voraus- und zugrunde liegenden gestalthaft Geistigen 3 . Dieses gestalthafte Geistige aber besitzt ähnlich wie die Organismen eine Geschichte. Insofern ist alle philosophische und historische Forschung, die für einzelne Kulturen oder Kulturerscheinungen, wie für das Christentum, geleistet wurde, ein Baustein für die „Geschichte des menschlichen Geistes“, des menschlichen Bewusstseins oder – wie wohl angemessener zu sagen wäre – der menschlichen Geist-Seele. Was Platon mit Idee, ePdo:, Goethe mit Urphänomen oder Urgestalt, C. G. Jung mit Archetypus bezeichnet und angezielt haben, steht für jene Wurzeln, aus denen die Konkretisierungen in den einzelnen Religionen und Kulturen entstanden sind, die dann ihrerseits in ihrer realen Existenz auf andere, spätere Kulturen eingewirkt haben. Wir haben so zwischen zwei Wirklichkeitsebenen zu unterscheiden, die den zuvor genannten zwei Zugängen zu unserer Überlieferung in Vergangenheit und Gegenwart entsprechen: der Wirklichkeitsebene der zeitlosen Inbilder der Geist-Seele und andererseits ihrer geschichtlichen Ausformungen in der jeweiligen Konkretheit von geographischem Raum und geschichtlicher Zeit des einzelnen Stammes, Volkes, der einzelnen Religion und Kultur und der einzelnen kulturschöpferischen Menschen. Auf die Dimension der zeitlosen Inbilder in der Geist-Seele weist in der Überlieferung der Völker und Religionen zunächst die überall vorfi ndbare Vorstellung einer oder vieler göttliche Mächte hin, die sich dem Menschen in der sinnenhaft vermittelten Wirklichkeit zeigen, sich in ihr offenbaren4 . In diesen Vorstellungen vom Göttlichen, mögen sie noch so unvollkommen und rudimentär sein, zeigt sich letztlich die im Menschen allmählich ihrer selbst bewusst gewordene Gottesverwandtschaft 5 . Aus ihr folgen die den Menschen und seine Kultur tragenden Inbilder, die deshalb religiös-mythisch geprägt sind. Wie sich beim Menschen Traum- und Wachzustand unterscheiden, ähnlich unterscheiden sich die Inbilder und ihre jeweiligen geschichtlichen Konkretisierungen. Aufgrund der Menschheitsüberlieferung können wir erkennen,
3 Zur Morphologie W. Strube / W. Metzger, Art. Gestalt: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974) 540–548. 4 Vgl. Plat. re publ. 508; Manil. 2,115 f.: quis caelum posset nisi caeli munere nosse, / et reperire deum, nisi qui pars ipse deorum est?; Plotin enn. 1,6,9 (1,117 Henry / Schwyzer) und danach Goethe, Zahme Xenien 3,33 (1823): „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt es nie erblicken, / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“; vgl. M. Schanz / C. Hosius, Geschichte der römischen Literatur 2 = Handbuch der Altertumswissenschaft 8, 2 (München 1935, Ndr. ebd. 1959) 444 Anm. 2. 5 Vgl. H. Merki, Art. Ebenbildlichkeit: RAC 4 (1959) 459–479, wo nicht auf die Verkündigung Jesu eingegangen wird, obwohl diese auf der Voraussetzung der Gottesverwandtschaft des Menschen und damit der Ebenbildlichkeit beruht; O. Lorentz (Hrsg.), Die Gottebenbildlichkeit des Menschen (München 1967); L. Scheffcyk (Hrsg.), Der Mensch als Bild Gottes = Wege der Forschung 124 (Darmstadt 1969).
I. Zu den Gemeinsamkeiten von Antike und Christentum
3
dass das geschichtliche Auffassen der Wirklichkeit innerhalb der Entfaltung der menschlichen Geist-Seele sehr jung ist. Wir haben nämlich drei Zeitalter zu unterscheiden: das mythische, in dem der Mensch am längsten gelebt hat und in dem ihn annähernde Zeitlosigkeit wie auch Raumlosigkeit, also Geschichtslosigkeit, umfasst hielten, sodann das Zeitalter eines Überganges von der Aperspektive zur Perspektive, das myth-historische Zeitalter, und als bisher letztes und kürzestes Zeitalter die geschichtliche Epoche6 . Die geschichtliche Periode zeichnet sich durch eine wachsende Dynamik der Kulturveränderung aus. Diese nimmt seit der Französischen Revolution (1789–1799) merklich zu. Die beiden letzten Jahrhunderte haben zu dieser Beschleunigung mit ihren zahlreichen Erfi ndungen und der fast alle Lebensbereiche bestimmenden Technik, die auf dem Prinzip des Fortschritts beruht, das Meiste beigetragen7. Diesen Prozess, der heute die gesamte Menschheit erfasst, hat die europäische Kultur mit ihrer nordamerikanischen Tochterkultur ausgelöst und auch zu verantworten. Zu den Irrtümern dieser neueren Zeit gehört die Auffassung, der Mensch könne und solle sozusagen von einem Punkt Null beginnen, indem er alles Vergangene, Alte hinter sich lasse und eine Zukunft entwerfe, die gänzlich neu und unerhört sei. Vor allem haben moderne Künstler diesen Irrtum zu verbreiten gesucht, nicht zuletzt infolge des Verlustes an Erfahrung der Dimension des Göttlichen und Heiligen8 . Tatsächlich steht aber alles Tragende und Bedeutungsvolle sowohl in der sinnenhaft zugänglichen Wirklichkeit des Außen als auch in der geistig-seelischen Innenwelt des Menschen außerhalb und über der Zeit. In diesem Sinn gilt der bekannte Satz des alttestamentlichen ‚Predigers‘: „Und geschieht nichts Neues unter der Sonne“9. Er versteht unter Neuem nicht die menschlichen Kopien des einmal von Gott Geschaffenen und Vorgedachten, wie sie sich in Kultur und Zivilisation zeigen. Dem auf der Erde erst spät erscheinenden Menschen fehlen für das genuin Schöpferische, für das Schöpfertum im Sinne der göttlichen Schöpfung die Voraussetzungen; denn er ist und bleibt Geschöpf. Sein Schöpfersein ist immer nur verliehenes Schöpfertum und damit Geschenk oder Gnade Gottes. Dafür zeugen beispielsweise Selbstaussagen der Dichter und Künstler von Homer bis in das 20. Jahrhundert10 . 6 Vgl. auch Varro bei Censorin. de die nat. 21,1, der von tempus adelon, mythicon und historicon spricht, und u. S. 122. 205 Anm. 9. 7 M. Heidegger, Die Frage nach der Technik: Ders., Vorträge und Aufsätze 1 (Pfullingen 1954, Ndr. 1967) 5–36. 8 R. Ederer, Die Grenzen der Kunst. Eine kritische Analyse der Moderne, Vorwort von Rupert Riedl (Wien, Graz, Köln 1982). 9 Ecclesiastes 1, 9; vgl. F. Schiller, An die Freunde, letzte Strophe: „Neues – hat die Sonne nie gesehn“. 10 Vgl. W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 〈 1〉 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) 100–139; B. Allemann (Hrsg.),
4
Einleitung
Die Zeitüberhobenheit der aus dem Göttlichen stammenden Inbilder der Seele zeigt sich darin, dass diese Inbilder mehr oder weniger deutlich in allen Kulturen begegnen. Sie gehören zum Wesen der menschlichen Geist-Seele, die über die Vorstellung von Zeit, Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit nur verfügen kann, weil sie selbst nicht zeitlich, nicht geschichtlich, nicht vergänglich ist; denn sie hat Anteil an der Ewigkeitsdimension des Göttlichen. Entsprechendes gilt auch für ihre prinzipielle Unräumlichkeit. Die Inbilder der Seele, die nicht nachträglich konstruiert sind, sondern in der Schöpfungswirklichkeit grundgelegt sind, zeigen sich in jedem Menschen, wobei sie in ihm nach Ausdruck, nach Konkretisierung drängen. Jenseits oder auch diesseits der drei Zeitstufen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegt die eigentliche, die wesenhafte Wirklichkeit, in der alles Geschichtliche, alles bloß Faktische, alles sinnenhaft Wahrnehmbare des Konkreten wurzelt. Für denjenigen, der die wahre Wirklichkeit in der Erscheinungen Flucht erfassen möchte, kommt es darauf an, in der Vielzahl der immer neuen Vergegenwärtigungen in der raum-zeitlichen Realität die bestimmenden ewigen Gestalten und damit das Bleibende zu erfassen. In diesem Sinn dichtete Friedrich Schiller die Verse, die sein Gedicht ‚An die Freunde‘ beschließen: „Alles wiederholt sich nur im Leben, Ewig jung ist nur die Phantasie: Was sich nie und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nie!“11. In dieser Aussage berühren wir die mythische oder göttliche Dimension, an der die Träger der antiken Religionen ebenso teilhaben wie die alten Israeliten und ihre Erben, die Christen. Deshalb ist es bei aller notwendigen Forschung über das gegenseitige Verhältnis von Antike und Christentum in Parallele, Abhängigkeit, Beeinflussung, Umwandlung und ‚rechtem Gebrauch‘12 , in bewusst oder unbewusst Aufgenommenem und Zurückgewiesenem sowie in der Apologetik notwendig, auch auf das aller Geschichtlichkeit voraus- und
Ars poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik 2 (Darmstadt 1971) Reg.: ‚Inspiration‘; ferner vgl. O. Kankeleit, Das Unbewusste als Keimstätte des Schöpferischen. Selbst-Zeugnisse von Gelehrten, Dichtern und Künstlern. Mit einem Geleitwort von C. G. Jung (Basel 1959); ferner s. u. S. 75–101. 11 F. W. von Schelling schrieb in das Album des dänischen Märchendichters H. Chr. Andersen: „Was sich stets und immer hat begeben, das allein veraltet nie“ (H. Chr. Andersen, Das Märchen meines Lebens = Ausgewählte Werke 6 [Leipzig 1880]). Einen Einblick in das Wesenhafte des Mythischen eröffnet der Freund Kaiser Julians, der Neuplatoniker Sallustios. Im Zusammenhang mit dem Mythos von der ‚Großen Mutter‘ Kybele und ihrem Geliebten Attis bemerkt er (de dis et mundo 4,9 [8 Rochefort]): „Die berichteten mythischen Ereignisse geschahen niemals, aber sie sind immer. Die Vernunft, Nus, sieht alles zugleich, der Verstand, Logos, aber sagt zunächst das Erste, dann das Zweite“. 12 Vgl. Ch. Gnilka, CRHSIS. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur 1. 2 (Basel 1984 / 93).
I. Zu den Gemeinsamkeiten von Antike und Christentum
5
zugrundeliegende Mythische oder Archetypische und damit zugleich auch das Gemeinsame beider Religions- und Kulturformen zu achten. Diese hier herausgestellte Sichtweise fühlt sich ebenso Platons Wiedererinnerungs- und Ideenvorstellung wie Goethes Überzeugung einer Antizipation verpfl ichtet13 . Wenn der Mensch infolge von Vater- und Mutterschaft, von Zeugung und Empfängnis sowie Geburt in die Welt eintritt, ist er kein unbeschriebenes Blatt, keine tabula rasa im Sinne von John Locke, sondern er bringt bereits alles für die Kultur Gründend-Notwendige mit, d. h. er ist keine Größe eigenen Rechts, sondern in den Grundgegebenheiten seiner Geist-Seele vorgedacht14 . Darauf beruht auch der innere Zusammenhang zwischen den Religionen und Kulturen sowie die grundsätzliche Verstehbarkeit der geistigen Erscheinungen durch die räumlich und zeitlich entfernten Deuter und Erklärer der Geschichte. Tatsächlich gibt es eine Ursprache aller Religionen als den Quellgrund aller übrigen und späteren Äußerungen einer Kultur. Jede archetypische Vorstellung besitzt ihre Geschichte, ist aber nicht ihre Geschichte. Sie zu schreiben, sie zu lesen ist erhellend, doch erhellender ist die Erkenntnis, die Schau des jeweiligen ewigen Inbildes. Im Folgenden können dafür in diesem Rahmen nur einige Beispiele und diese nur in Andeutungen vorgelegt werden15 . Auszugehen ist von der zuvor skizzierten Gottebenbildlichkeit des Menschen. In unserer Wirklichkeit begegnen zahlreiche Grundgegebenheiten, die in der geistig-seelischen und damit in der menschlich-göttlichen Dimension wurzeln: So erfährt sich jeder Mensch als Kind und abhängig von Vater und Mutter. Den Vater erlebt er als Priester, Arzt, Lehrer, Gesetzgeber und Richter. Diese aus dem Wesen des Menschen folgenden Seinsweisen und Aufgabenbereiche sind archetypisch geprägt, d. h. sie wurzeln im Sein Gottes, der sie in sich vereint und vollkommen ausprägt. Neben dem Archetypus des Vaters, des Väterlichen, steht der der Mutter, des Mütterlichen. Der weiblich-mütterliche Archetypus verfügt in besonderer Weise über die Ambivalenz von Leben und Tod. Er bestimmt den Inhalt der mediterranen Religionen in erheblichem Ausmaße. Wir können seine Geschichte von Babylon bis Fatima und darüber hinaus übersehen: Dies ist die Geschichte der ‚Großen Mutter‘, deren Wesen die jungfräuliche Gottesgebärerin Maria, wenn auch in einem grundsätzlich veränderten religiösen 13
F. Strich, Kunst und Leben (Bern, München 1960) 59–76, bes. 63, 68, 73. Vgl. F. von Baaders Satz: cogitor, ergo cogitans sum: Sämtliche Werke, hrsg. von F. Hoffmann u. a., 16 Bände (Leipzig 1851/60): Bd. 12, 325; 8, 338–340; dazu S. Peetz, Die Wiederkehr im Unterschied. Ernst von Lasaulx = Symposion 87 (Freiburg, München 1989) 141 f. 15 Weiteres bieten als Ausgangspunkt einer derartigen Betrachtung H. Günter, Buddha in der abendländische Legende? (Leipzig 1922) 133–181; dazu H. Haas, Buddha in der abendländischen Legende? (Leipzig 1923) 15 f.; H. Günter, Psychologie der Legende (Freiburg 1949); M. van Vytfanghe, Art. Biographie II (spirituelle): RAC Suppl. 1 (2001) 1340. 1345–1349: ‚Themen, Motive und Archetypen‘. 14
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Einleitung
Kontext und deshalb nur bis zu einem gewissen Grade, spiegelt16 . Was Maria betrifft, so ist für ihre Verehrung die Volksfrömmigkeit eine aussagekräftigere Zeugin als die Lehre der Kirche. Dieser Archetypus der ‚Großen Mutter‘, der ein Inbild jeder menschlichen Seele ist, hat zugleich auch auf das Bild der Kirche eingewirkt und bis hin zum Kirchengebäude so vor allem als dem Symbol des Bergend-Mütterlichen ausgestrahlt. Der sich dauernd neu ereignende Gegensatz von Leben und Tod, von Tag und Nacht, von Sommer und Winter weist zurück auf den immer neu auszutragenden Kampf zwischen Licht und Finsternis, Gut und Böse. Der Held als Inbild des Männlichen hat diesen Kampf nach dem Vorbild des Gottes stets aufs Neue zu bestehen. Insofern gibt es innere Gemeinsamkeiten zwischen griechischen Heroen, wie Herakles, Orpheus, Jason, Perseus, Theseus, und Jesus Christus sowie bestimmten Heiligen, vor allem Märtyrern und Asketen, die gegen die Dämonen der Finsternis gestritten haben. In diesen Zusammenhang gehört auch der heilige Drachentöter vom Erzengel Michael bis zum hl. Theodor von Euchaïta und dem hl. Georg17. Gemeinsamer Besitz der Religionen der Völker und damit auch der antiken Religionen ist die Vorstellung vom numinosen oder heiligen Menschen und von seinen zahlreichen typologischen Ausformungen, wie dem Dichter-Propheten, dem alten Weisen, dem Seher-Arzt und Wundertäter, dem heiligen Gesetzgeber und Priester-König oder dem heiligen Asketen18 . Auch die den heiligen Menschen auszeichnenden Kräfte vom Offenbarungsempfang bis hin zu den parapsychologischen Begleiterscheinungen finden sich in diesem der gesamten Menschheit gehörenden Schatz19. Ähnliches gilt für die heiligen Orte und die heiligen Zeiten sowie für das Fest und den Festkalender20 . Ein anderes Beispiel ist die der menschlichen Gestalt innewohnende Kreuzesform, das Kreuz, mit der Symbolik der ‚Vierheit‘21 und der Ambiva16 Vgl. Th. Klauser, Art. Gottesgebärerin: RAC 11 (1981) 1071–1103; E. Stauffer, Madonnenreligion: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) 2, 17, 3 (Berlin 1984) 1425–1499. Taf. 1–26; W. Fauth, Art. Himmelskönigin: RAC 15 (1991) 220–233. – Ferner vgl. E. Roellenbleck, Magna Mater im Alten Testament (Darmstadt 1949, Ndr. ebd. 1974) 9–12; E. Neumann, Die große Mutter (Düsseldorf 1957). 17 H. Günter, Die christliche Legende des Abendlandes (Heidelberg 1910) Reg. s.v. Drachen; R. Merkelbach, Art. Drache: RAC 4 (1959) 226–250. – Ferner vgl. J. Fontenrose, Python, a study of Delphic myth and its origins (Los Angeles 1959, Ndr. New York 1974); J. Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, deutsche Übersetzung (Frankfurt, M. 1953, Ndr. ebd. 1978). 18 Dazu s. u. S. 259–269. 19 Dazu s. u. S. 75–88. 20 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 〈 1〉 (Tübingen 1989) Reg.: ‚Ort, heiliger‘; ‚Zeiten, heilige‘. 21 Dazu s. u. S. 47–59. Wie die Vierzahl besitzen die Dreizahl und die aus ihnen bestehende Sieben- und Zwölfzahl eine symbolische Kraft, die Antikes und Christliches miteinander bindet (vgl. R. Mehrlein, Art. Drei: RAC 4 [1959] 269–310).
I. Zu den Gemeinsamkeiten von Antike und Christentum
7
lenz von Todes- und Lebenszeichen, von Todesholz und Lebensbaum, wie es christliche Texte im Blick auf den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen inmitten des Gartens Eden vom Kreuzesholz aussprechen 22 . Die Wirkkraft des Kreuzes als des Lebensbaumes, die gemäß dem allumfassenden Heilswillen Gottes bereits bei Jesus Christus über die Wirkkraft des Todesholzes gesiegt hat und am Ende der Zeiten allen sichtbar siegen wird, verbindet es mit dem Völkergedanken oder Archetypus des Lebensbaumes. Verwandt mit diesem Urgedanken sind die Vorstellungen der Weltsäule und des Weltenberges23 . Die besondere Aussage- und Anziehungskraft vieler Texte des Evangeliums kommt eben daher, dass sie an eine archetypische Vorstellung anknüpfen, wie die des ‚einen‘ oder ‚des‘ Berges. Daher rühren die die Phantasie anregende Einprägsamkeit und die Kraft jener sich äußerlich nur geschichtlich gebenden Mitteilungen über die Versuchungen Jesu, über seine Verklärung und Himmelfahrt. Jeder der in diesen Berichten erwähnten Berge nimmt an dem Inbild des mythischen Weltenberges teil. Deutlich tritt dies in der Versuchungsgeschichte zu Tage: Der Teufel führte Jesus auf einen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Erde24 . Dieser Berg ist kein geographischer Ort und deshalb auch nicht lokalisierbar: Er ist der mythische Weltenberg 25 . Ein anderes Beispiel ist die Vorstellung vom Göttlichen Kind, wie es beispielsweise die vierte Ekloge Vergils und die Kindheitsgeschichten bei Matthaeus und Lukas ausprägen 26 . Die gedankliche Verbindung, ja Einheit von verlorenem und wiederzubringendem Zustand des Paradieses, von Frühling in Gestalt des Anfangs der Welt und vom Erlöser-Kind ist nachvollziehbar27. Mit dem Inbild des göttlichen Erlöser-Kindes berührt sich der Völkergedanke vom Paradies und der Goldenen Zeit als einem mythisch-übergeschichtlichen Zustand, als der Mensch noch diesseits einer Trennung von der Gottheit gelebt hat28 . 22
Gen. 2,16 f.; 3,3; vgl. W. Speyer, Art. Holz: RAC 16 (1994) 87–116, bes. 104. 110. U. Holmberg, Der Baum des Lebens = Annales Academiae Scientiarum Fennicae, Ser. B., Tom. 16 (Helsinki 1922/23); K. Erdmann / Fr. Schmidtke / Th. Klauser u. a., Art. Baum: RAC 2 (1954) 1–34; E. O. James, The tree of life, an archaeological study = Numen, Suppl. 11 (Leiden 1966); E. A. Butterworth, The tree at the navel of the earth (Berlin 1970); ferner M. Eliade, Die Religionen und das Heilige (Salzburg 1954, Ndr. Darmstadt 1976) 299–376; Speyer, Holz a.O. 109 f. 24 Mt. 4,8. 25 Th. Dombart, Der Sakralturm, 1. Teil, Zikkurrat (München 1920) Reg.: ‚Weltberg‘, ‚Götterberg‘, ‚Götterthron‘; M. Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (Zürich 1954) 255–258; ‚Der kosmische Berg‘. 26 E. Norden, Die Geburt des Kindes, Geschichte einer religiösen Idee 2 (Leipzig 1930, Ndr. Darmstadt 1969); J. Laager, Geburt und Kindheit des Gottes (Winterthur 1957). 27 Pervigilium Veneris 2 (Anth. Lat. 1,1,139 Shackleton Bailey): Ver novum, ver iam canorum; vere natus orbis est; vgl. Speyer, Studien a. O. (o. Anm. 1) 163–171. 194 f. 28 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = WUNT 116 (Tübingen 1999) Reg.: ‚Goldenes Zeitalter‘ und u. Reg. 23
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Einleitung
In Jesus Christus, nach dem christlichen Glauben dem Sieger über Tod und Hölle, treffen sich der Archetypus des Helden, des Königs29, des Priesters, des Gesetzgebers, des Heiligen, des Arztes, des Weisen sowie des Richters so, wie Jesus Christus auch in sich das Erlöser-Kind und den puer-senex ausgeprägt hat 30 . Wenn in einem der in diesen Band aufgenommenen Aufsätze die geschichtlichen Voraussetzungen für die An- und Aufnahme der christlichen Botschaft in der paganen Welt zur Sprache kommen 31, dann muss bewusst bleiben, dass eine einzige Klammer Antike und Christentum trotz aller inhaltlichen und geschichtlichen Unterschiede bindet: diese Klammer besteht in dem Schatz der Urbilder, die zum Wesen des Menschen und der Schöpfung gehören. Ähnlich wie die genannten und verwandten Urbilder sind die gleichfalls übergreifenden und allgemein menschlichen willentlich-sittlichen Entscheidungen und Haltungen zu bewerten, wie der Gedanke des Opfers, vor allem als eines Selbstopfers, und damit der Gedanke der Stellvertretung sowie der Sühne32 . Ähnlich steht es mit dem Bitt- und Dankopfer in Antike und Christentum. Entsprechendes gilt für das Gebet, das Gelübde und in abgeschwächter Form für das Pilgerwesen und den Reliquienkult. An die Erinnerung der Menschheit an ihre Herkunft aus einer höheren Welt knüpft sich der Gedanke an ein Weiterleben nach diesem raum-zeitlichen, geschichtlichen Leben und damit an ein Jenseits mit einem Totengericht. Vergangenheit und Zukunft des Menschen und der Menschheit dürften so in ihrem Wurzelgrund, dem Göttlichen, aufgehoben sein. Damit erscheinen die die Antike und das Christentum verbindenden voraus- und zugrundeliegenden Ideen oder Archetypen als Zeichen aus der göttlichen Welt und damit als die deutlichsten Spuren oder Signaturen Gottes in dieser unserer Wirklichkeit 33 . Die hier nur angedeuteten Zusammenhänge zwischen göttlichem, mythischem oder archetypischem Wurzelgrund und geschichtlicher Realität und damit auch die Gemeinsamkeiten zwischen den antiken Religionen und der jüdischen und christlichen Offenbarung blieben einzelnen Schriftstellern der Alten Kirche nicht ganz verborgen. So sprach Tertullian im Hinblick auf eine jeweils spontan geäußerte Gottesbeziehung der Menschen außerhalb des Christentums, die sich in Anrufen oder Ausrufen über Gott kundtut, das 29 P. Dworak, Gott und König (Bonn 1938); H. Kleinknecht / G. von Rad / K. G. Kuhn / K. L. Schmidt, Art. basile6: ktl.: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 1 (1933) 562–595. 30 S. o. Anm. 26. – Lc. 2,46–50; Speyer, Studien a. O. (o. Anm. 1) Reg.: puer-senex. 31 Dazu s. u. S. 233–258. 32 Speyer, Frühes Christentum 2 a. O. (o. Anm. 28) 15–49; Ders., Frühes Christentum 1 a. O. (o. Anm. 10) 154 f. 33 F. Ohly, Zur Signaturenlehre der Frühen Neuzeit (Stuttgart 1999).
II. Antike und Christentum
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denkwürdige Wort: „O testimonium animae naturaliter christianae“34 . Augustinus aber rechnete am Ende seines Lebens, als er seine ‚Retractationes‘ schrieb, mit einem Christentum vor dem Christentum, wenn er in dieser ‚Verbesserung‘ seiner Schrift ‚Über die wahre Religion‘ Folgendes ausführt: Nach einer Unterscheidung von Bezeichnung und Begriffsinhalt bemerkt er: „Der Inhalt dessen, was jetzt christliche Religion genannt wird, war bereits bei den Alten vorhanden und fehlte seit Anbeginn des Menschengeschlechtes nicht, bis dass Christus im Fleische erschien. Seit ihm begann man die wahre Religion, die bereits existierte, die christliche zu nennen. . . . Deswegen habe ich gesagt: ‚Dies ist in unserer Zeit die christliche Religion‘, nicht weil sie früher nicht vorhanden war, sondern weil sie später diesen Namen empfi ng“35 . Gewissermaßen wird dieser Gedanke durch die vom Alten Testament und der Alten Kirche anerkannten Heiligen bestätigt, die heiligen Menschen, die vor den Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob, den heiligen Königen, Propheten und ‚Gerechten‘ des alten Israel gelebt haben und die außerhalb des ‚Auserwählten Volkes‘ angetroffen wurden, wie die Patriarchen vor der Sintflut, vor allem Henoch, Noach und später Melchisedech oder die Königin von Saba 36 . In diesem Zusammenhang kommt es nicht so sehr darauf an, ob diese im Alten Testament genannten Personen tatsächlich gelebt haben oder nicht. Vielmehr soll an ihnen aufgewiesen werden, dass der Heilswille Gottes universal ist und Gott Menschen aller Zeiten und Räume zu seinen Dialogpartnern erwählt hat.
II. Antike und Christentum, das zentrale Thema des europäischen Geistes bis in das 20. Jahrhundert Wenn das ‚Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt‘, Bd. 1 ff., Stuttgart 1950 ff., seine zeitliche Grenze um 600 n. Chr. fi ndet, so hat dies den Grund darin, dass die Auflösung der Antike zu diesem Zeitpunkt im Osten wie im Westen Europas allmählich an ihr Ende gelangt war. Die heidnischen Religionen mit Einschluss der Mysterienkulte hatten zu bestehen aufgehört,
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Apolog. 17,5 f. Retract. 1,13,3 (CCL 57, 37). – Ähnlich urteilt auch Nicolaus von Kues (1401–1464) „Vom gerechten Abel bis zum letzten Gerechten gibt es nur die eine Kirche“ (de concordantia catholica, Überschrift zu 1,3); vgl. M. Seidlmayer, ‚Una religio in rituum varietate‘. Zur Religionsauffassung des Nicolaus von Cues: Archiv für Kulturgeschichte 36 (1954) 145– 207, bes. 185 f. In diesem Sinn hat E. von Lasaulx seine Religions- und Geschichtsphilosophie entworfen; dazu Peetz a.O. (o. Anm. 14) 135–331. 36 J. Daniélou, Die heiligen Heiden des Alten Testaments, deutsche Ausgabe (Stuttgart 1958). 35
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Einleitung
und auch die pagane Bildung verlor ihren Einfluss. Die Schließung der Akademie in Athen infolge der Gesetzgebung Kaiser Justinians mit der Ausweisung der neuplatonischen Philosophen im Jahr 529, sodann die Gründung des Klosters Montecassino im selben Jahr durch den Hl. Benedikt sowie der christlichen Hochschule Vivarium im Jahr 554 durch Cassiodor weisen auf dieses Ende der antiken Kultur und den neuen Anfang der nunmehr einheitlich christlichen Kultur in Byzanz und Rom, in Ost- und Westrom, hin 37. Seit dem 6. und 7. Jahrhundert bestimmten der christliche Glaube, vertreten und getragen durch die Kirche, die die Kontinuität zwischen Altertum und Mittelalter geistig und sozial sicherte, und die aus der Antike in Aus- und Ineinandersetzung hervorgegangene christliche Kultur die Köpfe und Herzen der Menschen in Europa 38 . Damit waren jedoch der Gegensatz und die Spannung zwischen den heidnischen Religionen sowie ihren Kulturen und dem christlichen Glauben und der christlichen Kultur nicht für alle Zeit aufgehoben. Vielmehr wurden nach Jahrhunderten des Unangefochtenseins die alten Fragen auf einer nunmehr veränderten Spiraldrehung der geistigen Entfaltung erneut lebendig. Mit dem Wetterleuchten einer Erschütterung der christlichen Kultur infolge eines beginnenden Subjektivismus und Rationalismus, ausgelöst von einem Drang nach individueller Freiheit, – so bereits im Universalienstreit der Nominalisten – zeigte sich erneut die alte Spannung zwischen Antike und Christentum in einer gewandelten Gestalt und wartete auf ihre Stunde, in der sie nicht nur auf Einzelne beschränkt blieb, sondern einen gesamten Zeitgeist prägen konnte. Gerade die dem Spätmittelalter folgenden Jahrhunderte lassen erkennen, dass sich die Spannung von Antike, gewiss einer damals mehr rezipierten als methodisch erforschten Antike, und dem Christentum zum Grundproblem der sich neu bildenden Epoche der auf Pluralität angelegten Neuzeit entwickeln werde. Diese dem christlichen Mittelalter folgende Epoche dauerte mit gewissen christlich und kirchlich vereinheitlichenden Retardierungen in Gegenreformation, katholischem Barock und christlicher Romantik bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wandelte sich dann Europa mehr und mehr zu einer wirtschaftlichen und technischen Profanzivilisation, für die zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder die Antike, noch das Christentum oder gar die Kirche und die Kirchen
37 A. Frantz, Art. Athen II (stadtgeschichtlich): RAC Suppl. 1 (2001) 668–692, bes. 686 f.; W. Liebeschuetz, Art. Hochschule: RAC 15 (1991) 858–911, bes. 884 f. 38 Das zuvor genannte ‚Reallexikon‘ geht nicht nur der Frage der Auseinandersetzung nach, sondern ebenso der gegenseitigen Beeinflussung, der Umwandlung und Einschmelzung der Antike in die sich bildende christliche Kultur sowie den Abbrüchen und dem Wiederaufleben von Teilbereichen der antiken Kultur.
II. Antike und Christentum
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charakteristisch sind 39. Geistesgeschichtlich hat damit eine neue Epoche begonnen. Darauf weist nicht zuletzt das Selbstverständnis unserer Gegenwart als ‚Postmoderne‘ hin. Der geistige Zerfall der einstmals einheitlich christlichen und kirchlichen Kultur des Mittelalters mit den Patriarchaten des Ostens und der Papstkirche im Westen zeigt sich darin, dass mit dem 15. Jahrhundert in Italien eine Form eines Neuheidentums in Erscheinung tritt 40 . Gerade die Kunst dieser Zeit verdeutlicht, wie sehr die neu entdeckte und rezipierte Antike, die damals vor allem als eine Kultur des Diesseits und damit der Leiblichkeit, der Sinnlichkeit, der Realität der Sinnen- und der Dingwelt verstanden wurde, Ausgangspunkt des eigenen Sinnens und Trachtens, des eigenen Schaffens geworden ist. Der Gegensatz zu einem dem Jenseits zugewandten asketischen Mittelalter konnte nicht größer sein. Was einzelne Kunsthistoriker als Säkularisation festzustellen glaubten, etwa die Kunst Michelangelos 41, können wir genauer als eine Repaganisierung identifi zieren, wobei das Pagane bisweilen auch im Sinne antiker Religiosität zu verstehen ist. Den großen Menschen, den die Renaissance gesucht und oftmals auch ausgeprägt hat, fand sie im antiken Heros und in der antiken Heroin, wie sie im heroischen Epos seit Homer und in der Tragödie begegnen. Damit war der christliche Heilige in seinen verschiedenen Ausformungen als Märtyrer, Bekenner, Wundertäter und Asket außer Kraft gesetzt. Mögen die Bildthemen in den folgenden Jahrhunderten oftmals auch noch christlich sein, die Tendenz der Neuzeit geht in die Richtung auf Entchristianisierung. Dabei gewinnen jetzt die antiken Bildthemen bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts an Anziehungskraft und stehen bald gleichberechtigt neben den christlichen, ja im Klassizismus verdrängen sie die christlichen Themen42 . Der Klassizis39 Darauf hat bereits R. Guardini, Das Ende der Neuzeit (Würzburg 1950) 103 hingewiesen: „Der neuzeitliche Mensch verliert weithin nicht nur den Glauben an die christliche Offenbarung, sondern erfährt auch eine Schwächung seines natürlichen religiösen Organs, so daß er die Welt immer mehr als profane Wirklichkeit sieht. Das hat aber weittragende Konsequenzen“. Vgl. auch W. Speyer, Das verkürzte Wirklichkeitsganze im Erleben und Denken des heutigen Menschen: Zeitschrift für Ganzheitsforschung N. F. 44 (2000) 115– 128. 40 L. von Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der Renaissance bis zur Wahl Pius II. 10/11(Freiburg i. B. 1931) 1–47. 41 G. Kauffmann, Michelangelo und das Problem der Säkularisation = Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 181 (Opladen 1972); H.-H. Schrey (Hrsg.), Säkularisation = Wege der Forschung 424 (Darmstadt 1981). 42 A. Pigler, Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. 1, 2, Tafelband 2 (Budapest 1974); H. Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart 8 (Wien 1988); J. Seznec, Das Fortleben der antiken Götter. Die mythologische Tradition im Humanismus und in der Kunst der Renaissance, deutsche Übers. (München 1990); J. D. Reid, The Oxford guide to classical mythology in the arts, 1300–1990s, vol. 1. 2 (New York,
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Einleitung
mus als Stilepoche um 1800 erweist den Rückgang des christlichen Glaubens, der christlichen Einstellung gegenüber Zeit und Ewigkeit. Die Bilder der Gottesmutter Maria von Byzanz sowie seinem Einflussgebiet im slawischen Osten und der Romanik und teilweise der Gotik im lateinischen Westen zeigen ein von tiefer Glaubenserfahrung gestaltetes Marienbild, während die Neuzeit nur mehr ein profanes Marienbildnis zustande bringt. Dessen Modell war oftmals eine Frau der jeweiligen Gegenwart, bald die Geliebte, Frau oder auch Tochter des jeweiligen Malers, bald eine stadtbekannte Schönheit, wobei selbst die Kurtisane nicht ausgeschlossen blieb43 . Das christlich Spirituelle schwindet in dieser Kunst der Neuzeit mehr und mehr aus den Bildern der hohen Kunst. So wird das Andachts- und Gnadenbild durch das Familienbild ersetzt. Dieser Weg ist bereits am Ende des 15. Jahrhunderts in Italien und im Norden, vor allem in Deutschland erkennbar. Für kurze Zeit brachten die Gegenreformation und die Kunst Spaniens noch einmal eine kirchliche Reaktion hervor. Entsprechendes ereignete sich – aber jetzt schon weit kraftloser – als Antwort auf die Paganisierung im Klassizismus in der Kunst der christlichen Romantik. Hier waren es die Lukasbrüder oder die Nazarener, die sich vornahmen, noch einmal eine aus dem Glauben geschöpfte Kunst zu gestalten, wobei sie ihre Vorbilder im Mittelalter, aber auch bei Raffael und Dürer zu fi nden glaubten. Dies dürfte der letzte Versuch gewesen sein, das christliche Glaubensgut künstlerisch zu erneuern und es in breite Volksschichten zu tragen, wie es den Nazarenern mit ihrer Druckgraphik zunächst auch gelungen ist 44 . Entsprechend zu diesen Malern bemühten sich zur gleichen Zeit christliche Dichter und Denker um „eine Wiedergeburt des Wissens und der Kunst aus dem Glauben“45 . Für die Jahrzehnte nach den Befreiungskriegen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zeigte sich das Thema ‚Antike und Christentum‘ noch einmal als zentral für die Bewältigung der kulturellen sowie der politischen und gesellschaftlichen Fragen der Zeit. Mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften, der Technisierung und der Industrialisierung war die Hinwendung zu den Realien vollzogen. Die damit verknüpfte Bevölkerungsexplosion verursachte ‚die soziale Frage‘ und veränderte die gesellschaftliche und geistige Lage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend. Trotzdem blieb das Thema ‚Antike und Christentum‘ aber immer noch für breite Schichten des Bildungsbürgertums und auch
Oxford 1993); H. Walter / H.-J. Horn (Hrsg.), Die Rezeption der Metamorphosen des Ovid in der Neuzeit. Der antike Mythos in Text und Bild = Ikonographische Repertorien zur Rezeption des antiken Mythos in Europa, Beih. 1 (Berlin 1995). 43 Als Beispiele seien genannt Fra Filippo Lippi (Geliebte), Holbein der Jüngere (Kurtisane), Peter Paul Rubens (Ehefrau), Bartholomé Esteban Murillo (Tochter). 44 Ausstellungskatalog ‚Unter Glas und Rahmen‘. Druckgraphik der Romantik, Landesmuseum Mainz, 9. Mai – 20. Juni 1993 (Mainz 1993). 45 Peetz a.O. (o. Anm. 14) 59 und Reg.: ‚Romantik‘.
II. Antike und Christentum
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für dessen Gegner, wie Friedrich Nietzsche, von großer Aktualität 46 . Selbst der Erste Weltkrieg brachte hier noch nicht den völligen Durchbruch zu einer Zivilisation jenseits von Antike und Christentum. So zeigte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wertschätzung der Antike nicht nur bei Dichtern, wie Rilke und George und anderen47, sondern auch im weiten Echo auf die Vorträge und Schriften von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Werner Jaeger, Karl Reinhardt, Wolfgang Schadewaldt, Walter F. Otto sowie Karl Kerényi. Entsprechend groß war zur gleichen Zeit der Widerhall, den die christlichen Dichter in Deutschland und in Europa fanden48 . Dem entsprach die Wirkung der christlichen Philosophen und Theologen dieser Jahrzehnte 49. So bestimmten die antiken und christlichen Inhalte bis zum Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts das persönliche Leben vieler Gebildeter in Deutschland und in Europa. Die am Ende des 20. Jahrhunderts eingetretene veränderte geistige Lage kann hier nicht genauer dargelegt zu werden. Nicht zuletzt infolge von Fernsehen und Computer entfernen sich die meisten Menschen in Europa täglich weiter von der Antike und dem Christentum, vor allem dem kirchlich gebundenen Christentum. Dies lehrt heute ein Blick auf Familie, Schule, Universität und die Kirchen. Die Auflösung schreitet weiter fort, ohne dass ein Ende dieses Prozesses in Sicht wäre. Dabei bleiben Elemente aus Antike und Christentum nicht zuletzt als Reibepunkte bestehen, werden aber zumeist aus ihrem ursprünglichen geistigen Zusammenhang gerissen und gleichsam als Versatzstücke in einer Collage benutzt oder gegen ihren ursprünglichen Sinn gelesen. So löst sich das große europäische Erbe auf, um in einer sich heute bildenden Weltzivilisation, die trotz aller Vielfalt monoton wirkt, aufzugehen50 . Damit bewahrheitet sich der von Pythagoras bei Ovid geäußerte Gedanke: Alles verändert sich, nichts geht zugrunde, omnia mutantur, nihil interit51. 46 H. Cancik, Nietzsches Antike (Stuttgart, Weimar 1995); Ders. / H. Cancik-Lindemaier, Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland (Stuttgart, Weimar 1999). 47 V. Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart (Stuttgart, Weimar 2000) 255–285. 48 O. Mann (Hrsg.), Christliche Dichter im 20. Jahrhundert 2 (Bern 1968); berücksichtigt sind Frankreich, England und die deutschsprachigen Länder. 49 E. Coreth / W. M. Neidl / G. Pfligersdorffer (Hrsg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 3 (Graz, Wien, Köln 1990). 50 St. Zweig, Die Monotonisierung der Welt (1925 geschrieben): Ders., Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten (Wien, Leipzig, Zürich 1937, Ndr. Frankfurt, M. 1955) 155–162; ferner W. Speyer, Verlöschen der Antike heute?: S. Düll / O. Neumaier / G. Zecha (Hrsg.), Das Spiel mit der Antike = Arianna 1 (Möhnesee 2000) 3–16. 51 Met. 15,165; vgl. 15,254 f.: nec perit in toto quicquam, mihi credite, mundo, / sed variat faciemque novat, nascique vocatur / incipere esse aliud, quam quod fuit ante, morique / desinere illud idem; F. Bömer im Kommentar zu Ovids Metamorphosen (Heidelberg 1986) 302 f. 323.
1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums „Die Geschichte des religiösen Denkens ist die Geschichte des menschlichen Denkens überhaupt.“*
1. Einleitung Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen Erfahrungen und aus ihnen abgeleitete Vorstellungen und Begriffe, die sich die Völker der alten Mittelmeerkulturen, vornehmlich die Völker des Alten Orients mit Einschluss Ägyptens, Griechen und Römer, von dem gebildet haben, was sie als geheimnisvolle Macht in allen Erscheinungen dieser Wirklichkeit und in der Einheit dieses Universums wahrzunehmen glaubten. Nach heutigem Sprachgebrauch ist dies die Frage nach ihrer Gottesvorstellung oder ihrem Gottesbild. Durch die nachfolgenden Ausführungen soll ein Zugang zu dem geistigen Zentrum der Religionen der antiken Mittelmeerkulturen, der so genannten Natur- und Volksreligionen, aber auch der jüdischen sowie christlichen Offenbarungsreligion gewonnen werden, ein Zugang, den einzelne moderne Historiker und Systematiker der Religionen zwar bereits als einen Weg gesehen haben, aber bisher, wie es scheint, noch nicht folgerichtig bis zu Ende gegangen sind. Die Erfassung eines, ja des zentralen religionswissenschaftlichen und religionsgeschichtlichen Sachverhaltes soll der Beantwortung der religiösen Grundfrage, also der Gottesfrage dienen. Ihre Beantwortung zielt zugleich auch auf die Beantwortung der philosophischen Frage nach dem innersten Wesen unserer Weltwirklichkeit. Diesem Problem geht auf andere Weise als die religiöse Erfahrung, als das religiöse Vorstellen und Denken das schlussfolgernde Begriffsdenken der Philosophen und der ihrem Denken verpfl ichteten experimentierenden Naturforscher nach. Der Zusammenhang der beiden verschiedenen Denkweisen müsste einmal eigens herausgestellt werden. Einige methodische und sachliche Voraussetzungen seien genannt, da auf ihnen die weiteren Überlegungen und Schlüsse beruhen: Der mangelnde *
III.
Hermann Usener bei Albrecht Dieterich: Archiv für Religionswissenschaft 8 (1905)
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1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums
sprachliche Ausdruck eines Sachverhaltes muss kein Beweis dafür sein, dass der betreffende Sachverhalt nicht bereits seelisch erfühlt und vom Verstand erfasst worden ist. So ist der Begriff des Gewissens, griechisch sune4dhsi:, lateinisch conscientia, vergleichsweise jung; die Regungen dessen, was man später Gewissen genannt hat, gehören aber zum Wesen des Menschen1. So ist es auch mit dem hier als Mitte der Religion und der geschichtlichen Religionen bezeichneten Sachverhalt. Über ihn kann anscheinend das menschliche Erkennen nicht weiter vordringen, da er für unser Denken gleichsam das Urphänomen dieser unserer Wirklichkeit schlechthin und damit auch seine Grenze ist. Von Ur- und Grundphänomen dürfen wir deshalb sprechen, weil es, wie noch zu zeigen sein wird, alle Erscheinungen der Sinnenwelt und bis zu einem gewissen Grade auch alle Äußerungen der seelisch-geistigen Innenwelt des Menschen bestimmt. Deshalb musste sich dieses Urphänomen auch zu allen Zeiten der uns bekannten Kulturperioden dem unverbildeten und vorurteilslosen Menschen aufdrängen. Dieses Urphänomen, das sich in allen sinnenhaft und geistig wahrnehmbaren Erscheinungen mittelbar zeigt, ist deshalb auch die geheime und zugleich offenbare Mitte, um die alle Mythen und Kulte der Völker kreisen. Es stellt gleichsam den letzten Bezugspunkt der polytheistischen, henotheistischen und der geoffenbarten monotheistischen Religionen dar. Auf begriffl ich unentfaltete Weise ist dieses Urphänomen anwesend in den religiös-magischen Grundvorstellungen der Naturvölker von Mana, Tabu, Dämon, Numen und Fetisch und ebenso ist es anwesend in den religiösen Vorstellungen der Hochkulturen von den Göttern und in der Offenbarung des Alten und Neuen Testamentes vom einen transzendenten Schöpfer-, Erhalter- und Erlöser-Gott. Die religionswissenschaftliche Kategorie der heiligen Macht zielt gleichfalls in die Richtung dieses alle Wirklichkeit bestimmenden Urphänomens. Das auf Widerspruchsfreiheit drängende begriffl ich-logische Denken vieler Theologen und Philosophen alter und neuer Zeit konnte dem Wesen dieses Urphänomens nicht gerecht werden. Schärfer erfasst haben es Parmenides, Heraklit aus Ephesos am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr., Nikolaus von Kues (1401–1464) und auch Friedrich Nietzsche (1844–1900), den viele fälschlich als Atheisten anklagen. Durch sein Denken und wohl auch durch sein Lebensschicksal bezeugt er dieses Urphänomen der Wirklichkeit. Rudolf Otto hat in seinem wirkungsreichen Werk ‚Das Heilige‘ wichtige Einsichten zur Aufhellung beigetragen 2 . Die folgenden Ausführungen knüpfen dankbar an die Lösungsversuche der genannten Denker an. 1 H. Chadwick, Art. Gewissen: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) 10 (1978) 1025–1107. 2 Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (München 1917, zuletzt ebd. 1991); vgl. C. Colpe (Hrsg.), Die Diskussion um das ‚Heilige‘ = Wege der Forschung 305 (Darmstadt 1977); A. Dihle, Art. Heilig: RAC 14
2. Das Göttliche als erster und letzter Bezugspunkt alles Wirklichen
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Die weiteren Überlegungen gehen zwar von einer geschichtlichen Betrachtung der antiken sowie der jüdisch-christlichen Gotteserfahrung und Gottesvorstellung aus, möchten aber nicht nur geschichtliche Erkenntnis um ihrer selbst willen vermitteln, sondern darüber hinaus auf die Grundfrage der ‚natürlichen Theologie‘ nach dem Wesen und Wirken der heiligen oder göttlichen Macht und damit der Gottheit und dem Urgrund dieser Welt antworten.
2. Das Göttliche als erster und letzter Bezugspunkt alles Wirklichen Als erkenntnismäßige Voraussetzung und Grundlage der nachfolgenden Wesensbestimmung des Ur- und Grundphänomens sei zunächst auf einen Satz Heraklits hingewiesen: „Wenn sie nicht mich, sondern den Logos vernommen haben, ist es weise dem Logos gemäß zu sagen, dass alles eines ist“3 . Wenn aber alles eines ist, so ist das Eine in seiner Einheit prinzipiell der Ausgangspunkt des Vielen und bestimmend für die Fülle der Erscheinungen in Raum und Zeit. Demnach scheint es auch nur ein einziges Ganzes, die eine Weltwirklichkeit, zu geben. Alle Vielheit hat die Einheit zur Voraussetzung sowie die Zahl Eins als Einheit das Prinzip der Zahlen und das Ich die Voraussetzung des das Viele wahrnehmenden und bedenkenden personalen menschlichen Geistes ist. In der einen Weltwirklichkeit mit ihren vielen Erscheinungen hängt aber jede Erscheinung mit jeder zusammen: Jedes wirkt auf Jedes. Der griechische Begriff der sump1_eia t9n Zlwn, der Sympathie von allem, also der Sympathiebegriff des späthellenistischen Stoikers Poseidonios, und der weitere Begriff der Symphyia oder Symphysis, des miteinander Verwachsenseins aller Dinge, versuchen diesen Sachverhalt begriffl ich zu umschreiben. 4 Eine weitere Einsicht in das Wesen der Gesamtwirklichkeit, auf die mehrere Aussprüche Heraklits hinweisen, lautet: Dieses eine Ganze der Erscheinungen ist in sich gegensätzlich, aber nicht widersprüchlich gestaltet: Werden
(1988) 1–63; A. Paus, Art. Heilig, das Heilige I. Religionswissenschaftlich: Lexikon für Theologie und Kirche 4 3(1995) 1267 f.; W. Gantke, Art. Heilig, das Heilige II. Religionsphilosophisch: ebd. 1268–1271; Th. A. Idinopulos / E. A. Yonan (Hrsg.), The sacred and its scholars = Studies in the History of Religion 73 (Leiden 1996). 3 Vorsokratiker (VS) 22 B 50 (Diels/Kranz); entsprechend Parmenides bei Plato, Parm. 128a; vgl. W. Beierwaltes, Art. Hen: RAC 14 (1988) 445–472; ferner H.-G. Gadamer, Griechische Philosophie 2 = Ders., Gesammelte Werke 6 (Tübingen 1985) 30–57: ‚Das Lehrgedicht des Parmenides‘. – Zur Vorgeschichte des Satzes in der alten Orphik und bei Xenophanes E. Norden, Agnostos Theos (Leipzig 1923, Ndr. Darmstadt 1974) 240–250, bes. 247 f. 4 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 1 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) Reg. ‚Sympathie-Gedanke‘. Vgl. Eranos-Jahrbuch 54 (1985): ‚Der geheime Strom des Geschehens‘.
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1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums
und Vergehen, Licht und Finsternis, Leben und Tod, Heil und Unheil, Liebe und Hass, und viele weitere Paare von Grundgegensätzen bilden und schaffen an dieser Wirklichkeit, in der der Mensch lebt und die er zugleich selbst in seinem Denken und Handeln spiegelt 5 . Die Folgerungen für die Anthropologie können hier nicht gezogen werden. Nur soviel sei angedeutet, dass die Frage nach dem Urgrund des Weltganzen immer zugleich die Frage nach dem Menschen mitstellt, ja dass der Mensch nur von dieser Frage aus voll zu verstehen ist. Nicht wenige der die Welt bildenden und bestimmenden Gegensatzpaare unterliegen einem rhythmischen Wechsel in der Zeit, wie Werden und Vergehen, Tag und Nacht, Sommer und Winter, Leben und Tod, Wachen und Schlafen, das Offenbare und das Geheime im Akt des Erkennens oder Erinnerns und Vergessens. Der Anzahl und der Qualität nach sind die Grundgegensatzpaare vielfältig und verschiedenartig. Auch neue Gegensatzpaare können innerhalb der Zeit entstehen, wie die Geschichte des pflanzlichen und tierischen Lebens lehrt: Die Polarität des männlichen und weiblichen Geschlechts bei Pflanze und Tier ist nicht ursprünglich, sondern folgt der Zeit nach auf die Ein- oder Doppelgeschlechtigkeit. Wie wir an diesem Beispiel sehen, kann Gegensätzlichkeit auch mit Steigerung verknüpft sein. Nach J. W. von Goethe kennzeichnen das Gesetz von Polarität und Steigerung sowie das Gesetz des Rhythmus, wie der Systole und Diastole, diese Weltwirklichkeit6 . Eine weitere Voraussetzung ist die vom religiösen Menschen bezeugte Einsicht, dass die Erscheinungen dieser Welt symbolische Bedeutung haben im Sinne des Chorus mysticus am Ende von Faust II: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Die Erscheinungen unserer Wirklichkeit bezeugen nicht nur sich selbst, sondern weisen über sich hinaus auf eine sie übersteigende Wirklichkeit. So schreibt Paulus im Brief an die Römer: „Ist doch, was sich von Gott erkennen lässt, in ihnen (d.s. den Heiden) offenbar. Denn Gott selbst hat es ihnen gezeigt. Denn sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind seit Erschaffung der Welt an seinen Werken durch die Vernunft zu erkennen“.7 Der geheime Urgrund der Welt ist dem menschlichen Geist 5 Vgl. die zehn Gegensätze der Pythagoreer bei Aristot. met. 1, 5, 986 a und die Lehre des Alkmaion aus Kroton (ebd.); ferner R. Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des lebendig Konkreten 2 (Mainz 1955); dazu H.-B. Gerl, Leben in ausgehaltener Spannung. Romano Guardinis Lehre vom Gegensatz: Zeit und Stunde. Festschrift A. Goergen (München 1985) 51–63; W. Beierwaltes, Art. Gegensatz: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974) 105–117. 6 W. Schadewaldt, Goethestudien. Natur und Altertum (Zürich, Stuttgart 1963) Reg. ‚Steigerung, Urphänomene, Urpflanze‘. 7 Rom. 1, 19 f.; H.-J. Horn / Ch. Niens, Rom. 1,20 und das Verhältnis von Aisthesis und Noesis in frühchristlicher Deutung: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum, Gedenkschrift A. Stuiber = Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 9 (Münster, W. 1982) 86–97.
2. Das Göttliche als erster und letzter Bezugspunkt alles Wirklichen
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nicht vollständig verschlossen, sondern bis zu einem gewissen Grad zugänglich: er erscheint in der Welt und zwar in ihren Erscheinungen. Das logische Denken vermag auf Grund des Satzes vom Widerspruch nicht zuzulassen, dass die die Wirklichkeit bestimmenden Gegensätze miteinander verbunden sind: sie müssen sich vielmehr voneinander abstoßen und gegenseitig ausschließen. Eine partielle Übereinstimmung der Grundgegensätze wie sie im chinesischen Zeichen für Yin und Yang vorliegt 8 – das Yin trägt etwas vom Yang in sich und umgekehrt – oder sogar das Ineinanderfallen der Grundgegensätze in einer höheren, uns nicht mehr zugänglichen und deshalb das Denken transzendierenden Einheit, wie es frühgriechische religiöse Philosophen, wie Parmenides und Heraklit, aber auch die mystische Theologie, beispielsweise die Kabbala oder Nikolaus von Kues, annehmen, ist für das logisch-analytische Denken unmöglich, ein Paradox 9. In der Annahme einer paradoxalen überrationalen Struktur des die Welt bestimmenden Urphänomens stimmt aber das Denken der genannten Philosophen oder mystischen Theologie mit den Erfahrungen des religiösen Menschen des Altertums überein, wie noch zu zeigen sein wird. Demgegenüber vermag der Mensch der wissenschaftlich-technisch beherrschten europäisch-amerikanischen Zivilisation, die heute alle gewachsenen Kulturen überformt und bestimmt, infolge einer einseitigen Ausbildung seiner Geisteskräfte nicht mehr die Wirklichkeit des Weltganzen, auf die sein religiöses Erlebnis- und Vorstellungsvermögen der Anlage nach gerichtet sind, zu erfassen. Ein Beispiel für diese Verkürzung und der aus ihr notwendig folgenden Missverständnisse bietet Olof Gigon im Vorwort zu seinem Buch: ‚Die antike Kultur und das Christentum‘. Er schreibt: „In der Religionsgeschichte steht nicht der Umgang des Menschen mit der Natur oder mit seinesgleichen zur Diskussion, sondern der Umgang mit einem Bereich, dessen Realität fraglich ist. Das Vorhandensein der Natur ist unbestreitbar, ebenso diejenige des anderen Menschen, auch wenn es an ihm eine Zone der Innerlichkeit gibt, deren Realität in Frage gestellt werden kann. Die Realität des Göttlichen kann dagegen von Grund auf angezweifelt werden. Die Geschichte zeigt zur Genüge, dass das Göttliche so eigentümlich beschaffen ist, dass seine Realität (mindestens mit den in der Naturwissenschaft beheimateten
8 Vgl. H. Baumann, Das doppelte Geschlecht. Ethnologische Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythus 2 (Berlin 1980), Reg.: Yin-Yang; M. Eliade, Geschichte der religiösen Ideen 2. Von Gautama Buddha bis zu den Anfängen des Christentums, deutsche Ausgabe (Freiburg 1979) Reg. ‚Yang-Yin Symbolismus‘. 9 P. Geyer / R. Hagenbüchle (Hrsg.), Das Paradox, eine Herausforderung des abendländischen Denkens = Stauffenburg Colloquium 21 (Tübingen 1992) bieten zu der hier dargelegten Ambivalenz-Struktur der Wirklichkeit nichts. Vgl. W. Speyer, Vom Paradox der Wirklichkeit. Eine philosophisch-theologische Skizze: Philotheos, International Journal for Philosophy and Theology 3 (2003) 31–39.
20 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums Methoden) weder zwingend bewiesen noch zwingend widerlegt werden kann.“10 . Der von O. Gigon so nachdrücklich betonte Begriff der Natur, der dem Begriff des Göttlichen fast im Verhältnis von Realität zu Illusion gegenübergestellt wird, verdankt seine Entstehung bereits einem Denken, das sich mehr und mehr bemüht, die Religion überflüssig zu machen. Treffend hat bereits der Kirchenschriftsteller Laktanz (um 300) ausgehend von seiner Kritik des lukrezischen Lehrgedichts De rerum natura bemerkt: „Die Vernichtung der Religion erfand den Namen ‚Natur‘“11. Die Sätze O. Gigons weisen auf den weiten Abstand hin, den das Fühlen und Denken des Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der die Welt nicht mehr ganzheitlich, sondern nur noch ausschnitthaft erfährt, vom Erfahren und Vorstellen des religiösen Menschen des Altertums, des Mittelalters und selbst noch der frühen Neuzeit scheidet. Der Inhalt dieses ganzheitlich ausgerichteten religiösen Erfahrens und Denkens ist die Vorstellung von der heiligen oder göttlichen Macht, verdichtet in der individuellen Gottheit, dem Gott, der Göttin, dem Daimon. Mit diesen Bezeichnungen können wir den Hauptinhalt des Objektes des religiösen Erfahrungs- und Anschauungsvermögens beschreiben. Wie für alle übrigen Inhalte des menschlichen Bewusstseins, das allerdings keineswegs auf die rein logischen Denkinhalte beschränkt ist, gilt auch hier die nicht absolut zu setzende Subjekt-Objekt-Relation. Das religiöse Erkenntnisvermögen gehört wie das übrige Erkenntnisvermögen des Menschen zu seiner personalen Geist-Seele. Wie kam der religiöse Mensch, der mit dem Menschen der Vor- und Frühgeschichte und der antiken Hochkulturen des Mittelmeerraumes identisch ist, zu diesem Bewusstseinsinhalt, dem Göttlichen? Doch wohl dadurch, dass ihm das Göttliche in den Erscheinungen der durch die Sinne vermittelten Außenwelt und auch in den Erscheinungen seiner Innenwelt aufleuchtete. Die geistig-seelische Vorstellung des Göttlichen zielt auf die Mitte der Religion. Auf das Göttliche beziehen sich die Mythen und Kulte der sogenannten Naturund Volksreligionen; aber auch die jüdisch-christliche Offenbarungsreligion kreist darum.
3. Die Ambivalenz der heiligen oder göttlichen Macht Ohne hier auf die Frage nach dem geschichtlichen Ort und der Bedeutung der Vorstellung individueller Gottheiten eingehen zu können, sei bemerkt, dass ins Wesen der individuellen Gottheiten und der nicht immer individuell aufgefassten Daimonia und Numina eine Analyse des Begriffs der heiligen oder 10 11
(Gütersloh 1966) 8. Inst. div. 3, 28, 3 (CSEL 19, 1, 264 ): quae religionis eversio naturae nomen invenit.
3. Die Ambivalenz der heiligen oder göttlichen Macht
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göttlichen Macht einführen kann. Diese Macht zeigt sich als geheimnisvolle übermenschliche Größe und insofern als unverfügbar12 . Ihr Wesen offenbart sich in einer gegensätzlichen und ambivalenten Wirkungsweise. Wo immer sie sich zeigt und sie zeigt sich für den frühen Menschen in sämtlichen Erscheinungen der sichtbaren Welt – gewiss in verschiedenem Grade und in verschiedener Dichte –: überall wirkt sie bald als lebenspendend, bald als todbringend, bald als segenstiftend, bald als fluchbringend. Sie verfügt frei und souverän über Heil und Unheil im Weltganzen außerhalb des Menschen und in der Welt des Menschen bis hinein in sein Inneres, in sein Fühlen, Wollen und Lassen. Dabei wurde auf den frühen Stufen des menschlichen Bewusstseins der eigene Freiheitsraum sehr eingeschränkt erlebt: Die Fremdbestimmung durch die göttliche Macht erschien größer, der Selbststand sehr eingegrenzt13 . Nachdem der Mensch sein eigenes Handeln, nicht zuletzt sein sittliches Handeln als von ihm selbst weitgehend frei gewirkt erkannt hatte, versuchten im geschichtlichen Zeitalter Mythologen und Theologen mit dem Maßstab der vergeltenden Gerechtigkeit die über allem menschlichen Denken und Bewerten stehende göttliche Macht in die Bande des Verstandes und damit der Verstehbarkeit zu schlagen. Was eine derartige Theologie zurückbehält, ist zwar ein sittliches, aber ein menschenartiges Gottesbild, das der Bewusstseinsstufe ihrer rationalen Anschauung von Mensch und Welt entspricht. Eine derartige Gottheit aber haben weder das Alte Testament noch das Neue Testament verkündet; derartige Götter kennen aber auch nicht der Alte Orient, weder Homer noch die Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides. Die Ambivalenz der göttlichen Macht in Segen und Fluch übersteigt die rationalen Kategorien von Sinn und Widersinn, von Gut und Böse, von Gerechtigkeit und Willkür und weist auf den prinzipiell geheimen Charakter dieser übermenschlichen Macht hin, die eben nicht mit den Kategorien menschlichen Fühlens, Wollens und Urteilens zu erfassen ist. Insofern ist auch eine nur rational – logische Rechtfertigung Gottes (Theodizee) zum Scheitern verurteilt, da sie untaugliche Mittel verwendet. Aufgrund des Begrenztseins alles Menschlichen im bedingten Diesseits vermögen diese Kategorien nicht das Ganze von Zeit und Ewigkeit, von Diesseits und Jenseits, von Mensch und Gottheit zu erfassen. Auf diese Grenze menschlichen Begreifens
12 E. Fascher, Art. Dynamis: RAC 4 (1959) 415–458; M. Herzog, Descensus ad Inferos = Frankfurter Theologische Studien 53 (Frankfurt 1997) 31–36 : ‚Die Vorstellung Gottes als Macht‘. 13 H. Hanse, ‚Gott haben‘ in der Antike und im frühen Christentum. Eine religions- und begriffsgeschichtliche Untersuchung = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 27 (Berlin 1939) 8–25: ‚Dämonisches Haben und Gehabtwerden‘. 25–39: ‚Haben und Gehabtwerden‘
22 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums und Erfassens haben beispielsweise die Propheten des Alten Testaments, das Buch Hiob und Paulus hingewiesen14 . Die Geschichte der Religionen bezeugt in vielen anschaulichen Beispielen die jeweilige Erfahrung des religiösen Menschen mit der göttlichen Macht. Seit der Entstehung eines Begriffsdenkens haben einzelne Philosophen auch abstrakt von ihr gesprochen. So hat Heraklit in seiner Lehre von der virtuellen Einheit der die Wirklichkeit bestimmenden Gegensätze auch auf die Einheit von Segen und Fluch in der Gottheit hingewiesen, wenn er sagt: „Der Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger“ oder „Derselbe aber ist Hades [d. i. der Gott der Unterwelt] und Dionysos [d. i. der Gott des Lebens]“15 . Mit diesen und vergleichbaren Aussprüchen hat Heraklit an das allem in der Wirklichkeit zugrunde liegende zentrale Geheimnis erinnert; denn dieses Weltganze ruht in seiner gegensätzlichen Struktur nicht in sich selbst, sondern ist Erscheinung oder Wirkung der heiligen oder göttlichen geheimen Macht, gleichsam „der Gottheit lebendiges Kleid“, aus Gegensätzen gewirkt, die aus einer für uns unergründbaren Quelle fl ießen16 .
4. Die Erfahrung der heiligen oder göttlichen Macht in den Erscheinungen der Welt Wie kommt der Mensch zu dieser Erfahrung der göttlichen Macht? Das erste, das er als von fremden Kräften verursachtes Wesen in dieser Welt erfährt, ist seine Abhängigkeit von ihm letztlich unbekannten Kräften, Gewalten und Mächten. Sie erlebt er als vorgegeben; sie erscheinen als allumfassend und alles bestimmend. Dieses Gefühl einer fast gänzlichen Abhängigkeit von geheimnisvollen Mächten war in den Epochen vor einer rationalen Einsicht in die später als Naturgesetzmäßigkeit erkannten Abläufe, also im vorwissen-
14
Vgl. z. B. Rom. 11, 33 f; 1 Tim. 6, 16. VS 22 B 67. 15 (Diels / Kranz). Zu Parmenides bemerkt Gadamer a.O. (o. Anm. 3) abschließend: „So bleibt es am Ende wahr, daß die große Intuition des Parmenides die ionische Gegensatzlehre in der Richtung weiterführt, daß die Einheit der Gegensätze als ihre Wahrheit erscheint. Zwar ist das nicht die Wahrheit des Seins selbst, wie sie die Göttin im ersten Teil des Gedichts lehrt, wohl aber ist es die Wahrheit des Scheins, den die Göttin glaubhaft darzustellen ebenfalls versprochen hat“. Das Sein des Parmenides ist eben das Göttliche, das notwendig im Geheimen verbleibt. 16 Goethe, Faust V. 509; dazu R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zur Urgeschichte des antiken Weltbildes 1 (München 1910, Ndr. Hildesheim, Zürich, New York 2002) 51–112. Zur Göttin Physis K. Preisendanz, F6si:: Philologus 67 (1908) 474 f.; H. D. Betz (Hrsg.), The Greek magical papyri in translation (Chicago, London 1986) 337. Ferner vgl. W. Heitler, Die Natur und das Göttliche 3 (Zug 1976). 15
4. Die Erfahrung der heiligen oder göttlichen Macht in den Erscheinungen der Welt 23
schaftlichen und vortechnischen Zeitalter, weit mehr ausgeprägt. Daraus wird auch der Verlust an religiöser Erfahrung seit dem 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Wissenschaft und Technik und damit einer partiellen Naturbeherrschung, verständlich. Jede Erscheinung der sinnenhaft wahrnehmbaren Welt, ob sie himmlischer, atmosphärischer oder irdischer Art war, ob Sonnen- und Mondfi nsternisse, ob Kometen, oder der Aufgang und Niedergang der Gestirne, ob Gewitter, Stürme und Sturmfluten, Erdbeben und andere Naturkatastrophen, ob Elemente, Steine, Pflanzen oder Tiere, ja auch der Mitmensch, konnte als eine Offenbarungsweise der göttlichen Macht wirken; denn alles erschien vom machtvollen Geheimnis des Wunderbaren erfüllt. Das Unbekannte, das Geheimnisvolle aber wirkt vor allem, wenn es unvermutet und plötzlich erscheint, in zweifacher Weise: es schreckt und zieht zugleich an. Auf diese seelische Doppelwirkung hat Rudolf Otto nachdrücklich aufmerksam gemacht.17 Erst die Gewöhnung an die auffallende Erscheinung, erst die allmählich wachsende Einsicht in einen Teil ihres Wesens oder gar in die Berechenbarkeit einzelner Naturerscheinungen ließen die zuvor als göttlich erlebte Naturerscheinung zu einer gleichsam im Machtbereich des menschlichen Erkennens und Verfügens liegenden verblassen. Aus der Natur als der Offenbarung der göttlichen Macht wurde nach und nach eine gewöhnliche, eine profane, ja eine verfügbare und ausbeutbare Größe, die nicht mehr über dem Menschen, sondern unter ihm zu stehen schien. Dieser Erfahrungsprozess hat bereits ansatzweise in der Antike begonnen: Bei den Atomisten, den Sophisten und bei Epikur erscheint die Welt bereits weitgehend als entsakralisiert. Infolge des Begriffsdenkens der Philosophen wurden viele erstmals als Hierophanien erlebte Naturerscheinungen entwertet. Menschliches Denken und Begreifen schienen über die Geheimnisse der Welt zu triumphieren. So schrieb der spätaugusteische Dichter Manilius das stolze Wort: „Die menschliche Vernunft hat Zeus den Blitz und die Macht zu donnern entrissen“18 . Tatsächlich hat aber die rationale oder wissenschaftliche Deutung eine Naturerscheinung nur bis zu einem gewissen Grade enthüllen können. Für ein tieferes und umfassenderes Nachdenken ist die Welt als ganze und mit ihr jede ihrer Erscheinungen auch heute noch undurchschaubar und damit wunderbar und geheimnisvoll. In diese Richtung des Geheimnisvollen der Wirklichkeit weisen die Grundgegensätze und die Unendlichkeitsdimension. Völlig einsichtig sind nur die technischen Werke der Menschen, nicht seine zugleich auch naturhaft gewirkten Werke der Religion, der Kunst, des Rechtes
17 A. O. (o. Anm. 2): Mysterium tremendum – Das Fascinans: bes. 56 f.: ‚Kontrast-Harmonie‘. 18 Astronomica 1, 104: eripuitque (sc. ratio) Iovi fulmen viresque tonandi; vgl. W. Speyer, Art. Gewitter: RAC 10 (1978) 1107–1172, bes. 1138 f.
24 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums und der Sittlichkeit. Die Welt bleibt in ihrem Wesen undurchschaubar und unauslotbar, weil der Mensch der seinsmäßig Spätere, der Bedingte und Verursachte ist und bleibt. Das Bewusstsein des Menschen und alle die Wirklichkeit des Außen und Innen bestimmenden Grundgegensätze sind wie das Weltganze letztlich unerklärbar19. In ihnen kann deshalb die göttliche Macht jederzeit und selbst heute noch erfahrbar werden.
5. Die Ambivalenz der göttlichen Macht in der antiken Gottesvorstellung Dass die griechische und die lateinische Sprache für das Heilige auch Ausdrücke verwenden, die den Segens- und zugleich den Fluchaspekt enthalten, ist bekannt. So bedeutet panag3: ‚heilig‘ und ‚verflucht‘ und das römische Urwort ‚sacer‘ enthält sowohl die Bedeutung ‚heilig‘ als auch ‚verflucht‘. Der ‚homo sacer‘ ist der Tabuierte, also derjenige, der der göttlichen Macht im Guten oder im Bösen übereignet ist, also der Gottesfreund oder der Gottesfeind 20 . Diese Ambivalenz zeigt deutlich die göttliche Macht, wie sie sich im Gottesbild der Mittelmeerkulturen geschichtlich konkretisiert hat. Da aus der Geschichte der Welt durchaus eine Steigerung abzulesen ist – die Existenz des bewusst erfahrenden und verstehenden Menschen ist dafür wohl ein hinlänglicher Beweis – überwiegt auch in den Religionen, aufs ganze gesehen, ein hoffnungsfreudiger Zug, das heißt, die Menschen vertrauten mehr dem Segens- als dem Fluchaspekt der göttlichen Macht oder der Gottheit. Auf eine kurze Formel gebracht, lautet dann diese religiöse Deutung der Weltwirklichkeit: „Derjenige, der die Wunde geschlagen hat, wird sie auch heilen“. Dieser Spruch des Orakels des Delphischen Apollon galt der Lanze des göttlichen Achill, die als seine Waffe und als das Werk des Gottes Hephaistos an der Kraft der göttlichen Macht unmittelbar teilhat. Ihre Wirkung ist wie die der göttlichen Macht fluch- und segenbringend. Das Wort Apollons trifft darüber hinaus den Inhalt der grundlegenden Gottesvorstellung der Antike und nicht nur der Antike21.
19 Vgl. F. Schiller, ‚An die Mystiker‘: „Das ist eben das wahre Geheimnis, das allen vor Augen / liegt, euch ewig umgibt, aber von keinem gesehn“ (Tabulae votivae 52: Musenalmanach für das Jahr 1797: Schillers Werke, Nationalausgabe 1 [Weimar 1943] 298). 20 E. Fehrle, Die kultische Keuschheit im Altertum = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 6 (Gießen 1910, Ndr. Berlin 1966) 45; W. Speyer, Art. Fluch: RAC 7 (1969) 1160–1288, bes. 1164 f.; Dihle a.O. (o. Anm. 2) 5 f. 20 f. 21 W. Speyer, Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, New York 1995) 1–8; A. Locker: „Was dich schlägt, wird dich heilen“. Reifung und Verklärung des Menschen durch (geheilt/ungeheiltes) Leid. Ein Anwendungsfall Transklassischer System-
5. Die Ambivalenz der göttlichen Macht in der antiken Gottesvorstellung
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Wenn dieser Orakelvers die positive Wirkung der göttlichen Macht ans Ende stellt, so wirkt dies fast wie ein Vorverweis auf die Botschaft der jüdischen und christlichen Offenbarung. Der Gedanke von der Gottheit als der Quelle von Segen und Fluch hat im Alten Testament tiefe Spuren hinterlassen: Im Deuteronomium heißt es: „Seht jetzt, dass ich es bin, nur ich, und kein Gott sonst bei mir! Ich töte und mache lebendig, ich schlug und ich bin’s, der heilt“22 . Der Prophet Hosea (2. H. des 8. Jh. v. Chr.) fordert mit den Worten zur Rückkehr zu Jahwe auf: „Denn er hat zerrissen, er wird uns auch heilen, er hat geschlagen, er wird uns auch verbinden . . .“23 . Dieser Gedanke kehrt in jüngeren Schriften des Alten Testaments mehrmals wieder24 . Auch im Alten Testament und gerade hier steht der positive Aspekt des Segens an letzter Stelle. Dies ist kein zufälliger Hinweis auf eine gleichsam optimistische Lösung des Gegensatzes von Segen und Fluch, von Leben und Tod und von Heil und Unheil. Im Anfang der Schöpfung war das Licht und am Ende der Zeiten wird es verwandelt wieder und für immer erstrahlen. Ganz entsprechend dazu verläuft das Leben des Erlösers Jesu Christi: Aus dem ewigen Vater tritt es in diesen Äon, der unter der Sünde und der numinosen Fluchmacht leidet. Nach dem Karfreitag geht Jesus in das ewige Ostern ein. So können wir die gesamte jüdische und christliche Offenbarung von der Paradieseserzählung im sachlich ersten Buch des Alten Testaments, der Genesis, bis hin zur Schau des Apokalyptikers Johannes vom himmlischen Jerusalem im letzten Buch des Neuen Testaments als ein Erscheinen der göttlichen Macht verstehen. Ihr Segen und ihr Fluch entfalten sich dabei in Zeit und Geschichte, wobei der Mensch in seiner Freiheit zum Partner Gottes und damit zum Mitverursacher von eben diesem Heil oder Unheil wird. Blicken wir nach Griechenland, so kommt auch hier auf mannigfache Weise zum Ausdruck, dass in der göttlichen Macht oder in der Gottheit beide Pole, der Lebens- und der Todespol, der Segens- und der Fluchpol enthalten sind und souverän wirken. Eine Beeinflussung der göttlichen Macht durch das Handeln des Menschen im Guten wie im Bösen muss dabei zunächst keineswegs mitgedacht sein. Ohne dass sich der Mensch im sittlichen Sinn verschuldet hat, kann ihn wie aus heiterem Himmel der Fluchstrahl der Gottheit treffen. Die frühen Griechen haben unter der Fluchmacht der Gottheit tief gelitten. Das frühgriechische Erleben des Göttlichen hat, wie bereits Erwin Rohde betont hat, Goethe erfasst, wenn er im Wilhelm Meister den Harfenspieler die Worte sprechen lässt: „. . . ihr himmlischen Mächte, Ihr führt ins Leben uns hinein; Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein; Theorie: Menschenbilder in der Medizin, Medizin in den Menschenbildern = Berliner Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Humangenetik 16 (Bielefeld 1999) 288–317. 22 32, 39. 23 6, 1. 24 1 Sam. 2, 6; Sap. 16, 13; Tob. 13, 2; vgl. Jes. 19, 22; ferner Rom. 9,14–33.
26 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums Denn alle Schuld rächt sich auf Erden“25 . Diese altgriechische Anschauung vom Wirken der Götter hat dann bei Goethe noch einmal im Lied der Parzen großartigen Ausdruck gefunden: „Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht! Sie halten die Herrschaft in ewigen Händen, und können sie brauchen, wie’s ihnen gefällt . . .“: denn der Gott ist souverän: er schenkt Glück und Leid in absoluter Freiheit.26 Die Griechen der frühen Zeit, aber auch noch der hellenistisch-kaiserzeitlichen Epoche haben die Gottheit als Einheit und Quelle von Segen und Fluch erlebt, gefürchtet und verehrt. In der Ilias lesen wir: „Zwei Gefäße sind im Saal Kronions [also des Kronos-Sohnes Zeus] aufgestellt, voll mit Gaben: mit bösen das eine, mit guten das andere.“27 Der Odysseedichter spricht: „Im ewigen Wechsel gibt Zeus den Menschen Gutes und Schlechtes, denn er vermag alles“; „Doch Zeus selbst erteilt Reichtum den edlen oder den schlechten Menschen, einem jeden ganz wie es ihm beliebt“; „Nicht die Sänger sind schuldig, sondern Zeus, der den hart arbeitenden Männern zuteilt, einem jeden nach seinem Gefallen“28 . Ähnlich urteilt Hesiod: „denn bei Poseidon und Zeus liegt die Entscheidung über Heil und Unheil.“29. Selbst noch Horaz bezeugt die alte Erfahrung, wenn er die Mutter eines fieberkranken Kindes beten lässt: „Juppiter, der du gibst und nimmst die ungeheueren Schmerzen“30 . Nunmehr wäre darzulegen, wie die Menschen des Altertums das Offenbarwerden der göttlichen Macht in den Erscheinungen dieser Welt erlebt haben. Eine derartige Darstellung könnte zeigen, dass die meisten Menschen des Altertums die von Philosophen als Physis/Natura bezeichnete Wirklichkeit als eine Fülle bestimmter, gleichsam individuierter Hiero- oder Theophanien erlebt haben. Dabei ist aber auch der Mensch als möglicher Träger und Offenbarer einer Hierophanie zu berücksichtigen. Ein derartiger Mensch ist der religiöse Ausnahmemensch, der numinose, dämonische oder der heilige Mensch. Er verfügt über heilige oder göttliche Macht und kann deshalb durch sein Wort, seinen Blick, seine Hand, ja sein Kleid beleben und töten. Beide 25 2. Buch, 13. Kapitel: J. W. von Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 7, Romane und Novellen (München 1988) 136; vgl. E. Rohde, Die Religion der Griechen: Ders., Kleine Schriften 2 (Tübingen 1901) 324. 26 Iphigenie, 4. Aufzug, 5. Auftritt: Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 5 (München 1988) 54 f.; vgl. ebd. 457 f.; dazu G. Müller, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze (Tübingen 1968) 511–533. Hier ist nur der Fluchaspekt betont. Eine Deutung von Vers 29 f. fehlt: „ Es wenden die Herrscher Ihr segnendes Auge . . .“. Vgl. W. Speyer, Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens: Hairesis, Festschrift K. Hoheisel = Jahrbuch f. Antike u. Christentum, Erg.-Bd. 34 (Münster, W. 2002) 456–463; s. u. S. 35–45. 27 Il. 24, 527–533. 28 Od. 4, 236 f.; 6, 188 f.; 1, 348 f. 29 Op. 665–669. 30 Sat. 2, 3, 288 f. Diese zweifache Wirkung schreibt Seneca sinnentsprechend den Fata zu: Troad. 510–512: Andromache spricht: Fata si miseros iuvant, / habes salutem; Fata si vitam negant, habes sepulchrum.
5. Die Ambivalenz der göttlichen Macht in der antiken Gottesvorstellung
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Wirkweisen quellen aus seinem Wesen, das an dieser Macht teilhat. Mit Heiligkeit im Sinn einer Ethik, auch einer religiösen Ethik, hat dieses Wirken nichts zu tun. Die Überlieferung über griechische Heroen, alttestamentliche Gottesmänner und viele christliche Heilige zeigt, wie nachdrücklich ihr Bild in den Augen des Volkes von der numinosen Ambivalenz geprägt ist: Fluchund Strafwunder stehen bei ihnen ergänzend neben Heil- und Segenswundern 31. Welche Bedeutung diese Beobachtungen für eine Anthropologie haben, müsste eine weitere Untersuchung klären. Die von Mythos und antikem Denken betonte Einheit von Mikrokosmos Mensch und Makrokosmos Welt dürfte auch in dieser Hinsicht eine neue Bestätigung fi nden 32 . So gewinnt von hier der antike und jüdisch-christliche Gedanke einer Ebenbildlichkeit des Menschen mit der Gottheit eine neue Dimension 33 . In einem weiteren Abschnitt wäre zu klären, wie aus den Erscheinungen der numinosen Macht, den Hierophanien in der sichtbaren Welt, Theophanien geworden sind, also Erscheinungen individueller, menschenartig handelnder Gottheiten. Hieronymus spricht einmal vom Irrtum der Heiden, die alles, was über ihnen ist, für Götter zu halten 34 . Ob dieser angebliche Irrtum nicht doch einer religionsgeschichtlichen Wahrheit nahe gekommen ist? Hier beschränken wir uns auf die Ambivalenz der numinosen Segens- und Fluchmacht als den Kern der griechischen und auch der altorientalischen Gottesvorstellung und der ihr zugeordneten Mythen. Diese Vorstellung einer Ambivalenz der göttlichen Macht lebte in den Überlegungen von Theologen, wie der Orphiker, weiter. Ihre Annahme eines doppelgeschlechtlichen Urwesens schließt die Begriffe von Polarität – der Polarität der beiden Geschlechter: männlich – weiblich – und der Steigerung ein: das doppelgeschlechtliche göttliche Urwesen ist fruchtbar und bringt neue Wesen hervor. Bei dieser Gottesvorstellung ist vor allem die Rückbindung der Polarität in einer höheren Einheit gewahrt. Das eine und einzigartige Urwesen, der Urgrund von allem, verfügt über die beiden Pole des Männlichen und des Weiblichen 35 .
31 Speyer, Fluch a.O. (o. Anm. 20) 1179. 1232. 1253–1257; Ders., Frühes Christentum 1 a.O. (o. Anm. 4) 369–394. 503: ‚Der numinose Mensch als Wundertäter‘. 32 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) Reg. ‚Makrokosmos‘. 33 H. Merki, Art. Ebenbildlichkeit: RAC 4 (1959) 459–479; L. Scheffcyk (Hrsg.), Der Mensch als Bild Gottes = Wege der Forschung 124 (Darmstadt 1969). 34 Error . . . gentilium qui omne quod supra se est deos putant (in Dan. 1, 2, 46 [CCL 75A, 795]); vgl. Act. 14, 8–18: Die Einwohner von Lystra verehrten wegen eines Heilungswunders Barnabas als Zeus und Paulus als Hermes. 35 Als Lehre der Brahmanen von Philostrat bezeichnet (vit. Apoll. Tyan. 3, 34). Vgl. Baumann a.O. (o. Anm. 8); M. Delcourt / K. Hoheisel, Art. Hermaphrodit: RAC 14 (1988) 649–682. Philosophisch begegnet der Gedanke wieder bei den Phythagoreern in ihrer Theorie über die Zahlen Eins, Zwei und Drei (Aristot. met. 1, 5, 986 a). Die Zahl Eins
28 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums Grundsätzlich gilt für die in der Religionsgeschichte vorfi ndbare Vorstellung einer individuellen, menschenähnlichen Gottheit, sei sie männlich oder weiblich, also für Polytheismus oder Henotheismus und auch für den geoffenbarten Gott der Juden, Christen und Muslime: Die numinose Fluchmacht und die numinose Segensmacht gehören nach ursprünglichem Erleben zusammen. Sie kennzeichnen zunächst auch das Wirken jeder einzelnen Gottheit und auch das Zusammenspiel göttlicher Mächte. Die numinosen Krafttaten, die dun1mei:, %reta4 oder ‚virtutes‘, lassen auf das Dasein der göttlichen Macht oder Gottheit zurück schließen. Hingegen sind die Götter Epikurs, die in der Abgeschiedenheit der Zwischenwelten, ‚intermundia‘, wohnen, in ihrer Ferne von Welt und Menschen eine Konstruktion des Verstandes; mit Wirklichkeit und Religion haben sie nichts zu tun 36 . Zuvor haben wir an Hand von Zeugnissen der frühgriechischen Dichtung gezeigt, dass sich Spuren der numinosen Ambivalenz im Bild des Zeus fi nden. Dasselbe gilt für die einzelnen Götter der Griechen und für das gesamte Göttersystem der Mythologen. Wenn diese numinose Ambivalenz auch nicht immer mehr unmittelbar sichtbar und ablesbar ist, so liegt dies an den Wandlungen und Ausformungen, also an der Geschichte, die jeder griechische Gott von seinen für uns undeutlichen Anfängen bis in die Endzeit der Spätantike durchlaufen hat. Haben doch an jedem griechischen Gott Jahrhunderte der mythenschaffenden Phantasie von Mythologen, Dichtern und Priester-Theologen neben dem Einfluss der Nachbarreligionen gearbeitet. Aber trotz aller Umformungen schlägt immer wieder das doppelpolige Urphänomen durch. Während sich in der so genannten Großen Göttin des Vorderen Orients der Lebens- und Todesaspekt gleich mächtig zeigt, ist dieser Doppelaspekt abgeschwächt auch bei Artemis und Aphrodite deutlich zu erfassen. Gewiss sind die beiden griechischen Göttinnen nicht ursprüngliche und echte Gebilde griechischen Geistes. Aphrodite ist übers Meer gekommen, wobei Cypern ein wichtiges Bindeglied nach Phönizien mit Sidon und Tyros war, und Artemis, die Schwester des Bogenschützen Apollon, ist so wenig eine ursprünglich griechische Göttin, wie ihr Bruder Apollon ein ursprünglich griechischer Gott ist. Der Anfang des homerischen Apollonhymnus zeigt, dass der Gott erst spät in die Versammlung der Olympier aufgenommen wurde37. Kleinasien ist die Heimat der Geschwister Apollon und Artemis. Der Doppelaspekt von Tod und Leben zeichnet bei näherem Zusehen alle drei Gottheiten aus. Artemis als ‚Herrin der Tiere‘ reicht in die Zeit der Jägerkultur zurück: entspricht dem doppelgeschlechtigen Ur-Gott: sie ist gerade und ungerade, männlich und weiblich. 36 W. Schmid, Art. Epikur: RAC 5 (1962) 681–819, bes. 735–740 ; D. Lemke, Die Theologie Epikurs = Zetemata 57 (München 1973). 37 V. 1–13 (20 Allen); J. Kroll, Apollon zu Beginn des homerischen Hymnus: Studi Italiani di Filologia Classica 27/28 (1956) 181–191.
5. Die Ambivalenz der göttlichen Macht in der antiken Gottesvorstellung
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Schickte sie kein jagdbares Tier, musste der Mensch der Jägerkultur ein elendes Leben fristen oder gar in schweren und langen Wintern verhungern. Als Geburtsgöttin herrscht Artemis über die gebärenden Frauen: Mit ihren Pfeilen sendet sie ihnen das Kindbettfieber oder verschont sie: Artemis-Eileithyia 38 . In Aphrodite, der Nachfolgerin von Kybele, Mylitta, Ischtar, Astarte, Tanit, sind Lebens- und Todesaspekt gleichfalls vereint. Die Göttinnen der verschwenderischen Liebe sind zugleich Göttinnen des Verderbens, wie das Geschick des Gilgamesch, den Ischtar begehrte, lehren kann. Liebreiz und Grausamkeit zeichnen diesen Göttinnentypus der Großen Göttin aus: Die Große Göttin des Vorderen Orients ist zugleich Mutter, Geliebte und spröde Jungfrau; sie ist Liebesgöttin und Todesgöttin, Aphrodite und Artemis zugleich. In der Tiefenstruktur sind beide griechische Göttinnen ursprünglich identisch 39. Dies wird im folgenden noch deutlicher werden. Doch zuvor noch ein Wort zu Apollon: Mit sicherem Blick hat Goethe die gegensätzliche Wirkungsweise dieses Gottes erkannt und versucht sie in den mit Schiller verfassten Xenien (1796) auszudrücken und gleichsam nachzuahmen: Das Programm-Gedicht der Xenien lautet: „Das doppelte Amt: Saiten rühret Apoll, doch er spannt auch den / tötenden Bogen. Wie er die Hirtin entzückt, / streckt er den Python (Centauren) in Staub“40 . Zu Apollon und Artemis gehört die Göttin Hekate – Persephone 41. Wie der Name ‚Hekate‘ zeigt, scheint eine Verbindung zu ‚Hekatos‘, dem Beinamen Apollons, zu bestehen. Nach Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ist ‚Hekatos‘ ein Name oder Wort, das einer kleinasiatischen Sprache entnommen ist 42 . Apollon und Hekate scheinen jedenfalls ursprünglich kleinasiatische Götter gewesen zu sein. Hekate – Persephone gilt im allgemeinen als Göttin der Unterwelt, des Todes, der Todesdämonen und Gespenster, also als Repräsentantin der numinosen Fluchmacht. Dieses Bild ist aber einseitig. Hekate hat auch die Macht, die Toten ans Licht zu führen. Die Toten ihrerseits sind gleichfalls für das Erleben der Alten numinose Wesen und verfügen deshalb über Se38 W. Kraus, Art. Eileithyia: RAC 4 (1959) 786–798; G. Binder, Art. Geburt II (religionsgeschichtlich): RAC 9 (1976) 43–171, bes. 75–77. 39 L. Radermacher, Hippolytos und Thekla = Sitz. Ber. Akad. d. Wiss. Wien, phil.-hist. Kl. 182,3 (1916); W. Speyer, Zum Problemhorizont weiblicher Gestalten der griechischen und römischen Antike: F. Witek, Frauengestalten des antiken Mythos = Arianna 3 (Möhnesee 2003) XI-XVI. 40 E. Schmidt / B. Suphan (Hrsg.), Xenien 1796 = Schriften der Goethe-Gesellschaft 8 (Weimar 1893) 1. – In Hor. carm. 4,6,1–24 erscheint Apollon zunächst als furchtgebietender Bogenschütze; sodann als Musagetes; Bogen und Saiteninstrument umschreiben den Unheils- und Heilsaspekt. 41 A. Kehl, Art. Hekate: RAC 14 (1988) 310–338; S. I. Johnston, Hekate Soteira, a study of Hekate’s roles in the Chaldaean oracles and related literature = American Classical Studies 21 (Atlanta 1989). 42 Der Glaube der Hellenen 1 (Leipzig, Berlin 1931, Ndr. Darmstadt 1955) 165 f.; vgl. Kehl a.O. 311–313.
30 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums gens- und Fluchmacht. Mit den Ackerbaukulturen ist ein ausgeprägter Totenkult verbunden. Die Toten galten hier als geheimnisvolle Wesen, die zu fürchten sind, zugleich aber auch als Spender von Fruchtbarkeit und Leben. Wie ein Dämon konnte auch der Tote als gut und als böse erscheinen43 . Die Herrin der Toten ist Hekate; sie leitet ihr Heer und schützt vor ihm. Sie kann die nächtlichen Schreckbilder senden, auch als ein solches erscheinen, andererseits auch davor bewahren. Sie ist beim Tod gegenwärtig, aber auch bei der Geburt; sie sendet Krankheit und kann davon heilen. Hekate ist die Herrin des Zaubers, indem sie den magischen Praktiken Wirkung verleiht; sie kann aber auch vor Zauberei schützen. In den Chaldäischen Orakeln zeigt sie sich als Göttin, die den Theurgen den Willen des göttlichen Vaters offenbart; gleichzeitig gilt sie dort auch als Herrin der Dämonen und Ursache alles Übels in der Welt und im Menschen44 . Als in hellenistischer Zeit und in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit die ägyptische Göttin Isis zur Allgöttin aufstieg, offenbarte sie sich, wie Apuleius in seinem als Roman verschlüsselten Hieros Logos der Metamorphosen mitteilt, unter anderem als Artemis, Aphrodite und Hekate-Proserpina45 . Für die Hauptfigur der Metamorphosen, Lucius, war Isis zugleich zornige TycheFortuna und heilende Erlöserin, also Göttin des Heils, Salus. Nach langen, schweren Irrfahrten erreicht Lucius endlich durch dieselbe Göttin, die ihn wegen seiner Neugierde in einen Esel verwandelt hat, seine Erlösung. So erscheint hier Isis deutlich als Unheil und Heil spendende Macht. Da Isis in sich die doppelpolige Grundstruktur der zuvor betrachteten Göttinnen Artemis, Aphrodite und Hekate trägt, kann sie sich in ihrer Offenbarungsrede im 11. Buch auch mit ihnen gleichsetzen. Der scheinbare Synkretismus enthüllt sich aufgrund der gleichen Tiefenstruktur der verschiedenen Gottheiten als Wesensgleichheit. Bekanntlich sind die polytheistischen Religionen in ihrem Reifestadium nicht bei der Vorstellung vieler einzelner Götter stehen geblieben, sondern haben Systeme gebildet. Die Vorstellung einer anthropomorphen Gottheit führte zur Vorstellung von männlichen und weiblichen Göttern. Für diese Aufteilung war der symbolische Aussagegehalt der Naturerscheinungen nicht belanglos. Man denke beispielsweise an die männlich gedachte Himmelsgottheit und die weiblich vorgestellte Erdgottheit oder an die Mondgöttin als eine spezifische Frauengöttin46 . Die Vorstellung von weiblichen und männlichen Gottheiten musste zu weiterer Vermenschlichung führen. Götterhochzeiten und Götterkinder waren die Folge. Die Mythologen haben als Genealogen 43
Speyer, Frühes Christentum 2 a.O. (o. Anm. 32) 58; Kehl a.O. 322 f. Kehl a.O. 322 f.; Johnston a.O. (o. Anm, 41). 45 Met. 11, 5, 2 f. 46 W. Staudacher, Die Trennung von Himmel und Erde, ein vorgriechischer Schöpfungsmythos bei Hesiod und den Orphikern (Tübingen 1942, Ndr. Darmstadt 1968). 44
5. Die Ambivalenz der göttlichen Macht in der antiken Gottesvorstellung
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mit Hilfe der Vorstellung des Anfangs und des Stammbaums Ordnung in die Vielzahl der göttlichen Wesen zu bringen versucht 47. Diese Systeme haben unter religiösem und unter religionsphilosophischem Aspekt nur eine untergeordnete Bedeutung für die Gottesfrage. Wichtiger scheint bei den Systemen göttlicher Wesen, zu denen auch die Geister, Dämonen und Engel zählen, etwas anderes, nämlich die Aufteilung der ambivalenten heiligen oder göttlichen Macht auf zwei für sich bestehende selbständige Bereiche, die jeweils einen Pol dieser Macht repräsentieren. Die antiken Religionen und auch die jüdische und christliche Offenbarung sind durch derartige dualistische Strukturen gekennzeichnet. Bereits im Mythos des alten Orients fi nden sich dafür Belege: die positive Lebens- oder Kosmosmacht in Gestalt Marduks kämpft gegen die dunkle Chaosmacht Tiamat, Osiris gegen Seth, Zeus gegen die Giganten, Apollon gegen Python. Ein Nachklang dieser Kämpfe ist der Endzeitkampf Michaels gegen den Teufel und seinen Anhang in der kanonischen Apokalypse des Johannes48 . In diesen und in anderen religiösen Entwürfen, etwa in Markions These vom bösen Gott des Alten Testaments und vom guten Gott des Christentums, fi ndet immer eine Trennung statt, eine Trennung, die dem Wesen der göttlichen Macht, so wie sie ursprünglich aufgefasst wurde, widerspricht49. In gewisser Weise kann man in den dualistischen Versuchen eine Rationalisierung und Ethisierung der ursprünglichen irrationalen, besser transrationalen Vorstellung der göttlichen Macht oder der Gottheit sehen. Vor allem wohl infolge der Entdeckung eines eigenständigen sittlichen Vermögens aufgrund der menschlichen Freiheit, einer Entdeckung, die erst innerhalb der Geschichte der Hochkulturen erfolgt ist, brach sich eine Betrachtungsweise Bahn, die auch an das Gottesbild einen sittlichen Maßstab legte. So kam man zu der Auffassung, dass die Gottheit nichts Böses oder für den Menschen Schädliches wollen und vollbringen könne, dass ihr Zorn, der, wie wir gesehen haben, Ausdruck ihres heiligen Wesens ist, tatsächlich die sittliche Entrüstung über einen Frevel der Menschen sei und so nur im Dienst ihrer Strafgerechtigkeit stehen könne. Demnach mussten alles übrige Böse und Lebensfeindliche, alle übrigen Fluchzustände in der Welt und im Leben der Menschen auf andere Ursachen zurückgehen. Diese anderen Ursachen sah man in einer mehr oder minder selbständigen Schadensmacht, die der Gottheit, die jetzt nur noch mit der heiligen Segensmacht gleichgesetzt wurde, und den unter ihrem Schutz stehenden Menschen feindlich gesonnen war. So war die Vorstellung
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W. Speyer, Art. Genealogie: RAC 9 (1976) 1145–1268, bes. 1165 f. Speyer, Frühes Christentum 2 a.O. (o. Anm. 32) 51–68: ‚Fluchmächte und Dämonen. Zur Vorgeschichte des Teufels in der Antike mit Ausblicken auf das Christentum‘. 49 A. von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott 2 (Leipzig 1924, Ndr. Darmstadt 1985). 48
32 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums eines dämonischen Gottesfeindes geboren 50 . Das Ungeheuer der Tiefe, Tiamat, der Gott der Wüste Seth, die Giganten, der Drache Python, die Dämonen, der Teufel und sein Anhang galten als diese numinosen Fluchmächte. Diese Entwürfe der geschichtlichen Religionen haben das Geheimnis der göttlichen Macht nicht mehr so deutlich bewahrt wie die zuvor besprochenen wohl älteren Vorstellungen. Nicht allzu schwierig wäre es nachzuweisen, dass auch das Neue Testament zahlreiche Hinweise auf das Geheimnis der Verbindung von göttlicher Segens- und Fluchmacht bietet 51.
6. Schlussbetrachtung Die vorgetragenen Überlegungen gehen von der Einheit des Weltganzen und seinen Erscheinungen aus. Hinter allen geschichtlichen Religionen leuchtet die Einheit der göttlichen Macht oder der einen Gottheit auf. Die Gottheit ist die übermenschliche, geheimnisvolle Macht, die die Menschen seit jeher als die Quelle von Leben und Tod, Heil und Unheil, Segen und Fluch gefürchtet und verehrt haben. Damit ist die letzte gemeinsame Grundlage aller Religionen bestimmt: die geheimnisvolle übermenschliche Macht, die sich in den Grundgegensätzen, die die Welt bilden, und in der sich in ihnen zeigenden Steigerung immerfort offenbart. Hierin liegt zugleich auch die Wahrheit der geschichtlichen Religionen verborgen: sie stimmen aufgrund der ganzheitlich ausgerichteten religiösen Erfahrung und Einsicht der Menschheit mit dem aus komplementären Grundgegensätzen gestalteten Wirklichkeitsganzen überein. Aufgrund anderer Überlegungen dürfte Nikolaus von Kues zu einem Ergebnis gelangt sein, das dem hier vorgetragenen nahe kommt. In seiner Schrift De pace fidei bemerkt er: „Alle, die jemals mehrere Götter verehrt haben, haben dadurch vorausgesetzt, dass die Gottheit existiert. Denn sie verehren jene in allen Göttern, die gleichsam an ihr teilhaben. Wie nämlich, wenn die weiße Farbe nicht existiert, keine weißen Gegenstände vorhanden sind, so gibt es auch keine Götter, wenn die Gottheit nicht existiert. Die Verehrung
50 W. Speyer, Art. Gottesfeind: RAC 11 (1981) 996–1043, bes. 1030–1034; Ders., Frühes Christentum 2 a.O. (o. Anm. 32) 51–68. 51 Speyer, Frühes Christentum 1 a.O. (o. Anm. 4) 140–159. 495, bes. 156–159: „Religionen des griechisch-römischen Bereichs. Zorn der Gottheit, Vergeltung und Sühne“. – Am Ende des 15. Jahrhunderts begegnet in der niederländischen und deutschen Malerei das Thema des Weltgerichtes mit Christus, aus dessen Mund rechts die Lilie (für die zur Seligkeit Bestimmten) und links das Schwert (für die zur Verdammnis Bestimmten) hervorgeht (R. van der Weyden, Hans Memling u. a.). Lilie und Schwert symbolisieren hier Segen und Fluch (andere Deutung: M. Pfister-Burkhalter, Art. Lilie: Lexikon d. christl. Ikonographie 3 [1974] 100–102, bes. 101).
6. Schlussbetrachtung
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der Götter bekennt demnach die Gottheit“52 . Von hier ergeben sich für Nikolaus von Kues auch Folgen für die Bedeutung Abrahams, den wir als einen hervorragenden Repräsentanten des religiösen Menschen auch unter universal-religions-geschichtlichem Aspekt bezeichnen dürfen. Der religiöse Mensch ist jener, der den von uns beschriebenen ambivalenten Urgrund der Wirklichkeit bis zur Hingabe seiner selbst bejaht und sich der ambivalenten Wirkung der Gottheit in Segen und Fluch nicht widersetzt 53 . Abraham war bereit, seinen Sohn Isaak und damit die Zukunft seines Geschlechts hinzugeben. In dieser Bejahung der numinosen Fluchmacht liegt ein Akt des Vertrauens und damit des Glaubens an die Souveränität Gottes. Insofern „ist Abraham“, wie der Kusaner den Völkerapostel Paulus sprechen lässt, „der Vater des Glaubens aller Glaubenden, seien sie Christen oder Araber oder Juden [d. s. die drei Ausformungen der Offenbarungs- oder prophetischen Religion], denn er glaubte Gott und dies wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet. Die Seele des Gerechten wird das ewige Leben erben. Ist dies aber zugegeben, so werden nicht jene Verschiedenheiten der Riten Verwirrung stiften; denn sie sind als sinnhafte Zeichen der Wahrheit des Glaubens eingerichtet und empfangen: die Zeichen aber unterliegen der Veränderung, nicht aber das Bezeichnete“54 . Mit diesen Worten hebt der Kusaner die Zeitlosigkeit der einen göttlichen Macht oder Gottes hervor: Die Religionen umkreisen in bunten Bildern die ewige Mitte der heiligen oder göttlichen Macht, das GeheimeOffenbare, die unbegreifl iche Einheit in Segen und Fluch 55 .
52 c. 6: L. Gabriel (Hrsg.), Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften 3 (Wien 1964, Ndr. ebd. 1989) 724; vgl. auch Th. McTighe, Nicholas of Cusa’s unity – metaphysics and the formula Religio una in rituum varietate: Nicholas of Cusa in search of god and wisdom: Festschrift M. Watanabe = Studies in the history of christian thought 45 (Leiden 1991) 161–172. 53 Speyer, Studien a.O. (o. Anm. 21) 96–105; Ders., Frühes Christentum 2 a.O. (o. Anm. 32) 271–279. 54 De pace fidei c. 16 (ebd. 778 Gabriel); vgl. M. Seidlmayer, ‚Una religio in rituum varietate‘. Zur Religionsauffassung des Nikolaus von Cues: Archiv f. Kulturgeschichte 36 (1954) 145–207; W. A. Euler, Cusanus’ Verständnis der negativen Theologie und seine Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Religionen in De pace fi dei und Cribratio Alkorani’: Theologische Quartalschrift 181 (2001) 132–142. 55 Ferner vgl. die Lehre des Cusaners vom Zusammenfall der Gegensätze, der coincidentia oppositorum, die aber gleichsam noch diesseits Gottes liegt; G. von Bredow, Art. Coincidentia oppositorum: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971) 1022 f.; Beierwaltes a.O. (o. Anm. 5) 109–111.
2. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens Der Archäologe Reinhard Kekulé von Stradonitz (1839–1911) hat über die griechische Religion folgendermaßen geurteilt: „Es ist nicht wahr, daß die griechische Religion eine Religion der Schönheit gewesen sei. Sie war, wie alle Religionen eine Religion der Furcht und Hoffnung, des Entsetzens und Jubels, ohnmächtigen Jammers und des Dankes für Hilfe und Rettung“1. Die Vorstellung von der Religion der Griechen als einer Religion der Schönheit konnte nur auf dem Boden einer Ästhetik entstehen, wie sie Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) und Raphael Mengs (1728–1779) entworfen und der europäische Klassizismus ins Bild und ins Wort gebracht haben. Tatsächlich reichen aber die Wurzeln der archaischen und klassischen Kunst und Literatur der Griechen tiefer. Nur auf einer späteren Entfaltungsstufe des Geistes innerhalb einer Hochkultur wird Kunst zum Ausdruck einer nur ästhetisch begriffenen Schönheit, die der Künstler in einer eher vordergründig verstandenen Harmonie und Ausgewogenheit sucht. Die wahre Schönheit der Kunst ist wie die Schönheit selbst mit dem Furchtbaren gepaart, so wie Aphrodite mit Ares, und rührt damit unmittelbar an das DämonischGöttliche. Eine Verehrung oder eine Religion der Schönheit, wobei diese in einem eingeschränkt sinnlich-ästhetischem Sinn aufgefaßt ist, kann nur in Spätzeiten, wenn nicht sogar in Verfallszeiten entstehen. Die gewachsene Religion als die früheste unmittelbare Aussage des Menschen versucht auf die Frage, die das Wirklichkeitsganze dem geistbegabten Menschen stellt, eine Antwort zu geben. Alle späteren Antworten, also vor allem die der Philosophie und der aus ihr hervorgegangenen Wissenschaften, sind mit dieser ältesten Antwort aufgrund der Kontinuität der sich geschichtlich entfaltenden menschlichen Geistseele und der inneren Zusammengehörigkeit einer jeden Kultur verbunden. Kontinuität zeichnet das Wirklichkeitsganze ebenso aus wie die Entfaltung des menschlichen Bewußtseins und seiner Stufen vom Mythos zur Myth-Historie, von der Myth-Historie zur
1 Über die Entstehung der Götterideale der griechischen Kunst (Stuttgart 1877) 10. – Ähnlich urteilt E. Peterich, Vom Glauben der Griechen (Freiburg 1942) 5; er spricht von „tragischer Harmonie, die auch die Tragödie geschaffen habe“.
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2. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens
Geschichte und der zusammen mit dem geschichtlichen Bewußtsein entstandenen Philosophie sowie den Einzelwissenschaften 2 . Nach dem Zeugnis der Religionen, die alle das Verhältnis des Menschen zur Welt, genauer zu den Mächten der Wirklichkeit, auf je eigene Weise thematisieren, zeigt das Wirklichkeitsganze ein janusartiges Gesicht, und zwar von Leben und Tod, von Segen und Fluch, von Heil und Unheil, und erweckt damit im Menschen die Gefühle „der Furcht und Hoffnung, des Entsetzens und Jubels, ohnmächtigen Jammers und des Dankes für Hilfe und Rettung“3 . Hoffnung und Furcht beherrschen auch heute noch das Leben der Menschen. Diese einander widersprechenden Gefühle werden bei Geburt, Hochzeit und Tod ebenso nachdrücklich erregt wie in den von den Menschen des religiösen Zeitalters als heilig erlebten Zeiten: den beiden Sonnenwenden, dem Jahreswechsel, den Zeiten der Aussaat und der Ernte und bei Natur- und Lebenskatastrophen, sowie an heiligen Orten4 . Die Menschen der Volks- und Naturreligionen, also der spontan entstandenen Religionen, haben an die Wirkung einer oder vieler numinoser/heiliger Mächte geglaubt, die alles in der Welt bestimmen und die sich im Wirklichkeitsganzen und in den einzelnen Wirklichkeitsbereichen fortwährend zeigen 5 . Deren Wirkung glaubten sie in Grundgegensätzen zu erkennen, die sich begriffl ich auf die beiden für die Menschen entscheidenden Pole, auf Segen und Fluch oder Heil und Unheil, bringen lassen6 : In den jeweiligen Äußerungen und Konkretisierungen dieser beiden Pole erlebten sie das Wesen und die Wirkung der heiligen Macht oder der heiligen Mächte. Segen, der Heil wirkt, und Fluch, der Unheil schafft, sind so gleichsam allgemeinste und letzte Aussageweisen, Kategorien, des religiösen Erlebens, der religiösen Wirklichkeitsdeutung und Begriffsbildung.
2 Der geheime Strom des Geschehens = Eranos Jb. 1985; F. Ohly, Zur goldenen Kette Homers: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und Bedeutungsforschung (Stuttgart/ Leipzig 1995) 599–678. 3 S. Anm. 1; vgl. A. Spira, Angst und Hoffnung in der Antike: F. R. Varwig (Hrsg.), AINIGMA, Festschrift H. Rahn (Heidelberg 1987) 129–181: „Man sieht, im Ganzen kommt die Hoffnung nicht gut weg in der Antike“ (ebd. 181: ‚Resümee‘). 4 E. Samter, Geburt, Hochzeit und Tod. Beiträge zur vergleichenden Volkskunde (Leipzig, Berlin 1911); M. Eliade, Die Religionen und das Heilige (Salzburg 1954, Ndr. Frankfurt, M. 1994) 445–470; W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 〈1〉 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) Reg. ‚Ort, heiliger‘. 5 W. Pötscher, Das Person-Bereichdenken in der frühgriechischen Periode: ders., Hellas und Rom = Collectanea 21 (Hildesheim 1988) 49–69; Ders., Person-Bereich-Denken und Personifi kation: ebd. 70–84 sowie das Nachwort ebd. 85–89. 6 W. Speyer, Art. Fluch: Reallexikon für Antike und Christentum (= RAC) 7 (1969) 1160–1288; Ders., Christentum a.O. Reg. ‚Segen‘, ‚Fluch‘; Ders., Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim 1995) Reg. ‚Segen‘, ‚Fluch‘.
2. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens
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Die Menschen der Ursprungskulturen und der frühen Hochkulturen haben die Wirkungen der heiligen Mächte zunächst als Vorgänge und Ereignisse erlebt, die in der von den Sinnen erfaßbaren Wirklichkeit, der Realität der Natur, geschehen. Hier waren es vor allem jene Erscheinungen, die durch Außergewöhnlichkeit und Plötzlichkeit im Guten wie im Schlechten auffielen, die wir deshalb die auffallenden Naturerscheinungen nennen können7. In allem von der gewohnten Ordnung in der Natur Abweichenden erlebten die Menschen der vorwissenschaftlichen Geistesstufe eine Krato-, Hiero- oder Theophanie, also eine Offenbarung des Dämonisch-Göttlichen oder Numinosen8 . Dabei unterliegt das Erlebnis des Außergewöhnlichen und Auffallenden aufgrund der Gewöhnung innerhalb einer Kultur einer gewissen psychischen und geistigen Abnutzung und Entleerung. Die Loslösung der menschlichen Geistseele von der sinnenhaft unmittelbar erlebten Außenwelt und die Hinwendung zum Inneren der Gefühle und der Leidenschaften, des Willens und der Vorstellungen und Gedanken führten zu einer allmählich vorgenommenen Unterscheidung der Wirklichkeit in eine äußere und innere, in eine objektive und eine subjektive. Infolge dieser Trennung erlebte der Mensch sich mehr und mehr als selbst fühlend, als selbst wollend und selbst denkend und damit als Subjekt. Je mehr diese Überzeugung des eigenen Selbststandes wuchs, umso mehr verblaßten die zuvor noch übermächtig erlebten heiligen Mächte. Die Wirklichkeit, vor allem die äußere Welt, wurde mehr und mehr zum Objekt, über das sich das analysierende und wertsetzende Denken erhob. Zunächst war die Welt Subjekt, der Mensch Objekt gewesen. Der Weg des Bewußtwerdens führte zu einer Umkehrung dieses Verhältnisses. Dieser geistes- und kulturgeschichtlich nicht leicht zu überschätzende Wandel des Erlebens und Vorstellens von einer ursprünglichen Unio magica oder mythica, in der der Mensch mehr als Objekt erschien, zu einer Subjekt-Objekt-Relation ist ein Vorgang, der – soweit er für uns nachvollziehbar ist – in den Hochkulturen des Alten Orients begonnen hat, ja er scheint geradezu die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen dieser Hochkulturen gewesen zu sein9. Als erste traten die Großkönige des Alten Orients und Ägyptens aus der Geschichtslosigkeit und damit der Anonymität des ursprünglich allein bestimmenden Kollektivs ihrer Gemeinschaft heraus. In ihren Inschriften und ihren auf die Gottheit zurückgeführten Gesetzen zeigten sie sich als die ersten individuellen und als Einzelne handelnden Sterblichen der Geschichte10 . In der Individualisierung waren ihnen gewissermaßen die bereits individuell als
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Speyer, Studien a.O., Reg. ‚Plötzlichkeit‘. Eliade a.O. (o. Anm. 4) 21–61. 9 C. H. Ratschow, Magie und Religion (Gütersloh 1947) zur Unio magica. 10 G. Misch, Geschichte der Autobiographie 1. Das Altertum 1 3 (Bern 1949) 22–49. 8
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2. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens
Subjekte aufgefaßten Götter vorausgegangen, die Träger begrenzter Wirklichkeitsbereiche, wie die ‚Welteltern‘ Himmel und Erde, das die Erde bestimmende Geschwisterpaar Sonne und Mond, der Ozean und zahlreiche andere Weltpotenzen11. Die ältesten Bezeichnungen für all diese zugleich als Numina aufgefaßten grundlegenden Bereiche der Wirklichkeit scheinen zunächst Götternamen gewesen zu sein. Erst allmählich dürften Götternamen zu Begriffen geworden sein12 . So stehen vor den individuell erlebten Menschen die einzelnen Gottheiten, vor den Begriffen die Götternamen. Bei den Griechen ist der Prozeß der Individualisierung, und damit verbunden der Prozeß der Historisierung, seit den myth-historischen Dichter-Sängern Orpheus, Homer sowie verwandten Gestalten und dem geschichtlichen Hesiod zu erkennen13 . In immer dichterer Folge treten seit dem 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland Einzelne aus der Namenlosigkeit der schöpferisch tätigen Familienverbände und Stände hervor, seien sie Seher, Dichter, Sänger, Arzt-Seher, Gesetzgeber oder bildende Künstler, wie die frühen Vasenmaler14 . Damit werden einzelne schöpferisch Tätige als Individuen gegenüber den vielen Namenlosen ihrer Umgebung erkennbar. Mit diesem Wandel des Bewußtseins vom Eingebettetsein in Familie und Stamm zum Sichbewußtwerden des Einzelnen als eines individuell geistig Schaffenden und Gestaltenden geht die Ablösung der bisher geltenden mündlichen Überlieferung durch das aufgezeichnete Wort des sich orthonym oder bald auch pseudonym nennenden Urhebers parallel. Das Entstehen des geistigen Eigentums ist ein Prozeß, der mit der Individualisierung geistigen Schaffens eng verbunden ist. Homer und die homerischen Sänger und Rhapsoden gehen noch im Kollektiv der Schule der Dichter/ Sänger unter. Der ‚blinde Sänger von Chios‘, der Verfasser des pseudo-homerischen Delischen Apollonhymnus, ist bereits eine Individualität, und Hesiod ist ein einzelner Sänger, der über sich und seine Angehörigen spricht und sich von höheren Mächten herausgerufen und berufen fühlt15 . So führt der Weg des literarischen Schaffens von einer rein mythischen Verfasserschaft, einer Verfasserschaft durch den Gott, von der Inspiration, und damit einer relativen Fremdbestimmung, zur menschlichen Ver11 Diese sind die als miteinander verwandt aufgefaßten Kräfte der Welt, deren Entstehen die Theo-/ Kosmogonien beschreiben; vgl. H. Schwabl, Art. Weltschöpfung: RE Suppl. 9 (1962) 1433–1582; ferner vgl. Pötscher a.O. (o. Anm. 5). 12 Z. B. Uranos, Himmel, Gaia, Erde, Okeanos, Ozean, Helios, Sonne, Selene, Mond usw. Von anderen theoretischen Voraussetzungen geht B. Gladigow aus: Art. Gottesnamen (Gottesepitheta) I (allgemein): RAC 11 (1981) 1202–1238. 13 Vgl. Wilhelm Schmid, Geschichte der griechischen Literatur 1,1 = Handbuch d. Altertumswiss. 7,1,1 (München 1929, Ndr. ebd. 1959) 48–54; R. Böhme, Der Lykomide. Tradition und Wandel zwischen Orpheus und Homer (Bern, Stuttgart 1991). 14 W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = Handbuch d. Altertumswiss. 1,2 (München 1971) 15–17. 15 V. 169–176 (86 f. Humbert); Hes. theog. 22–34 (111 f. West).
2. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens
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fasserschaft und damit zu einer relativen Selbstbestimmung16 . Ausdruck dieser neuen Mentalitätsstufe der sich anbahnenden individuell bestimmten Subjektivität ist das sich zugleich meldende begriffl iche Denken mit seinem argumentierenden Diskurs. Diese neue Rationalität des Einzelnen löst den im älteren, kollektiven Bewußtsein verhafteten Mythos ab. Der alte gewachsene Mythos argumentiert nicht, kritisiert nicht, vergleicht nicht: er bedeutet17. Kritik und selbständiges Urteil, das sich auf Beweisgründe stützt, kennzeichnen erst das Schaffen eines einzelnen Dichters und Schriftstellers. Das Aufkommen der Alphabetschrift war in Griechenland mit der Entdeckung der neuen Rationalität eng verknüpft. Dadurch war auch die Bedingung für das Entstehen bestimmter Fachwissenschaften gegeben. Diese geistige Revolution, die spätestens seit Homer zu erkennen ist, führte mehr und mehr zur Subjektivität und damit auch zur Vorherrschaft eines geschichtlichen Bewußtseins, das, indem es die Veränderung nachdrücklicher als zuvor wahrnimmt, sie zugleich beschleunigt. Infolge dieser neuen Entfaltungsstufe eines begriffl ichen, diskursiven und analysierenden Denkens konnte das sich in allem Durchhaltende und Ungeschichtliche, das sich im Mythos und Symbol ausspricht, allmählich verdunkelt werden. In den vorgeschichtlichen Zeiträumen bis in die frühgeschichtliche Periode erlebte sich der Mensch als ein Wesen, das fast zur Gänze unter den Wirkungen der heiligen Mächte stand und sich von ihnen bestimmt fühlte. Friedrich Schleiermacher (1768–1834) prägte die bekannte Defi nition der Religion: Religion sei das Bewußtsein schlechthiniger Abhängigkeit vom Unendlichen. Dabei ist sein Sprechen vom Unendlichen als eine Umschreibung des Unbedingten oder Absoluten, der Gottheit oder der heiligen Macht, zu verstehen18 . Gegenüber der Einstellung des Menschen zum Wirklichkeitsganzen, wie sie F. Schleiermacher beschreibt und wie sie der Stufe eines archaischen Bewußtseins entspricht, ist der Weg zum heutigen Bewußtsein, den die griechischen Sophisten und Geschichtsschreiber, wie Thukydides, eröffnet haben und den dann erneut die nicht-christlichen Denker der Neuzeit beschreiten, der Weg zu einem Bewußtsein einer angenommenen absolut freien Selbstbestimmung oder Autonomie. Dieses neu entstandene Bewußtsein geht so weit, daß es sich schließlich selbst an die Stelle der heiligen Macht, der Gottheit, zu setzen versucht. Tatsächlich ist aber der Mensch – verstanden als Einzelner und als Art- und Gattungswesen – nur bis zu einem bestimmten Grad frei und autonom. Zwei Kräfte bringen sein Denken und Handeln zustande: Das Zusammenspiel von
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Speyer, Christentum a.O. (o. Anm. 4) 28–42. Vgl. Heraclit: VS 22 B 93 (Diels / Kranz) zum Orakel Apollons. 18 K. E. Welker, Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch Schleiermacher (Leiden, Köln 1965) Reg. ‚Abhängigkeit, schlechthinige‘. 17
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Bedingungen außerhalb des eigenen Bewußtseins mit den Bedingungen des selbsttätigen Willens und der Erkenntniskraft19. Wie aus der Geschichte des menschlichen Bewußtseins und damit seines Geistes zu entnehmen ist, hat sich der Mensch ursprünglich in jeder Hinsicht, also fast zur Gänze, als ein Wesen erfaßt, das unter einer übermenschlichen Fremdeinwirkung steht, eben einer oder vieler heiliger Mächte. Erst ganz allmählich erwachte er zur Einsicht in seine mehr oder minder große Freiheit der Selbstbestimmung 20 . Aber auch nach der emanzipatorischen Lehre der Sophisten blieben vielen Zweifel an der menschlichen Freiheit. Gerade im Zeitalter des Hellenismus waren Gebildete und Ungebildete davon überzeugt, daß übermenschliche Mächte alles im Leben bestimmten. Diese Fremdbestimmung aber deuteten jetzt viele nicht mehr als die Wirkung bestimmter Götter, der Götter der Staatsreligion, sondern als die Wirkung von Tyche, Heimarmene, Fatum oder der Gestirngottheiten 21. Diese die hellenistische Epoche und die heidnische Kaiserzeit bestimmende Mentalität entspricht gewissermaßen dem alten Götterglauben und steht seitdem neben der Überzeugung von der freien Selbstbestimmung oder der Führung durch die eine göttliche Vorsehung, wie sie die Stoiker lehrten 22 . Seit hellenistischer Zeit begleitet die Überzeugung von der Macht der Tyche, der Heimarmene, des Fatums oder der Gestirne als dritte Weltdeutung neben Götterglauben und religionskritischer Aufklärung die Geschichte der griechisch-römischen Kultur und selbst noch ihrer christlichen Tochterkulturen. Seit der Renaissance gewinnt diese von Furcht bestimmte Überzeugung bis heute wieder an Einfluß und Macht über die Seelen. In der Tiefe der Seele blieb bei vielen Menschen des Altertums die Furcht vor der dämonisch-göttlichen Macht lebendig, die gleichsam willkürlich mit den Menschen gegen deren Willen und auch ohne Rücksicht auf deren Verdienste schaltet, sie bald erhebt und beseligt, bald erniedrigt und ins Unglück stürzt23 . 19 A. Dihle, The theory of will in classical antiquity = Sather Classical Lectures 48 (Berkeley, Los Angeles, London 1982). 20 Für die Griechen vgl. die einschlägigen Arbeiten von B. Snell; dazu A. Lesky, Art. Homeros: RE Suppl. 11 (1968) 687–846, bes. 735–740; J. Stallmach, Ate. Zur Frage des Selbst- und Weltverständnisses der frühgriechischen Menschen = Beiträge z. Klass. Philologie 18 (Meisenheim a. Gl. 1968). Kritik äußert Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer = Abh. d. Akad. d. Wiss. u. d. Lit. Mainz 1990, 5. 21 H. O. Schröder, Art. Fatum (Heimarmene): RAC 7 (1969) 524–636. – W. Gundel / H. G. Gundel, Astrologumena. Die astrologische Literatur in der Antike und ihre Geschichte = Sudhoffs Archiv, Beih. 6 (Wiesbaden 1966). 22 Vgl. die Rede des Balbus im zweiten Buch von Cic. nat. deor., bes. 2, 58. 73 f. Pease; vgl. ebd. 1,18 zur providentia; Seneca, de providentia. 23 Speyer, Studien a.O. (o. Anm. 6) 1–8: „Derjenige, der verwundet hat, wird auch heilen“ und o. S. 24–32.
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Einzelne Dichter der Neuzeit haben diese Grundstimmung der Griechen in ihrem Verhältnis zur heiligen Macht intuitiv nachempfunden. Treffend bemerkt Erwin Rohde im Anschluß an Goethes Verse aus Wilhelm Meister, Harfenspieler: „‚Ihr himmlischen Mächte, ihr laßt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein‘ – die Worte des Dichters sprechen unübertreffl ich klar und herbe die nie ganz überwundene Meinung und Empfi ndung der Griechen aus“24 . Erschütternden Ausdruck hat Goethe dieser Überzeugung vom Wirken der heiligen Macht in seinem ‚Lied der Parzen‘ innerhalb seines Iphigenie-Dramas gegeben 25 . Die Parzen sind die griechischen Moiren Klotho, Lachesis, Atropos, also die unverfügbaren göttlichen Mächte, die hier in einer Art Offenbarungsrede sich als die nicht Berechenbaren, jenseits allen menschlichen Denkens und sittlichen Handelns Stehenden zeigen. Das Göttliche erscheint in diesem Gesang als die übermenschliche Macht in ihrer grenzenlosen und unauslotbaren Souveränität. In diesem Lied kommt der Aspekt des Fluchs oder des Zornes Gottes als Wesenszug der numinosen Macht nicht nur zum Ausdruck, sondern erscheint als der den Segensaspekt fast vollständig verdunkelnde Pol. Der Mensch zeigte gewiß von Anbeginn der Hominisation Regungen eines sittlichen Verhaltens gegenüber seinen Mitmenschen 26 . Dabei hat das Vergeltungsdenken, das in der Natur und ihren Gegensätzen, die komplementär aufeinander bezogen sind, ein Fundament besitzt, bei der Entfaltung der Sittlichkeit zunächst einen breiten Raum eingenommen 27. Der Inhalt dessen, was als sittlich angesehen wird, ist in den Kulturen nach Zeiten und Räumen starken
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Die Religion der Griechen: Ders., Kleine Schriften 2 (Tübingen 1901) 324. 4. Aufzug, 5. Auftritt: Hamburger Goethe-Ausgabe Bd. 5 Dramatische Dichtungen 3 (München 1988) 54 f.; vgl. ebd. 457 f.; dazu G. Müller, Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze (Tübingen 1968) 511–533. Im Gedicht ‚Das Göttliche‘ (Hamburger GoetheAusgabe Bd. 1 Gedichte und Epen 1 [München 1988] 147–149; dazu der Hrsg. E. Trunz im Kommentar ebd. 559–561) kommt die Strophe über das Glück dem altgriechischen Erleben sehr nahe: „Auch so das Glück / tappt unter die Menge, faßt bald des Knaben lockige Unschuld, bald auch den kahlen schuldigen Schädel“. – In Schillers ‚Ring des Polykrates‘ warnt der ägyptische König den Alleinherrscher von Samos: „Drum, willst du dich vor Schmerz bewahren, / so flehe zu den Unsichtbaren, / daß sie zum Glück den Schmerz verleihn. / Noch keinen sah ich fröhlich enden, / auf den mit immer vollen Händen / die Götter ihre Gaben streun“. Der Mensch erscheint im Bereich des ‚Zwischen‘ angesiedelt, zwischen der Glückseligkeit der Gottheit und der Unseligkeit des dämonischen Gottesfeindes. Wie sein Leben stets mit Anteilen des Todes durchsetzt ist, so kann er auch nicht in einem immerwährenden Fest und in immerwährendem Glück auf Erden leben. 26 H. Chadwick, Art. Gewissen: RAC 10 (1978) 1025–1107; Ders., Art. Humanität: ebd. 16 (1994) 663–711. 27 Vgl. Anaximandros: VS 12 B 1; ferner A. Dihle, Die ‚Goldene Regel‘. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik = Studienhefte z. Altertumswiss. 7 (Göttingen 1962); Ders. Art. Goldene Regel: RAC 11 (1981) 930–940. 25
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Schwankungen ausgesetzt, wie bereits antike Gelehrte festgestellt haben 28 . Dabei bleibt der jeweils geltende sittliche Kodex an das ihm vorausliegende religiöse, philosophische oder weltanschauliche Bild gebunden und durch dieses auch inhaltlich mitbestimmt. Der Inhalt der Sittlichkeit und des Gottes- und Menschenbildes beeinflussen sich gegenseitig. Je mehr der Einzelne sich als sittlich handelnd im Sinne einer Vergeltungsethik, also auch mit dem Maßstab gerechten Handelns, bewußt erlebte, umso mehr mußte er die ältere Auffassung eines ungebundenen und gänzlich souveränen, ja willkürlich erscheinenden Handelns der Gottheit gegenüber den Menschen und der Natur als ihrem Wesen fremd und widersprechend beurteilen. So forderten die Theologen dieses sittliche Verhalten auch für die Gottheit. Erlebte und verstand man zunächst die Willkür in Segen und Fluch als Eigentümlichkeit der übermenschlichen heiligen Macht, so beurteilte man sie nunmehr unter dem Einfluß eines vergeltenden Maßstabes geradezu als widergöttlich und als böse. So wurde der Aspekt der numinosen Fluch-, Unheils- und Schadensmacht allmählich aus dem sittlich gewordenen Gottesbild entfernt. Diese theologische Schlußfolgerung, die infolge der Erkenntnis der Gerechtigkeit als göttlicher Eigenschaft geradezu erzwungen wurde, mußte dann folgerichtig zu einer wie auch immer gearteten dualistischen Weltsicht führen. Auf der einen Seite stand die gerechte Gottheit, die entsprechend zum guten oder bösen Handeln des Menschen Lohn oder Strafe erteilte. Da aber diese für die Gottheit geforderte Gerechtigkeit mit Lohn und Strafe sich im realen Leben des Einzelnen, seiner Familie und auch der Völker selten voll erweist, verlängerte man sie ins Jenseits. So entstand die Vorstellung eines jenseitigen Totengerichtes mit einem Ort der Strafe und einem Ort der Belohnung 29. Im Jenseits sollte dann der volle Ausgleich zum Handeln und zum Geschick des Einzelnen sowie der Völker stattfi nden. Auf diese Weise konnte die Gottheit allein mit dem Segens-, Heils- und Lebensaspekt verknüpft bleiben. Aller Fluch und alles Unheil sowie den endgültigen Tod wirkte dieser Theologie zufolge, die von der Absicht einer Theodizee mitgeleitet ist 30 , die widergöttliche, da widersittliche, dämonische Fluchmacht. Diese galt als die Urheberin alles Unheilbringenden, mit Einschluß des Todes, in der Natur oder Schöp28 Vgl. die nur bruchstückhaft erkennbaren Sammlungen der Nomima barbarika (W. Speyer / I. Opelt, Art. Barbar: RAC Suppl. 1 [1992] 811–895, bes. 821–823). 29 P. Habermehl, Art. Jenseits (Jenseitsvorstellungen) B. IV/VI: RAC 17 (1996) 258– 301. 309–329, bes. 271–273: ‚Das Jenseitsgericht‘. 30 Vgl. Plutarchs De sera numinis vindicta: Moralia 548 A – 568; dazu K. Ziegler, Art. Plutarchos Nr. 2: RE 21,1 (1951) 636–962, bes. 846–850; H. D. Betz (Hrsg.), Plutarch’s theological writings and early Christian literature = Studia ad Corpus Hellenisticum Novi Testamenti 3 (Leiden 1975) 181–235. – Zur gegenwärtigen Diskussion der Theodizeefrage vgl. die Literatur bei G. Schiwy, Abschied vom allmächtigen Gott (München 1995) 143 Anm. 3.
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fung und im Menschen. Der Herrscher der Unterwelt aber galt als der Exponent der einen oder der vielen Fluchmächte31. Goethe stellte im Gedicht ‚Das Göttliche‘ die ethisch gefaßte Gottesvorstellung der Gottesvorstellung der numinos-dämonischen seines Parzenliedes gegenüber32 . Der Mensch als das allein sittlich handelnde Wesen, von dem wir unmittelbar wissen, gibt hier den Hintergrund und Maßstab für diese ‚geläuterte‘ Gottesvorstellung ab. Aufgrund dieses rational zunächst einsichtigen Ansatzes wird die Gottheit zu einem sittlich vollkommen handelnden Wesen. Indessen liegt hier trotz des ethischen Gewinns eine Verkürzung der Gottesvorstellung vor. Mag das logische Gesetz der Widerspruchsfreiheit auch für das profane, nämlich das tägliche Leben und auch für die Wissenschaft gelten, für die Deutung der Gottheit ist es unzulänglich; denn es rechnete nicht mit dem grundsätzlichen Geheimnischarakter der Gottheit und damit ihrer Unzugänglichkeit für den Verstand. Deshalb können wir für die alles umfassende und von nichts und niemandem umfaßte Gottheit, wenn überhaupt, streng genommen nur in Paradoxa etwas aussagen, und zwar nur Andeutendes. Der eindeutigen begriffl ichen Aussage entzieht sie sich, da sie das menschliche Denken ermöglicht und mitumfaßt und deshalb wesensmäßig unaussagbar bleiben muß33 . In diese Richtung weist gerade das Sprachmittel des Paradoxons, das die Religionen mit der Gottheit oder heiligen Macht in engste Verbindung bringen: Die Gottheit ist die Macht über Segen und Fluch, Leben und Tod, eine Macht, die sich auch in Erwählung und Verwerfung des Menschen kundtun kann. In diesem grundsätzlichen Paradoxon der heiligen Macht und der Gottheit liegen deshalb die Voraussetzung und die Bedingung für eine mystische Theologie, eine Theologie, die nur in Paradoxa über die Gottheit zu sprechen wagt und damit deren Unerkennbarkeit, Unerklärbarkeit und auch Souveränität achtet. In diese Richtung hat Heraklit aus Ephesos mit seiner Lehre von den Grundgegensätzen, die die Wirklichkeit bilden, hingewiesen 34 . Während Goethes ‚Lied der Parzen‘ das Numinos-Dämonische, SouveränUnverfügbare und alle Vernunft und sittliches Empfi nden Infragestellende und Übersteigende in der Gottheit hervorhebt, betont sein Gedicht ‚Das Göttliche‘ vornehmlich das ethische Verhalten der Gottheit. Durch dieses
31 W. Speyer, Fluchmächte und Dämonen. Zur Vorgeschichte des Teufels in der Antike mit Ausblicken auf das Christentum: Ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 51–68. 32 S. o. Anm. 25. 33 R. Mortley, Art. Gnosis I (Erkenntnislehre): RAC 11 (1981) 446–537, bes. 525–536. 34 G. S. Kirk / J. E. Raven / M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, deutsche Ausgabe (Stuttgart, Weimar 1994) 198–233; Ferner vgl. R. Guardini, Der Gegensatz. Vermerke zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten 3 (Mainz 1985); W. Beierwaltes, Art. Gegensatz: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974) 105–117.
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Auseinandertreten der beiden innerlich zusammengehörenden, für begriffliches Denken und menschliche Sittlichkeit jedoch unvereinbaren Aspekte zerfällt aber das geheimnisvolle Gottesbild. Im Gegensatz zu einer von Rationalität und sittlicher Verhaltenweise geforderten Trennung des Segens- und des Fluchaspektes gilt es vielmehr, die unverrechenbare Spannung zwischen ihnen als Ausdruck der geheimen göttlichen, alles beherrschenden Macht auszuhalten. Nur so können auch jene von Rudolf Otto herausgefundenen Momente des Göttlichen erhalten bleiben: das Mysterium tremendum, das Fascinans, das Ungeheure, das Augustum 35 . Unter dieser Spannung steht auch das jüdische und christliche Gottesbild. Indem nach der Offenbarung des Alten und des Neuen Testaments Gott zugleich als Richter und als Liebend-Barmherziger, als rächend-vergeltend-strafend und als verzeihend erscheint – nicht zuletzt denke man an Jesu Gleichnis vom Verlorenen Sohn und an seine Gerichtspredigt –, erweist er sich gewissermaßen als ambivalent, nämlich in Segen und in Fluch wirkend 36 . Auf den göttlichen Fluchaspekt weist vor allem das im Alten und im Neuen Testament antreffbare Motiv vom Zorne Gottes hin 37. Demnach muß auch eine jüdische und eine christliche Theologie, die ausschließlich mit einem ethisch bestimmten Gottesbild nach dem Bild des homo vere humanus rechnet, der Aushöhlung und dem Verfall preisgegeben sein. Ein nur ethisches Gottesbild entspricht weder dem religiösen Erleben der Volks- und Naturreligionen noch der jüdischen und christlichen Offenbarungsreligion noch der Erfahrung der Wirklichkeit, in der wir stehen. Trennt man in der Gottheit den Segens- vom Fluch- und Zornaspekt, um begriffl iche und sittliche Eindeutigkeit zu gewinnen, so nähert man die Gottesvorstellung dem Gottesbegriff an, d. h. man zieht die für den Menschen immer geheimnisvoll bleibende Gottheit auf die Ebene menschlichen Be- und Umgreifens, also Defi nierens, herab. Die Gottheit ist aber weder ein sittlich großer und vollkommen scheinender Mensch, noch ist sie nur dämonisch oder numinos. Vielmehr erscheinen sie und die Schöpfung oder die Natur, in der sie sich ausdrückt und bis zu einem gewissen Grade spiegelt, als das eine alles umfassende Geheimnis, in dem begriffl ich Unvereinbares aufgehoben ist 38 . Die Gottheit übersteigt somit als das eine große Geheimnis, als das Unaus35 Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (München 1917, Ndr. ebd. 1991); vgl. C. Colpe (Hrsg.), Die Diskussion um das ‚Heilige‘ = Wege der Forschung 305 (Darmstadt 1977); A. Dihle, Art. Heilig: RAC 14 (1988) 1–63. 36 Die Verkündigung Jesu ist zugleich als Froh- und als Drohbotschaft zu deuten; M. Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu (Münster, W. 1990). 37 Speyer, Christentum a.O. 〈 1〉 (o. Anm. 4) 140–159. 254–263 und Reg. ‚Zorn der Gottheit‘; Ders., Christentum a.O. 2 (o. Anm. 31) 207–219. 38 So spricht der Prophet Jesaja vom verborgenen Gott, vom Deus absconditus (45,15). – F. Schiller, An die Mystiker: „Das ist eben das wahre Geheimnis, das allen vor Augen /
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sprechbare, alle angebbaren realen und idealen Gegensätze, mithin auch alle Ambivalenzen, aber auch jeden Zusammenfall der Gegensätze. Insofern zeigt sie auch hier wieder ihren Transzendenzcharakter, wie er deutlich aus der jüdischen und christlichen Offenbarung hervorgeht: Gott als der weltunabhängige Schöpfer.
liegt, euch ewig umgibt, aber von keinem gesehn“ (Musenalmanach für das Jahr 1797, Tabulae votivae 52: Schillers Werke, Nationalausgabe 1 [Weimar 1943] 298).
3. Der Gott des Universums und die Vierheit 1. Einleitung Soweit unsere bildliche und schriftliche Überlieferung zurückreicht, versuchte der Mensch auf die Grundfrage des Wirklichkeitsganzen zu antworten. Zunächst mythisch, dann myth-historisch und schließlich begriffl ich, also geschichtlich-philosophisch, stellte er die Frage nach dem Verhältnis von Geburt und Tod, Anfang und Ende, dem Einen und dem Vielen. Wenn Heraklit begriffl ich formuliert: „Das Ganze [d. i. das Wirklichkeitsganze] ist eines“, so übersetzt er das alte mythische Bild der göttlichen Uroboros-Schlange, die das Ganze der Welt als Kreis umgibt und deren Mund ihr Schwanzende sucht, in die Sprache anhebender Begriffl ichkeit1. Die Uroboros-Schlange als Sinnbild des Ganzen der Wirklichkeit ist zugleich Ausdruck des Zusammenfalls aller Gegensätze, die die Wirklichkeit bilden und bestimmen, also der coincidentia oppositorum, wie später der christliche Theologe und Philosoph Nikolaus von Kues (1401–1464) auf den Spuren antiken Vorstellens und Denkens formulieren wird2 . Für das unmittelbare und natürliche Denken ist die Einheit des Vielen, das gegensätzlich strukturiert erscheint, Ausgangspunkt und Ziel allen Fragens. Die das Viele bestimmenden Paare, die aus dem göttlichen Urschoß von allem, dem hesiodeischen Chaos, das hier als Chiffre für das Absolut-Göttliche gelten darf, in Licht, Raum und Zeit, also ins Dasein, heraufsteigen, dachten sich die mythischen Denker als göttliche Gegensatzpaare, die wie das männliche und das weibliche Prinzip in Anziehung und in Abstoßung aufeinander bezogen seien 3 . Diese auf Komplementarität angelegten und in ihrem bedingten und gebrochen aufeinander Angewiesensein wieder auf das unaus-
1 VS 22 B 50; vgl. B 10 (Diels / Kranz); W. Beierwaltes, Art. Hen (8n): RAC 14 (1988) 445–472. 2 J. Stallmach, Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens. Grundzüge der Philosophie des Nikolaus von Kues (Münster, W. 1989); ferner vgl. K. Weidel, Die Religion des deutschen Idealismus: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 1 (1925) 600–615, bes. 603. 3 Hesiod. theog. 116; vgl. vor allem Heraklits Gegensatzlehre und die der Pythagoreer; W. Beierwaltes, Art. Gegensatz: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974) 105– 107.
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3. Der Gott des Universums und die Vierheit
sprechbare, weil unbegrenzte, anfängliche göttliche Ureine zurückweisenden Paare, die der Aspekt einer entgegengespannten Harmonie auszeichnete 4 , schienen so das zunächst unübersichtlich erscheinende Viele des Wirklichkeitsganzen zu binden. Sie verliehen diesem Vielen eine relative Einheit, die eben in der Verwiesenheit der Gegensatzpaare, die die Wirklichkeit ausmachen, aufeinander besteht. Der vorgriechische Gott Eros aber konnte als die Kraft erscheinen, welche die der uranfänglichen Einheit nachgeordnete, weil immer nur kurz aufleuchtende Einheit der Gegensatzpaare zustande bringt. 5 Indem der Mensch die Gesamtwirklichkeit nach seiner eigenen Natur auslegte – nach Männlich und Weiblich, nach Geistig/Seelisch und Körperlich – und so die Welt nach seinem Bilde formte, wobei zu fragen ist, ob er nicht seinerseits bereits nach dem Bild der Welt geformt ist, bezeichnete er als grundlegendes Paar nach dem geheimnisvollen göttlichen Ureinen die Welteltern, Vater Himmel und Mutter Erde6 . Der Mensch des mythischen Weltverstehens deutete im Licht der Welteltern und des göttlich männlichen und des göttlich weiblichen Prinzips auch viele Grundgegensatzpaare der ihm zugänglichen Wirklichkeit. Auf den Spuren dieses mythischen Denkens bewegte sich auch das frühe griechische theologisch-philosophisch-begriffl iche Denken. Während die von der Zahl Drei bestimmten Wesenheiten nicht in sich zu verharren vermögen, sondern über sich gleichsam schöpferisch-zeugend zur Vierheit hinausdrängen – so treibt die Liebe den trinitarischen Gott der Christen zur Vierheit, indem er die Welt schafft –, ist die Vierzahl als Kubikzahl der Zwei wieder enger mit der ursprünglichen und anfänglichen göttlichen Einheit, der Vollendetheit innewohnt, verwandt7. Deshalb schien sich für die Völker der alten Mittelmeerkulturen die eine Welt in eine Vierheit aufzugliedern, um sinnenhaft in Raum und Zeit erscheinen und existieren zu können: So weisen die dem Alten Orient bekannten vier Himmelsrichtungen und damit die vier Hauptwinde, die vier Elemente und die ihnen zugeordneten vier Grundfarben: Weiß (Feuer), Schwarz (Wasser), Rot (Luft), Grün bzw. Gelb (Erde), die vier Wendepunkte der (scheinbaren) Sonnenbahn, die 4
Heraclit: VS 22 B 51. Hesiod. theog. 120–122 West; H. Eisenberger, Sokrates, Diotima und die ‚Wahrheit‘ über EROS: AINIGMA. Festschrift H. Rahn = Bibliothek d. Klass. Altertumswissenschaften N. F. 2, R. 78 (Heidelberg 1987) 183–218. – Bei Varr. ling. lat. 5,61–63 ist Venus das verbindende Prinzip; ferner vgl. Mart. Cap. 1,1, der Hymenaeus diese Aufgabe zuspricht. 6 W. Staudacher, Die Trennung von Himmel und Erde. Ein vorgriechischer Schöpfungsmythos bei Hesiod und den Orphikern (Tübingen 1942, Ndr. Darmstadt 1968); H. Baumann, Das doppelte Geschlecht. Ethnologische Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythos 2 (Berlin 1980) Reg.: ‚Welteltern‘. 7 R. Mehrlein, Art. Drei: RAC 4 (1959) 269–310; C. G. Jung, Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion = Gesammelte Werke 11 3 (Olten, Freiburg 1979) 179–209: ‚Das Problem des Vierten‘ und Reg.: ‚Quaternität‘, ‚Vier‘; F. C. Endres / A. Schimmel, Das Mysterium der Zahl. Zahlensymbolik im Kulturvergleich 10 (München 1984) 72–100. 310–312 (zur Drei); 101–119 (zur Vier); Beierwaltes, Hen a.O. (o. Anm. 1) zur Eins/Einheit. 5
1. Einleitung
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vier Jahreszeiten, aber auch die vier Gliedmaßen der Säugetiere und des Menschen auf die Ganzheit, Abgeschlossenheit und Vollendetheit des Kosmos und dessen hin, was er enthält 8 . Diese Bedeutung der Vier als des Ausdrucks und Sinnbildes für eine Ganzheit und Summe setzt sich in der Welt der Natur und des Geistes sowie der Kultur mannigfach fort, wie folgende Beispiele aus der griechischen und römischen Antike – wenige aus vielen – zu zeigen vermögen9 : Vier Klassen empfi ndender Wesen birgt der Kosmos: Pflanzen, Tiere, Menschen und Götter10 , und vier Klassen vernunftbegabter Wesen: Götter, Halbgötter oder Dämonen, Totengeister oder Heroen und die menschlichen Herrscher11, vier Seinsstufen: Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen12 , vier Qualitäten des Kosmos und des menschlichen Körpers: trocken, feucht, warm, kalt13 . Die Vier begegnet als geistiges Ordnungsprinzip der Ethik: die vier Tugenden, Kardinaltugenden14 , der Mathematik: Punkt, Linie, Fläche und Körper15, der Geschichte: Einteilung in vier Zeitalter der Menschheit16 und 8 F. Boll, Die Lebensalter: NeueJbb 31 (1913) 89–140, bes. 104–106 = Ders., Kleine Schriften zur Sternkunde des Altertums (Leipzig 1950) 156–224, bes. 174–176; E. Peterson, EIS QEOS. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen (Göttingen 1926) 241–253: „Der viereinige Gott in der iranisch-chaldäischen Theologie“; A. Ehrhardt, Vir bonus quadrato lapidi comparatur: Harvard Theological Review 38 (1945) 177–193; M. Lurker, Kreis, Quadrat und Vierzahl im Weltbild früher Kulturen: Mannus 44 (1978) 121–133; G. Böhme / H. Böhme, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente (München 1996). Für das Mittelalter: B. Brondes, Das Bild der Schöpfung und Neuschöpfung der Welt als orbis quadratus: Frühmittelalterliche Studien 6 (1972) 188–210; M. Fierz, Naturwissenschaft und Geschichte (Basel 1988) 77–103: ‚Die vier Elemente‘; A. Hermann / M. Cagiano di Azevedo, Art. Farbe: RAC 7 (1969) 358–447, bes. 362. 373. 376. 384 f. (Vier-Farbenlehre des Empedokles und deren Wirkung). 430 f. (Vier Farben im Zirkus). 9 Vgl. Ambr. Abr. 2,9,65 (CSEL 32,1,619 f.), Mart. Cap. 7,734; Isid. num. 5,34 (PL 83,184). 10 Cic. nat. deor. 2,33 f.; A. St. Pease zur Stelle (Cambridge, Mass. 1958, Ndr. Darmstadt 1968). 11 Manetho, Aegypt. frg. 1,1–7; 2,1 f. Waddell; Plut. de f. orac. 10,415 B nach Hes. op. 159 f.; A. Kehl, Art. Geschichtsphilosophie: RAC 10 (1978) 703–752, bes. 708. 12 Stoische Lehre; M. Pohlenz, Die Stoa 1 3 (Göttingen 1964) 83; vgl. auch ebd. 452; 2 3,49. 13 J. Ruska, Tabula Smaragdina. Ein Beitrag zur Geschichte der Hermetischen Literatur = Heidelberger Akten der Von-Portheim-Stiftung 16 (Heidelberg 1926) 137. 139. 141; H. Diller, Kleine Schriften zur antiken Medizin (Berlin, New York 1973) 199–201. 256 f. 14 H. Hagendahl, Latin Fathers and the classics = Studia Graeca et Latina Gothoburgensia 6 (Göteborg 1958) 347–381; U. Klein, Art. Kardinaltugend: Historisches Wörterbuch der Philosophie 4 (1976) 695 f. – Nach PsPlat. Alc. I 121e bereits den Persern bekannt. – Vier Tugenden waren auf dem goldenen Ehrenschild für Augustus verzeichnet: virtus, clementia, iustitia, pietas (Res gest. div. Aug. 34 3 [58 Volkmann]). 15 Aristot. anim. 1,2,404b. 16 Hesiod. op. 109–201, der aber noch ein Zeitalter der Helden/Heroen eingefügt hat, so dass bei ihm nunmehr fünf Zeitalter einander ablösen; vgl. Claud. carm. 22,447–450; Peterson a.O. (o. Anm. 8) 245; Kehl a.O. (o. Anm. 11) 745 f. Ferner vgl. C. Trieber, Die Idee der vier Weltreiche: Hermes 27 (1892) 320–344.
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3. Der Gott des Universums und die Vierheit
nach Zeiten, Menschen, Orten und Handlungen17, der Philosophie: Annahme von vier Hauptphilosophenschulen18 . Ferner erscheint die Vier als Prinzip der Analogie/Proportion: A verhält sich zu B wie C zu D19. Man sprach von vier Vermögen der Geist/Seele: Intellekt (Nus), Ratio (Episteme), Meinung (Doxa), Wahrnehmung (Aisthesis) 20 , von vier Gründen in der logischen Aufbereitung eines Themas21, von vier Arten von Gegensätzen 22 , vier Stufen der Etymologie23 , vier Notwenigkeiten für den Dichter: Metron, Mythos, Geschichte und Ausdruck 24 . Man teilte das menschliche Leben in vier Altersstufen ein 25 und legte in Etrurien und Rom eine Stadt aufgrund der rechtwinkeligen Kreuzung der beiden Hauptstraßen, des Cardo maximus (Westen-Osten) und des Decumanus maximus (Norden-Süden), in Vierteln an 26 . Die Zahl Vier erscheint deshalb in den alten Kulturen als die Zahl des Universums, und zwar der Ganzheit der Wirklichkeit, der alles in sich schließenden Gesamtheit, Vollendung und Harmonie. Deutlich kommt diese bindende, zusammenfassende und eine Summa bildende Kraft der Vier in der orphischpythagoreischen Lehre von der Vierheit, der Tetraktys, als des „Quells der ewig-fl ießenden Natur“ zum Ausdruck 27. 17 Cic. de or. 2,53; Varro gliedert gern nach homo, locus, tempus und actio; vgl. ant. rer. hum.; ant. rer. div.; ling. lat. 5–7 (vgl. 5,6 f. 11); rer. rust. 1,5,3 f. 18 A. St. Pease zu Cic. nat. deor. 1,16 (Cambridge, Mass. 1958, Ndr. Darmstadt 1968) 165; Joh. Tzetz. chil. 10,527–533: Vier Grundansichten der Philosophen über die Welt. 19 Aristot. eth. Nic. 5,6,1131a. 20 Vgl. Aristot. anim. 1,2,404b. 428a4; W. Theiler, Aristoteles über die Seele 3 (Berlin 1969) 93–95. – Philolaos nimmt vier Prinzipien (&rca4) beim Menschen an: Gehirn, Herz, Nabel und Scham: VS 44 B 13. – Plat. Phileb. 23c-d spricht von vier Arten des Seienden: Das Unbegrenzte, das Begrenzte, das Gemischte und die Ursache der Vermischung, wobei – wie öfter – die Vierheit in Drei und Eins gegliedert ist; ferner von vier Arten göttlicher Begeisterung bzw. Wahnsinns, Phaedr. 244a-245a; dazu Herm. Alex. in Plat. Phaedr. (87 f. Couvreur). 21 Cic. Cat. mai. 15 (vgl. 18). 22 Aristot. cat. 10,11b 17–20; vgl. die vier Arten der Ursachen bei Thomas von Aquin: causa formalis, causa materialis, causa fi nalis, causa efficiens. 23 Varro, ling. lat. 5,7; W. Pfaffel, Quartus gradus etymologiae, Untersuchungen zur Etymologie Varros in ‚De lingua Latina‘ = Beiträge z. Klass. Philologie 131 (Königstein/Ts. 1981). 24 Scholiast zu Dionys. Thrax (Scholia Londinensia): A. Hilgard (Hrsg.), Grammatici Graeci 1,3 (Leipzig 1901, Ndr. Hildesheim 1965) 449. 25 Boll a.O. (o. Anm. 8) 101–106 = 171–176; E. Eyben, Die Einteilung des menschlichen Lebens im röm. Altertum: Rhein. Mus. 116 (1973) 150–190, bes. 156–158 (Stellensammlung von Cic. inv. 1,24,35 bis Isid. num. 5,24 [PL 83,184]). 164. 166 f. 26 W. Speyer, Die Stadt als Inbegriff der menschlichen Kultur in Realität und Symbolik: u. S. 153–168, bes. 159 Anm. 18 27 PsPyth. carm. aur. 47 f. (hrsg. von D. Young, Theognis [Leipzig 1961] 91); Plut. plac. phil. 1,3,877a; Iambl. vit. Pyth. 150; Scholiast zu Dionys. Thrax (Scholia Marciana): Hilgard a.O. (o. Anm. 24) 292 f.; Ambr. Abr. 2,9,65 (CSEL 32,1,619 f.): quod tetras omnibus numeris apta sit et radix quaedam decimae ac fundamentum, hebdomadisque media. tetragonus et stabilis atque perfectus tetras igitur decimam inplet decas numerum omnem con-
1. Einleitung
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Noch am Ende des griechisch-römischen Altertums hat Nonnos von Panopolis die Vierzahl zum Wesen der Harmonie, und zwar der Harmonie als Göttin erklärt28 . Harmonia erscheint bei ihm als Allmutter, also als eine Repräsentantin des Typos der Großen Göttin des Vorderen Orients. Nonnos beschreibt ihren Palast mit vier Pforten, die nach den vier Himmelsrichtungen weisen und vier Türhüterinnen anvertraut sind, ‚Aufgang‘ und ‚Untergang‘, ‚Mittag‘ und ‚Norden‘ geheißen. Als Aphrodite diese Göttin besucht, sitzt Harmonia am Webstuhl und ist mit einem Peplos für Athene beschäftigt, d. h. sie wirkt das kosmische Gewand oder das, was es ist: den Kosmos29. Insofern sind Harmonia und der Kosmos dasselbe so wie bei den Orphikern Zeus und der Kosmos30 . Die Welt ist dann selbst die eine, alles umfassende Gottheit. Erscheint die Vierzahl als die Zahl des Kosmos und seiner Ganzheit, so ist anzunehmen, dass sie ihre Spuren tief in allen jenen Gottesvorstellungen zurückgelassen hat, die der Tendenz nach auf einen Allgott weisen, sei dies der alttestamentliche Gott des Himmels und der Erde oder auch der kosmische Gott des Polytheismus. Dabei ist mit zwei Komponenten zu rechnen, die sich anscheinend gegenseitig bestärkt haben: einmal mit der kosmischen und anthropologischen Konstante, nach der die Vierzahl gleichsam als Grundstruktur dem Makro- und dem Mikrokosmos, der Welt und dem Menschen, eingeschrieben zu sein scheint, zum anderen mit den mannigfachen geschichtlich bedingten Ausformungen dieser Struktur, die sich in den miteinander infolge von Waren-, Sprachen- und Gedankenaustausch verbundenen Mittelmeerkulturen gegenseitig befruchtet haben. Dabei ist auf das Mit- und Ineinander des menschlichen Herrschers als des Weltherrschers mit dem Allgott zu achten, als dessen Repräsentant er auf Erden galt. Die Fäden laufen hier ähnlich hin und her wie zwischen der in Welt und Geistseele eingeschriebenen Vorstellung der Vier und ihrer jeweiligen geschichtlichen Ausformung.
plectitur; Martian. Cap. 7, 734: Quid tetradem dicam? in qua soliditatis certa perfectio; nam ex longitudine ac profunditate componitur, decasque plena his quattuor numeris gradatim 〈im² plicitis integratur, id est uno, duobus, tribus, quattuor . . .; vgl. A. Delatte, Études sur la littérature pythagoricienne (Paris 1915) 249–268; P. Kucharski, Étude sur la doctrine pythagoricienne de la tétrade (Paris 1952); K. von Fritz, Art. Pythagoras: RE 24 (1963) 171–209, bes. 200 f.; H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik 2 (Amsterdam 1967) Reg.: Tetraktys. Zur Nachwirkung in der Renaissance H. Lauenstein, Arithmetik und Geometrie in Raffaels Schule von Athen (Frankfurt, M. 1998). 28 Dionys. 41,275–287. 29 Dionys. 41,294–302; vgl. V. Stegemann, Astrologie und Universalgeschichte = Stoicheia 9 (Leipzig 1930) 25. 30 R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zur Urgeschichte des antiken Weltbildes 1/2 (München 1910, Ndr. Hildesheim 2002) Reg.: Harmonia.
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3. Der Gott des Universums und die Vierheit
2. Räumliche und zeitliche Vierheit des Allgottes Bei der folgenden Betrachtung der Vierzahl hinsichtlich des kosmischen Gottes und seines irdischen Repräsentanten kann es sich nur um eine Skizze handeln. Das von der Philosophie begriffl ich – abstrakt formulierte Problem, nämlich das Verhältnis der gründenden Einheit oder der absoluten Ganzheit und der Vielheit oder der relativen Ganzheit zu bestimmen 31, besitzt seine Vorgeschichte in bestimmten Bildern und Anschauungen der Religionen der Völker. Mythologen und Theologen der gewachsenen antiken Volksreligionen haben über die Frage der einen und der vielen Wirklichkeitsmächte und Gottheiten immer wieder nachgedacht. Eine Tendenz, zu einem Allgott als dem Herrscher der Welt zu gelangen, lässt sich in vielen Religionen der antiken Hochkulturen sowohl der indo-keltischen als auch der semitischen Völker nachweisen. Dieser Allgott erscheint dann sozusagen als die ins übermenschlich Große gesteigerte Essenz des Ganzen der Wirklichkeit, als ihre innere Summe, ihre innere Ganzheit und Vollendetheit. Voraussetzungen für diesen religiösen Gedanken sind die erlebte Einheit und Ganzheit des einzelnen Menschen, das Überzeugtsein vom Geordnetsein des Menschen und des Weltganzen, wofür die Griechen den Begriff ‚Kosmos‘ geprägt haben – eine Überzeugung, die aber überall in den Kulturen der antiken Mittelmeerwelt begegnet, und die gleichfalls aus der durch zahlreiche Beispiele beleuchteten Vorstellung von der Aussagekraft der Vierzahl und der Vierheit als des Sinnbildes für Ganzheit von Welt und Mensch, von Makro- und Mikrokosmos, hervorgeht 32 . Die Überzeugung der alten Völker von der Einheit, Ganzheit und Geordnetheit der Welt spricht sich ebenso in den bildlichen und gedanklichen Ausprägungen und Ausformungen der Idee des einen All- oder Kosmosgottes aus. Den Anfang der Kultur bilden nicht abstrakte Gedanken, sondern bildliche Vorstellungen, Vorstellungen, deren Herkunft letztlich im Vorgegebensein des übermenschlichen Es des Bewusstseins liegt. Wie die Bioemergenz im Reich der biologischen Arten, so steigen die Urbilder aus dem Un- und Überbewussten auf, das sich zunächst in Träumen äußert 33 . Zu diesen Vorstellungen gehört der Gedanke von der einen kosmischen Gottheit. Ihr Repräsentant auf Erden konnte nach dem antiken Weltbild der König sein 34 . 31
W. Beierwaltes, Identität und Differenz (Frankfurt, M. 1980). W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) Reg.: ‚Makrokosmos‘, ‚Mikrokosmos‘. 33 E. Rutte, Bioemergenz-Befunde der Paläontologie zur Entwicklungsgeschichte: A. Locker (Hrsg.), Evolution – kritisch gesehen (Salzburg, München 1983) 73–96. 34 P. Dworak, Gott und König. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung ihrer wechselseitigen Beziehungen, Diss. Bonn (1938). 32
2. Räumliche und zeitliche Vierheit des Allgottes
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Insofern sind im vorliegenden Zusammenhang auch antike Zeugnisse über Könige zu berücksichtigen, wenn sie in die Richtung des Kosmokrators, des Weltenherrschers, zielen. So haben die Babylonier die Welt nach den Kardinalpunkten in vier Teile geteilt. Die Könige Babylons und Assyriens hießen ‚Herr der vier Gegenden‘. Die Nachwirkung ist noch bei den Sasaniden zu erkennen 35 . Einen derartigen Weltherrschaftsanspruch erhob auch der ägyptische Pharao. Amenophis III ließ bei seiner Thronbesteigung vier Brieftauben in die vier Winde schicken, um so seinen Anspruch auf Weltherrschaft sinnenfällig zu zeigen 36 . Von den ägyptischen Gottheiten besitzt Hathor Züge einer Allgottheit. Sie erscheint als die Viergesichtige, als die nach den vier Himmelsgegenden Blickende37. Mit vier Augen überblickt der orphische Phanes die Welt, und Dionysos Zagreus heißt der Viergehörnte38 . Viergesichtig heißen Agathodaimon 39 wie auch Artemis, die wohl aus Kleinasien stammt und mit der Großen Göttin des Vorderen Orients verwandt ist40 . Andere Gottheiten sollten über vier gleiche Glieder verfügen, so der ägyptische Zaubergott Bes über vier Arme und vier Flügel41 oder Apollon in Sparta über vier Hände42 . Wie der Raum durch vier Koordinaten bestimmt ist, so die Zeit durch die vier Jahreszeiten und die vier Weltalter oder Weltperioden. Insofern bestimmt die Vierzahl auch den Zeitengott Zurvan, Chronos/Kronos/Saturnus und Aion43 . In diesen Zusammenhang gehört auch die Quadriga, mit der der Son-
35 Pass. Georg. mart. 1 (F. Cumont, La plus ancienne légende de S. Georges: RevHistRel 114 [1936] 5–51, bes. 42): . . .regem Dacianum, ducem Persarum, qui regnavit super quattuor cedros [fehlerhaft für k2ntra, die vier Kardinalpunkte] scriptorum saeculi, qui prior fuerat super omnes reges terrae; ferner A. Christensen, L’empire des Sassanides (Kopenhagen 1909) 11. 30 f. 41 Anm. 6. – Die vier Weltenden begegnen auch bei Hammurapi; vgl. W. Eilers, Die Gesetzesstele Chammurabis = Der Alte Orient 31, 3/4 (Leipzig 1932) 13; ferner vgl. Eisler a.O. (o. Anm. 30) 1,23 f. 36 A. Hermann, Altägyptische Liebesdichtung (Wiesbaden 1959) 141. 37 Ph. Derchain, Hathor Quadrifons. Recherches sur la syntaxe d’un mythe égyptien = Publ. Inst. Hist. Arch. de Stamboul 28 (Istambul 1972). 38 Orph. frg. 76 f. 39 Pap. Graec. Mag. XIV a 8 f. 40 Ebd. IV 2561. 2817 f. Die Göttin des Mondes trägt hier die vier Namen: Artemis, Persephone, Aphrodite, Selene; zu tetr1: als den vier Vierteln des Mondes/Monats Theophr. sign. 5. 27. 38. – Ferner vgl. Pap. Graec. Mag. XII 60 f. 69. 87 zum namenlos bleibenden Allherrscher (VII 552 f.). 41 A. A. Barb, Gemme, Gnostiche: Enciclopedia dell’Arte Antica 3 (1960) 971–974, bes. 972 Abb. 1235. Zu Hermes/Mercurius und der Vierzahl Macrob. Sat. 1,19,15 und u. Anm. 50. – H. B. Wiggers, Art. Viergöttersteine: RE Suppl. Bd. 14 (1974) 854–864, 42 Hesych s.v. kour4dion, kun1kta: (2,521. 547 Latte); vgl. K. Gross, Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum (Stuttgart 1985) 372. 43 Eisler a.O. (o. Anm. 30) Reg.: Chronos; J. Duchesne-Guillemin, Die Religion der Achämeniden: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungaricae 19 (1971) 25–35, bes. 30; ferner Pap. Graec. Mag. XIII 327–333.
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3. Der Gott des Universums und die Vierheit
nengott als Weltengott über den Himmel fährt44 . Wie Zurvan und Mithras so herrschen Helios und Sol mit ihrer Quadriga über das All, über die vier Jahreszeiten, die den vier Elementen, Himmel (Feuer), Luft, Wasser und Erde, und den vier Farben, rot, weiß, blau und grün, entsprechen45 . Einzelne Herrscher des Orients und des Okzidents wollten auch als Weltenherrscher, Kosmokrator, gelten und benutzten daher die Quadriga zu Lebzeiten und nach ihrem Tod für ihren religiös-politischen Anspruch. So schmückte eine Quadriga das Grabmal des Maussollos und später in Rom das Hadriansgrab46 . Der Senat bestimmte für Augustus auf dem Forum Augusti eine Quadriga47. Hier dürften Verbindungen zwischen den Religionen des Ostens und der etruskisch-römischen Tradition bestehen: Die Einwohner des etruskischen Veji haben für den Jupitertempel in Rom eine Quadriga verfertigt und geweiht, die sogar als eines der Unterpfänder, pignora, der römischen Herrschaft galt und die in immer wieder erneuerter Gestalt die verschiedenen Tempel des höchsten römischen Gottes auf dem Kapitol zierte48 . Wie Kreis und Quadrat die Ganzheit und Vollkommenheit des Kosmos ausdrücken, so auch dreidimensionale Kugel und Würfel49. Insofern konnten Gottheiten vor allem in Griechenland, die ihre Verehrer als kosmisch-ganzheitlich erlebt haben, den Beinamen: ‚viereckig‘, tetr1gwno:, und auch ‚rund‘,
44 Berühmt war die Quadriga des Helios von Rhodos (Plin. nat. hist. 34,63). Die Quadriga war Weihegeschenk der Rhodier: Dittenberger, Syll. 3 614,35; Fest. s.v. October equus: 190 Lindsay: et Rhodi, qui quotannis quadrigas Soli consecratas in mare iaciunt, quod is tali curriculo fertur circumvehi mundum; vgl. F. Hiller von Gaertringen, Art. Rhodos: RE Suppl. 5 (1931) 731–840, bes. 781; ferner O. Jessen, Art. Helios nr. 1: RE 8,1 (1912) 58–93, bes. 88/90. 45 B. Schlerath / Chr. Elsas, Art. Zurvan: W. Haussig (Hrsg.), Wörterbuch der Mythologie 4 (Stuttgart 1974/82) 478–481; Eisler a.O. (o. Anm. 30) 2,430 f.; A. A. Barb, AbraxasStudien: Festschrift W. Deonna = Collection Latomus 28 (Bruxelles 1957) 67–86, Taf. 18, bes. 81–86: ‚Der Sonnengott in den vier Weltgegenden‘; W. Speyer, Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, New York 1995) 141–151, bes. 145–151: ‚Sol‘. 46 Plin. nat. hist. 36,31; C. Höcker / H. Kaletsch, At. Maussolleion: Der Neue Pauly 7 (1999) 1062 f.; C. Höcker, Art. Mausoleum Hadriani: ebd. 1060 f. 47 Res gest. div. Aug. 35 3 (60 Volkmann). 48 Serv. auct. Aen. 7,188: quadriga fi ctilis Veientanorum; Plut. vit. Popl. 13; Fest. s.v. Ratumenna porta: 340. 342 Lindsay; Plin. nat. hist. 28,16; ferner vgl. Liv. 10,23,11: Die Ogulnier ließen als Aedilen i. J. 296 v. Chr. u. a. Jupiter mit der Quadriga auf dem Kapitolinischen Tempel anbringen; dazu K. Gross, Die Unterpfänder der römischen Herrschaft = Neue Deutsche Forschungen, Abt. Alte Gesch. 1 (Berlin 1935) 43–56: „Das tönerne Viergespann von Veii“. – Zur Quadriga im römischen Triumph H. S. Versnel, Triumphus. An inquiry into the origin, development and meaning of the Roman triumph (Leiden 1970) Reg.: ‚quadriga‘. 49 J. Bernhart, Kugel und Würfel in Goethes Garten: K. Schmidthuis (Hrsg.), Christliche Verwirklichung. R. Guardini zum 50. Geburtstag dargebracht (Rothenfels a. M. 1935) 258–266; J. Fink, Die Kuppel über dem Viereck. Ursprung und Gestalt (Freiburg, München 1958); L. Hautecœur, Mystique et architecture. Symbolisme du cercle et de la couple (Paris 1964).
3. Die Viergesichtigkeit des Allgottes
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str5ggulo:, tragen. In dieser Weise konnte Hermes aufgefasst werden 50 . In Tegea ist ein viereckiger Zeus Teleios belegt, also der Gott, der alles vollbringt und alles vollendet 51.
3. Die Viergesichtigkeit des Allgottes In Rom deuteten einzelne Theologen Ianus, den Gott der Ein- und Ausgänge der Stadt, im räumlichen und im zeitlichen Sinn als Universalgottheit, wobei die Vierzahl im Beiwort quadrifrons und quadriformis auf dieses sein Wesen hinweisen sollte52 . Wie einzelne antike Schriftsteller betonen, blickt Ianus nach den vier Himmelsrichtungen. Das ergebe sich aus seinem alten Kultbild, das aus Falerii nach Rom gekommen sei und das ‚vier Stirnen‘ gezeigt habe53 . Damit ist wohl eine Viergesichtigkeit dieses Ianus gemeint. Diese aber dürfte ihrerseits auf die Bilderwelt des Alten Orients zurückverweisen. Die viergesichtige Gottheit ist eine Bilderfi ndung des Alten Orients. Vom Osten hat diese Vorstellung in den Westen hinein gewirkt 54 . Das Gottesepitheton ‚viergesichtig‘ ist bereits eine begriffl iche Abstraktion gegenüber den älteren anschaulichen mythischen Bildern, in denen diese vier Gesichter die Züge sinnenhafter Erscheinungen annehmen konnten. Derartige konkrete Erscheinungen mussten dann die Macht des Göttlichen in auffallender Weise verdeutlichen, sollten sie zu einem annähernden Ausdruck des Unsichtbar-Göttlichen dienen. Die eindrucksstärksten und mächtigsten Wesen der Erfahrungswirklichkeit kamen für eine derartige Darstellung in Betracht: so der Löwe für die Tiere und der Mensch als der Herr der Tiere, der über die Kräfte des bewussten Geistes verfügt. Die gegenüber der Vierheit 50 Pap. Graec. Mag. V 401 f.; VII 669, wo er als Kosmokrator oder Pantokrator angerufen ist; XVII b 1 f.; vgl. Mart. Cap. 7,734: hic numerus {quadratus} ipsi Cyllenio deputatur, quod quadratus deus solus habeatur. Dem Hermes war der vierte Monatstag heilig, da er als sein Geburtstag galt (Hom. hymn. in Merc. 19); ferner vgl. Leonid. Tarent.: Anth. Pal. 6,334,3; Babr. fab. 48,1; C. F. H. Bruchmann, Epitheta deorum quae apud poetas Graecos leguntur: Roscher, Myth. Lex., Suppl. (1893) 110; W. Bühler (Hrsg.), Zenobii Athoi proverbia 5 (Göttingen 1999) 384. 51 Paus. 9,48,6; ferner vgl. H. Schwabl, Art. Zeus I. Epiklesen: RE 10A (1972) 253–376, bes. 365. 52 Varr. ant. rer. div. frg. 230–234 Cardauns; vgl. Macrob. Sat. 1,9,9–18, wo Ianus u. a. mit Uroboros gleichgesetzt wird (1,9,11 f.). 53 Serv. Aen. 7,607: postea captis Faleriis, civitate Tusciae, inventum est simulacrum Iani cum frontibus quattuor. unde quod Numa instituerat translatum est ad forum transitorium et quattuor portarum unum templum est institutum. Ianum sane apud aliquos bifrontem, apud aliquos quadrifrontem esse non mirum est: nam alii eum diei dominum volunt, in quo ortus et occasus . . . alii anni totius, quem in quattuor tempora constat esse divisum . . .; ferner vgl. W. Eisenhut, Art. Quadrifrons: RE 24 (1963) 681; Ders., Art. Quadriformis: ebd. 680 f.; K. Thraede, Art. Ianus: RAC 16 (1994) 1259–1282, bes. 1266 f. 54 S. auch o. Anm. 39 und 40.
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3. Der Gott des Universums und die Vierheit
ursprünglichere Zweiheit zeigt sich auch hier, wie bei den Jahreszeiten Sommer und Winter, die gegenüber Frühling und Herbst ursprünglicher erscheinen. Die Zweiheit von Löwe und Mensch wurde durch den Adler, den König der Vögel, und den Stier, der in den antiken Mittelmeerkulturen als Epiphanie zeugender Götter galt, auf die Vierheit gebracht 55 . Jeweils aber handelt es sich bei den vier genannten Wesen nicht um Realitäten der Sinnenwelt, sondern jeweils um numinose Mischgestalten 56 . In der Mischung von Tier und Mensch und von Tier und Tier – und zwar bald zweier, bald vierer Gestalten – erscheint das geheimnisvoll mächtige Wesen des Göttlichen. Assyrische Reliefs zeigen numinose Mischgestalten von Mensch und Tier ähnlich wie die Sphingen Ägyptens57. Literarisch bezeugt den viergesichtigen Allgott die Gottesvision des Propheten Ezechiel am Anfang seines Buches, genau datiert auf Tag und Jahr: am 5. Tag des 4. Monats im 5. Jahr der Verbannung aus Jerusalem, also im Jahr 593 v. Chr. Die Vierzahl bestimmt den Inhalt der Vision: vier numinose Mischgestalten mit vier Gesichtern: Menschen-, Löwen-, Stier- und Adlergesicht und vier Flügeln. Weiter sah Ezechiel ein Rad, das anzusehen war wie vier Räder58 . Die Zahl Vier verweist dabei wieder auf die Zahl Eins, d. h. das eine einzigartige, der Sinnenwelt transzendente Gotteswesen erscheint und legt sich in die vier numinosen Mischwesen aus. Jeweils erscheint die Einheit der Allgottheit in einer Vierheit, wobei die Macht und Kraft der Gottheit in der Vierheit der für die damaligen Menschen machtvollsten Lebewesen sichtbar wird. Indem die Allgottheit die Kräfte dieser vier Wesen bindet, verfügt sie über den das jeweilige Lebewesen kennzeichnenden geheimnisvoll machtvollen Wesenszug, der als Teil auf das unaussprechbare Ganze des Göttlichen zurückweist.
55 O. Waser, Art. Tauros: Roscher, Myth. Lex. 5 (1916/24) 145–153, bes. 145–149: zu Dionysos, Poseidon, Zeus. 56 Zu diesem Typos der Vergegenwärtigung des Göttlichen vgl. R. Merz, Die numinose Mischgestalt. Methodenkritische Untersuchungen zu tiermenschlichen Erscheinungen Altägyptens, der Eiszeit und der Aranda in Australien = Religionsgeschichtliche Versuche u. Vorarbeiten 36 (Berlin 1978); W. Speyer, Art. Kopf: RAC 21 (2005) 509–535, bes. 513. 515 f. 57 J. Ilberg, Art. Sphinx: Roscher, Myth. Lex. 4 (1909/15) 1298–1408, bes. 1301–1303: König als Sphinx; 1303 f.: Gott als Sphinx; A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients 4 (Leipzig 1930) 698–702; ferner vgl. A. Lesky / R. Herbig, Art. Sphinx: RE 3 A,2 (1929) 1703–1749. 58 Hes. 1,4–28; 10,1–22; zur Wirkungsgeschichte, bes. Apc. 4,2–10, W. Neuss, Das Buch Ezechiel in Theologie und Kunst bis zum Ende des XII Jahrhunderts = Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens 1/2 (Münster, W. 1912) Reg.: ‚Gottesvision‘; ferner G. Galavaris, The illustrations of the prefaces in Byzantine gospels = Byzantina Vindobonensia 11 (Wien 1979) 36–49: „The symbols of the Evangelists“; E. Dassmann, Art. Hesekiel: RAC 14 (1988) 1132–1191, bes. 1133. 1137–1139. 1150 f. 1161– 1165. 1183–1186.
3. Die Viergesichtigkeit des Allgottes
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Aus der abendländischen Kunstgeschichte ist die Darstellung der vier Lebenden Wesen im Bild Gottes als des Weltenherrschers sowohl im Zusammenhang des Alten Testamentes, von Gott Vater, als auch im Zusammenhang des Neuen Testamentes, von Gott Sohn, seit langem bekannt und erforscht 59. Aus der ursprünglichen Einheit ist bereits in der Vision des Ezechiel etwas Neues geworden, das auf einen Verfallsprozess des ursprünglichen innerkosmischen Gottesbildes hinweisen kann. Dieser Weg geht im Christentum weiter. Die Auffüllung des Inhaltes im Sinn des einen Evangeliums Jesu Christi in den vier Gestaltungen der konkreten Evangelien machte aus den ursprünglichen Gottesaspekten nur noch Versatzstücke, die jeweils einem Evangelisten zugewiesen wurden60 . Aus der pathosgeladenen ursprünglichen Einheit in der Vierheit wurden nun vier einzelne, konkrete Assistenzfiguren der Evangelisten, die im Rahmen der christlichen Kunst bis in die Gegenwart begegnen, seit dem Ende des Barock aber mehr und mehr ein Schattendasein führen. Aus dem altorientalischen Gottesbild des Allherrschers sind vielfach kraftlose Attribute der vier Schreiber des neutestamentlichen Gotteswortes geworden. Zahlreiche Beispiele der Nazarener, der neuromanischen und neugotischen Kirchenkunst ließen sich dafür aufführen, ohne dass die Summierung von Beispielen auch nur einen Funken der ursprünglichen numinosen Kraft des Bildgedankens ahnen ließe. Eine ursprüngliche pathosgeladene religiöse Bildvorstellung ist im 19. und 20. Jahrhundert zu ihrem Ende gelangt. Tatsächlich hatte sich in den christlichen Jahrhunderten der Neuzeit die Gottesvorstellung immer mehr in die Abstraktion des philosophisch-theologischen Begriffes zurückgezogen. Die sinnenhaften Mittel der alten Vergegenwärtigung waren in einer mehr und mehr abstrakten Vorstellungswirklichkeit untauglich geworden. Letztlich triumphiert aber auch in dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung das tiefsinnige Bilderverbot des mosaischen Dekalogs: Der transzendente Gott des Himmels und der Erde ist kein innerkosmischer Gott und darf deshalb auch nicht mit den Farben der Schöpfung / der Natur wiedergegeben werden. Für die Aufnahme der altorientalischen Vorstellung vom viergesichtigen Allgott in den Westen kommt einem Orphischen Fragment hohe Beachtung zu61. Wenn auch für uns erst in der ‚Theogonie des Hieronymus und Hellanikos‘ bei Damaskios überliefert, gehört es nach seinem Inhalt in früharchaische 59 Neuss a.O. Reg.: ‚Gottesvision in der Kunst‘; U. Nilgen, Art. Evangelisten und Evangelistensymbole: Lexikon der christlichen Ikonographie 1 (1968) 696–713; Dassmann a.O. 1183–1186; ferner vgl. J. Fournée / Red., Art. Tetramorph: Lexikon der christlichen Ikonographie 4 (1974) 292–295. 60 Früheste Erwähnungen bei Hippolyt. frg. in Hes. 1,5–10 (GCS Hippol. 1,2,183) und Iren. adv. haer. 3,11,8 (SC 100,2,161–165); Neuss a.O. 26–28; Dassmann a.O. 1151 f. 1162 f. 61 Orph. frg. 54 Kern (bei Damasc. princ. 123 [3,160 f. Westerink/Combès]).
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3. Der Gott des Universums und die Vierheit
Zeit und beweist die Verwandtschaft einzelner orphischer und orphisch-pythagoreischer Überlieferungen mit babylonischen, und damit das Ein- und Rückgebundensein der griechischen Kultur in den Alten Orient62 . Wie das Fragment mitteilt, gehört zu den Urpotenzen innerhalb des Werdeprozesses dieser Wirklichkeit ein Drachenwesen mit Köpfen von Stier und Löwe, in der Mitte das ‚Gesicht eines Gottes‘ und auf den Schultern Flügel. Mit den Flügeln dürfte das vierte Lebende Wesen, der Adler, gemeint sein. Das ‚Gesicht eines Gottes‘ aber deutet in die Richtung des geisterfüllten Menschengesichtes; denn Gott und Mensch sind in der Antike so eng aufeinander bezogen, dass Götter in Menschengestalt erscheinen und Menschen zu Göttern werden können, ja dass beide Seinsbereiche fast austauschbar erscheinen63 . Der Drache, als numinose Mischgestalt gezeichnet, trägt den Namen: der alterslose Chronos und Herakles. Deutlich erscheint hier eine Allgottheit, und zwar in ihrem Zeitaspekt, der sich wie der Raumaspekt in der Vierheit sinnenhaft artikuliert 64 . Der hier genannte Herakles ist nicht der griechische Heros, sondern eine hinter ihm stehende altorientalische kosmische Urpotenz, der Allgott oder der gewundene Drache, wie er auch bei den alten Orphikern vorkommt65 . Diesen „Herakles im Sternenkleid, Herrscher des Feuers, erster des Kosmos“, also den Allgott, setzt Nonnos mit „Kronos, Phaethon, Mithras, Helios Babylons“ gleich66 . Dass Herakles in einer näheren Verbindung zur Vierzahl steht, beweisen eine antike Deutung des Sprichwortes: tetr1di g2gona: und Plinius der Ältere67.
62 Umstritten ist, wer unter ‚Hieronymus‘ und ‚Hellanikos‘ zu verstehen ist; vgl. L. G. Westerink/J. Combès (Hrsg.), Damascius, Traité des premiers principes 3 (Paris 1991) 231 Nr. 6; vgl. auch H. Schwabl, Art. Weltschöpfung: RE Suppl. Bd. 9 (1962) 1433–1582, bes. 1481 f. – Zum Einfluss des Orients auf Griechenland vgl. z. B. S. Morenz, Ägypten und die altorphische Kosmogonie: Aus Antike und Orient. Festschrift W. Schubart (Leipzig 1950) 64–111; B. L. van der Waerden, Das große Jahr und die ewige Wiederkehr: Hermes 80 (1952) 129–155, bes. 152–154; M. L. West, Early Greek philosophy and the Orient (Oxford 1971); W. Burkert, The orientalizing revolution. Near Eastern influence on Greek culture in the early archaic age (Cambridge, Mass. 1995). 63 Hesiod. op. 108: Götter und Menschen haben den gleichen Ursprung; ferner vgl. Speyer, Frühes Christentum a.O. (o. Anm. 32) 153. – Eisler a.O. (o. Anm. 30) schlägt eine astralsymbolische Deutung (Tierkreis) vor. 64 Zur Chronos-Gottheit s. o. Anm. 43. 65 Vgl. auch Orph. frg. 57 f. Kern; ferner Orph. hymn. 12 (13 f. Quandt), wo Herakles u. a. als ‚Vater der Zeit‘ (V. 3) erscheint. 66 Nonn. Dionys. 40,369 f.; vgl. 17,946; 40,408; Orph. Arg. 513. 1028; zu Herakles/Chronos Eisler a.O. (o. Anm. 30) Reg.: ‚Herakles‘. – Phaethon ist auch Beiwort des Helios und dies seit Il. 11,735; vgl. Od. 5,479. – Ferner vgl. W. Fauth, Helios Megistos. Zur synkretistischen Theologie der Spätantike = Religions in the Graeco-Roman World 125 (Leiden 1995) 165–183. 67 L 2 5b,15 (41 Cohn) bei Bühler a.O. (o. Anm. 50) 5,382 (VI): par5son 'Hrakl8: eI: _eo`: 4n tetr1di 4negr1fh! A di5ti _e0n 6legon oJ Pu_agorikoH tjn tetr1da; zum ‚Viergott‘
3. Die Viergesichtigkeit des Allgottes
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Der orphische Text wirkt gegenüber dem des Propheten Ezechiel als urtümlicher und geschlossener: Der Allgott erscheint hier als der innerweltliche Gott, der die Summe der Weltkräfte in sich birgt und trägt, während bei Ezechiel der Allgott in der Verborgenheit des Unaussprechbaren verharrt und seine Welt- oder Machtaspekte auf vier ihm dienende depotenzierte göttliche Wesen, numinose Mischwesen, aufgespalten sind. Der theologische Unterschied zwischen der alttestamentlichen Offenbarungsreligion und der innerweltlichen Religion des Alten Orients sowie der an ihr teilhabenden Orphik ist nicht zu übersehen. Damit ist die Geschichte des viergesichtigen Allgottes im Altertum aber keineswegs abgeschlossen. Er macht im altorientalisch beeinflussten Manichäismus eine weitere Metamorphose durch: ‚Der Vater der Größe‘, das höchste Wesen im Manichäismus, ist viergesichtig68 . Er besitzt die vier Eigenschaften: Göttlichkeit, Licht, Kraft und Weisheit69. Auch in der Gnosis hat die zuvor beschriebene babylonisch-assyrische Gottesvorstellung ihre Spuren hinterlassen70 . So spannt sich ein großer Bogen von Babylon über die Orphik in die heidnische und christliche Spätantike und darüber hinaus71.
Eisler a.O. (o. Anm. 30) 1,187 Anm. 4. – Plin. nat. 28,64 mit Hinweis auf seine Quelle Demetrius. 68 S. N. C. Lieu, An early Byzantine formula for the renunciation of Manichaeism – The Capita VII contra Manichaeos of 〈Zacharias of Mitylene〉 : Jahrbuch für Antike und Christentum 26 (1983) 152–218, bes. 162. 200 (zu cap. 3,59 f. auf S. 178 und Paralleltext S. 179). 69 Ebd. 200 70 Vgl. die gnostischen Lehren von der Tetras; dazu R. M. Grant, Irenaeus of Lyons (London, New York 1997) Reg.: Tetrads. Ferner vgl. L. Cerfaux, Art. Barbelo-Gnostiker: RAC 1 (1950) 1176–1180, bes. 1176. Die zuvor erwähnten numinosen Mischgestalten lebten weiter in den Archonten der Gnostiker. – Zum gnostischen ‚Evangelium der vier Himmelsgegenden‘ vgl. H.-Ch. Puech/B. Blatz: E. Hennecke/W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 15 (Tübingen 1987) 286 f. 71 Hervorzuheben sind Gedanken von F. von Baader, F. Schlegel und M. Heidegger zur Vierheit; M. Elsässer, Friedrich Schlegels Kritik am Ding (Hamburg 1994) 132–136 (Hinweis Werner Beierwaltes).
4. Gewalt und Weltbild Zum Verständnis grausamen Tötens im Altertum
1. Zur Gewalt als einem Prinzip der uns zugänglichen Gesamtwirklichkeit Mannigfaltig sind die Quellen des Altertums und nicht zuletzt der griechischen und römischen Antike, die von Gewalt und Grausamkeit des Menschen Kunde geben. Bildliche und weit mehr literarische Zeugnisse stehen uns in allen geschichtlichen Jahrhunderten des Altertums zur Verfügung.1 Mit diesen Zeugnissen steht die Antike nicht allein, sondern ordnet sich in die Hinterlassenschaft der Völker ein. Ja wir können sagen, dass die Geschichte der Menschheit zu einem großen Teil eine Geschichte der Gewalt ist. Zeigt sich darin die Freiheit des Menschen oder nicht vielmehr sein Eingebundensein in eine tiefere Dimension, die ihn umfasst hält, wie sie das Ganze dieser Welt mitbestimmt? Dann müssten wir geradezu von einer Metaphysik der Gewalt sprechen. Diese wäre aus dem Erscheinungsbild unserer Gesamtwirklichkeit sowie aus den Widerspiegelungen im ursprünglichen Mythos und der aus ihm entfalteten Philosophie zu erheben. Bei dieser Annahme wäre dann die Wirklichkeit selbst tief von Gewalt und Grausamkeit geprägt und erfüllt. Beides wäre welt- und wirklichkeitsimmanent oder – antik ausgedrückt – kosmosimmanent. Wenn die Griechen vom Universum oder dem Wirklichkeitsganzen als einem Kosmos gesprochen haben, der sich in Gesetzmäßigkeit und Ordnung, in Schmuck und Schönheit zeigt, und diesen Weltkosmos verwandelt im Kosmos der eigenen Kultur, vornehmlich in ihren Poleis, wiederholt haben, dann haben sie trotzdem wohl gewusst, dass die Kosmosvorstellung nicht das Gan-
1 Auf die relative Seltenheit archäologischer Zeugnisse weist J. Vergote hin: Les principaux modes de supplice chez les anciens et dans les textes chrétiens: Bulletin de l’Institut historique Belge de Rome 20 (1939) 141–163, bes. 141 Anm. 1 mit Hinweis auf E. Le Blant, De quelques monuments antiques relatifs à la suite des affaires criminelles: Revue Archéologique III 13 (1889) 23–30. 145–162; ferner vgl. R. M. Schneider, Art. Barbar II (ikonographisch): RAC (Reallexikon für Antike und Christentum) Suppl. Bd. 1 (2001) 895–962.
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4. Gewalt und Weltbild
ze der Weltwirklichkeit auszudrücken imstande ist2 . Die Gegenvorstellung des Chaos drängte an den Rändern des Kosmos immerfort an, so dass sie zugeben mussten, dass der Chaosaspekt gleichfalls zur Wirklichkeit gehört und Kosmos immer nur Ziel des Ganzen auf dem Untergrund auch seines Gegenteils, des Chaos, sein könne3 . Hinter diesem Problem des Verhältnisses von Chaos und Kosmos steht das Problem eines Dualismus zweier gegensätzlicher Prinzipien oder Mächte und damit zugleich die Frage einer ursprünglichen Einheit vor aller nachgeordneten Zweiheit und so beginnender Vielheit4 . Die Mythen, die von einer ursprünglichen Einheit von allem, von allen Erscheinungen ‚im Anfang‘ ausgehen, dürften älter und ursprünglicher sein als der Gedanke eines den Kosmos bestimmenden prinzipiellen, gleichsam transzendenten Dualismus, wie ihn im Altertum vornehmlich iranisches Denken ausgearbeitet hat 5 . Welche Kraft, welche Macht führte aus der ursprünglichen Einheit, die an der Spitze der raumzeitlichen Welterscheinungen steht, zu der Zweiheit und der ihr nachgeordneten Vielheit? Die Antwort der alten, das Wirklichkeitsganze deutenden Mythen lautete: die Gewalt. Damit das in der ursprünglichen Einheit Verbundene aus seiner Bindung heraustrete, damit das zunächst miteinander Vermischte entmischt würde, dafür schien eine Kraft, eine Macht vonnöten, die trennt, also eine geheimnisvolle göttliche Macht, die als solche zugleich auch positive Züge trägt. Im Zustand der ursprünglichen Einheit schien nach bestimmten kosmogonischen Mythen alles, was in der Zeit und im Raume in Erscheinung tritt, miteinander verbunden gewesen zu sein. Erst durch eine gewaltsame Trennung ‚im Anfang‘ seien dann alle das Weitere bestimmenden Zweiheiten, die als Grundgegensätze den Bestand unserer Wirklichkeit ausmachen und bilden, nach und nach entstanden. Die aus Gegensätzen bestehende Wirklichkeit setzt nach diesem Weltbild die Gewalt als die Ermöglichung voraus, von der Einheit in die Zweiheit zu kommen und damit in die Gegensätzlichkeit einzutreten sowie in die Vielheit der Erscheinungen. Der Urzustand muss demnach bereits auch der Möglichkeit nach die Gewalt in sich enthalten haben. Damit gehört die Gewalt zu den Urkräften, die im Anfang von allem gewirkt haben und damit nicht nur alles Weitere bestimmen, sondern in diesen bleibend anwesend und mächtig sind. Als der
2 M. Gatzemeier, Art. Kosmos: Historisches Wörterbuch der Philosophie 4 (1976) 1167– 1173. 3 F. Lämmli, Vom Chaos zum Kosmos. Zur Geschichte einer Idee = Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 10 (Basel 1962); M. Kurdzialek, Art. Chaos: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971) 980 f. 4 W. Beierwaltes, Art. Hen: RAC 14 (1988) 445–472. 5 J. Duchesne-Guillemin / H. Dörrie, Art. Dualismus: RAC 4 (1959) 334–350. – Zum Anfang: W. Speyer, Art. Genealogie: ebd. 9 (1976) 1145–1268, bes. 1146 f. 1151; H. Görgemanns, Art. Anfang: ebd. Suppl. Bd. 1 (2001) 401–448.
1. Zur Gewalt als einem Prinzip der uns zugänglichen Gesamtwirklichkeit
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Anfang der Einheit von allem infolge von Gewalt aufbrach, entstanden die Gegensätze, die unsere Wirklichkeit ausmachen, also griechisch gesprochen das Gegensatzpaar Kosmos und Chaos. Wie ‚im Anfang‘ aus der Einheit des Mit- und Ineinanders von allem, also auch von Kosmos und Chaos, durch Gewalt Kosmos entstanden ist, so kann im Gegenzug immer wieder durch Gewalt aus Kosmos Chaos entstehen. Die Gewalt erscheint so als eine ambivalent wirkende Größe, die bald Positives, bald Negatives bewirkt hat und weiterhin bewirkt. Die Grundgegensätze, die aus der Einheit ‚im Anfang‘ auseinandertreten und dadurch sich konstituieren, bestimmen das Ganze unserer Wirklichkeit und erscheinen auch in dessen Teilen. So unterliegt alles dem Gesetz von Werden und Vergehen, von Leben und Tod. Gewalt führt den Menschen ins Leben ein: Zeugung und Geburtswehen, und Gewalt führt ihn gewöhnlich auch aus dem Leben: der Todeskampf. Die Gegensätze, die die Welt bilden und bestimmen, scheinen allerdings nicht gleich mächtig zu sein. Vielmehr dürfte ein Gefälle zwischen den Polen des jeweiligen Gegensatzpaares herrschen und zwar in der Weise, dass der positive Gegensatzpol über dem negativen zu stehen scheint, so dass eine positive Steigerung das Ganze der Wirklichkeit bestimmt. So prägen Kosmos mehr als Chaos das Wirklichkeitsganze, das Leben und die Gesundheit mehr als Tod und Krankheit Pflanzen, Tiere und Menschen. Entsprechendes gilt für die Welt des menschlichen Geistes, wo Wahrheit und Tugend über Lüge und Irrtum sowie Laster letztlich den Sieg davontragen. Insofern bilden als metaphysische Prinzipien Polarität und Steigerung, wie bereits J. W. von Goethe ausgesprochen hat, das Eigentliche dieser unserer Wirklichkeit6 . Für die Erfahrung der Menschen des Altertums scheinen die beiden Gegensatzpole Tod und Leben so eng aufeinander bezogen und angewiesen zu sein, dass sie nie voneinander lassen können und dass dies der Sinn des rituellen Tötens und damit des Opfers ist, nämlich durch Töten Leben zu ermöglichen7. Tatsächlich ließe sich aufweisen, dass die die Wirklichkeit bestimmenden Gegensätze sich nicht nur verfeindet gegenüberstehen und sich abstoßen, sondern zugleich auch miteinander chiastisch verschränkt sind: Leben ist im Tod und Tod ist im Leben. Leben, wie wir es hier auf Erden kennen, ist nur möglich auf dem Untergrund des Todes, und Tod gibt es hier nur auf dem Untergrund des Lebens. Gewalt aber treibt dieses Rad und damit gehört die Gewalt zur Grundausstattung dieser Wirklichkeit. 6 R. Steiner, Zu dem ‚Fragment‘ über die Natur: Das Journal von Tiefurt = Schriften der Goethe-Gesellschaft 7 (Weimar 1892) 393–398; W. Schadewaldt, Goethestudien. Natur und Altertum (Zürich/Stuttgart 1963) Reg.: ‚Steigerung‘. 7 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 15–49: ‚Töten als Ritus des Lebens‘.
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4. Gewalt und Weltbild
Wenn Heraklit aus Ephesos feststellt, der Krieg sei der Vater aller Dinge, so meinte er wohl damit, dass der Krieg als Ausdruck des Tötens und der Vernichtung, der Zerstörung und des Chaos eine wesenhafte Komponente dieser Wirklichkeit ist 8 . Der Krieg oder die Gewalt ist Vater von allem, aber nicht zugleich auch Mutter, d. h. er ist eine bestimmende Komponente, die dafür sorgt, dass überhaupt Neues, neues Leben entstehen kann. Dies ließe sich genauer aufweisen, beispielsweise an den Konfl ikten der Generationen, am Wechsel der Zeitalter, der Religionen und Weltanschauungen, der nicht ohne starke Reibung vonstatten ging und geht9. Das diesem Sachverhalt entgegengesetzte Postulat vom immerwährenden Frieden, zunächst auf das Miteinander der Menschen bezogen, ist ein zutiefst humaner Gedanke, der erst spät auf der Stufe einer reflektierten Ethik und einer geoffenbarten Moral gefunden wurde10 . In dieser theologisch und philosophisch begründeten Forderung zeigt sich der Mensch als ein Wesen, das nicht nur in die Gesetze dieser Wirklichkeit eingebunden ist, als ein Wesen, das eben nicht nur Naturwesen ist, sondern diese Natur durch sittlich gebundene Freiheit bis zu einem gewissen Grade aufzusprengen imstande ist und dadurch die Natur übersteigt, transzendiert. Die Forderung des Gewaltverzichtes, des Verzichtes, Menschen und Tiere zu töten, der sich in Selbstbeschränkung, unter anderen auch in Askese und Vegetarismus, ausspricht, ist eine spät gefundene neue Dimension, die das naturhaft gegebene Gesetz der Gewalt im Umgang mit den Mitmenschen und den Tieren bis zu einem gewissen Grade außer Kraft zu setzen imstande ist11. Blicken wir hingegen auf die kosmischen und naturhaften Gegebenheiten und Verhältnisse, so sehen wir, wie hier Gewalt am Werke ist. Man denke an den Kampf der Elemente, an den Kampf der Jahreszeiten von Herbst und Winter, Frühling und Sommer, den die Natur- und Volksreligionen in mannigfachen Riten gespiegelt haben12 , oder an den Kampf der Geschlechter und der Generationen. Ferner denke man an die Naturkatastrophen, an den Fall von Meteoriten, an Gewitter und Orkane, an Hagelschlag und Überschwemmung, an Dürre und Erdbeben und Vulkanausbrüche oder an die Gewaltakte im Reich der Tiere und schließlich an den Untergang von Sternen. 8
VS 22 B 53 (H. Diels / W. Kranz). E. von Lasaulx, Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte (1856), neu hrsg. von E. Thurnher (Wien 1952) 113–124; dazu S. Peetz, Die Wiederkehr im Unterschied. Ernst von Lasaulx = Symposion 87 (Freiburg, München 1987) 284–290. 10 I. Kant, Zum ewigen Frieden, ein philosophischer Entwurf (1795). 11 J. Haussleiter, Der Vegetarismus in der Antike = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 24 (Berlin 1935) bes. 79–163. 12 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 1 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) 305–321. 501, bes. 320 f.: ‚Eine rituelle Hinrichtung des Gottesfeindes: Die Zweiteilung‘. 9
2. Gewalt in den kosmogonischen und anthropogonischen Mythen des Altertums 65
Betrachten wir die grundlegenden, weil das Ganze der Wirklichkeit in der jeweiligen Gegenwart deutenden Mythen, die kosmogonischen Mythen, so erkennen wir als die eine große Grundaussage: ‚Im Anfang‘, als die Einheit des Anfangs sich teilt, steht der Kampf, der als Gewaltakt zwei gegensätzliche Mächte entbindet. Wir können sie als den Urgegensatz verstehen, der dann in allen partiellen Gegensätzen, die die Vielheit der Erscheinungen mitbestimmen, erneut wirksam ist. Aufgrund des bereits zuvor Dargelegten können wir diesen Urgegensatz als Chaos – und als Kosmos – oder als Fluch – und als Segensmacht verstehen. Dieser Urgegensatz konkretisiert sich dann in der Entfaltung der Weltpotenzen als Finsternis und Licht, als Nacht und Tag, als Tod und Leben, als Nicht-Bewusstsein und Bewusstsein. Die Gewaltträger erscheinen mythisch in den Namen bestimmter Götter und Heroen, die gegen die Urmacht, die sich in vielen Gestalten verbergen kann, gekämpft haben, angefangen vom babylonischen Marduk über Zeus, Apollon, Herakles und andere griechische Heroen, wie Perseus, Bellerophon, Kadmos und Theseus. Reflexe zeigt die jüdische und christliche Überlieferung: der Kampf der Engel, Michael und Lucifer, der Kampf Jesu mit den Dämonen, mit Satan und dem Reich des Todes, sein Abstieg in das Reich des Dunkels, sowie die Kämpfe einzelner Heiliger gegen Dämonen und Drachen, also gegen die Chaosund Fluchmächte13 .
2. Gewalt in den kosmogonischen und anthropogonischen Mythen des Altertums Die tiefe Überzeugung der alten Völker von der Urverwandtschaft zwischen Welt/Universum/ Kosmos/Schöpfung/Natur einerseits und Mensch andererseits hat sich darin niedergeschlagen, dass Kosmogonie und Anthropogonie oftmals in eins gesehen wurden. Dabei ist das Entscheidende, dass ein gewaltsamer Akt, oftmals eine Tötung den neuen Zustand, die neuen Wesen heraufführt, ja diese Welt, wie sie sich jetzt zeigt, in ihrem Sosein schafft. Zerstören und Bilden des Neuen gehören so anscheinend zusammen. So ist die Tötung eines Urwesens die Bedingung für das Werden dieser Welt. Das Urwesen kann auch als Gott, als Mensch oder als Tier aufgefasst werden; denn Gott, Mensch und Tier erscheinen, weil lebendig, als geheimnisvoll und zugleich als 13 J. Trumpf, Stadtgründung und Drachenkampf: Hermes 86 (1958) 129–157, bes. 140– 154; R. Merkelbach, Art. Drache: RAC 4 (1959) 226–250; U. Hetzner, Andromeda und Tarpeia = Beiträge zur Klass. Philologie 8 (Meisenheim am Glan 1963) 9–47; G. Binder, Die Aussetzung des Königskindes Kyros und Romulus = Beiträge zur Klass. Philologie 10 (Meisenheim am Glan 1964) Reg.: Drachenkampf; E. Ackermann, Lukrez und der Mythos = Palingenesia 13 (1979) 141–150; W. Speyer, Art. Gottesfeind: RAC 11 (1981) 996–1043; Ders., Art. Heros: ebd. 14 (1988) 861–877, bes. 869 f. 871.
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4. Gewalt und Weltbild
machtvoll und damit als die Zukunft bestimmend. Letztlich sind sie für das frühe Erleben miteinander austauschbar und können für einander stehen. Auf diese Austauschbarkeit weist auch ihre Verwandlungsfähigkeit hin: Götter nehmen Menschen- oder Tiergestalt an, Menschen werden zu Göttern und Tiere erscheinen als göttliche Wesen. Gott, Mensch und Tier repräsentieren ihrerseits das Ganze der Welt, das alle Einzelwesen, den Gott, den Menschen, das Tier, umfasst. Das Symbol für diese Einheit des Universums ist im Altertum die Schlange Uroboros, jene Schlange, deren Schwanzende in ihrem Munde ruht: Anfang und Ende fallen in eins zusammen; denn alles ist eines14 . Folgende geschichtliche Brechungen des einen Urmythos, der von der gewaltsamen Tötung des einen Urwesens spricht, das als Bedingung für das Werden dieses Wirklichkeitsganzen gilt, sind zu nennen: Der urindogermanische Mythos spricht vom König Yemo, Yima, ‚Zwilling‘, und seinem Zwillingsbruder, dem Priester Manu, folgendes: „Zur Morgendämmerung der Zeit [also im Anfang von allem] opferte sein Bruder Manu, ‚der Mensch‘, der der erste Priester war, den Yemo und schuf die Erde aus seinem Körper, den Himmel aus seinem Schädel, die Flüsse aus seinem Blut usw. Aber nicht nur die physische Ordnung wurde aus ihm geschaffen, sondern auch die soziale Ordnung wurde auf diese Weise hergestellt. Da er ein König war, enthielt er in sich die Essenz aller drei sozialen Klassen: Herrscher, Krieger und gemeine Leute. Als er durch das Opfer zergliedert wurde, wurden diese drei als getrennte Einheiten geschaffen“15 . Nach der iranischen Überlieferung ist die Parallelgestalt Gayomart jünger als Yemo. In den Pahlavitexten spielt er die gleiche Rolle wie Yemo. Er ist der Urmensch, also das Urwesen, dessen rituelle Tötung oder Opferung, für das Entstehen dieser Welt notwendig erscheint16 . Wie bei Yemo ist auch bei Gayomart die Verbindung von Mensch und Stier oder Urrind gegeben. Das erste Rind wurde vom Gott getötet und auch aus dessen Körperteilen der Bau der Welt errichtet17. So sollen aus dem getöteten ersten Rind alle Arten von Getreide und Kräutern gewachsen sein. In den Mithrasmysterien ist diese erste Tötung des Urrindes als zentrale Aussage auf den bekannten Stiertötungsreliefs festgehalten. Hier tötet Mithras den Stier und schafft aus ihm die Pflan-
14 Red., Art. Uroboros: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11 (2001) 367 f.; E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede §(Leipzig 1923, Ndr. Darmstadt 1974) Titelblatt und S. 247–250 zu 9n t0 p(n. 15 B. Lincoln, Art. Yima: C. Colpe u. a., Altiranische und Zoroastrische Mythologie: W. H. Haussig (Hrsg.), Götter und Mythen der kaukasischen und iranischen Völker = Wörterbuch der Mythologie, Bd. 4 (Stuttgart 1986) 469–473, bes. 470. 16 C. Colpe, Art. Gayomart: ebd. 352–354. 17 B. Lincoln, Art. Rind: ebd. 422–424.
2. Gewalt in den kosmogonischen und anthropogonischen Mythen des Altertums 67
zen18 . Die Tötung ist hier die Bedingung für neues Leben. Wieder begegnet die zentrale Aussage, dass die Erscheinungen dieser Welt Formgestalten einer beständigen Ver- und Umwandlung sind. Der Traum, für den die Verwandlung wesensbestimmend ist, und die Wirklichkeit mit ihren Verwandlungen sind nicht getrennt, sondern aufeinander bezogen und in einer letzten Dimension eins19. Die eine Wirklichkeit umfasst beide: tritt etwas in Erscheinung, so ist dafür eine Kraft notwendig, die als Gewalt erkennbar ist. Trennen bedeutet Zerstören und bei den Lebewesen Schmerz verursachen; auf Trennung aber ist alles Neue in dieser Welt angelegt, wie sich auch an den Phasen der menschlichen Entfaltung zeigen ließe. Was die Iranier von Yima und Gayomart berichtet haben, erzählten die Germanen vom Riesen Ymir, dem Weltriesen 20 , und die Inder vom Urmenschen Purusa und dem Pferd 21. Das uranfängliche Tötungsritual betrifft jeweils eine göttliche Urpotenz, sei sie als Gott, Mensch oder Tier vorgestellt. Entsprechende Vorstellungen bieten die Überlieferungen in anderen Kulturräumen des Altertums. Wir fi nden sie beispielsweise im alten Babylon. Hier berichtet das Weltschöpfungsgedicht Enuma elis, dass der Himmelsgott Marduk die Urgöttin Tiamat zweigeteilt und aus den beiden Hälften Erde und Himmel gebildet habe22 . In derartigen Mythen, die ihre Spuren auch in Schöpfungsaussagen des Alten Testaments hinterlassen haben, geht es jeweils um ein gewalttätiges Geschehen ‚im Anfang‘, das bald als Tötung und zwar als rituelle Tötung, bald als ein Kampf zwischen bereits bestehenden göttlichen Mächten beschrieben wird. Stets stehen sich zwei nicht ganz gleiche und starke Kontrahenten gegenüber. Ein gewisser Dualismus zeigt sich, aber dieser ist gestuft, wobei in einer Art Steigerung und zwar einer Steigerung zum Besseren der Sieg des Höheren über das Niedrigere ausgesagt wird. In diesen Zusammenhang ist auch der orphische Mythos von Phanes zu stellen. Diese Urmacht voller Dynamis und damit Gewalt sprengt das Ur-Ei, Symbol für die Ungeschiedenheit des Anfangs, und eröffnet den Weg in das
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R. Merkelbach, Mithras (Königstein, Ts. 1984) 9–22. 193–227. M. Ninck, Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten. Eine symbolgeschichtliche Untersuchung = Philologus, Suppl. Bd. 14,2 (Leipzig 1921, Ndr. Darmstadt 1967) Reg.: ‚Traum‘. 20 Edda c. 8 (Sammlung Thule 20, 55 f. Neckel); Merkelbach, Mithras a.O. (o. Anm. 18) 193 f. 21 V. Moeller, Die Mythologie der vedischen Religion und des Hinduismus: H. W. Haussig (Hrsg.), Wörterbuch der Mythologie, Bd. 5 Götter und Mythen des indischen Subkontinents (Stuttgart 1984) 149; Merkelbach, Mithras a. O. 195 22 IV 135-V 22, übersetzt von E. A. Speiser: J. B. Pritchard, Ancient Near Eastern Texts relating to the Old Testament 3(Princeton, New Jersey 1969) 67; Merkelbach, Mithras a.O. 196. 19
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4. Gewalt und Weltbild
Viele der Erscheinungen 23 . Bei Hesiod stehen Chaos, Erebos und Nyx für die Urmacht des Anfangs, die aus sich dann die jetzigen Weltpotenzen entlässt. Die trennende Macht ist hier nur noch zu erschließen, wie aus dem von Hesiod überlieferten Mythos von Uranos und Kronos zu ersehen ist. Hier trennt Kronos mit der Sichel den mit der Erde eng verbundenen Uranos24 . Der Trennung der Einheit von allem im Anfang entspricht der anthropogonische Mythos von der Zweiteilung des ursprünglichen Kugelmenschen, wie dies Platon im Symposion berichten lässt25 . Eine Parallele zu diesem anthropogonischen Mythos ist aus dem Buch Genesis zu erschließen. Auch hier erfolgte erst aus einer Trennung des zuvor Vereinten der Gegensatz der beiden Geschlechter: Der Urmensch Adam stand noch diesseits des Unterschiedes von Männlich und Weiblich. Erst durch die Entfernung einer seiner Rippen, also infolge einer gewaltsamen Trennung, entstanden die sich einander ergänzenden Ureltern Adam und Eva 26 . Die Denkvorstellung der zuvor betrachteten Kosmogonien bestimmt auch diesen Mythos vom Werden des ersten Menschenpaares. Aus der Einheit und Vermischtheit der Geschlechter im geheimnisvollen Uranfang treten infolge eines göttlichen Gewaltaktes Differenz und Gegensätzlichkeit hervor. Im Menschen wird dieses Ereignis seiner selbst bewusst, indem Identität und Differenz als die letzten Voraussetzungen von allem Gedachten ins Bewusstsein treten: die Identität des Uranfangs von allem und die Differenz der aus ihm quellenden Erscheinungen, wobei der Mensch in sich selbst in personaler Identität und personaler Differenz in Form der Selbstreflexion dieses alles bestimmende Urgeschehen spiegelt. Genau in diese Richtung aber zielt auch der im Altertum weit verbreitete Glaube an die Entsprechung von Welt und Mensch 27.
23 O. Kern (Hrsg.), Orphicorum fragmenta (Leipzig 1922; Ndr. Dublin, Zürich 1972) frg. 56. 60; S. Morenz, Ägypten und die altorphische Kosmogonie: S. Morenz (Hrsg.), Aus Antike und Orient, Festschrift W. Schubart (Leipzig 1950) 64–111. 24 Hes. theog. 123. 170–182; vgl. W. Staudacher, Die Trennung von Himmel und Erde. Ein vorgriechischer Schöpfungsmythos bei Hesiod und den Orphikern (Tübingen 1942, Ndr. Darmstadt 1968); kritisch dazu H. Schwabl. Art. Weltschöpfung: Pauly/Wissowa Suppl. Bd. 9 (1962) 1433–1582, bes. 1468–1474. 1508–1510; ferner vgl. C. F. von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft 1. Bd. Schöpfung und Weltentstehung. Die Geschichte zweier Begriffe 3(Stuttgart 1964) 20–37: Kosmogonische Mythen; Die Schöpfungsmythen, mit einem Vorwort von M. Eliade (Darmstadt 1980) Reg.: ‚Trennung‘; U. Mann, Schöpfungsmythen. Vom Ursprung und Sinn der Welt (Stuttgart 1982). 25 Plat. conv. 189 c – 193 d; dazu K. Ziegler, Menschen- und Weltenwerden. Ein Beitrag zur Mikrokosmosidee: Neue Jahrbücher für das Klass. Altertum 31 (1913) 529–573; W. Speyer, Frühes Christentum 1 a.O. (o. Anm. 12) 312 f. 26 Gen. 2,18–24; vgl. H. Baumann, Das doppelte Geschlecht. Ethnologische Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythos §(Berlin 1980) Reg.: ‚Adam‘. 27 M. Gatzemeier/H. Holzhey, Art. Makrokosmos, Mikrokosmos: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5 (1980) 640–664.
3. Gewalt in der Kosmogonie griechischer Philosophen
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Hinter der Erzählung von der Entstehung der Ureltern wird weiter Folgendes deutlich: Der Mensch als einzelner Mann oder einzelne Frau erkennt in der konkreten Gegensätzlichkeit der beiden Geschlechter deren jeweilige Begrenztheit und drängt fühlend und erkennend zu der einmal im Ursprung vorhandenen Einheit zurück. Vielsagend bedeutet im Hebräischen das gleiche Verbum erkennen den Geschlechts- und den Erkenntnisakt. Das menschliche Erkennen in der Form des analytischen Erkennens entspricht gewissermaßen auch dem besprochenen Ursprungsmythos. Auch das Schwert des Geistes trennt ähnlich wie der Urgott ‚im Anfang‘; Unterscheidung ist als Zeichen der Klugheit ein Weg zur Erkenntnis. Die gleichen Vorstellungen der Anthropogonie in der Genesis, also die Vorstellungen einer ursprünglichen Einheit und einer nachfolgenden Trennung sowie dadurch entstandener Gegensätzlichkeit sowie der Sehnsucht nach deren Aufhebung, zeigt auch die im Buch Genesis überlieferte Geschichte vom Paradies und dessen Verlust28 . Am Anfang steht auch hier die Einheit von Gott und Mensch. Darauf folgt die Trennung durch die Gewalt der Sünde und damit innerlich als Folge verknüpft die Trennung als Ausweisung aus dem Paradies und so der Verlust der Einheit mit Gott. Bezeichnenderweise stehen als Garanten des eingetretenen Getrenntseins am Eingang zum Bereich der ehemaligen Einheit die Kerube und das zuckende Flammenschwert, also das Symbol der trennenden Gewalt 29. Seitdem ist der Mensch in die Vielheit entlassen, in der er sich nicht zuletzt auch aufgrund vieler seiner Kulturleistungen wie in einem Labyrinth verirrt. Seitdem versucht er wieder aus dem Universum der Gegensätze von Chaos und Kosmos, von Tod und Leben, von Unheil und Heil, von Männlich und Weiblich heraus zu gelangen.
3. Gewalt in der Kosmogonie griechischer Philosophen Was bestimmte kosmogonische Mythen in Bildern ausgesagt haben, spricht die kosmogonische Theorie der frühen griechischen Philosophen in Begriffen aus. Hier entspricht das verwendete Begriffsinstrumentarium ganz dem Bildinstrumentarium des Mythos. Als bekanntes Beispiel sei Ovid genannt, der in seinem myth-historischen Weltgedicht der Metamorphosen über die Umwandlung des Chaos in den Kosmos Folgendes mitteilt: Am Anfang stand die Einheit: unus erat toto naturae vultus in orbe, quam dixere chaos. Die folgenden Verse beschreiben die Mischung von allem im Einen. Diesen Streit
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Gen. 2,8–3,24. Gen. 3,24; K. Albert, Griechische Religion und Platonische Philosophie (Hamburg 1980) 10 nennt die Überlieferungen von der Trennung der Götter und Menschen den „Mythos aller Mythen“. 29
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4. Gewalt und Weltbild
trennten ein Gott und eine bessere Natur: hanc deus et melior litem natura diremit; mit den entsprechenden Verben abscindere und secernere kennzeichnet der Dichter das weitere Tun der Gottheit. Sie trennt das zuvor Vermischte: sie schafft durch Trennung Himmel und Erde, die Elemente. Der Prozess vom uranfänglichen Chaoszustand der Einheit von allem zum auf- und zueinander bezogenen Zustand des Kosmos vollführt die göttliche Gewalt des Zerteilens30 . In diesen Versen Ovids fassen wir an einem hervorragenden Beispiel die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Mythos, hier des kosmogonischen Mythos. In zahlreichen Brechungen begegnet bei griechischen Denkern die begriffl ich gefasste Vorstellung einer ‚im Anfang‘ stattgefundenen Trennung, die nicht ohne Gewalt abgelaufen ist 31. So verbindet eine einzige geistige Kette nicht nur Kosmogonie und Anthropogonie, sondern das sie spiegelnde philosophische Denken und Erkennen, das unter Identität, Einheit, Synthese ebenso steht wie unter Differenz, Differenzierung und Analyse und damit unter dem Schwert der begriffl ichen Trennung.
4. Die gewalttätige Beseitigung eines Menschen als eines Gottesund Kosmos-Feindes Was ‚im Anfang‘ am Beginn von Raum und Zeit geschehen ist, vollzieht sich nach antiker Erfahrung und antikem Denken danach immer wieder und sichert so den Bestand und das Kontinuum dieser Wirklichkeit. Der mythische Aspekt des Anfangs, der als solcher un- und übergeschichtlich ist, betrifft jeweils ähnliches, nunmehr geschichtlich konkretes Geschehen. So ereignen sich für das frühe Erleben im Jahresverlauf Werden und Vergehen als Kosmoswerden und als Chaoswerden. Jedes Neujahrsfest mit der Neugeburt der Sonne vergegenwärtigt den uranfänglichen Kampf und die Scheidung von Finsternis und Licht, Tod und Leben, Chaos und Kosmos. Zum Neujahrsfest gehörte so auch ursprünglich die rituelle Tötung eines Menschen, wie im Alten Orient zum Fest der Thronbesteigung eines Herrschers32 . In den kosmogonischen Zusammenhang dürfte auch der Bericht des Tacitus über die ritu30 Ov. met. 1,7–20. – Ähnlich heißt es Gen. 1,4: Gott trennte Licht und Finsternis; 1,7 Gott schied zwischen den Wassern unterhalb und oberhalb des Firmamentes, vgl. Schwabl a.O. (o. Anm. 24) 1497–1499. – Zu Ovids Weltentstehungslehre W. Spoerri, Späthellenistische Berichte über Welt, Kultur und Götter = Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 9 (Basel 1959) 34–45; Lämmli a.O. (o. Anm. 3) 2–7. 31 Dazu ausführlich Spoerri a.O.; vgl. ebd. Reg.: diakr4nein, di1krisi:; Lämmli a.O. Reg.: (dia)kr4nw. – Ferner vgl. das Problem der Entzweiung als Thema des deutschen Idealismus; J. Ritter, Art. Entzweiung, entzweien: Historisches Wörterbuch der Philosophie 2 (1972) 565–572. 32 Trumpf, a.O. (o. Anm. 13) 146.
4. Die gewalttätige Beseitigung eines Menschen
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elle, d. i. öffentlich begangene, Tötung eines Menschen im Hain der Semnonen passen. Tacitus spricht von der Feier und den Schauder erregenden Uranfängen des barbarischen Ritus. Dieser Ritus spiegelte am Menschen die Kosmoswerdung33 . Grundsätzlich gilt für die antiken Kulturen, dass ihr Erleben magisch-religiös oder sakral bestimmt war. Damit war die Entsprechung von Welt und Mensch ebenso betroffen wie alles, was mit Leben und Tod zusammenhängt, d. h. die meisten Handlungen und deren Absichten in der frühen Kultur. Jeder Krieg und jede Hinrichtung waren Taten der Sakralgemeinschaft, die sich dabei stets ihrer mythischen Anfänge, wie sie zuvor skizziert wurden, versicherte. Mit Recht bemerkt Hermann Usener, „dass alles halspeinliche Gerichtsverfahren von seinen Anfängen bis zur Zeit der Französischen Revolution auf sakraler Grundlage geruht hat“34 . Jeweils galt der Gegner der religiös-politischen Gemeinschaft, der Sakralgemeinschaft, als Götter- und Gottesfeind, wobei der dämonische und der menschliche Götter- und Gottesfeind in eins verschwammen 35 . Er wird deshalb wie der Urstier, der Drache oder Tiamat rituell getötet, rituell beseitigt, wobei diese Tötung zugleich als ein Wandlungsritual zu verstehen ist: Ihre Folge erschien für die Sakralgemeinschaft lebenfördernd und heilsam, eben eine Wandlung zum Kosmos, der durch den Frevler oder den Verfluchten, sei er ein einzelner oder ein Volk, gestört erschien 36 . Auf diesem geistigen Hintergrund sind die vielen grausamen und gewaltsamen Tötungs- und Hinrichtungsarten zu verstehen, wie sie aus allen Kulturen des Altertums bekannt sind und weit über den Ausgang der Spätantike bis in die Neuzeit angewendet wurden. Die Grenze bildet in Europa und seinem Einflussgebiet das 18. Jahrhundert, das geistesgeschichtlich das neue Zeitalter der Entsakralisierung und Demokratisierung vorbereitet hat. Dass bei diesen Tötungsarten für ein nacharchaisches Bewusstsein, das durch Philosophie und Ethik geprägt ist, vor allem der Aspekt der Grausamkeit auffällt, ist klar. Für das Bewusstsein jenes älteren, zuvor nachgezeichneten Weltbildes trat dieser Blickpunkt eher zurück. Für diese Mentalitätsstufe war nur das Ereignishafte der sich immer erneut zeigenden Weltaspekte von Chaos und Kosmos, von Tod und Leben wesentlich. Nach diesem mythischen Weltbild erschien jeder, der die archaische religiös-politische Gemeinschaft von innen oder von außen bedrohte, als ein Sakralfrevler, der als Gegner der numinosen Kosmosmacht, des Kosmosgottes, zu vernichten ist, wobei die 33 Tac. Germ. 39; L. L. Hammerich, Horrenda primordia. Zur Germania c. 39: Germanisch-Romanische Monatsschrift 33 (1951/52) 228–231; Merkelbach, Mithras a.O. (o. Anm. 18) 194 f. 34 Italische Volksjustiz: Rhein. Museum 56 (1900) 1–28, bes. 1 = Ders., Kleine Schriften 4 (Leipzig 1913, Ndr. Osnabrück 1965) 356–382, bes. 356. 35 Speyer, Gottesfeind (o. Anm. 13). 36 W. Speyer, Art. Fluch: RAC 7 (1969) 1160–1288.
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4. Gewalt und Weltbild
Formen der rituellen Tötung nicht selten dem ursprünglichen Tun des Himmelsgottes entsprachen, wie bei der Zweiteilung des Sakralfrevels oder seiner Vierteilung und Zerstückelung sowie der Aussaat seiner Glieder über die Felder37. Sakrale Hinrichtung betrifft auch das Verhältnis des Tötens zu den vier Elementen, wie das Ertränken und Versenken ins Meer oder in den Fluss, das Lebendigbegraben, und zu Tode Schleifen, das Verbrennen und Zerstreuen der Asche in alle Winde oder ins Meer, das Hängen an einen Baum, das Pfählen oder Kreuzigen, das Steinigen und Herabstürzen von Felsen, das Rädern (Sonnenrad) und Enthaupten. Dazu kommen seltener angewendete Formen, wie die Tötung durch wilde Tiere, das Schinden und Enthäuten, das Zermahlen in der Mühle, das Zerstampfen und das Legen Lebender auf Tote und das Eingießen geschmolzenen Metalls38 . Diese Formen des rituellen Tötens, meist eines grausamen Tötens, sollten dem Leben dienen; denn der auf eine der genannten Arten aus dem Kosmos der Sakralgemeinschaft verwiesene Frevler, der Verfluchte und Götter/Gottesfeind, – seine Beseitigung geschah deshalb auch außerhalb der Stadt, also außerhalb der Kosmoszone – sollte durch seinen Tod den großen und den kleinen Kosmos stärken. Das für das Wohlergehen dieser Welt so lebenswichtige Prinzip des Ausgleichs und der Vergeltung blieb dabei voll gewahrt. Der Gedanke, dass jeder Angriff auf den Kosmos, sei dieser der Kosmos der Sakralgemeinschaft, der Stadt oder einer größeren religiös-politischen Einheit, als Ausdruck der mythischen und damit stets gegenwärtigen Chaosmächte erfahren wurde, ließ alle diese Weisen des Tötens als geboten und als notwendig erscheinen. Dass dabei das seelische Phänomen der Angst, der Angst für das Weiterleben der Sakralgemeinschaft und damit aller ihrer Glieder miterkennbar wird, zeigt, in welche Tiefe der Seele die hier betrachteten Phänomene verweisen. Zugleich bezeugen die beschriebenen Zusammenhänge, wie bestimmend für die Menschen in Europa bis in das 18. Jahrhundert der Gedanke der Entsprechung von Welt und Mensch oder Kultur, von Makro- und Mikrokosmos, war. So läuft in diesem Tun alles auf eine Identitätsstiftung heraus. Indem der Mensch kosmoskonform handelt, fi ndet er zur Einheit mit der Weltwirklichkeit, in der das grausame Töten zum Bestand ihrer selbst, also zu ihrem Wesen gehört. Erklärungsbedürftig ist aber schließlich noch der Umstand, dass zwar nicht alle, aber doch viele rituelle Tötungsarten des Altertums in christlicher Zeit 37
Speyer, Frühes Christentum 1 a. O. (o. Anm. 12) 305–321. 501. Speyer, Fluch a.O. (o. Anm. 36) 1184–1189; ferner vgl. H. von Hentig, Die Strafe. Frühformen und kulturgeschichtliche Zusammenhänge (Berlin 1954); Trumpf a.O. (o. Anm. 13); H. Dohrmann, Anerkennung und Bekämpfung von Menschenopfern im römischen Strafrecht der Kaiserzeit = Europäische Hochschulschriften R. 2 Rechtswissenschaft, Bd. 1850 (Frankfurt, M. 1995) 15–81; W. Speyer, Art. Kopf: RAC 21 (2005) 509–535, bes. 520–522. 526 f. 38
5. Ausblick
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weiterlebten. Das christliche Zeitalter unterscheidet sich aber von dem älteren mythischen durch ein neues Gottes- und Weltbild. Im Judentum und dem ihm in diesem Punkte folgenden Christentum ist die Welt nicht durch Trennung aus einer vermischten Einheit ‚im Anfang‘ entstanden, sondern durch das Wort des weltunabhängigen Schöpfergottes39. Trotzdem wirkten in Texten des Alten Testamentes, wie Genesis und Psalmen, auch die zuvor beschriebenen älteren mythischen Vorstellungen weiter und zwar, wie angedeutet, in kosmogonischen und in anthropogonischen Aussagen40 . Zu diesem Einfluss kommt in der christlichen Spätantike der Einfluss entsprechender mythischer Vorstellungen der Germanen. Wie Riten noch lange als Bräuche weiterleben, so wird es auch mit den rituellen Tötungsarten gegangen sein: Sie wurden weiter angewendet, aber nicht immer mehr in ihrem ursprünglichen Sinn verstanden. So fiel bei ihnen mehr und mehr die Grausamkeit allein ins Gewicht, an der sich dann das philosophisch-sittliche Empfi nden der Aufklärer des 18. Jahrhunderts gestoßen hat, so dass seitdem die meisten grausamen Todesarten – die Kreuzigung war bereits unter Kaiser Konstantin verboten worden – außer Gebrauch kamen.
5. Ausblick Zwei unterschiedliche Welt- und Menschenbilder sind es, die bis zur Stunde die Geschichte des Menschen in der Tiefe bestimmen: Das eine ist naturhaft; hier ist der Mensch ein Lebewesen wie alle übrigen. In der Natur geht es den Lebewesen um die Erhaltung der reinen Existenz, um die Bewahrung des individuellen Lebens, das meist nur im Leben der Gruppe, die ihrerseits um das Überleben kämpft, Bestand hat. Diese Bewahrung scheint nur Erfolg zu haben, wenn getötet wird. Der Kampf ums Dasein mit Töten ist hier das Grundgesetz 41. Demgegenüber steht ein anderes Welt- und Menschenbild. Seine ersten Äußerungen fi nden sich bereits bei einzelnen Dichtern und Denkern der griechischen und römischen Antike. Zu nennen sind einzelne homerische Sänger, die Tragiker und alle jene, die sich gegen das Töten von Tieren ausgesprochen
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Schwabl a.O. (o. Anm. 24) 1573–1582. S. o. Anm. 30 und S. 68. 41 Eines der Leitmotive im Denken und Urteilen von C. von Hötzendorf, Private Aufzeichnungen, Erste Veröffentlichungen aus den Papieren des k.u.k. Generalstabs-Chefs, bearbeitet u. hrsg. von K. Peball (Wien, München 1977); vgl. ebd. die kritische Betrachtung 304–307: ‚Ewiger Völkerfriede‘ und s. 307: „Der Daseins-Wille schafft und beherrscht die Welt, seine unmittelbare Folge ist der Daseinskampf“; hingegen differenzierend J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, neu hrsg. von R. Marx (Stuttgart 1978) 24 f. 40
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4. Gewalt und Weltbild
haben, wie die Pythagoreer und die antiken Vertreter eines Vegetarismus. Bei ihnen bahnte sich eine neue Erkenntnis über den Menschen an. Dieser erscheint nunmehr nicht mehr als reines Naturwesen. Der Mensch kann die Ebene des reinen Naturwesens aufgrund seiner geistigen und sittlichen Einsicht überschreiten; denn er vermag aus sittlichen Erwägungen auf die Anwendung von Gewalt und auf Vergeltung im Negativen zu verzichten42 . Diese neue Einsicht in die Möglichkeiten menschlicher Freiheit zeigt gleichfalls in Ansätzen das alte Israel. Ein neues Welt- und damit zugleich auch Menschenbild wird in jenen Texten des Alten Testamentes erkennbar, die von der Erschaffung der Welt durch das Wort des weltunabhängigen Gottes sprechen. Doch blieben Restbestände des alten mythischen Weltbildes der Gewalt auch weiterhin lebendig, sogar in jenen Textpartien, die von dieser Erschaffung der Welt berichten. Deshalb blieben auch im alten Israel die blutigen Opfer und damit das rituelle Töten bestehen, obwohl einzelne Propheten zu einem vergeistigten Verständnis des Opfers vorgedrungen sind. Dieses konnte dann erst das Christentum durchsetzen; denn in ihm machte der als das eine und einzige wirksame Sühnopfer aufgefasste Tod Jesu Christi alle blutigen Opfer überflüssig43 . Dieser im ‚Messopfer‘, der Eucharistie, rituell wiederholte Tod Jesu Christi ersetzte das ehemalige rituelle Töten. Obwohl Jesus selber auf Gewalt, Vergeltung und Rache infolge seines Liebesgebotes und seines Gebotes zum Verzeihen gänzlich verzichtet haben dürfte, sind doch Texte, die auch in diese Richtung deuten, wie die Austreibung der Wechsler aus dem Tempel oder der Fluch über den Feigenbaum, in die Jesusüberlieferung eingedrungen44 . Die Menschheit hat jedenfalls erst in den letzten drei Jahrtausenden Schritte gesetzt, die zu dem Ergebnis führen können, dass der Mensch, und zwar jeder Mensch, für den Menschen etwas Heiliges und Unantastbares ist. Das, was Humanismus ist, besitzt in dieser Erkenntnis, für die einzelne antike, jüdische und christliche Texte und Personen zeugen, seine Grundlage 45 . Nur auf ihr wird die sich mehr und mehr abzeichnende eine Weltzivilisation Zukunft haben.
42 A. Dihle, Die ‚Goldene Regel‘. Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik = Studienhefte zur Altertumswissenschaft 7 (Göttingen 1962); Ders., Art. Goldene Regel: RAC 11 (1981) 930–940. 43 Hebr. 9, 11–10, 18; Speyer, Frühes Christentum 2 a.O. (o. Anm. 7) 46–48. 44 Mc. 11, 15–17; Mt. 21, 12 f.; Lc. 19, 45 f.; Joh. 2, 14–17. – Mc. 11, 12–14. 20 f.; Mt. 21, 18 f.; Speyer, Fluch a.O. (o. Anm. 36) 1253 f.; ferner das Schwert-Wort: Mt. 10,34–36; Lc. 12,51– 53; dazu E. Dassmann / G. Schöllgen, Art. Haus II (Hausgemeinschaft): RAC 13 (1986) 801–905, bes. 877–879: ‚Familienfeindliche Tendenzen‘. 45 H. Chadwick, Art. Humanität: RAC 16 (1994) 663–711; O. Hiltbrunner, Art. Humanitas: ebd. 711–752.
5. Die Offenbarungsübermittlung und ihre Formen als mythische und geschichtliche Anschauung für Joachim Dalfen zum 4. November 2001
1. Grundlegung Stellen wir die Frage, ob unser heutiges Denken, also unsere heutige Wirklichkeits-, Welt- und Lebensauffassung, zeitlos oder geworden ist, so werden geradezu alle zugeben müssen, dass sie geschichtlich bedingt ist und eine Entstehungsgeschichte besitzt. Die Geschichte einer Erscheinung der sichtbaren und der geistigen Welt enthüllt aber noch nicht deren Wesen. Überall, wo Wesenhaftes erscheint und dies erscheint zunächst in allen Hervorbringungen der Natur oder – besser gesagt – der Schöpfung, ereignet sich vor und neben aller Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit etwas Übergeschichtliches und Überzeitliches. Dieses Zeit und Geschichte Übersteigende sei in unserer Betrachtung mythisch genannt. Das so verstandene Mythische berührt sich mit dem Archetypischen sowie dem Symbolisch-Gleichnishaften und weist damit auf die das begriffl iche Denken übersteigende Dimension des Göttlichen und des Ewigen hin. Jede Erscheinung dieser Wirklichkeit, ja das Weltganze selbst durchlebt seine Geschichte, so auch der Mensch, so auch der Inhalt seines Denkens, Urteilens, Bewertens und alles, was er schafft und gestaltet. Die Dimension der Geschichte und des Geschichtlichen und damit der Zeit ist aber weder unendlich noch alles umfassend. Sie ist kein Gott, auch wenn die Griechen vom Gotte Chronos oder vom Gotte Aion sprachen1. Ein regressus in infi nitum, verstanden als Rückgang von der vorliegenden konkreten Wirklichkeit ins Unendliche, ist denkunmöglich, da aus dem Unendlichen kein Weg zum
1 R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt. Religionsgeschichtliche Untersuchungen zur Urgeschichte des antiken Weltbildes 1/2 (München 1910, Ndr. Hildesheim, Zürich, New York 2002) Reg.: Chronos; A. Dyroff, Chronos: Festgabe F. von Bezold (Bonn, Leipzig 1921) 1–21. – G. Zuntz, AI7n in der Literatur der Kaiserzeit = Wiener Studien, Beih. 17 (Wien 1992) mit Hinweisen auf die früheren Arbeiten des Verfassers zum selben Thema.
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5. Offenbarungsübermittlung und ihre Formen
Konkreten hier und jetzt hinführt2 . Vielmehr ist ein prinzipiell Eines und Erstes als ein Gründendes oder Stiftendes anzunehmen, aus dem die zeitliche und geschichtliche Reihe des jeweils Konkreten in Natur- und Geisteswelt hervorgegangen ist und hervorgeht. Hier gilt der Satz der Thomistischen Philosophie: in primo stabiliendum est. Dieser Anfang, &rc3, initium, primum, kann deshalb seinerseits auch keine rein geschichtliche Größe sein 3 . Wir können die den Anfang stiftende Macht wohl nur via negativa benennen, nämlich als die Größe, die aller Zeit und allem Raum vorausliegt und beides ermöglicht, also als das Göttliche, Ewige. An diesem hat das, was wir als Wesen bezeichnen, was Platon Gestalt, ePdo:, oder was Augustinus Gedanke Gottes nennt, Anteil. Somit berührt das Geschichtliche das Ewige, da es in ihm gründet; denn die Ewigkeit Gottes ist die Bedingung und der Grund für das Werden der Zeit, der Zeitlichkeit, der Geschichtlichkeit. Insofern ist das Ewige auf gewisse Weise auch in allen Erscheinungen der Natur gegenwärtig4 . Das auf das Geschichtliche gerichtete Erkennen, Deuten und Erklären vermag nur Wandlungen des aus dem unableitbaren geheimnisvoll bleibenden Urgrund hervorgegangenen Wesens festzumachen. Falsch wäre es, wenn sich das geschichtliche Betrachten absolut setzen wollte und so weit ginge, die jeweilig eingetretenen Wandlungen selber zum eigentlichen Wesen zu erklären und somit Sein gänzlich in Werden aufzulösen. Der Mensch als Art- und Gattungswesen und auch als einzelner wandelt sich in der Zeit, macht Veränderungen durch, die nicht immer nur Entfaltungen von Anlagen sind, sondern in denen sich seine selbst zu verantwortende Freiheit mitausspricht, die sich nicht durchgehend von Fehlentscheidungen freihalten kann. Aber alle diese Wandlungen zum Guten oder zum Bösen sind es nicht, die in erster Linie den Menschen zum Menschen, den einzelnen zum jeweils konkret einzelnen machen, sondern eine vorgegebene, unver2 J. Bendiek/Red., Art. Regressus/progressus in infi nitum: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8 (1992) 487–489. 3 W. Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte (Frankfurt, M. 1985); Ders., Art. Hen: RAC 14 (1988) 445–472. In diese Richtung weisen auch folgende Verse von Friedrich Rückert: „Was uranfänglich ist, das ist auch unanfänglich und Unanfängliches notwendig unvergänglich. Was irgend wo und wann hat selber angefangen kann nicht der Anfang sein und muß ein End’ erlangen. Der Anfang nur allein kann nie zu Ende gehen, weil er aus nichts entstand, nichts ohn’ ihn kann entstehen“; ferner vgl. H. Görgemanns, Art. Anfang: RAC Suppl. Bd. 1 (2000) 401–448. 4 J. W. von Goethe, Vermächtnis: „Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen! Das Ew’ge regt sich fort in Allen, Am Sein erhalte dich beglückt!“ – Immanenz Gottes und Transzendenz Gottes bedingen einander.
1. Grundlegung
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rückbare Gestalt, die deshalb auch durch geschichtliche Betrachtung nicht voll einholbar ist, da sie vielmehr aller Veränderbarkeit und Geschichtlichkeit voraus- und zugrundeliegt 5 . Der Mensch hat vor allem seit der griechischen Antike seelisch-geistige Wandlungen erlebt, die tiefer greifen als in den langen vorausliegenden Zeiträumen der Früh- und Hochkulturen. Dabei wächst die Beschleunigung dieser Veränderungen seit der Renaissance und vor allem seit dem 18. Jahrhundert. Dieses Jahrhundert des Rationalismus und der Aufklärung hat zugleich auch den Siegeszug der Technisierung und der Industrialisierung ausgelöst, der in unseren Tagen zur europäisch-amerikanisch bestimmten Weltzivilisation führt. Entsprechend zu diesem Wandel vieler verschiedenartiger Kulturen zu einer einzigen technisch und wirtschaftlich dominierten und geeinten Weltgesellschaft verläuft das Wahrnehmen dieses Prozesses. Dabei dürften das Wahrnehmen und der Prozess selbst auf einer tieferen Wirklichkeitsebene in einem Austauschverhältnis zueinander stehen. Je nachdrücklicher seit der Begründung der Geschichtsschreibung durch die Griechen und seit der Heilsgeschichte des Alten und Neuen Testamentes auf geschichtliche Veränderung geachtet wurde, umso mehr erkannte man den Menschen mit seiner Kultur als ein geschichtliches und damit als ein zeitlich bedingtes Wesen. Gerade die historische Dimension des Erkennens und Fragens, die den Aufstieg der Geschichtswissenschaft seit der Renaissance und verstärkt seit dem 19. Jahrhundert herbeigeführt hat, so dass die Geschichtswissenschaft zu der führenden Wissenschaft geworden ist, die Geistes- und Naturerkenntnis miteinander verbindet, brachte es mit sich, dass in jüngster Zeit der Mensch in Übersteigerung und Verabsolutierung der geschichtlichen Betrachtungsweise nur noch als eine vorübergehende Größe ohne eigenen Selbststand erscheint. Dichterische Aussagen R. M. Rilkes und G. Benns sowie M. Heideggers Analysen in ‚Sein und Zeit‘ beleuchten scharf dieses gegenwärtige Bild vom Menschen6 . Gegenüber der Totalvergeschichtlichung von Mensch und Welt erfolgte etwa zur gleichen Zeit bei einigen Gelehrten die Wiederentdeckung der mythischen Komponente der Wirklichkeit. So entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reaktion, die ähnlich wie die Romantik um 1800 ein ausschließlich rationalistisches und geschichtliches Welt- und Menschenverständnis ablehnte. Allerdings vermochte diese geistige Richtung noch weniger als die religiösen Denker der Romantik den Geist ihrer Zeit nachhaltig zu prägen. 5 R. Piepmeier/Red., Art. Morphologie I: Historisches Wörterbuch der Philosophie 6 (1984) 200–205. 6 Beispielsweise R. M. Rilke, Die Sonette an Orpheus, 2. Teil Nr. 13: ‚Sei allem Abschied voran . . .‘, von Rilke das vielleicht überhaupt gültigste Sonett genannt; vgl. D. Bassermann, Rilkes Vermächtnis für unsere Zeit (Berlin, Buxtehude 1946) 56–59.
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5. Offenbarungsübermittlung und ihre Formen
In gewisser Weise ist diese von der Romantik nicht unabhängige Sichtweise der Wirklichkeit eine Umschreibung für das, was ältere religiöse Zeitalter mit der Vorstellung der Gottheit und des Göttlichen ausgedrückt haben. Beides, das Göttliche und das Mythische, sind als Chiffren für die gründende Wirklichkeitsebene anzusehen, die das rationalistische Denken mit seinen ausschließlich zugelassenen profanen Kategorien in der Wahl seiner Vorstellungen und Begriffe, also im Bereich der Sprache und in der Argumentation ausblendet. Aber wie die Sprache vor jeder Engführung durch das rationalistische Denken selbst Anteil am Mythisch/Göttlichen besitzt, was beispielsweise noch Herder, Hamann und Novalis wussten, so vermag sie als Ausdruck des Denkens, Fühlens und Wollens zumindest andeutungsweise auch auf dieses Göttliche hinzuweisen. Auf diese gründende Dimension des Mythisch/Göttlichen in der Wirklichkeit haben neben Dichtern und Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts die Gelehrten F. Creuzer, J. Görres, J. J. Bachofen, C. G. Jung, K. Kerényi, W. F. Otto und M. Eliade hingewiesen.
2. Der Ausgangspunkt des Themas in der Religion Zu den Grundüberzeugungen der Religion gehört der Glaube, dass die Wirklichkeit das Mit- und Ineinander von Göttlichem und Menschlichem, von Heiligem und Profanem bildet. Die Welt der Erscheinungen zeigt sich hier mehrdimensional: sie enthält zwei Wirklichkeitsebenen und ist nicht einsinnig. Die Überzeugung vom Gleichnischarakter der uns unmittelbar zugänglichen Realität gehört deshalb zum religiösen Weltbild. Insofern lag es nahe, sich das Miteinander von Göttlichem und Menschlichem näher zu vergegenwärtigen. Die Vorstellung einer hierarchischen Stufung steht im Hintergrund dieser Wirklichkeitsdeutung: Der Mensch lebt zwar in seiner Welt, aber diese seine Welt ist geöffnet. Mag sie ihm oft auch nur als dunkle Höhle erscheinen, so hat diese Höhle doch einen Ausgang, in den ein spärliches Licht fällt7. Dies ist als ein Bild für das zu werten, was Offenbarungsempfang bedeutet: Licht aus einer verwandten, aber höheren Welt in das Dunkel der profanen menschlichen Welt, der Welt des Realen, Gewöhnlichen, Alltäglichen, Trivialen. Der Unterschied von Festtag und Arbeitstag gründet in diesem Unterschied ebenso wie die Unterscheidung von Heilig und Profan oder von Erleuchtet- und Unerleuchtetsein oder von Weisheit und Wissenschaft. In derartigen spannungsgeladenen Gegensätzen erkennen wir das Weiterwirken eines jeden ursprünglichen religiösen Erlebens, Erkennens und Glaubens: Der Mensch 7 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 〈 1〉 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum NT 50 (Tübingen 1989) 322–331. 501: ‚Die Vision der wunderbaren Höhle‘; H. Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt, M. 1989) 305–310.
3. Die einzelnen Formen
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bleibt als Mangelwesen, das er ist, in seiner Geistseele gleichsam auf ein Licht von oben, auf einen göttlichen Anhauch angewiesen. Dieses Licht, diesen Anhauch können wir als eine Form der Offenbarung bezeichnen. Offenbarung meint die Mitteilung religiös bestimmter seelisch-geistiger Inhalte an den Menschen. In der Geistes- und Kulturgeschichte hören wir dabei zuerst von besonderen, von auserwählten Menschen, denen ein Offenbarungsempfang zuteil geworden sei. Dies sind die so genannten heiligen Menschen, die Götter- oder Gottesfreunde8 . Zu ihnen zählten im griechischen und römischen Altertum nicht zuletzt Dichter und Prophet. Der Typos des hier gemeinten Dichters ist nicht der des gebildeten Dichters, des poeta doctus, sondern der des poeta vere divinus, des vates, wie ihn noch die augusteischen Dichter und Dichter der Neuzeit ersehnt haben9. Zu diesen heiligen Menschen zählten auch die frühen Philosophen; denn ihr Denken ging von den Göttern aus und wandte sich dem Göttlichen zu und kehrte stets dorthin zurück. Die Vorstellung vom religiösen Philosophen als einem ‚göttlichen‘ Menschen blieb bis in die Spätantike hinein lebendig10 .
3. Die einzelnen Formen Die Formen und Ausgestaltungen der Offenbarungsübermittlung sind mannigfaltig und bisher noch nicht zusammenhängend beschrieben worden. Inhaltlich beziehen sich diese Formen auf den geistigen Grundbestand der jeweiligen mit der Religion verbundenen und aus ihr erwachsenen Kultur. In den Offenbarungen fi nden wir die gemeinschaftbegründenden Überzeu-
8 L. Bieler, QEIOS ANHR, das Bild des „göttlichen Menschen“ in Spätantike und Frühchristentum 1.2 (Wien 1935/36, Ndr. Darmstadt 1976); W. Schottroff, Art. Gottmensch I (Alter Orient und Judentum): RAC 12 (1983) 155–234; H. D. Betz, Art. Gottmensch II (Griechisch-römische Antike u. Urchristentum): ebd. 234–312; W. Speyer, Der christliche Heilige der Spätantike. Wesen, Bedeutung, Leitbild: J. Dummer/M. Vielberg (Hrsg.), Leitbilder in der Diskussion = Altertumswissenschaftliches Kolloquium 3 (Stuttgart 2001) 79–92; s. u. S. 259–269. 9 G. Riedner, Typische Äußerungen der römischen Dichter über ihre Begabung, ihren Beruf und ihre Werke, Diss. Erlangen 1903, bes. 4–48; G. Kuhlmann, De poetae et poematis Graecorum appellationibus, Diss. Marburg 1906, 25 f. 29–33; O. Falter, Der Dichter und sein Gott bei den Griechen und Römern (Würzburg 1934); N. K. Chadwick, Poetry and prophecy (Cambridge 1942); A. Sperduti, The divine nature of poetry in antiquity: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 81 (1950) 209– 240; ferner W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wiss. Untersuchungen zum NT 116 (Tübingen 1999) 89–101. 281 f.: ‚Der Dichter in der Einsamkeit‘. 10 W. Fiedler, Antiker Wetterzauber = Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 1 (Stuttgart 1931) 17–22: ‚Der Weise als Wetterzauberer‘; Betz a.O. (o. Anm. 8) 255–286; s. u. S. 215–232.
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5. Offenbarungsübermittlung und ihre Formen
gungen niedergelegt, die nach den Kategorien des Heiligen, Guten, Wahren und Schönen geordnet werden können. Auf ihnen beruht das jeweilig gültige religiöse, sittlich-rechtliche, geistige und ästhetische Welt- und Wertbild. Beim Offenbarungsempfang herrscht die Überzeugung, wie das Wort bereits ausspricht, dass der Mensch der Empfangende und somit Beschenkte, der Gott aber der Gebende und Schenkende ist. Bis in dieses Jahrhundert reicht der vielstimmige Chor der religiösen Denker und Dichter, die uns versichern, dass sie das Beste ihres Werkes den geheimnisvollen und unverfügbaren heiligen Mächten verdanken11. Die Manifestationen der Offenbarungsübermittlung und des Offenbarungsempfangs sind geschichtlich bedingt. Manche tragen die Entstehung noch sichtbar und deutlich an sich. Hier ist nicht der Ort, eine ausgefeilte Phänomenologie der Offenbarungsübermittlung aufgrund der griechischen, römischen, jüdischen und christlichen Zeugnissen zu geben. Jeweils sollen vielmehr einzelne kennzeichnende Zeugnisse die jeweilige Art der Offenbarungsübermittlung beleuchten. Eine sachlich begründete Gliederung der Arten oder Formen zu geben, ist schwierig. Geschichtlich lassen sie sich nur unzulänglich ordnen. So ist zu unterscheiden zwischen den nicht an die Schrift gebundenen Formen, die zum größten Teil in weite vorgeschichtliche Zeiten zurückgehen, und jenen Arten, die von einer schriftlichen Botschaft sprechen. Bei dieser Offenbarungsform ist die Erfi ndung der Schrift und damit das Entstehen innerhalb einer Hochund Schriftkultur Voraussetzung. In dieser Form der Offenbarungsübermittlung, deren älteste Spuren nach Ägypten weisen, fassen wir zugleich den Ursprung einer so wirkmächtigen Vorstellung wie der des heiligen Buches, einer Heiligen Schrift12 . Überall, wo von Heiligen Schriften die Rede ist, wird unmittelbar oder mittelbar die Frage nach dem eigentlichen Verfasser einer derartigen Schrift beantwortet. Bei diesen Schriften tritt der menschliche Verfasser fast gänzlich hinter dem geglaubten göttlichen Autor zurück. Für die rationalistische Sicht handelt es sich dabei um Pseudepigraphie, also um die nicht zurecht bestehende und damit falsche, ja sogar vorgetäuschte Verfasserschaft; denn für die rationalistische Beurteilung kann es nur den autonom handelnden Menschen 11 O. Behaghel, Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen (Rektoratsrede Gießen 1906); O. Kankeleit, Das Unbewusste als Keimstätte des Schöpferischen. Selbstzeugnisse von Gelehrten, Dichtern und Künstlern. Mit einem Geleitwort von C. G. Jung (Basel 1959); E. Barmeyer, Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie (München 1968) 16–37; B. Allemann (Hrsg.), Ars poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik 2 (Darmstadt 1971) Reg.: ‚Inspiration‘; vgl. R. Harriot, Poetry and criticism before Plato (London 1969) 82 Anm. 2; ferner F. Schalk, Zur Geschichte von enthousiasme: Romanische Forschungen 87 (1975) 191–225. 12 C. Colpe, Art. Heilige Schriften: RAC 14 (1988) 184–223; R. Baumgarten, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen = ScriptOralia 110 (Tübingen 1998).
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als Urheber von Gedanken und als Verfasser einer Schrift geben. Hier wie bei dem gesamten Bereich der Frage nach Offenbarung und ihrer Übermittlung bewegen wir uns in einem seelisch-geistigen Gebiet, das vom jeweiligen Erfahrungshorizont und Weltbild bestimmt ist. Je mehr seit der Renaissance der neuzeitliche Mensch von seiner Autonomie und seinem allein auf sich selbst gründenden Denken und Handeln überzeugt ist, um so weniger wird er geneigt sein, außerhalb seiner selbst eine weitere, ja höhere Instanz anzunehmen und anzuerkennen. Aber sogar für ein rationalistisches Denken und Bewusstsein, das nicht auf eine psychologische Vertiefung verzichten möchte, kann und muss mit der Wirklichkeit eines größeren ‚Es‘ gegenüber dem kleineren ‚Selbst‘ oder ‚Ich‘ gerechnet werden. Dieses ‚Es‘ als überindividuelles geistiges Kraftzentrum haben sich religiöse Zeitalter mit den mannigfaltigen Vorstellungen des Göttlichen, der heiligen Macht, vergegenwärtigt. In einer Epoche, in der die Schrift gefunden war und die gemäß ihrer Mentalität ein religiös geprägtes Zeitalter war, konnte deshalb nur eine Gottheit die ersten Schriftzeichen geschenkt und sich in ihnen mitgeteilt haben13 . Aber auch der Inhalt des Aufgezeichneten konnte für ein derartiges Bewusstsein nur auf die Gottheit zurückgehen. Hier ist dann auch sogleich an Mnemosyne, die Tochter von Uranos und Gaia, also individualisierter Urgottheiten, und an ihre Töchter, die Musen, zu denken14 . Insofern berührt sich auch die vor allem von den Griechen so reich entfaltete Vorstellung von den Göttern und den Göttersöhnen, den Heroen, als den ersten Erfi ndern aller menschlichen Kulturerrungenschaften, also auch der Schrift, mit dem in Ägypten wohl am nachdrücklichsten ausgebildeten Gedanken vom schreibenden Gott15 . Der mit dem babylonischen Schreibergott Nebo und mit Hermes, der als Hermes Logios einem Aspekt des schöpferischen und alles verbindenden Geistes entsprach, verwandte ägyptische Gott Thoth sowie die Göttinnen Seschat und Isis galten im Land des Nils als die Verfasser Heiliger Schriften16 . In Babylon und vor allem in Ägypten beginnt so die sich im Abendland reich differenzierende Erscheinung der göttlichen oder mythischen Verfasserschaft. Bei den Heiligen Schriften konnte nicht nur der schriftlich niedergelegte Inhalt als aus einer übermenschlichen, jenseitigen Welt stammend gelten, sondern bereits das jeweilige gesamte Schriftwerk. Das berühmteste Beispiel sind die vom Finger Gottes beschriebenen beiden steinernen Tafeln der ‚Zehn Ge13 W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = Handbuch der Altertumswiss. 1,2 (München 1971) 35–37: ‚Mythische‘ oder ‚echte religiöse Pseudepigraphie‘. 14 Barmeyer a. O. (o. Anm. 11). 15 K. Thraede, Art. Erfi nder II (geistesgeschichtlich): RAC 5 (1962) 1191–1278, bes. 1192–1199. 16 Speyer, Frühes Christentum 〈 1〉 a. O. (o. Anm. 7) 33–42: ‚Ein Gott als Urheber von Worten und Schriften‘.
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bote‘. Mose, der sie empfängt, trägt nicht zufällig einen ägyptischen Namen und lebte lange Jahre in Ägypten17. Die Ägypter verehrten den Gott Thoth als den Geber der Gesetze und der Schrift. Das Nilland hat die Form der Vergeschichtlichung dieses inneren Findens der Lebensgesetze der israelitischen Kultgemeinschaft und damit der Magna Charta des aus der jüdischen Religion erwachsenen Christentums und des Islam beigesteuert. Der innerseelischgeistige Vorgang der Offenbarung ist in diesem Beispiel weitgehend nach außen projiziert und gewissermaßen materialisiert. Mose und sein Volk konnten das Gotteswort anschauen, ja anfassen: es war steinern geworden. Die Zehngebotetafeln sollen mit anderen Unterpfändern der mosaischen Zeit in der Bundeslade verwahrt worden sein18 . Bei dieser Überlieferung ist auf das Übergeschichtliche nachdrücklich hinzuweisen. Dieses liegt zunächst in der Einsicht, dass im Menschen eine geistige Kraft wirksam ist, die nicht in seine volle Verfügbarkeit gestellt und die nicht geschichtlich/zeitlich ist19. Die Geistseele ist als eine entstandene, ja geschaffene Größe nicht absolut und bedingungslos autonom, sondern immer zugleich auch heteronom. Die Botschaft der Offenbarung an Mose erweist sich als übergeschichtlich durch die Kraft ihrer Überzeugung, ihrer Plausibilität. Welche Theologie und welche Morallehre ist über den Kern und die Botschaft der ‚Zehn Gebote‘ hinausgelangt? Alles aber, was in die Konkretisierung und damit in Zeit und Geschichte eingegangen ist, konnte nachgeahmt und menschlichen Zwecksetzungen unterworfen werden, so auch diese Form der Offenbarungsübermittlung. Beispiele dafür bietet die Geschichte des Himmelsbriefes. Bei ihm kommen geradezu Fälschungen vor20 . Deshalb ist zwischen zwei Arten von behaupteter göttlicher Verfasserschaft wohl zu unterscheiden: einer echten Art, die wir auch die religiöse, die mythische oder die heilige nennen können, und einer unechten, ja gefälschten. Letztere gehört einem Zeitalter an, das bereits tief aus und in der Geschichte lebt und der Gefährdung durch Rationalismus ausgesetzt ist. Der Himmelsbrief hält die Vorstellung fest, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch das Exemplar der betreffenden Schrift vom Himmel stammt. So wie es im Altertum die Vorstellung von Bildern gab, die aus dem Jenseits
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Ebd. 39 f. J. Maier, Das altisraelitische Ladeheiligtum = Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Beiheft 93 (Berlin 1965). 19 Vgl. auch die Erscheinung des Gewissens; dazu H. Reiner, Art. Gewissen: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974) 574–592; H. Chadwick, Art. Gewissen: RAC 10 (1978) 1025–1107. 20 R. Stübe, Art. Himmelsbrief: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 4 (1931/32, Ndr. 1986) 21–27; Speyer, Fälschung a. O. (o. Anm. 13) Reg. ‚Himmelsbriefe‘. 18
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stammen sollten – sie galten als ‚nicht von Menschenhand gemacht‘21 –, so auch die Vorstellung von dieser Art Heiliger Schriften. Eine derartige Gottesschrift konnte einem Gottesfreund ausgehändigt oder von ihm plötzlich gefunden werden. So soll der Mönchsvater Pachomios seine Klosterregel von einem Engel auf einer ehernen Tafel erhalten haben 22 . Wieder wie bei Mose befi nden wir uns im ägyptischen, diesmal im koptischen Kulturraum. Das Entscheidende aber bei dieser und den übrigen Formen eines Offenbarungsempfangs ist der Gedanke, dass das, was den Menschen wahrhaft aufbaut und zu sich selbst führt, was ihn innerlich mit sich und der Welt oder dem Leben versöhnt, Geschenk der Macht oder nach antiker Auffassung der Mächte ist, die das Wirklichkeitsganze bilden und erhalten. Die Übergabe und der Empfang einer Offenbarungsurkunde bestimmen auch die Überlieferungen über die Gesetzgeber anderer Völker des Mittelmeergebietes. Bisweilen ersetzt bei diesen Überlieferungen die Audition, also das Hören des göttlichen Wortes, den Empfang einer Schrift, so bei Hammurapi von Babylon 23 . Ebenso begegnet bei ihnen der Offenbarungsempfang im Traum, so bei dem Gesetzgeber der epizephyrischen Lokrer in Unteritalien, Zaleukos. Als derartige Offenbarungsempfänger nennt die Überlieferung den Pharao Menes, König Minos von Kreta, den Spartaner Lykurgos, den Geten Zalmoxis und den Perser Zarathustra sowie König Numa von Rom 24 . Eng mit der Übergabe einer schriftlichen Aufzeichnung aus göttlichem Bereich verwandt ist der Gedanke vom heiligen Buch, das ein Gottesfreund, im Mittelalter mehrfach aufgrund eines göttlichen Winkes, nutu divino, fi ndet25 . Als tatsächlicher Verfasser gilt eine Gottheit oder ein in der jeweiligen Kultgemeinschaft anerkannter heiliger Mensch meist der Vorzeit, also selbst ein Inspirierter, so im Frühjudentum mit seinen zahlreichen pseudepigraphischen Patriarchen- und Prophetenschriften; aber auch im Christentum gibt es dafür Beispiele26 . Bei jeder Art einer Offenbarungsübermittlung ist die Wirklichkeit klar strukturiert: Als einziges sich seiner selbst bewusstes Wesen steht der Mensch 21
C. Schneider, Art. Acheiropoietos: RAC 1 (1950) 68–71. W. Speyer, Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike = Hypomnemata 24 (Göttingen 1970) 15 f. Anm. 1. 23 W. Speyer, Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, Zürich, New York 1995) Reg. ‚Hammurapi‘. 24 Ders., Frühes Christentum 〈 1〉 a. O. (o. Anm. 7) 34–42. 104 Anm. 1; Ders., Religionsgeschichtliche Studien a. O. (o. Anm. 23) 99 und Reg.: ‚Numa‘. 25 Ders., Bücherfunde a. O. (o. Anm. 22) Reg. ‚nutus divinus‘. 26 M. Hengel, Anonymität, Pseudepigraphie und ‚literarische Fälschung‘ in der jüdischhellenistischen Literatur: Pseudepigrapha I = Entretiens sur l’antiquité classique 18, Fondation Hardt (Vandoeuvres-Genève 1972) 231–329, bes. 265–278; Speyer, Fälschung a. O. (o. Anm. 13) 232–238. 22
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der Gottheit gegenüber, so wie auf der berühmten Dioritstele Hammurapi vor dem thronenden, also erhöhten, Sonnengott Schamasch steht27. Gott und Mensch sind zwar getrennt, kommen sich aber doch auch wieder nahe, ja begegnen einander, wobei die Gottheit als gebend, der Mensch als empfangend gedacht ist. Nach dem religiösen Weltbild bleiben zwei Wirklichkeitsebenen erkennbar: die des Menschlichen und die des Göttlichen oder die des Profanen und die des Heiligen, die der gewöhnlichen Seelenlage und die einer ekstatischen dichterischen, über die Platon mehrfach spricht 28 . In mannigfachen Bildern hat die Antike diese inneren Begegnungen zwischen den beiden genannten Wirklichkeitsebenen ausgedrückt, so im Bild der Jenseitsreise29. Dieses Bild gründet in Erfahrungen einer Mentalität, die Hermann Diels wohl als erster mit der der Schamanen verglichen und in Hinblick auf die frühen Griechen erschlossen hat 30 . Bei Parmenides schillert die Aussage zwischen Erlebnis und Kunst 31. Der von der Gottheit begnadete Mensch wird ins Jenseits entrückt, schreibt dort die ihm zuteilgewordene Botschaft aus himmlischen Büchern ab, oder er schreibt sie dort nach dem Diktat eines himmlischen Wesens auf. Vor allem die prophetische und apokalyptische Literatur der Juden und Christen bietet dafür zahlreiche Zeugnisse32 . Nur in diesem Kulturraum begegnet die noch weiter materialisierte Vorstellung vom Essen einer göttlichen Buchrolle. Auch von ihrem Geschmack hören wir: er ist bitter und süß zugleich oder er besteht aus Wasser und Feuer33 , d. h. die empfangene Botschaft ist wie die Erscheinung des Heiligen selbst gemischt aus Segen und Fluch: sie ist Heils- und Unheilsbotschaft. Beide Aussagen berühren einander, ohne sich aufzuheben und ohne dass sie rational verrechenbar wären. So gehen auf spätmittelalterlichen Darstellungen des ‚Letzten Gerichtes‘, des ‚Weltgerichtes‘, aus dem Mund des Weltenrichters Jesus Christus Lilie und Schwert hervor34 . Diese zweifache Botschaft von Heil und Unheil, von Segen und Fluch, von Froher Botschaft und von Drohbotschaft ist der gleich bleibende Inhalt dieser Offenbarungen.
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Speyer, Religionsgeschichtliche Studien a. O. (o. Anm. 23) 41 f. J. Dalfen, Polis und Poiesis. Die Auseinandersetzung mit der Dichtung bei Platon und seinen Zeitgenossen = Humanistische Bibliothek 1,17 (München 1974) Reg. ‚Enthusiasmus‘. 29 C. Colpe/P. Habermehl, Art. Jenseitsreise: RAC 17 (1996) 490–543. 30 H. Diels, Parmenides. Lehrgedicht. Griechisch und deutsch (Berlin 1897); vgl. W. Burkert, GOHS. Zum griechischen ‚Schamanismus‘: Rheinisches Museum für Philologie 105 (1962) 36–55. 31 VS 28 B 1 32 Hengel a. O. (o. Anm. 26). 33 Apc. 10,9 f.; vgl. Ez. 2,8–3,3; Cavern. thesaur. 43, 1–4; Speyer, Frühes Christentum 〈 1〉 a. O. (o. Anm. 7) 25 Anm. 34. 34 Z. B. Rogier van der Weyden, Flügelaltar, Beaune, Musée de l’Hôtel-Dieu, 1443; H. Memling, Triptychon, ehem. Danzig, St. Marien verschollen, um 1466/73. 28
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Wie das Bild vom Essen einer göttlichen Bücherrolle auf den in der GeistSeele sich abspielenden zeugend-empfangend-gebärenden Vorgang einer Begegnung von Gott und Mensch hinweist und ihn nahe bringt, so auch andere Offenbarungsarten. Die bekannteste braucht hier nicht weiter entfaltet zu werden: sie geschieht durch das Sinnbild des göttlichen Anhauchens. Luft und Wind, Atem, Geist und Leben stehen in engem Austausch miteinander. Gott ist Leben und Geist, und das dem Geist nächste Element ist neben dem Feuer die Luft. Beide galten als Träger zeugender Kräfte35 . Das Einwehen des göttlichen Sanges steht am Anfang der griechischen und der von ihnen abhängigen römischen Dichterweihen 36 . Die Musen wehen Hesiod ihre Botschaft ein, so dass er Zeitüberhobenes künden kann 37. Wie die Muse über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, also über der Geschichte steht, so ihr Prophet, der Dichter. Wie der Lebensträger des Menschen, die Geistseele, als windartig erscheint und nach dem Winde heißt: yuc3, anima, animus, spiritus, so die ihr verwandte und sich mit ihr vereinende Gotteskraft. Trotz der in der Offenbarungsübermittlung stets mitgedachten Gottesverwandtschaft des Menschen wird doch stets auch wieder an der Überordnung der Gottheit festgehalten. Im Wind und Hauch wie im Feuer wird der Geist-Same dem Menschen übermittelt. Diese sinnenhaften Vergegenwärtigungen sind spiritualisiert dem Christen aus dem Zusammenhang von Pfi ngsten, von Taufe und Firmung bekannt. Der Heilige Geist erscheint in Gestalt von Feuer und im Wehen des Atems und Windes sowie als lebenspendendes Wasser38 . Obwohl nicht zu leugnen ist, dass es auch Techniken gab, um Offenbarung zu gewinnen 39, so bleibt die echte Offenbarung doch etwas Unverfügbares und eine Gnadengabe, so wie es Goethe gegenüber Eckermann am 11. März 1828 ausgesprochen hat und viele andere Dichter vor ihm und nach ihm40 . Wasser und Wasserrauschen, Lorbeer, Honigtrank und Wein sowie ferner die Mittel der Askese konnten in der Antike höhere Geisteszustände vorbereiten und einleiten. Das Entscheidende aber waren nicht diese Mittel. Das wahr35 Zum Feuer Speyer, Frühes Christentum 〈 1〉 a. O. (o. Anm. 7) 235–253; zur Luft bzw. zum Wind Ders., Art. Geier: RAC 9 (1976) 430–468, bes. 432 f. – Zum doppelpoligen Wasser M. Ninck, Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten = Philologus, Suppl. Bd. 14,2 (Leipzig 1921, Ndr. Darmstadt 1967) 28 und Reg. ‚Wasser‘. 36 A. Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius (Heidelberg 1965); dazu die Kritik von W. Suerbaum: Gnomon 40 (1968) 740–747. 37 Hes. theog. 31–34. 38 S. Anm. 35. 39 E. Benz, Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt (Stuttgart 1969) 35–82: ‚Vision und Training‘. 40 J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. von F. Bergemann (Wiesbaden 1955) 630 f.
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haft Schöpferische ist nicht ableitbar, weder aus Bildung noch aus künstlich herbeigeführten außergewöhnlichen Seelenzuständen. Wenn es in Legenden des Altertums heißt, dass die Bienen – nach dem antiken Glauben waren es die Bienengöttinnen – ein Kind mit der Dichtergabe beschenkt hätten, so ist auch hier wieder festgehalten, dass die Kraft, Unvergängliches ins Wort zu heben, Geschenk von oben ist 41. Diese Überordnung und dieses Gefälle vom Göttlichen zum Menschlichen drückt auch das Bild einer geradezu geschlechtlich gedachten Vereinigung von Gott und Mensch aus, wobei die Ekstasis nicht fehlt 42 . Auch bei dieser Vereinigung von Gott und Mensch durften beide nicht als gleichwertig gedacht sein. Vielmehr ist die Gottheit als das männlich-aktive, befruchtende Prinzip vorgestellt, und der Mensch als das weiblich-aufnehmende und ernährende ganz parallel zu einer im Altertum weit verbreiteten urtümlichen Anschauung über die ungleichen Zeugungsanteile beim Entstehen eines Menschen43 . Ob dabei die Überlieferung vom Dichter-Propheten oder von der Prophetin spricht, jeweils gilt der Mensch als der Empfangende und Austragende, der Gott, Apollon, Dionysos, oder die Göttin, die Muse, als die zeugende Kraft, wie es beispielsweise Teiresias in den Bakchen des Euripides ausspricht 44 . Reich fl ießen die Überlieferungen alter und auch neuer Zeit für eine mehr verinnerlichte Form des Offenbarungsempfangs und zwar im Traum. Traumbewusstsein und Unbewusstes stehen im engen Austausch miteinander, ja der Traum scheint die erste Stufe auf dem Weg vom Vorbewusstsein zum Bewusstsein zu sein. Der Mensch wurzelt im Mythischen, Symbolischen, ja Göttlichen, sein Vorstellen und Denken haben im Traum ihren Wurzelgrund und Traumbild und abstrakter Begriff sind aufeinander angewiesen. Die Zeugnisse über diese Offenbarungsform reichen vom Seher Melampus, dem Sühnepriester Epimenides von Kreta und Aischylos bis zu Selbstaussagen von Dichtern des 19. und 20. Jahrhunderts 45 . Gerade Dichter alter und neuer Zeit bezeugen immer wieder Träume als Quelle für ihre Gestalten und Gestaltungen und weisen damit auf eine Dimension, die sich dem eigenen Wollen entzieht und auf Vorgegebenes, Unverfügbares und Absolutes hinweist. In diesen Zusammenhang gehört auch die auf persönlicher Erfahrung beruhende Annahme angeborener Ideen, wie sie Platon ausgesprochen hat. 41
A. Sallinger/O. Böcher, Art. Honig: RAC 16 (1994) 433–473, bes. 447 f. Speyer, Frühes Christentum 〈1〉 a. O. (o. Anm. 7) 353–368. 503. 43 E. Lesky/J. H. Waszink, Art. Embryologie: RAC 4 (1959) 1228–1255, bes. 1228– 1232. 44 V. 298–301; dazu E. R. Dodds in seiner kommentierten Ausgabe: Euripides Bacchae 2 (Oxford 1960) 108 f.: Dionysos als Orakelgott; Speyer, Frühes Christentum 〈 1〉 a. O. (o. Anm. 7) 364 Anm. 36. 45 S. o. Anm. 11. 42
4. Rückschau
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Goethe drückte sie aus in seiner Anschauung von der ‚Anticipation‘ als einer der Geistseele angeborenen und innewohnenden Kenntnis vor aller Empirie 46 , und C. G. Jung fand diese Annahme durch den Archetypus bestätigt. Ohne göttlich-schöpferische Einwirkung, also ohne Offenbarung, ist eine derartige Erfahrung nicht möglich.
4. Rückschau Wie sich gezeigt hat, wechseln die Bilder für Offenbarungsempfang nach Zeiten und Kulturen, die mythische Dimension aber bleibt stets die gleiche. Sie besagt, dass alles Große und Werthaltige im Geistesleben der Menschheit Werk jener Macht ist, die die Wunder der Natur mit Einschluss des Menschen hervorgebracht hat und weiter gestaltet. Die Begriffe ‚mythisch‘, ‚zeitlos‘ oder ‚übergeschichtlich‘ berühren sich darin, dass sie auf die unverlierbare Dimension des Absoluten in allen wahrhaft schöpferischen Kulturleistungen bei aller zeitlichen und damit geschichtlichen Gebrochenheit hinweisen. Unter diesen Kulturleistungen sind in erster Linie die Werke und Ausdrucksformen der Religion und der aus ihr herausgewachsenen Kunst und Künste sowie die Grundanschauungen von Sitte und Recht zu verstehen. Damit schließt die Vorstellung der Offenbarung eng an den Begriff der Schöpfung und des Schöpferischen an. Wenn in der jüdisch-christlichen Offenbarung die Vorstellung des weltunabhängigen Schöpfergottes eine zentrale Stelle einnimmt, so folgt daraus die Überzeugung, dass die sinnenhafte Weltwirklichkeit auf eine transkosmische göttliche Macht, eben auf den Schöpfergott zurückgeht. In diesem Zusammenhang sprach man auch vom Buch der Natur als einer ersten Offenbarung Gottes 47. In der Welt des Menschen ist diese Offenbarung gleichfalls vorhanden; aber nunmehr ist sie aufgrund des Dialogs zwischen Gott und Mensch, wobei dieser als unähnlich-ähnliches Abbild Gottes wirkt, in eine gottmenschliche Brechung eingetreten. Während die Natur ganz das Werk Gottes, also Schöpfung ist, bildet die Kultur das Werk eines Zusammenspiels von göttlichem Wirken und menschlichem Tun. Auf dieses Zusammenwirken von Gottheit und Mensch weist der vor allem in Griechenland reich ausgebildete Gedanke vom Gott und vom Heros als dem Ersten Erfi nder hin48 .
46 F. Strich, Kunst und Leben. Vorträge und Abhandlungen zur deutschen Literatur (Bern, München 1960) 59–76, bes. 63. 69. 47 F. Ohly, Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung (Stuttgart 1995) 727–843: ‚Zum Buch der Natur‘; 845–888: ‚Das Buch der Natur bei Jean Paul‘. 48 S. o. Anm. 15. – Ferner s. u. S. 89–101.
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5. Offenbarungsübermittlung und ihre Formen
Diese in der Kultur erkennbare Offenbarung als das antreffbare Zusammenwirken von Göttlichem und Menschlichem zeigt sich in mannigfachen Stufen und Brechungen; denn die Werke des Menschen zeigen den Anteil des Göttlichen in sehr verschiedenen Graden. Verdichtungen in Religion, Kunst, Sitte und Recht stehen Ausdünnungen, Verwässerungen und Verformungen gegenüber. So gibt es eine große Skala von Graden der Offenbarung. Diese vermag der Betrachter von seinem jeweils bedingten geschichtlichen Standort nur annäherungsweise anzugeben. In den hohen Werken und Gestaltungen der Kultur bilden die Kategorien ‚mythisch‘ und ‚geschichtlich‘ keinen Gegensatz, sondern sie sind miteinander verschränkt. So wie der Mensch nicht ohne Gott sein kann, so will Gott anscheinend nicht ohne den Menschen auskommen. Damit ergibt sich die Komplementarität als das bestimmende Gesetz der Wirklichkeit des Menschen und seines kulturellen Schaffens, jedenfalls in seinen reinsten Ausdrucksformen und auf seinen höchsten Stufen.
6. Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes Zu einer abendländischen Offenbarungsvorstellung
1. Geschichtliche und systematische Voraussetzungen Soweit wir uns an die – verglichen mit unserer Mentalität – andersartige Geistigkeit der Menschen in den Ur- und Frühkulturen heranzutasten vermögen, treffen wir auf die feste Überzeugung von der gänzlichen Nachgeordnetheit des Menschen in der Welt. Die Menschen jener vor- und frühgeschichtlichen Epoche, die den weitaus größeren Teil der Zeit bildet, die der Homo sapiens auf diesem Planeten verlebt hat, fühlten sich ausschließlich von außer- und übermenschlichen Kräften und Mächten abhängig. Diese als göttlich/dämonisch vorgestellten Mächte der sinnenhaft vermittelten und der seelischen Wirklichkeit mussten deshalb auch für die Menschen jener Zeiträume das erste Wort sprechen, und nicht der ihnen nachgeordnete, dem Tode verfallene Mensch. Alles, was die frühen Menschen erlebten, fühlten, erkannten, sprachen und beschlossen, erschien ihnen zunächst fast ausschließlich als Werk und Tat der unverfügbaren göttlich / dämonischen Mächte. Sie kamen so auch zu der Auffassung, dass alles, was ihr Leben und ihre Lebensordnung gründete und sicherte, Werk der Gottheit sein müsse. Deshalb konnte es für sie im strengen Sinn auch keine menschliche Urheberschaft oder – konkret auf das Gedankliche / Sprachliche und das Geschriebene bezogen – keine menschliche Verfasserschaft geben. Alles Gedachte, alles Gesprochene, alles Geschriebene, also alles das Leben der Familie, der Sippe und des Stammes Bestimmende, Gesetz, Prophetie, Kultlied und Heilige Rede, Jer0: l5go:, erschienen ihnen deshalb grundsätzlich als das Werk der Götter1. Der zeitliche Weg, den die menschliche Geistseele durchlaufen hat, dürfte so von der Annahme einer fast gänzlichen Fremdbestimmung durch die göttlich-dämonischen Mächte zu einer mehr oder weniger groß empfundenen Selbstbestimmung geführt haben. Dies war zugleich der Weg vom mythischen zum perspektivischen, geschichtlichen und damit zum be1 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 〈 1〉 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) 21–58. 493 f., bes. 33–42: ‚Religiöse Pseudepigraphie und literarische Fälschung im Altertum‘.
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6. Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes
griffl ichen Bewusstsein mit seiner Trennung von Subjekt und Objekt. Ein wesentlicher Schritt zu dieser Selbstbestimmung dürfte die Entdeckung des eigenen Willensentschlusses und damit des individuellen, eigenen Willens und der menschlichen Freiheit gewesen sein 2 . Aber selbst noch in einer bereits weit differenzierten Zeit einer geschichtlichen Auffassung und eines begriffl ichen Denkens, also in Griechenland seit dem 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., ja bis in unsere Gegenwart blieb bei Einzelnen die Überzeugung lebendig, dass das Werthaltigste im seelisch-geistigen Bereich, vor allem in Literatur, Musik und Bildender Kunst, dem Einzelnen niemals frei verfügbar sei 3 . Bereits die Vorstellung der Begabung, des ingenium, sowie die bei einzelnen Menschen, vor allem numinosen und heiligen Menschen, auftretenden parapsychologischen Kräfte, die im Christentum als Charismata erscheinen können, bis hin zu den Einfällen des Geistes, den Geistesblitzen, weisen auf die Begründetheit dieser Auffassung4 . Mag es im willentlichen und damit im sittlichen Bereich eine wie weit auch immer anzusetzende Selbstbestimmung des Einzelnen geben, bei den Kräften, die zu den lebenbegründenden und lebenerhöhenden Gestaltungen der Kultur führen, scheint das Entscheidende außerhalb der Reichweite des individuellen Willens zu liegen. Gerade diese Religion und Kultur hervorbringende menschliche Fähigkeit galt deshalb als das Wirkungsfeld der Götter im Zusammenspiel mit dem Menschen. Deshalb erschienen die Götter auch als die eigentlichen und wahren Urheber der entscheidenden Kulturerrungenschaften, von der Bereitung des Feuers angefangen über die Einführung des Ackerbaus bis hin zur Städtegründung und darüber hinaus5 . So fi nden wir unter den in den Kulturen des Alten Orients und bei den Griechen zu belegenden tragenden Vorstellungen von den Göttern und Hero-
2
A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike (Göttingen 1985). F. W. J. von Schelling bemerkt: „Alles bewußte Schaffen setzt ein bewußtloses schon voraus und ist nur Entfaltung und letzte Auseinandersetzung desselben“, Die Weltalter, hrsg. von M. Schröter (München 1946) 243. – O. Behaghel, Bewusstes und Unbewusstes im dichterischen Schaffen (Rektoratsrede Gießen 1906); O. Kankeleit, Das Unbewusste als Keimstätte des Schöpferischen. Selbstzeugnisse von Gelehrten, Dichtern und Künstlern. Mit einem Geleitwort von C. G. Jung (Basel 1959); E. Barmeyer, Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie = Humanistische Bibliothek R. 1,2 (München 1968) 16–37; B. Allemann (Hrsg.), Ars Poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik 2 (Darmstadt 1971); Speyer a.O. 100–139. 495: ‚Fälschung, pseudepigraphische Erfi ndung und „echte religiöse Pseudepigraphie“‘. 4 J. Engels, Art. Ingenium: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998) 382–417. – J. Gewiess, Art. Charisma: Lexikon für Theologie und Kirche 2 2 (1958) 1025–1027; G. Dautzenberg, Art. Charisma: ebd. 23 (1994) 1014 f. – Zur Begabung des Dichters als einem göttlichen Geschenk O. Falter, Der Dichter und sein Gott bei den Griechen und Römern (Würzburg 1934) 60–64. 5 K. Thraede, Art. Erfi nder II (geistesgeschichtlich): Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) 5 (1962) 1191–1278, bes. 1194–1199. 3
1. Geschichtliche und systematische Voraussetzungen
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en als den Erfi ndern der Kulturgüter auch den Gedanken, dass die Gottheit nicht nur die Schrift erfunden habe, sondern auch die Urheberin eines konkret vorliegenden Schriftwerkes sei, ja in einzelnen Fällen sogar dessen Schreiberin. Deshalb erscheinen vor allem in Babylon und Ägypten nicht nur bestimmte Götter als Erfi nder der Schriftzeichen, sondern auch als Verfasser und Schreiber6 . Wie die Völker der vorgeschichtlichen Kulturen und der frühen Mittelmeerkulturen waren auch die kulturschaffenden Griechen der geschichtlichen Zeit davon überzeugt, dass der schöpferische Mensch zu seinen Werken durch göttliche Mächte angeregt werde. Dieser Glaube wurzelt auch in den Erfahrungen von der Möglichkeit der Ekstase und der Besessenheit, also eines Ergriffenseins durch göttliche oder dämonische Mächte oder Wesen7. Die Griechen haben diese Mächte und Wesen, die den Menschen besondere Seelenund Geisteskräfte verleihen und die bald Segen, bald Fluch künden oder bewirken, als tatsächlich sichtbare oder als visionär oder als traumhaft erlebte Gestalten wahrgenommen, während die Römer der Frühzeiteher göttliche Stimmen im Außen oder auch in ihrem Innern zu vernehmen geglaubt haben8 . Wie auf Grund des dargelegten Befundes angenommen werden kann, muss der Glaube an die Offenbarung den Anfang der kulturellen Überlieferung gebildet haben und zum Grundbestand des mythischen, also des frühen religiösen Erfahrens der Wirklichkeit in den mediterranen Kulturen gehört haben. So war in den vor- und frühgeschichtlichen Kulturen das Gotteswort in Form der Rede, die der damalige Mensch als göttlich oder heilig bewertet hat, die Grundlage der Kultur. Göttliches Wort und göttliche Rede, die in geschichtlicher Zeit ‚Heiliges‘ Wort, Jer0: l5go:, und ‚göttliche Rede‘ oder ‚Erzählung‘, mc_o:, heißen, gehen zeitlich und sachlich den ‚Heiligen Schriften‘, die am Beginn der schriftlichen Aufzeichnung stehen, voraus9. Auch hier gilt der erste Glaubenssatz der gewachsenen alten Religionen: Am Anfang und im Anfang war die Gottheit10 . Die Anfänge der Kulturentfaltung entsprechen so auch den Anfängen der Welt- oder Kosmosentstehung. So bilden die für das Werk einer Gottheit gehaltenen und verehrten Worte und später die 6 Speyer a.O. 37–40; Ders., Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, Zürich, New York 1995) 31–39: ‚Materialisierte und spiritualisierte göttliche Verfasserschaft‘. 7 Speyer, Frühes Christentum a.O. (o. Anm. 1) 353–368. 503, bes. 362–368: ‚Realität und Formen der Ekstase im griechisch-römischen Altertum‘ und u. Anm. 37. 8 E. Pax, Art. Epiphanie: RAC 5 (1962) 832–909. Speyer, Studien a.O. (o. Anm. 6) 75– 95. 193: ‚Das Hören einer göttlichen Stimme. Zur Offenbarung und zu Heiligen Schriften im frühen Rom‘; Ders., Art. Himmelsstimme: RAC 15 (1991) 286–303, bes. 288–293. 9 C. Colpe, Art. Heilige Schriften: RAC 14 (1988) 184–223; R. Baumgarten, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen = ScriptOralia 110 (Tübingen 1998). 10 H. Görgemanns, Art. Anfang: RAC Suppl. Bd. 1 (2001) 401–448.
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Schriftzeichen und die ältesten Schriften den Anfang aller zunächst auf Mündlichkeit und später auf Schriftlichkeit beruhenden Überlieferungen und damit den Anfang aller höheren Kultur. Von einem nur innerweltlichen und gänzlich profanierten Wirklichkeitsverständnis aus, das bereits einzelne griechische Denker grundgelegt haben, wird diese Erscheinung einer geglaubten Offenbarung unter die Begriffe der Pseudonymität und der Pseudepigraphie eingeordnet11. Mit diesen Bezeichnungen ist aber der zuvor dargelegte Zusammenhang bereits in ein schiefes Licht gerückt. Der Begriff des yecdo:, der Täuschung, der Lüge, des Betrugs und damit auch der Illusion, führt in diesem Zusammenhang in die Irre, liegt er doch noch weitgehend außerhalb des frühesten Erlebens und Vorstellens. Er gehört erst einem sich bereits begriffl ich auslegenden Zeitalter an, das weithin das Empfi nden für eine göttlich bestimmte Wirklichkeit verloren hat, von dem Mythos und Kultus und damit das Erleben von Offenbarung Zeugnis ablegen. Sachlich angemessener ist die Bezeichnung ‚mythische‘ oder ‚religiös erlebte Verfasserschaft‘, d. i. göttliche Offenbarung in Form mündlicher oder schriftlich aufgezeichneter menschlicher Rede. Eine derartige Bezeichnung bleibt im Rahmen des Selbstverständnisses der Menschen jener frühen Epoche und vermeidet, Äußerungen einer uns heute weitgehend fremd gewordenen Erfahrungs- und Anschauungsweise mit Kategorien unserer rein immanentistischen Wirklichkeitsdeutung erfassen zu wollen. Ferner ist auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den alten Mittelmeerkulturen und dem Judentum sowie dem aus diesem hervorgegangenen Christentum hinzuweisen. Während die Grenze zwischen der Gottheit und dem Menschen in der paganen Welt fl ießend war – Götter und Göttinnen werden zu Menschen und zeugen mit Menschen Halbgötter oder Heroen und diese können zu Göttern aufsteigen ebenso wie Menschen zu Heroen –, ist nach jüdischem und christlichem Glauben die Grenze zwischen Gott und Mensch unübersteigbar; denn zwischen Schöpfer und Geschöpf liegt eine tiefe Kluft. Auf die Versuche einzelner christlicher Theologen der alten Kirche und der Gegenwart, trotzdem von einer Vergöttlichung des Menschen, insbesondere des Christen, zu sprechen, ist hier nicht näher einzugehen12 . Deshalb konnte ein Jude oder ein Christ nur eine Offenbarung empfangen, niemals aber selbständiger Offenbarer sein, wie dies im Heidentum begegnet. Ausdruck für das Letztere war der pagane Glaube, dass die als selbständig gedachten menschlichen Offenbarungsträger, seien sie heilige Gesetzgeber oder Pries11 Speyer, Frühes Christentum a.O. (o. Anm. 1); Ders., Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = Handbuch der Altertumswissenschaft 1,2 (München 1971) 35–37; Ders., Studien a.O. (o. Anm. 6) 20 f. 92–94. 12 Ebd. Reg. ‚Vergöttlichung‘; Ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 153.
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ter-Könige, Seher-Ärzte oder Dichter-Seher-Propheten, Göttersöhne waren13 . Eine derartige Gottessohnschaft wurde von Homer und einzelnen anderen hervorragenden Geistesgrößen der Griechen frühgeschichtlicher und selbst noch geschichtlicher Zeit ausgesagt14 . Auf diese Weise gehörten die heiligen Gesetzgeber, die Seher-Ärzte und die Dichter-Seher-Propheten zu den Heroen15 . Wie Götter und Heroen als Kulturbringer und damit zugleich als Spender von Offenbarungen, auf denen alle höhere menschliche Ordnung des Lebens beruhte, verehrt wurden, so auch jene genannten menschlichen Gestalten. Dass der Dichter als Offenbarungsträger dem Priester-König gleichkomme, hat Hesiod ausgesprochen, wenn er sagt, die Sänger stammten vom Geschlecht der Musen und von Apollon ab, die Könige aber von Zeus16 . Diese Gedankenlinie ließe sich über Horaz zu Friedrich Schiller weiterziehen 17. Deshalb nahmen auch in den griechischen Kulturentstehungslehren die göttlichen Dichter als Offenbarungsträger neben den Göttern und anderen Heroen einen eigenen Platz ein18 . Ein treffendes Beispiel bietet trotz des rationalistischen Einschlags noch Horaz in seiner Ars poetica, wenn er beginnend mit Orpheus die göttlichen Dichter der Griechen als die Spender und Bringer grundlegender religiös-sittlicher Gesetze und Ordnungen feiert19. Gemäß dem erschließbaren für uns frühesten Erleben vermag die Gottheit durch den Mund des Menschen zu sprechen und so auch die Hand des Schreibers einer Offenbarungsschrift zu führen, so wie es die Bildende Kunst der Spätantike und des christlichen Zeitalters oftmals dargestellt hat: Die Muse oder ein Engel führt die Hand des Gottesfreundes20 .
13 H. D. Betz, Art. Gottmensch II (Griechisch-römische Antike und Urchristentum): RAC 12 (1983) 234–312, bes. 235–287; W. Speyer, Art. Heros: ebd. 14 (1988) 861–877. 14 Orpheus beispielsweise galt als der Sohn einer Muse, vor allem Kalliopes, und des Thrakers Oiagros (O. Kern, Orphicorum fragmenta [Berlin 1922, Ndr. Dublin, Zürich 1972] test. 8 f. 22–25 a), Philammon als der Sohn Apollons und der Philonis (P. Maas, Art. Philammon Nr. 1: RE 19,2 [1938] 2123) und Homer als der Sohn des Flussgottes Meles und der Kretheis (G. W. Raddatz, Art. Homeros; RE 8,2 [1919] 2191 f.). – Die Sibylle Herophile bezeichnete sich als Tochter einer unsterblichen Nymphe vom Idagebirge und eines sterblichen Vaters (Paus. 10,12,3; vgl. auch 10,12,7), und die älteste Sibylle soll Tochter des Zeus und der Lamia, der Tochter des Poseidon, gewesen sein (ebd. 10,12,1). 15 S. Anm. 13. 16 Theog. 94–96. 17 Hor. carm. 1,1,29–36; 2,20; 3,30; Schiller, Jungfrau von Orléans 1. Aufzug, 2. Auftritt: König Karl VII von Frankreich spricht: „Sie [edle Sänger] stellen herrschend sich den Herrschern gleich. . ./ Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen!“ 18 So vor allen Orpheus. 19 V. 391–407; vgl. C. O. Brink, Horace on poetry 2 (Cambridge 1971) 384–394. 20 Vgl. H. van de Waal, Rembrandt’s Faust Etching, a Socinian document, and the iconography of the inspired scholar: Oud Holland 79 (1964) 7–49, bes. 38–40; ferner zur Inspiration des Malers J. Gaus, Ingenium und ars. Das Ehepaarbildnis Lavoisier von David und die Ikonographie der Museninspiration: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 36 (1974) 199–228.
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Da im Frühstadium der Kultur das Erlebnis der Fremdbestimmung durch die Gottheit so überwältigend erschien, hat man zunächst nur das Wirken der Gottheit wahrnehmen können und dabei den Anteil des Menschen vernachlässigt. Erst in Folge wachsenden Wahrnehmens der eigenen relativen Selbständigkeit und der Selbstbestimmung haben die Griechen auch den menschlichen Anteil bedacht und schlossen so auf ein Miteinander von göttlicher und menschlicher Schöpferkraft. Ein Beweis für diese Wandlung ist im Folgenden zu sehen: Die Mentalitäts- und Geistesgeschichte hat zu einer bestimmten Zeit, eben in der Epoche, die aus der dauernden Gegenwärtigkeit der Jahrhunderttausende währenden Frühzeit der Menschheit die Epoche der Geschichtlichkeit und der Geschichte hervorgehen ließ, die Wandlung von der Anonymität zur Orthonymität gebracht. Die ersten und ältesten Namensnennungen betrafen zunächst nur Einzelne, eben jene zuvor genannten Offenbarungsträger: die Gottkönige, die heiligen Gesetzgeber bis hin zu den göttlichen Dichtern. Sie waren die ersten großen Autoritätsträger, die religiös-sittlich-politisch-kulturell wirkenden Gestalten, die die Menschheit zu einer neuen Kultur- und Geistesstufe geführt haben. Als Empfänger einer an sie ergangenen Offenbarung fühlten sie sich aus der namenlos bleibenden Menge herausgerufen. Sie erlebten sich als von der Gottheit Erwählte, als deren Mittler und Gesandte. Auf diese Weise erkannten sie über den Anruf durch die Gottheit ihre eigene Einmaligkeit und in Grenzen auch ihren Anteil an der Offenbarung. Im Dialog mit der mehr oder weniger individuell und personal erfahrenen Gottheit wurden sie der eigenen Personalität inne und traten im Auftrag und Namen der Gottheit vor die vielen Namenlosen. Diese erkannten und anerkannten ihren Vorzug und behielten die Namen der Offenbarungsträger in dankbarem Gedenken. Die heiligen Könige und Gesetzgeber, die heiligen Seher-Ärzte und Dichter-Seher-Propheten traten so in der beginnenden geschichtlichen Periode mit ihrer Individualität, mit ihrem Namen, hervor und blieben bis heute im Gedächtnis der Nachwelt. So steht am Beginn der griechischen Literaturgeschichte nach den mythischen Sängern Orpheus, Musaios, Linos und den zahlreichen mythischen Sehern Homer, eine Gestalt, die noch den genannten heroischen Dichter-Sängern eng verwandt ist, die aber bereits zu den in der hellen Geschichte stehenden Dichtern hin tendiert21. Auch in der Bildenden Kunst der Griechen geht der Namensnennung ein Zeitalter der Anonymität voraus, entsprechend zur Literaturgeschichte. So liegt über dem Anfang der neuen geschichtlich ausgerichteten Periode der Schatten einer älteren Epoche, als der Mensch noch tiefer in die Nacht und in die Nebel des Unbewussten eingebunden war, als er sozusagen noch im Para21 Wilhelm Schmid, Geschichte der griechischen Literatur 1,1 = Handbuch der Altertumswissenschaft 7,1,1 (München 1929, Ndr. ebd. 1959) 48–54; anders R. Boehme, Der Lykomide. Tradition und Wandel zwischen Orpheus und Homer (Bern, Stuttgart 1991).
2. Das Werk des Menschen als Folge der Vereinigung von Gottheit und Mensch
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dies mit der Gottheit wohnte, ungeschieden von der Welt, unerwacht im Einen verharrend.
2. Das Werk des Menschen als Folge der Vereinigung von Gottheit und Mensch Wenn im heutigen Sprachgebrauch ein Buch ‚geistiges Kind‘ des Verfassers heißt, so wird hinter dieser Metapher die Vorstellung erkennbar, dass ein geistiges Erzeugnis als lebendiges Wesen aufgefasst wird, als ein Wesen, das aus Zeugung und Gebären entsteht. Bereits die Antike hat die Beziehung, die zwischen dem Verfasser und seinem Werk besteht, unter anderem durch zwei Begriffe ausgedrückt, die das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern bestimmen: Ein Kind kann ehelich oder unehelich geboren sein, kann echtbürtig, gn3sio:, oder in der Ehe unehelich, n5_o:, sein. Das vom Verfasser geschaffene Werk ist sein rechtens gezeugtes geistiges Kind; das auf ihn nicht zurückgehende, aber unter seinem Namen laufende Werk, ein unterschobenes Kind 22 . Gemäß dem im ersten Teil Ausgeführten galt aber in der Frühzeit der Gott als der wahre Verfasser, d. h. als der Erzeuger. Ist der Gott der Zeugende, so kann der Mensch nur der Empfangende sein, der wie eine Frau den göttlichen Samen empfängt23 . Bei dieser Art der Vergegenwärtigung von Offenbarung stoßen wir auf eine urtümliche und ursprüngliche Vorstellung. Nach einem ebenso alten wie einmal weit verbreiteten Glauben galt das männliche Prinzip allein als wirkend, als befruchtend und für das Wesen des Embryo entscheidend, das weibliche Prinzip hingegen als allein aufnehmend, nährend und die Frucht austragend 24 . Wird dieses Modell auf den Offenbarungsempfang angewendet, dann ist die Gottheit allein entscheidend. Gemäß dem ältesten Glauben über die Frage nach Verfasserschaft und geistigem Eigentum muss es auch so gewesen sein. Die in die Anfänge der Schriftlichkeit zurückreichenden Zeugnisse über Autorschaft nennen Götter als Urheber, wie den babylonischen Nebo, die ägyptischen Gottheiten Thot, Seschat und später Isis, ferner den israelitischen Jahwe sowie Apollon und die Musen 25 .
22 Speyer, Fälschung a.O. (o. Anm. 11) 16. Reg. gn3sio:, n5_o:. – Die Dichter nennen bisweilen ihre Gedichte ‚Kinder‘; vgl. G. Kuhlmann, De poetae et poematis Graecorum appellationibus, Diss. Marburg (1906) 14 f.; G. Riedner, Typische Äußerungen der römischen Dichter über ihre Begabung, ihren Beruf und ihre Werke, Diss. Erlangen (1903) 63. 23 Speyer, Frühes Christentum 1 a.O. (o. Anm. 1) 364 Anm. 36. 24 E. Lesky / J. H. Waszink, Art. Embryologie: RAC 4 (1959) 1228–1244, bes. 1229– 1232. 25 S. o. Anm. 6.
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6. Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes
Bei der wohl bekanntesten Form der Offenbarungsübermittlung, der Inspiration, die für mündliche wie für schriftliche Überlieferungen angenommen wurde, können Luft und Atem als Träger des göttlich männlichen Zeugungsprinzips stehen. Diese Kraft des Gottes heißt griechisch pnecma, lateinisch divinus adflatus oder &tm0: 6n_eo: oder venti loquaces und Ähnliches26 . Einhauchen, 4mpneKn, inspirare, konnte so geradezu im Sinn von Zeugen verwendet werden 27. Auf dem Hintergrund der dorischen Knabenliebe ist folgende mythische Erzählung über einen Offenbarungsempfang zu verstehen: Als einst Branchos, der mythische Stammvater des Sehergeschlechtes der Branchiden und Gründer des Orakels von Didyma südlich von Milet, die Herde seines Vaters weidete, sah ihn Apollon, der Gott der Weissagung. Sein Kuss verlieh dem Knaben die Sehergabe; vom Gott erhielt er Kranz und Zweig und begann zu weissagen 28 . Damit seien folgende Verse Stephan Georges verglichen: „Ein wissen gleich für alle heißt betrug. Drei sind der wisser stufen. Nur der wahn Meint, dass er die durchspringt: Geburt und leib. Die andere gleichen zwangs ist schaun und fassen. Die letzte kennt nur, wen der Gott beschlief“29.
26 Cic. div. 1, 12. 34. 38 Pease; nat. deor. 2,167 Pease; Ps.-Longin. sublim. 13,2; Lucan. bell. civ. 5,82–85; vgl. Varro, ant. rer. div. frg. 212 Cardauns: tres tantum Musas esse. . . unam, quae ex aquae nascitur motu, alteram, quam aeris icti effi cit sonus, tertiam, quae mera tantum voce consistit; H. Leisegang, Pneuma hagion. Der Ursprung des Geistbegriffs der synoptischen Evangelien aus der griechischen Mystik (Leipzig 1922, Ndr. Hildesheim 1970); E. Norden, Die Geburt des Kindes 2 (Leipzig 1930, Ndr. Darmstadt 1958) 76–92: ‚Die Erzeugung aus dem Pneuma‘; H. Saake, Art. Pneuma: RE Suppl. Bd. 14 (1974) 387– 412; H. Crouzel, Art. Geist (Heiliger Geist): RAC 9 (1976) 490–545, bes. 495–499. – Zur Zeugungskraft des Windes, die bereits für Ägypten belegt ist, vgl. E. Wüst, Art. Tritopatores: RE 7 A,1 (1939) 324–327, bes. 325 f.; W. Speyer, Art. Geier: RAC 9 (1976) 430–468, bes. 432 f. 442. 457. 27 E. Bethe, Die dorische Knabenliebe: Rheinisches Museum 62 (1907) 438–475, bes. 467 f. 28 Conon: FGrHist 26 F 1, 33, 4 (Jacoby): kaH aat0n [sc. Br1gcon] 4ras_eH: 'Ap5llwn, ebrjn poima4nonta, . . . W d3 Br1gco: 4x 'Ap5llwno: 4p4pnou: mantik8: gegonj: 4n Did6moi: tv cwr4J 6cra; Varr. ant. rer. div. frg. 252 Cardauns: Branchus cum in silvis Apollinem osculatus fuisset, comprehensus est ab eo [comprehendere von der Frau: schwanger werden, statt concipere] et accepta corona virgaque vaticinari coepit; vgl. Bethe a.O. 463. – Zum Gnostiker Markos, der Frauen gegenüber als Inhaber des ‚Samens des Lichtes‘ auftrat, Iren. haer. 1,13,3 f. (Sourc. Chrét. 264, 194). 29 Stern des Bundes, 3. Buch: Ausgabe in zwei Bänden (München, Düsseldorf 1958) 387.
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George beansprucht für den Dichter-Propheten die höchste Stufe der Erkenntnis. Diese dritte und höchste Stufe erreicht nur, wen der Gott dazu in mystischer Hochzeit befähigt. Um diese Stufe der Weihe auszudrücken, benutzt George eine Metapher – so würde die heutige Literaturwissenschaft sagen –, die er der Antike verdankt 30 : Im geschlechtlichen Akt der Einigung von männlich zeugendem Gott und weiblich empfangendem Erwählten erfolgt die Weihe zum Dichter-Propheten. Dieser Gedanke bezieht sich auf das Engste mit den Äußerungen der Mystiker über die Liebesvereinigung der liebenden Seele und der Gottheit 31. Den Glauben, dass der – neuzeitlich ausgedrückt – schöpferische Mensch sich in den religiös geprägten alten Mittelmeerkulturen als weiblich-empfangend erlebt hat, ergänzen und bestätigen ferner Zeugnisse aus der Völkerkunde32 . Deshalb ist die Annahme unnötig, der Gedanke einer geschlechtlich vollzogenen Offenbarungsübermittlung habe seinen Ausgang von jenem Verhältnis genommen, in dem die Priesterin und Seherin, wie die Pythia oder die Sibylle von Cumae, zu ihrem Gott stand. In derartigen Fällen entspricht der Gedanke einer geschlechtlichen Vereinigung nur natürlichem Empfi nden. So beschreibt Euripides den Vorgang des Erfülltwerdens mit prophetischer Gabe in einem derartigen Liebesakt 33 . Weit unmittelbarer und drastischer zeichnen einzelne griechische Kirchenschriftsteller die Vereinigung der Pythia mit Apollon: Wie Origenes mitteilt, sitzt die Seherin an der Quelle Kastalia und empfängt das ‚Pneuma‘ durch das weibliche Genital (wörtlich: Brüste). Vom ‚Pneuma‘ erfüllt, spricht sie die erhabenen und göttlichen Orakelsprüche. Und dies tut sie nicht einmal oder zweimal . . ., sondern sooft, wie sie von Apollon zu weissagen glaubt 34 . Der Kirchenvater Johannes Chrysostomos geht in seiner Darstellung der Vereinigung Apollons und der Pythia noch weiter. Dabei deutet er den göttlichen Geist Apollons zum ‚bösen Pneuma‘ um, das aus der Erdentiefe in die Scham der Seherin eindringt und sie mit mantischer Begeisterung erfüllt, die hier dämonisch, also negativ numinos, beur-
30 O. Weinreich, Triskaidekadische Studien. Beiträge zur Geschichte der Zahlen = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 16,1 (Gießen 1916) 100 f. Anm. 1. 31 E. Fehrle, Die kultische Keuschheit im Altertum = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 6 Gießen 1906, Ndr. Berlin 1966) 9–16; A. Dieterich, Eine Mithrasliturgie, 2. Aufl. v. O. Weinreich (Leipzig 1923, Ndr. Stuttgart 1966) 121–134. 244–248; R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen 3 (Leipzig 1927, Ndr. Darmstadt 1956) 245–252; J. Schmid, Art. Brautschaft, Heilige: RAC 2 (1954) 528–564; R. A. Horsley, Spiritual marriage with Sophia: Vigiliae Christianae 33 (1979) 30–54. 32 K. Meuli, Mythus, Ethnologie, Volkskunde und Psychiatrie: Ders., Gesammelte Schriften 2 (Basel 1975) 1023–1033, bes. 1030 f. 33 Bacch. 298–301; dazu E. R. Dodds im Kommentar 2 (Oxford 1960) 108 f. 34 Contra Cels. 7,3 (Sourc. Chrét. 150, 18.20).
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teilt wird 35 . Die Seherin wird also wie ein Gefäß mit der Lebens- und Schöpferkraft des Gottes erfüllt 36 . Gefäße sind in der Bildenden Kunst bis heute ständiges Attribut der Frauen und damit Symbole des Weiblichen. So darf man sich nicht wundern, wenn der Mensch, zunächst die Prophetin, sodann der Dichter-Prophet, als gotterfüllt bezeichnet wird. Die gunj 6n_eo: ist die von Gott in Besitz genommene Frau, die dadurch fähig wird, Göttliches mitzuteilen 37. Hatte Vergil die Befruchtung der Sibylle durch Phoebus Apollo angedeutet, so soll er nach dem Zeugnis des älteren Seneca einen Vers gedichtet haben, in dem von einer Prophetin gesagt wurde, sie sei plena deo38 . Dabei nennt er die Sibylle nach älterer Überlieferung virgo39. Jungfräulichkeit und Liebesvereinigung mit dem Gott schließen sich anscheinend bei der Sibylle nicht aus. Entsprechendes dürfte auf die Pythia zutreffen40 . Von Carmenta sagt Ovid ganz Entsprechendes. Als Dichterin-Seherin entspricht sie der Sibylle 41. Bereits Cicero hatte von Kassandra gemeint: „Der Gott, bereits vom menschlichen Leib umschlossen, spricht, nicht Cassandra“42 . Reflektierend hat über diese Form der Offenbarungsübermittlung der Platonkommentator Hermias nachgedacht. Wie er bemerkt, kann keine göttliche Begeisterung, der Enthusiasmus, ohne erotischen Anhauch geschehen43 .
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In Epist. I ad Cor. hom. 29,1 (PG 61, 242); vgl. Fehrle a.O. (o. Anm. 31) 7 f. J. Schmid, Art. Brautgemach: RAC 2 (1954) 524–528; F. Ohly, Art. Haus III (Metapher): ebd. 13 (1986) 905–1063, bes. 971–976. 37 E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, deutsche Übers. (Darmstadt 1979) 43 f. Anm. 41; vgl. Kern a.O. (o. Anm. 14) test. 19.119. – Anders jetzt J. Holzhausen, Von Gott besessen?: Rheinisches Museum 137 (1994) 53–65, wo u. a. H. Hanse, ‚Gott haben‘ in der Antike und im frühen Christentum = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 27 (Berlin 1939) und J. Haussleiter, Art. Deus internus: RAC 3 (1957) 794–842 fehlen. 38 Verg. Aen. 6,45–51. 77–80. – Die Sibylle Herophile soll behauptet haben, sie sei Apollons Gemahlin (Paus. 10,12,2). – Überliefert von Ovid bei Sen. Rhet. suas. 3,5 f.; vgl. E. Norden, P. Vergilius Maro Aeneis Buch VI 4 (Leipzig 1927, Ndr. Darmstadt 1981) 145 f. 463; E. K. Borthwick, Nicetes the rhetorician and Vergil’s ‚plena deo‘: Mnemosyne Ser. 4,25 (1972) 408–412. Ferner vgl. Hor. carm. 2,19,5 f.; 3,25,1 f.: vom Inspirationsgott BakchosDionysos; Falter a.O. (o. Anm. 4) 88 f. 39 Aen. 3,445; 6,45. 40 Ps-Longin. sublim. 13,2 nennt sie 4gk6mona t8: daimon4ou . . . dun1mew:; dazu den Hrsg. D. A. Russell (Oxford 1964) 113–115. 41 Fast. 6,537 f.: parva mora est, caelum vates ac numina sumit / fi tque sui toto pectore plena dei; vgl. Fehrle a.O. (o. Anm. 31) 7 f. 42 Div. 1,67 Pease – Zum Missbrauch dieser religiösen Erlebnis- und Anschauungsform durch Betrüger vgl. Paul. sent. 5,21 (Font. Iur. Rom. Anteiust. 2 [Firenze 1964] 406 f.): vaticinatores, qui se deo plenos adsimulant, idcirco civitate expelli placuit, ne humana credulitate publici mores ad spem alicuius rei corrumperentur vel certe ex eo populares animi turbarentur. 43 In Plat. Phaedr. scholia (hrsg. von P. Couvreur [Paris 1901, Ndr. Hildesheim 1971] 88); vgl. die kommentierte deutsche Übersetzung von H. Bernard (Tübingen 1997) 189 f. 36
3. Zu einer urchristlichen Parallele, dem Lukasevangelium
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Die hier beschriebenen Anschauungen waren nicht auf bestimmte Griechen und von ihnen abhängige Römer beschränkt. Sie begegnen gleichfalls im alten Israel. Dazu bemerkt J. Hempel: „‚Symbol‘ der Mitteilung an den Propheten war einst der sexuelle Verkehr. Alle Ausdrücke, die im Hebräischen von den Propheten für ihren Ruf gebraucht wurden, können sexuelle Bedeutung haben: wissen, packen, verführen“44 . In diesem Zusammenhang wäre deshalb auch die kultische Nacktheit näher zu bedenken, wie sie für Propheten Israels bezeugt ist 45 .
3. Zu einer urchristlichen Parallele, dem Lukasevangelium Von den neutestamentlichen Schriften weist das Evangelium des hellenistisch gebildeten Lukas zu der hier betrachteten religiösen Anschauung bemerkenswerte Entsprechungen auf. Lukas verwendet zu Anfang seines Evangeliums oftmals den Begriff des ‚Heiligen Geistes‘, um die göttliche Komponente auszudrücken, die als das eigentlich schöpferische Prinzip im jeweiligen Menschen wirksam ist.46 So bestimmt der ‚Heilige Geist‘ Johannes den T. „vom Mutterschoß an“ zu seinem Prophetenberuf47. Ebenso kommt der ‚Heilige Geist‘ über Maria, die bereits von ‚Charis‘ umstrahlt und erfüllt ist 48 ; er erscheint hier als das machtvolle zeugende Prinzip, das zur bereiten Jungfrau kommt und sie ‚überschattet‘, wie sich der Evangelist ausdrückt, wobei dieses Überschatten eine Variante für das ‚Erfüllen‘ ist 49. Im Folgenden begegnet bei Lukas die Formulierung: Diejenige oder Derjenige wird vom ‚Heiligen Geist‘ erfüllt, noch mehrfach. Dabei erscheinen auch sprachliche Äußerungen als Folgen dieser ‚Eingießung‘, wie der Hymnus des Zacharias und die Prophetie Simeons50 . Insofern passte auch das von Maria 44 Prophet und Dichter : Ders., Apoxysmata. Vorarbeiten zu einer Religionsgeschichte und Theologie des Alten Testamentes = Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Beiheft 81 (Berlin 1961) 298. 45 1 Sam. 19,22–24 ; vgl. Jes. 20,2–4; dazu F. Duemmler, Kleine Schriften 2 (Leipzig 1901) 212 f.; J. Heckenbach, De nuditate sacra sacrisque vinculis = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 9,3 (Gießen 1911) 21 f. 33; E. Schuppe, Gürtel und Orendismus: Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 2 (1928) 134. 46 Leisegang a.O. (o. Anm. 26) 22–25; E. Schweizer, Art. pnecma ktl. E: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 6 (1959) 394–449; bes. 401–413; Crouzel a.O. (o. Anm. 26) 505 f. 47 Lc. 1,15. 48 Lc. 1,28; Vulg.: gratia plena. 49 Lc. 1,35; vgl. Leisegang a.O. 25–31; Norden, Geburt a.O. (o. Anm. 26); S. Schulz, Art. ski1 ktl.: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 7 (1964) 396–403, bes. 402 f. 50 Lc. 1,67–79; 2,25–35 (nicht erwähnt in der anschließenden Prophetie der Anna: Lc. 1, 36–38).
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6. Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes
gesprochene ‚Magnificat‘ besser zu Elisabeth, der vom ‚Heiligen Geist‘ Erfüllten, als zu Maria, von der dies hier nicht ausdrücklich gesagt ist, wie ältere Exegeten bereits bemerkt haben 51. Die von Elisabeth gesprochenen Worte der Begrüßung wirken nach der Bemerkung ihres Geisterfülltseins eher bescheiden. Nach der Taufe durch Johannes den Täufer heißt Jesus bei Lukas: „voll des Heiligen Geistes“52 . Als solcher lehrt Jesus, nachdem er glücklich den Versucher in der Einsamkeit der Wüste besiegt hat, in dieser Gotteskraft. Wie das im Folgenden von Lukas beigezogene Zitat aus dem Propheten Jesaja beweist, soll aber das gesamte Wirken Jesu, seine Worte und seine Taten, als Ausdruck seiner Geisterfülltheit erscheinen 53 . Insofern hält Lukas den Geist Gottes, den Heiligen Geist, für den Quell des Evangeliums von der Gnade und der Erlösung.
4. Rückblick Wahrscheinlich war die mythische Vorstellung einer Hochzeit einer Gottheit mit einem von ihr auserwählten Menschen, sei er Mann oder Frau, mit Zeugung von Gottmenschen und Heroen der Quellgrund für die hier besprochene Form des Offenbarungsempfanges. Dabei erscheint der Gedanke eines geistig zeugend-schaffenden göttlichen Pneumas jünger als die anschauliche Vorstellung eines körperlich wirkenden göttlichen Pneumas. Die antiken Zeugnisse sprechen von Lebens- und Geistesodem, von der zeugenden Kraft eines atem-, wind-, luft- oder dampfgestaltigen göttlichen Pneumas. Das Göttliche zeigt sich hier zunächst im Sinnenhaften. Im Christentum wirken die alten Vorstellungen vergeistigt und verwandelt nach. Der Heilige Geist, das pnecma +gion, ist auch hier schaffende, zeugende, väterliche Kraft. So erscheinen auch die Täufl inge als die Söhne des Heiligen Geistes. Bei diesen Bildern der Offenbarung ist stets die Zweiheit von Gott und Mensch und damit ein Gefälle von Reichtum zur Bedürftigkeit, von Erwählung und Begnadung des auf Gott verwiesenen Menschen vorausgesetzt. Die-
51 Lc. 1,41–55; vgl. Leisegang a.O. (o. Anm. 26) 24 Anm. 1; Th. Kaut, Art. Magnificat I. Neutestamentlich: Lexikon für Theologie und Kirche 63 (1997) 1191 f. 52 Lc. 4,1; Leisegang a.O. 93 f. Nach einer sehr frühen Überlieferung war die Taufe Jesu mehr als ein Akt der Buße und Verdemütigung: es war der Augenblick seiner Zeugung zum Sohne des Allmächtigen; vgl. Schweizer a.O. (o. Anm. 46) 397 f. 402 f.; Speyer, Frühes Christentum a.O. (o. Anm. 1) 247–249. 53 Lc. 4,1–22 a, bes. 4,1.14.18, mit Hinweis auf Jes. 61,1 f. Auch die Apostelgeschichte des Lukas gibt hierfür Beispiele: Der Heilige Geist ist die Bedingung für ekstatisches Reden und Prophetie: Act. 2,4; 10,44–46; 19,6; ferner vgl. 4,31.
4. Rückblick
101
ser aus einem mythisch-religiösen Welterfahren entstandenen Vorstellung war in den europäischen Tochterkulturen des griechisch-römischen Altertums eine breite Nachwirkung beschieden. Dafür sei noch ein aussagekräftiges Beispiel mitgeteilt: Über Rainer Maria Rilke, der als Dichter sich in seinem Schaffen vom Unverfügbaren abhängig wusste, schreibt seine Freundin Lou Andreas Salomé: „Ihm, der zu schicksalhaft empfand, um ein Mensch der Schuldzwiespälte zu werden . . ., ihm verlegte sich alles Gewissensmäßige auf die Bereitschaft. Er kannte sie von der produktiven Stunde her, der nicht zu befehlen möglich, aber zu gehorchen notwendig ist. Sein . . . Ethos sammelte sich um die Bereitschaft wie um eine Empfängnis, die immer und überall ihn dort antreffen sollte, wo nichts ihr Fremdes und Feindliches ihn besetzt hielt, ihn an Zufälliges und Abhaltendes verstreute“54 .
54 Rainer Maria Rilke (Leipzig 1928, Ndr. Frankfurt / M. 1993); zitiert von J. R. von Salis, R. M. Rilkes Schweizer Jahre 2 (Frauenfeld 1938, Ndr. Frankfurt / M. 1975) 100.
7. Zu den antiken Mysterienkulten 1. Einleitung Die Mysterien begleiten die griechische Religion von ihren Anfängen an und die hellenistisch beeinflusste römische Religion seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. Nach einer kurzen Wiederherstellung unter Kaiser Julian und in den heidnischen Senatskreisen am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. gehen sie mit dem antiken Polytheismus zu Grunde1. Zu den ältesten Mysterien der Griechen gehören die das ganze griechische und römische Altertum hochgeschätzten Demeter-Persephone-Mysterien, die Mysterien der göttlichen Mutter und der göttlichen Tochter, in Eleusis nahe bei Athen. Sie waren ortsgebunden und gehen in das zweite Jahrtausend v. Chr. zurück 2 . Ihre Anfänge liegen in der mehr weiblich bestimmten vorgriechischen Kultur. In diese Epoche dürften auch die ortsgebundenen Mysterien der ‚Großen Götter‘ von Samothrake3 und die Mysterien von Andania in Arkadien zurückreichen4 . Mit der Dionysos-Religion sind die Dionysischen Mysterien verknüpft, die in verschiedener Brechung auftreten: Mysterien des Dionysos Zagreus, Bakchos und Sabazios5 . Mit diesen stehen die Mysterien des mythischen Sängers Orpheus in Verbindung, der einen ähnlichen Tod wie Dionysos erlitten haben soll6 . Nach Kleinasien weisen die Mysterien der Mater magna deum oder Ky1 Zum Ende der Eleusinischen Mysterien im Jahr 396 n. Chr. Eunap. vit. sophist. 7,3,1–3 (45 Giangrande). 2 In den westgriechischen Kolonien ist der Kult von Demeter und Kore kein Mysterienkult; V. Hinz, Der Kult von Demeter und Kore auf Sizilien und in der Magna Graecia = Palilia (Wiesbaden 1998) Reg.: Mysterien. 3 Vgl. Cic. nat. deor. 1,119 Pease; W. Speyer, Art. Kabiren: RAC 19 (2001) 907–913. 4 A. Chaniotis, Art. Andania: Der Neue Pauly 1 (1996) 681 f. 5 A. Henrichs, Die Phoinikika des Lollianos. Fragmente eines neuen griechischen Romans = Papyrologische Texte und Abhandlungen 14 (Bonn 1972) 56–79; W. Fauth, Art. Zagreus: RE 9 A,2 (1967) 2221–2283, bes. 2242–2270; R. L. Gordon, Art. Zagreus: Der Neue Pauly 12,2 (2002) 665 f.; S. A. Takacs, Art. Sabazios: ebd. 10 (2001) 1180–1182. 6 O. Kern, Orphicorum fragmenta (Berlin 1922, Ndr. Dublin, Zürich 1972) test. 90–104; A. Dieterich, Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse. 2. Aufl. von R. Wünsch (Leipzig, Berlin 1913, Ndr. Darmstadt 1969) 84–108; H. LloydJones, Pindar and the after-life: Pindare = Entretiens de la Fondation Hardt 31 (Vandœuvres – Genève 1984) 245–283.
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7. Zu den antiken Mysterienkulten
bele und ihrer Parhedroi, Adonis und Attis7. Gänzlich andere Wurzeln besitzt der Geheimkult des persischen Mithra / Mithras, der in der römischen Kaiserzeit vor allem in Rom und Ostia sowie am Rande des Imperium Romanum insbesondere bei Soldaten und Beamten beliebt war und auf Männer als Teilnehmer beschränkt blieb 8 . Eine enge Verbindung bestand zwischen den Mithras- und den Heliosmysterien, da Mithras mit dem Sonnengott Helios / Sol gleichgesetzt wurde9. Aus Ägypten kamen die Mysterien von Isis und Osiris sowie des Sarapis zunächst nach Griechenland und seit der Hellenisierung Roms auch dorthin10 . Eine erschließbare erste Phase der Mysterienbildung fand statt, nachdem die Vorfahren der späteren Griechen in verschiedenen Wellen auf die hochentfaltete Kultur der Urbevölkerung Griechenlands, des westlichen Kleinasien und der Inseln getroffen waren. Einige Mysterien reichen sogar in die vorgeschichtliche Epoche zurück. So weist das Essen rohen Fleisches, die Omophagia, im Mythos und Ritus der Dionysos-Zagreus- und der OrpheusMysterien auf älteste Stufen der Menschheitsgeschichte zurück, auf die Stufe der Jäger und Sammler11. Die Demeter-Mysterien von Eleusis hingegen bezeugen den für die Menschheit so bedeutungsvollen Schritt zur Ackerbaukultur, der nach dem Urteil antiker Kulturhistoriker eine Wandlung zu größerer Humanität herbeigeführt hat12 . Die in Griechenland entstandenen und die von außen, dem Osten und Süden, eingedrungenen Mysterienkulte gehören zum Grundbestand der polytheistischen Religionen des Mittelmeerraumes. Die Völker der antiken Mittelmeerkulturen gaben in ihren Religionen ihrer Verehrung für die geheimnisvollen Kräfte der Wirklichkeit Ausdruck. Diese erlebten und deuteten sie 7
S. A. Takacs, Art. Kybele: Der Neue Pauly 6 (1999) 950–956. F. Cumont, Textes et monuments figurés relatifs aux mystères de Mithra 1. 2 (Bruxelles 1896 / 99); M. J. Vermaseren, Corpus inscriptionum et monumentorum religionis Mithriacae 1. 2 (Den Haag 1956/60); R.-A. Turcan, Mithra et le Mithriacisme (Paris 1981); R. Beck, Mithraism since Franz Cumont: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt (=ANRW) 2,17,4 (1984) 2002–2115; R. Merkelbach, Mithras (Meisenheim, Königstein, Ts. 1984); M. Clauss, Mithras. Kult und Mysterien (München 1990); D. Ulansey, Die Ursprünge des Mithraskults. Kosmologie und Erlösung in der Antike, deutsche Übersetzung (Stuttgart 1998). 9 Mitra heißt persisch Sonne / Sonnengott (Strab. 15,3,13); vgl. die Forschungsliteratur zu Mitra / Mithras Anm. 7; ferner G. Wojaczek, Die Heliosweihe des Kaisers Julian. Ein initiatorischer Text des Neuplatonismus: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N. F. 18 (1992) 207–236. 10 R. Merkelbach, Isis regina – Zeus Sarapis. Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt (Stuttgart, Leipzig 1995); S. A. Takacs, Art. Isis: Der Neue Pauly 5 (1998) 1126–1132. 11 Henrichs a.O. (o. Anm. 5) Reg.: Omophagie. 12 Cic. leg. 2,36; Verg. Aen. 4,58 und Servius zur Stelle; vgl. O. Kern, Art. Demeter: RE 4,2 (1901) 2752; zu Demeter Thesmophoros aber B. Grosskruse, Art. Thesmophoros: RE 6 A, 1 (1936) 28 f. 8
1. Einleitung
105
als Einheit in Mannigfaltigkeit, und zwar als den einen ewigen göttlichen Kosmos, der sich dem menschlichen Erleben in vielen göttlichen Kräften und Gestalten zeigt. Die Wirkungen dieser kosmischen Mächte aber erschienen als doppelpolig: als Leben und Tod, als Segen und Fluch, als Heil und Unheil13 . Von diesem ganzheitlich angelegten religiösen Erlebnishintergrund können die antiken Mysterienkulte nicht gelöst werden. Sie wiederholen in ihrer Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit den religiösen Pluralismus innerhalb der antiken Kulturen, indem sie das Wirken unterschiedlicher Gottheiten, Göttinnen oder Götter, in den Mittelpunkt ihrer Mythen und Hieroi Logoi sowie ihrer Riten stellen. Älter und ursprünglicher als der in der Öffentlichkeit, zumeist unter freiem Himmel vor einem Tempel vollzogene Opferkult einer antiken Stadtgemeinde, Polis, eines antiken Staates oder Reiches war der familiengebundene Hauskult. Dieser lässt sich bis zur Sesshaftigkeit auf der zu den Hochkulturen führenden Stufe der frühen Ackerbaukultur zurückverfolgen. Der Hauskult, der auf die einzelne Familie und Sippe beschränkt blieb und deshalb Fremde ausschloss, stand wie die frühe Überlieferung überhaupt unter dem Gebot der Geheimhaltung14 . In diesem Gebot fassen wir zugleich auch einen zentralen Aspekt der antiken Mysterien. Anders als Griechenland hat Rom, wo zunächst die res privata auf allen Gebieten der res publica vorangegangen ist, den Schritt zu einem eigenständigen Mysterienkult nicht vollzogen. Dies lag an der Eigentümlichkeit der römischen Geistigkeit, die sich vor allem im Recht ihren Ausdruck geschaffen hat. Der Weg aber von einer rechtlichen Sicht der Wirklichkeit zum Erleben, das zu den Mysterien geführt hat, ist weit. Der religiöse Dienst oder Kult, der in der früh- und vorgeschichtlichen Epoche in besonderem Maße mit magischen Vorstellungen und Praktiken durchsetzt war, bildete mit seinen rituellen Worten und Handlungen das Machtpotential des geistbegabten Menschen gegen die mannigfachen, sein Leben bedrohenden Gefahren von innen und außen: gegen Ängste, Krankheiten und Seuchen, gegen Naturgewalten, wilde Tiere und feindlich gesinnte Menschen und damit gegen die Gewalten des Todes15 .
13 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) Reg.: ‚Ambivalenz‘. 14 O. Casel, De philosophorum Graecorum silentio mystico = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 16,2 (Gießen 1919, Ndr. Berlin 1967) 3–27 zu Eleusis; W. Speyer, Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, Zürich 1995) 9–27. 189 f.: ‚Geheimgehaltene Überlieferungen und Schriften der Antike‘; H. G. Kippenberg / G. G. Stroumsa (Hrsg.), Secrecy and concealment. Studies in the history of mediterranean and Near Eastern religions = Studies in the History of Religions 65 (Leiden 1995). 15 Vgl. den Peripatetiker Dikaiarch bei Cic. off. 2,5,16 = frg. 24 Wehrli.
106
7. Zu den antiken Mysterienkulten
Die mythische Epoche, die der myth-historischen und der geschichtlichen vorangeht16 , ist durch die Unio magica von Mensch und Gesamtwirklichkeit gekennzeichnet17. Auf dieser frühen und überaus lang andauernden Mentalitätsstufe fühlte sich der Einzelne noch weit mehr als später in die Gesamtwirklichkeit und damit auch in die Familie und in den Stamm eingebunden. Auf dieser Stufe überwog die Fremdbestimmung die Selbstbestimmung. Je weiter die Menschen während der myth-historischen und der geschichtlichen Periode aus dieser Unio magica heraustraten, umso mehr erlebten sie sich in ihrer Vereinzelung und erschraken so auch vor dem eigenen Ende. Dieser Prozess ist für Griechenland seit den homerischen Epen und Hymnen, also seit dem 7. Jahrhundert v. Chr., erkennbar. In der Folgezeit nimmt die Individualisierung zu. Hesiod, der noch der jüngeren homerischen Zeit nahe steht, nennt als Sänger seinen Namen. Das ältere Zeitalter der Namenlosigkeit weicht dem Zeitalter des Heraustretens der Einzelnen aus ihrem Familien- und Sippenverband und ihrer Berufsgruppe und tritt damit hinter das Zeitalter der Geschichte und der geschichtlichen Individuen zurück. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. nennen auch die bildenden Künstler, für uns an erster Stelle die Vasenmaler, ihren Namen auf ihrem Werk. Mit dem gleichzeitigen Entstehen von Philosophie und Lyrik bestimmter Denker und Dichter ist der Weg in eine wachsend geschichtlich geprägte Reflexionskultur beschritten18 . In den vor- und frühgeschichtlichen Zeiten ging alles Denken über Welt und Mensch vom Staunen über die machtvollen und geheimnisvollen Erscheinungen der Natur aus und führte zur Verehrung der angenommenen göttlich/ dämonischen Mächte19, die sich dauernd in der sinnenhaften Wirklichkeit und der inneren Wirklichkeit des Menschen heil- und unheilbringend zeigten. Seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. wird der Mensch hingegen mit dem nunmehr stärker individuell erlebte Grundgeheimnis des eigenen Daseins mit seiner 16 Varro, gent. pop. Rom. bei Censorin. de die nat. 21,1 (50 f. Sallmann) unterscheidet folgende drei Epochen: vom Anbeginn der Menschen bis zur ersten Sintflut, eine Zeit, von der man nichts Genaueres weiß: tempus adelon; von der ersten Sintflut bis zur ersten Olympiade: tempus mythicon, wegen der mythenhaften Überlieferung; von der ersten Olympiade bis zu Varro: tempus historicon, weil die Geschehnisse in wahren Geschichtsdarstellungen aufbewahrt sind. 17 S. Mowinckel, Religion und Kultus, deutsche Übersetzung (Göttingen 1953) 13–27: ‚Das magische Weltbild‘; ferner vgl. L. Petzoldt (Hrsg.), Magie und Religion = Wege der Forschung 337 (Darmstadt 1978). 18 W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = Handbuch der Altertumswissenschaft 1, 2 (München 1971) 15–17. 19 A. Boeckh, De miratione initio philosophiae apud Platonem et Aristotelem: Ders., Opuscula academica Berolinensia, Gesammelte kleine Schriften 4 (Leipzig 1874, Ndr. Hildesheim, Zürich, New York 2005) 322–325; S. Matuschek, Über das Staunen. Eine ideengeschichtliche Analyse = Studien zur deutschen Literatur 116 (Tübingen 1991); E. Jain / T. Trappe, Art. Staunen, Bewunderung, Verwunderung: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998) 116–126.
1. Einleitung
107
Spannung von Leben und Tod, Verdienst und Leiden zum Ausgangspunkt religiösen Nachdenkens. Damit trat auch das Geheimnis des individuellen Schuldigwerdens mehr in das Bewusstsein des Einzelnen. Innerhalb der Entfaltung der Philosophie trat der Mensch zunächst als Gattungswesen, bald aber auch als Einzelner in den Blickpunkt der Betrachtung. Hier kommen der Orphik und dem Pythagoreismus hohe Bedeutung zu. Die Sorge um das Heil der eigenen Seele in diesem und im jenseitigen Leben bricht auf. Auf diese neue Bewusstseinslage konnten die Riten und Kulte, die in der Religion der Polis ihren Ausdruck gefunden hatten, nicht befriedigend antworten. Deshalb suchten viele in dieser Zeit des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. nach neuen Perspektiven für ihre neu entstandenen persönlichen Nöte. Eine Sehnsucht nach einem von den Göttern garantierten Ausgleich zwischen individuellem Schicksal und persönlicher Schuld oder Unschuld machte sich mehr und mehr geltend. Dieser Wunsch rief nach Gerechtigkeit, wenn nicht in diesem, dann in einem jenseitigen Leben. Im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. traten in Griechenland auch zahlreiche dämonisch/heilig geprägte Menschen auf, die religiösen Ausnahmemenschen oder die ‚göttlichen Menschen‘, die infolge ihres Erlebens und oft auch wunderbaren Wirkens das Vorhandensein einer jenseitigen Wirklichkeit zu vermitteln vermochten. Von Empedokles, Pythagoras, Epimenides, Demokrit und anderen wird Derartiges ebenso überliefert wie von dem mythischen Sänger Orpheus und anderen Dichter-Propheten oder Arzt-Sehern 20 . In diesen Zusammenhang gehört auch das Phänomen des Schamanismus21. Das Jenseits schien in dieser Zeit erfahrbarer und auch näher gerückt, wobei Orphik und Pythagoreismus wesentlich mitbeteiligt waren 22 ; denn die Orphiker und Pythagoras und seine Schüler verfügten über eine verfeinerte Erfahrung der Wirklichkeit der Seele. Die seelisch-geistige Erlebnislage während dieser Epoche im Mutterland und in Unteritalien war eine Hauptbedingung für das Erstarken und die Wirkung der Mysterien, eine Wirkung, die bis zum Ende der Antike angedauert hat. Die Privatisierung und damit auch eine gewisse Vereinsamung des Lebens im Zeitalter der hellenistischen Könige, der Diadochen, und der römischen Kaiser sicherte den Mysterien weiterhin hohe Akzeptanz. Je mehr dem Ein-
20 W. Fiedler, Antiker Wetterzauber = Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 1 (Stuttgart 1931) 21–23; H. D. Betz, Art. Gottmensch II (Griechisch-römische Antike und Urchristentum): RAC 12 (1983) 234–312, bes. 255–263: ‚Philosophen‘; zu Orpheus und verwandten Gestalten: ebd. 238–248. 21 W. Burkert, GOHS. Zum griechischen Schamanismus: Rheinisches Museum 105 (1962) 36–55; W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 1 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) Reg.: Schamane. 22 P. Habermehl, Art. Jenseits B IV Griechenland: RAC 17 (1996) 258–289, bes. 269– 271: ‚Mysterien‘.
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7. Zu den antiken Mysterienkulten
zelnen der Zugang zur Mitwirkung an der Lenkung der staatlichen Gemeinschaft verwehrt war, umso mehr bedurfte er der Stützung durch eine Religion, die seinen Nöten nachging und ihn als Einzelnen wichtig nahm. Diesen Trost fanden die Menschen der antiken monarchischen Staatsform in den Mysterien. Wenn die Mysterien sozusagen das Innerste der antiken Religiosität auf einer bestimmten Bewusstseinsstufe bilden, so spiegeln sie einerseits das Wesen der Gottheit als des Geheimen und Unaussprechbaren wider23 , zum anderen verweisen sie auf die Tiefe der Wirklichkeit in ihrer nicht auslotbaren Spannung von Leben und Tod und von menschlicher Schuld und Erlösungssehnsucht.Denn dies dürfte das andere bestimmende Thema der Mysterien sein – ob aller oder einiger bleibe dahingestellt –: die Überwindung des artund gattungsmäßig und zugleich auch individuell erlebten Bruches zwischen Mensch und Gottheit, die Erlösung von gesamtmenschlicher und individueller Schuld und Verfehlung 24 . Wie über der Gottheit als der Quelle von Leben und Tod eine Hülle liegt – darauf weist nicht zuletzt die Überlieferung vom ‚Verschleierten Bild von Sais‘ hin 25 –, so sind die Inhalte der Mysterien, die den Heilsweg zur Gottheit in den Hieroi Logoi 26 und den rituellen Handlungen versinnbildlichen, verhüllt; verhüllt sind sie für die Außenstehenden, aber auch bis zu einem gewissen Grade für die Mysten. Deshalb wurden die Mysterienfeiern und Einweihungen auch in der Nacht vorgenommen und oft in unterirdischen Kulträumen abgehalten, wie im Mithraskult, aber auch in anderen Mysterien27. Nach einer antiken philosophischen Erkenntnis gilt der Satz, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt wird 28 , dass somit Inneres und Äußeres, Seele/ 23 Macrob. Saturn. 1,7,18: arcana divinitatis natura; comm. in somn. Scip. 1,2,11: . . . aut sacrarum rerum notio sub pio figmentorum velamine honestis et tecta rebus et vestita nominibus enuntiatur: et hoc est solum figmenti genus quod cautio de divinis rebus philosophantis admittit; ebd. 1,2,18 f.: sic ipsa mysteria figurarum cuniculis operiuntur, ne vel haec adeptis nudam rerum talium natura se praebeat, sed summatibus tantum viris sapientia interprete veri arcani consciis, contenti sint reliqui ad venerationem fi guris defendentibus a vilitate secretum, sowie das Folgende: Numenius habe durch sein Deuten die beiden Göttinnen prostituiert. – Zu den antiken Bezeichnungen für die Mysterien Th. Hopfner, Art. Mysterien: RE 16,2 (1935) 1209–1350, bes. 1209–1212; L. Ziehen, Art. Orgia: RE 18,1 (1939) 1026–1029; R. Turcan, Art. Initiation: RAC 18 (1998) 87–159, bes. 87–90. 24 S. u. S. 117 Anm. 75. 25 Pausan. 10,32,18; F. Schiller, Das verschleierte Bild zu Sais: Schillers Werke, Nationalausgabe 1 (Weimar 1943) 254–256; vgl. ebd. ‚Die Worte des Wahns‘: V. 19–22; ferner A. Jeremias, Der Schleier von Sumer bis heute = Der Alte Orient 31, 1/2 (Leipzig 1931). – Verschleiert ist die ‚Athena Skiras‘, Villa Albani, Rom. 26 R. Baumgarten, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen = ScriptOralia 110 (Tübingen 1998) 122–143: ‚Hieroi Logoi in den Mysterien‘. 27 Cic. nat. deor. 1,119 Pease; Merkelbach, Mithras a. O. (o. Anm. 8) 146–153. 28 C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens = Klassisch-Philologische Studien 31 (Wiesbaden 1965).
1. Einleitung
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Geist und Körper, Jenseits und Diesseits, Gott und Mensch aufeinander bezogen und verwiesen sind. Die Geheimhaltung, die die Mysterien im Gegensatz zum öffentlichen Kult auszeichnet, entspricht so dem im Wirklichkeitsganzen erlebten geheimen Göttlich/Dämonischen oder Heiligen mit seiner undurchschaubaren Doppelwirkung von Segen und Fluch, Heil und Unheil und seiner gefühlsmäßigen und geistigen Verarbeitung in der Religion und damit in den Mysterien. Als Geheimkulte sind die Mysterien der lebendige und sachgemäße Ausdruck für die in ihnen jeweils neu erlebte Begegnung mit dem heiligen oder göttlichen Geheimnis, und dies auf der Stufe einer bestimmten Mentalität und damit einer bestimmten Epoche, der myth-historischen und der geschichtlichen Zeit Griechenlands und seines kulturellen Erben, Roms, sowie eines bestimmten geographischen Raumes: Griechenlands und Unteritaliens sowie Thrakiens, Phrygiens, Syriens und Ägyptens und später des Imperium Romanum. Inhaltlich folgen die Mysterien den bestimmenden Ereignissen des menschlichen Lebens von Geburt, Hochzeit und Tod 29, allgemeiner betrachtet dem Werden, dem Wachsen und dem Vergehen, also Vorgängen, die für alle Lebewesen gelten, und sodann, vor allem in Eleusis, der für die Entfaltung der Kultur so bestimmenden neuen Stufe des Ackerbaus mit Säen und Ernten im Kreis des sich fortwährend erneuernden Jahres. Wegen dieser Verwurzelung im Konkret-Sinnenhaften der Natur mussten die Mysterien auch mehr das religiöse Empfi nden und Erleben als den Verstand ansprechen 30 . Auf das Ganze gesehen sind die griechischen Mysterien das Ergebnis einer Kulturmischung, die infolge der griechischen Wanderungen der Frühzeit und der Hellenisierung im Zeitalter Alexanders und der Diadochen im östlichen Mittelmeergebiet stattgefunden hat. Der römische Westen blieb auch hier wie auf anderen Gebieten der Kultur der Nehmende und war nicht kulturschöpferisch. Das Rom der Frühzeit kannte keine Mysterien und verhielt sich, als sie ihm bekannt wurden, ihnen gegenüber zunächst ablehnend 31. Entsprechend reagierte zunächst auch die kaiserliche Regierung 32 .
29 E. Samter, Geburt, Hochzeit und Tod. Beiträge zur vergleichenden Volkskunde (Leipzig, Berlin 1911); s. u. S. 115–117. 30 Aristoteles bei Synesios, Dio 8 (2,1,254 Terzaghi) = frgm. 15 Rose. 31 Der Senat bekämpfte im Jahr 186 v. Chr. die dionysischen Mysterien: Liv. 39,8 ff.; Senatus consultum de Bacchanalibus: Corp. Inscr. Lat. 1 2 , 581; vgl. J.-M. Pailler, Bacchanalia. La répression de 186 av. J.-C. à Rome et en Italie = Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 270 (Paris, Roma 1988); ferner Speyer, Frühes Christentum 2 a. O. (o. Anm. 13) 112 f. 32 K. Kempter, Der Kampf des römischen Staates gegen die fremden Kulte, masch. Diss. Tübingen (1941); Merkelbach, Isis a.O. (o. Anm. 10) 131–133.
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7. Zu den antiken Mysterienkulten
2. Die Quellen und ihre Kritik Die archäologischen Zeugnisse reichen im Falle von Eleusis weit über die homerische Zeit zurück bis in die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Hier lässt sich der unterirdische Bau des Weihehauses, Telesterion / Anaktoron, auch Eleusinion genannt, bis in die mykenische Zeit zurückverfolgen. In Abwandlungen hat dieser Bau bis zum Ende der Antike bestanden 33 . Vergleichbares gilt für den Kultraum, Anaktoron, der Mysterien von Samothrake34 . Zahlreiche unterirdische Mithrasheiligtümer nebst Inventar sind in Rom und Umgebung und an den Rändern des römischen Reiches, wie in London, zum Vorschein gekommen 35 . Eine geographische Karte des Mittelmeergebietes mit Angabe der archäologisch gesicherten und zeitlich bestimmten Mysterienheiligtümern wäre wünschenswert. Von einer derartigen Bestandsaufnahme sind auch Rückschlüsse auf die Werbung des jeweiligen Kultes möglich. Malereien, wie Darstellungen der entsprechenden Mythen, vor allem von Persephone, auf Vasen, bezeugen die Bedeutung der Mysterien, und einzelne Fresken, wie die der ‚Villa dei misteri‘ in Pompeji, zeigen sogar Einweihungsriten 36 . Unsere Kenntnis vervollständigen Plastiken und vor allem Reliefs, so besonders für die Mysterien des Mithras, sowie bestimmte Exemplare der Kleinkunst 37. Möglicherweise sind die Mumienporträts des Späthellenismus in Ägypten Bildnisse von Eingeweihten 38 . Unmittelbaren Aufschluss bieten Selbstaussagen von Mysten und Inschriften, wie vor allem einzelne Grabepigramme. Dazu kommen außer mythologischen Texten oft nur knapp gehaltene Angaben bei Dichtern, Geschichtsschreibern, Geographen, Antiquaren, Grammatikern, Rednern und 33 Hopfner a.O. (Anm. 23) 1219 f.; L. Deubner, Zum Weihehaus der eleusinischen Mysterien: Ders., Kleine Schriften zur klassischen Altertumskunde = Beiträge zur Klassischen Philologie 140 (Königstein / Ts. 1982) 739–757; G. E. Mylonas, Eleusis and the Eleusinian mysteries (Princeton 1961); dazu die Besprechung von H. Möbius: Gnomon 35 (1963) 813– 822. 34 Ch. Tsochos, Art. Samothrake: Der Neue Pauly 11 (2001) 24–29. 35 S. o. Anm. 8. – „Der Kult ist an über 420 Orten nachgewiesen. Das schlägt sich in 1000 Inschriften nieder, in 650 Stiertötungsreliefs, die allerdings nur knapp zur Hälfte vollständig erhalten sind, und in 500 weiteren Reliefs“ Clauss a.O. (o. Anm. 8) 9. 36 G. Günther, Art. Persephone: Lexicon iconographicum mythologiae classicae 8,1 (1997) 956–978, bes. 959–966; Abbildungen in 8,2 (1997) 640–653; G. Schwarz, Art. Triptolemos: ebd. 8,1, 56–68; Abbildungen in 8,2, 30–41; (ein Artikel ‚Demeter‘ fehlt); K. Clinton, Myth and cult. The iconography of the Eleusinian mysteries (Stockholm 1992). Vgl. R. Herbig, Neue Beobachtungen am Fries der Mysterien-Villa in Pompeji = Deutsche Beiträge zur Altertumswissenschaft 10 (Baden-Baden 1958); B. Gallistl, Maske und Spiegel. Zur Maskenszene des Pompejaner Mysterienfrieses (Hildesheim 1995). 37 U. Bianchi, The Greek mysteries = Iconography of Religions 17 (Leiden 1976). 38 W. Seipel (Hrsg.), Bilder aus dem Wüstensand. Mumienporträts aus dem Ägyptischen Museum Kairo, Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien, 20. 10. 1998–24. 1. 1999 und u. S. 284–287.
2. Die Quellen und ihre Kritik
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anderen Schriftstellern 39. Auf einem eigenen Blatt stehen die hierher gehörenden Mitteilungen von Kirchenschriftstellern und Apologeten40 . Einige von ihnen waren vielleicht zuvor selbst Mysten. Umstritten ist, inwieweit griechische und römische Romane, allen voran der Isisroman des Apuleius, seine Metamorphosen, als Quelle für die Kenntnis der Mysterien auswertbar sind41. Eine wichtige neuere Quelle für die Dionysos-Mysterien bietet der fragmentarisch erhaltene Roman ‚Phoinikika‘ des Lollianos aus dem späten 2. Jh. n. Chr.42 Die Geheimhaltungsvorschrift ließ nur Weniges nach außen dringen43 . Dieses Wenige, das in Eleusis vornehmlich aus den Vorstellungen von Geburt, Hochzeit und Tod sowie der Symbolik des Ackerbaus bestand, haben bereits antike Theoretiker und christliche Kritiker verschieden gedeutet. Diese Problematik des Verständnisses hält bis heute an. Wo die einen in Wort, Bild und Ritus Symbolik und damit Tiefsinn sowie transzendentale Erfahrung vermuten oder sehen, halten sich die anderen an die unmittelbar gegebene Aussage. Der Streit um das richtige Verständnis des jeweiligen Hieros Logos und der mit ihm verknüpften heiligen Handlungen, von denen uns im Gegensatz zu den Mysten nur spärliche Fragmente und Referate vorliegen, geht bereits auf
39 Wichtige Quellen für Eleusis sind u. a. der homerische Demeter-Hymnus (hrsg. von N. J. Richardson [Oxford 1974]; vgl. H. P. Foley, The Homeric hymn to Demeter. Translation, commentary and interpretive essays [Princeton, New Jersey 1994]), Melanthios aus Athen (um 350–270 v. Chr.) und Theodoros W panag3: aus Eleusis/Athen (nach 100 v. Chr.): A. Tresp, Die Fragmente der griechischen Kultschriftsteller = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 15,1 (Gießen 1914) 56–58. 54–56 bzw. FGrHist 326. 346. Ferner vgl. die Mysterien-Inschrift von Andania: Syll. Inscript. Graec. 3Nr. 736 Dittenberger. – Eine erste Sammlung der literarischen Zeugnisse bietet N. Turchi, Fontes historiae mysteriorum aevi hellenistici (Roma 1930). 40 Z. B. K. Hoheisel, Das Urteil über die nichtchristlichen Religionen im Traktat ‚De errore profanarum religionum‘ des Iulius Firmicus Maternus, Diss. Bonn (1972) 89–214. 41 K. Kerényi, Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung (Tübingen 1927, ergänzter Ndr. Darmstadt 1962); R. Merkelbach, Roman und Mysterium in der Antike (München 1962); Ders., Isis a. O. (o. Anm. 10). Einwände zu dieser Forschungsrichtung bei R. Turcan, Le roman ‚initiatique‘. A propos d’un livre récent: Revue de l’Histoire des Religions 163 (1963) 149–199; H. Hofmann, Parodie des Erzählens. Erzählen als Parodie. Der Goldene Esel des Apuleius: W. Ax / R. F. Glei (Hrsg.), Literaturparodie in Antike und Mittelalter (Trier 1993) 119–151. 42 S. o. Anm. 5; S. A. Stephens / J. J. Winkler (Hrsg.), Ancient Greek novels. The fragments (Princeton, N. J. 1995) 314–357. 43 Casel a. O. (o. Anm. 14) 26 Anm. 1 unterscheidet zutreffend zwischen dem Schweigen der Mysten während der Mysterienfeier und ihrem Schweigen über den Inhalt der Mysterien. Ferner vgl. O. Perler, Art. Arkandisziplin: RAC 1 (1950) 667–676; zur Arkandisziplin in der Alten Kirche kritisch Ch. Jacob, ‚Arkandisziplin‘, Allegorese, Mystagogie. Ein neuer Zugang zur Theologie des Ambrosius von Mailand = Theophaneia 32 (Frankfurt, M. 1990).
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7. Zu den antiken Mysterienkulten
die Antike zurück44 . Einzelne Forscher erklären den Inhalt des in den Mysterien Erlebten auch für das Ergebnis von durch Psychopharmaka herbeigeführten Halluzinationen45 . Die Mysterien stellen einem angemessenen Verstehen ähnliche Schwierigkeiten entgegen wie die mit ihnen eng verbundenen gewachsenen Mythen und die antike Mystik. Jede Übertragung religiöser Erlebnisse in die profane Begriffs- und Wissenschaftssprache ist nicht nur mit einem Verlust an Intensität und Erlebnisdichte erkauft, sondern läuft immer Gefahr, in Missverständnissen, wenn nicht sogar in Trivialisierungen und damit in einer falschen Übersetzung zu enden46 . Auf das In- und Miteinander von mythisch / mystischem Erleben und Ausdrücken in Bildern, Zeichen und Symbolen, in Riten einerseits und dem Ausdeuten mit Hilfe der sich seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. bildenden, religiös geprägten Philosophie andererseits ist zu rechnen. Tatsächlich waren die uns fast gänzlich unbekannten Träger der orphischen Bewegung und der alten Pythagoreischen Schule als ‚göttliche Menschen‘ zugleich auch Gestalter oder Mitgestalter von Mysterien47. So dürfte auch die Ausformung der Eleusinischen Mysterien nicht ohne Theologie und religiöse Philosophie erfolgt sein. Allerdings bieten die Quellen für das 6. Jahrhundert v. Chr., das wie in der Philosophie auch für die Mysterien von entscheidender schöpferischer Kraft gewesen zu sein scheint, nur wenige konkrete Nachrich-
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Macrob. comm. in somn. Scip. 1,2,7–21. Die Bemühungen der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert fasste G. Anrich zusammen: Das antike Mysterienwesen in seinem Einfluss auf das Christentum (Göttingen 1894); die ältere Literatur ebd. 6 f. Anm. 1. Auf den Zusammenhang mit transzendentaler Erfahrung wies C. du Prel hin, Die Mystik der alten Griechen (Leipzig 1888) bes. 68–82. – Das 20. Jh. brachte weitere Erklärungsmöglichkeiten: auf ethnologischer Grundlage (zu Eleusis): K. Kerényi / C. G. Jung, Das göttliche Mädchen = Albae Vigiliae 8/9 (Amsterdam, Leipzig 1941); K. Kerényi, Die Mysterien von Eleusis (Zürich 1962); dazu A. E. Jensen, Die getötete Gottheit. Weltbild einer frühen Kultur = Urban Bücher 90 (Stuttgart 1966) 87–98; – auf pharmazeutischer Grundlage: R. G. Wasson / A. Hofmann / C. A. P. Ruck, Der Weg nach Eleusis, deutsche Übersetzung (Frankfurt M. 1984); – auf psychologischer Grundlage: Ch. Gallant, A Jungian interpretation of the Eleusinian myths and mysteries: ANRW 2,18,2 (Berlin, New York 1989) 1540–1563; ferner vgl. Hopfner a. O. (o. Anm. 23); Eranos-Jahrbuch 11,1944 (Zürich 1945): ‚Die Mysterien‘; M. Eliade, Das Mysterium der Wiedergeburt, deutsche Übersetzung aus dem Englischen (1958), 2 (Frankfurt, M. 1988) 203–212; B. M. Metzger, A classified bibliography of the Graeco-Roman mystery religions 1924–1973 with a Supplement 1974–1977: ANRW 2,17,3 (1984) 1259–1423; H. Petersmann, Altgriechischer Mütterkult: Matronen und verwandte Gottheiten = Bonner Jahrbücher, Beih. 44 (Köln 1987) 171–199; L. J. Alderink, The Eleusinian mysteries in Roman imperial time: ANRW 2,18,2 (1989) 1457–1498; W. Burkert, Antike Mysterien, Funktionen und Gehalt (München 1990); Turcan, Initiation a. O. (o. Anm. 22); F. Graf, Art. Mysterien: Der Neue Pauly 8 (2000) 611–626; M. Janda, Eleusis. Das indogermanische Erbe der Mysterien = Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 96 (Innsbruck 2000). 46 J. Pepin / K. Hoheisel, Art. Hermeneutik: RAC 14 (1988) 722–771. 47 S. o. Anm. 20. 45
3. Grundstrukturen
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ten48 . In späterer Zeit standen Platon und seine Schule, Mittel- und Neuplatoniker, wie Apuleius, Plutarch, Porphyrios, Jamblichos und Proklos, in enger Fühlung zu den Mysterien und benutzten auch deren Ausdrucks- und Bildersprache 49. Reflexe fi nden sich bis in Schriften der Kirchenväter50 .
3. Grundstrukturen Besaßen die Mysterien auch einen gewissen Eigenstand, so waren sie doch ein Zweig am Stamm der gewachsenen antiken Volksreligion. Gemeinsam sind beiden die verehrten Gottheiten und viele Formen des Kultes, angefangen von blutigen und unblutigen Opfern bis hin zu kultischen Reinigungen und rituellem Mahl 51. Insofern waren die Grenzen zwischen den Mysterien und der Volksreligion nicht fest. Entsprechendes gilt auch für das Verhältnis der Mysterien untereinander, wobei jedoch den Mithrasmysterien noch am ehesten eine Sonderstellung zukommt 52 . In Griechenland und Rom gab es Kulte, die nach den beiden Geschlechtern getrennt waren und somit jeweils für das andere Geschlecht den Charakter eines Geheimkultes besaßen 53 . Eine derartige Form des Geheimkultes machte aber einen Kult noch nicht zu einem Mysterienkult. Auch die Mysterien drängten auf eine Abgrenzung ihrer Teilnehmer, so wenn in Eleusis NichtGriechen, Barbaren, von der Teilnahme ausgeschlossen oder wenn in den Mithrasmysterien nur Männer zugelassen waren 54 . Darin bestand aber nicht ihr Geheimcharakter. Dieser bezog sich auf den Inhalt der Mysterien und auf deren Symbolik.
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S. o. Anm. 39. K. Albert, Griechische Religion und Platonische Philosophie (Hamburg 1980) 96– 108: ‚Mysterion‘; Ch. Riedweg, Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 26 (Berlin, New York 1987). 50 Zu nennen sind die der Platonschule nahe stehenden Kirchenschriftsteller (s. Anm. 49); vgl. ferner W. Speyer, Art. Asterios v. Amaseia: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 626–639, bes. 632 f. 51 H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult = Neutestamentliche Abhandlungen N. F. 15 2 (Münster, W. 1982) 91–166: ‚Das Mahl in den Mysterienkulten‘. 52 D. Engster, Konkurrenz oder Nebeneinander. Mysterienkulte in der hohen römischen Kaiserzeit = Quellen und Forschungen zur antiken Welt 36 (München 2002). 53 Th. Wächter, Reinheitsvorschriften im griechischen Kult = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 9,1 (Gießen 1910) 125–134; M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion 13 = Handbuch der Altertumswissenschaft 5,2,1 (München 1967, Ndr. ebd. 1976) 75–77: ‚Tabus der Heiligtümer‘. 783. 54 Wächter a. O. 121 f.; W. Speyer / I. Opelt, Art. Barbar I: RAC Suppl. 1 (1993) 820. 829 f. 49
114
7. Zu den antiken Mysterienkulten
Auf dem Hintergrund des allgemein vorausgesetzten und fast von allen gebilligten religiösen Weltbildes der Antike mit seinen Grundvorstellungen von dem einen, göttlich durchwalteten, alles umfassenden Wirklichkeitsganzen, griechisch Kosmos genannt, von der Entsprechung des Makrokosmos Welt und des Mikrokosmos Mensch, von der gottverwandten, ja mehr noch der göttlichen Einzelseele sowie der immerwährenden Wiederkehr des Gleichen ist der Inhalt der Mysterien zumindest noch umrisshaft erkennbar. Eine Geschichte der einzelnen Mysterien kann allerdings nicht geschrieben werden. Dafür reichen die Quellen vor allem für die vorhellenistische Epoche nicht aus, mögen sie auch für die Mysterien von Eleusis etwas reichlicher fl ießen 55 . Wandlungen und Veränderungen haben gewiss im Laufe der Zeit stattgefunden. Diese betrafen wohl nicht nur die Darstellungen, dr7mena, also die Vergegenwärtigungen des mythischen Geschehens, wie sie vor allem für Eleusis in Varianten bezeugt sind 56 . Mehrere Mysterien setzen die als Gabe der ‚Erdmutter‘, ‚Demeter‘, angesehene Kulturstufe des Ackerbaus voraus. Sowohl der in Eleusis vorgetragene und auch dargestellte Mythos vom Raub der Persephone / Kore, von der Klage der umherirrenden und erst in Eleusis Trost und das Ende ihrer Leiden fi ndenden Demeter sowie der Aussendung des Triptolemos, des Heros des Säens und Pflügens, auf seinem Schlangenwagen 57 als auch der Ritus der den Mysten gezeigten reifen Kornähre beziehen sich auf den Kreislauf des Jahres und den Zyklus von Zeugen, Geborenwerden, Sterben und Wiedergeborenwerden. Vielleicht war die den Mysten gezeigte reife Kornähre der Höhepunkt der gesamten Mysterien in Eleusis58 . Der höchste Mystengrad hieß jedenfalls Epoptes, der Schauende59.
55 Hopfner a.O. (o. Anm. 23) 1211–1263; G. Sfameni Gasparro, Misteri e culti mistici di Demetra = Storia delle religioni 3 (Roma 1986) 27–134; K. Clinton, The Eleusinian mysteries. Roman initiates and benefactors, second century B. C. to A. D. 267: ANRW 2,18,2 (1989) 1499–1539; W. Speyer, Einblicke in die Mysterien von Eleusis: Ders., Studien a. O. (o. Anm. 14) 56–74 und o. Anm. 45. 56 Greg. Naz. Or. 39,4 (PG 36, 337); Hopfner a. O. (o. Anm. 23) 1241–1246. 57 Triptolemos war möglicherweise zunächst der Parhedros der Demeter / Kore und damit ein Gott; vgl. W. Pötscher, Triptolemos und die Wortbedeutung von pelem4zein: Acta Art. Hung. 37 (1996/97) 161–179, bes. 171–179, der auf den minoischen Hintergrund der eleusinischen Gottheiten hinweist. 58 Hippol. ref. omn. haer. 5,8,39 (163 Marcovich); Hopfner a.O. (o. Anm. 23) 1240 f.; P. Wolters, Die goldenen Ähren: Festschrift für J. Loeb (München 1930) 111–129, bes. 124 f. – Der höchste Priester in Eleusis trägt eine sprechende Bezeichnung: der etwas Heiliges zeigt: Hierophant. In abgeschwächter Weise heißt später noch Mystagoge derjenige, der Fremden Sehenswertes zeigt (Cic. Verr. 4, 132); vgl. Eurip. Rhes. 943. 59 E. Fascher, Art. Epoptie: RAC 5 (1962) 973–983, bes. 977–979. In Eleusis gab es zwei Grade: den Mysten und den Epopten. Den höheren Grad erlangte man erst nach anderthalb Jahren. Im Februar fanden die kleinen, im September die großen Mysterien statt; ferner vgl. E. Pax, Art. Epiphanie: ebd. 832–909, bes. 840–842. 848 f.
3. Grundstrukturen
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Im Mittelpunkt von Eleusis steht das Geschick des einzelnen Menschen nach dem Tod. Insofern stimmt hier das Ziel mit dem der orphisch-dionysischen Mysterien überein. Wer in Eleusis als Mann und Frau oder auch als Kind die höchste Stufe der Einweihung erreicht hat, kann zuversichtlich sterben; denn ein derartiger Myste hat erfahren, dass er im jenseitigen Leben ‚glückselig‘ sein werde 60 . Dieses unerschütterliche Vertrauen bezeugen unbezweifelbare Selbstzeugnisse früher, klassischer, hellenistischer sowie spätantiker Zeit61. Die Mysten dürften diese Zuversicht einmal aus der Identifi kation mit dem Geschick der Demetertochter Persephone und der Gleichsetzung mit dem Samenkorn der Ähre gewonnen haben. Sodann dürften sie Vergleichbares wie klinisch Tote erlebt haben, die wie der Pamphylier Er im Schlussmythos des platonischen Staates wieder ins irdische Leben zurückgekehrt sind62 . Nach den Berichten klinisch Toter und ins Leben Zurückgekehrter alter und neuer Zeit kann das Sterben als eine Art zweiter Geburt erlebt werden: Der Sterbende gelangt aus dem schreckenden Dunkel des Todes wie aus einem Tunnel in das göttliche Licht des Lebens, das ihn beglückt 63 . Wie Persephone, Attis, Adonis, Osiris, Orpheus und Dionysos, letzterer als der von den Titanen zerrissene Zagreus, ist der Myste von Leid und Tod bedroht. Wie jene erleidet er Schmerz und Tod, sei es bis zu einem gewissen Grad tatsächlich oder rituell, um wie jene darauf wieder aufzuleben. Auf diesen Zusammenhang weist auch der erhaltenen Kultruf der Attis / Adonismysterien hin: „Seid zuversichtlich Mysten! Da der Gott gerettet ist, wird auch uns aus der Mühsal Heil“64 . Von den furchtbaren Schrecken und der Todesnähe bei der Einweihung der Mysten sprechen nicht wenige Zeugnisse65 . Erfährt so der Myste seinen zukünftigen Tod als einen ‚rite de passage‘ und damit als eine Art Initiation und neuer Geburt, so liegt es nahe, die ihn erwar60 D. Roloff, Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 4 (Berlin 1970) 177–180. 61 Hom. Hymn. In Dem. 480–482; dazu Richardson a.O. (o. Anm. 39) 313–315; Pind. frg. 137 Mähler; Sophocl. frg. 837 Radt (Trag. Graec. Fragm. 4, 553); Plat. Phaed. 69 c; Gorg. 493 b; rep. 363 cd. 365 a; Isocr. paneg. 28; Crinag.: Anth. Pal. 11,42; Cic. leg. 2, 14, 36; Ael. Aristid. Eleus. 3 = or. 22 (28 Keil); Casel a.O. (o. Anm. 14) 12. 62 Plat. rep. 10, 614 b-621 b. 63 Vgl. O. Nussbaum, Art. Geleit: RAC 9 (1976) 908–1049, bes. 939–961. 1006–1023 zum Seelengeleit; R. A. Moody, Leben nach dem Tod, deutsche Übersetzung (Reinbek bei Hamburg 1977) bes. 37–71. 64 Firm. Mat. err. prof. rel. 22,1 (224 Pastorino); R. Joly, L’exhortation au courage (_arreKn) dans les mystères: Revue des Études Grecques 68 (1955) 164–170. In den Sabaziosmysterien hieß es: „Ich bin dem Übel entkommen, ich habe das Bessere gefunden“ (Demosth. cor. 259). 65 Z. B. Ael. Arist. Eleus. 2 = or. 22 (28 Keil); dazu A. Humbel, Ailios Aristeides, Klage über Eleusis (or. 22) = Wiener Studien, Beiheft 19 (Wien 1994) 80; Apul. met. 11, 21, 6 f.; 23,7; dazu Merkelbach, Isis a. O. (o. Anm. 10) 290–294; Hist. Aug. vit. Comm. 9,6 (Mithrasmysterien). – Zum Terminus ‚wiedergeboren‘, renatus, Apul. met. 11, 21, 7; Merkelbach, Isis a. O. 716, Reg. ‚renatus‘.
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7. Zu den antiken Mysterienkulten
tende Gottheit als weiblich anzusehen: Demeter-Persephone, Kybele und Isis sind derartige weibliche Gottheiten, Realisierungen der im Vorderen Orient und im Mittelmeergebiet seit alter Zeit verehrten Hauptgottheit des Erd- und Muttertypos. So konnte, ja so musste sich der Myste als Kind oder bei Männern auch als Geliebter dieser zeugend-gebärenden, uranfänglichen und deshalb ursprünglich wohl auch als doppelgeschlechtlich vorgestellten Urgottheit fühlen66 . In diese Richtung scheint auch die zunächst auf den göttlichen Iakchos zu beziehende heilige Formel von Eleusis zu deuten, die der Hierophant verkündete: „Die Herrin [d. i. Demeter] hat ein heiliges Kind geboren, Brimo den Brimos [d. i. die Starke den Starken]“67. Vergleichbar damit ist der orphisch-dionysische Mysterienspruch auf den Goldblättchen von Thurioi und Petelia: „Als Böckchen bin ich in die Milch gefallen“68 . Der Myste erscheint hier als Kind, das von der Milch der Göttin aufgezogen wird69. Der Christ Hippolytos von Rom nennt als großes und unaussprechbares Geheimnis von Eleusis die rituelle Formel ge, k6e: ‚regne‘, d. i. befruchte, Zeus!; ‚werde schwanger‘, d. i. empfange und gebäre, Erde70 . Damit wird die Heilige Hochzeit, der Hieros Gamos, von Gott und Göttin bzw. von Gottheit und Mensch berührt. In diese Richtung weisen auch weitere Zeugnisse über Eleusis71. Die geschlechtliche Symbolik mit Zeugung und Befruchtung, mit männlichem und weiblichem Genital legt auch das von Clemens von Alexandrien mitgeteilte verabredete Zeichen, s6n_hma, der Eleusinischen Mysterien nahe72 . Göttliches und menschliches Geschick, Zeugen, Empfangen und Ge-
66 H. Baumann, Das doppelte Geschlecht. Ethnologische Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythos (Berlin 1955, Ndr. ebd. 1980); C. Colpe, Zur mythologischen Struktur der Adonis-, Attis- und Osiris-Überlieferungen: lisan mithurti, Festschrift W. von Soden (Kevelaer 1969) 23–44, bes. 33–40. 67 Überliefert von Hippol. ref. omn. haer. 5,8,40 (163 Marcovich); Kern a. O. (o. Anm. 6) 107 frg. 32 IV c 11; dazu Hopfner a. O. (o. Anm. 23) 1243–1245; Lloyd-Jones a. O. (o. Anm. 6) 272. 276. 68 IG 14, 341 A 12; 342, 4; vgl. A. Dieterich, Eine Mithrasliturgie 2 (Leipzig, Berlin 1923, Ndr. Stuttgart 1966) 171. 214; Fauth a. O. (o. Anm. 5) 2259 f. 2267. 69 K. Wyss, Die Milch im Kultus der Griechen und Römer = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 15,2 (Gießen 1914) 52–58, bes. 54. Ferner vgl. Ps.Plat. Axioch. 371d. 70 Ref. omn. haer. 5,7,34 mit den Parallelstellen in der Ausgabe von M. Marcovich (Berlin 1986) 152; Dieterich, Mithrasliturgie a.O. (o. Anm. 68) 214; O. Schönberger, Griechische Heischelieder = Beiträge zur Klassischen Philologie 105 (Meisenheim a. Gl. 1980) 71–73. 71 Aster. Amas. hom. 10,9,1 (140 Datema). Ferner vgl. J. Schmid, Art. Brautschaft, heilige: RAC 2 (1954) 528–564, bes. 537 f.; G. Freymut, Zum Hieros Gamos in den antiken Mysterien: Museum Helveticum 21 (1964) 86–95. 72 Protrept. 2, 21, 2 (GCS Clem. Alex. 1, 16). Die hier genannten Kiste und Korb sind Symbole des weiblichen Schoßes; vgl. auch Theodoret. Cyr. Graec. aff. cur. 7,11 (Sourc. Chrét. 57, 299); O. Jahn, Die cista mystica: Hermes 3 (1869) 317–334; Hopfner a. O. (o.
3. Grundstrukturen
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bären, Sterben und Neuwerden wurden in Eleusis in verschiedenen heiligen Handlungen rituell vollzogen. Dabei stand vor allem der einzelne Myste im Zentrum der Kulthandlung. Der Tod des Menschen konnte im Altertum nicht nur als neue Geburt gedeutet werden, sondern auch als Hochzeit der Seele mit der Gottheit und dies auch in den Mysterien, wahrscheinlich in Eleusis73 . Hier weisen die beiden Hauptgottheiten, Demeter und Persephone / Kore, die als Mutter und Tochter zugleich eine gewisse Einheit bilden, auf den Zusammenfall der Gegensätze von Leben und Tod hin. Die in Eleusis wohl vollzogene Gleichsetzung des Mysten mit Persephone führt unmittelbar zur Vorstellung seiner Hochzeit mit dem Tod, den im Persephone-Mythos der Herr der Unterwelt, der unterirdische Zeus oder Pluton, repräsentiert. Wie Persephone aber nur eine gewisse Zeitspanne bei Pluton weilen muss, so wird der Tod auch den Mysten nicht für immer umschlossen halten. Auf dem Hintergrund des Persephone-Mythos mit seiner Symbolik von Tod und Leben hat auch die sinnenhafte Symbolik von Dunkel und Licht ihre Wirkung auf die Mysten im Telesterion nicht verfehlt. Ein hohes sakrales Amt bekleidete dort der Fackelträger, Daduchos. Fackel und Feuer werden so die Mysten an bestimmten Höhepunkten der Riten, wie der Geburt des göttlichen Sohnes, des Plutos / Brimos, beeindruckt haben74 . Für Eleusis ist vor allem bemerkenswert, dass hier der Schritt von der kultischen zur sittlichen Reinheit vollzogen wurde. Dabei dürfte der Geist des Apollon von Delphi spürbar sein75 . Waren in Eleusis und in den verwandten Mysterien der Kreislauf von Same und Frucht sowie die Wiederkehr der Jahreszeiten und damit die Erde als Mutter die zentralen Vorstellungsinhalte, so in den Mithrasmysterien die Sonne als der Sonnengott Helios oder Sol, mit dem Mithras gleichgesetzt wurde, und der Tierkreis76 . Der in diesen Mysterien erkennbaren Verlegung von der Erde zum Himmel, von der weiblichen zur männlichen Gottheit, entspricht die Vorherrschaft des männlichen Prinzips gegenüber dem weiblichen, ein Prozess, der erst während der geschichtlichen Zeit der Griechen stattgefunden hat. Nicht zuletzt aus diesem Umstand leitete sich der Erfolg der Mithrasmysterien in der patriarchalisch geprägten römischen Welt her. Anm. 23) 1238 f. 1246. 1252; G. Baudy, Art. Cista mystica: RAC Suppl. – Lief. 11 (2004) 376–388, bes. 382–384. 73 Nussbaum a. O. (o. Anm. 63) 931 f. 74 Hippol. ref. omn. haer. 5,8,40 (163 Marcovich); Hopfner a. O. (o. Anm. 23) 1211. 1220 f. 1243 f. 75 Dieterich, Nekyia a. O. (o. Anm. 6) 63–67. Zum Sühnebad im Meer und dem Ausschluss der Mörder in Eleusis Hopfner a. O. 1226 f. Auch die orphischen Mysterien kannten die Reinigung von Freveln: Kern a.O. (o. Anm. 6) S. 389. 403: Wörter vom Stamm ‚kaqar‘. 76 S. o. Anm. 8.
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7. Zu den antiken Mysterienkulten
Am Ende des heidnischen Altertums begegnet bei einzelnen Gebildeten und einflussreichen Persönlichkeiten die Absicht, sich in viele Mysterien einweihen zu lassen77. Dies dürfte einmal auf die verlöschende Anziehungskraft des einzelnen Mysterienkultes hinweisen. Zum anderen zeigt sich darin aber auch eine bestimmte Tendenz des spätantiken Geistes: sein Enzyklopädismus. Die geistigen Repräsentanten des Heidentums versuchten noch einmal, geradezu vor dem endgültigen Ende, alle religiösen und kulturellen Traditionen wie in einem Museum um sich zu versammeln.
4. Verhältnis zum Christentum Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu den Mysterien des Christentums sind nicht zu übersehen. Die Unterschiede betreffen vor allem die Gottesvorstellung und die Symbolik. So wie Jesus Christus von den Gottheiten der antiken Mysterien verschieden ist, so die vergeistigte Symbolik, vor allem die des Kreuzes, von der der Mysterien. Alles Geschlechtliche und damit Naturhafte fehlt. Hingegen hat der Gedanke vom sterbenden und wiederauflebenden Samenkorn als Bildwort im Evangelium des Johannes ein Echo gefunden78 . Die für die Mysterien zentrale Vorstellung vom Leiden und Sterben, ja vom Opfer der Gottheit begegnet entsprechend wieder. Während Demeter / Persephone, Dionysos Zagreus / Orpheus, Osiris und Isis als Gottheiten leiden, leidet im Christentum nicht der Schöpfergott, sondern der ‚Gottmensch‘ Jesus, der Christus79. So bieten auch das Letzte Abendmahl und die eucharistische Feier, die heilige Messe, nur eine gewisse Analogie zu den Mysterienmahlfeiern80 . Auf Seiten des Menschen finden sich mannigfache Übereinstimmungen. Die Erlösungssehnsucht war in der hellenistisch-kaiserzeitlichen Epoche allgemein groß. Der Glaube an ein Jenseits war nicht nur weit verbreitet, sondern auch tief verwurzelt. Hier ist vor allem der aus orphisch-pythagoreischen Gedanken mitgestalteten Philosophie Platons und der mittel- und neuplatonischen sowie der neupythagoreischen Schule zu gedenken. Insofern gab es mannigfache Anknüpfungen zwischen Heidentum und Christentum. Deshalb konnten gerade Mysten für den christlichen Glauben gewonnen werden. 77 Z. B. der Philosoph Vettius Agorius Praetextatus, cos. des. 385 n. Chr.: Inscr. Lat. sel. 1259 Dessau und seine Frau Aconia Fabia Paulina: ebd. 1260 D.; vgl. Macrob. Sat. 1,17,1 und öfter; ferner Corp. Inscr. Lat. 6,504. 507. 510. 78 Joh. 12,24. 79 A. Grillmeier, Art. Gottmensch III (Patristik): RAC 12 (1983) 312–366. 80 Klauck a.O. (o. Anm. 51); C. Colpe, Mysterienkult und Liturgie. Zum Vergleich heidnischer Rituale und christlicher Sakramente: Ders. / L. Honnefelder / M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Spätantike und Christentum (Berlin 1992) 203–228.
4. Verhältnis zum Christentum
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Der christliche Universalismus war dem Partikularismus der Mysterienkulte überlegen und ebenso der Ausschließlichkeit einzelner Mysterienkulte, wie dem von Eleusis gegenüber Nichtgriechen oder dem der Mithrasmysterien gegenüber Frauen. Auch die Ortsgebundenheit der Mysterien von Eleusis oder von Samothrake und Andania fiel beim christlichen Kultmysterium fort 81. Das Christentum warb für sich durch sein Heilsangebot für alle Menschen aller Stände sowie jeglicher Herkunft und jeglichen Vorlebens mit Einbeziehung der bisherigen Sünder. Dazu kam die Vergeistigung des christlichen Mysterieninhaltes: Das unblutige Opfer der Eucharistie und der Rückbezug auf eine geschichtliche und zugleich übergeschichtliche Gestalt, die als Erlöser sich zugleich als Opfer für alle Menschen hingegeben, den Tod erlitten und in der Auferstehung göttliches Leben erwirkt hat. So schienen einzelne mythische Aspekte der Mysteriengottheiten in dem einen geschichtlich/ übergeschichtlichen Jesus Christus aufgehoben zu sein82 . In diesen Sachverhalten liegen auch wesentliche Voraussetzungen für den allmählich errungenen Sieg des Christentums über den Polytheismus 83 .
81 Bei Eleusis spielt dabei der Gedanke des Weltzentrums mit hinein: W. H. Roscher, Der Omphalosgedanke bei verschiedenen Völkern, besonders den semitischen = Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, phil.hist. Kl. 70,2 (Leipzig 1918) 61–78: ‚Der Omphalos von Athen und Eleusis‘; Clinton a.O. (o. Anm. 36) 121–123. 82 H. Rahner, Das christliche Mysterium und die heidnischen Mysterien: Eranos-Jahrbuch 11 (1944) 347–398. 83 S. u. S. 233–258.
8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum 1. Bewusstseinsgeschichtliche Voraussetzungen des Verständnisses Die Menschen der von der europäischen Kultur bestimmten Völker leben heute in einer sich täglich mehr profanierenden rationalistisch geprägten und wissenschaftlich-technisch bestimmten Zivilisation, die mit ihrem Fortschrittsdenken auch die alten religiösen Kulturen Asiens und Afrikas in ihrem Sinn mehr und mehr überformt1. Das den Menschen ursprünglich innewohnende religiöse Auffassen und Erfahren der Wirklichkeit und das diesem entsprechende seelisch-geistige Verarbeiten – der Quellgrund für jeden kulturellen Ausdruck in den Früh- und Hochkulturen – sind heute in Europa, Nordamerika und in den von ihnen abhängigen Ländern der Erde auf täglich kleiner werdende Randbereiche zurückgedrängt. Profane Agenden bestimmen den Tagesablauf und das Tagesgeschehen unserer von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft beherrschten Zivilisation. So ist das auf der ursprünglich dem Menschen mitgegebenen religiösen Erfahrung beruhende Verständnis für religiösen Ritus und Kult weithin geschwunden. Dieser Prozess der Auflösung hat mit dem beginnenden Subjektivismus im Hochmittelalter und in der Renaissance begonnen, wurde von der Reformation des 16. und der Aufklärung des 18. Jahrhundert weitergeführt und endete über Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts in der Beliebigkeit und in dem Nihilismus unserer Gegenwart, die bereits weite Bereiche des Lebens des Einzelnen und unserer gesamten Kultur erobert haben 2 . Wegen des geheimnisvoll bleibenden geistigen Kontinuums, in dem das menschliche Bewusstsein steht und das es selber ist, und wegen der mit diesem Bewusstsein zugleich gegebenen räumlichen und zeitlichen Dimension vermögen wir selbst noch in dieser gegenwärtigen Stunde die heute bei den 1 W. Gantke, Häretische Endzeitdenker im Kontext des modernen Fortschrittsglaubens: Hairesis, Festschrift K. Hoheisel = Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 34 (Münster, W. 2002) 511–524. 2 Auf diesem Hintergrund vgl. die Darstellungen von A. C. Andrews, Art. Ernährung: RAC 6 (1966) 219–231 und A. Gutsfeld, Art. Mahlzeiten: Der Neue Pauly 7 (1999) 705– 707. – Zum heiligen Mahl in der Umwelt des Urchristentums H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief = Neutestamentliche Abhandlungen N. F. 15 2 (Münster, W. 1982) 31–166.
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
meisten Menschen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation verloren gegangenen Bedingungen des Verständnisses für das Mahl als einen ursprünglich religiösen Ritus zurückzugewinnen 3 . In Abwandlung einer im 1. Jahrhundert v. Chr. von Marcus Terentius Varro vorgenommenen Einteilung der Zeit, die die Menschheit bisher verbracht hat, können wir zwei Hauptperioden und eine vermittelnde Periode unterscheiden. Diese Einteilung richtet sich nicht nach Großereignissen oder Großtatsachen, sondern nach unterscheidbaren Bewusstseinszuständen der menschlichen Geistseele. Dabei erfolgte die Wandlung in einen anders gearteten Bewusstseinszustand nicht plötzlich, sondern langsam und selbst auf der neuen Stufe blieb das ältere Bewusstsein modifi ziert und oft auch verwandelt weiter wirksam. Beim menschlichen Bewusstsein und den verschiedenen Zuständen seiner Geistseele handelt es sich um etwas zusammenhängend Bewegtes / Lebendiges, also letztlich um eine Größe, die sich wie die Natur und das Leben scharfer Ordnungs- und Einteilungsbegriffe entzieht. Alle Einteilungen zielen auf eine wissenschaftlich begründbare Feststellung und damit auf etwas Statisches und damit Unlebendiges. Nur umrisshaft können wir noch die Veränderung nachzeichnen, die der menschliche Geist im Zusammenspiel ihn führender, also ihn transzendierender Kräfte, und eigener bewusst und frei eingesetzter Kräfte genommen hat. So lassen sich folgende drei Epochen unterscheiden: Die weithin für uns im Dunkel bleibende mythische Zeit – bei Varro das tempus adelon –, die mythhistorische – bei Varro das tempus mythicon - und die kurze geschichtliche Zeit – bei Varro das tempus historicon 4 . Die mythische Periode, die sich für uns in undurchdringliche Zeiträume zurückschiebt, dauerte am längsten. Die geschichtliche Epoche, in der wir stehen, ist die kürzeste und die am klarsten überschaubare. Die mythische Periode war die Zeit einer magisch-religiösen Auffassung und Verarbeitung der dem Menschen durch seine Sinne vermittelten Wirklichkeit. Der geistige Prozess einer veränderbaren und veränderten Bewusstseinsbildung führte den Menschen von der Erkenntnis der äußeren sinnenhaft vermittelten Wirklichkeit zur Entdeckung der inneren Wirklichkeit der Geistseele. Dies ist der Weg zum Auffassen der durch die Sinne zugänglichen raum-zeitlichen Wirk-
3 H. Schreckenberg, Ananke. Untersuchungen zur Geschichte des Wortgebrauches = Zetemata 36 (München 1964) 81–134; F. Ohly, Zur Goldenen Kette Homers: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung (Stuttgart/Leipzig 1995) 599–678; Der geheime Strom des Geschehens: Eranos Jahrbuch 54 (1985). 4 Bei Censorin. de die natali 21,1 (50 f. Sallmann) aus De gente populi Romani; vgl. H. Dahlmann, Art. M. Terentius Varro: Pauly/Wissowa (RE) Suppl.-Bd. 6 (1935) 1237. 1239 f. und u. S. 205 Anm. 9.
1. Bewusstseinsgeschichtliche Voraussetzungen des Verständnisses
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lichkeit zum Erfassen der inneren seelisch-geistigen Wirklichkeit, womit die Entdeckung des Denkens, der Reflexion, verbunden war. Im mythischen Zeitalter dürfte der Mensch zunächst die äußere und sodann wohl nur ansatzweise auch die innere Wirklichkeit, wie seine Träume, ausschließlich oder vornehmlich als Ausdruck und als Erweis einer oder vieler geheimnisvoller, ihn und alles Übrige bestimmender dämonischer, also unheilvoller und fluchhaltiger, und göttlicher, also heil- und segenbringender, Mächte erlebt haben. Auf dieser Bewusstseinsebene wird sich das Problem einer einzigen dämonisch / göttlichen Macht oder vieler dämonisch / göttlicher Mächte kaum oder noch nicht gestellt haben und ebenso wenig die Frage, wie sich die Fluchmacht zur Segensmacht, wie sich Dämon zum Gott verhalten. Sobald dieses Problem einzelnen bewusst wurde, stehen wir am Anfang der geschichtlichen und damit der theologisch-philosophisch-wissenschaftlichen Epoche. In dieser Epoche tritt der Einzelne als Einzelner den Vielen gegenüber. Dies ist die Zeit der ‚göttlichen‘ Menschen, der Begründer der Frühkulturen und der beginnenden Hoch-Kulturen, also der religiös-ethischen Gesetzgeber, der Priesterkönige, der inspirierten Dichter / Sänger / Propheten, der Wundertäter und der ältesten Mythologen und religiösen Philosophen 5 . In Griechenland ist die Übergangsperiode, die myth-historische Epoche, noch gut erkennbar. Die frühen griechischen Dichter, allen voran der noch sagenhafte Homer, sind die unmittelbaren Nachfolger der älteren mythischen Dichter / Sänger / Propheten und Wundertäter6 . Der berühmteste von diesen war Orpheus7. Die Überlieferung von Homer zeigt bereits die Tendenz, aus dem anonymen und kollektiven sowie aperspektivischen mythischen Raumund Zeiterleben zu einer Perspektive von einem bestimmten Standpunkt aus zu gelangen. Der von Homer in der Ilias besungene Krieg um Troja galt den späteren Griechen und Römern als eine, wenn nicht die erste geschichtliche Tatsache8 . Homer und die nicht mehr für uns fassbaren vorausgehenden Dichter / Sänger wussten bereits ansatzweise zwischen mythischen und geschichtlichen Zeiten, Räumen und Völkern zu unterscheiden, wobei sie diese mitund nebeneinander zeigen und in ein Verhältnis zueinander setzen9.
5 H. Schottroff, Art. Gottmensch I (Alter Orient u. Judentum): Reallexikon für Antike und Christentum (= RAC) 12 (1983) 155–234; H. D. Betz, Art. Gottmensch II (Griechischrömische Antike u. Urchristentum): ebd. 234–312. 6 Betz a.O. 238–248. 253 f. 7 R. Böhme, Der Lykomide. Tradition und Wandel zwischen Orpheus und Homer (Bern, Stuttgart 1991), der Orpheus als indogermanischen Schamanen in die Epoche eines angeblich erschließbaren mykenischen Matriarchats stellen möchte. 8 Zur Datierung Eratosthenes bei Clem. Alex. strom. 1,21,138,1/3 (GCS Clem. Alex. 2,85 f.). Zum geschichtlichen Hintergrund der in der Ilias berichteten Vorgänge J. Latacz, Troia und Homer (München, Berlin 2001). 9 Griechen, Trojaner und deren Hilfsvölker einerseits (vgl. Schiffskatalog Il. 2,494–759;
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
Mit der auf Erfassung und Gliederung der Zeit angelegten Denkform der Genealogie, für die Homer und Hesiod neben anderen zeugen, ist der griechische Geist auf dem Weg in die geschichtliche Epoche mit dem abstrakten Denken statt des älteren Verstellens in Bildern und Namen für die einzelnen göttlichen Weltmächte, mit diskursiver Beweisführung sowie mit verstärkter Differenzierung und damit verbunden mit den Anfängen eines Epochenbewusstseins10 . Der Weg des Bewusstseins führte jedenfalls vom Bild und Namen zum Begriff, vom gewachsenen Mythos zu dem reflexiv gestalteten Logos, ohne dass bei dieser zeitlichen Abfolge, die zugleich eine Verwandlung war, das jeweils Ältere aufgehört hätte, im jeweils Jüngeren verwandelt weiter zu bestehen11. Mit dieser Metamorphose der Inhalte des Bewusstseins war in Griechenland die Möglichkeit eröffnet, aus einem Zustand, die Gesamtwirklichkeit voll von Dämonen und Göttern zu sehen und sich selber nur als Schauplatz jener Gewalten zu erleben, durch eine erwachende Selbstbestimmung zu einem fortschreitenden Selbststand zu gelangen. Aus einer zunächst fast allein dämonisch / göttlich bestimmten Wirklichkeit verlief der Weg in die vom Menschen gestaltete Welt, also vom Heiligen zum Profanen oder von der dämonisch / göttlichen Fremdbestimmung zur menschlichen Selbstbestimmung. Diese Entwicklung ist weder gradlinig, noch absolut verlaufen, da eben nicht nur die Koordinate des Werdens, der Veränderung und der Geschichtlichkeit unsere Wirklichkeit bestimmt, sondern auch die Koordinate des Wesen- und Seinshaften, also des von Zeit und Geschichte Unabhängigen. So durchdringen sich auch heute noch im Menschen Unbedingtes und Bedingtes oder Göttlich / Objektives und Menschlich / Subjektives oder Fremdbestimmung und Selbstbestimmung. Das Profane umgibt und prägt uns aber heute in unserer Zivilisation so sehr, dass der Blick auf das Heilige, das viele Jahrtausende der menschlichen Kultur fast ausschließlich geformt hat, oft nur auf dem Umweg eines wissenschaftlichen Diskurses wieder in den Blick zu bringen ist. Dafür sei als ein Thema das Mahl als ursprünglicher Ritus näher betrachtet!
2. Das Mahl als Begegnung mit Tod und Leben Die von Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit bestimmte Wirklichkeit, in der wir leben und die uns tiefer bestimmt, als wir gemeinhin anzunehmen und zuzugeben bereit sind, kennt Ordnungsstrukturen, die unaufhebbar sind, wedazu Latacz a.O. 262–294) und andererseits mythische Völker am Rand der damals bekannten Erde, wie Abier, Hyperboreer, Hesperiden, Phaiaken und Aithiopen. 10 W. Speyer, Art. Genealogie: RAC 9 (1976) 1145–1268. 11 Zu einseitig W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates (Stuttgart 1940).
2. Das Mahl als Begegnung mit Tod und Leben
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nigstens für den überwiegenden Teil der Menschen, heute wie gestern. Von den wenigen Ausnahmen, über die die Geschichte der heiligen oder numinosen Menschen zu berichten weiß, ist hier nicht genauer zu sprechen12 . Zu den Gesetzen unserer Wirklichkeit gehört vor allem der Grundsatz, dass individuelles Leben nur durch den Tod anderer Lebewesen zu erhalten ist. Alle Lebewesen zeigen dauernd die Tendenz, oder das Gefälle zum Tode hinzueilen. Diese Tendenz kann jeweils nur auf Zeit durch die zumeist regelmäßige Aufnahme von Nahrung und Trank aufgehalten werden. Insofern verweisen Essen und Trinken ähnlich wie Krankheit auf die condicio creaturae und die condicio humana. Damit steht das Mahl von seinem Wesen her im Zentrum aller Erfahrungen und Vorstellungen, die um das zunächst magisch-religiös oder mythisch aufgefasste Grundgeheimnis der menschlichen Wirklichkeit und der gesamten Wirklichkeit kreisen: um Leben und Tod. Dabei befinden sich die Pole dieses Gegensatzes, also Leben und Tod, so wie die Pole aller die Wirklichkeit in ihrer Tiefe bestimmenden Gegensätze nicht nur in Spannung zueinander, sondern sind zugleich auch ineinander verschränkt im Sinne von: Tod ist auch Leben, Leben ist auch Tod13 . Wegen dieses Doppelgesichtes, dieser Janusköpfigkeit, der Wirklichkeit musste das Mahl von seinem Ursprung und Wesen her als ein bewusst vollzogener Akt des Menschen, der selber in der Wirklichkeit und ihr doch je nach Zeit und Umständen weniger oder mehr auch gegenübersteht, seine Wurzeln in einer Mentalität haben, die die Eindrücke der Wirklichkeit magisch-religiös verarbeitet. Jedes Mahl, sei es, dass es aus pflanzlicher, tierischer oder sogar menschlicher Nahrung bestand, war zugleich Ausdruck der Begegnung mit Tod und Leben. Der in Frühkulturen und bei Naturvölkern bezeugte Kannibalismus war zunächst ein magisch-religiöses Ritual, gebunden an ein ebensolches Weltbild14 . Den Akt des Tötens beendete in der Regel ein Mahl. Der von W. Burkert beschriebene Homo necans geht dem Homo cenans vor12 Nahrungslosigkeit ist überliefert von Abaris (Herodot. 4,36,1; Aristot. frg. 191 [155,11 Rose]), Epimenides von Kreta (Timaios: FGrHist 566 F 4 bei Diog. Laert. vit. phil. 1,114). Zu entsprechenden Phänomenen bei Heiligen H. Thurston, The physical phenomena of mysticism (London 1952, deutsche Ausgabe Luzern 1956) 251 f. 362 f. 407–456; ferner P. Yogananda, Autobiographie eines Yogi (Los Angeles 1946, 10. deutsche Ausgabe, O. W. Barth-Verlag 1977) 466–472. 13 Eurip. Frg. 638 Nauck 2 : „Wer weiß denn, ob das Leben Sterben ist, das Sterben aber unten für Leben erachtet wird“; Aristoph. ran. 1082. 1477; dazu K. Dover in der kommentierten Ausgabe (Oxford 1953) 328; Max. Tyr. diss. 10,1 (109 f. Koniaris); Cic. rep. 6,14,14: . . . hi vivunt, qui e corporum vinclis tamquam e carcere evolaverunt, vestra vero, quae dicitur, vita mors est; Sallust. de dis et mundo 16,2: „Da also primäres Leben das der Götter ist, das menschliche Leben nur eine gewisse Art von Leben . . .“; vgl. E. Bickel, Das EnniusZitat aus Euripides bei Seneca de brev. vit. 2,2 und der Topos des NEKROS BIOS in der Antike: Rheinisches Museum 94 (1951) 242–249. 14 F. Graf, Art. Kannibalismus: Der Neue Pauly 6 (1999) 247; A. E. Jensen, Die getötete Gottheit. Weltbild einer frühen Kultur = Urban Bücher 90 (Stuttgart 1966).
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
aus15 . Das Mahl ist also das Ergebnis eines Tötungswillens und eines Tötungsaktes, der in der Frühzeit der Menschheit bis weit in geschichtliche Zeit ebenso wie das der Tötung folgende Mahl magisch-religiös erlebt, gedeutet und ausgestaltet wurde. Dieses Erleben entzündete sich nicht zuletzt an der Tatsache, dass beim Töten Blut fl ießt, d. h. dass die Lebenskraft, die zu einer bestimmten geschichtlichen Stunde zugleich auch als Seelensubstanz gedeutet wurde, versiegt16 . Zum Mahl gehört neben der Speise auch der Trank. Der sich vielerorts von selbst anbietende Trank, das Wasser, war für das Erleben des frühen Menschen keineswegs nur das profane Getränk, als das wir es heute ansehen. Die geheimnisvoll erscheinende Quelle, die aus dem Dunkel der Erde kristallklares Wasser spendet, galt wie jede andere auffallende Erscheinung der Natur nicht zuletzt wegen ihrer Unerklärbarkeit und Undurchschaubarkeit als Ausdruck einer geheimen dämonisch / göttlichen Macht. Dabei erlebten die frühen Griechen und Römer das Wasser aus der Quelle vornehmlich als Ausdruck des Weiblichen17. Wie die Vorstellung der Quellnymphe beweist, hielten sie diese Göttinnen für Wesen, die auf das Bewusstsein einzuwirken vermögen: Bald, so glaubten sie, schaffen sie heil- und lebenspendende Inspiration und Ekstase, bald aber unheilvollen Wahnsinn gemäß der jeweils ambivalenten Wirkweise des Heiligen in Segen und Fluch18 . Als man im östlichen Mittelmeergebiet lange vor dem Rauschgetränk des Weines den Honigmet, also das Honigrauschgetränk, zu bereiten wusste, erfuhr der Mensch, wie er damals glaubte, gleichfalls die Macht einer Gottheit19. Das Symposion mit Honigmet oder später mit Wein, das zunächst mit dem Opfermahl verbunden war, wurde als eine rituelle Handlung angesehen. 15 Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen = RGVV 32 (Berlin 1972). 16 F. Rüsche, Blut, Leben und Seele = Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums, Erg.-Bd. 5 (Paderborn 1930, Ndr. New York 1968); J. H. Waszink, Art. Blut: RAC 2 (1954) 459–473. 17 M. Ninck, Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten. Eine symbolgeschichtliche Untersuchung = Philologus, Suppl. Bd. 14,2 (Leipzig 1921, Ndr. Darmstadt 1921) 12–15; F. Muthmann, Mutter und Quelle. Studien zur Quellenverehrung im Altertum und im Mittelalter (Basel 1975). 18 Ninck a.O. Reg. ‚Nymphen‘; W. F. Otto, Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens 2 (Darmstadt 1961) 9–20; M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion 13 = Handbuch der Altertumswissenschaft (München 1967, Ndr. ebd. 1976) 244– 255 zu den Nymphen und Musen; W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 1 = Wiss. Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) Reg.: Nymphen; Heilig. 19 A. Sallinger / O. Böcher, Art. Honig: RAC 16 (1994) 433–473, bes. 436 f. 441–445. 447 f.; K. Kircher, Die sakrale Bedeutung des Weines im Altertum = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 9,2 (Gießen 1910). Auch der Genuss von Blut konnte in Rausch versetzen, den man als göttlich / dämonisch gewirkt gedeutet hat; vgl. Waszink a.O. (o. Anm. 16) 465.
2. Das Mahl als Begegnung mit Tod und Leben
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Darauf weisen auch noch in geschichtlicher Zeit die Trankspenden des Symposions für die vergöttlichten Toten und die Unterweltlichen hin; denn die Toten und die Unterweltlichen garantierten allen Segen von Speise und Trank. Töten und Ernten, also das Abschneiden der Getreidehalme, waren demnach in der myth-historischen Periode keine profanen Handlungen wie heute, sondern heilige Handlungen, also Rituale wie zunächst und ursprünglich alles Essen und Trinken 20 . Wie das rituelle Töten in der Regel nicht die Tat eines einzelnen war, sondern einer kultisch gebundenen Gemeinschaft, zunächst der Jagenden, dann der Hirten und Bauern, die im Vollzug des Tötens den heiligen Mächten über Tod und Leben begegneten, so war auch das anschließende Mahl Ausdruck einer kultisch gebundenen Gemeinschaft, von Familie, Sippe und Stamm, und ihrer Erfahrung mit den geheimnisvollen Mächten 21. Diese konnten als der göttliche Herr oder die göttliche Herrin der Tiere vorgestellt werden oder als die Erdgöttin oder auch als die vergöttlichten Ahnengeister, die nach dem Glauben der Ackerbauern neben der Erdgöttin den Erntesegen der Äcker und den Segen der Haustiere sicherten. Indem der Mensch dieser Bewusstseinsstufe im Tötungsritual als Lebender dem Tod begegnete, erlebte er den Segen und den Fluch der für ihn geheimnisvollen, dämonisch-göttlich durchwirkten Ganzheit der Welt und zwar den Segen in Gestalt der Nahrung und des Trankes, die Kräftigung des Leibes und damit Weiterleben garantierten, und den Fluch in der Stimme seines Inneren, die daran erinnerte, anderes Leben, wenn auch aus Not und zwar zur Überwindung des drohenden eigenen Todes, zerstört zu haben. Was den einen Lebewesen Verderben, Tod und damit Fluch brachte, schenkte den anderen Heil, Leben und Segen, wobei über diesem auch wieder ein Schatten des Negativen lag. Vergeblich wird man hier Eindeutigkeit der Empfi ndungen suchen. Wir stehen bei dieser vom Menschen erfahrenen widersprüchlichen Harmonie von Leben und Tod, von Tod und Leben vor dem tiefen Paradoxon unserer aus vielen Gegensätzen oder Gegensatzpaaren gemischten Wirklichkeit, in der wechselseitig das Leben der einen der Tod der anderen ist22 , wo deshalb Gewinn und Verlust nicht säuberlich zu trennen sind und wo deshalb auch nur gemildert, aber nicht wahrhaft geheilt oder sogar erlöst werden kann. So musste sich der Mensch als Töter und Verzehrer schuldig fühlen; denn die aus dem Getöteten gewonnene Lebenskraft war nur in einer Hinsicht für ihn segenstiftend, in einer anderen aber fluchbringend. Blicken wir so auf das Mahl, das für das Leben des Einzelnen ähnlich wie der Schlaf unabdingbar 20
A. Lumpe, Art. Essen: RAC 6 (1966) 612–635, bes. 620–622. Ebd. 619 f. 22 Heraklit von Ephesos: VS 22 B 62; vgl. B 21. 76 f.; W. Speyer, Vom Paradox der Wirklichkeit. Eine philosophisch-theologische Skizze: Philotheos. International Journal for Philosophy and Theology 3 (2003) 31–39. 21
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
ist, so zeigt sich unter dieser Deutung die paradoxale Lage des Menschen, der zugleich als schuldig und als unschuldig erscheint. Aus dem bedrückten Gewissen, das mit dem Töten verknüpft war, folgte zunächst der Versuch, die göttliche Macht oder die göttlichen Mächte als Spenderinnen der Nahrung, die man verletzt zu haben glaubte, wieder zu versöhnen, womöglich durch die Gabe eines Anteils am Getöteten. Indem man diesen Anteil dem reinigenden Feuer oder der Mutter Erde oder dem heiligen Wasser überantwortete, trennte man sich äußerlich und innerlich von ihm als einem Teil, der das Ganze vertrat, und übergab diesen Teil den heiligen Mächten 23 . Hier erfolgte nach dem die gesamte Wirklichkeit tief bestimmenden Gesetz und Grundsatz der Vergeltung und des do, ut des eine Teilrückgabe des von den Göttern in der Nahrung und im Trank stets erneut geschenkten Lebens. Indem der Opfernde so sich bis zu einem gewissen Grade selbst beschränkte und vom Ganzen des Getöteten einen Teil als stellvertretend zurückerstattete, fühlte er sich zugleich in gewissen Grenzen entlastet. In dem Bewusstsein, durch Töten schuldig geworden zu sein, liegt auch eine Wurzel zu den Versöhnungsopfern und den Versöhnungsritualen, zu den Gastmählern für die Götter und zu den Gelübden24 . Dabei ging die Absicht nach zwei Richtungen, einmal, die Götter zu versöhnen, zum anderen, sie zu veranlassen, neues Jagdglück, neue Beute, neue Fruchtbarkeit der Herden, neue Feldund Gartenfrucht zur Erhaltung des menschlichen Lebens zu schenken. Erst auf einer geistig differenzierten Stufe innerhalb der antiken Hochkulturen erscheint ein neuer Weg, auf dem einzelne versuchten aus der Schuldverstrickung des Tötens, wenn nicht gänzlich, so doch zu einem erheblichen Teil, herauszukommen. Dies war der Weg der Enthaltsamkeit von tierischer Nahrung. Von den Orphikern und Pythagoreern an lässt sich diese theologisch und sittlich begründete Nahrungsaskese nachzeichnen 25 . Verbunden war sie mit Erwägungen und Überlegungen zur Deutung der gegenwärtigen vielfach als elend empfundenen Lage des Einzelnen und der Menschheit. Dabei gingen die antiken Theologen von der Annahme eines einmal vorhanden gewesenen glücklicheren Zeitalters aus, in dem Tod und Töten und damit das Sättigungsmahl noch unbekannt waren. Um aus der mit dem Töten von Tieren verbundenen Schuld herauszukommen, dachte man über unschuldige
23
P. Stengel, Art. 'Aparca4: Pauly/Wissowa (RE) 1,2 (1894) 2666–2668. S. P. C. Tromp, De Romanorum piaculis, Diss. Amsterdam (1921); G. Wissowa, Art. Lectisternium: Pauly/Wissowa (RE) 12,1 (1924) 1108–1115; B. Kötting, Art. Gelübde: RAC 9 (1976) 1055–1099. 25 J. Haussleiter, Der Vegetarismus in der Antike = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 24 (Berlin 1935) 1 f. 79–163 zu den Orphikern und der Schule des Pythagoras. – Zu Naturvölkern A. Schroeder, De ethnographiae antiquae locis quibusdam communibus observationes, Diss. Halle (1921) 38. 24
3. Vom Mahl mit den Göttern
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Nahrung nach und fand sie vor allem in der Milch und im Honig 26 . Der verbreitete Gedanke von der Unschuld des Kindes beruht unter anderem auch auf der Tatsache, dass das Kleinkind sich noch nicht von Getötetem nährt, sondern nur von der Milch der Mutter27. Die Sehnsucht nach der Goldenen Zeit oder dem Paradies, also nach der ursprünglichen Einheit mit dem Göttlichen, ist nicht zuletzt auf die Not des Menschen mit der für ihn sittlich so belasteten Nahrung aus Getötetem zurückzuführen. Überall, wo Nahrungsaskese in der Alten Welt gelehrt wurde, war der Wunsch wach, der harten Gegenwart mit ihrem Zwang der Abfolge von Leben und Tod in ein besseres Land, geradezu in ein Jenseitsland, zu entfl iehen. Insofern bezeugt diese Überlegung auch den Glauben an einen menschlichen oder übermenschlichen Ur- und Erstfrevel, als dessen Folge der jetzige Fluchzustand mit seinem unabänderlichen Mit- und Ineinander von Leben und Tod, von Säen und Ernten beruht.
3. Vom Mahl mit den Göttern in der mythischen Urzeit zum jenseitigen himmlischen Mahl nach dem Evangelium Im frühen Griechenland hören wir von einer mythischen Überlieferung, nach der die Götter in der Urzeit der Welt und der Menschen in enger Gemeinschaft mit den Menschen lebten. Ausdruck dieser Eintracht der Goldenen Zeit war das gemeinsame Mahl von Göttern und Menschen. Davon singt Hesiod im Musenprooemium seines Kataloges der Heroinnen: „Gemeinsam waren damals die Mahlzeiten, gemeinsam die Sitze der unsterblichen Götter und der sterblichen Menschen“28 . Der homerische Sänger bringt dafür sogar ein Beispiel: Wie Thetis ihrem Sohne Achill berichtet, ist Zeus „gestern“ mit allen Göttern, also den olympischen, zu den Aithiopen gegangen, um gemeinsam mit ihnen zu speisen. Hier heißen die Aithiopen „untadelig“, also fromm, d. h. sie sind Götterfreunde29. Das Mahl erscheint an diesen Stellen Hesiods und Homers als Zeichen der tiefen lebenspendenden Gemeinschaft von Göttern und Menschen, als Zeichen ihres glückhaften Bei- und Miteinanders.
26 Der Honig galt als Speise der Götter und Gottesfreunde; Sallinger a.O. (o. Anm. 19) 445 f.; ebenso die Milch; K. Wyss, Die Milch im Kultus der Griechen und Römer = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 15,2 (Gießen 1914) 39–51. 27 Vgl. auch H. Herter, Das unschuldige Kind: Ders., Kleine Schriften, hrsg. von E. Vogt = Studia et Testimonia Antiqua 15 (München 1975) 598–619. 28 Hesiod. frg. 1 v. 6 f. Merkelbach / West. 29 Il. 1,423 f.; die Phäaken speisen zusammen mit den Göttern, denn sie sind Gottesfreunde (Od. 7,201–203); W. Pötscher, Zum Problem der Speisen der Götter in der homerischen Poesie: Ziva Antika 48 (1998) 101–105; K. Treu; Art. Gottesfreund: RAC 11 (1981) 1043–1060.
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
Dann geschah einmal ein furchtbarer Frevel. Die Menschen, einst Heroen, wie Tantalos, verloren ihren Rang als Gottesfreunde und wurden mehr oder weniger zu Gottesfeinden 30 . Damit endete das Goldene Zeitalter, und der Weg zur jetzigen Welt mit ihrem Kreislauf von Leben und Tod war eröffnet. Das Buch Genesis, das unter anderem das zunächst glückliche Zusammensein von Gott und Mensch beschreibt, verwendet dafür nicht das Bild des Mahles. Hier ist es vielmehr die Gemeinschaft mit Gott im Garten Eden. Aber auch hier beendet ein menschlicher Frevel diesen glücklichen Anfangsund Urzustand 31. In der christlichen Eschatologie begegnet dann erneut die Mahlgemeinschaft von Gottheit und Mensch: Jesus spricht in Gleichnisworten vom himmlischen Mahl der Erwählten und deutet damit das dereinstige jenseitige Leben der erlösten Menschen an, also die wiedergewonnene Einheit von Gott und Mensch 32 .
4. Opfer und Mahl Mit dem Thema des gemeinschaftsbezogenen, Gemeinschaft schaffenden und Gemeinschaft stärkenden Kultmahles stehen wir sachlich in engster Beziehung zum Opfer; gehört ja das Mahl zum Opfer und dies sowohl inhaltlich als auch zeitlich. Über den ursprünglichen Sinn des Opfers ist in diesem Zusammenhang nur so viel zu bemerken, dass es als Tötungsritual und als rituelles Mahl, das das Leben absichert, den Wechsel von Leben und Tod verdichtet abbildet und diesen Wandel nicht nur spiegelt, sondern ihn auch zu stärken versucht: Durch das Opfer und das Opfermahl glaubte man vor und neben aller Versöhnung göttlicher und dämonischer Mächte sowie Geister oder Ahnen das Rad von Geburt und Tod, von Werden und Vergehen in Schwung halten zu können 33 . Insofern ist das Opferritual zunächst mehr magisches 30 W. Speyer, Art. Gottesfeind: RAC 11 (1981) 996–1043. – Anders akzentuiert J. W. Goethe, ‚Lied der Parzen‘ das Geschehnis (V. 9–21): „Auf Klippen und Wolken / sind Stühle bereitet / um goldene Tische. / Erhebt ein Zwist sich, / so stürzen die Gäste / geschmäht und geschändet / in nächtliche Tiefen, / und harren vergebens, / im Finstern gebunden, / gerechten Gerichtes. / Sie aber, sie bleiben / in ewigen Festen / an goldenen Tischen . . .“ 31 Gen. 3,1–7; vgl. C. Westermann, Genesis 1. Teilband = Biblischer Kommentar Altes Testament 1,1 (Neukirchen-Vluyn 1974) 321–343. 32 Mt. 8,11 par.; 22,1–14 par.; 26,29; Lc. 14,15; Apc. 19,9; vgl. J. Behm, Art. deKpnon: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 2 (1935) 34 f.; ebd. 35 zu den vergleichbaren alttestamentlichen Vorstellungen der Propheten, bes. Jes. 25,6; Lumpe a.O. (o. Anm. 20) 627 f. 634: dort als Bildersprache gewertet. – Dante hat diese Vorstellung aufgenommen (Paradiso 24,1–9). – Jesus verwendet diese Vorstellung vom Himmelsmahl aber auch für sich selber: Mc. 14,25 par. Lc. 22,18; Klauck a.O. (o. Anm. 2) 320–322; ferner s. u. Anm. 39. 33 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Un-
4. Opfer und Mahl
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opus operatum als ein religiöses, d. h. an Götter gerichteter Ritus. In den erhaltenen Zeugnissen der Hochkulturen begegnen Opfer und Opfermahl meistens in einem rein religiösen Zusammenhang. Die hier angerufenen geheimen Mächte, also Götter, Dämonen/Geister oder Ahnen, erscheinen als die Garanten des Lebens und Heiles und zugleich auch als die Herren des Todes und des Unheils. Durch Opfer und Mahl versuchten die Menschen die geheimnisvollen Mächte über Leben und Tod für sich zu gewinnen, sie gnädig zu stimmen, d. h. ihren Lebens-, Heils- und Segenspol im Sinne des Opfernden und des Mahlhaltenden zu beeinflussen; denn dies ist der Hauptsinn und die Hauptabsicht des meisten menschlichen Tuns und Treibens: Leben zu erhalten und Leben zu gewinnen, Leben zu steigern und damit den eigenen Tod, wenn ihn auch nicht zu überwinden, so ihn doch wenigstens zeitlich hinauszuschieben und ihn so zu verdrängen. Seit den homerischen Gedichten, den für uns ältesten literarischen Zeugnissen der Griechen, enthalten die Bezeichnungen für Schlachten und Geschlachtetes sowie für denjenigen, der schlachtet, die Wurzel ‚hier-‘ die soviel wie ,heiligen‘, tabuieren, d. h. der dämonisch/göttlichen Macht überantworten, bedeutet 34 . Mit Recht bemerkt F. Pfister: „Ursprünglich wird also jedes Schlachten von Vieh eine nach besonderen rituellen Vorschriften . . . geübte Handlung und das Essen des Fleisches ein sakramentaler Akt gewesen sein“35 . Dass das Opfertier, von dem im Anschluss an das Opfer gegessen wurde, den Göttern, die als die Herren der Tiere galten, überantwortet war und somit innerhalb der Sphäre des Göttlichen stand, ergibt sich auch daraus, dass aus seinen Eingeweiden der Willen der Götter erkundet wurde36 . Ferner hießen die Opfermahlzeiten ‚Anteil der Götter‘, da die Götter einen Teil des Getöteten erhielten 37. Die in der Frühzeit mit dem Töten verbundene Ekstase, der Blutrausch, brachte den Tötenden und Opfernden an die Grenze seiner selbst. Dabei glaubte er, die dämonisch / göttliche Macht über Leben und Tod unmittelbar zu erleben. Je religiös differenzierter die Opfer- und Mahlgemeinschaft war, um so konkret-individueller glaubten die am Mahl Teilnehmenden die göttliche Macht zu erleben, womöglich sie zu sehen. Voraus ging einem derartigen
tersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 15–49: „Töten als Ritus des Lebens. Zum Sinn des Opfers“. – Zum Opfermahl F. Eckstein, Art. Mahl, Mahlzeit: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 5 (1932/33, Ndr. 1986) 1490–1507, bes. 1491 f.; Klauck a.O. (o. Anm. 2) Reg.: Mahl – Opfermahl. 34 Vgl. Jer1, JereKon, Jere6ein, Jere6: u. a.; P. Stengel, Opferbräuche der Griechen (Leipzig, Berlin 1910, Ndr. Darmstadt 1972) Reg. s.v. 35 Art. Kultus: Pauly/Wissowa (RE) 11,2 (1922) 2106–2192, bes. 2171–2174. 36 J. ter Vrugt-Lentz, Art. Haruspex: RAC 13 (1986) 651–662. 37 Od. 3,336. 420; 8,76; s. o. Anm. 23.
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
Erleben oftmals der religiöse Anruf der übermenschlichen Mächte, zunächst als bloßer unartikulierter Schrei, wie die griechische Ololyge beim Tötungsritual 38 , dann geistiger als sprachlich gestalteter Ruf an die Gottheit, auf die Anrufenden zu achten, zu hören und zu sehen und auch in ihre Mitte zu kommen, also zu erscheinen 39. Möglicherweise spiegelt sich in dieser Abfolge von unartikuliertem Schrei zum sprachlich gestalteten Götteranruf eine religionsgeschichtliche Abfolge vom mehr magisch bestimmten zum religiösen Ritual. Jedenfalls zeigt auch noch der religiöse Anruf, die Epiklese, die hochgespannte Seelenlage der am Opfer, d. h. am rituellen Töten, Beteiligten. Gerade Gottheiten, die wie Dionysos den Aspekt der Zerstörung aufweisen und ausprägen – die Titanen hatten Dionysos Zagreus zerrissen und gegessen –, hielt man beim Opfer für anwesend40 . Eine andere Ausprägung des mythischen Bewusstseins und Vorstellens war der Glaube, dass die dämonisch/göttliche Macht nicht nur beim Tötungsritual und dem anschließenden Mahl erscheine, sondern unmittelbar im Getöteten selbst anwesend sei. Der Mensch nehme sie als erhaltende und lebenstiftende Kraft durch Essen und Trinken in sich auf. Die rauschhafte Zustände verursachenden Getränke, wie vor allem Blut, Honigmet und Wein, werden zu diesem Glauben wesentlich beigetragen haben41. So konnte das rituelle Mahl auch zu einem Essen und Trinken der Gottheit werden42 . Wie die griechischen Mysterien der geschichtlichen Zeit ältere urtümlichere Rituale und ältere religiöse Vorstellungen von einer gewandelten differenzierteren Bewusstseinsstufe aus verarbeitet haben, so vor allem auch die Opferrituale der vor- und frühgeschichtlichen Epoche. In Griechenland nahm die Profanierung aller Lebensbereiche in dem Maße zu, wie das zum Rationalismus tendierende Denken das mythisch-dichterische und das ganzheitlichreligiös-philosophische Denken verdrängte 43 . Die Mysterien der geschicht38 Zur Ololyge Stengel a.O. (o. Anm. 34) Reg. s.v. Vlol6zein; Burkert a.O. (o. Anm. 15) Reg. s.v. 39 J. Laager, Art. Epiklesis: RAC 5 (1962) 577 f.; E. Pax, Art. Epiphanie: RAC 5 (1962) 832–909, bes. 840–842: ‚Kultische Epiphanie‘, geht zu wenig auf das Kultmahl ein; ferner vgl. J. Pascher, Der Königsweg zu Wiedergeburt und Vergottung bei Philon v. Alexandreia = Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums 17, 3/4 (Paderborn 1931) 184–191: ‚Die Gottesschau als Mysterienmahl‘. 40 W. Fauth, Art. Zagreus: Pauly/Wissowa (RE) 9 A,2 (1967) 2221–2283. 41 S. o. Anm. 19. 42 A. Dieterich, Eine Mithrasliturgie, 3. erweiterte Aufl age von O. Weinreich (Leipzig, Berlin 1923, Ndr. Stuttgart 1966) 100–108. 241 f.; Pfister a.O. (o. Anm. 35) 2171–2174; Lumpe a.O. (o. Anm. 20) 620 f.; A. Henrichs, Die Phoinikika des Lollianos. Fragmente eines neuen griechischen Romans = Papyrologische Texte und Abhandlungen 14 (Bonn 1972) 68 f.; Klauck a.O. (o. Anm. 2) Reg.: Theophagie. 43 Der geistige Strom, der diese ganzheitliche Sicht auch im Zeitalter der Begriffl ichkeit und des diskursiven Denkens gegenüber einer rein rationalistischen Betrachtungsweise der Welt und des Menschen festzuhalten versuchte, ist gekennzeichnet durch Namen, wie Pla-
4. Opfer und Mahl
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lichen Zeit Griechenlands mit ihren Kultmählern waren Versuche der von Sophistik, profaner Philosophie und Geschichtsschreibung abgedrängten und bedrängten religiös geprägten Geistigkeit wieder aufzuhelfen44 . In der geschichtlichen Zeit Griechenlands verwies noch lange die Bekränzung der Teilnehmer des Mahles auf den ursprünglich kultischen Charakter ebenso wie die zunächst an die Götter, vornehmlich an Zeus, gerichteten Gebetsworte in geformter Rede 45 . Noch in einer sich seit dem späten 5. Jahrhundert v. Chr. nach und nach profanierenden Kultur, die allmählich zu einer reinen Zivilisation hin tendierte, erinnerten Kranz, Hymnus und die beim Mahl vollzogenen Trankspenden die Mahlteilnehmer an die unverfügbaren Mächte des Lebens und des Todes, denen es sich unterzuordnen und denen es zu danken galt 46 . Insofern blieb der ursprüngliche sakrale und rituelle Charakter des Mahles bis in die heidnische Spätantike lebendig. Gesteigert war dieser Kultcharakter des Mahles in der Antike überall dort vorhanden, wo das Mahl ausdrücklich die Toten, also vor allem die toten Ahnen, mit einbezog. Dies gilt vor allem für die Mähler bei den Totengedächtnisfeiern47. Selbst bei den Christen starb dieses antike Ritual in veränderter und angepasster Form nicht sofort aus; hielten doch auch Christen in den ersten Jahrhunderten an den Gräbern ihrer Verstorbenen, den Hypogäen und Kata-
ton und seine Schule, soweit sie in dieser Hinsicht ihm zu folgen wusste, bis zu Hamann, Novalis und Goethe. Letzterer schreibt in seinen Briefen aus Italien (Neapel, 17. Mai 1787): „Nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe [d. h. aus dem mythischen oder magischreligiösen Erleben, Vorstellen und Denken], man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle gar wohl wieder begegnen könnten.“ Hier denkt Goethe an ein ganzheitliches Auffassen und Denken der Wirklichkeit mit Einschluss des Menschen. Rationalität verbunden mit Suprarationalität bestimmen gleichermaßen den Makrokosmos Welt und den Mikrokosmos Mensch. Argumentatives diskursives Denken und Erahnen, ‚Ahndung‘, gehören zusammen. Weshalb diese ganzheitliche Weise des Erkennens in der europäischen Geistesgeschichte der rationalistischen Sicht unterlegen ist, dürfte darin liegen, dass diese beabsichtigt und auch weithin dazu imstande ist, die Wirklichkeit den vordergründigen Absichten und Zwecken des Menschen zu unterwerfen – die Natur als ausbeutbares Objekt –, jene hingegen nicht; denn sie will weniger die Welt beherrschen, als sie staunend bewundern und verehren. 44 Zum sakralen Mahl in den Mithrasmysterien und anderen Mysterien Dieterich a.O. (o. Anm. 42) 101–106; R. Merkelbach, Mithras (Königstein, Ts. 1984) 132 f. 134. 198 und vor allem Klauck a.O. (o. Anm. 2) 31–166. 45 L. Deubner, Kleine Schriften zur Altertumskunde = Beiträge zur Klassischen Philologie 140 (Königstein, Ts. 1982) 415 f.; M. Blech, Studien zum Kranz bei den Griechen = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 38 (Berlin, New York 1982) 63–74. 46 K. Hanell, Art. Trankopfer: Pauly/Wissowa (RE) 6 A,2 (1937) 2131–2137. – Von mensae sacra spricht noch Valerius Maximus 9,2,2. 47 Th. Klauser, Die cathedra im Totenkult der heidnischen und christlichen Antike = Liturgiewissen-schaftliche Quellen und Forschungen 21 2 (Münster, W. 1971) Reg. Totenmahl (heidnisch); Klauck a.O. (o. Anm. 2) Reg.: Mahl – Totenmahl.
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
komben, Mähler ab48 . In diesen Fällen empfi ngen die Toten entsprechend zu den überirdischen und unterirdischen Gottheiten einen Kult und erschienen den Heiden geradezu als vergöttlicht 49. Für das Überleben der Nachkommen war an ihrem Segen, der sich vor allem in der Fruchtbarkeit von Acker und Vieh erwies, alles gelegen 50 . Nicht nur das besondere Mahl für einen oder viele Toten, sondern jedes Mahl wies seit der Urzeit über den Kreis der unmittelbar an ihm Beteiligten und über die profane Sphäre hinaus. Im Mahl als einem täglich zu begehenden religiösen Ritual ereignete sich die Koinzidenz, der Zusammenfall, der drei Zeitstufen: Die Toten erschienen als anwesend. Als gegenwärtige Vergangene sicherten sie ihren Angehörigen den Segen für das jeweilige Jetzt und für die Zukunft. In dieser Verlängerung der flüchtigen Gegenwart über diese hinaus in die Vergangenheit und die Zukunft lag eine Kraft, die alle am Mahl Beteiligten erfüllte und stärkte. Das Essen des Menschen unterscheidet sich von der tierischen Nahrungsaufnahme neben einer ästhetisch bestimmten Esskultur wesentlich durch diese religiöse Dimension. So verfügten das frühe antike Mahl und das Mahl in den Mysterien über eine Dimension der Tiefe, die auf die letzten Grundlagen von Welt und Mensch hindeutet. So wie der geschlechtliche Akt von Frau und Mann auf der Stufe der frühen Ackerbaukultur ein religiöses Ritual war, das die in Fruchtbarkeit endende Begegnung von Erdgöttin und Himmelsgott nachahmte sowie gegenwärtig setzte und zugleich auch die gegenseitige Gemeinschaft stärkte51, war auch jedes Mahl zum einen Gemeinschaft der Tötenden und Opfernden, die beim Mahl sich gegenseitig spürten und erlebten, zum anderen Verbindung mit der göttlichen Macht, die ihnen die Speise geschenkt hatte und in ihr erscheinen konnte. Insofern erlebten die Mahlteilnehmer die vertikale oder heilige Dimension ebenso wie die horizontale oder profane der Verbundenheit der Menschen untereinander. Im rituellen Mahl und dem ihm eng verwandten Mysterienmahl erkennen wir einen wesentlichen Teil des magisch-religiösen Wurzelgrundes, aus dem in mannigfachen Wandlungen unsere späte, sich seit der Neuzeit mehr und mehr profanierende europäische Kultur hervorgegangen ist.
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Klauser a.O. Reg. Totenmahl (christlich). In Rom sind es die Di Manes; W. F. Otto, Die Manen oder von den Urformen des Totenglaubens (Darmstadt 1962). 50 Der Totenkult erhielt auf der Stufe der Ackerbaukultur wohl noch eine Aufwertung. 51 Speyer, Frühes Christentum 1 a.O. (o. Anm. 18) 240–244. 49
5. Ausblick auf das liturgische Mahl der Christen
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5. Ausblick auf das liturgische Mahl der Christen Das antike Mahl als Opfermahl und als Mysterienmahl lebt im Messopfer mit Kommunion in abgewandelter Weise bis heute weiter52 . In der heiligen Messe der Katholischen Kirche sowie der Eucharistiefeier der Orthodoxie und in der Abendmahlsfeier der Evangelischen Kirche geht es entsprechend zu Jesu Letztem Abendmahl um das Geheimnis von Leben und Tod, das nunmehr zentriert ist auf den ‚Gottes- und Menschensohn‘ Jesus Christus. Dies kann hier nur angedeutet werden. Der Grund und die Tiefe des antiken Opfermahls lassen sich aber auch hier unschwer wiedererkennen. So beherrscht der Gedanke des Opfers und der Versöhnung in verschiedener Dichte das antike und das christliche Mahlritual. Im Mittelpunkt stehen jeweils Tod und Leben, wobei im antiken Ritual der immerwährende Kreislauf von Leben und Tod als beherrschend erscheint, während beim Letzten Abendmahl und seiner Vergegenwärtigung im Messopfer das einmalige umschaffende Wirken des geschichtlich/übergeschichtlichen Jesus Christus erkennbar ist, der zugleich der geschichtliche von Juden und Römern Verworfene und Gekreuzigte und der übergeschichtliche zum ewigen Leben Auferstandene ist, der allen Menschen Heil und Erlösung bringt. Der Kreis des Jahres, des liturgischen Jahres, zeigt die einzelnen Stationen des Lebens Jesu Christi in der Abfolge von Geburt, Weihnachten, bis zu Tod und Auferstehung, Gründonnerstag, Karfreitag und Ostern, wobei die beiden Mahlfeste, Gründonnerstag und Fronleichnam, an das Mahlopfer Jesu beim Letzten Abendmahl erinnern. Indem der Christ Jesus Christus im eucharistischen Mahl, der Kommunion der Hl. Messe, einem wesentlichen Teil des in der Messe gefeierten Kreuzesopfers, bzw. im ‚Abendmahle‘ begegnet, verbindet er sich zugleich mit dem Gekreuzigten und dem Auferstandenen, dem geschichtlich getöteten und toten Jesus und dem ewig lebenden Christus. Dabei besitzt die von Jesus Christus gebrachte neue Form des Lebens in der Gestalt der Auferstehung eine neue Seinsqualität: Sein neues Leben hat jetzt nichts mehr gemeinsam mit dem vom Tod gezeichneten und mit Tod gemischten Leben des früheren Menschen Jesus, mag er auch als der Auferstandene die Wundmale weiter tragen, wie dies das Johannesevangelium beschreibt 53 . 52 Dieterich a.O. (o. Anm. 42) 106–108; vgl. C. Colpe, Mysterienkult und Liturgie. Zum Vergleich heidnischer Rituale und christlicher Sakramente: C. Colpe / L. Honnefelder / M. L. Bachmann (Hrsg.), Spätantike und Christentum (Berlin 1992) 203–228; L. Wehr, Arznei der Unsterblichkeit. Die Eucharistie bei Ignatius von Antiochien und im Johannesevangelium = Neutestamentliche Abhandlungen N. F. 18 (Münster, W. 1987) und o. Anm. 42; zum Letzten Abendmahl Jesu sichtend und zusammenfassend Klauck a.O. (o. Anm. 2) 234–364; ferner X. Léon-Dufour, Art. Abendmahl, Letztes: Lexikon f. Theol. u. Kirche 13 (1993) 30–34. 53 Anders Lc. 24,13–35: Geschichte der Emmaus-Jünger. Diese erkennen Jesus am Brotbrechen.
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8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum
Im Tötungsritual und im Opfermahl ereignet sich so der Chiasmus, der von Leben zum Tod führt und wieder vom Tod zum Leben. Nach der ursprünglichen Erfahrung der Menschheit, die auch die antike war, ist dies ein immerwährender Wechsel, ein immerwährendes Kreisen, das dem immerwährenden göttlichen Kosmos als dem alles umfassenden göttlichen Uroboros entspricht. Gemäß dem christlichen Glauben hingegen wird dies infolge des Christusereignisses am Ende der Zeiten zu einer einmaligen Wandlung. Der Weg führt hier von dem gemischten Zustand eines Ineinanders von Tod und Leben der raum-zeitlichen irdischen Wirklichkeit zum eindeutigen Leben der himmlischen Welt ohne Tod und frei von Tod. Diese himmlische Welt ist nach christlichem Glauben bereits als der Beginn der Königsherrschaft Gottes, des Reiches der Himmel oder Gottes, in Jesus Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen ‚Sohn‘ des Schöpfergottes, sichtbar und erfahrbar geworden. In keiner Kultur der Erde hat sich ein Wandel von einer religiös geprägten Weltinterpretation auf der Grundlage der Erfahrung des Heiligen zu einer ausschließlich rein profanen und rationalistischen Weltdeutung vollzogen wie dies in dem von Antike und Christentum geprägten Europa seit der Renaissance geschehen ist. Auf diesen Wandel weist neben manchem anderen die Ablösung von dem einstmals die gesamten Früh- und Hochkulturen des Mittelmeerraumes mit Einschluss des Judentums und spiritualisiert auch des Christentums bestimmenden rituellen Mahl, dem Versöhnungs-, Opfer- und Kultmahl, zum rein profanen Mahl unserer Gegenwart hin.
9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum 1. Einleitung Das aus dem Lateinischen entlehnte deutsche Wort ‚Inzest‘ bezeichnet wie das deutsche Wort ‚Blutschande‘ mit sittlicher Abwertung die fallweise oder institutionelle, also eheliche, geschlechtliche Verbindung von Mutter und Sohn oder Vater und Tochter oder Bruder und Schwester und erweist damit seine Abhängigkeit vom römischen Kanon moralischer Wertvorstellungen. Die römische Bewertung stimmt ganz mit den jüdischen und christlichen Überzeugungen überein1. Im Griechischen fehlt für den Inzest bezeichnenderweise ein spezifischer Begriff 2 . Hier reichen wie in den Kulturen des Vorderen Orients archaische Riten des Inzests und daraus abgeleitete Sitten noch in die helle geschichtliche Zeit hinein. Die Römer haben mehr als die Griechen und orientalische Völker Ehen unter nahen und selbst unter entfernten Blutsverwandten gemieden. Für sie galt eine derartige Verbindung als der menschlichen Natur nicht entsprechend. Wahrscheinlich gehört die Scheu vor der geschlechtlichen Verbindung mit nahen Blutsverwandten, das sogenannte Inzesttabu, tatsächlich zur sittlichen Ausstattung des Menschen 3 . Sachlich ist in der Antike zu unterscheiden zwischen einem Inzest infolge einer irrationalen Liebesleidenschaft, wie ihn seit Euripides antike Dichter immer wieder beschrieben und gestaltet haben4 , und einem Inzest aufgrund eines bestimmten magisch-religiösen Weltbildes und seiner Rituale. Zu dieser Form der Blutschande, um vom heutigen sittlichen und rechtlichen Blickpunkt aus zu sprechen, mögen neben magisch-religiösen in zweiter Linie auch pro1 S. Riccobono (Hrsg.), Mosaicarum et Romanarum legum collatio: Font. Iur. Rom. Anteiust. 2 2 (Firenze 1968) 557–561: De incestis nuptiis. 2 Aristoph. ran. 850 spricht von g1mo: 'an5sio:; vgl. Suda s. v. miaigam4ai (3,393 Adler). 3 B. Z. Seligmann, The incest tabu as a social regulation: Sociological Review 27 (1935) 75–93; N. Sidler, Zur Universalität des Inzesttabu (Stuttgart 1971) 1–63; C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, deutsche Ausgabe 2 (Frankfurt, M. 1984) 57–74 und Reg.: Inzest; A. Maurer, Art. Inzest: Lex. f. Theol. u. Kirche 5 3(1996) 576 f.; s. u. Anm. 14; vgl. aber auch C. G. Jung, Symbole der Wandlung = Ges. Schriften 5 3(Olten 1977) Reg.: Inzest und u. Anm. 19. 4 F. Wehrli, Oidipus: Mus. Helv. 14 (1957) 108–117, bes. 116 f.; für die spätantike Dichtung zeugt noch Drac. Romul. 2,36–44: Eros als Versucher.
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9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum
fane Gründe beigetragen haben. Vor allem war es der Wunsch, die Auserwähltheit der Familie zu betonen und damit die Macht in der eigenen Familie zu erhalten, wobei diese Macht sowohl als Mana oder Dynamis im okkultmagischen Sinn als auch als politische, ökonomische und geistige Macht zu verstehen ist 5 .
2. Das genealogisch bestimmte Weltbild und der magisch-religiöse Inzest Voraussetzungen und Gründe für den magisch-religiösen Inzest liegen in Vorstellungen eines vorwissenschaftlichen, myth-historisch geprägten und genealogisch bestimmten Weltbildes magisch-religiöser Prägung. Die voneinander getrennten und doch in einem einzigen Lebenszusammenhang stehenden vielen Erscheinungen des Wirklichkeitsganzen wurden als göttlich erlebt und auf einen einzigen göttlichen Anfang, den Ursprung von allem, zurückgeführt. Dabei ist die zeitlich-geschichtliche Abfolge als ein Zeugen und Gebären von Generationen sich differenzierender göttlicher Mächte aufgefasst. Die Denkform der Genealogie kann als einer der frühesten Versuche gelten, die Welt zu ordnen und als einen raum-zeitlichen Kosmos zu begreifen, als einen Kosmos, der einen Stammbaum besitzt6 . In genealogischen Mythen über den Ursprung der Welt kommt dem Inzest innerhalb der Abfolge der frühesten Generationen der göttlichen Mächte entscheidende Bedeutung für das Werden der Welterscheinungen zu, so in den antiken Kosmo- und Theogonien und in den mit ihnen verknüpften Überlegungen über die ersten göttlichen Mächte. Die göttlichen Urpotenzen, die die antiken Mythologen als Welteltern und ihre Kinder gedacht haben, wirken, sobald sie aus der anfänglichen doppelgeschlechtlichen Urgottheit als bestimmte männliche oder weibliche Gottheiten hervorgegangen sind, ganz nach Menschenart, nämlich als zeugende und empfangend/gebärende Wesen. Die ältesten Götter gingen nach diesem Denken als Mutter und Sohn, als Bruder und Schwester, als Vater und Tochter geschlechtliche Verbindungen ein, um wieder neue göttliche Kinder, das sind neu entstehende Bereiche der Weltwirklichkeit, zu zeugen und zu gebären7. Einen derartigen kosmisch-göttlich 5 E. Fascher, Art. Dynamis: RAC 4 (1959) 415–458. – Auf den erbrechtlichen Gesichtspunkt weist noch die pelagianische Epistola de castitate 4,12 hin (PL Suppl. 1,1472); für Ägypten Sidler a.O. 75–80; anders H. Thierfelder, Die Geschwisterehe im hellenistischrömischen Ägypten = Fontes et Commentationes 1 (Münster, W. 1960) 8. 93 f. 6 W. Speyer, Art. Genealogie: RAC 9 (1976) 1145–1268, bes. 1146–1148, 1165 f. 7 W. Staudacher, Die Trennung von Himmel und Erde. Ein vorgriechischer Schöpfungsmythos bei Hesiod und den Orphikern (Tübingen 1942, Ndr. Darmstadt 1968); H. Schwabl, Art. Weltschöpfung: RE Suppl.-Bd. 9 (1962) 1433–1582, bes. 1468–1474. 1508–
2. Das genealogisch bestimmte Weltbild und der magisch-religiöse Inzest
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begründeten Inzest nahmen antike Mythographen nicht zuletzt auch für die göttlich verehrten Himmelslichter, Sonne und Mond, an. In einzelnen Religionen hielt man Sonne und Mond für ein göttliches Geschwisterpaar, das jeweils zu einer bestimmten Zeit miteinander eine heilige Hochzeit feiert 8 . Nach diesem einmal weiter verbreiteten Weltbild gehört die geschlechtliche Verbindung dieses göttlichen Geschwisterpaares zu den Bedingungen, die die gegenwärtige Weltwirklichkeit in ihrer Ordnung und ihrem Bestand garantieren. Damit konnte dieses Verhalten der Götter beispielgebend vor allem für die Repräsentanten und Stellvertreter der Götter auf Erden, die Könige und ihre Gemahlinnen, werden. Da die polytheistischen Religionen oft die Stammväter der Stämme, der Völker und damit auch der Könige von einer Gottheit herleiteten, haben Könige des Altertums ihren Stammbaum nicht selten auf den höchsten Gott, den Herrn des Himmels oder den Sonnengott, zurückgeführt, der wie der Zeus der Griechen oder der Sonnengott der Inka im Inzest mit seiner Schwester lebte. Einzelne Könige des Altertums, die nach unserer Anschauung in Blutschande mit ihrer Schwester standen, dürften den Vollzug ihrer Ehe vielmehr als einen magisch-religiösen Ritus, eben als die Wiederholung der heiligen Hochzeit ihres göttlichen Ahnherrn mit seiner göttlichen Schwester, verstanden und damit als in der kosmischen Ordnung begründet angesehen haben. Auf diese Weise konnte die Geschwisterehe sogar zu einem königlichen Vorrecht werden. So entspricht bei den Königen der Inka die Geschwisterehe deutlich der angenommenen Ehe von Sonne und Mond9. Aber auch der Mutter-Sohn-Inzest dürfte aus vergleichbaren mythischen Voraussetzungen entstanden sein. Er sollte wohl rituell den Hieros Gamos der weiblichen Allgöttin und Allmutter Erde wiederholen, den diese mit ihrem Sohn, dem Himmelsgott, vollzieht10 . Auch die Muttergöttin des Vorderen Orients, die ‚Große Mutter‘, die als eine Form der Allgottheit eng mit der Erdgöttin verwandt ist, feiert mit ihrem Parhedros, der im Zusammenhang agrarischer Fruchtbarkeitsriten als ihr Sohn galt, die Heilige Hochzeit, also jenen Ritus, der das Heil und Leben der Ackerbauern garantierte11. 1510; H. Baumann, Das doppelte Geschlecht. Ethnologische Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythos 2 (Berlin 1980), Reg. ‚Welteltern‘. 8 Hes. theog. 371–374; R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt 1/2 (München 1910, Ndr. Hildesheim, Zürich, New York 2002) Reg.: Jer0: g1mo: von Sonne und Mond; J. Schwabe, Archetyp und Tierkreis. Grundlinien einer kosmischen Symbolik und Mythologie (Basel 1951) Reg.: Inzest. 9 Auf diesem Hintergrund wird vielleicht auch die Titulatur der Sasanidenherrscher besser verstehbar; s. u. Anm. 70. 10 Hes. theog. 126–128; vgl. aber W. Pötscher, Hellas und Rom = Collectanea 21 (Hildesheim, New York 1988) 244 f. 11 Schol. Lucian. Iov. trag. 8; Baumann a.O. (o. Anm. 7) 76 Anm. 115; vgl. den Mythos vom Hermaphroditen Agdistis, von Kybele und Attis; dazu H. Hepding, Attis, seine My-
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9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum
Aufgrund dieser Erfahrungs- und Vorstellungsinhalte bleibt diese in alten pflanzerischen Kulturen erkennbare Form eines mythisch und magisch-religiös begründeten, erlebten und sodann rituell vollzogenen Inzestes, der kosmos- und segenschaffende Wirkung besitzen sollte, einer sittlichen Beurteilung nach heutigen Vorstellungen entzogen; denn diese Beurteilung gehört einem andersartigen, rational differenzierten Welterfahren und Weltverstehen an. Die damit in vorgeschichtliche, mythische oder myth-historische Zeit zurückgehenden rituellen Formen des Schwester-Bruder-, des Vater-Tochterund des Mutter-Sohn-Inzestes sind in der geschichtlichen Epoche in Kleinasien und im Iran mit Ausstrahlung nach Makedonien, Syrien und Ägypten noch gut erkennbar12 . In der hellenistischen Epoche waren diese Formen einer geschlechtlichen Verbindung vor allem in den Herrscherhäusern der genannten Länder verbreitet. Wahrscheinlich sind diese Formen zunächst punktuell als Riten in einem Herrscherhaus aufgetreten, wurden dann institutionalisiert und drangen daraufhin vom Herrscherhaus in die Oberschicht und mitunter, wie dies für den Iran und Ägypten bezeugt ist, bis in das Volk13 . In derartigen Fällen war das frühe Welterleben, aus dem sich der religiöse Inzest allmählich gleichsam als Sitte herleitete, stärker als das möglicherweise angeborene Inzesttabu14 . Zur Religion der Pflanzervölker gehörten auch die von ihnen begangenen Feste bei Aussaat und Ernte. Oft beendeten Orgien mit Promiskuität und dadurch nicht ausgeschlossenem Inzest diese von Ausgelassenheit und Entgrenzung bestimmten Feste. Ein magisch-rituelles Gegenwärtigsetzen einer geglaubten paradiesischen Urzeit ohne jede Grenze sexuellen Verhaltens bestimmte diese die Formen gewöhnlichen Verhaltens sprengenden Feste15 .
then und sein Kult = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 1 (Gießen 1903, Ndr. Berlin 1967) 98–122, bes. 104 f. Anm. 7; 121; H. Kenner, Das Phänomen der verkehrten Welt in der griechisch-römischen Antike = Aus Forschung und Kunst 8 (Klagenfurt 1970) 153–158. Baumann a.O. 253 weist auf das Einflussgebiet dieses mythisch begründeten Mutter-Sohn-Inzestes bis Polynesien hin. Ferner vgl. Pötscher a.O. 250–260. 12 Zu Indien H. Güntert, Der arische Weltkönig und Heiland. Bedeutungsgeschichtliche Untersuchungen zur indo-iranischen Religionsgeschichte und Altertumskunde (Halle, S. 1923, Ndr. Tübingen 1977) Reg.: ‚Inzest‘; J. Deppert, Rudras Geburt. Systematische Untersuchungen zum Inzest in der Mythologie der Brahmanas = Beiträge zur Südasienforschung 28 (Wiesbaden 1977) 81–92: ‚Der heilige Inzest‘. 13 S. u. S. 145–147. 14 Auch höhere Tiere sollen das Inzesttabu kennen, wie Aristoteles, hist. an. 9,47 (630 b31–631 a1) von einem Kamel berichtet (vgl. Ael. nat. an. 3,47); s. o. Anm. 3. 15 Strab. 11,8,5,512; M-P. Nilsson, Art. Saturnalia: RE 2A,1 (1921) 201–211, bes. 208 f.; Kenner a.O. (o. Anm. 11) 82–95; M. Eliade, Yoga = Suhrkamp Taschenb. 1127 (Frankfurt, M. 1985) 307. 435 f.; Ch. Auffahrt, Der drohende Untergang. ‚Schöpfung‘ in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland = Religionsgesch. Versuche und Vorarbeiten 39 (Berlin, New York 1991) 1–37.
3. Die antiken Quellen und ihr Aussagewert
141
Wie bei derartigen Ackerbaufesten konnte ein gleichsam ritueller Inzest auch in Krisen und in anderen Ausnahmezeiten vorkommen, so, wenn das Heil der archaischen Gemeinschaft auf dem Spiele stand. Dazu gehörte auch der als Krise erlebte Wechsel des Jahres. Das Neujahrsfest ist bis in die Gegenwart mit Ausschweifungen verbunden. In den genannten Fällen diente der Inzest oft im Gefolge allgemeiner geschlechtlicher Promiskuität dazu, die Mächte des Bösen und des Grauens, also die Mächte des Irrational-Chaotischen, zu bannen und die Kräfte des Kosmos und des Lebens zu stärken16 . Der Mutter-Sohn-Inzest dürfte gegenüber dem Vater-Tochter- und dem Geschwister-Inzest einen besonderen Typus bilden, wie auch die Tiefenpsychologie seit S. Freuds Entdeckung des Ödipuskomplexes und seit O. Rank annimmt17. Auf den Mutter-Sohn-Inzest weisen auch jene antiken Zeugnisse hin, die von Träumen sprechen, in denen Söhne mit ihrer Mutter geschlechtlichen Umgang gehabt haben. Die antiken Zeugnisse hierfür reichen von Herodot bis in die christliche Zeit18 . Wenn Alchemisten der Neuzeit vom Mutter-Sohn- und vom GeschwisterInzest innerhalb ihrer zentralen Lehren sprechen, so gehen sie auf antike Wurzeln zurück. C. G. Jung beschreibt die Bedeutung ihrer Lehren für die Selbstwerdung der Seele und kann so sogar vom Archetypus des Inzestes sprechen19.
3. Die antiken Quellen und ihr Aussagewert Eine Spezialschrift über den Inzest scheint es im Altertum nicht gegeben zu haben. Bei Hyginus erscheint ‚Inzest‘ neben anderen seelischen Gestimmtheiten und Lastern als eine dämonische Macht, entstanden aus dem Aether und der Erde, also den einander extrem gegenüberstehenden und deshalb schwer vermittelbaren ‚Elementen‘20 . Auch zählt Hyginus von Iokaste bis zur Arkadierin Bliade jene Frauen auf, die aufgrund der Mythen- und Sagenüberlieferung gegen das göttliche Recht Inzest geübt haben 21. Die in diesem Kata-
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Baumann a.O. (o. Anm. 7) 47 f. O. Rank, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens 2 (Leipzig, Wien 1926). 18 Hauptstelle ist Artemid. 1,79 (91–95 Pack); vgl. Herodot 6,107,1; Soph. Oed. 981 f.; Plat. rep. 9,571c/d (vgl. Cic. div. 1,60 Pease); Paus. 4,26,3; Plut. vit. Caes. 32 (vgl. Suet. vit. div. Iul. 7,2); Ps. Iustin. quaest. et respons. ad orth. 21 (5,28 f. Otto). 19 Studien über alchemistische Vorstellungen = Gesammelte Werke 13 (Olten 1978) 324; vgl. ders., Psychologie und Alchemie = Gesammelte Werke 12 3(Olten 1980) Reg.: ‚Inzest‘; ders., Mysterium coniunctionis = Gesammelte Werke 14, 1/2 (Olten 1978) Reg.: ‚Inzest‘. 20 Fab. praef. 3. 21 Fab. 253. 17
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9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum
log genannten Heroinen hat er auch gesondert vorgestellt22 . Aus derartigen Mythen und Sagen schöpften die gelehrten Dichter vor allem des Hellenismus und der Kaiserzeit für ihre meist moralisch gefärbten epischen, dramatischen und lyrischen Bearbeitungen des Inzestmotivs23 . Die Besonderheit des Themas ließ es auch für die Rätselrede und das Rätsel geeignet erscheinen 24 . In den von den antiken Dichtern aufgegriffenen Sagen über den Inzest sind Erinnerungen an den ehemaligen, einem späteren Weltbild nicht mehr verständlichen mythischen oder magisch-religiösen Inzest aufgehoben; denn derartige Sagen beziehen sich oft auf Verhältnisse des Vorderen Orients, wo der mythische Inzest der Großen Göttin oder Großen Mutter immer bekannt geblieben ist. So dürfte hinter dem Mutter-Sohn-Inzest der Sage von Semiramis und Ninos die heilige Hochzeit und Ehe der Erdmutter oder der Großen Göttin erkennbar sein; denn Semiramis trägt unverkennbar die Züge der Rhea oder der Astarte/Ischtar25 . Entsprechendes dürfte auch für die Geschwisterehe gelten, wie sie in der karischen Sage von den Zwillingen Byblis und Kaunos vorliegt: In Karien ist die Geschwisterehe auch geschichtlich gesichert 26 . Der dort belegte geschichtliche Tatbestand dürfte so auf das alte mythische Vorstellungsmodell zurückweisen. Die Myrrha-Saga mit ihrem Tochter-Vater-Inzest weist nach Phönizien, wo nach Achilles Tatios der Sohn die Tochter seines Vaters heiraten konnte27. Das spätlateinische Epyllion ‚Aegritudo Perdicae‘, das den Sohn-Mutter-Inzest thematisiert, weist aufgrund des makedonischen Namens Perdikkas in den Einflussbereich der iranischen Magoi, die die geschlechtliche Liebe zu ihren Müttern pflegten 28 . So liegen überall, wo
22 Vgl. das Register der Ausgabe von P. K. Marshall (Stuttgart, Leipzig 1993) unter dem Namen der Heroinen. 23 Vgl. auch Plat. leg. 8,838b–c. – Der alexandrinische Dichter Parthenios hat für den Augusteer Cornelius Gallus Geschichten zusammengestellt, die von der Liebe zwischen Vater und Tochter, von Mutter und Sohn und von Geschwistern berichten; vgl. die kommentierte Ausgabe von J. L. Lightfoot, Parthenius of Nicaea (Oxford 1999) bes. 242–244; ferner Rank a.O. (o. Anm. 17); E. Frenzel, Motive der Weltliteratur 3(Stuttgart 1988) 399–419. 24 Z. B. Hist. Apoll. reg. Tyr. 4 (3 Schmeling); dazu R. Merkelbach, Isis regina, Zeus Sarapis (Stuttgart, Leipzig 1995) 396–416, bes. 398–401. 25 Joh. Malal. 1,11 (12 Thurn); Joh. Antioch. frg. 3 (4, 541 Müller); Georg. Mon. 1, 4 (12 de Boor/Wirth); F. Lehmann-Haupt, Art. Semiramis: Roscher, Mythol. Lex. 4 (1909/15) 691 f.; s. u. Anm. 103. 26 Antonin. Lib. 30; Ov. met. 9, 450–665; W. Otto, Art. Byblis: Thes. Ling. Lat. 2 (1900/06) 2265, 15–27. – S. u. Anm. 99. 27 1,3 (hier ist freilich auch an die Halbschwester zu denken). Zur Myrrha-Saga Antonin. Lib. 34; Helv. Cinna: E. Courtney, The fragmentary Latin poets (Oxford 1993) 218–224; Ov. met. 10, 298–502 mit dem Kommentar von F. Bömer (Heidelberg 1980); s. u. Anm. 119. 28 Poet. Lat. Min. 5, 112–125; W. Barbasz, De Aegritudinis Perdicae fontibus, arte, compositionis tempore: Eos 30 (1927) 151–169. Wie Tertullian bemerkt, nahmen die Makedonen angeblich am Verhalten des Oidipus keinen Anstoß (ad nat. 1,16,4–8 [CCL 1,34 f.]; apol. 9,16–20 [104 f.] – S. u. S. 151 und Anm. 119.
3. Die antiken Quellen und ihr Aussagewert
143
der Inzest gleichsam ritualisiert und institutionalisiert erscheint – und dies gilt vor allem für die Länder des Vorderen Orients –, dessen Wurzeln im Weltbild einer frühen magisch-religiös geprägten Mentalitätsstufe. In den vielfach nur fragmentarisch erhaltenen Schriften der Geographen und Geschichtsschreiber begegnet der Inzest im Zusammenhang mit den Sitten fremder Völker, der Nomima barbarica, oft neben dem Kannibalismus29. In den beiden Tatbeständen des Inzests und des Kannibalismus sahen viele griechische Gelehrte verabscheuenswerte Bräuche fremder Völker auf einer niedrigen Kulturstufe, die sie als tierisch, inhuman und barbarisch verurteilten. Der geistige Hintergrund dieser für ein anderes Welt- und Menschenbild befremdlichen Sitten blieb ihnen allerdings verschlossen30 . Einer späteren, moralisch bereits verfeinerten Auffassung galt auch die Liebe zwischen Stiefmutter und Stiefsohn, das sogenannte Phädra-Motiv, als verabscheuungswürdig31. In der griechischen und römischen Literatur begegnet der Inzest-Vorwurf nicht selten polemisch, also um Feinde der eigenen Kultgemeinschaft, einen persönlichen Feind oder eine Menschengruppe zu verunglimpfen. Vielfach reichen unsere Möglichkeiten nicht mehr aus, um die Stichhaltigkeit eines derartigen Vorwurfs im konkreten Fall noch prüfen zu können. Die Anklage der Blutschande gehört jedenfalls zum Repertoire der Invektive und der Spottrede. Sie begegnet bereits in der Tyrannenschelte und in der Tragödie: Hermione stellt die gefangene Andromache in den Schatten des Inzests und der geschlechtlichen Promiskuität der Barbaren 32 . Antisthenes warf Alkibiades Inzest mit Mutter, Tochter und Schwester nach persischer Art vor33 . Die attischen Redner ließen sich diesen Topos der Anklage nicht entgehen 34 . Ihnen folgten römische Redner und Invektivenschreiber der späten Republik und der Kai-
29 W. Speyer / I. Opelt, Art. Barbar I: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 811–895, bes. 823 f. – Zum Kannibalismus s. u. Anm. 81. 30 Nicht wertend hingegen berichtet Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 1, 152. – Entsprechendes wiederholte sich am Anfang der Neuzeit in der Begegnung der christlichen Europäer mit den Eingeborenen Amerikas. 31 W. Fauth, Hippolytos und Phaidra I = Abh. d. Akad. d. Wiss. u. d. Lit. Mainz, geistesu. sozialwiss. Kl. 1958,9,565 f.; H. J. Tschiedel, Phaedra und Hippolytus, Diss. Erlangen – Nürnberg (1969) 16–22; H. Herter, Art. Theseus: RE Suppl.-Bd. 13 (1973) 1045–1238, bes. 1183–1187; ferner Philostr. vit. Apoll. 6,3; Heliod. Aeth. 4,7. Zu dem Beispiel aus der Geschichte: Stratonike und Antiochos I vgl. Valer. Max. 5,7 ext. 1; Appian. Syr. 59–61; Plut. vit. Demetr. 38.; Lucian. dea Syria 17 f. 32 Eurip. Androm. 170–180. – Aristophanes tadelte den Dichter wegen seiner InzestDarstellungen: nub. 1371 f. mit Scholion (1,3,2,186 Koster); ran. 1081. 33 Athen. 5,63 (220c). 34 Lys. 14,28.41; Andoc. myst. 124; Isae. 5,39; vgl. W. Süss, Ethos. Studien zur älteren griechischen Rhetorik (Leipzig 1910, Ndr. Aalen 1975) 249 f.
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9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum
serzeit 35 . Der Vorwurf traf neben Cicero auch Caesar36 , Augustus37 und zur Zeit des Kaisers Claudius die Geschwister Silanus und Iunia Calvina 38 . Auch die Invektive gegen bestimmte Philosophen arbeitete mit diesem Vorwurf. So tadelte Philodemos die Kyniker wegen Promiskuität und Inzest 39. Ferner traf die Anklage einzelne Stoiker40 . Die Dichter von Spottepigrammen kennen gleichfalls diese Anklage, wie Catull und Martial41. Ferner sprachen Rhetoren und Deklamatoren gern über dieses pathosgeladene Thema42 . In der Kaiserzeit richteten sich derartige Vorwürfe gegen die Juden und vor allem gegen die Christen, wobei man nicht zwischen libertinistischen gnostischen Kreisen und der Großkirche unterschieden hat oder unterscheiden konnte 43 . Nicht überall, wo die Bezeichnungen ‚Bruder‘ und ‚Schwester‘ in antiken Texten begegnet, ist an eine verwandtschaftliche Beziehung zu denken; denn diese Begriffe können auch nur übertragen als Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung verwendet sein wie öfter in Ägypten44 . In hellenistischen Herrscherhäusern begegnet ‚Schwester‘ auch als Titel oder als Würdename einer Königin45 . Da man im Altertum und in der Neuzeit diesen übertragenen Gebrauch oftmals verkannt hat, ist manches Zeugnis zu Unrecht für die Geschwisterehe oder den Geschwister-Inzest beansprucht worden.
35 Cic. Cluent. 199; Ps. Sall. inv. 2; Dio Cass. 46,18,6; vgl. Th. Zielinski, Cicero im Wandel der Jahrhunderte 4 (Leipzig, Berlin 1929) 349. 36 Plut. vit. Cat. 54. 37 Suet. vit. Cal. 23,1. 38 Tac. ann. 12,4.8; ferner vgl. I. Opelt, Die lateinischen Schimpfwörter und verwandte sprachliche Erscheinungen (Heidelberg 1965) 155 und Reg. incesta, incestus. 39 W. Crönert, Kolotes und Menedemos. Texte und Untersuchungen z. Philosophenund Literaturgeschichte = Studien zur Palaeographie und Papyruskunde 6 (Leipzig 1906, Ndr. Amsterdam 1965) 64 col. VIII f.: Frauen- und Kindergemeinschaft. 40 R. Höistad, Cynic hero and cynic king, Diss. Uppsala (1948) 8 f. 147 (auch Kannibalismus). 41 Catull. carm. 88; Mart. epigr. 2,4; 12,20. 42 Sen. Pater, controv. 1,3,1–12; 6,7; 6,8: Inzest der Vestalin; Quint. inst. 5,10,19; Tac. dial. 35,5; Ps. Quint. decl. 18. 43 Zu den Juden Tac. hist. 5,4,1; zu den Christen: das Schlagwort lautete: „Ödipodeische Mischungen“: Iust. apol. maior 26,7 (71 Marcovich); Athenag. suppl. 3; Epist. eccl. Vienn. et Lugd. bei Eus. hist. eccl. 5,1,14; Tert. ad nat. 1,7,24 (CCL 1,20); apol. 9,8,7 (CCL 1,101); Min. Fel. 9,6 f.; Salvian. gub. 4,85 f. (CSEL 8,95 f.). Vgl. W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 1 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) 7–13. 493. 44 A. Hermann, Altägyptische Liebesdichtung (Wiesbaden 1959) 75–78. 45 Beispiele bei J. J. Bachofen, Das Mutterrecht, hrsg. von K. Meuli, Bd. 2 (Basel 1948) 828 f.; F. Stähelin, Art. Laodike Nr. 12: RE 12,1 (1924) 700 f.; Nr. 16: ebd. 706. – E. Kornemann, Die Geschwisterehe im Altertum: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 24 (1923) 17–45, bes. 25.42 f. wertet diesen Ehrennamen als Zeugnis für das Mutterrecht; vgl. auch E. A. S. Butterworth, Some traces of the pre-olympian world in Greek literature and myth (Berlin 1966) 6–64: ‚The matrilineal world‘.
4. Zeugnisse und Beurteilung in Babylon
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4. Zeugnisse und Beurteilung in Babylon, Ägypten, Persien und in den antiken Ursprungskulturen In Babylon verbot der Codex des Königs Hammurapi (1728–1686 v. Chr.) verschiedene genauer angegebene Formen des Inzestes 46 . Kam ein Inzest vor, so galt er den Babyloniern als unheilverkündendes Vorzeichen47. Die Ägypter kannten den Götter-Inzest, so den von Horus und seiner Mutter Isis 48 . Der Inzest von Vater und Tochter sowie von Mutter und Sohn konnte in Ägypten aber auch als unheilvolles Zeichen erscheinen49. Demgegenüber war die Geschwisterehe mindestens in der Spätzeit anerkannt und zwar zunächst im Königshaus50 . Im alten Ägypten ist sie nicht sicher bezeugt, wohl aber seit Ptolemaios II Philadelphos51. Wahrscheinlich hängt diese Verwandtenehe mit dem Siegeszug der Isis-Religion zusammen. Wie Diodor mitteilt, haben die ägyptischen Theologen die Geschwisterehe mit der Isis-Religion begründet 52 . In den sogenannten Isisaretalogien behauptet die Göttin von sich, sie sei die Frau und Schwester des Königs Osiris53 . Isis und Osiris galten als Zwillinge, die sich bereits im Schoß ihrer Mutter Rhea vermischt haben sollen 54 . Entsprechend zu Isis und Osiris sollen auch Nephthys und Seth eine Geschwisterehe geführt haben 55 . Während die Hethiter keine Ehen zwischen nahen Verwandten kannten und duldeten 56 , liegt eine reiche iranische, armenische, griechische, römische 46
H. P. H. Petschow, Art. Inzest: Reallexikon der Assyriologie 5 (1976/80) 145–150, bes.
145. 47 B. Meissner, Babylonische Prodigienbücher: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde 13/14 (1911) 258 Nr. 18–21: „Ein Mann hat sich seiner Mutter genaht“ bzw. „seiner Schwester, Tochter, Schwiegermutter“; vgl. auch Petschow a. O. 149. 48 Herodot. 2,63,1/4; vgl. Plut. Is. et. Os. 32, 363 f–364 a; dazu J. Gwyn Griffiths im Kommentar (Cambridge 1970) 423; H. Jacobsohn, Art. Kamutef: Lexikon der Ägyptologie 3 (1980) 308 f.; weitere Beispiele nennt Baumann a.O. (o. Anm. 7) 253. 49 L. Koenen, Die Prophezeiungen des ‚Töpfers‘: Zeitschrift für Papyrologie u. Epigraphik 2 (1968) 192. 50 Sext. Emp. Pyrrh. hyp. 3,205; Pausan. 1,7,1; Hermann a. O. (o. Anm. 44) 76 f. Anm. 33. 51 Thierfelder a. O. (o. Anm. 5); Sidler a. O. (o. Anm. 3) 64–85; A. Schafik, Art. Geschwisterehe: Lexikon der Ägyptologie 2 (1977) 568–570. 52 1,27,1. 53 Hymn. von Kyme, Zeile 6, von Ios, von Memphis bei Diodor 1,27,1; R. Harder, Karpokrates von Chalkis und die memphitische Isispropaganda = Abh. d. Akad. d. Wiss. Berlin, phil.-hist. Kl. 1943, 14, S. 20; gegen die rein ägyptische Herkunft dieser Texte wendet sich A.-J. Festugière, A propos des arétalogies d’Isis: Harvard Theological Review 42 (1949) 209–234. 54 Plut. Is. et Os. 12,356a. 55 Zur Geschwisterehe im Mittelmeerraum Petschow a. O. (o. Anm. 46) 148 f. mit Literatur. 56 H. A. Hoffner, Jr. (Hrsg.), Orient und Occident. Festschrift C. H. Gordon = Alter Orient und Altes Testament 22 (Münster, W. 1973) 81–90, bes. 82–90; Petschow a. O. 146– 148.
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9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum
und altchristliche Überlieferung über die Mutter/Sohn-, Vater/Tochter- und Bruder/Schwester-Verbindungen der Iranier vor, vor allem der persischen Priester, der Magoi. Auch hier griff man zur Begründung auf ein mythisches Urgeschehen zurück. Nach dem Yim Nask soll der Urkönig Yima die Verwandtenehe eingeführt haben, indem er seine Schwester Yinak heiratete57. Seit Herodot sprechen zahlreiche Zeugnisse der Griechen von derartigen Ehen. Als erster soll der Achämenide Kambyses (530–522 v. Chr.) eine Ehe mit seiner Schwester Atossa und einer weiteren Schwester (Roxane?) geführt haben 58 . Artaxerxes II Mnemon (404–359) heiratete seine Tochter Atossa 59, möglicherweise auch seine Tochter Amestris60 , Dareios II Nothos (423–404) seine Schwester Parysatis 61 und Dareios III (336–330), Sohn des Arsames und dessen Schwester Sisygambis 62 , seine Schwester Stateira63 . Curtius Rufus erwähnt die Mutter und Gemahlin des Satrapen Sisimithres64 . Alexander d. Gr. soll auf die Perser Druck ausgeübt haben, nicht mehr ihre Mütter zu heiraten65 . Zu den älteren Zeugnissen der Griechen über die Verwandtenehe der Perser gehören die Dissoi Logoi, Euripides und Xanthos der Lyder66 . In der späteren Zeit Persiens haben die Partherkönige und mehr noch die Sasaniden und ihre Untertanen diese Eheform weitergeübt67. Die Sitte blieb im Iran bis ins 12. Jh. n. Chr. lebendig68 . Der kosmo- und anthropogonische sowie der rituelle Aspekt des Inzests ist im Iran noch deutlich erkennbar: Die Mazda-Gläubigen ahmten Orhmazd nach, der den ersten Menschen durch den Inzest mit seiner Tochter hervorge-
57 B. Lincoln, Art. Yima: H. W. Haussig (Hrsg.), Wörterbuch der Mythologie 4 (1974/82) 472 mit Anm. 20. 58 3,31,1–6. 59 Plut. vit. Artax. 23,3–7; 27,2.4 f. 60 Heraclid. Cum.: FGrHist 689 F 7a; vgl. Plut. vit. Artax. 23,6; 27,7. 61 Ctes.: FGrHist 688 F 15. 62 Diod. Sic. 17,37; Arrian. exped. Alex. 3,22,6. 63 Ebd. 2,11,9; Plut. vit. Alex. 30,3.10; Iustin. / Trog. Pomp. 11,9.12 64 8,2,28. 65 Plut. Alex. M. fort. 1,5,328c. 66 Diss. Log. 2,15 (VS 90 Diels/Kranz); Eurip. Androm. 173 f.; Xanthos Lyd.: FGrHist 765 F 31; vgl. Sotion bei Diog. Laert. 1,7 und noch Iul. Imp. c. Galil. frg. 24 Masaracchia, Ferner vgl. A. Rapp. Die Religion und Sitte der Perser und übrigen Iranier nach den griechischen und römischen Quellen: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 20 (1866) 49–140, bes. 112 f.; C. Clemen, Art. Magoi: RE 14,1 (1928) 514, 19–39; J. Bidez / F. Cumont, Les mages héllénises 1 (Paris 1938, Ndr. ebd. 1973) 78–80; 2,122 Anm. 3 und Reg.: _ugatrH m4gnus_ai, mhtrogameKn; O. Klíma, Zur Problematik der Ehe-Institution im Alten Iran: Archiv Orientální 34 (1966) 554–569; Sidler a. O. (o. Anm. 3) 155–157. 67 Lucan. 8,404; S. Ephraemi carmina Nisibena, hrsg. von G. Bickel (Leipzig 1866) 86 f. von Sapor II.; vgl. O. G. von Wesendonk, Zur Verwandtenehe bei den Arsakiden: Archiv für Religionswissenschaft 30 (1933) 383–388. 68 Zu den iranischen Quellen M. Macuch, Inzest im vorislamischen Iran: Archäologische Mitteilungen 24 (1991) 141–154.
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bracht habe69. In die Frühzeit eines magisch-religiösen Weltbildes weist auch die Titulatur parthischer und sasanidischer Könige. Sie nennen sich Bruder der Sonne und des Mondes70 . Die positiven Wirkungen für die aus Verwandtenehen hervorgegangenen Kinder betont nicht nur das Denkard71, sondern bereits Philon aus Alexandrien. Wie er mitteilt, glaubten die führenden Perser, dass die Kinder aus derartigen Verbindungen am edelsten seien, so dass sie sie der höchsten Herrschaft würdigten72 . Im Gegensatz zu jenen Völkern, die als Folge des Inzests Unheils- und Fluchzustände befürchteten, glaubten die Zoroastrier, dass der Inzest Wissen und Fruchtbarkeit vermittle, also gerade das Gegenteil73 . Deshalb bildete der Inzest einen zentralen Abschnitt der zoroastrischen Religion und war keineswegs nur auf die Vornehmen oder das Herrscherhaus beschränkt. Die Aufforderung, die Verwandten zu ehelichen, erhoben noch im 5. Jh. n. Chr. zoroastrische Priester bei ihren Bekehrungsversuchen bei den armenischen Christen74 . Trotzdem berichten einzelne Zeugnisse auch vom psychischen Widerwillen gegen diese Ehen75 . Letzteres kann die Auffassung bestätigen helfen, dass das Inzesttabu dem Menschen angeboren ist und nur infolge geistig-kultureller Bedingungen bisweilen durchbrochen wurde76 . Auch in den an den Iran angrenzenden Ländern begegnen diese Varianten des Inzests, so in Karien, wo sie zeitweilig für das Königshaus bezeugt sind: Die Schwestern Artemisia und Ada heirateten ihre Brüder Mausolos und Hidrieus77. Ebenso liegen Zeugnisse für Armenien, Kommagene und Pontos vor78 . Bei einzelnen Völkern der Antike, die auf der Stufe einer Ursprungskultur standen, soll Inzest gleichfalls vorgekommen sein, so im Königsgeschlecht der Sabäer in Arabien79 und bei den keltischen Pikten in Irland80 . Hier wie öfter haben die antiken Schriftsteller Inzest und Kannibalismus zusammen genannt, also zwei Verhaltensweisen, die am offensichtlichsten im Gegensatz 69
Klíma a. O. 555 f. Amm. Marcell. 23,6,5; vgl. 17,5,3; Theophyl. Sim. hist. 4,8,5 (164 de Boor / Wirth). 71 Macuch a. O. 145 Anm. 34; vgl. ebd. 152 f. 72 Spec. leg. 3,3,13; vgl. Sall. de dis 9,5. 73 Macuch a. O. 150 f. 74 Elisaeus Vartabed, hist. Arm. c. 2: V. Langlois, Collection des historiens anciens et modernes de l’Arménie 2 (Paris 1869) 199. 75 Macuch a. O. 151–153. 76 S. o. S. 137. 77 Arrian. exp. Alex. 1,23,7; Strab. 14,2,17,656; vgl. Kornemann, Geschwisterehe a. O. (o. Anm. 45) 30 f. 78 Kornemann, Geschwisterehe a. O. 28–30; F. Cumont, Les unions entre proches à Doura et chez les Perses: Compte Rendu, Academie des Inscriptions et Belles Lettres (Paris 1924) 53–62. 79 Strab. 16,4,25,783: mit Müttern. 80 Strab. 4,5,4,201: mit Müttern und Schwestern. 70
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zur griechischen Philanthropie und zur römischen Humanitas der klassischen Zeit standen und auf ein damals bereits weithin vergangenes Weltbild zurückwiesen81. Einzelne Beschreibungen des Geschlechtslebens von Völkern der Ursprungskulturen sprechen davon, dass der Geschlechtsakt in der Öffentlichkeit vollzogen werde82 und Promiskuität, mit der die Möglichkeit eines Inzests gegeben war, vorkomme. Die Zeugnisse betreffen Völkerschaften des Nordens und Nordafrikas 83 . Da einzelne griechische Kulturgeschichtsschreiber derartige Sitten als urtümlich bewerteten, kamen sie zu der Ansicht, dass Promiskuität die älteste Kulturstufe der Menschheit bestimmt habe84 . Andere antike Zeugnisse erwähnen regellosen Geschlechtsverkehr im Zusammenhang mit religiösen Festen85 und in bestimmten Mysterienkulten, so Livius in seinem novellistisch ausgeschmückten Bericht über den italischen Bacchanalienfrevel86 . Seine Beschreibung ähnelt auffallend dem heidnischen Vorwurf des Inzests, den bestimmte Christen verübt haben sollen87.
81 Zum Kannibalismus der Skythen und verwandter Völker (Massageten, Issedonen): Herodot. 1,216; 4,26,1; Ephoros: FGrHist 70 F 42 und F. Jacoby zur Stelle: &ndrofage8n; Celsus bei Orig. c. Cels. 5,34 (SC 147,102); Lucian. luct. 21; Ambrosiaster ad Col. 3,11,6 (CSEL 81,3,197); anders der Grieche bei Macar. Magn. apocrit. 3,15 (94 Blondel). – Zum positiven Urteil einzelner Kyniker und Stoiker Sext. Emp. Pyrrh. hypot. 3,205–208; Diog. Laert. 6,73: Diogenes von Sinope; 7,188: Chrysippos; vgl. Stoic. Vet. Fragm. 3, 746–750 von Arnim. – Antike Kulturkritiker nahmen Kannibalismus als frühen oder frühesten Zustand der Menschheitsgeschichte an; dazu E. Norden, Agnostos Theos 2 (Leipzig 1923, Ndr. Darmstadt 1974) 370 f.; ferner vgl. Harder a. O. (o. Anm. 53) 21.28–32; Festugière a. O. (o. Anm. 53) 216–220; F. Graf, Art. Kannibalismus: Der Neue Pauly 6 (1999) 247; J. L. Lightfoot, Parthenius of Nicaea. The poetical fragments and the 4rvtik% pa_3mata (Oxford 1999) Reg.: ‚anthropophagy‘. – Zur ethnologischen Betrachtung E. Volhard, Kannibalismus = Studien zur Kulturkunde 5 (Stuttgart 1939) 385–397: ‚Kulturhistorische Ergebnisse‘. 82 Strab. 4,5,4,201; Megasthenes bei Strab. 15,56,710: von den Völkern im Kaukasus; Herodot. 3,101 von indischen Völkerschaften. 83 Caes. bell. Gall. 5,14,4: Britannier; Hier. adv. Iov. 2,7 (PL 81, 309A): Schotten; Nicol. Dam.: FGrHist 90 F 103d: die illyrischen Liburner; Eudox. Cnid. bei Diog. Laert. 9,83 = frg. 278a (98 Lasserre, der S. 242 Hekataios als Quelle annimmt; vgl. Herodot. 1,216,1;4,172,2): Massageten; Ephor.: FGrHist 70 F 42: Galaktophagen, also Skythen (vgl. Nicol. Dam.: FGrHist 90 F 104,3); Aristot. politic. 2,3,1262a,19 f.: Stämme in Nordafrika; Herodot. 4,180,5: Auseer am Tritonissee (vgl. Nicol. Dam.: FGrHist 90 F 103 q: Machlyer); Herodot. 4,104.172,2: Agathyrsen und Nasamonen; Nicol. Dam.: FGrHist 90 F 103 p: Dapsolibyer; Mela 1,45: Garamanten. 84 Lucr. rer. nat. 5,931 f. 962–965; Hor. sat. 1,3,107–110. 85 S. o. Anm. 15. 86 39,8,5–7; vgl. J.-M. Pailler, Bacchanalia. La répression de 186 av. J. C. à Rome et en Italie (Roma 1988) 28 f. – Von Promiskuität in Heliopolis weiß der Kirchengeschichtsschreiber Sokrates 1,18,7 (GCS Socr. 59). 87 S. o. Anm. 43.
5. Der Inzest in Mythos, Sage und Dichtung der Griechen
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5. Der Inzest in Mythos, Sage und Dichtung der Griechen Die griechischen Verfasser von Theo-, Kosmo- und Anthropogonien, also die frühen Mytho- und Theologen, wie Hesiod und die alten Orphiker, mussten bei ihrer genealogischen Ableitung der Vielheit der Weltpotenzen oder Wirklichkeitsmächte von einem göttlichen Urprinzip und bei der Ableitung der vielen Stämme und Völker von einem Urelternpaar am Anfang der Welt und/ oder nach der Großen Flut 88 mit dem Inzest als notwendiger frühester Durchgangsstufe innerhalb der Entfaltung des Weltganzen und der Menschheitsgeschichte rechnen. Parallelen zu diesem Erklärungsmodell fi nden sich auch in anderen Kulturen des Altertums. Die griechischen Mythologen haben von einem über- und ungeschichtlichen Urzustand oder Urwesen oder einem doppelgeschlechtlichen Urwesen89 ein Weltelternpaar ausgehen lassen, das in Geschwisterehe und bisweilen auch im Mutter-Sohn oder Vater-Tochter-Inzest die nachfolgenden Generationen der Götter und der mit ihnen verwandtschaftlich verbundenen Menschen hervorgebracht haben soll 90 . In diesen Theo- und Kosmogonien wie auch in den Anthropogonien und Kulturentstehungslehren der Antike begegnet weiter der Inzest in Form der Geschwisterehe als der notwendigen Voraussetzung für die Weitergabe des Lebens: für das Werden einer Vielfalt der Erscheinungen im Kosmos und für das Werden einer Vielzahl von Menschen. So erwähnen antike Mythographen und Theologen die Geschwisterehe, die Vater-Tochter- und die Mutter-Sohn-Beziehung in den frühesten Göttergenerationen von Uranos bis zu Zeus und einzelnen Olympischen Göttern: der Geschwister Hyperion und Theia, der Eltern der Geschwister Sonne und Mond91, der Geschwister Okeanos und Tethys92 sowie der Geschwister Uranos und Gaia, Kronos und Rhea, Zeus und Hera93 . Da die Erde bei den Griechen als bisexuelle Urgottheit erscheinen kann, die ihren späteren männlichen Partner Uranos/ Kronos/ Zeus zunächst noch in sich barg, musste der Mutter-Sohn-Inzest gleichfalls in diese Mythen der Weltentstehung mithineinspielen. Insofern ist die Schwester Hera zugleich auch die
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G. A. Caduff, Antike Sintflutsagen = Hypomnemata 82 (1985). M. Delcourt / K. Hoheisel, Art. Hermaphrodit: RAC 14 (1988) 649–682. 90 É. Des Places, Syggeneia. La parenté de l’homme avec Dieu d’Homère à la Patristique (Paris 1964); Speyer, Genealogie a. O. (o. Anm. 6) 1156–60. 1164 f. 91 Hes. theog. 371–374; vgl. 134 f.; W. H. Roscher, Über Selene und Verwandtes (Leipzig 1890) 76–82, bes. 79. 92 Il. 14, 201–210; Acusil. geneal.: FGrHist. 2 F 1. 93 Hes. theog. 133–138. 147. 176 f.; Il. 14, 292–296; Orphische Kosmogonie bei Plat. Tim. 40d = VS 1 B 8; Papyrus Derveni: W. Burkert, Orpheus und die Vorsokratiker: Antike und Abendland 14 (1968) 93–114, bes. 95 f. 101 f.; ferner Verg. Aen. 1,46 f.; 10,607; Ov. met. 3, 265 f.; Sen. Agam. 348–350; H. Schwabl, Art. Zeus: RE Suppl.-Bd. 15 (1978) 993–1481, bes. 1223. 1228 f. 1232 f. 1243 f. 89
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Mutter des Zeus, wie Gaia die Mutter des Uranos94 . Ferner war der Inzest von Zeus und seiner Tochter Persephone bekannt95 . Die Götter-Inzeste setzten sich bei den Menschen fort. Die griechische Heroen-Sage ist erfüllt von derartigen Mitteilungen. So verheiratete der sagenhafte Herr der Winde Aiolos, Sohn des Hippotes, seine sechs Töchter seinen sechs Söhnen96 . Die Gemahlin des Phäakenherrschers Alkinoos namens Arete gilt bald als dessen Nichte, bald als seine Schwester97. Der karische Heros Leukippos, der sagenhafte Kolonieführer der Magneten, musste unter anderem wegen des Inzestes mit seiner Schwester seine Stadt verlassen98 . Weiter ist zu nennen die geschlechtliche Liebe der Byblis zu ihrem Bruder Kaunos99, der Polymela zu Diores100 , der Euopis zu ihrem Bruder101 und der Kanake zu ihrem Bruder Makareus102 . Den Mutter-Sohn-Inzest bezeugt die Sage von Semiramis und Ninos103 , von Menephron und Bliade104 und von Ödipus und Epikaste, auch Iokaste genannt105. Bei Telephos und Auge verhindert einen derartigen Inzest in letzter Minute die überirdische Erscheinung einer Schlange106 . Der Mutter-SohnInzest begegnet in abgeschwächter Weise im beabsichtigten geschlechtlichen Verhältnis von Stiefmutter und Stiefsohn, wie im Hippolytos des Euripides107.
94 Hes. theog. 126 f; Pap. Derveni col. 18 (95 Burkert a. O.): „Erde, Mutter, Rhea und Hera ist dasselbe“; vgl. auch den Mutter-Sohn-Inzest: Echidna-Orthos, aus dem die Sphinx hervorging (Hes. theog. 309. 326 f.) 95 Schwabl, Zeus a. O. 1223. 1242 f. 96 Od. 10, 5–7; vgl. Eurip. Aiol.: Trag. Graec. Fragm. 5,1, S. 158–173 Kannicht. 97 Od. 7, 65 f.: Bruderstochter; Hes. frg. 222 (111 Merkelbach / West); vgl. auch Od. 7, 54 f. 98 Parthen. 5 (314 f. Lightfoot). 99 Parthen. 11 (328 f.L.); Antonin. Lib. 30 (50 f. Papathomopoulos); Ov. met. 9, 40–665 mit Hinweis auf Beispiele aus der Götterwelt: Saturnus / Ops, Oceanus / Thetys, Iuppiter / Iuno; vgl. o. Anm. 26. 100 Parthen. 2 (312 L.). 101 Parthen. 31 (356 f. L.). 102 Eurip. Aiol.: Trag. Graec. Fragm. 5,1, S. 158–173 Kannicht; Ov. her. 11; Hyg. fab. 242; H. Iacobsohn, Art. Canace: Thes. Ling. Lat. onom. 2 (1907/13) 131. 103 Conon narr. 9 bei Phot. bibl. 186, 132 a/b (3,12 f. Henry); Aug. civ. D. 18,2 (CCL 48, 595); s. o. Anm. 25. 104 Hyg. fab. 253; Ov. met. 7,386 f.; dazu F. Bömer im Kommentar (Heidelberg 1976) 295. 105 Od. 11, 271–280; Soph. Oed. tyr.; Ael. nat. an. 3,47; vgl. Wehrli a. O. (o. Anm. 4); Pötscher a. O. (o. Anm. 10) 237–279; M. J. O’Brien, Twentieth century interpretations of Oedipus Rex (Englewood Cliffs, N. J. 1968); P. Pucci, Oedipus and the fabrication of the father. Oedipus tyran in modern criticism and philosophy (Baltimore, London 1992). – Zum Tyrannen Periander von Korinth und seiner Mutter Parthen. 17 (341 f.L.). 106 Hyg. fab. 100; Ael. nat. an. 3,47. 107 S. o. Anm. 31; vgl. die Sage von Korythos und Helena bei Parthen. 34 (360 L.).
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Weit öfter bezeugt die griechische Sage den Inzest zwischen Vater und Tochter108 . Genannt werden Herakles und Pandaie109, Thyestes und Pelopia110 , Oinomaos und Hippodamia111, Erechtheus und Prokris112 , Epopeus und Nyktimene113 , Menephron und Kyllene114 , Oineus und Gorge115, Assaon und Niobe116 , Klymenos und Harpalyke117, Piasos und Larisa118 sowie Kinyras und Myrrha119. Hinter diesen Heroensagen stehen zum einen die genealogischen Mythen der göttlichen Mächte des Weltanfangs und zum anderen Erinnerungen an den rituellen Inzest in vorderorientalischen Königsfamilien, den aber nunmehr die griechischen und römischen Dichter und Gelehrten nur noch profan wahrnehmen. Mit diesen Überlegungen ist noch nichts zu der Frage gesagt, warum das Thema des Inzestes in der Dichtung der Griechen und später auch der Römer einen verhältnismäßig so großen Raum einnehmen konnte. Die Gründe dafür dürfen wir einmal in der Entdeckung des Psychologischen vor allem der Seele der Frau seit dem späten 5. Jahrhundert v. Chr. sehen. Hier kommt Euripides eine epochale Bedeutung zu. Zum anderen folgte aus dieser Entdeckung bis zu einem gewissen Grade auch der sich neu bildende Geschmack der Leser des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit für alles Auffallende, Ungewöhnliche und auch gelehrt Gesuchte. Eine Spätkultur, wie die hellenistischrömische, versuchte sich nicht zuletzt auf dem Gebiet der geschlechtlichen Liebe in den Reizen des Außergewöhnlichen zu überbieten. An der Erscheinung des Inzestes als eines magisch-religiösen Ritus und als eines Themas der Psychologie und der Ästhetik können wir so den weiten seelisch-geistigen Weg vom mythischen Erleben und der Identifi kation mit 108 E. Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer 3(Leipzig 1914, Ndr. Darmstadt 1960) 448 f. Anm. 1; W. Aly, Volksmärchen, Sage und Novelle bei Herodot und seinen Zeitgenossen 2 (Göttingen 1969) 223; zu Sithon und Pallene (Motiv im Hintergrund wirksam): Parthen. 6 (316 f.L.). 109 Megasthenes: FGrHist 715 F 13c. 110 Sophocl.: Trag. Graec. Frg. 4, 239–246 Radt; Hygin. fab. 253. Pelopia galt aber auch als piissima, da sie auf göttlichen Auftrag hin infolge der Geburt des gemeinsamen Kindes Aigisthos dem Vater zur Rache verholfen hatte: Hyg. fab. 254, 2. 111 Hyg. fab. 253. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Apollod. bibl. 1,8,5,1. 116 Xanthos Lydus: FGrHist 765 F 20,2; Parthen. 33 (360L.). 117 Parthen. 13 (332 f.L.); Hyg. fab. 206. 253. 118 Parthen. 28 (354 L.). 119 S. o. Anm. 27. Weitere Beispiele bietet die Historia Apollonii regis Tyrii A 1 f. und die Aegritudo Perdicae; dazu P. Langlois, Art. Africa II (literaturgeschichtlich): RAC Suppl.Bd. 1 (2001) 213 f. Ferner vgl. K. Kerényi, Die Jungfrau und Mutter der griechischen Religion. Eine Studie über Pallas Athene = Albae Vigiliae N. F. 12 (Zürich 1952) Reg.: Inzest.
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9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum
den Urmächten der Welt bis zum Geschmack einer überreizten Stadtzivilisation des Späthellenismus und der römischen Kaiserzeit nachvollziehen.
10. Die Stadt als Inbegriff der menschlichen Kultur in Realität und Symbolik der Antike Zwei literarische Bilder der Stadt seien an den Anfang der folgenden Betrachtung gestellt, das eine aus der griechisch-römischen Epoche, das andere aus der Übergangszeit von der deutschen Romantik zum Realismus. Am Ende des ersten Jahrhunderts bemerkt Plutarch in seiner Abhandlung gegen den Epikurschüler Kolotes: „Innerhalb der Ordnung der Gesetze ist die prinzipielle Basis die Vorstellung von den Göttern. In ihr haben Lykurg die Spartaner, Numa die Römer, Ion der Alte die Athener, Deukalion fast alle Griechen geheiligt, indem sie jene durch Gebete, Eide, Orakel und göttliche Stimmen erlebnisbereit für das Göttliche durch Regungen der Hoffnung und zugleich der Furcht gemacht haben. Wenn du eine Stadt besuchst, so dürftest du unbefestigte Städte fi nden, auch solche ohne Schriftlichkeit, ohne einen König, unwohnliche, ohne Geld, der Münze nicht bedürfende, Städte ohne Theater und Gymnasien. Aber eine nicht geheiligte und gottlose Stadt, die nicht Gebete, nicht Eide, nicht Weissagungen, nicht Opfer für das Gute und religiöse Riten, das Übel abzuwehren, verwendet, eine derartige Stadt sieht niemand, noch wird er sie sehen. Eher glaube ich eine Stadt ohne Boden wahrzunehmen als eine Stadt, die ihre Verfasstheit ohne Vorstellung von den Göttern erlangt hat oder erlangt“1. Mit diesen Sätzen fasst Plutarch zusammen, was jeder Besucher der heute noch sichtbaren Reste antiker Städte erkennen kann: Die Stadt des Altertums ist auferbaut und lebt aus der Überzeugung und dem Glauben an die stets und überall wirksame Segens- und Fluchkraft der heiligen Macht oder der Gottheit. Das Profane menschlicher Tätigkeit ruhte im Altertum auf dem unbezweifelbaren und unverrückbaren Fundament des Sacrum. Dieses Sacrum trat in Architektur und in den Bildenden Künsten einer antiken Stadt sichtbar in Erscheinung. Für das neuzeitliche Bild der Stadt, das die Überlieferung der jüdischchristlichen Offenbarung nicht verleugnen kann, sei eine Aussage von Theodor Mundt (1808–1861) mitgeteilt. Der zur geistigen Bewegung ‚Das junge
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Plut. adv. Col. 31, 1125 d-e.
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10. Die Stadt als Inbegriff
Deutschland‘ zählende Mundt hat in seinem Werk ‚Madonna, Unterhaltungen mit einer Heiligen‘ folgende bedenkenswerte Überlegungen hinterlassen: „Aus allen seinen Bedürfnissen und Bedrängnissen, Gewohnheiten und Tugenden, Freuden und Talenten, aus seinem Wissen und Streben, hat er [der Mensch] sich da eine Stadt gemacht, das umzäunte Schlachtfeld seiner Bestimmung. Ein ehrwürdiger Ort, vom Verhängnis gezeichnet, ist ein Schlachtfeld. Ein ehrwürdiger Ort, vom Verhängnis gezeichnet, ist eine Stadt. Draußen im Walde, wo das schattige Laubwerk mich gern zum Einsiedler machen möchte, oder oben auf den Bergen, oder unten im quellenreichen Grund der lachenden Talnymphe, mag die Unschuld wohnen. Ich kenne sie nicht. Ich habe sie längst in frühen Jugendstürmen verloren. Nach dem Sündenfall gingen die Menschen hin, und bauten sich Städte. Nicht der Fluch Gottes vertrieb sie aus dem Paradiese, sondern ihre Schuld stürzte sie vorwärts in die Weltgeschichte. Sie sonderten sich in Völkerstämme, und bauten Städte. Das Bewusstsein ihrer Schuld machte sie gelehrig, und sie trieben allerlei Künste und Gewerbe, Beschäftigungen der Hand und des Geistes. In ihrer Schuld drängten sie sich aneinander, und diese sannen darauf, das Leben zu verschönern, und jene studierten es, und trachteten, wie sie es begreifen könnten. So wohnten sie alle beieinander, jeder an einem andern Ende mit der Schuld des Lebens beschäftigt, und schlossen einen Verein zur gemeinsamen Sühne des Daseins. Sie mehrten sich, und ihre Städte blühten, denn der Eifer und Drang der Menschen war groß und unendlich, er reichte bis an den Himmel und bis an das verlorene Paradies zurück. In das Schuldgetümmel der Städte stürze ich mich. Da sind meine Freunde und meine Brüder. Öffne mir deine Tore, sorgenbeladene Stadt, bald mische ich mich wieder in dein heißes Gedränge, in deine kampfesmutigen Reihen. Im Gedränge fi nde ich wohl, was ich liebe und was ich strebe, im Gedränge neben andern Herzen tröstet sich mein Herz. Wald und Berg sinken immer ferner hinter mir zurück, und die Schauer der Wildnis, die unheimlich über mein Haar hinstreichen, verkehren sich mehr und mehr in freundliche Ansiedlung städtischer Gewohnheit. Vor der Stimme der Unschuld, die in der Natur säuselt, wird mir bange. In der Natur blüht das verlassene Paradies der Menschen noch verstohlen fort, es lauert still in der geheimen Seele des Baumes, aber die Menschen sind weggezogen in die Städte. Darum duften die Blumen oft Schwermut aus, und das ganze Wachstum der Natur netzt sich im Tau der Tränen, wenn der Mensch lauschend davorsteht. Doch er kann in dieses Paradies nicht wieder zurück, er muß es jetzt auf der andern Seite der Schöpfung erobern“2 . 2 Leipzig 1835, Ndr. Frankfurt, M. 1973, 282–285. – Vgl. A. Freisfeld, Das Leiden an der Stadt = Kölner Germanistische Studien 17 (Köln 1982); H. Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt, M. 1989) 76–81: ‚Die Stadt als Höhle‘.
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Natur als jene Wirklichkeit, die der Mensch mit Sinnen und Geist außerhalb seiner selbst erfasst, bedeutet zugleich Selbstvergessenheit und gewissermaßen auch Unschuld – so, wie dies Friedrich Hölderlin in ‚Hyperions Schicksalslied‘ besingt: „Schicksallos wie der schlafende Säugling atmen die Himmlischen.“3 Die Natur und die in ihr wohnenden Gottheiten der Antike ruhen in sich selbst. Darin liegt ihre Glückseligkeit. Der Mensch aber ist ruhelos: er ist weder unsterblich wie die antiken Götter, noch ist ihm sein Ende unbekannt wie den übrigen Lebewesen. So stehen die Götter und die Wesen der Natur auch jenseits von Schuld und Verdienst. Das Bewusstsein, über das der Mensch verfügt, ist an den Verlust seiner ursprünglichen Unschuld geknüpft. Das Ende seiner Unschuld bedeutete zugleich den Anfang seiner bewusst erkennenden Geistseele, die als solche auch von ihrer Entscheidungsfreiheit und der Möglichkeit einer falschen Wahl überzeugt ist und die Tatsache einer falschen Wahl oftmals betrauert. Wenn das Buch Genesis berichtet, dass der Baum der Erkenntnis die verbotenen Früchte getragen habe, die das Urelternpaar gegessen haben soll, so sagt diese mythische Erzählung etwas über den inneren Zusammenhang von Erkennen und Einsicht sowie der möglichen Verfehlung durch personal zu verantwortende Sünde aus4 . Die mythische Vorstellung des Paradieses bedeutet zugleich aber auch eine Erinnerung an ein einstmals unbewusstes oder vorbewusstes und damit geschichtsloses Dasein. Die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies ist dann als der Grund für die Möglichkeit einer sich geschichtlich vollziehenden Kulturentfaltung mit ihrem Ineinander und Gegeneinander von Fortschritt und Rückschritt zu verstehen. Dabei versuchte der Mensch, der sich zunächst vor allem in seiner Leiblichkeit als Mangelwesen erlebt hat, diesen Mängeln durch seine Erfi ndungen abzuhelfen. Da der Mensch kein in sich geschlossenes Wesen ist wie die übrigen Lebewesen, sondern über eine zusammengesetzte Natur verfügt – darauf weisen nicht zuletzt die notwendigen Unterscheidungen von Leib und Geistseele, von Realem und Idealem, von Unbewusstem und Bewusstsein, von Profanem und Heiligem, von ‚Sarx‘, Fleisch, und ‚Pneuma‘, göttlichem Geist –, kann er auch nicht wie die übrigen Wesen blind seiner Natur folgen. So stellt sich das menschliche Wesen als eine gleichsam geöffnete Formgestalt gegenüber der geschlossenen der Pflanze und des Tieres dar5 . Aus diesem Befund folgen
3 Sämtliche Werke: Frankfurter Ausgabe Bd. 5, Oden II, hrsg. von D. E. Sattler / M. Knaupp (Frankfurt, M. 1984) 401. 4 3,1–7; vgl. C. Westermann, Genesis = Biblischer Kommentar, Altes Testament 1,1 3 (Neukirchen – Vluyn 1983) 322–343. 5 H. Plessner, Mensch und Tier: Gottfried Wilhelm Leibniz. Vorträge aus Anlaß seines 300. Geburtstages (Hamburg 1946) 302–317; M. Scheler, Philosophische Weltanschauung (Bern 1954) 62–88: ‚Mensch und Geschichte‘.
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Glanz und Elend des Menschen6 . Er ist immer darauf angewiesen, seine offene Natur zu ergänzen, einen Mangel seines leiblich-seelischen Wesens auszugleichen. Dazu dient ihm in erster Linie der schöpferische Impuls mit Phantasie und Denken, der sich in Kultur und Zivilisation, also in Religion, Kunst, Wissenschaft, Technik und rechtlich-staatlicher Ordnung ausprägt. Die Stadt aber nimmt innerhalb dieser vom Menschen geschaffenen, neuen geistigen Welt gleichsam als Inbegriff alles seines Tuns den ersten Rang ein. Sie versammelt alle seine materiellen und geistigen Erfi ndungen, Errungenschaften und Gestaltungen in sich. In der Stadt fi nden Religion und Kunst, Politik und Gesellschaft, Wissenschaft, Bildung, Arbeit und Spiel ihren vornehmlichen Ausdruck und ihren Hort. Diese Bedeutung der Stadt als Repräsentantin der gesamten Kultur kann auch der Glaube vor allem der Griechen bestätigen, dass menschengestaltige Götter oder einzelne götterähnliche Menschen, die Heroen, den Bau von Häusern die Menschen gelehrt haben. Im ‚Gefesselten Prometheus‘, der unter dem Namen des Aischylos überliefert ist, rühmt sich Prometheus, den Menschen den Häuserbau aus sonnengebrannten Ziegeln und aus Holz gezeigt zu haben. Zuvor hätten sie wie die Ameisen im Dunkel der Höhlen gelebt7. Nach einer Überlieferung bei Plinius dem Älteren hat Toxius, der Sohn des Himmelsgottes Uranos, das Mauern mit Ziegeln gefunden und – so können wir ergänzen – dies die Menschen gelehrt 8 . Götter und Heroen galten oft auch als Gründer von Städten9. In geschichtlicher Zeit folgten ihnen hierin die ‚von den Göttern erwählten‘ Herrscher, die als heilige Könige und Gesetzgeber zu den ‚göttlichen Menschen‘ zählten10 . So konnte Cicero zu der bekannten Aussage kommen: „Denn es gibt nichts, durch das menschliche Tüchtigkeit näher an die Hoheit der Götter heranreicht, als neue Städte zu gründen oder bereits gegründete zu bewahren“11. Aufgrund dieser weitverbreiteten Überzeugung musste der Anfang der Stadt überhaupt und einer bestimmten Stadt insbesondere mit göttlicher Weihe und göttlicher Macht erfüllt erscheinen.
6 W. Weischedel, Der Abgrund der Endlichkeit und die Grenze der Philosophie. Versuch einer philosophischen Auslegung der ‚Pensées‘ des Blaise Pascal: Beiträge zur geistigen Überlieferung (Godesberg 1947) 86–165. 7 V. 450–453. 8 Nat. hist. 7,194. 9 Vgl. T. J. Cornell / W. Speyer, Art. Gründer: Reallexikon für Antike und Christentum (=RAC) 12 (1983) 1107–1171; W. Leschhorn, Gründer der Stadt = Palingenesia 20 (Stuttgart 1984). 10 Vgl. H. D. Betz, Art. Gottmensch II: RAC 12 (1983) 234–312, bes. 286 f.; J. R. Fears, Art. Herrscherkult: RAC 14 (1988) 1047–1093. 11 De re publ. 1,7,12; vgl. A. Alföldi, Der Vater des Vaterlandes im römischen Denken (Darmstadt 1978) 28. 117.
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Demgegenüber begegnet allerdings im Altertum auch eine entgegengesetzte Auffassung: Im Alten Testament gilt Kain als der erste Erbauer einer Stadt12 . Der Frevel des ältesten Bruder- und damit Menschenmörders klebte so auch an seiner und allen folgenden Stadtgründungen. Entsprechend dazu gibt es eine römische Überlieferung über die Gründung Roms durch Romulus, den Mörder seines Bruders Remus. Bei diesen Überlieferungen besteht aber auch die Möglichkeit, dass der ursprüngliche Zusammenhang zwischen dem Töten eines wertvollen Lebenden und der Gründung und Errichtung einer Stadt, um sie gleichsam als neue Schöpfung in ihrem Bestand zu garantieren, nicht mehr verstanden wurde. Den Ritus des sogenannten Bauopfers, der hier vorliegt, konnte man dann nur noch sittlich begründen und kam so zu seiner Verurteilung13 . In diesem Sinn schrieb Augustinus folgendes Kapitel seines Gottesstaates: „Über den ersten Urheber einer irdischen Stadt, den Brudermörder, dessen Frevel der Gründer der Stadt Rom durch den Mord an seinem Bruder entsprochen hat“.14 Den antiken Glauben an die Stadt als das Werk einer Gottheit hat Friedrich Schiller in seinem Gedicht ‚Das Eleusische Fest‘ zu erneuern versucht. Hier ist die Göttin Athena/Minerva mit der Aufgabe der Stadtgründung betraut: Und Minerva, hoch vor allen Ragend mit gewicht’gem Speer, Läßt die Stimme mächtig schallen Und gebeut dem Götterheer. Feste Mauern will sie gründen, Jedem Schutz und Schirm zu seyn, Die zerstreute Welt zu binden In vertraulichem Verein. Und sie lenkt die Herrscherschritte Durch des Feldes weiten Plan, Und an ihres Fußes Tritte Heftet sich der Grenzgott an, Messend führet sie die Kette Um des Hügels grünen Saum, Auch des wilden Stromes Bette Schließt sie in den heil’gen Raum15 . 12
Gen. 4,17. Vgl. Th. Zahn (Hrsg.), Acta Joannis [Prochorosakten] (Erlangen 1880) 24,5–10; P. Sartori, Über das Bauopfer: Zeitschrift für Ethnologie 30 (1898) 1–54; R. Müller Zeis, Griechische Bauopfer und Gründungsdepots, Diss. Saarbrücken 1994. 14 Civ. D. 15, 5. Vgl. N. Strosetzki, Kain und Romulus als Stadtgründer: Forschungen u. Fortschritte 29 (1955) 184–188. 15 Schillers Werke. Nationalausgabe 2, 1, hrsg. von N. Oellers (Weimar 1983) 380. 13
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Diese Verse enthalten Grundgedanken, die das Altertum mit der Stadt verbunden hat und die das Folgende näher entfalten soll. Der ‚heil’ge Raum‘ der Stadt steht ‚des Feldes weitem Plan‘ gegenüber; denn die Stadt lebt aus der Spannung zur wilden Natur. Als Gegenbild zur bewusst gestalteten Stadt als dem Inbegriff der Ordnung, Kultur und Geschichte erscheint die Natur mit ihrer Selbstvergessenheit und der scheinbaren Geschichtslosigkeit ihrer Äußerungen. Die in der Natur wirksamen Kräfte scheinen auf Vollkommenheit angelegt zu sein, wenn auch nicht immer jedes einzelne Exemplar einer Art die in ihm angelegte Vollkommenheit ganz ausprägt. Eine Annäherung an Ganzheit, Harmonie und Vollkommenheit ist aber jedenfalls im Einzelwesen und im Gesamten aller Erscheinungen der Natur zu bemerken. In diesem Sinn sind Goethes Worte in seinem Gedicht ‚Metamorphose der Tiere‘ zu verstehen (V. 12 f.): „Zweck sein selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder“16 . Dieses Strebevermögen der Natur nach Vollendung durchkreuzt fallweise eine gegensätzliche Kraft, die sich in Missgeburten, Krankheiten und Naturkatastrophen zeigt. Entsprechendes dürfte auch für die Stadt gelten. So scheinen die Kosmoskräfte und die Chaoskräfte und damit die Sinnstruktur und ihre Auflösung gleichermaßen die Natur wie die Stadt als das Inbild der Kultur zu kennzeichnen; denn die Kultur ahmt die Natur nach17. Betrachten wir die Gesamtheit von Welt und Mensch, von Natur und Kultur, so dürfte aber die positive Kraft und Gestaltung, also die Kosmosmacht, tendenziell den Sieg über die negative Kraft, die Chaosmacht, davontragen und deshalb auch in der Welt überwiegen. Dies gilt allerdings für die Kultur eingeschränkter, da der Mensch aufgrund seiner personalen Entscheidungsfreiheit auch zur Selbstzerstörung offen und damit gefährdeter als die übrigen Lebewesen ist. Wie der Kosmos der Natur Chaoselemente enthält und von Fall zu Fall freisetzt, so ist in dem zuvor zitierten Gesang Schillers der ‚wilde Strom‘, der aus seinem Bett und damit aus seiner Grenze treten kann, vom ‚heil’gen Raum‘ der Stadt umschlossen. Auf die angestrebte Vollkommenheit dürfte der oft bezeugte kreisrunde oder quadratische Grundriss einer antiken Stadt hinweisen. Ein Hauptzeugnis hierfür bietet M. Terentius Varro in ‚De lingua 16
Werke, Hamburger Ausgabe 1, hrsg. von E. Trunz (München 1988) 201: Vers 12 f. W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 261–270. 285 f., bes. 264 f.: ‚Zur Identität des Menschen‘; ferner vgl. W. Perpeet, Art. Kultur: Historisches Wörterbuch der Philosophie 4 (Darmstadt 1976) 1309–1324, bes. 1309 f. zur Wortgeschichte; J. Dalfen, Einige Gedanken zum europäischen Kulturbegriff und zu seinen Wurzeln: S. Paul (Hrsg.), ‚Kultur‘. Begriff und Wort in China und Japan (Berlin 1984) 21–34. 17
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latina‘. Hier wird auch sofort der enge Zusammenhang zwischen Ackerbau und Stadtkultur erkennbar: Der Gründer einer römischen Stadt vollführt einen magisch-religiösen Ritus, der gleichermaßen nach innen wie nach außen wirkt, also euergetisch wie apotropäisch. Mit dem Gespann von Stier und Kuh vollführt er einen Kreis, wobei er zeichenhaft durch die Ackerfurche die innere Mauer und den äußeren Graben andeutete. Deshalb, so etymologisiert Varro, kommt die Bezeichnung urbes für die oppida, die zuvor kreisförmig umpflügt waren, von orbis, dem Kreis, und von urvum (urbum), der Krümmung des Pflugs18 . Wo sich die Tore befi nden sollten, hob der pflügende Gründer die Pflugschar. Sowohl die Mauern als auch die Tore der römischen Stadt galten als heilig19. In gesteigerter Weise tritt dem nachdenkenden Menschen in seinem eigenen Wesen, das Teil des Kosmos ist, die Forderung nach Vollkommenheit vor 18 5,143: oppida condebant in Latio Etrusco ritu multi, id est iunctis bobus, tauro et vacca, interiore aratro circumagebant sulcum (hoc faciebant religionis causa die auspicato), ut fossa et muro essent muniti. terram unde exculpserant, fossam vocabant et introrsum iactam murum. post ea qui fi ebat orbis, urbis principium . . . quare et oppida quae prius erant circumducta aratro ab orbe et urvo urbs est; ideo coloniae nostrae omnes in litteris antiquis scribuntur urbis, quod item conditae ut Roma, et ideo coloniae et urbes conduntur, quod intra pomerium ponuntur; vgl. Cato orig. frg. 18 Peter = Serv. Verg. Aen. 5,755: conditores enim civitatis taurum in dexteram, vaccam intrinsecus iungebant et incincti ritu Gabino, id est togae parte caput velati, parte succincti, tenebant stivam incurvam, ut glebae omnes intrinsecus caderent, et ita sulco ducto loca murorum designabant aratrum suspendentes circa loca portarum; Carminius bei Macrob. Sat. 5,19,3; ein Gründer mit Rindergespann erscheint auf Münzen: L. Kadman, The coins of Aelia Capitolina = Corpus Nummorum Palaestinensium 1 (Jerusalem 1956) 53 f. und Reg.: ‚Foundertypes‘. – Hier bestehen Beziehungen zwischen Etrurien/ Rom und dem Alten Orient/ Indien: vgl. C. O. Thulin, Disciplina Etrusca 3 = Göteborgs Högskolas Årsskrift 15 (Göteborg 1909) 3–46, bes. 3–10; A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients 4 (Leipzig 1930) 750: ‚kreisläufige Bewegung‘; 762: ‚Stadt‘; 795: ‚Mauer‘; 808: ‚Stadt‘; ferner H.Nissen, Das Templum. Antiquarische Untersuchungen (Berlin 1869) 54–100: ‚Die Stadt‘; E. Kornemann, Gestalten und Reiche (Leipzig 1943) 1–10: Heilige Städte. Zum Städtewesen der Sumerer und Etrusker; Werner Müller, Die hl. Stadt, Roma quadrata, himmlisches Jerusalem und die Mythe vom Weltnabel (Stuttgart 1961); A. Henkel / A. Schöne (Hrsg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts (Stuttgart 1967, Ndr. ebd. 1996) 1204. – In diesem Zusammenhang ist auch das Umschreiten einer Stadt im Ritus zu erwähnen (dazu P. Saintyves, Essais de folklore biblique [Paris 1922] 177–204: ‚Le tour de la ville et la chute de Jéricho‘; W. Pax, Art. Amburbale: RAC 1 [1950] 373–375; Ders., Art. Circumabulatio: RAC 3 [1957] 143–152, ohne Kenntnis von Saintyves a.O.; N. Strosetzki, Antike Rechtssymbole: Hermes 86 [1958] 1–17, bes. 2–4; D. Baudy, Römische Umgangsriten = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 43 [Berlin, New York 1998]); ferner vgl. unten Anm. 39. – Zum Kreuz der Feldmesser und Haruspices, Decumanus und Cardo, mit kosmischer Bedeutung vgl. F. J. Dölger, Beiträge zur Geschichte des Kreuzzeichens 9: Jahrbuch für Antike und Christentum 10 (1967) 23–25. 19 Marcianus: Dig. 1,8,8; Gaius: Dig. 1,8,1: Gaius unterscheidet göttliches und menschliches Recht. Dem göttlichen Recht weist er die res sacrae et religiosae zu und fügt hinzu: sanctae quoque res, veluti muri et portae, quodammodo divini iuris sunt; vgl. W. Buchwald, Art. porta: Thes. ling. Lat. 10,2 (Leipzig 1980) 1,48–54.
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Augen, einer Vollkommenheit, die aber erst durch Arbeit an sich selbst zu erwerben ist. In dieser Forderung, die Pindar in dem Satz ‚Werde, der du bist‘ ausgesprochen hat20 , liegt zugleich eine der Bedingungen für die Entstehung eines Gottesglaubens: Die Gottheit ist aufgrund ihres Wesens vollkommen, während die Menschen nur nach Vollkommenheit streben können, ohne sie je zu erreichen. Die Vollkommenheit und Ganzheit der Gottheit, ihr Anspruch an den Menschen, selbst ganz zu werden, und seine Antwort auf diese Forderung bilden gleichsam einen Kreis: Die Gottheit öffnet sich in den Kosmos der Natur oder – jüdisch-christlich gesprochen – der Schöpfung, und dieser Kosmos offenbart sich dem Menschen. Der Mensch aber antwortet auf ihn, indem er sich als kulturschaffendes Wesen erweist. In seiner Kultur versucht der Mensch den Kreis wieder zu schließen, indem er, der aus dem Kosmos kommt, zum Kosmos und damit zur Gottheit zurückzugelangen versucht. Als Summe dieses Strebens kann die Stadt in ihrer idealen Form angesehen werden, da in ihr die religiös-sittlich-rechtliche Ordnung ebenso zum Ausdruck kommt wie die künstlerisch-technische und wissenschaftliche. Wollen wir das Verhältnis von Vollkommenheit/Idealität und Realität bestimmen, so dürfen wir beide Größen nicht in einem absoluten Sinn voneinander trennen; denn jede einzelne reale Naturerscheinung enthält bereits Idealität in sich. Insofern ist jede Erscheinung, sei sie körperlich oder geistig, mehr als bloße Realität oder Faktizität. Als reale Erscheinung weist sie über sich hinaus und ist insofern zugleich auch als symbolisch oder ideal zu beurteilen. Da der Mensch bis zu einem gewissen Grad immer zugleich auch Naturwesen bleibt und damit unmittelbarer Teil und Ausprägung des Kosmos, muss diese naturhafte Formgestalt auch in seinen Schöpfungen weiterwirken, nicht zuletzt in der von ihm gestalteten Stadt. Die Menschen der Frühkulturen und der antiken Hochkulturen haben in anderer Weise, als wir es heute aufgrund unserer Reflexionsstufe zu tun vermögen, infolge ihrer größeren Nähe zur unbewussten Natur aus den Kräften dieser unbewussten Natur gelebt und geschaffen. Dass der Mensch als das relativ spät auf die Erde gekommene Wesen auf die ältere, umfassendere Wirklichkeit der unbewusst lebenden Natur zu hören und ihr als der wahren Lehrmeisterin zu folgen habe, empfanden sie mehr, als dass sie es wussten. Die den Ursprüngen noch näher stehenden Menschen des Altertums haben diese Vorgegebenheit und Forderung nicht reflexiv durchdacht, sondern intuitiv gelebt, waren doch auf dieser frühen Bewusstseinsstufe die schöpferischen Kräfte noch kaum vom Denken aufgehellt oder gar von der Reflexion gehemmt21.
20
Pyth. 2, 72. H. von Kleist, Über das Marionettentheater: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. von E. Laaths (München 1952) 882–888. 21
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Was aber drängte sich den Menschen der Vor- und Frühgeschichte nachdrücklich und überzeugend auf? Dies war die Überzeugung, dass die Gesamtheit von Welt, Himmel und Erde, trotz aller zeitweise auftretenden Störungen und Anomalien eine wundersame Ordnung aufweist und dass der Mensch seinerseits eine entsprechende kleine, selbständig wirkende Ordnung ist und er selbst eine derartige frei und neu gestalten kann. Gewisse Entsprechungen zu Haus und Stadt zeigten sich ihm im Staat der Bienen und Ameisen, in den Gebilden der Spinnen, den Nestern der Vögel, aber auch in den Höhlen der Erde22 . Die begriffl ich gefasste Vorstellung von dem Makrokosmos der Welt und dem Mikrokosmos des Menschen haben zwar erst griechische Philosophen gedacht und ausgesprochen, der Sache nach war sie aber wohl den Menschen früher Kulturstufen geläufig 23 . Hieronymus beispielsweise beruft sich in seinem Kommentar zum Buch Kohelet auf einen jüdischen Kommentator, der den Menschen als eine ‚kleine Stadt‘, civitas parva, bezeichnet, den Menschen, der bei den Philosophen ‚kleinere Welt‘, minor mundus, genannt werde24 . Wollen wir die antike Stadt in ihrem ursprünglichen Wesen begreifen, so ist von den frühen Siedlungsformen auszugehen, seien diese die Hütten der Primitiven oder die Zelte der Nomaden. Dabei zeigt sich, dass die Grundstrukturen und Grundgedanken, die den Städtebau der Hochkulturen bestimmen, bereits in dieser Frühzeit Geltung besaßen: Hütte, Zelt, Haus, Tempel und Stadt sind als Abbilder des Kosmos zu begreifen 25 . Die Wohnstatt des Menschen erschien so in den Kulturen des Altertums nicht als ein profanes und
22 H. Dahlmann, Der Bienenstaat in Vergils Georgica = Abh. der Akad. d. Wiss. u. Lit. Mainz, geistes- u. sozialwiss. Kl. 1954, 10. 23 Adolf Meyer, Wesen und Geschichte der Theorie vom Mikro- und Makrokosmos, Diss. Bern 1900; Th. Hopfner, Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber 1 (Leipzig 1921, Ndr. Amsterdam 1974) § 619–633: ‚Der menschliche Körper als Mikrokosmos in seiner Sympathie zum Makrokosmos‘; W. Speyer Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, Zürich, New York 1995) XI. 154 Anm. 14. Ferner vgl. Scheler a.O. (o. Anm. 5) 21 f.; M. Gatzemeier / H. Holzhey, Art. Makrokosmos / Mikrokosmos: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5 (1980) 640–649. 24 C. 9,14 f. (CCL 72,331). 25 ‚Die Welt ist der Tempel der Götter‘: Dies war Lehre der persischen Magier: Cic. rep. 3,9,14; leg. 2,10,26; nat. deor. 1,115 Pease: ‚Xerses‘; zur griechischen und römischen Antike F. Ohly, Art. Haus III (Metapher): RAC 13 (1986) 905–1063, bes. 933–937: ‚Die Welt als Tempel‘; M. Schofield, The Stoic Idea of the City (Cambridge 1991) 57–92: ‚The cosmic city‘. Ferner vgl. M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, deutsche Übersetzung (Salzburg 1954, Ndr. Frankfurt, M. 1994) 421–444: ‚Der heilige Raum: Tempel, Palast, „Mitte der Welt“‘; Müller a.O. (o. Anm. 18); ferner J. Gaus, Die Urhütte. Über ein Modell in der Baukunst und ein Motiv in der bildenden Kunst: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 33 (1971) 7–70. Hinter allen Kulturformen des Bauens und Wohnens steht die Höhle als Höhle der Erde und als Schoß der Frau; vgl. W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 〈1〉 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) 324.
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funktionales Gebilde. Der religiöse Sinn gab die Grundlage, dann erst folgte der profane Zweckaspekt. Deshalb kann das Haus so wenig wie die Stadt ohne den religiösen Zusammenhang verstanden werden, vor allem nicht ohne den seit dem Alten Orient bezeugten kosmogonischen Mythos, der weithin das archaische Weltbild bestimmt 26 . Wie dieser weitverbreitete Mythos bezeugt, beginnt der Kosmos der Welt damit, dass ein vorkosmischer Zustand, ein Chaoszustand, mit Gewalt überwunden wird. Am Anfang jeder Kosmoswerdung steht nach diesem mythischen Erleben und Bewusstsein ein Trennen, ja geradezu ein Töten: Der Gott Marduk tötet das Chaosungeheuer Tiamat und schafft aus ihm Himmel und Erde27. In diesen Zusammenhang gehört das zuvor erwähnte Bauopfer 28 . Der Kosmos der Stadt mit dem umliegenden Fruchtland ist der chaosartigen Wildnis der Natur abgerungen. So steht auch hier die Gewalt an den Anfängen der höheren Kultur. Das Bewusstsein einer damit verbundenen Schuld erklärt bestimmte Riten bei der Stadtgründung, wie das Verhüllen des Hauptes29. Haus, Tempel und Stadt gingen demnach für die Menschen der Antike nicht in ihrer Funktionalität und damit in ihrer profanen Zweckbestimmtheit auf. Vielmehr waren sie zunächst Ausdruck und Zeugnis für den kosmischgöttlich durchwirkten Aufbau der Welt. Seit hellenistischer Zeit haben die Griechen einzelne Städte in Gestalt der Tyche der jeweiligen Stadt göttlich verehrt 30 . Die Voraussetzungen für diesen Kult der Stadtgöttin liegen in dem soeben skizzierten Hintergrund. Oft leuchtet erst im Untergang der ehemalige Glanz eines Lebens, eines Volkes, eines Staates und einer Stadt auf. Als der Stern der Polis Athen infolge des Peloponnesischen Krieges zu sinken begann, da fand Thukydides die stolzen Worte, die er Perikles bei der Beisetzung der Toten im Winter 431/430 v. Chr. sprechen ließ31. Perikles trägt eine Trauer- und Grabrede vor, in die er das Lob Athens einfügt. Indem er die Gefallenen ehrt, ehrt er die Stadt, aus der sie kommen. Herkunft – Volk – Vaterland und Stadt gehören für dieses 26 J. Trumpf, Stadtgründung und Drachenkampf: Hermes 86 (1958) 129–157; G. Binder, Die Aussetzung des Königskindes Kyros und Romulus = Beiträge zur Klassischen Philologie 10 (Meisenheim a.Gl. 1964) 63–66. 27 Speyer, Frühes Christentum a.O. 310–312 und o. S. 61–74. 28 S. o. Anm. 13. 29 S. Eitrem, Opferritus und Voropfer der Griechen und Römer (Kristiania 1915, Ndr. Hildesheim, New York 1977) 273 Anm. 2; 401 f. 30 F. Pfister, Art. RwmaKa: RE 1A, 1 (1914) 1061–1063; R. Mellor, QEA RWMH. The worship of the goddess Roma in the Greek world = Hypomnemata 42 (Göttingen 1975). 31 Bell. Pelop. 2, bes. 37–41; zur Bewertung der Leichenrede vgl. A. Rengakos, Form und Wandel des Machtdenkens der Athener bei Thukydides = Hermes, Einzelschriften 48 (Stuttgart 1984) 19 f. 27.51.79; C. J. Classen, Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts = Beiträge zur Altertumswissenschaft 2 2 (Hildesheim, Zürich, New York 1986) 5 f.; ferner vgl. D. Lau, Art. Athen I (Sinnbild): RAC Suppl. 1 (2001) 639–668.
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Erleben noch ganz zusammen. Den geschichtlich infolge seiner Taten herausragenden Menschen charakterisiert und ehrt die Mitteilung seines Landes, seines Volkes, zumeist aber seines Geburtsortes. Mensch und Ort gehören in der Antike weithin noch eng zusammen. Diese Verbindung wurde erst in den letzten Jahrhunderten der Neuzeit gelockert. Im Altertum erlebte der Einzelne seine Rückbindung an den Wurzelgrund in der kultisch gebundenen Gemeinschaft. In den Hochkulturen, die seit mehr als zehntausend Jahren im Vorderen Orient entstanden sind, bildet die Stadt diese Kultgemeinschaft. Die sichtbare Stadt ist so vor allem als der Ausdruck der Vorstellungen dieser Kultgemeinschaft zu deuten. Die seelische und leibliche Gesundheit und Sicherheit des Einzelnen und seiner Gemeinschaft beruhen auf dem Kosmos der Stadt. Dabei ist diese zugleich als Kosmos aller in ihr erhaltenen Gebäude, Plätze und Straßen wie auch als Ordnung des sozialen Lebens und damit aller Institutionen zu verstehen. Für das Altertum ist die Stadt weit mehr als für uns mit Leben und Wirken in der Gemeinschaft verbunden. So ist sie auch zunächst das Vaterland oder, wie die Kreter sagten, das Mutterland 32 . Die antiken Hochkulturen des Mittelmeerraumes verstehen sich vor allem als Stadtstaaten. Wollte man einen Krieg gegen ein Volk einer Hochkultur gewinnen, so musste man die Hauptstadt, also den religiös-politischen und zugleich auch wirtschaftlichen Mittelpunkt, vernichten. Hätte Hannibal Rom eingenommen, so wäre ihm sehr wahrscheinlich der Sieg über die Römer geglückt. Noch in den großen Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts versuchte die jeweilige Heeresleitung, die Hauptstadt des Feindes einzunehmen und, wenn möglich, zu zerstören. Da nach dem frühen antiken Verständnis die Götter die Wohlfahrt einer Stadt sicherten, war mit der Vernichtung der Tempel, der Wohnstätten der Götter, der vollständige Sieg errungen. Als die Gallier 387/86 v. Chr. Rom verwüsteten, sollen sie den Tempel auf dem Kapitol nicht eingenommen haben 33 . Nach dem Selbstverständnis der Römer aber lag im Weiterbestehen des Kapitolinischen Tempels die Garantie für das Leben ihrer Stadt und damit ihres Staates. Als Xerxes bei seiner Invasion in Griechenland die Tempel Athens zerstörte, da hat diese Tat, durch die er den Todesstoß gegen die Athener zu führen glaubte, die Athener nicht so tief getroffen, da die Gebildeten bereits zu einer freieren religiösen Vorstellung gelangt waren. Das Göttliche ließ sich für die philosophisch gebildeten Athener, also für die politisch-gesellschaftliche Führungsschicht, nicht mehr in die Mauern von Tempeln einschließen. Der Gedanke, dass nur die Welt der Tempel der Gottheit sein dürfe, soll den Ira32
Plat. rep. 9,575d; ferner vgl. den Begriff: mhtr5poli:. Liv. 5,47 mit dem Kommentar von R. M. Ogilvie (Oxford 1965) 734; vgl. W. Speyer, Art. Gans: Jahrbuch für Antike und Christentum 16 (1973) 178–189, bes. 183 f. 33
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nier Xerxes zu seinem religionskriegerischen Vorgehen gegen die griechischen Tempel bestimmt haben; denn nach dem Glauben der iranischen Magoi durfte man die Götter nicht in Tempeln und Kultbildern verehren, da ihr Haus diese ganze Welt sei 34 . Xerxes und die Magoi dürften dabei übersehen haben, dass der Tempel als Haus ähnlich wie die Stadt ein Abbild des Kosmos als des Weltenhauses sein soll und die Gottheit also sehr wohl in einem Tempel verehrt werden darf, sofern nur der Verehrende von diesen Zusammenhang weiß. Will man die griechische und römische Stadt verstehen, so sind auch deren ältere Vorbilder im Osten und Süden, in Babylon und Ägypten, zu berücksichtigen. Bekanntlich können die Namen von Städten der antiken Mittelmeerwelt für bestimmte Welt- und Lebensentwürfe, Welt- und Lebensordnungen stehen. Der Name vieler dieser Städte ruft bestimmte Assoziationen wach, die bisweilen infolge geschichtlicher Wandlungen auch variieren können: Babylon, Jerusalem, das ägyptische Theben, Amarna, die Stadt Echnatons, Athen, Alexandrien, Syrakus, Rom oder Konstantinopel/Byzanz. Diese Reihe setzt sich im Mittelalter und in der Neuzeit fort und endet bei den Hauptstädten der heute politisch oder kulturell führenden Staaten. Die Reihe der für die heutige Menschheit bedeutsamen Städte ist nicht sehr lang. In ihnen prägen sich zwei Grundstrukturen menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns aus. Diese Grundstrukturen können in reiner Form in der Realität nicht begegnen; sie sind aber gleichsam Chiffren für zwei verschiedene Lebensweisen und Lebensformen des Menschen, die in all seinem Denken und Tun durchscheinen: So könnte man von der rein diesseitig eingestellten Stadt sprechen, der Stadt als dem Inbild profanen Macht- und Gewinnstrebens, und der jenseitig eingestellten Stadt, der Stadt als dem Hort der heiligen oder göttlichen Macht. Eine jede Vergegenwärtigung oder Materialisierung der heiligen Stadt ist mit der Schwere und der Gebrochenheit des Realen oder Irdischen belastet. Deshalb gibt es auch in der Realität keine tatsächliche heilige Stadt, sondern nur in der Vorstellung der Idealität. Das wusste Augustinus. Seine civitas caelestis, seine civitas Dei, ist nicht mit der Kirche von Rom identisch, sondern eine unsichtbare Stadt. Ihre Angehörigen sind bestimmte Lebende und bestimmte Tote, die heiligen Menschen. Diese gehören verschiedenen Zeiten, Kulturen und Völkern an. Notwendigerweise muss sich die Vorstellung von der heiligen Stadt mit utopischen Vorstellungen berühren. Im Bild der civitas caelestis und der civitas terrena spiegelt sich der Mensch als offenes Wesen mit seinen Möglichkeiten. Er ahnt zwar das Ideale, schafft aber immer nur das Reale, das in sich brüchig ist und sich nach Vollendung sehnt. Mensch und Stadt stehen so ihrerseits als Urbild und Abbild in einer unmittelbaren Korre34
S. o. Anm. 25.
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spondenz zueinander. Einmal spiegeln sie einander; sodann sind sie sich jeweils Aufgabe und Entwurf für die Zukunft. Die Polarität der kosmischen und chaotischen, der friedlichen und kriegerischen, der harmonischen und dissonanten, der heiligen und unheiligen Kräfte, die das Wesen der Stadt bilden und bestimmen, erscheint bereits in einem der ältesten literarischen Zeugnisse der Griechen. Der homerische Sänger, der die Darstellungen auf dem Schild des Hephaistos für Achill beschreibt, stellt dabei zwei Städte einander gegenüber, eine Stadt im Frieden, und eine andere im Krieg35 . Den Höhepunkt während der Friedenszeit bildet das Fest 36 . Jedes Fest des Altertums ist um den Kult der Götter zentriert. Der homerische Sänger nennt das Hochzeitsfest als das charakteristische Fest der Stadt; denn ihm erscheint die Familie als die Keim- und Erneuerungszelle der Stadt 37. Wie alle Feste lässt auch das Fest der Hochzeit die Strenge der gewohnten Zeit vergessen: es lädt zu größerer Ausgelassenheit und Ungebundenheit ein. So spricht der homerische Sänger von Gelage, von Musik und Tanz. Für Musik und Tanz ist der Rhythmus kennzeichnend, also die Spannung von sich freisetzenden und einschränkenden Kräften, Bewegungen und Klängen. Dieser Rhythmus von Freiheit und Gebundenheit zeichnet auch das Leben der Stadt aus. Als Gegenbild zum Fest wählt der Sänger für die Stadt im Frieden das Recht und das Gesetz, also die Begrenzung der Freiheiten der Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen 38 . Jeder Rechtsbruch ist eine Grenzüberschreitung und weckt damit die Kräfte des Chaotischen. Damit der Kosmos der Stadt nicht durch Rechtsbruch gefährdet wird, bedarf es des Gesetzes. Nur wenn Recht gesprochen und vollzogen wird, behalten die Kräfte der Ordnung die Oberhand. Die Rechtsordnung soll bei Homer sogar durch Gewalt durchgesetzt werden. So heißt es: „Herolde hielten indessen das Volk zurück“39. Das Recht gehört zum zentralen Bereich der städtischen Lebensordnung, die sich für das Erleben und Vorstellen der Frühkulturen unmittelbar aus der Quelle der Heiligkeit, also der Götter, herleitet. Wie der Dichter bemerkt, saßen die Richter im heiligen Kreis und hielten die Stäbe lautrufender Boten, der Herolde, in Händen40 . Der heilige Kreis ist auch hier wieder als nach Innen und Außen wirkender magisch-religiöser Machtring zu deuten: er
35 Il. 18, 490–508 und 509–540; vgl. auch G. E. Lessing, Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie c. 19. 36 W. Haug / R. Warning (Hrsg.), Das Fest = Poetik und Hermeneutik 14 (München 1989) bes. 99–223: ‚Das Fest als Ordnung und Exzess‘. 37 Il. 18,491–496; ferner vgl. M.-B. von Stritzky, Art. Hochzeit I: RAC 15 (1991) 911– 930. 38 Il. 18, 497–508. 39 Ebd. 503. 40 Ebd. 503 f.
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schützt zugleich und schreckt ab41. Die Heiligkeit der Lebensordnungen der Einwohner und ihrer Stadt spiegelt sich in den Trägern und Garanten des Rechts. Wie in den meisten Frühkulturen sind es auch hier die Alten, auf denen die Würde und Verantwortung liegen, den Fortbestand der Sitten zu wahren42 . Zeigte Homer im ersten Bild die Bewahrung der Stadt während des Friedens so im zweiten die Bedrohung der Stadt während des Krieges 43 : Zwei feindliche Heere haben eine Stadt eingeschlossen. Sie sind uneins, ob sie die Stadt zerstören oder die Beute teilen sollen. Da vollführen die Belagerten heimlich einen Ausfall, wobei die Götter Ares und Pallas Athene sie führen. Darauf wird der blutige Kampf – und nur dieser – geschildert. Tatsächlich zeigt der homerische Sänger in diesen beiden gegensätzlichen Bildern das Leben einer einzigen Stadt. Wenn Frieden augenblicklich in Krieg umschlagen kann – im Inneren einer Stadt als Aufruhr, Revolution und Aufstand oder von außen als Bedrohung durch ein feindliches Heer –, so weist dies auf die verborgene Doppelpoligkeit oder Ambivalenz der vom Menschen gestalteten Kultur hin. Wie im Kosmos des Weltganzen Chaoselemente eingeschlossen sind und stets aufbrechen können, so auch im Mikrokosmos der Stadt. Das Bild der Stadt im Frieden und das Bild der Stadt im Krieg gehören deshalb eng zusammen: Das Eine kann nicht ohne das Andere sein. In der jeweiligen Faktizität der Realität gibt es nur das Eine oder das Andere, Frieden oder Krieg. In der metaphysischen Struktur der Wirklichkeit hingegen grenzen die beiden Gegensätze aneinander und dürften auf eine höhere geheimnisvolle und unzugängliche Einheit und Ganzheit verweisen, in der sie gründen und aufgehoben sind: auf das Göttliche44 . In idealtypischen Beschreibungen und Darlegungen wird das Ineinander der gegensätzlichen Kräfte und Mächte, die das Wirklichkeitsganze und dessen Abbild, die Stadt, prägen, oft auf zwei im Widerstreit zueinander stehende Größen verteilt: Die positiv gesehene Stadt steht der negativ beurteilten gegenüber, eine Form dualistischen Denkens. Für die spätere europäische Bildungsgeschichte war in dieser Hinsicht Augustinus’ ‚Civitas Dei‘ von großer Wirkung45 . Augustinus hatte bei diesem Thema bereits einen ihm selbst wohl 41 W. Pax, Der magische Kreis im Spiegel der Sprache: Forschungen und Fortschritte 13 (1937) 380; Werner Müller, Kreis und Kreuz. Untersuchungen zur sakralen Siedlung bei Italikern und Germanen = Deutsches Ahnenerbe 2. Abt. 10. Bd. (Berlin 1938); R. Mehrlein, Art. Drei: RAC 4 (1959) 269–310, bes. 290 f. und o. Anm. 18. 42 Ch. Gnilka, Art. Greisenalter: RAC 12 (1983) 995–1094. 43 Il. 18, 509–540. 44 Vgl. Speyer, Studien a.O. (o. Anm. 23) Reg.: ‚Ambivalenz‘. 45 Vgl. G. Bardy, Defi nition des Gottestaates: R. Villgradter / F. Krey (Hrsg.), Der utopische Roman (Darmstadt 1973) 69–86; K. Thraede, Art. Gottesstaat (Civitas Dei): RAC 12 (1983) 58–81, wo aber die Traditionsgeschichte der Vorstellung von den zwei einander entgegengesetzten Städten nicht dargelegt ist.
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nicht bekannten Vorgänger. Wie der Isokratesschüler Theopompos von Chios mitteilt, trägt der Halbgott Silenos dem König Midas eine Rede über zwei Städte vor, die außerhalb der bekannten Erde und zwar jenseits des Okeanos liegen und in denen andersartige Menschen wohnen. Den beiden Städten weist Silenos entgegengesetzte Namen und Sitten zu: die eine heißt ‚fromm‘, die andere ‚kämpferisch‘46 . Das Fragment Theopomps gehört zur literarischen Gattung der Staatsutopien. Ähnlich zu beurteilen ist Platons Myth-Historie von Urathen, der frommen Stadt, und Atlantis, der kämpferischen Stadt47. Der Gegensatz zweier einander widerstreitender Städte bestimmt die Geschichte der Hochkulturen. In diesem Gegensatz spiegelt sich zugleich der Urmythos vom Kampf zwischen Kosmos und Chaos, Licht und Finsternis, Leben und Tod. Wir erkennen die gleiche Struktur der ‚frommen‘ und der ‚kriegerischen‘ Stadt in dem Gegensatz, den das Alte Testament zwischen der heiligen Stadt Jerusalem und der unheiligen, die Völker unterjochenden Stadt Babylon sieht 48 . Für die Babylonier war hingegen Babylon die heilige Stadt49. Spiritualisiert begegnet dieser Gegensatz bei Philon. Er stellt die Angehörigen der Himmelsstadt den Bürgern der Stadt ‚Welt‘, den Kosmopoliten, gegenüber50 . Dieses dualistische Bild Philons wirkte bis zu Augustinus‘ ‚Civitas Dei‘. Befördert wurde eine derartige Sichtweise durch die Gegenüberstellung
46 Bei Ael. var. hist. 3,18 überliefert (=FGrHist 115 F 75 c). Hier ist auch an die ‚Himmelsstadt‘, Uranopolis, zu erinnern, die Alexarchos, der Bruder des Makedonenkönigs Kassandros, des Waffengefährten Alexanders des Großen, auf der Athoshalbinsel gegründet hat (dazu O. Weinreich, Menekrates Zeus und Salmoneus. Religionsgeschichtliche Studien zu Psychopathologie des Gottmenschentums in Antike und Neuzeit [Stuttgart 1933] 316–319; M. Winiarczyk, Uranopolis des Alexarchos: Eos 89 [2002] 269–285). – In der Neuzeit war der utopische Versuch ‚Civitas solis‘ des Dominikaners Tommaso Campanella (1568–1639) bedeutsam (H. Ottmann, Art. Campanella: Lexikon für Theologie und Kirche 2 3 [1994] 913; D. Kremer, Art. La città del sole: Kindlers Literatur Lexikon 3 [München 1986] 2031 f.); ferner vgl. E. Jünger, Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt (Tübingen 1949, Neubearbeitung: Stuttgart o. J. [1965]); dazu H. L. Arnold, Art. Heliopolis: Kindlers Literatur Lexikon 6 (München 1986) 4350 f. Ferner vgl. A. Buck, Die Idealstadt der italienischen Renaissance: Deutsche Städtegründungen der Neuzeit = Wolfenbütteler Forschungen 44 (Wolfenbüttel 1989) 17–29. 47 Tim. 21b-25d; vgl. B. Kytzler, Utopisches Denken und Handeln in der klassischen Antike: Villgradter / Krey a.O. (o. Anm. 45) 45–68, bes. 60 f. Ferner vgl. R. Uglione (Hrsg.), La città ideale nella tradizione classica e biblico-cristiana. Atti del convegno nazionale Torino, 2–4 Maggio 1985 (Torino 1987). 48 W. Röllig, Art. Babylon II. Metaphorisch: Lexikon für Theologie und Kirche 1 3 (1993) 1335. Gegenbild der gottesfeindlichen Stadt, Babylon, ist das von Gott ausgehende ‚Himmlische Jerusalem‘ (Apc. 21,2–22,5); O. Böcher, Himmlisches Jerusalem I. Biblisch: Lexikon für Theologie und Kirche 5 3(1996) 129 f. 49 E. Unger, Babylon, die heilige Stadt, nach der Beschreibung der Babylonier (Berlin 1931). 50 Cherub. 120; conf. 78; gig. 61; vgl. E. Brandenburger, Fleisch und Geist, Paulus und die dualistische Weisheit = Wiss. Monographien zum Alten u. Neuen Testament 29 (Neukirchen 1968) 200 f.
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10. Die Stadt als Inbegriff
von Fleisch, Sarx, und göttlichem Geist, Pneuma, bei Paulus und dem Evangelisten Johannes sowie durch die aus dem Iran kommende metaphysische Annahme zweier Urprinzipien, die in der Gnosis und vor allem im Manichäismus weiterwirkte51. Die Lehre zweier einander feindlicher Städte, die den angenommenen Dualismus ausprägen, ist eine gedankliche Konstruktion, die das In- und Miteinander der gegenstrebigen Kräfte in der Wirklichkeit von Welt und Mensch verkennt. Wie der Blick auf die Stadt im Altertum lehrt, hat sich der Mensch der alten Hochkulturen als Abbild der Welt verstanden. Daher besitzt auch das von ihm Geschaffene, seine Kultur, seine Behausung, die Stadt den gleichen abbildenden Charakter. Letztlich zeigt sich darin die Einheit von allem uns Zugänglichen, die erstmals orphisches Denken, Xenophanes und Heraklit auf den Begriff gebracht haben 52 und aus der der Mensch niemals ganz fallen kann. Dabei bilden Welt, Mensch und Stadt – diese als Inbegriff der Kultur verstanden – eine Einheit in Spannung zueinander stehender Grundkräfte, von Kosmos- und Chaos- oder Segens- und Fluch- oder Heils- und Unheilskräften. Insofern ist auf die drei genannten Wirklichkeitsbereiche, Welt, Mensch und Stadt, die Metapher des Spiegels anwendbar. Wie der Mensch in seinem Denken, Fühlen, Wollen und Schaffen die Welt spiegelt, so spiegelt sein Werk, die Stadt, den Menschen und damit erneut die Welt 53 . Insofern erweist sich der Mensch wieder im platonischen Sinn als das Wesen des ‚Zwischen‘, des Metax6, als das Wesen zwischen Geschichtlichkeit und Übergeschichtlichkeit, zwischen Realität und Idealität oder zwischen Real-Sein und Sein-Sollen.
51 J. Duchesne-Guillemin / H. Dörrie, Art. Dualismus: RAC 4 (1959) 334–350; G. Widengren (Hrsg.), Der Manichäismus = Wege der Forschung 168 (Darmstadt 1977) 31–144. 52 Xenophan.: VS 21 A 33,2–36 (Diels / Kranz); Heraclit.: VS 22 B 50 (Diels / Kranz): 9n t0 p(n: vgl. E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede 2 (Leipzig 1923, Ndr. Darmstadt 1974) 246–250; ferner vgl. O. Marquard / K. Stierle, Identität = Poetik und Hermeneutik 8 (München 1979); Speyer, Identität a. O. (o. Anm. 17). 53 R. Konersmann, Spiegel und Bild. Zur Metaphorik neuzeitlicher Subjektivität = Epistemata, Reihe Philosophie 44 (Würzburg 1988).
11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike 1. Einleitung Die Geschichte der Erforschung der Kultur- und Geistesgeschichte veranschaulicht zugleich, wie sehr die einzelnen Forscher und Forschergenerationen nicht nur in der Bearbeitung eines Themas, sondern bereits bei seiner Stellung und Formulierung von den jeweils geltenden geistigen und realen Bedingungen, nicht zuletzt den Wert- und Unwertvorstellungen, abhängen. Ein treffendes und eindrucksvolles Beispiel bietet das Thema Oikumene, das gerade heute in einem Zeitalter weiterschreitender sogenannter Globalisierung und damit Europäisierung der Kulturen der Erde von aktueller Bedeutung ist1. Am 28. Mai 1896 gab Ludwig von Pastor, der Geschichtsschreiber der Päpste, in einer Rede vor Studenten folgendes zu bedenken: „Überspannen Sie niemals den nationalen Gedanken! . . . Niemand kann sich dem Einfluß seiner Umgebung entziehen, und wir leben in einem Zeitalter der falschen Nationalitätsidee. Noch nie, seit die Welt steht, ist so viel vom Nationalen die Rede gewesen wie heutzutage. Die falsche Nationalitätsidee ist aber die große Irrlehre unserer Zeit. Ihr gemäß sucht jede Nation nur sich selbst: Sein oder Nichtsein der anderen Nation hängt nur von dem Ruhm und der Kriegsbereitschaft ab. Deshalb seufzt die Welt unter dem Militarismus. Mit der Kirche, dem Christentum ist die falsche Nationalitätsidee unvereinbar. Es ist aber der Wille ihres Stifters, daß die Kirche jeder Volkstümlichkeit gerecht wird. Sie verfolgt keine Nationalität, sie bevorzugt auch keine, sie ist eben katholisch, d. h. allgemein. Das Nationalitätsprinzip zerstört die Katholizität der Völker durch deren Isolierung. Wo es herrscht, da kommt es zu Nationalkirchen, die abfallen vom Felsen der Einheit“2 . Tatsächlich hat während des 19. Jahrhunderts die Übersteigerung der nationalstaatlichen Idee in Verbindung mit den sozialen Spannungen im Inneren 1 Zum Wort und Begriff: ‚Oikumene‘, ‚die bewohnte Erde‘ vgl. O. Michel, Art. ? oIkoum2nh: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 5 (1954) 159–161. 2 Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, hrsg. von W. Wühr (Heidelberg 1950) 293 f.; vgl. ebd. 377 f. (22. Februar 1902).
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11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike
der monarchisch gelenkten europäischen Staaten die Explosion des Ersten Weltkrieges verursacht. Mit dem Ende dieses Krieges trat die Idee der Völkerfamilie, des Völkerbundes und damit der Menschheitsgedanke mehr und mehr in den Vordergrund verantwortlichen politischen Denkens. Aber noch war die Zeit für diesen Gedanken nicht ganz gekommen. Dazu mußte erst die in vielem rückwärtsgewandte Ideologie vom ‚Dritten Reich‘ in den Stahlgewittern des ursächlich mit dem Ersten Weltkrieg verknüpften Zweiten Weltkriegs untergehen. Die beiden nicht grundlos Weltkriege genannten bisher größten militärischen Auseinandersetzungen mußten den Gedanken von der einen Menschheit erneut, wenn auch vom Gegensatz bestimmt, in die Mitte eines besonnenen Nachdenkens rücken. Dabei konnten sich die humanistisch Gebildeten an reale Konzeptionen und an Überlegungen sowie sittliche Forderungen innerhalb der griechischen und römischen Geschichte und Kultur erinnern und diese Erinnerung für ihre Gegenwart fruchtbar machen. Nachdem J. Kaerst bereits 1903 seine Studie „Die antike Idee der Oekumene in ihrer politischen und kulturellen Bedeutung“ vorgelegt hatte, erschienen nach dem Ersten Weltkrieg eine Reihe ähnlicher Untersuchungen3 . Gemäß der seit dem 19. Jahrhundert in den Geisteswissenschaften endgültig vollzogenen Scheidung zwischen Klassischer Philologie und Bibelwissenschaft sowie Patrologie verlor der christliche Blickpunkt, der wesentlich zum griechisch-römischen Altertum und zur Alten Welt des Mittelmeerraumes gehört, an Bedeutung. Damit fielen bei der Bearbeitung des Themas der Oikumene wichtige Entsprechungen zum Altertum fort. Zeitbedingt wie diese Reduktion auf die griechische und römische Antike war die in den genannten Forschungsbeiträgen auffallende Betonung des Politischen. Bis zum Ersten Weltkrieg glaubten vor allem die Monarchen und ihre aristokratische Umgebung, daß allein das politische Moment das Wohl und Wehe der Völker und Nationen bestimme. Demgegenüber drängt sich dem heutigen Betrachter der Eindruck auf, daß bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Politik ihre Führungsrolle an die immer mehr technisch bestimmte Industrie und Wirtschaft abgegeben hat. Technik und Industrialisierung haben zunehmend seit dem späten 18. Jahrhundert in großen gesellschaftlichen Erschütterungen und zuletzt in den beiden Weltkriegen zu einer Änderung der monarchischen Staatsform und der aristokratischen Gesellschaftsordnung geführt und die Demokratisierung zunächst Nordamerikas, sodann Europas und schließlich weiter Teile der übrigen Länder der Erde ein3 J. Jüthner, Hellenen und Barbaren = Das Erbe der Alten, N. F. 8 (Leipzig 1923) 44–59; J. Mewaldt, Das Weltbürgertum in der Antike: Die Antike 2 (1926) 177–189; M. Mühl, Die antike Menschheitsidee in ihrer geschichtlichen Entwicklung = Das Erbe der Alten, N. F. 14 (Leipzig 1928, 2. Auflage Darmstadt 1975); V. Engelhardt, Weltbürgertum und Friedensbeswegung in Vergangenheit und Gegenwart (Berlin 1930); F. Gisinger, Art. Oikumene: RE 17,2 (1937) 2123–2147; vgl. unten Anm. 19.
1. Einleitung
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geleitet. Im gleichen Zug hat die technisch-wirtschaftliche Entfaltung der letzten Dezennien noch etwas Weiteres verursacht, das es bis dahin so noch niemals in der Menschheitsgeschichte gegeben hat: die Unterwanderung aller Völker und Staaten der Erde durch die Technik und Wirtschaft einer einzigen Kultur, der europäisch-anglo-amerikanischen. Mit den neuen weltweiten Systemen der Telekommunikation bis zu den Fusionen der Großindustrie und der Banken sowie den Industriestandorten in Ländern der Dritten Welt drängt nunmehr alles in Richtung der Übermacht der Wirtschaft und Technik über die Politik und dies nach und nach in allen Ländern der Erde. Der Nationalstaat mit seinem Leitgedanken uneingeschränkter Souveränität verliert dadurch täglich mehr an Einfluß. Daher läuft der eingeleitete Prozess in Richtung auf eine Vereinheitlichung aller Kulturen und Zivilisationen infolge der weltweit wirkenden europäisch-anglo-amerikanischen Technik und Wirtschaft und der von ihnen bereits weithin beherrschten übrigen Äußerungen der Kultur, heißen sie Bildende Kunst, Architektur, Musik, Theater, Film, Fernsehen, Literatur, Wissenschaft oder Sport. Von diesen täglich mehr und mehr technisch überformten geistigen Äußerungen gehen gleichfalls unbewußt und bewußt Impulse zur Vereinheitlichung der übrigen auf der Erde noch vorfi ndbaren Kulturen aus, die der Natur näher stehen. Hingegen tritt bei diesem Export aus der europäisch-anglo-amerikanischen Kultur und Zivilisation die christliche Religion, die diese Kultur einstmals grundlegend bestimmt und geformt hat, fast gänzlich zurück. Die seit der italienischen Renaissance eingeleitete Entchristlichung des Lebens, die seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa sprunghaft angestiegen ist, drängt nicht nur den christlichen Missionsgedanken an den Rand, sondern entleert zunehmend die Kultur Europas. Da die Religion aber zum Wesen des Menschen gehört, ist der Schwund des Religiösen, der sich heute im Zerfall vor allem des europäischen Christentums zeigt, ein alarmierendes Zeichen. Insofern haben wir auch zu fragen, ob dieser Schwund nicht auch die mit der Menschheitsidee verknüpfte, von Antike und Christentum gestaltete Humanitätsidee auf die Dauer aushöhlt4 . Für die sich im 21. Jahrhundert bildende neue Mischung der Völker, Rassen, Kulturen und Zivilisationen unter Führung der anglo-amerikanischen Geistigkeit stellen die Vereinigten Staaten von Nordamerika einen Modellfall dar. Von ihm wäre bei der Beantwortung der weiteren Frage auszugehen, nämlich wie weit die übrigen Kulturen der Erde ihrerseits die europäisch-anglo-amerikanische Zivilisation verändern werden: auf dem Gebiet der Technik, Industrie und Wirtschaft nicht, wohl aber auf dem Gebiet der Künste und vielleicht auch der Sitten.
4 H. Chadwick, Art. Humanität: RAC 16 (1994) 663–711; O. Hiltbrunner: Art. Humanitas (filan_rwp4a): ebd. 711–752.
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11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike
2. Reale Konzeptionen der Antike einer geeinten Menschheit Im Gegensatz zu diesen nicht nur aufgrund einer inneren Notwendigkeit ablaufenden und sich sogar beschleunigenden, sondern auch willentlich herbeigeführten Veränderungen der Kulturen und Zivilisationen vor allem während der letzten 150 Jahre vermochte im Altertum, d. h. im Alten Orient und in der griechischen und römischen Antike, nur die Politik Pläne einer übervölkischen und überstaatlichen Vereinheitlichung zu fassen und durchzusetzen. Die Mittel dazu waren vor allem Eroberungskriege, Bündnisabschlüsse und die Heiratspolitik der Monarchen. Im Gefolge eines derartigen politischen Handelns konnten gegebenenfalls weiter vereinheitlichend wirken: die im Altertum den Menschen in allen seinen Äußerungen weit mehr als in der Neuzeit bestimmende Religion, sodann die Sprache, die Sitte, das Recht, die Wirtschaft und zwar vor allem die Geldwirtschaft, ferner die Kunst und der Städtebau. Die Zielvorstellung eines einzigen Reiches, das möglichst viele Völker und Kulturen unter einer einzigen Regierung, dem Willen eines Monarchen, versammeln sollte, war ein Gedanke, den die alten Hochkulturen des Vorderen Orients in die Tat umzusetzen bemüht waren. In Babylon wurde der Traum von einem Weltreich zuerst geträumt. Dieser Gedanke fesselte dann immer wieder Herrscher und Völker vom Altertum bis in das 20. Jahrhundert. Die Vorstellung der Übertragung eines Weltreiches von einer Dynastie und einem bevorzugten Volk auf eine andere Dynastie und ein anderes gleichsam auserwähltes Volk bestimmte weithin die Geschichte vom Altertum bis in die Gegenwart 5 . Dabei wanderte der Gedanke der translatio imperii und seine Verwirklichung vom Osten in den Westen und dann in den Norden: von Babylon über Assur nach Persien und von dort zum Makedonen Alexander, von ihm und seinen Nachfolgern, den Diadochen, zu den Konsuln und Diktatoren der späten Römischen Republik. Ihnen folgten die Principes, Domini und Caesares der heidnischen und christlichen römischen Kaiserzeit. Deren Erbe traten im Westen Karl der Große und seine Nachfolger an. Der Weltreichsgedanke als politische Zielvorstellung hielt sich bis weit in die Neuzeit, ja bis in das 20. Jahrhundert: einzelne Habsburger, wie Friedrich III. und Karl V., Moskau ‚das dritte Rom‘6 und das ‚British Commonwealth of Nations‘ sind in dieser Hinsicht Ausläufer der altorientalischen Vorstellung vom Weltreich. 5 C. Trieber, Die Idee der vier Weltreiche: Hermes 27 (1892) 320–344; W. Goez, Translatio Imperii, ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und der frühen Neuzeit (Tübingen 1958). 6 H. Schaeder, Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt = Osteuropäische Studien 1 (Hamburg 1929, 2. Aufl . Darmstadt 1957); B. Kytzler (Hrsg.), Rom als Idee = Wege der Forschung 656 (Darmstadt 1993) 188– 256 mit Beiträgen von H. Rahner, R. L. Wolff, A. Goldberg.
2. Reale Konzeptionen der Antike einer geeinten Menschheit
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Während der vorzeitige und plötzliche Tod den Makedonen Alexander an seinem politisch-militärischen Endplan gehindert hat, den Westen des Mittelmeerraumes in sein gewaltiges Reich, das bis nach Indien reichte, einzugliedern, gingen die zeitlich jüngere politische Wirklichkeit und Theorie der Römer von der Annahme aus, daß die Stadt Rom, Urbs, zusammen mit ihrem Herrschaftsgebiet bereits mit dem Erdkreis, dem orbis terrarum, deckungsgleich sei7. Gemäß dieser doch noch weithin Wunschvorstellung bleibenden Idee ignorierten die Römer, so gut sie konnten, die stets den Bestand ihres Imperiums weiter bedrohenden Germanen aus dem Norden, die Perser/Parther aus dem Osten und die Volksstämme Afrikas, von den Indern und Chinesen ganz zu schweigen. Die Oikumene als politisch-militärisch, bis zu einem gewissen Grade auch als sprachlich, religiös, rechtlich, künstlerisch und wirtschaftlich geeinte Ganzheit war unter Alexander und mehr noch unter Rom in beachtlichen Ansätzen Realität geworden. Vergil formulierte den Weltherrschaftsanspruch Roms an zentraler Stelle seines augusteischen Epos, der Aeneis: Aus dem Totenreich spricht der Vater des Aeneas, Anchises, zu seinem Sohn die berühmten Worte: tu regere imperio populos Romane mementohaec tibi erunt artes – pacique imponere morem, parcere subiectis, et debellare superbos. 8 Den zentripetalen Kräften Roms widersetzten sich jedoch die älteren Hochkulturen. Die militärisch unterworfenen, kulturell aber weiterhin überlegen bleibenden Griechen setzten der Tendenz der Römer nach Vereinheitlichung und damit nach Romanisierung in Sprache und Kultur nicht nur eine Grenze, sondern sie beeinflußten und veränderten ihrerseits zunehmend die alte latinische und italische Bauernkultur9. Denn seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. müssen wir im Westen von einer griechisch-römischen Kultur, also einer Mischkultur sprechen, während die griechische Kultur des Ostens in Form des Hellenismus – mit offenen Grenzen zum Osten und Südosten des Imperium Romanum – weiterhin bestimmend bleibt und sich hier erst im Zeitalter der Reichskirche in die christlich-byzantinische Kultur wandelt. Im Gegenzug gegen die römische Tendenz zur Vereinheitlichung der ihnen bekannten Welt erwachten innerhalb des römischen Reiches immer wieder die älteren kleineren Kulturen, da sie auf ihrer Eigenart beharrten. Am deutlichsten trat diese Betonung des Eigenen und Unverwechselbaren bei den Juden in Erscheinung. Sie prägten ihre Eigenart überall dort aus, wo sie inner7 J. Vogt, Orbis. Ausgewählte Schriften zur Geschichte des Altertums (Freiburg 1960) 151–171: ‚Orbis Romanus‘; F. Prontera, Art. Karte (Kartographie): RAC 20 (2004) 187– 229, bes. 210–212 zur Weltkarte des Agrippa (12 v. Chr.). 8 Aen. 6, 851–853. 9 Hor. epist. 2,1,156 f.: Graecia capta ferum victorem cepit et artis / intulit agresti Latio.
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11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike
halb des Imperium Romanum siedelten, und waren damit eine der Kräfte, die sich gegen eine Hellenisierung oder Romanisierung aller Menschen gewehrt haben. Aber auch die von Caesar und Augustus unterworfenen Ägypter pochten auf ihre Besonderheit, so in ihrer religiösen Tierverehrung und ihrem Totenkult mit Mumifi zierung. So zeigte sich im militärisch, rechtlich und politisch geeinten Imperium Romanum die Tendenz nach Vereinheitlichung aller kulturellen und sozialen Kräfte auch wiederum vom Willen alter gewachsener Volks- und Religionstraditionen durchkreuzt, die das Eigene zu bewahren versuchten. Gegenüber dem Willen Roms nach Romanisierung der Unterworfenen, die nicht zuletzt im militärisch und machtpolitisch so entscheidenden Straßen- und Hafenbau, im Postwesen, in den Aquädukten, dem Münzwesen, im Bild der römischen Städte mit ihren Tempeln, Thermen und Theatern sichtbar in Erscheinung trat, behauptete sich gleichfalls die Verschiedenheit der eroberten Kulturen und Religionen. Gerade bei der Frage der römischen und der fremden Religionen führte die Romanisierung mit Hilfe der Interpretatio Romana zu der Möglichkeit, im Fremden das Eigene zu sehen und das Eigene den Fremden als das zugleich Ihrige nahezubringen10 . Römisches Recht und römische Friedensordnung mit Verleihung des römischen Bürgerrechtes waren die Hauptmittel, die vielen Völker aus Ursprungs- und Hochkulturen zu einer einzigen Kultur zusammenzuschmieden, die aber bereits mehr die Züge einer Zivilisation trug. Als im Jahr 80 n. Chr. Kaiser Titus das Flavische Amphitheater einweihte, das später Colosseum genannt wurde und das in den antiken Katalogen als eines der Sieben Weltwunder aufscheint, dichtete Martial sein Epigrammbuch der Schauspiele. Das dritte Epigramm entfaltet die Buntheit der vielen Völker, die sich in Rom als der Hauptstadt der Welt treffen: „Welch Volk lebt wohl so fern, ist, Caesar, wohl so ohne jegliche Kultur, daß nicht sogar von dort ein Mensch zum Zuschaun hier in deiner Hauptstadt weilt? Von Orpheus’ Haemus kam der Bauer der Rhodopen und der Samarte kam, der sich vom Pferdeblut ernährt, auch der des Nilquells Wasser schlürfte, das er fand, und jener, den am letzten Uferrand von Tethys’ Reich die Welle trifft; es eilten Araber herbei, es eilten Sabäer, auch die Kilikier, die noch hier von ihrem hei-
10 G. Wissowa, Interpretatio Romana. Römische Götter im Barbarenland: Archiv für Religionswissenschaft 19 (1916/19) 1–49; W. Schenk, Interpretatio Graeca – Interpretatio Romana. Der hellenistische Synkretismus als semiotisches Problem: P. Schmitter / H. W. Schmitz (Hrsg.), Innovationen in Zeichentheorien (Münster, W. 1989) 83–121.
3. Die ideale Oikumene in der Sicht der Antike
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matlichen Safranregen trieften. Sugambrer kamen, die das Haar zum Knoten drehn, und die Äthioper, die das Haar sich wieder anders flechten. Hier gibt es ganz verschiedner Völker Sprachen; dann freilich gibt’s nur eine, wenn man sagt: daß du des Vaterlandes wahrer Vater bist.“ 11 Hier erscheint die Stadt Rom als der Mittelpunkt der Welt. Zu ihm streben die Repräsentanten der verschiedenen Völker des Imperium. Die Rom-Idee und die Realität des Kaisertums, wobei der Kaiser nicht unähnlich Juppiter als der Vater aller erscheint, binden diese Vielheit der Völker zur Einheit des Imperium Romanum und damit der römischen Kultur.
3. Die ideale Oikumene in der Sicht der Antike Der militärisch-politischen Überwindung vieler kleiner staatlicher Einheiten von Stämmen, Völkern oder Nationen, von zahlreichen Ursprungs- und Hochkulturen durch die Herrschaft und das Reich Alexanders und einige Zeit später durch das Imperium Romanum laufen die Reflexion und Ausformung der Idee der einen und geeinten Menschheit parallel. Als erste haben seit dem siebten Jahrhundert v. Chr. griechische Mythographen und Mythologen in ihren Genealogien und Stammtafeln der Stammväter oder Archegeten die Verwandtschaft und damit die innere Zusammengehörigkeit aller ihnen 11
Quae tam seposita est, quae gens tam barbara, Caesar, ex qua spectator non sit in urbe tua? venit Orpheo cultor Rhodopeius Haemo, venit et epoto Sarmata pastus equo, et qui prima bibit deprensi fl umina Nili, 5 et quem supremae Tethyos unda ferit; festinavit Arabs, festinavere Sabaei, et Cilices nimbis hic maduere suis. crinibus in nodum tortis venere Sygambri, atque aliter tortis crinibus Aethiopes. 10 vox diversa sonat populorum, tum tamen una est, cum verus patriae diceris esse pater. Übersetzung von W. Hofmann, Martial Epigramme (Frankfurt, M., Leipzig 1997) 11. Vgl. Plin. nat. 3, 39: nec ignoro ingrati ac segnis animi existimari posse merito, si obiter atque in transcursu ad hunc modum dicatur terra [sc. Italia] omnium terrarum alumna eadem et parens, numine deum electa quae caelum ipsum clarius faceret, sparsa congregaret imperia ritusque molliret et tot populorum discordes ferasque linguas sermonis commercio contraheret ad colloquia et humanitatem homini daret, breviterque una cunctarum gentium in toto orbe patria fi eret; Athen. dipnosoph. 1,36 (20b-c); Rut. Nam. 1,47–66: dazu E. Doblhofer im Kommentar (Heidelberg 1977) 38–50. Zur Assimilationswilligkeit Roms O. Seel, Römertum und Latinität (Stuttgart 1963) 304–367: ‚Macht und Menschlichkeit‘.
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11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike
bekannten Stämme und Völker betont12 . In diesem Bestreben, ideell die Einheit der Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart festzuhalten, äußert sich bei den Griechen seit der Zeit Homers ein Denken, das die Einheit und damit Ganzheit der Welt und der Wirklichkeit und damit die Verwandtschaft von allem und mit allem mehr und mehr begriffl ich zu erfassen versucht. Dem einen Urelternpaar nach der großen Flut, Deukalion und Pyrrha, als den Stammeltern aller folgenden Generationen entspricht der mehr und mehr begriffl ich-philosophisch gefaßte Gedanke eines einzigen Anfangs für alle Erscheinungen der Wirklichkeit13 . So scheint gemäß dem griechischen Denken, das den Menschen und seine Welt, die Kultur, nur auf dem Hintergrund des einen Kosmos und der einen Physis/Natura deuten konnte – der Mensch als Mikrokosmos gegenüber dem Makrokosmos der Erscheinungswelt14 –, der Gedanke von der Einheit aller Menschen geradezu seinsmäßig gefordert zu sein. Hier wirkt sich das frühe griechische Denken aus, das weitgehend organologisch auf Entsprechung, Spiegelung und Korrespondenz angelegt ist. In gleicher Weise ist auch bei der seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. erkennbaren fortschreitenden Reflexion und Verbegriffl ichung die Tendenz deutlich, die Verehrung der vielen Götter im Kult des einen Gottes aufgehen zu lassen. Die Reflexion nimmt ihren Ausgangspunkt bei den Dichtern. Bereits die Ilias nennt Zeus den Vater der Männer [d.s. der Menschen] und Götter15 . Hesiod übernimmt diese Formel16 , und Pindar singt in den Nemeischen Siegesliedern: „Eins ist das Geschlecht der Männer [d.s. der Menschen], eins das der Götter; aus einer Mutter [d. i. die uralte mediterrane Urgottheit Erde] atmen wir beide; doch ganz verschiedene Macht trennt uns“17. Für eine derartige Bewußtseinsstufe können die vielen Götter des alten Volksglaubens letztlich nur Aspekte der einen Gottheit sein. In dieser Weise dachten Parmenides und Heraklit, Xenophanes von Kolophon, Anaxagoras, die alten Pythagoreer, Platon, Aristoteles und die Stoa sowie später Plotin und seine Schule. Varro, der diese Theologie den Römern seiner Zeit übermittelt, spricht dabei von Teilen, partes, oder Machtaspekten, virtutes, d.s. dun1mei:, der einen Gottheit gegenüber den diese Teile und Machtaspekte
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W. Speyer, Art. Genealogie: RAC 9 (1976) 1145–1268, bes. 1149–1180. Ebd. 1146–1154; H. Görgemanns, Art. Anfang: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 401–448. 14 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) Reg. s. v. Mikrokosmos. 15 Il. 1, 544; vgl. A. St. Pease zu Cic. nat. deor. 2, 4: idem Ennius (Cambridge, Mass. 1958, Ndr. Darmstadt 1968) 549. 16 Theog. 47. 17 6, 1–4. 13
3. Die ideale Oikumene in der Sicht der Antike
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repräsentierenden vielen Gottheiten18 . Die eine Gottheit der philosophischen Reflexion steht so den einzelnen Göttern des Volksglaubens gegenüber. Aber auch im Glauben des Volkes, der seit hellenistischer Zeit nicht zuletzt infolge des Kultes des einen Herrschers in Richtung auf Vereinheitlichung tendiert, zeigt sich immer deutlicher das Verlangen, die vielen Götter in einer einzigen Gottheit aufgehen zu lassen. Aus dem Kult des Theos Hypsistos, des Zeus-Sarapis, der Isis, des Mithras, des Helios/Sol spricht deutlich die Absicht, den Einen oder die Eine als Quelle der Vielen zu sehen19. So konvergieren vor allem seit hellenistischer Zeit die politischen Absichten des einen Herrschers und des einen Weltreiches mit religiösen Überlegungen und Gefühlen, die auf die Einheit in der Gottesvorstellung abzielen. Bereits einzelne Sophisten des 5. Jahrhunderts v. Chr., wie Antiphon und Hippias, haben die Einheit der Menschheit betont, ohne dafür auf theologische Überlegungen zurückzugreifen. Der entscheidende Durchbruch dieser Idee erfolgte aber erst im 4. Jahrhundert durch die Kyniker, durch Theophrast und Stoiker, wie Zenon 20 . Nicht zuletzt aufgrund des Unbehagens an der eigenen sehr differenzierten und bereits Züge der Dekadenz aufweisenden griechischen Kultur haben Kyniker und ihnen folgend Stoiker den Unterschied zwischen Griechen und Barbaren umgekehrt und die Barbaren als die wahren Menschen ihren Mitbürgern vor Augen gestellt 21. Sodann betonten sie bei der Betrachtung der Völker mehr das Gemeinsame als das Trennende. So entsteht bei vielen die Vorstellung, daß es nur eine menschliche Natur geben könne und deshalb die Erde die eine gemeinsame Wohnstätte, das eine Haus oder die eine Stadt für alle Menschen sei 22 . So bildeten die Kyniker auch den Begriff des Weltbürgers, des kosmopol4th:23 .
18 Ant. rer. div. frg. 27 Cardauns. Ferner vgl. W. Beierwaltes, Art. Hen: RAC 14 (1988) 445–472. 19 E. Peterson, EIS QEOS (Göttingen 1926) 227–276; W. Fauth, Helios Megistos. Zur synkretistischen Theologie der Spätantike = Religions in the Graeco-Roman World 125 (Leiden, New York, Köln 1995); W. Speyer, Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums: s. u. S. 233–258, bes. 246 f. 20 A. St. Pease zu Cic. nat. deor. 1, 121: censent [sc. Stoici] autem sapientes sapientibus etiam ignotis esse amicos (s. o. Anm. 15); vgl. H. C. Baldry, The unity of mankind in Greek thought (Cambrige 1965); dazu F. Wehrli: Gnomon 38 (1966) 641–645. 21 W. Speyer / I. Opelt, Art. Barbar I: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 811–895, bes. 825 f.; Ders. Frühes Christentum a. O. (o. Anm. 14) 231–243. 284 f.: ‚Die Griechen und die Fremdvölker‘; A. Dihle, Die Griechen und die Fremden (München 1994). 22 A. St. Pease zu Cic. nat. deor. 2, 154: est enim mundus quasi communis deorum atque hominum domus aut urbs utrorumque; F. Ohly, Art. Haus III (Metapher): RAC 13 (1986) 905–1063, bes. 937–940: ‚Die Welt als Wohnstatt‘; M. Schofield, The Stoic Idea of the City (Cambridge 1991). 23 J. Moles, Le cosmopolitisme cynique: M.-O. Goulet-Cazé / R. Goulet (Hrsg.), Le cynisme ancien et ses prolongements. Actes du colloque intern. du CNRS, Paris 22–25 juillet 1991 (Paris 1993) 259–280.
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11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike
Je mehr Kyniker und Stoiker den Begriff des Menschen und der menschlichen Natur gegenüber den geschichtlich bedingten Brechungen nach Völkern und Kulturen herausstellten, umso mehr näherte sich dieser Begriff der Bedeutung des richtig oder gemäß der Natur lebenden Menschen. Die griechische Humanitätsidee dürfte so mit dem Gedanken von der Einheit des Menschengeschlechts eng verknüpft sein 24 . Dabei haben Kyniker und Stoiker eine reich differenzierte Kultur, wie es die griechische des späten fünften und vierten Jahrhunderts war, überaus kritisch beurteilt. Das einfache Leben der als roh angesehenen Hirten und Bauern, ferner die Lebensweise der Angehörigen von Ursprungskulturen schienen ihnen noch dem Idealzustand einer unverbildeten Urzeit nahezukommen, die von dem überfeinerten Kulturzustand der eigenen Zeit weit entfernt war und die ihrer Meinung nach die positiv gesehene Natur des Menschen rein gespiegelt hat. Insofern forderten sie um des wahren Glücks der Menschen willen und um des friedvollen Zusammenlebens aller Menschen auf der Erde die Abschaffung der Grenzen innerhalb und zwischen den Völkern. So erschien ihnen als die zu erstrebende und erreichbare Zukunftsvision die Einheit der einen Stadt, in der alle Menschen leben können: Griechen und die nur sogenannten Barbaren oder Fremdvölker. In gewisser Weise entspricht diese ideale Einheit der Völker, die nicht frei von utopischen Zügen ist, der verklärt gesehenen Urzeit der Menschheit. Der Zustand, der nach Auffassung einzelner antiker Kulturphilosophen den Anfang der Menschheitsgeschichte gebildet hat, wie der Familienverband der ersten einträchtig miteinander lebenden Kleinfamilien, sollte erneut am Ende der zu den Hochkulturen führenden Wandlungen stehen, die ihnen nur als Verschlechterungen erschienen: das Miteinander der einen großen Völkerfamilie auf der einen Erde. Die Mannigfaltigkeit der Kulturen in ihrer Unterschiedenheit, nicht zuletzt in den beiden Großgruppen der Ursprungs- und der Hochkulturen, konnte ihnen so nur als ein zu überwindender Zwischenzustand erscheinen. Derartige Ideen konnten nicht ohne die leidvolle Erfahrung der Kriege zwischen Griechen und Griechen, wie des durch militärische Gewalt herbeigeführten Aufstiegs Athens zu der führenden Großmacht neben Sparta, des Peloponnesischen Kriegs und des politischen Aufstiegs Thebens zur ersten Militärmacht Griechenlands, ferner der Kriege der Griechen mit Persern, Makedonen und Römern entstehen. Durch die Überwindung der politischen und kulturellen Grenzen, durch die Überwindung der völkischen Eigenheiten glaubten einzelne griechische Denker den immerwährenden Frieden unter den Menschen realisieren zu können. Nicht ohne Kenntnis derartiger antiker Stimmen haben Denker des 18. Jahrhunderts an den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Zustän24
Chadwick a.O. (o. Anm. 4); Hiltbrunner a. O. (o. Anm. 4).
4. Ausblick auf vergleichbare Vorstellungen im Judentum und Christentum
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den in Europa gerüttelt und ihre Gedanken über den sogenannten guten Wilden, die Dekadenz der eigenen Hochkultur, die Möglichkeiten der Völkerverständigung und des immerwährenden Friedens vorgetragen. Insofern bietet das griechische und römische Altertum real und ideell ein Vorspiel zu den seit dem 18. Jahrhundert eingeleiteten und heute mit immer größerer Beschleunigung ablaufenden Prozessen einer weltweiten technischen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit und der sich aus diesen Veränderungen ergebenden neuen realen und idealen Lage der Menschheit. Aufgrund der bewußtseinsgeschichtlich bedingten tiefgreifenden Individualisierung und Subjektivierung der sich bereits in Auflösung befi ndlichen Völker und Kulturen fehlen heute bei den meisten in höherem Grad als in der Antike, die den Anfängen der Kultur zeitlich und sachlich noch näher stand, der Sinn und die Reflexion für die Tatsache, daß alle Völker und Kulturen in einer geistig-seelischen Tiefenschicht miteinander verwandt sind. Diese Tiefenschicht der Geistseele mit ihren Urbildern ist aus dem geschichtlich gewachsenen Schatz der jeweiligen Kulturleistungen erkennbar. Insofern dürfte den kulturvergleichenden Wissenschaften eine für die Zukunft des Menschen richtungweisende Bedeutung zukommen, sei es der Völkerkunde und der Völkerpsychologie, der vergleichenden Religions-, Rechts-, Wirtschafts-, Kunst- und Literaturwissenschaft sowie einer vergleichenden Medizin.
4. Ausblick auf vergleichbare Vorstellungen im Judentum und Christentum Im ersten Buch des Alten Testamentes, der Genesis, erweisen die Kapitel über die Geschichte der ersten Menschen den universalen Heilswillen des Schöpfergottes. Noch weit nachdrücklicher als die griechischen Genealogen haben die hier erhaltenen Traditionen, die in mosaische Zeit zurückgehen können, die Einheit des Menschengeschlechts festgehalten. Die Vielzahl der damals den Hebräern bekannten Völker werden auf den zweiten Stammvater der Menschheit nach der Sintflut, Noach, und seine drei Söhne, zurückgeführt. Noah nimmt strukturell die Stelle Deukalions bei den Griechen ein 25 . Das 10. Kapitel des Buches ‚Genesis‘, die Völkertafel, verteilt die Völkervielfalt auf die Nachkommen Noachs. Der Einheit am Anfang, die sich in der einen Sprache kundtat, die alle zunächst sprachen, folgt im anschließenden Kapitel die Zerstreuung dieser Generation, die mit dem Turmbau von Babel ähnlich den Giganten der Griechen den Himmel erstürmen wollte26 .
25 26
C. Westermann, Genesis 1, 1 3 (Neukirchen – Vluyn 1983) 644–751. Gen. 11, 1.6. – Vgl. W. Speyer, Art. Gigant: RAC 10 (1978) 1247–1276, bes. 1260–1263;
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11. Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike
Im Unterschied zu den Geschichtsdeutungen der ‚Völker‘ bezeugt das Alte Testament das Eingreifen des transzendenten Schöpfergottes im Sinne einer von ihm gelenkten Heilsgeschichte27. Diese ist hier nicht näher zu entfalten. Nur einige Hinweise seien im Hinblick auf das vorliegende Thema gegeben. Nach dem Johannesevangelium lautete der Kreuzestitulus: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“. Diese Aufschrift war in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache abgefaßt28 . Durch sie hat Pilatus den Anspruch Jesu Christi, der König und Heiland der Welt zu sein, wider Willen bestätigt. In den drei Sprachen drückt sich die auf Vereinheitlichung hindrängende Kraft der griechisch-römischen Antike in Gestalt des Imperium Romanum aus. In diese geistige Linie gehört auch das vom Evangelisten Lukas überlieferte Sprachenwunder beim ersten Pfi ngstfest nach Jesu Auferstehung. Im Gegensatz zur babylonischen Sprachverwirrung des Buches ‚Genesis‘ sollte damit die neue Einheit der Menschheit im kirchlichen Glauben an Gott Vater, Gott Sohn und den Heiligen Geist erkennbar werden 29. Diese Einheit im Glauben bezeugt um 500 Ennodius, Bischof von Pavia, in seinem Pfi ngsthymnus mit einer charakteristischen Ausweitung der von ihm in Betracht gezogenen Völker: Habet homo ora gentium: Thrax Gallus Indus unus est. Quod blanda ludit Graecia, Quod saevit atrox barbarum Stridor Canopi murmuris, Quod lingua latrat Parthica Pectus replevit hospitum. 30 Das Alte und das Neue Testament weisen immer wieder auf Gott als denjenigen hin, der die Zerspaltenheit der Menschheit in Völker und Staaten durch seinen Heilswillen und seinen Heilsplan überwinden wird. Nicht der Mensch soll aus eigener Kraft die eine und dann angeblich wieder heile Welt aufbauen, sondern der Schöpfergott ist es, der am Ende der Zeiten den Erlöser der Welt sendet, der den neuen Himmel, die neue Erde und die heilige Stadt für alle Erlösten schafft 31, d. h. für alle, die sich in Glaube, Hoffnung und Liebe A. Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker 1–4 (Stuttgart 1957/63, Ndr. München 1995). 27 O. Cullmann, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Geschichtsauffassung 3 (Zürich 1962). 28 Joh. 19, 19–22. 29 Act. 2,1–13; A. Weiser, Art. Pfi ngsten, Pfi ngstfest I. Biblisch-theologisch 2: Lexikon für Theologie und Kirche 8 3 (1999) 187–189. 30 Ennod. carm. 1,13 (CSEL 6,544). 31 Apc. 21.
4. Ausblick auf vergleichbare Vorstellungen im Judentum und Christentum
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gegenüber seiner Botschaft bewährt haben. Daß in dieser neuen Gottesstadt keine Zerrissenheit der Herzen, keine Zwietracht und kein Krieg mehr möglich sind, ist nicht zu betonen; „denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“32 . Die am ersten Pfi ngstfest gestiftete Kirche als der bei all ihrer Gebrochenheit weiterlebende Leib Christi, die alle Menschen der Erde für den Glauben an den einen Schöpfer-, Erhalter- und Erlösergott gewinnen möchte, erscheint als eines der Hauptmittel Gottes, diese Einheit am Ende der Zeiten vorzubereiten. Die römische Kirche hat nicht zuletzt als Erbin der antiken Romidee, für die die Stadt Rom und der Erdkreis, Urbs und orbis terrarum, eng aufeinander bezogen sind, den Gedanken des einen Glaubens in der einen Menschheit von Anbeginn an festgehalten 33 . Die gleiche Haltung zeigt sie in ihrer weltweiten Mission und ihrem Bemühen um die Einheit im Glauben durch das Gespräch mit den getrennten Christen in aller Welt. Die Botschaft der christlichen Offenbarungsreligion war seit jeher an die gesamte Menschheit gerichtet. Insofern laufen heute die aus dem Schnittpunkt dreier Kontinente und zwar der im Altertum kulturell führenden Kontinente, Asien, Europa, Afrika, stammende christliche Missionsreligion in ihrer ökumenischen Zielrichtung mit der profanen Globalisierung parallel. Das Wiener Kirchenväter-Corpus, dessen Herausgabe der Jubilar Adolf Primmer seit vielen Jahren erfolgreich geleitet hat, ist ein wichtiger Schrittstein auf dem Weg zur Oikumene im kirchlichen Sinn 34 . In manchem waren die Jahrhunderte von Tertullian bis Boethius der Zeit des Mittelalters und der Neuzeit überlegen, war doch die griechische und die byzantinische Kirche in dieser Epoche mit der lateinischen vereint. Das gemeinsame Glaubenserbe von Orthodoxie und römischer Kirche, das die im Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum vereinten Kirchenväter und Kirchenschriftsteller uns hinterlassen haben, bleibt für die Kirche von heute ein Schatz, der für die Zukunft der einen Menschheitsfamilie, wenn auch nicht ohne Kritik, zu nutzen sein wird.
32
Apc. 21,1. Vgl. Rut. Nam. 1,66: urbem fecisti [sc. dea Roma], quod prius orbis erat; dazu Doblhofer a.O. (o. Anm. 11) 49 f. – J. Ammer, Art. Urbi et orbi: Lexikon für Theologie und Kirche 103 (2001) 462. 34 M. Zelzer, Ein Jahrhundert (und mehr) CSEL. Evaluation von Ziel und Veröffentlichungen: Sacris erudiri 38 (1998/99) 75–99. 33
12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen „Was ist Europa, als der für sich unfruchtbare Stamm, dem alles vom Orient her eingepfropft und erst dadurch veredelt werden mußte?“ (F. W. J. Schelling)
1. Einleitung Während der Kontinent Europa im Westen und Norden vom Meer fest begrenzt ist, im Süden aber, abgesehen von einem wenig breiten Landstrich, durch die afrikanischen Steppen und Wüsten, steht der Osten wie ein gewaltiges Tor offen. Hier gibt es keine natürlichen Grenzen. Dieser Umstand ist für das kulturelle Werden Europas bis heute bestimmend geblieben. Von Asien, von Sonnenaufgang aus, hat sich alle höhere Kultur in den Westen verbreitet. Hier galt von Beginn der Hochkultur die Aufforderung: Ziehe nach Westen! Vom Osten aus haben sich in Europa im Laufe von Jahrtausenden zahlreiche Kulturschichten überlagert und sind miteinander mannigfache Mischungen eingegangen. Die Kulturdrift aus dem Osten hat immer neue Wellen von Völkern, Kulturgütern und Gedanken herbeigeführt. Eine dieser wirkmächtigen Errungenschaften aus dem Osten ist die Erscheinung der Stadt als des Inbegriffs aller höheren und differenzierten Kultur, als des vom Menschen frei gestalteten sichtbaren Mikrokosmos.1 Als in Europa Städte gebaut wurden, waren ihre Gründer und Erbauer Kolonisten, die von den altorientalischen Stadtkulturen geprägt waren. Dies gilt für Griechen, Phönizier und Etrusker. Etrurien mit seinem Zwölf-Städte-Bund im Westen Mittelitaliens und die Stadt Rom beweisen diese geistige Genealogie aus dem Vorderen Orient, wie noch zu zeigen sein wird. Zur Identität einer antiken kulturellen Größe, sei es Volk oder Stadt, gehört ein gewisses Zeit- und, gesteigert, ein gewisses Geschichtsbewusstsein, gepaart mit einem Empfi nden für Kontinuität, die letztlich in einem ange1
S. o. S. 153–168.
184
12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen
nommenen Anfang endet. Jeden Anfang sahen die Völker der antiken Mittelmeerkultur als Werk der Götter oder der Göttersöhne, der Heroen, an, so auch den Anfang von Stämmen und Völkern und nicht selten auch von Städten.2 Während der Epoche eines myth-historischen Bewusstseins – und zu diesem gehören die Überlieferungen über den Trojanischen Krieg, dessen Ende der uomo universale Eratosthenes, 3. Jh. v. Chr., auf das Jahr 1184/83 v. Chr. datiert hat – waren ein dunkles Wissen und Gefühl dafür lebendig, dass Asien der gebende, Europa aber der empfangende Teil war. Die Hochkulturen Asiens waren eben älter und ehrwürdiger als die sich bildende europäische Kultur. In der Regel gehörten die Eroberer einer Hochkultur des Altertums zu einer jüngeren aufsteigenden Kultur. So waren die Griechen gegenüber den Trojanern das jüngere Volk wie die Makedonen gegenüber den Persern, die Römer gegenüber den Phöniziern/Karthagern sowie den Griechen und die Germanen gegenüber den Römern. Der Gedanke der Übertragung der Herrschaft vom Osten in den Westen, der Translatio imperii, war die Folge dieses Gefälles und bestimmte das Staatsdenken Europas bis in die Neuzeit. 3 Das europäische Selbstverständnis, die europäische Identität und damit die Idee Europa sind eine Folge der Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Asien. Europa als Hochkultur beginnt mit den Griechen und hat sich geschichtlich noch annäherungsweise feststellbar am Krieg um Troja entzündet. Die Perserkriege bilden ein weiteres wichtiges Kapitel in diesem Ringen zwischen dem werdenden Europa und Asien. Insofern sind Homers Ilias und der sogenannte Epische Kyklos, hexametrische Dichtungen des 6. Jahrhunderts, die neben anderen Sagenkreisen die Vorgeschichte, die Geschichte und die Nachgeschichte des Trojanischen Krieges zum Inhalt haben, eine Hauptquelle für diesen Kampf. 4 Dazu treten archäologische Zeugnisse, wie die Ausgrabungen der Stadt Troja, und bildliche Wiedergaben der Kämpfe um diese Stadt aus archaischer und klassischer Zeit, wie auf einem Giebel des Aphaiatempels von Ägina, auf dem Ostfries am Siphnier-Schatzhaus zu Del-
2 W. Speyer, Art. Genealogie. In: Reallexikon für Antike und Christentum (= RAC) 9 (1976) 1145–1268, bes. 1146–1148; T. J. Cornell / W. Speyer, Art. Gründer. In: ebd. 12 (1983) 1107–1171; H. Görgemanns, Art. Anfang. In: ebd. Suppl.-Bd. 1 (2001) 401–448. 3 W. Goez, Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und der frühen Neuzeit (Tübingen 1958); H. Schaeder, Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt = Osteuropäische Studien 1 (Hamburg 1929, 2. Aufl . Darmstadt 1957); B. Kytzler (Hrsg.), Rom als Idee = Wege der Forschung 656 (Darmstadt 1993) 125–256: ‚Roma secunda et tertia‘. 4 A. Barnabé (Hrsg.), Poetarum epicorum Graecorum testimonia et fragmenta 1 (Leipzig 1987) 1–8; vgl. ebd. 64–105; E. Drerup, Art. Trojanischer Krieg. In: W. H. Roscher (Hrsg.), Lexikon der griechischen und römischen Mythologie 5 (1916/24) 1232–1261, bes. 1233–1237: ‚Quellen‘.
1. Einleitung
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phi, auf den verlorenen Metopen der Nordseite des Parthenon und auf den Tabulae Iliacae. 5 Der Trojanische Krieg besaß bereits seine mythischen Vorläufer. So erzählt ein Mythos vom Kampf einer älteren Generation von Heroen als es die griechischen Helden vor Troja waren, von Herakles, der Troja zerstört habe, und von dessen und des Theseus Siegen über die aus Asien eingefallenen Amazonen. 6 Wenn die Griechen diese Kämpfe gleichfalls auf ihren Tempeln, wie auf den Metopen der Westseite des Parthenons, gezeigt haben, dann waren sie sich bewusst, dass sie erst infolge des Abwehrkampfes gegen Asien zu dem geworden sind, was sie sind: die Begründer eines sich bildenden europäischen Bewusstseins. Ausdruck hierfür war zunächst der kulturell-sittlich aufgeladene Gegensatz, den die Griechen zwischen sich und allen Fremdvölkern, also auch den Trojanern, aufstellten. Deshalb nannten sie alle übrigen Völker Barbaren, wobei diese Bezeichnung sehr bald negativen Charakter erhielt und zu einem Unwertbegriff wurde, ohne sich darin vollständig zu erschöpfen.7 Geistes- und kulturgeschichtlich entscheidend ist, dass Homers Ilias mit der Darstellung des Trojanischen Krieges den Schritt aus dem Mythos in die Geschichte und damit in die rationale Erfassung der Wirklichkeit gesetzt hat. Damit war eine erste Entmythisierung verbunden, die sich beispielsweise auch aus der Tatsache ergibt, dass die für den Trojanischen Krieg zentrale Gestalt der Helena ursprünglich als Göttin verehrt wurde, und zwar als sterbende und wiederauflebende Vegetationsgöttin, wie dieser Typos aus dem Persephone-Pluton-Mythos bekannt ist. 8 Aus der Göttin wurde in der Ilias die Heroin und aus Mythos Myth-Historie. Die Stadt Troja, die auf dem Boden der Asia minor mit Blick zum europäischen Westen errichtet war,9 hat ihrerseits zu Gründungen von Städten im Westen beigetragen, wie noch zu zeigen sein wird. Alle Städtegründungen im 5 D. Musti, Art. Troia. In: Enciclopedia Virgiliana 5 (1990) 280–287; Studia Troica 1 ff. (Mainz 1991 ff.); F. Canciani, Art. tabulae Iliacae. In: Enciclopedia Virgiliana 5 (Roma 1990) 3–6 und u. Anm. 9. 27. 6 F. Witek, Art. Amazonen. In: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 289–301; J. H. Blok, The early Amazons. Modern and ancient perspectives on a persistent myth = Religions in the Graeco-Roman World 120 (Leiden, New York 1995). – Die archäologischen Zeugnisse: P. Devambez / A. Kauffmann-Samaras, Art. Amazon. In: Lexicon iconographicum mythologiae classicae 1,1 (1981) 586–653; Taf. 1,2 (1981) Nr. 1–167: Herakles; Nr. 230–247: Theseus. 7 W. Speyer, Art. Barbar I. In: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 811–895. 8 R. E. Harder, Art. Helene. In: Der Neue Pauly 5 (1998) 278 f. 9 E. Meyer, Art. Troia Nr. 1. In: Pauly / Wissowa Suppl. Bd. 14 (1974) 809–817; G. Pfligersdorffer, Zweierlei Troja. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften Göttingen (1985) 8; I. Gamer-Wallert, Troia, Brücke zwischen Orient und Okzident (Tübingen 1992); Troia, Traum und Wirklichkeit, Ausstellungskatalog Stuttgart (Darmstadt 2001); J. Latacz, Troia und Homer. Der Weg zu einer Lösung eines alten Rätsels (München, Berlin 2001); M. Korfmann, Troia – Anatolien, eine Vergangenheit mit Zukunft. In:
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12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen
Westen gehen auf die ältesten Städte der Menschheit im Osten zurück. Wenn Babylon auch geschichtlich nicht die älteste jener Gründungen des Ostens ist, so steht dieser Name doch stellvertretend gleichsam für sie.10 Das antike Urteil über die Stadt als Höhepunkt menschlichen Schaffens und Schöpfertums wirkt aber trotz der zahlreichen erhaltenen Laudes urbium späterer Zeit eher nachdenklich, wenn nicht sogar pessimistisch gestimmt. 11 Alte Überlieferungen sprechen von einem menschlichen Urfrevel, der die Anfänge der Stadt überschattet habe. Frevler und damit Gottesfeinde sollen an der Stadtgründung beteiligt gewesen sein. So galt nach dem Alten Testament der Brudermörder Kain als der Erbauer einer Stadt, der ersten Stadt, die er nach seinem Sohne Henoch benannt habe.12 Nach dem Zusammenhang dieser Mitteilung muss aber diese Stadt als die älteste aller Städte deren Prototypos sein. Der Fluch des Gründers Kain lag aber auf dieser Stadt, die in der Sintflut mit untergegangen sein muss. Nach der Sintflut erscheinen Babylon und die Generation, die diese Stadt errichtet, als gottesfeindlich; denn mit dem Bau des babylonischen Turmes versuchten die Babylonier, ähnlich wie die Giganten der griechischen Überlieferung, die Himmelsburg des göttlichen Himmelsherrn zu stürmen.13 Der König der Trojaner, Laomedon, versuchte die Götter Apollon und Poseidon und sodann auch Herakles um den ausbedungenen Lohn beim Bau der trojanischen Mauern zu prellen,14 und der Brudermörder Romulus galt nach einer weitverbreiteten Überlieferung als der Gründer Roms.15 So schien die Gründung dieser Städte und der Stadt überhaupt mit einem Frevel erkauft zu sein. Deshalb schien ein Fluch als Schatten auch über der Geschichte dieser Städte zu liegen. Unheil und Untergang werden deshalb nach Mythos und Myth-Historie mit der Stadt verknüpft. Die geschichtliche Überlieferung mit ihren Berichten über die Zerstörung der zu-
Colloquium Anatolicum 1 (2002) 101–140; Ch. Ulf (Hrsg.), Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz (München 2003). 10 E. Unger, Babylon, die heilige Stadt, nach der Beschreibung der Babylonier (Berlin 1931). 11 C. J. Classen, Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des 12. Jahrhunderts = Beiträge zur Altertumswissenschaft 22 (Hildesheim, New York 1980). 12 Gen. 4,17; entsprechend die Septuaginta-Übersetzung. C. Westermann, Genesis 1. Gen. 1–11 3 (Neukirchen-Vluyn 1983) 436–467, bes. 443–445 ändert den überlieferten Text und gewinnt so Kains Sohn, Henoch, als den Erbauer der ersten Stadt. Ferner vgl. N. Strosetzki, Kain und Romulus als Stadtgründer. In: Forschungen und Fortschritte 29 (1955) 184–188. 13 Gen. 11,1–6; dazu Westermann (Anm. 12) 707–734; W. Röllig, Art. Babylon II Metaphorisch. In: Lexikon für Theologie und Kirche 13 (1993) 1335; W. Speyer, Art. Giganten. In: RAC 10 (1978) 1247–1276, bes. 1263. 14 M. Stoevesandt, Art. Laomedon. In: Der Neue Pauly 6 (1999) 1138 f. 15 Strosetzki (Anm. 12) und Anm. 22.
2. Von Troja über Etrurien nach Rom
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vor genannten und vieler anderer Städte vermag diese mythisch-symbolische Aussage zu bestätigen. Troja und seine schließliche Zerstörung durch die Griechen bildet im Spiegel unserer literarischen Überlieferung, die mit Homer beginnt, den Anfang der europäischen Hochkultur. Für das Selbstverständnis der Griechen war dieser Krieg wegen des Helenaraubes durch den Priamossohn Paris gerechtfertigt. Dadurch, dass die Griechen Troja als die ältere asiatische Kultur zerstört haben, wird dieser Krieg zugleich auch zu einem Vorspiel all jener Zerstörungen, die der europäische Kampfeswille und der europäische Geist im Laufe der nächsten Jahrtausende bis heute in den Kulturen der Menschheit angerichtet haben. Allerdings waren diese Zerstörungen oft zugleich auch wieder die Bedingungen für die Möglichkeit des Entstehens neuer Kulturen. Diese auch sonst zu belegende Uneindeutigkeit menschlichen Handelns ergibt sich aus dem immer wieder zu beobachtenden Phänomen, dass eine jede Zerstörung – zwar nicht individuell, sondern art- und gattungsmäßig betrachtet – als Bedingung für das Entstehen von etwas bisher Nichtdagewesenem, so auch einer neuen Kultur, wirken kann. Insofern trifft die zeitlose Wahrheit des Mythos von dem ungleichen Paar Aphrodite und Ares zu, das nach römischer Überlieferung auch am Anfang Roms steht, wie es noch um 400 n. Chr. der altgläubige Rutilius Namatianus betont.16 Als Kinder dieser beiden Götter galten unter anderem Anteros und Harmonia, also Kräfte, Entgegengesetztes zu binden und Gegensätzliches zusammenklingen zu lassen.17 Mit dem Trojanischen Krieg beginnt nicht nur nach antikem Geschichtsverständnis das erste aus dem Mythos in die Geschichte führende Kapitel des europäischen Geistes. Der Gegensatz zwischen dem europäischen Westen und dem asiatischen Osten hat in der Folgezeit immer neue Fortsetzungen gefunden, die erlauben würden, unter diesem Gesichtspunkt eine politische und eine kulturgeschichtliche Darstellung Europas zu schreiben.
2. Von Troja über Etrurien nach Rom Für das antike, vor allem das griechische Selbstverständnis kennzeichnend ist das Bewusstsein, dass Auseinandersetzung auf den verschiedenen Ebenen des Lebens nur möglich ist, weil es zugleich auch ein Verbindendes gibt. So haben die griechischen Genealogen der myth-historischen Zeit in ihren Völ16 De reditu suo 1,67 f. Doblhofer: auctores generis Venerem Martemque fatemur, / Aeneadum matrem Romulidumque patrem; vgl. Macrob. Sat. 1,12,8: cum hodieque in sacris Martem patrem, Venerem genetricem vocemus. 17 A. St. Pease zu Cic. nat. deor. 3,59: Anteros. – Hes. theog. 933–937; Apollod. bibl. 3,4,2: Harmonia.
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12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen
kergenealogien die Verwandtschaft aller ihnen bekannten Völker betont und damit auf die virtuelle Einheit der Menschheitsfamilie hingewiesen. In dieser Weise gab es auch eine griechische, etruskische und römische Überlieferung über die trojanischen Ahnen der Römer.18 Wahrscheinlich war die etruskische die älteste Überlieferung, da sie wohl eine gewisse geschichtliche Erinnerung über die Herkunft der Ahnen der Etrusker bewahrt haben dürfte. Bekanntlich galt in Rom der trojanische Heros Aeneas, der Sohn des Anchises, des Königs von Dardanos bei Troja, und der Göttin Aphrodite als der Gründer des italischen, heute ausgegrabenen Lavinium, 20 km südlich von Rom.19 Mittelbar war Aeneas durch seinen Sohn Iulus/Ascanius, der aus seiner Ehe mit der in Troja verbliebenen Trojanerin Kreusa oder Eurydike entstammte, der Gründer von Alba Longa, beim jetzigen Castelgandolfo gelegen.20 Von Alba Longa, der Mutterstadt Roms, führt die Generationenfolge der Könige vom zweiten Aeneassohn Silvius, den Aeneas aus seiner Verbindung mit Lavinia, der Tochter des Königs Latinus, besaß, zu Rhea Silvia oder Ilia, der Tochter des Königs Numitor.21 Nach der Sage empfi ng Rhea Silvia, die als jungfräuliche Vestalin bezeichnet wird, von Mars die Söhne Romulus und Remus. Sowohl der Name des Romulus, des sagenhaften Gründers Roms, als auch der Name Roma zeigen Verwandtschaft zum etruskischen Geschlecht Rumlna bzw. Ruma.22 Obwohl die Träger der Stadt Rom und ihrer Kultur Latiner und Sabiner waren, blieb in Rom ein etruskischer Einschlag bis in die Spätantike erkennbar: Amtszeichen und Amtsehren, wie die Rutenbündel der Liktoren, die Sella curulis, die Purpurtoga und der Triumph, ferner die Eingeweideschau, vor allem die Leberschau, die Beobachtung von Blitz und Donner, die Vogelschau und die Grenzsteine in phallischer Form sind etruskische Kulturgüter und weisen zum Teil in den Vorderen Orient bis nach Babylon zurück.23 18 F. Bömer, Rom und Troia (Baden-Baden 1951) 11–49: ‚Aeneas und die Römer‘; G. K. Galinsky, Aeneas, Sicily and Rome (Princeton 1969); A. Alföldi, Die trojanischen Urahnen der Römer (Basel 1957); Ders., Das frühe Rom und die Latiner (deutsche Übersetzung Darmstadt 1977) Reg.: ‚Troja‘. 19 P. Sommella, Das Heroon des Äneas und die Topographie des antiken Lavinium. In: Gymnasium 81 (1974) 273–297. Zu Aeneas in Lavinium, spätestens seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. bezeugt, vgl. Alföldi, Das frühe Rom (Anm. 18) 228 f. 20 Alföldi, Das frühe Rom (Anm. 18) 218–225. 21 J. Zwicker, Art. Silvius Nr. 1. In: Pauly / Wissowa 3 A, 1 (1927) 130–132; A. Rosenberg, Art. Rea (Rhea) Silvia. In: ebd. 1 A, 1 (1914) 341–345. 22 A. Rosenberg, Art. Romulus Nr. 1. In: Pauly / Wissowa 1 A, 1 (1914) 1074–1104, bes. 1074–1077. 23 Vgl. C. O. Thulin, Die etruskische Disziplin 1/3 (Göteborg 1906/1909); H. S. Versnel, Triumphus. An inquiry into the origin, development and meaning of the Roman Triumph (Leiden 1970) 48–55 und öfter; H. Volkmann, Art. Roma I. Geschichte. In: Der Kleine Pauly 4 (1972) 1441–1444, bes. 1441; J. ter Vrugt-Lentz, Art. Haruspex: RAC 13 (1986) 651–662; W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 1 = Wissenschaftliche
2. Von Troja über Etrurien nach Rom
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Abgesehen von antiken Zeugen, wie Herodot und Hellanikos, steht es aus anderen Gründen fest, dass eine bestimmte Gruppe der Vorfahren der Etrusker aus Kleinasien in Italien eingewandert ist.24 Diese Vorfahren, die zu den kleinasiatischen Tyrrhenern nächste Verbindung besaßen, brachten unter den mitgeführten Kulturgütern auch den Gedanken der Stadt mit.25 Sie verstanden sich nicht nur auf Stein- und Tempelbau, sondern vermittelten Rom auch das charakteristische Stadtgründungsritual. 26 Insofern kann die Sage vom Trojaner Aeneas als dem Stammvater Roms die geschichtliche Überlieferung über die Beziehung von Rom zu den Etruskern bis zu einem gewissen Grade bestätigen. Die Bewohner des frühen Rom scheinen noch gewusst zu haben, dass einige ihrer geistigen Wurzeln über Etrurien in Kleinasien und so in Troja zu suchen seien. Die ältesten Zeugnisse über die Zerstörung Trojas, verbunden mit dem Auszug des Aeneas und der Seinen, sind griechisch-etruskische Vasen vom Ende des 6. und Anfang des 5. Jahrhunderts.27 Sie stellen die schließlich von Vergil in größter Meisterschaft literarisch gestaltete Szene bildlich dar, wie Aeneas seinen gelähmten Vater Anchises auf den Schultern aus dem brennenden Troja zusammen mit seinem Sohn Iulus/Ascanius und den Hausgöttern, den Penaten, rettet.28 In diesem Rettungsbild liegt eine der Wurzeln der Humanitas Romana. Zu ihr gehört einmal die vom Vater geprägte Familienbindung. Sie wird deutlich in der Pietas des Sohnes gegenüber dem Vater. Die vom Vater geleitete Familie wird aber erst infolge ihrer Anbindung an die göttliche Macht zu einer Ganzheit. Der Vater war in Rom zugleich auch Priester. Als solcher trägt und rettet der Vater Anchises mit Hilfe seines Sohnes die Hausgötter, die Penaten, also die geheimzuhaltenden sacra, und zwar eingeschlossen in einem Behältnis, cista, cistula, oder in einem Tongefäß. Anchises und Aeneas beweisen damit ihre Pietas gegenüber den Göttern und zugleich gegenüber ihren Nachkommen; denn diese – als erster Iulus / Ascanius – werden so unter den Schutz Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) 258–260; Th. Schäfer, Imperii insignia. Sella curulis und fasces = Mitteilungen des deutschen Archäologischen Instituts, Röm. Abt. Erg. H. 29 (Mainz 1989) 27–45, 202–206. 24 Herodot. 1,94; Hellanikos: FGrHist 4 F 4; vgl. Aristot. frg. 609 Rose. 25 A. J. Pfiffig, Herkunft und Sprache der Etrusker. In: Katalog zur Ausstellung ‚Etrusker‘, Stadtmuseum Linz, Konstanz, Schloß Schallaburg 1985 (Linz 1985) 8–17. 26 S. o. S. 158 f.; zu den antiken Zeugnissen vgl. ferner Plut. vit. Rom. 11. 27 K. Schauenburg, Äneas und Rom. In: Gymnasium 67 (1960) 176–191; W. Fuchs, Die Bildgeschichte der Flucht des Aeneas. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 1, 4 (Berlin, New York 1973) 615–632; Taf.-Bd. (1973) 47–58; ferner zusammenfassend F. Canciani, Art. Aineias. In: Lexicon iconographicum mythologiae classicae 1,1 (1981) 381–396, bes. 386–390; Taf. 1,2 (1981) 296–309. 28 Aen. 2,671–729; vgl. bereits Varro: Schol. Veron. zu Aen. 2,717 (Appendix Serviana, hrsg. von H. Hagen. Leipzig 1902, 428 f.). Zu den Penaten G. Radke, Art. Penati. In: Enciclopedia Virgiliana 4 (1988) 12–16.
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12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen
der Penaten gestellt. Die Hausgötter sind dabei gemäß der frühen magischreligiösen Mentalitätsstufe als materiell gegenwärtig gedacht. Sie galten zusammen mit dem Palladion, das Aeneas nach jüngerer Überlieferung gleichfalls aus Troja mitgenommen haben soll, als Unterpfänder der römischen Herrschaft.29 Aeneas vollzieht mit der Mitnahme dieser sacra die Übertragung der Herrschaft, die Translatio imperii, von Troja nach Italien. Die Familienbindung von Anchises, dem Geliebten Aphrodites, weist über Aeneas und Iulus / Ascanius auf Rom und die Iulier. Wie weit bereits die Etrusker die Identifikation mit Troja und Aeneas vorgenommen haben, lässt sich bisher nicht schärfer fassen. Die Römer aber fühlten sich als Abkömmlinge der Trojaner, wie viele literarische Zeugnisse seit dem 3. Jh. v. Chr. beweisen. Diese Überzeugung begleitet gleichsam als ein Grundakkord die folgende geschichtlich überschaubare und nachprüfbare Lebenszeit des römischen Volkes.30 Caesar und Augustus haben diese Verknüpfung erneut aufgenommen und weitergeführt. Caesar führte in seiner Trauerrede für seine Tante Julia seine väterliche Familie auf Venus/Aphrodite, die Mutter des Aeneas, zurück. 31 Sein Adoptivsohn Augustus aber ließ auf seinem Forum eine Aeneas-Anchises Gruppe aufstellen. 32 Seitdem begegnet dieses Bildthema in der Kleinkunst und in der großen Kunst der Römer33 und hat seine Spuren in der Kunst der Renaissance und des Barock hinterlassen. 34 29 Timaios bei Dionys. Hal. 1,67,4 = FGrHist 566 F 59; K. Gross, Die Unterpfänder der römischen Herrschaft = Neue Deutsche Forschungen, Abt. Alte Geschichte 1 (Berlin 1935) 69–96; 118 f. 30 C. Flamininus nannte sich im Jahr 198 v. Chr. auf seinem Weihgeschenk für Delphi: „Großer Führer der Aeneaden“ (Plut. vit. Tit. 〈Flam.〉 12,12). – Problematisch nach Alter und Herkunft sind die Weissagungen des Marcius bzw. der Marcii. Ihre angebliche Weissagung auf die Schlacht von Cannae (216 v. Chr.) spricht die Römer als Trojaner, ‚Troiugena‘, an (Liv. 25,12, 2–7; vgl. F. Münzer / A. Klotz, Art. Marcius 2. In: Pauly / Wissowa 14,2 [1930] 1538–1542; möglicherweise aber erst nach dem Brand des Kapitols 83 v. Chr. erfunden); ferner Speyer, Genealogie (Anm. 2) 1193 f.: Genealogie des römischen Volkes. – Tertullian apol. 25,4 (CCL 1,135 f.) spielt auf die Verbindung Roms mit Troja an. Troia Roma begegnet noch bei Prudentius, perist. 11,6; ferner vgl. Prud. c. Symm. 1,233; dazu Ch. Gnilka, Prudentiana 1. Critica (Leipzig 2000) 211–213. Corippus (6. Jh.) berichtet in Form einer knappen Inhaltsangabe den gesamten Trojanischen Sagenkreis (Joh. 1,171–196). Ferner vgl. Aug. civ. Dei 1, 3 f. 31 Suet. vit. Div. Iul. 6,1; Plut. vit. Caes. 5,2; W. Kierdorf, Laudatio funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede = Beiträge zur Klassischen Philologie 106 (Meisenheim a. Gl. 1980) 114 f.: „die Iulii betonten seit dem 2. Jahrhundert 〈v. Chr.〉 ihre Abstammung von Aeneas und damit von Venus“ mit Hinweis auf entsprechende Münzen dieser Zeit (ebd. Anm. 78). 32 Verloren, aber bezeugt von mannigfachen Nachbildungen in verschiedenen Kunstgattungen; vgl. Fuchs (Anm. 27) 627–631; P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder (München 1987) 204 f. 33 Schauenburg (Anm. 27) 184 f. 34 A. Pigler, Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 22 (Budapest 1974) 286–289.
3. Der Trojaner Aeneas bei Vergil
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Für das römische Selbstverständnis, das nicht eines dunklen Untertons entbehrt, aber auch für das römische Machtstreben, das sich trotz allem Ausgreifen in den Raum auch wieder selbst zu begrenzen wusste, ist die Identifi kation mit den aus dem brennenden Troja fl iehenden Besiegten nicht zu unterschätzen. Einzelne politische und geistige Führer Roms haben gewusst, dass alles Menschliche begrenzt ist und dass das Schicksal, das Troja zugestoßen ist, deshalb auch einmal Rom ereilen werde. Am berühmtesten ist hier jene Szene geworden, als Scipio Africanus minor bei der Zerstörung Karthagos im Jahr 146 v. Chr. des Untergangs der Herrschaft der Trojaner, der Assyrer, Meder, Perser und Makedonen gedachte. Dabei zitierte er die bei Homer von Agamemnon und von Hektor gesprochenen Verse über Trojas Untergang, und zwar im Hinblick auf Rom selbst (Ilias 4, 164 f.; 6, 448 f.): „Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt, Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs!“35 Für das Werden eines eigenständigen europäischen Bewusstseins ist die Beobachtung wichtig, dass es Trojaner waren, die den Römern als Leitbilder hoher Sittlichkeit erschienen. Das spricht für beide Völker. In diesem Fall dürfte auch für die Römer gelten, was Philippos aus Opus von den Griechen behauptet hat: „Was immer sie von den Fremdvölkern übernommen haben, das bringen sie vollkommener zu seinem Ziel“36 .
3. Der Trojaner Aeneas bei Vergil Während Trojas Zerstörung, die Vergil im zweiten Buch so bewegend durch den Augenzeugen Aeneas zu beschreiben weiß, letztlich auf den Raub der griechischen Heroine Helena durch den von den Griechen negativ beurteilten, da der Luxuria zugeneigten Priamossohn Paris zurückgeht, eilt der besiegte trojanische Held Aeneas in den Westen, ohne sich von seiner Geliebten, der karthagischen Königin Dido, auf Dauer fesseln zu lassen. Dem göttlichen Auftrag gehorsam und damit gemäß seiner Pietas gegenüber den Göttern legt er unter vielen Mühsalen die Bedingungen für das einstige Werden Roms, der Stadt und ihrer Weltherrschaft. Insofern liegt in den beiden Bewegungen ein formaler, ein struktureller Chiasmus vor: Die griechische Heroine Helena gelangt als Geraubte unfreiwillig in den Osten und wirkt dort unheilvoll als Ursache des Untergangs der Stadt, der trojanische Heros Aeneas eilt, obwohl besiegt, in den Westen und wird dort zum Urheber einer neuen Stadt mit Weltherrschaftsanspruch. Seit Julius Caesar steigt dann Aeneas zum Stamm35 Überliefert vom Augenzeugen Polybios 38,21,1–3. 22,1–3; Appian. Lib. 132; Diod. 32,24; dazu F. W. Walbank im Kommentar (Oxford 1979) 722–725. 36 Bei Plat. epinom. 987 d 9 f; ferner vgl. Cic. Tusc. 1,1 f.
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vater der neuen regierenden Dynastie der Gens Iulia auf. So begleitet Troja die römische Geschichte von ihren Anfängen bis zu Roms Neugestaltung durch den Neffen und Adoptivsohn des Aeneaden Caesar, Octavianus, Augustus genannt, 37 und bis zu dessen letztem regierenden Nachkommen, also bis zu Nero. Dieser hat selbst ein episches Gedicht Troica verfasst und aus ihm beim Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. die ‚Einnahme Trojas‘ zur Kithara vorgetragen.38 Möglicherweise hat ihn zu dieser Dichtung sein Lehrer, der Philosoph Seneca, angeregt, dessen Tragödien Troades oder Hecuba und Agamemnon dem Trojanischen Sagenkreis entnommen und erhalten sind. Wahrscheinlich hat der Satiriker Petron mit seinen 65 Versen über die Einnahme Trojas absichtsvoll auf Neros Gedicht angespielt. 39 In der vergilischen Aeneis scheinen die Liebe dem Kampf und der Friede dem Krieg untergeordnet zu sein. Aeneas als Held der Waffen und damit des Kampfes, der nur so dem göttlichen Auftrag nachzukommen vermag, steht im Mittelpunkt der Ereignisse und Bezüge. Diese sollen aber nach dem Willen des Dichters auf die eigene Gegenwart, auf Augustus und seine Epoche, vorausverweisen. 40 So dürfte die Absage des Aeneas an Dido die Zeitgenossen des Dichters an die Absage Oktavians an Kleopatra erinnert haben. Jeweils steht hier für den Osten als Symbolgestalt eine mächtige Frau als Herrscherin, die den Mann von seiner großen politischen Aufgabe, die im Westen, in Italia, liegt, abzuhalten versucht. Bedenken wir dies, so gewinnen wir von hier aus vielleicht einen Hinweis auf die auch aus anderen Anzeichen zu erkennende Unvollendetheit des Gedichtes. In der jetzigen Aeneis fehlt die Entsprechung zu der von Augustus so sehr herbeigewünschten Friedenszeit, der Pax Augusta.41 Wie die Bürgerkriege der neuen Friedenszeit unter Augustus und Livia vorausgingen, so die Kämpfe des Aeneas seiner neuen Regierungszeit an der Seite Lavinias in Lavinium. Diese Friedensära, die Aeneas für Mittelitalien gebracht hat, ist aber in der uns vorliegenden Aeneis nicht thematisiert. Heute 37 Oktavian war durch seine Mutter Atia mit den Juliern blutsverwandt (Suet. vit. Aug. 4,1; vgl. D. Kienast, Augustus, Prinzeps und Monarch [Darmstadt 1982] 2). Zu Tiberius vgl. B. Andreae, Odysseus. Mythos und Erinnerung. Ausstellungskatalog München, Haus der Kunst, 1. Oktober 1999 bis 23. Januar 2000 2 (München 2000) 220–225: Kaiser Tiberius und die fatalia Troiana. 38 Tac. ann. 15,39,3; Iuven. 8,221; Suet. vit. Ner. 38,2; Dio. Cass. 62,18,1; vgl. Buc. Eins. 1,38–41; W. Kroll / F. Skutsch (Hrsg.), W. S. Teuffels Geschichte der römischen Literatur 2 6 (Leipzig, Berlin 1910) § 286, 8; E. Courtney, The fragmentary Latin poets (Oxford 1993) 359; G. J. Baudy, Die Brände Roms = Spudasmata 50 (Hildesheim, Zürich, New York 1991) 13–15. 47–49: ‚Neros Troiadichtung‘. 39 Sat. c. 89 mit Hinweis auf ein Gemälde dieses Themas. 40 E. Norden, Vergils Aeneis im Lichte ihrer Zeit (1901). In: Ders., Kleine Schriften zum Klassischen Altertum (Berlin 1966) 358–421, bes. 397–407: Die Aeneis als nationales und augusteisches Epos. 41 W. Suerbaum, Vergil und der Friede des Augustus. In: Ders., In Klios und Kalliopes Diensten. Kleine Schriften (Bamberg 1993) 371–391.
4. Troja in der außervergilischen römischen Überlieferung
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endet die Aeneis, das berühmteste Gedicht Roms und seiner Sendung, mit dem blutigen Tod von Aeneas’ größtem Gegner und Rivalen, dem Rutulerkönig Turnus. Das Wesen der kriegerischen Stadt Rom, der Mars-Stadt, hat Vergil damit plastisch vor Augen geführt. Der erste und die letzten Verse der Aeneis gelten den Waffen, den Waffen des in Asia minor besiegten, in Italien aber sieghaften Trojaners Aeneas. Mit den Waffen ist zugleich der Todesgedanke verknüpft. Der herausgehobene Tod des Aeneasgegners Turnus weist auf die zahlreichen magnae mortes aus Roms Geschichte hin.42 Rom ist die große Lehrmeisterin eines blutig erzwungenen individuell und personal vollzogenen Sterbens. Groß zu sterben verstanden viele Männer und Frauen des antiken und später des christlichen Roms. Vergil lässt Aeneas, der typologisch auf Augustus hinweist, nicht sterben, sondern vor allem jene, die sich Aeneas und dem von ihm vollzogenen göttergewollten Auftrag Roms entgegenstellen, heißen sie Dido, die aus enttäuschter Liebe Selbstmord begeht, oder Turnus.
4. Troja in der außervergilischen römischen Überlieferung Bei der Fülle des Erhaltenen, des Rekonstruier- und Erschließbaren in vielen literarischen Gattungen, seien es selbständige Werke, wie Epen und Tragödien, oder größere Abschnitte in Dichtung und Prosa, kann nur Einzelnes ausgewählt und knapp beleuchtet werden. Je mehr die Römer seit hellenistischer Zeit eine eigene Literatur hervorzubringen vermochten und sich auf sich selbst und die eigenen zugewachsenen Überlieferungen besannen, um so die kulturell erdrückende Übermacht des griechischen Geistes ein wenig zurückzudrängen, desto bereitwilliger übernahmen sie die etruskisch vermittelte Aeneasüberlieferung. Seit Homers Ilias galt die epische Dichtung als eine Art der Geschichtsschreibung. Deshalb begegnet die Aeneasüberlieferung als geschichtlicher Ereigniszusammenhang zwischen Troja und den Anfängen Roms sowohl bei Epikern, wie bei Naevius am Ende des 3. Jahrhunderts in seinem Belli Punici Carmen und bei Ennius in seinen Annalen, als auch bei den römischen Geschichtsschreibern, Fabius Pictor, Cato, den Annalisten, wie Cassius Hemina, bis hin zum Anfang von Livius’ großem Geschichtswerk und der von ihm abhängenden spätantiken Geschichtsschreibung, wie vor allem dem anonym überlieferten Buch Origo gentis Romanae, Über den Ursprung des römischen Volkes.43 Außer den Ge42 A. Hugenschmidt, Magnae mortes. Im Sterben bewiesene Größe bei den Römern (Diss. Freiburg 1960); A. Ronconi, Exitus illustrium virorum. In: RAC 6 (1966) 1258– 1268. 43 Zu Naevius J. Blänsdorf (Hrsg.), Fragmenta poetarum Latinorum epicorum et lyricorum (Leipzig 1995) 45–57; zu Ennius ann. 1 frg. 12–27: O. Skutsch, The Annals of Q.
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schichtsschreibern der Republik war es vor allem der Altertumsforscher und Polyhistor Marcus Terentius Varro, der in seinen Antiquitates rerum humanarum, in De gente populi Romani und in De familiis Troianis die Grundlage für das geschaffen hat, was Vergil für seine Darstellung des Aeneas und der Translatio imperii von Troja nach Latium und Rom benutzen konnte. 44 Mit der Einschätzung der Trojaüberlieferung als einer geschichtlichen Begebenheit folgten die römischen Geschichtsschreiber und Antiquare, von denen außer Varro auch Plinius der Ältere zu nennen wäre, den griechischen Gelehrten. So hatte Thukydides in seiner Archäologie die Geschehnisse um Troja mitberücksichtigt. 45 Aus zwei Gründen erhält Troja in Rom Beachtung, zum einen, weil die von den Griechen besiegte Stadt als die ursprüngliche Mutterstadt Roms galt, zum anderen, weil während der republikanischen Zeit der politisch-militärische Gegensatz zu den Griechen zunächst in Süditalien und Sizilien, sodann im griechischen Mutterland gewachsen war. Deshalb gehörte der Trojastoff auch zu den bevorzugten Themen der römischen Tragödiendichtung, und dies seit dem ältesten Kunstdichter Roms, seit Livius Andronicus (gest. 204 v. Chr.). 46 Solange das antike Schulwesen unversehrt blieb – und dies trifft bis in den Anfang des 5. Jahrhunderts zu –, gehörte Vergils Aeneis zur Grundlage der römischen Bildung. Zu Naevius, Ennius und den älteren Geschichtsschreibern griffen in dieser Zeit nur noch gelehrte Grammatiker und Antiquare. Alle Epiker nach Vergil hatten sich mit der Aeneis auseinanderzusetzen. Diese Rezeptionsgeschichte kann hier nicht aufgerollt werden. In ihr gebührte beispielsweise Ovid, vor allem in seinen Metamorphosen, aber auch in zahlreichen anderen Werken, ein zentraler Platz.47
Ennius 2 (Oxford 1986) 169–192. – Zu den Geschichtsschreibern H. Peter (Hrsg.), Historicorum Romanorum reliquiae 1 (Leipzig 1906, 2. Aufl . ebd. 1914, Ndr. mit bibliographischen Ergänzungen: Stuttgart 1967) Reg.: ‚Aeneas‘, ‚Troja‘. – Liv. 1,1–3. – Pseudo-Aurelius Victor. Origo gentis Romanae. Hrsg., übers. und komm. von J.-C. Richard (Paris 1983); vgl. W. Suerbaum, „Dum conderet urbem – inter maria duo“. Eine weitere Vorbedingung für die Gründung der Stadt durch Aeneas in der Origo gentis Romanae. In: Festschrift F. Egermann (München 1985) 89–104. 44 P. Mirsch, De M. Terenti Varronis antiquitatum rerum humanarum libris XXV (Diss. Leipzig 1882) 88–91: B. 2, frg. 6–19; P. Fraccaro, Studi Varroniani. De gente populi Romani libri IV (Padova 1907, Ndr. Roma 1966); H. Dahlmann, Art. M. Terentius Varro. In: Pauly / Wissowa Suppl. Bd. 6 (1935) 1172–1277, bes. 1229–1234. 1237–1242. 45 De bello Peloponnesiaco 1,11 f.; vgl. A. Tsakmakis, Thukydides über die Vergangenheit. In: Classica Monacensia 11 (Tübingen 1995) Reg.: ‚Troia‘. 46 O. Ribbeck, Tragicorum Romanorum Fragmenta ( 2 Leipzig 1871, Ndr. Hildesheim 1962) passim; Ders., Die römische Tragödie im Zeitalter der Republik (Leipzig 1875, Ndr. mit einem Vorwort von W.-H. Friedrich. Hildesheim 1968) passim. 47 B. 12–14 passim; 15,435–452; vgl. auch die Heroides passim; M. Dippel, Die Darstellung des Trojanischen Krieges in Ovids Metamorphosen (12,1–13, 622) = Europäische Hochschulschriften R. 15, 46 (Frankfurt a. M. 1990).
4. Troja in der außervergilischen römischen Überlieferung
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Neben der römischen Trojaüberlieferung war seit dem 3. Jh. v. Chr. bei den Gebildeten Roms das Griechische und damit die griechisch geformte Trojaüberlieferung bekannt. Einzelne versuchten die künstlerisch gestaltete griechische Trojaüberlieferung in Rom weiteren Kreisen bekannt zu machen: Livius Andronicus übersetzte die Odyssee, 48 Cn. Matius und Ninnius Crassus die Ilias. 49 In neronischer Zeit entstand der Homerus Latinus, das ist die Ilias Latina eines Italicus. Dieses hexametrische Gedicht von 1070 Versen bietet eine recht bescheidene Bearbeitung von Homers Ilias. 50 Die Kenntnis des Griechischen und der griechischen Literatur ging nach dem Tod der philhellenischen Herrscher des 2. Jahrhunderts n. Chr. im Westen merklich zurück. Seit der Tetrarchie, seit dem Aufstieg Konstantinopels und der späteren Reichsteilung unter den Söhnen Theodosius I. fand das Griechische hier immer weniger Leser.51 Der Verfall des Imperium Romanum im Inneren während des 3. Jahrhunderts war für die höhere Bildung ein schwerer Schlag. Die Allgegenwart des Krieges in der Völkerwanderungszeit und die allgemeine Verlagerung des Geistes von der heidnischen Antike weg hin zum Christentum, und zwar zu dessen asketisch-mönchischen Formen, ließen die Überlieferungen über Trojas Krieg seit dem 4. Jahrhundert im allgemeinen Bildungsbewusstsein zurücksinken. Trotzdem vermochte die Spätantike in zwei – literarästhetisch betrachtet – geringwertigen Werken, dem Tagebuch, Ephemeris, des Kreters Diktys und den Acta diurna belli Troiani des Dares Phrygius das Geschehen um Troja noch einmal neu aufleuchten zu lassen. 52 Gehen wir von der großen Wirkungs-
48 Die Fragmente bei Blänsdorf (Anm. 43) 21–33; vgl. W. Suerbaum, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter: Livius Andronicus – Naevius – Ennius = Spudasmata 19 (Hildesheim 1968). 49 Die Fragmente bei Blänsdorf (Anm. 43) 112–115, 118; vgl. Kroll/Skutsch (Anm. 38) 16 (1916) § 150, 2 f.; P. L. Schmidt, Art. Matius. Nr. 3. In: Der Neue Pauly 7 (1999) 1027. – Zu Ciceros Übersetzung von Verspartien aus Ilias und Odyssee sowie griechischen Tragödien dieses Stoffes K. Büchner, Art. M. Tullius Cicero (Fragmente). In: Pauly / Wissowa 7 A, 1 (1939) 1236–1274, bes. 1256 f. 50 In mittelalterlichen (seit dem 11. Jahrhundert) und in humanistischen Handschriften begegnet als Titel auch Pindarus Thebanus; vgl. Kroll / Skutsch (Anm. 38) 2 § 320, 7–9; E. Courtney, Art. Ilias Latina. In: Der Neue Pauly 5 (1998) 933 f. 51 P. Courcelle, Les lettres grecques en occident. De Macrobe à Cassiodore = Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 159 (Paris 1948) Reg.: ‚Homère‘. 52 Zu Diktys: St. Merkle, Die Ephemeris belli Troiani des Diktys von Kreta = Studien zur klassischen Philologie 44 (Frankfurt a. M. 1989); K. Sallmann, Septimius, Ephemeris belli Troiani. In: Ders. (Hrsg.), Die Literatur des Umbruchs. Von der römischen zur christlichen Literatur 117–284 n. Chr. = Handbuch der lateinischen Literatur der Antike 4 (München 1997) 591. 593–597. – Zu Dares: W. Schetter, Dares und Dracontius über die Vorgeschichte des Trojanischen Krieges. In: Ders., Kaiserzeit und Spätantike. Kleine Schriften (Stuttgart 1994) 295–313; Ders., Beobachtungen zum Dares Latinus. In: ebd. 280–294; A. Beschorner, Untersuchungen zu Dares Phrygius = Classica Monacensia 4 (Tübingen 1992).
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12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen
geschichte der beiden Trojabücher im Mittelalter aus, so ist sie nur der unechten und romanhaften Überlieferung über Alexander den Großen an die Seite zu stellen, ein Beweis, wie sehr die Antike seit dem 6. Jahrhundert in den Nebeln der Sage und der Legende untergegangen ist. Ein Grund hierfür war nicht zuletzt die Überformung der römischen Welt durch die Germanen, die einer urtümlicheren, d. h. vorgeschichtlichen und vorbegriffl ichen Bewusstseinslage angehörten, die der griechischen der vorhomerischen Zeit vergleichbar war. Bis in das 15. Jahrhundert galten Diktys und Dares und ihre Bücher als geschichtlich. Während der oberitalienische Humanist Sicco Polenton (1375/76–1446/48) in seiner Literaturgeschichte Diktys und Dares noch für geschichtliche Zeitgenossen des Trojanischen Krieges hält, hat sie als erster Lino Coluccio dei Salutati (1331–1406) als unglaubwürdig und apokryph bezeichnet.53 Die beiden Trojaerzählungen gehören verschiedenen Zeiten an, wollen aber Geschichte und nicht freie Erfi ndung vermitteln. Der Anspruch auf Echtheit und hohes Alter geht so weit, dass als Verfasser des einen Trojabuches Diktys Cretensis, der gleichnamige Waffengefährte des griechischen Helden Idomeneus, des Enkels des Minos, Königs von Kreta, erscheint und den Inhalt als sein Tagebuch, Ephemeris, ausgibt, geschrieben auf dem urtümlichen Beschreibstoff, Lindenbast. Außerdem sei es, wie der Prolog mitteilt, in phönizischer Schrift abgefasst und ins Griechische übertragen worden. 54 Mit den verwendeten Echtheitsbeglaubigungen, zu denen außerdem noch die Auffi ndung der Tagebücher unter eigenartigen Umständen zur Zeit Neros kommt, gehört das Werk zur antiken Literatur mit falscher Verfasserangabe, zur antiken Pseudepigraphie.55 Aufgrund von zwei Papyrusfunden mit Stücken des griechischen Textes ist die ursprünglich griechische Fassung gesichert. 56 Diese hat ein uns unbekannter Verfasser in der Zeit zwischen Nero, auf den der Prolog hinweist, und den aus dem Ende des 2. und dem Anfang des 3. Jahrhunderts stammenden Papyrusfragmenten des griechischen Textes geschrieben. Ist der lateinische Übersetzer und Bearbeiter (L.) Septimius mit Septimius Serenus bzw. Serenus Sammonicus gleichzusetzen, dann hat er zu Beginn des 3. Jahrhunderts gelebt.57 Unbekannt ist der Ort der Ab-
53 W. Speyer, Italienische Humanisten als Kritiker der Echtheit antiker und christlicher Literatur = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Geistes- und sozialwiss. Kl. (1993) Nr. 3 S. 17. 21. 54 Prolog.: 2 f., Eisenhut. 55 W. Speyer, Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike = Hypomnemata 24 (Göttingen 1970) 55–59 und Reg. ‚Diktys‘; Merkle (Anm. 52) 73–80. 56 In der Ausgabe von W. Eisenhut (Leipzig 1973) 134–140; Merkle (Anm. 52) 243– 262. 57 Sallmann (Anm. 52).
4. Troja in der außervergilischen römischen Überlieferung
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fassung des Originals und der Übersetzung. Der Verfasser versucht Homer zu verbessern und zu überbieten. Der Inhalt umfasst die Geschehnisse vom Raub Helenas bis zum Tode des Odysseus. Der Autor verzichtet auf alles Mythische und gibt einen angeblichen Tatsachenbericht. Dieser Rationalismus ist geistesgeschichtlich bemerkenswert und verweist deutlich auf die frühe Kaiserzeit. Während Dictys Cretensis eine griechenfreundliche Gesinnung hegt, steht der Verfasser des schmäleren und sachlich wie formal schwächeren DaresBuches auf Seiten der Trojaner. 58 Auch der falsche Dares wird als Augenzeuge der beschriebenen Geschehnisse geschildert. Im Brief, der dem Er-Bericht vorangeht und den angeblich Cornelius Nepos an Sallust geschrieben hat, behauptet der unbekannte Verfasser oder Fälscher, er habe das Buch in Athen gefunden und sogleich ins Lateinische übersetzt. 59 Die Leser sollen durch den Vergleich zwischen dem angeblichen trojanischen Augenzeugen Dares und Homer erkennen, bei wem die geschichtliche Wahrheit liege. In Athen habe man Homer als verrückt beurteilt, weil er Götter mit Menschen kämpfen lässt, bemerkt der Briefschreiber. Wie Dares mitteilt, hat Aeneas zusammen mit Antenor den Griechen die Stadt verräterisch geöffnet und durfte deshalb zusammen mit den Seinen auswandern. Als Motiv wird die Friedensliebe gerühmt und so der Verrat entschuldigt. 60 Zur Deutung dieser Mitteilung bietet sich vielleicht ein Bezug auf die Zeit des Verfassers an. Wollte der unbekannte Autor seinen Zeitgenossen den politischen Rat erteilen, mit den ins Imperium eingefallenen Germanen zu einem friedlichen Ausgleich zu kommen? Da bereits Ptolemaios Chennos und Aelian ein griechisches Dares-Buch bezeugen, 61 ist es möglich, ja wahrscheinlich, dass der uns vorliegende lateinische Dares an dieses oder an ein paralleles, heute verlorenes, griechisches Original angeknüpft hat. Die erhaltene lateinische Fassung, die anscheinend Dracontius, der christliche römische Dichter der Vandalenzeit in Nordafrika, bei seiner Abfassung von Romulea Nr. 8 benutzt hat, ist wohl im 5. Jahrhundert n. Chr. entstanden. 62 Isidor von Sevilla hat das Dares-Buch erwähnt und als geschichtliche Urkunde bewertet; er vergleicht Dares mit Mose und hält die Beiden für die ältesten Geschichtsschreiber überhaupt.63 58 Hrsg. von F. Meister (Leipzig 1873, Ndr. ebd. 1991). Zu einer umfangreicheren Fassung des Textes A. Pavano, A proposito di una presunta seconda redazione della ‚De excidio Troiae historia‘ di Darete Frigio. In: Sileno 19 (1993) 229–275; vgl. ebd. 525–532. 59 S. 1 Meister; vgl. Speyer, Bücherfunde (Anm. 55) Reg.: ‚Dares‘. 60 c. 37–41. 61 Ptolem. Chenn. bei Phot. bibl. 190,147 a, 26–29 (3,53 Henry); Ael. var. hist. 11,2. 62 Schetter, Dares und Dracontius (Anm. 52). 63 Isid. orig. 1,42,1 f.; zu Johannes Malalas vgl. die Ausgabe von J. Thurn (Berlin 2000) 13*f. und 447: ‚Diktys‘. – Zur angeblichen Abkunft der Franken von den Trojanern H. Hommel, Symbola, Bd. 1. Kleine Schriften zur Literatur- und Kulturgeschichte der Antike
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12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen
Diktys und Dares sind Erzeugnisse einer entseelten Rhetorik. Mit Geschichtsschreibung haben sie so wenig zu tun wie mit Dichtung. Sie versuchen die griechische Tradition weiter auszubauen, nach der der Krieg um Troja nicht Sage und poetische Erfi ndung, sondern Geschichte ist. Aber gerade die Eigenschaften, die Homers Ilias und auch Vergils Aeneis auszeichnen, gehen den beiden Trojabüchern ab. Sie enthalten erfundene Tatsachen, Genealogien und nüchterne Personenbeschreibungen, also Mitteilungen, die im heutigen Sinn Informationen heißen können, und dies in einem Telegrammstil, ohne zu einer symbolisch-dichterischen Vertiefung vordringen zu können. Insofern verdünnt sich in ihnen die große antike Kunsttradition, zu der der Trojastoff die griechische und die römische Literatur angeregt hat.
5. Das Trojaspiel: Ludus Troiae Diese Zusammenschau bliebe unvollständig, würde nicht zum Abschluss noch ein kurzer Blick auf das in der Forschung – vor allem was sein Alter betrifft – widersprüchlich beurteilte Trojaspiel geworfen. Eine Prüfung der archäologischen, linguistischen und literarischen Fragen erforderte allerdings eine eigene Untersuchung und Darstellung. 64 Problematisch ist die Deutung der mit Bildern Berittener und der linksläufigen Aufschrift ‚Truia‘ geschmückten etruskischen Weinkanne, Oinochoe, von Tragliatella, um 620 v. Chr. 65 Bedeutet ‚Truia‘ hier ‚Bewegung‘ oder ‚Troia‘ bzw. ‚Trojaspiel‘ oder beides?66 Wahrscheinlich hat Varro über dieses Spiel in seinen antiquarischen Schriften geschrieben. Ausführlich stellt es dann Vergil in der Aeneis mit Blick auf Augustus dar, der dieses Spiel zunächst begünstigt hat. 67 Bei Vergil beschließt dieses Kampfspiel der trojanischen Jugend um Aeneas die verschiedenen Spiele zu Ehren des verstorbenen Anchises an dessen erstem Jahresgedächtnistag. 68 Knaben und Jugendliche haben bei diesem Reiterspiel verwickelte und verschlungene Reitbahnen einzuhalten. Aus-
= Collectanea 5 (Hildesheim, New York 1976) 393–410; M. Innes, Teutons or Trojans? The Carolingians and the Germanic past. In: Y. Hen / M. Innes, The use of the past in the early Middle Ages (Cambridge 2000) 227–249, bes. 248 f. 64 K. Schneider, Art. Ludus Troiae. In: Pauly / Wissowa 13,2 (1927) 2059–2067; E. Mehl, Art. Troiaspiel. In: Pauly / Wissowa Suppl. Bd. 8 (1956) 888–905; K. W. Weeber, Troiae lusus. In: Ancient society 5 (1974) 171–196; H. Kern, Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen. 5000 Jahre Gegenwart eines Urbildes 3 (München 1995) 99–111; L. Polverini, Art. Ludus Troiae. In: Enciclopedia Virgiliana 5,1 (1990) 287–289. 65 Roma, Museo dei Conservatori; abgebildet bei Kern (Anm. 64) 104 f., Abb. 110–112; Weeber a.O. lehnt die Verbindung zum Trojaspiel ab. 66 Vgl. Anm. 65. 67 Suet. vit. Aug. 43,2; vgl. Schneider (Anm. 64) 2066 f. 68 Aen. 5,545–605.
5. Das Trojaspiel: Ludus Troiae
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drücklich erinnert Vergil dabei an das Labyrinth von Kreta. Damit dürfte der Ludus Troiae in das Problemfeld des Labyrinths und seiner Symbole gehören. Zum anderen besaß das Spiel seit Cäsar und Augustus erhebliche Bedeutung im neuen Kulturprogramm der Julier, das der Erneuerung der alten Zeit und ihrer Sitten ebenso diente wie der Legitimierung der neuen Herrschaftsform. Da bei Vergil der Aeneassohn Iulus/Ascanius das Spiel anführt, ist der Bezug zum Iulier Augustus nicht zu übersehen. Ursprünglich war das Trojaspiel wohl kein freies Spiel, sondern ein magisch-religiöser Ritus. Verschiedene antike Zeugnisse betonen auch den sakralen Charakter des Ludus Troiae, ohne ihn genauer zu bestimmen. 69 Wahrscheinlich fassen wir in diesem Kampfspiel einen der wohl in allen Frühkulturen verbreiteten Initiationsriten der männlichen Jugend.70 Zu diesen Riten gehörten besondere Mutproben und damit der Erweis der erreichten Mannbarkeit. Die Heiligkeit war in allen Ursprungskulturen mit dem Lebens- und dem Todesaspekt verbunden. Im Labyrinth erlebte die Jungmannschaft ähnlich wie Theseus in seinem Zusammentreffen mit Minotaurus die Begegnung mit Tod und Unterwelt.71 Indem sie im labyrinthisch verschlungenen Kampfspiel dem Tod begegnete und unversehrt aus dieser Begegnung wieder herauskam, war sie für das Leben in der Welt der Erwachsenen vorbereitet. Tötenkönnen und Zeugenkönnen bilden im archaischen Erleben eine Einheit. Insofern gehört der Ludus Troiae der bereits bis zu einem gewissen Grad profanierten augusteischen und nachaugusteischen Riten einer weit zurückliegenden Epoche und einer älteren Mentalität an: Aus ursprünglichem Ritus war nunmehr bereits Brauch, war Spiel geworden. Im ursprünglichen Ludus Troiae erkennen wir so einen Quellgrund, aus dem der Geist des Theaters gespeist wird. Dieser Quellgrund liegt im Mysterium von Leben und Tod und damit für den Menschen zugleich in der Liebe, da ohne sie eine Vereinigung von Gegensätzlichem, ja von Gegensätzen nicht möglich ist. Hier dürfen wir uns wieder an Aphrodite und Ares und an ihre Kinder Anteros und Harmonia erinnern.72 Dieses Mysterium der Vereinigung von Gegensätzen73 ist aber in seiner ganzheitlichen Gestalt nachzuerleben, will man es in seinem Wesen erfassen. Eine derartige ganzheitliche Ge69
Plut. vit. Cat. min. 3,1; Sen. Troad. 777–779; Galen. ther.: 14,212 Kühn. R. Turcan, Art. Initiation. In: RAC 18 (1998) 87–159, bes. 90–95, wo aber der Ludus Troiae nicht erwähnt ist. 71 W. Pötscher, Aspekte und Probleme der minoischen Religion = Religionswissenschaftliche Texte und Studien 4 (Hildesheim, Zürich, New York 1990) 165, Anm. 20 und Reg.: ‚Labyrinth‘. 72 Siehe o. Anm. 17. 73 C. G. Jung, Mysterium coniunctionis. Untersuchungen über die Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegensätze in der Alchemie. In: Gesammelte Werke 14, 1/2 und 14,3: Ergänzungsband von M.-L. von Franz, ‚Aurora consurgens‘, ein dem Thomas von 70
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12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen
stalt stellt sich in verschiedenen Konkretisierungen des Mythos, der Sage oder der Geschichte der Griechen dar. Eine herausragende, weil zugleich auch symbolische Gestalt und Gestaltung ist die Myth-Historie von Troja, der Begegnung von West und Ost.
Aquin zugeschriebenes Dokument der alchemistischen Gegensatzproblematik (Olten, Freiburg 1971).
13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens 1. Zur Bewusstseinsgeschichte Die bisherige Entfaltung des Homo sapiens können wir vornehmlich als eine Geschichte der Ausbildung seines seelisch-geistigen Bewusstseins lesen und verstehen. Das Entscheidende zur Ausbildung des Menschen als einer neuen Gattung innerhalb der Lebewesen war das Erwachen zu einem bewussten, seiner selbst mächtigen oder personalen seelisch-geistigen Leben. Dieses Erwachen ging nicht punktuell oder plötzlich vonstatten, sondern vollzog sich und vollzieht sich noch immer. Dabei ist nicht von einem linearen Aufstieg im Sinne eines Fortschrittsdenkens zu sprechen, sondern von einem Auf und Ab innerhalb der Geschichte der menschlichen Geistseele. Überschaubar und verhältnismäßig klar erkennbar ist dieser Prozess der Entfaltung in der Zeit der Hochkulturen vom Alten Orient bis heute. Die altorientalischen Hochkulturen erscheinen im Vergleich zu der gesamten Dauer, die der Homo sapiens bis dahin auf der Erde verbracht hat, als überaus jung. Die Tatsache, dass die menschliche Geistseele eine Bewusstseinsgeschichte durchlaufen hat und weiter durchläuft, ist überhaupt die wesentliche Bedingung für das Entstehen differenzierter Kulturen in den verschiedenen geographischen Räumen der Erde. Ohne die Veränderungen des Bewusstseins zu bedenken, können wir die Kultur- und Geistesgeschichte nicht deuten.1 Dabei dürfte der Schritt vom intuitiv geschauten Bild, wie es der gewachsene Mythos als das für uns älteste Zeugnis menschlichen Geistes bewahrt, hin zum rational gefundenen abstrakten Begriff, wie ihn griechische Denker seit dem 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. vollzogen haben, die größte geistesgeschichtliche Folgewirkung besitzen; denn nur infolge dieses Schrittes wurden Theologie und Philosophie, letztere die Mutter aller Einzelwissenschaften, möglich. Die Denkbewegung von den Vorsokratikern bis hin zur Schule des Aristoteles und damit zum Entstehen der Einzelwissenschaften war für die Geburt der Neuzeit aus dem Geist der Antike in der Renaissance die wichtigste, ja die grundlegende Voraussetzung.
1
E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins 2 (Frankfurt 1974).
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13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens
Wir können die Geschichte, die das menschliche Bewusstsein durchlaufen hat, aber auch über den Menschen hinaus auf die gesamte uns zugängliche Wirklichkeit ausdehnen. Auch diese scheint von einem höhergradigen Unbewusstsein zu einem relativen Bewusstsein aufgestiegen zu sein; denn gegenüber dem Stein besitzt die Pflanze ein höheres und differenzierteres Bewusstsein. Und so geht die Entfaltung über die Tiere des Meeres, der Erde und der Luft bis hin zum Menschen weiter. Mit dem höheren Bewusstsein ist jeweils eine größere Lebendigkeit, Beweglichkeit, Freiheit, ja schließlich sogar eine bewusst erlebte Eigengeschwindigkeit verbunden. Am schnellsten und vielseitigsten bewegt sich der Mensch – und dies gesteigert – in seiner Geistseele, und dies wieder unterschieden in den verschiedenen Epochen seiner Geschichte. Die Beschleunigung dieser körperlichen und geistigen Beweglichkeit des Menschen wächst infolge der technischen Revolution seit dem 19. Jahrhundert zusehends. Lesen wir unter diesem Aspekt der Bewusstwerdung die Geschichte unserer Welt und des Universums, dann ergibt sich die bemerkenswerte, vom antiken Denken bestätigte Feststellung, dass der Mensch auf dem Gipfelpunkt des Kosmos der Erscheinungen steht oder, wie es das theistisch bestimmte Buch Genesis des Alten Testamentes ausdrückt: Der Mensch erscheint als das Bild Gottes und damit als die Krone der raum-zeitlichen Schöpfung.2 So stimmen auch Gottheit und Mensch im bewusst vollzogenen Schöpfertum bis zu einem gewissen Grade überein.
2. Von der Stufung der Wirklichkeit und dem Ewigen Kreis, der alle Vielheit in Dualität und Gegensätzlichkeit umfasst Gegenüber der sinnenhaft vermittelten Wirklichkeit kann die Reflexion zu einem unterschiedlichen Schluss gelangen: Für die einen verharren die Erscheinungen der Realität gleichsam nur in ihrem äußeren Kleid, d. h. sie sind ihr Kleid und verfügen über kein darüber hinausgehendes Wesen. Deshalb sind sie tatsächlich nur Traum- und Nebelgebilde, die sich bald wieder gänzlich auflösen. Greift man nach ihnen, so lassen sie sich nicht fassen. Der reine Vollzug, wie ihn R. M. Rilke in seinen ‚Sonetten an Orpheus‘ besingt, ist dann das Eigentliche oder das Wesen der Wirklichkeit mit Einschluss des Menschen. 3 Dann aber wären Wirklichkeit / Realität und Nichtwirklichkeit / Irrealität, Sein und Nichtsein ununterschieden. Für die anderen verweisen die Erscheinungen in all ihrer vordergründigen Hinfälligkeit oder ihrer Kontingenz auf eine unsinnenhafte, höhere Wirklich2 3
Gen. 1,26 f. 2. Teil Nr. 13: ‚Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter / dir . . .‘
2. Von der Stufung der Wirklichkeit und dem Ewigen Kreis
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keit, die wesenhaft und damit seinshaltig ist und in ihrem Wesens- und Iststand an der Dimension des über ihr stehenden Unbedingten, des Absoluten und Göttlichen teilhat. Während die Welt so für die einen nur ein sinnenhaftes Schauspiel ist, das sich wie ein Luftgebilde oder eine Fata Morgana bildet und dann wieder verschwimmt und sich auflöst, ist die Realität der Welt für die anderen ein Hinweis, ein Zeichen, ein Gleichnis, ein Symbol einer andersartigen und doch verwandten geistigen Wirklichkeit, so wie es die letzten Verse des goethischen Faust andeuten: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“, also alles Sinnenhafte ist zugleich auch ein Symbol und weist damit über sich hinaus. Das bedeutet: Die Wirklichkeit außerhalb des Menschen besitzt wie der personal gestaltete Mensch ein Außen und ein Innen, einen Leib und eine der menschlichen Geistseele verwandte Struktur. Dabei herrscht zwischen beiden eine vertikale Stufung oder eine Hierarchie der beiden Ebenen. Diese Stufung prägen auch die verschiedenen Formen des Bewusstseins der irdischen Wesen aus. Der Mensch hat stets seine Verwandtschaft mit allen Erscheinungen der Welt, besonders mit allem Lebendigen erlebt und allmählich auch genauer bedacht. Da er im Gesamt der Wesen eine herausragende Stelle innehat, musste er sich auch immer dann belastet fühlen, wenn er ein Wesen getötet hatte, das auf gleicher oder einer Stufe unter ihm stand. Eine derartige Gewissensregung war nur auf dem Hintergrund der erlebten Verwandtschaft mit der Welt und deren Erscheinungen möglich. Allein die Tatsache, dass der eine Erscheinungskosmos nicht nur horizontal geordnet, sondern vertikal gestuft ist, wie dies die in platonischer Tradition stehende ‚Arbor Porphyriana‘ festhält, weist darauf hin, dass das Universum mit Einschluss der Erde nicht bloße Erscheinung, Phantasma, ist, sondern Wesenhaftes und Unzeitliches, Dauerndes und damit zugleich Denkbares und Aussagbares. 4 Wenn Platon die sinnenhafte Erscheinung vom Eidos, der Idee oder Gestalt, unterscheidet und entsprechend Meinung / Doxa von Wissen / Episteme trennt, so deutet er damit auf die Stufung oder Hierarchie der Wirklichkeit zurück, die trotz des ihr nachgeordneten Dualismus oder der nachgeordneten Paarigkeit der Gegensätze so mit sich geeint ist wie der einzelne Mensch, der Leibliches und Seelisch-Geistiges, Sterbliches und Unsterbliches in sich vereint. Die Vorgänger Platons, vor allem Parmenides, Heraklit sowie Pythagoras und seine Schule, sind wie die Mythologen vor ihnen von der Einheit von allem, sei es Erscheinung oder Wesenhaftes und Gedachtes, ausgegangen.
4 W. Speyer, Zu einem Quellenproblem bei Sidonius Apollinaris (carmen 15, 36–125): Hermes 92 (1964) 225–248, bes. 233–241; nicht beachtet von H. M. Baumgartner, Art. Arbor Porphyriana, porphyrischer Baum: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971) 493 f.; ferner vgl. Augustinus, civ. Dei 11, 16 (CCL 48,336).
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13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens
Der Satz des Heraklit: Das Ganze ist eines, 9n t0 p(n, 5 ist bereits eine begriffliche Umsetzung der entsprechenden älteren, intuitiv gewonnenen mythischen Bildvorstellung der Wirklichkeit, in der das Wirklichkeitsganze als göttliche Uroboros-Schlange erscheint, also als jene Schlange, die ihr Schwanzende in ihrem Munde hält, als der ewige Kreis, in dem Anfang und Ende eine Einheit bilden.6 Das Erleben des Ganzen und die Vorstellung dieses Erlebens sind auf dieser mythischen Bewusstseinsstufe fast noch ungeschieden. Wie diese Bildvorstellung zeigt, sind Zeit und Raum als die Bedingungen für das Viele letztlich Ausdruck oder das In-Erscheinungtreten des Ewig-Einen, gleichsam Kleid der Ewigkeit oder des wie ein Punkt einzigen und geeinten Zentrums, der Gottheit als der einen, absoluten Bedingung von allem, eben dem Vielen, das in Zeit und Raum in gegensätzlich angeordneter Paarigkeit erscheint. Ob dieses Zentrum als kosmisch wie in den Natur- und Volksreligionen oder als personal frei schöpferisch und transzendent wie im Juden-/Christentum vorgestellt ist, jeweils umfasst ein einziger Kreis alles: Nach der Überzeugung, der die meisten griechischen Philosophen gefolgt sind, ist es der ewig in sich ruhende Kosmos oder die Natur, und nach dem Juden-/Christentum ist es das eine Weltall oder das Universum und zwar als das Werk des einen, weltunabhängigen Schöpfergottes.7 Aber auch beim Glauben an die Geschöpflichkeit der Welt umfasst der eine, transzendente Gott als der Anfang und als das Ende, als das Alpha und als das Omega, das Ganze des Vielen. Wieder ist es auch hier der ewige Kreis, sind es gleichsam die Arme Gottes, die wie die Uroboros-Schlange das Ganze der Wirklichkeit umfassen, so dass es im Sein gehalten wird, das aus den paarigen Gegensätzen, wie Werden und Vergehen, Licht und Dunkel, Sich-Ausdehnen und Sich-Zusammenziehen, besteht. Aus der Hierarchie von Gott und Welt folgt die das Ganze bestimmende Spannung, die im Gefolge orphischen Denkens Platon als Strebevermögen, Xrexi:, und als Eros gedeutet hat. 8 Es ist jene Spannung, die dem Menschen als dem einzigen irdischen Wesen bewusst wird und an der er selbst als Füh-
5 VS 22 B 50; Parallelen bei E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede 2 (Leipzig 1923, Ndr. Darmstadt 1974) 247–249; H. Diels / W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker 3 6 (Berlin 1952, Ndr. ebd. 1971) 339 b; ferner vgl. W. Beierwaltes, Art. Hen: Reallexikon f. Antike u. Christentum (= RAC) 14 (1988) 445– 472. 6 Norden a.O. 249 Anm. 1; A. Stückelberger, Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft, Medizin und Technik = Kulturgeschichte der antiken Welt 62, Mainz 1994, 122, Abb. 60: „Alchemistisches Symbol aus dem Cod. Marcianus Graec. 299 (= 584) fol. 188 v. . . .“, eingeschrieben in den Uroboros: 9n t0 p(n. 7 G. May, Schöpfung aus dem Nichts (Berlin, New York 1978); H. Kessler, Art. Schöpfung IV. Theologie- u. dogmengeschichtlich: Lexikon für Theologie und Kirche 93 (2000) 226–230; Ders., Art. Schöpfung V. Systematisch-theologisch: ebd. 230–236. 8 F. Graf, Art. Eros Nr. 1: Der Neue Pauly 4 (1998) 89–91.
2. Von der Stufung der Wirklichkeit und dem Ewigen Kreis
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lend-Erkennender und als Vermittler des Unvermittelten teilhat. Diese Spannung herrscht so auch im Verhältnis von Erscheinung und Idee Platons. Ausdruck ist seine Theorie der Teilhabe, der m2texi:. Die Welt ist deshalb einmal als Uroboros zu begreifen, zum anderen als die Hierarchie von Göttlichem und Weltlichem, von Himmel und Erde, von Vertikaler und Horizontaler, von Ewigkeit und Zeitlichkeit, von Sein und Wesenhaftigkeit einerseits und von Werden und Vergehen oder von Geschichtlichkeit andererseits. Damit zeigt sich das sinnenhaft vermittelte Wirklichkeitsganze nicht nur als einsinnig und damit als in sich geschlossen und eigentlich, nämlich nur als das, was es erscheint, sondern als uneigentlich, paradox. Traum und Wirklichkeit sind so nicht zwei getrennte Ebenen, sondern Traum ist Wirklichkeit und Wirklichkeit ist Traum. Jede Erscheinung dieser sinnenhaft vermittelten Welt weist über sich hinaus und auch das Gesamt aller Erscheinungen mit Einschluss des Menschen, der dieses zu bedenken imstande ist, weist über sich hinaus. Diese Gegensätzlichkeit in der Einheit hat bereits vor aller philosophischen Reflexion bei den Griechen der in den Ursprungskulturen gewachsene und nicht willkürlich erfundene Mythos formuliert. Ein derartiger Urmythos, der Aufschluss über das Wirklichkeitsganze gibt, ist aus der myth-historischen Epoche, die zwischen der mythischen und der geschichtlichen Epoche liegt, in vielfacher Brechung belegt.9 Vom Mythos der Uroboros-Schlange war bereits die Rede. Diesem vergleichbar, ja eng verwandt ist das mythische Bild des Vogels Phoenix: sein Grab ist der Ort seiner Neugeburt. Anfang und Ende fallen auch hier in eins zusammen.10 In diesen Zusammenhang gehören auch die Mythen einer numinosen Finsternismacht und einer göttlichen Lichtmacht, wie in Babylon der Mythos von Tiamat und Marduk, in Griechenland der Mythos von Python und Apollon oder allgemeiner gesprochen der Mythos vom Drachen und dem göttlichen oder gottmenschlichen Helden.11 In derartigen mythischen Bildern gehören die beiden gegensätzlichen, die Welt in ihrer Tiefe ausmachenden und bildenden Mächte auf das Engste zusammen. Hier bedingen Gegensätzlichkeit und Komplementarität einander. Selbst das Gegensatzpaar des Guten und des Bösen gehört in dieses Spektrum. Jeweils ist das Niedrigere, Negative mit dem Höheren, Positiven ver-
9 Vgl. M. Terentius Varro, de gente populi Romani bei Censorinus, de die natali 21, 1 (50 f. Sallmann), der folgende drei Epochen annnimmt: Vom Anbeginn der Menschen bis zur ersten Sintflut, eine Zeit, von der man nichts Genaueres weiß: tempus adelon; von der ersten Sintflut bis zur ersten Olympiade: tempus mythicon, wegen der mythenhaften Überlieferung; von der ersten Olympiade bis zu Varro: tempus historicon, weil die Geschehnisse in wahren Geschichtsdarstellungen aufbewahrt sind. 10 R. van den Broek, The myth of the Phoenix according to classical and early Christian traditions (Leiden 1972); L. Käppel, Art. Phoinix Nr. 5: Der Neue Pauly 9 (2000) 937 f. 11 W. Speyer, Art. Gottesfeind: RAC 11 (1981) 996–1043, bes. 997–1004. 1007 f.
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13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens
knüpft und verschafft dem Höheren die Möglichkeit, noch mehr zu sich selbst zu kommen. Darin liegt vornehmlich die Bedeutung menschlichen Irrens und menschlichen Leidens; denn nur so erfüllt sich das das Wirklichkeitsganze bestimmende Prinzip der Steigerung. So kann auch der Held nur dann zum Helden werden, wenn es Drachen zu besiegen gilt. Auch das Leben Jesu bestätigt diesen metaphysischen Hintergrund: In diesen Zusammenhang gehören der Teufel als der Versucher Jesu, der Verrat des Judas, das Wort Jesu vom Ärgernis, das kommen muss, Jesu Leiden und sein Abstieg in das Reich des Negativen, des Bösen und des Todes. Die Gegensätze wirken so zusammen und treiben die Entwicklung weiter, so dass das Ganze der Welt wie das Einzelne mit Einschluss des Menschen in ihr höher steigen können. So kann der Mensch nur dann zum vollen Menschen werden, gemäß dem Satz ‚Werde, der du bist‘,12 wenn er verführende, versuchende und andere negative Kräfte und Gewalten zu überwinden hat.
3. Die dialogische Struktur von Mensch und Welt Ein einziger Daseins-, Lebens- und Geistesstrom durchzieht, durchpulst und bindet den Menschen und die ihm zugängliche Wirklichkeit.13 Der Mensch gehört nicht nur wie alle Wesen, die seinsmäßig unter ihm stehen, in diesen Strom, sondern vermag ihn, wenn auch nicht zur Gänze, so doch zu einem guten Teil zu überblicken und sich als Betrachter und Beobachter ihm gegenüber zu sehen. Damit ist der Mensch, der im Universum am spätesten erscheint, auf das Wirklichkeitsganze als auf das ihm gemäße Gegenüber verwiesen. So kann und muss ihm die Welt zum Partner und zum Du werden. Dieses Verwiesen- und Angewiesensein zeigen sich deutlich im menschlichen Denken, Sprechen, Gestalten und künstlerischen Schaffen. Auch nach dem Buch Genesis beginnt sich der Mensch die Welt in ihrer vernunftgemäßen Ordnung durch Denken und Sprechen zu vergegenwärtigen.14 Wäre die Welt nicht bereits vorgeordnet, so fände der Mensch als ihr Teil nicht zur Ordnung, die immer zugleich Ordnung der Welt und Ordnung des Menschen ist,15 weil er einerseits in der vorgeordneten Welt steht und zu ihr gehört und andererseits ihr gegenübersteht und damit über ihr steht. Indem der Mensch die Erscheinungen der Welt nach ihrer relativen Ähnlichkeit ordnet, gewinnt er so
12
Pind. Pyth. 2,72. Der geheime Strom des Geschehens = Eranos Jb. 1985; F. Ohly; Ausgewählte und neue Schriften (Stuttgart, Leipzig 1995) 599–678. ‚Zur Goldenen Kette Homers‘. 14 Gen. 1,19 f.; Er gibt dem Vieh, den Vögeln, dem Wild (pars pro toto) Namen, d. h. er ordnet im Katalog der Namen für sich das bereits in der Schöpfung Geordnete. 15 Genitivus obiectivus. 13
3. Die dialogische Struktur von Mensch und Welt
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zugleich auch für sich selbst Ordnung und zwar nunmehr sogar eine Ordnung, die sich ihrer selbst bewusst werden kann.16 Deshalb ist der Mensch, eingebettet und beheimatet im Kosmos oder in der Schöpfung, auf einen Dialog mit den Erscheinungen des Kosmos oder der Schöpfung angelegt. Tritt er in diesen Dialog, und das beginnt beim menschlichen Einzelwesen mit dem Beginn des Lebens, also bereits nach der Zeugung und verstärkt nach der Geburt, dann schärft sich sein Geist und tritt aus dem Unbewussten, also dem Dunkel, oder aus dem Schoß der Urmutter und der leiblichen Mutter in die Helle des Lichtes und des Bewußtseins.17 Infolge des Dialogs mit der Welt, zunächst mit Mutter und Vater, schärft der Mensch sein Bewusstsein und bildet es aus. Insofern steht am Anfang aller menschlichen Bildung der Dialog als Ausdruck einer personalen Bindung und Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Welt in ihrer gegenseitigen Einheit und Vielheit.18 Die Gegensätze, die die Gesamtwirklichkeit in ihrer Stufung und damit zugleich in einem Gefälle wesentlich mitgestalten, können nur in einem sie übergreifenden Ganzen bestehen. Sie wirken in einem Gegen- und in einem Miteinander, gleichsam paradoxal, so wie Heraklit sie verstanden hat und wie es das chinesische Bild von Yin und Yang verdeutlicht: 19 Die Verwiesenheit und Rückgebundenheit des einen Gegensatzes auf den anderen, beispielsweise des Oberen auf das Untere, des Lichtes auf das Dunkel, des Männlichen auf das Weibliche, weisen auf die dialogische Struktur der Welt hin; denn das Eigene liegt bis zu einem gewissen Grade auch im Anderen, Fremden. Das Andere ist eben nur bedingt das Andere, da es gebrochen immer schon das Eigene war. Identität und Differenz stehen wie alle Gegensätze, die die Wirklichkeit bilden, in einem geheimen Strom, der sie ermöglicht und trägt, an dem beide teilhaben. Anziehung und Abstoßung oder wie die vielen Gegensatzpaare heißen, die alle das Viele der Erscheinungen mitbestimmen, sind gleicherweise notwendig, da nur der Dialog der Gegensätze und der an ihnen teilhabenden Einzelwesen, den Menschen eingeschlossen, die Wirklichkeit als das eine, bewegte Ganze, als den einen, lebenden Großorganismus ermöglicht, der sich in der menschlichen Geistseele seiner selbst bewusst wird. 16 Anima quodammodo omnia, quia nata est omnia cognoscere, heißt ein Satz der Schule des Thomas von Aquin; vgl. H. Schipperges, Welt des Auges. Zur Theorie des Sehens und Kunst des Schauens (Freiburg, Basel, Wien 1978) 63. 17 Vgl. E. Hornung, Echnaton. Die Religion des Lichtes (Zürich 1995) 85–96 mit Übersetzung des Hymnus Echnatons auf Aton, den Sonnengott; B. Šijakovic´ , Amicus Hermes. Aufsätze zur Hermeneutik der griechischen Philosophie (Podgorica 1996) 63–125 mit Bibliographie zur Lichtmetaphysik. 18 M. Schmaus, Sachhafte oder personhafte Struktur der Welt: Festschrift R. Guardini (Würzburg 1965) 693–700. 19 M. Granet, La pensée chinoise (Paris 1934 und öfter), deutsche Übersetzung = suhrkamp taschenbuch wissenschaft 519 (Frankfurt, M. 1985) 86–109.
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13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens
Von dieser Position aus musste Platon dazu kommen, sein Denken als ein sich der lebendigen Wirklichkeit anschmiegendes Denken nicht in Lehrvorträgen vorzutragen, sondern in das Gefäß des lebendigen zwischenmenschlichen Dialoges zu gießen. Das Gespräch als Abbild der bewegten und zugleich in sich ruhenden Wirklichkeit vermag die paradoxale Struktur der ambivalenten Wirklichkeit in ihrer Realität und Idealität, in ihrer Kontingenz und ihrer Symbolträchtigkeit, in ihrer Spiegelung von Ich und Welt, von Welt und Ich am ehesten einzufangen. Im Gespräch ist die Ganzheit von Einzelnem und Gemeinschaft annähernd zu gewinnen, und nicht im monologischen Lehrvortrag. Dieser ganzheitliche Ausgangspunkt und Ansatz Platons führte ihn ferner zu der Annahme der Weltseele, wie er dies im Timaios ausgeführt hat.20 In dieser Annahme spricht sich zugleich der Völkergedanke von Makro- und Mikrokosmos aus, 21 vom Menschen als dem Spiegel des Weltganzen, wobei bald das Wirklichkeitsganze, bald der fühlende und denkende Mensch den Spiegel bildet. Der Spiegel ist so eine Chiffre für die Du-Beziehung, unter der das Einzelne und das Viele stehen, wobei der Mensch als Person in diesen Beziehungszusammenhang miteingeschlossen ist. 22 Ein Dualismus nach der Platon bekannten iranischen Lehre vom bösen Prinzip Ahriman und dem guten Prinzip Ahura Mazda liegt für das gewachsene mythische Vorstellen, das dem organischen Philosophieren von den führenden Vorsokratikern bis zu Platon vorausgeht und aus dem die platonische Philosophie ihrerseits erwachsen ist, nicht vor. 23 Das mythische Vorstellen und Denken besitzt aber, so dürfen wir annehmen, aufgrund seines weithin spontanen Entstehens in der menschlichen Geistseele offenbarenden, d. h. Wahrheit entbergenden Charakter; denn es ist unmittelbarer Ausfluss der göttlichen Schöpfermacht, die nicht nur Körperwesen schafft, sondern auch wesentliche geistige Inhalte in der menschlichen Seele. Platons Annahme einer Wiedererinnerung, Anamnesis, der Seele knüpft hier unmittelbar an. 24 20 Timaios 34 b-37 c. 41 d; P. M. Steiner, Psyche bei Platon = Neue Studien zur Philosophie 3 (Göttingen 1992) 201–213. 21 A. Meyer, Wesen und Geschichte der Theorie von Mikro- und Makrokosmos, Diss. Bern 1900; H. Hommel, Mikrokosmos: Ders., Symbola 1 = Collectanea 5 (Hildesheim, New York 1976) 226–255; M. Gatzemeier / H. Holzhey, Art. Makrokosmos / Mikrokosmos: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5 (Basel / Darmstadt 1980) 640–649. 22 R. Konersmann, Art. Spiegel: Historisches Wörterbuch der Philosophie 9 (1995) 1379–1383. 23 U. Bianchi, Il dualismo religioso. Saggio storico ed etnologico (Roma 1958, 3. Aufl . Roma 1991); dazu C. Colpe: Göttingische Gelehrte Anzeigen 222 (1970) 1–22; J. Duchesne-Guillemin / H. Dörrie, Art. Dualismus: RAC 4 (1959) 334–350; W. Nieke, Art. Dualismus: Historisches Wörterbuch d. Philosophie 2 (Darmstadt 1972) 297–299; W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wiss. Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) Reg. ‚Dualismus‘. 24 R. S. Bluck, Plato’s Meno (Cambridge, London 1961, Ndr. ebd. 1978) Reg.: ‚Recollec-
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Platon wird hier von Goethe bestätigt, wie dessen Bemerkungen über die ‚Anticipatio‘ beweisen.25 Seitdem das menschliche Bewusstsein aus der Periode des mythischen Bildens und Vorstellens in die Periode des historischen Denkens eingetreten ist und in Griechenland in den Jahrhunderten nach Homer den Weg zum begrifflichen und auch geschichtlichen Erfassen der Wirklichkeit beschritten hat, zeigte sich stärker als zuvor die Gefährdung, die Wahrheit zu verfehlen. Diese Gefährdung folgt aus der menschlichen Freiheit, die ebenso wie das Denken selbst erst allmählich aus der Unio magica der Frühzeit zu sich selbst erwacht ist.26 Die im mythischen Zeitalter gegebene relative Einheit von Welt und Ich, von Objekt und Subjekt, war durch eine größere Objektivität ausgezeichnet. Diese ergab sich daraus, dass im Menschen die die Welt bestimmenden und gründenden Inhalte als Bilder spontan aus dem Unbewussten des Seelengrundes aufstiegen, gleichsam eine ‚Bioemergenz‘ der tragenden Seeleninhalte.27 Das, was Platon ePdo:, was Goethe Urphänomen und C. G. Jung Archetypus nennt, war der geoffenbarte Inhalt des Bewusstseins mythischer Zeit. Die während dieser Epoche weitestgehend im kollektiven Erfahren beheimatete und eingebundene einzelne menschliche Seele spiegelte deshalb die Wirklichkeit reiner wider als in der von individuell-subjektivem Erfahren, Denken und Wollen geleiteten geschichtlichen Bewusstseinsperiode, also in den Jahrhunderten vom Entstehen der Begrifflichkeit, vor allem der Philosophie in Ionien, bis heute. Die Frühzeit der menschlichen Kultur ist deshalb auch von einer größeren Ganzheitserfahrung geprägt. Ihre noch erhaltenen Werke enthalten unausgefaltet eine umfassendere Wahrheit als die Werke der Spätkulturen. Dies ließe sich an den Urmythen und auch noch an den erhaltenen Epen als den frühesten Zeugnissen der myth-historischen Epoche aufzeigen. So haben die Griechen seit der klassischen Zeit gewusst, dass die von ihnen entfalteten literarischen Gattungen und sogar die Einzelwissenschaften virtuell in den Homerischen Epen angelegt waren. Insofern kamen sie auch zu der Überzeugung, tion‘; H. Gauss, Handkommentar zu den Dialogen Platos 1,1–3,2; Reg.-Bd. (Bern 1952/1967): ‚Wiedererinnerung‘. 25 F. Strich, Kunst und Leben (Bern, München 1960) 59–76, bes. 63. 68. 73. 26 S. Mowinckel, Religion und Kultus, deutsche Übers. (Göttingen 1953) 13–27: ‚Das magische Weltbild‘. 27 E. Rutle, Bioemergenz. Befunde der Paläontologie zur Entwicklungsgeschichte: A. Locker (Hg.), Evolution – kritisch gesehen (Salzburg, München 1983) 73–96. – Ein mythisches Beispiel dieses Auftauchens geistiger Inhalte aus dem Unbewussten ist die Überlieferung über das babylonische Offenbarungswesen Oannes: Es taucht aus dem Meer, einer Chiffre für das Unbewusste, auf und lehrt die Menschen die Kultur (Beros(s)os: FGrHist 680 F 1, 4; vgl. J. Oelsner, Art. Oannes: Der Neue Pauly 8 [2000] 1079); ein weiteres Beispiel bietet eine Traumvision Esras: 4 Esra 13,1–3; ferner vgl. den mandäischen Text bei R. Reitzenstein, Das iranische Erlösungsmysterium. Religionsgeschichtliche Untersuchungen (Bonn 1921) 49 f. 121 f.
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dass den Anfängen, dem Anfang eine höhere Kraft innewohnen müsse; denn der Anfang erschien ihnen als die Bedingung aller späteren Differenzierung und Ausfächerung.28 So spricht Platon einmal von jenen Menschen einer früheren Zeit, die noch näher bei den Göttern wohnten und so als Freunde der Götter tiefere Einsichten besaßen.29
4. Zur Einheit von Theorie und Praxis und ihrer Wiedergewinnung Je weiter wir in der begriffl ich und geschichtlich geprägten Menschheitsepoche, also bei den Griechen vom 7./6. Jahrhundert an, zeitlich weiterschreiten, umso mehr stellt sich heraus, wie sehr das religiös-sittliche Verhalten des einzelnen Denkers auf das von ihm Gedachte, auf die von ihm erfassbare Wahrheit durchschlägt. Weit mehr als in der mythischen Zeit, die wir als eine Periode der Offenbarung bezeichnen können, tritt nunmehr immer deutlicher der Gegensatz von Wahrnehmen, Erfahren und Denken einerseits, und willentlicher Bejahung und Verneinung andererseits, von unverstelltem ruhigen Aufnehmen und von subjektiv bestimmten Absichten, Zwecken und Tendenzen Einzelner in den Vordergrund. Einen Beweis für diese Wandlung können wir auch im Entstehen der literarischen Fälschung erkennen. Die mythische Epoche der Offenbarung war geprägt durch die Erscheinung der sogenannten echten religiösen ‚Pseudepigraphie‘, d. h. durch Traditionen mündlicher und schriftlicher Art, als deren Urheber nicht ein bestimmter Mensch, sondern ein Gott galt. Erst in geschichtlicher Zeit begegnet uns das Phänomen der Fälschung, die durch Zwecke und Tendenzen Einzelner gekennzeichnet ist. 30 Die Bedingung für die Möglichkeit dieses gewandelten Verhältnisses von Mensch und Welt liegt in der im geschichtlichen Zeitalter wahrgenommenen individuellen Freiheit und der damit verknüpften individuellen Subjektivität. So zeigt die myth-historische Epoche in Ansätzen und die geschichtliche Zeit in großem Ausmaß ein immer deutlicheres Auseinanderfallen von Theorie und Praxis, von Denken und Tun. Aber auch aus diesem Mangel der geschichtlichen Epoche wird noch deutlich, dass von Natur aus der Einzelne als ein Ganzer, als personales Geist-Seele- und Leibwesen, dem Ganzen der Wirklichkeit gegenübertritt und gegenübertreten muss.
28 W. Speyer, Art. Genealogie: RAC 9 (1976) 1145–1268, bes. 1146–1149. 1151; Ders., Frühes Christentum a.O. (o. Anm. 23) 69–87. 281. H. Görgemanns, Art. Anfang: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 401–448. 29 Philebos 16 c. 30 W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = Handbuch der Altertumswissenschaft 1,2 (München 1971) bes. 13–21, 35–37.
4. Zur Einheit von Theorie und Praxis und ihrer Wiedergewinnung
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Für die Generationen vor Platon, die zeitlich noch relativ nahe an die Epoche des ganzheitlich ausgerichteten mythischen Erlebens der Welt angrenzten, war es einsichtig, dass es keinen Gegensatz von Theorie und Praxis geben könne und dürfe, dass, wenn dieser Gegensatz auftritt, er auf religiös-sittlichen Fehlhaltungen und Fehlentscheidungen beruhe. Anders als viele ihrer Nachfolger in der Neuzeit verstanden sich die Denker des Altertums bis einschließlich Platon und auch noch über ihn hinaus als Denker, die in Übereinstimmung mit der Ordnung des Kosmos zu leben und zu handeln hatten. 31 Wie der Mythos noch ganz diesseits einer Unterscheidung von Theorie und Praxis steht und ihre Einheit voraussetzt, wie im religiösen, ja selbst im magischen Ritual Wort und Handlung übereinstimmen und so eine Einheit bilden, so ist für die frühen griechischen Denker die Einheit von Denken, Sprechen und Tun eine Notwendigkeit. Deshalb umkreisen auch Platons Dialoge immer Denken und Handeln, betreffen stets den Menschen in seiner Bindung zu Polis, Religion und Kult und damit zur Kultur. Dabei scheint ihm zuweilen der pädagogische Weg zu diesem Ziel wichtiger als das Ergebnis selbst zu sein; denn dieses wird am Schluss einzelner Dialoge wieder in Frage gestellt. Das gilt wohl auch für seine kontrovers beurteilte Staatslehre: In ihr wollte er den ganzheitlichen Zusammenhang als Ziel seines Denkens offen halten. Die konkrete Füllung, die er dann Sokrates vortragen lässt, hat ihn wohl genau so erschreckt wie seine Leser, es sei denn, wir nehmen an – was gewiss oftmals auf seine vorgetragenen Denkwege zutrifft –, dass es sich um Anreize zu weiterer Prüfung handeln sollte, in diesem Fall, der grundlegenden Frage der Anthropologie und Soziologie selbständig weiter nachzugehen, nämlich der inneren und äußeren Entsprechung von Kosmos – Polis – Mensch. Platon zeigt sich oft, wenn nicht sogar meistens, weniger als Lehrer von Wahrheit denn als Anreger, den Weg zur Wahrheit immer neu zu beschreiten. In seinem Denken geht es niemals um ein akademisches Philosophieren, sondern um ein Denken, das dem Menschen als Ganzem die tiefste Entscheidung abverlangt. Insofern unterscheiden sich Platon wie nicht wenige andere griechische Philosophen von vielen ihrer Nachfolger in der Neuzeit und Gegenwart. Platon geht es nicht nur um eine Wahrheit als rational zu erkennende Lösung eines Problems, sondern um Wahrheit, die den ganzen Menschen betrifft und ihn einfordert. Tatsächlich war es in der Moderne ein Irrtum anzunehmen, das Denken sei eine Größe, die auf sich allein stehen könne. So wenig wie es eine rein sinnenhafte Wahrnehmung des Menschen losgelöst von der Ganzheit seiner Geistseele gibt, ebenso wenig gibt es ein Denken, das nur Denken wäre. Immer steht der Mensch als Ganzer dem Ganzen der Welt ge31 Selbst noch die Stoa hat an vielem Grundsätzlichen des alten Erlebens und Denkens festgehalten; vgl. M. Pohlenz, Die Stoa 1/2 3 (Göttingen 1964) 487 Reg.: Wmologoum2nw: z8n.
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13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens
genüber und nur a fortiori können wir Denken, Fühlen und Wollen voneinander als Vermögen der personalen Geistseele unterscheiden.32 Diese Ganzheit war in den Frühperioden leichter erlebbar und leichter nachvollziehbar, und deshalb konnten die Angehörigen früher Kulturen auch ganzheitlicher leben. Die Zerspaltenheit der Welt in unserer Spätkultur ist das Ergebnis der Zerspaltenheit der Geistseele. Hier wie immer bedingen Veränderungen in der Geistseele, also Bewusstseinswandel, die Veränderungen in der Kultur. In jeder Spätkultur wächst die Sehnsucht nach der verlorenen Ganzheit. Sie spricht sich in dem für Spätkulturen charakteristischen Zug nach Enzyklopädien aus. Aber Enzyklopädien bieten statt des qualitativ Vielen auf dem Hintergrund des göttlichen Einen ein quantitatives Vieles ohne diesen Hintergrund. Diesem Enzyklopädismus ist Platon nicht weniger als Heraklit ausgewichen. 33 Seine Dialoge sind nicht enzyklopädisch angelegt. Vielmehr versucht er in ihnen das pulsierende Leben des organischen Weltganzen in stets neuen Anläufen jeweils kurz aufleuchten zu lassen, ohne dogmatische Lehren in ihnen aufzustellen oder diese im Stil von Lehrer und Schüler weiter zu vermitteln. Insofern sind die frühen griechischen Philosophen mit Einschluss Platons und auch späterer antiker Philosophen keine Denker, sondern Weise, d. h. sie stimmen ihr Denken auf das größere Ganze des Seelisch-Geistigen ab und nicht allein auf die Ratio. Deshalb sind diese Philosophen auch so sehr am Lebensvollzug des Einzelnen und seiner religiös-kultisch gebundenen Gemeinschaft interessiert. Wie der Bios Orphikos so verlangte auch der Bios Pythagorikos und auch der Bios Platonikos vom Meister und Schüler einen religiös-sittlich geordneten Tages- und Jahresablauf. Das Denken erstrebte man hier nicht um seiner selbst willen; sondern es diente zu einer besseren Verankerung des Einzelnen im göttlichen Kosmos und in der Polis als der Kultgemeinschaft. So wie die griechische Stadt mit ihrem Tempelbezirk, oft dem Tempelberg, als dem Zentrum, um das sich das übrige sakral und profan bestimmte menschliche Leben ordnete, auf die Ordnung des Kosmos, sichtbar am Sternenhimmel mit dem Polarstern, zurückweist, so sollte die Philosophie als die Bemühung um den göttlichen Kosmos die Menschen zu volleren Menschen bilden und sie auf dem Hintergrund der göttlichen, der kosmischen Weltordnung gestalten. Ein Herausfallen und ein Scheitern musste erst ein Denken verursachen, das sich selbst aus dem umgreifenden Kosmos herausgeführt hat und damit sich selbst, den Menschen und das Wirklichkeitsganze mehr und mehr ver32 W. M. Neidl / F. Hartl (Hg.), Person und Funktion. Gedenkschrift J. Hommes (Regensburg 1998). 33 VS 22 B 40. 41 (Diels/Kranz).
4. Zur Einheit von Theorie und Praxis und ihrer Wiedergewinnung
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fehlt, da es letztlich den Menschen isoliert. Dieses sich emanzipierende Denken begegnet uns zum ersten Mal im 5. Jh. v. Chr. bei einzelnen Sophisten. Mag auch Platon in jenen Dialogen, in denen er Sokrates sich mit einzelnen Sophisten auseinandersetzen lässt, ihr Bild einseitig gezeichnet haben, fest steht, dass die Sophisten zum ersten Mal bewusst den Egoismus und die Subjektivität des Einzelnen zum Maß von Denken und Tun erhoben und damit die Grundlage gelegt haben, auf der zahlreiche Denker der Neuzeit ihre Lehre von der Autonomie des Menschen errichtet haben.34 Die Folgen eines übertriebenen, weil absolut verstandenen Autonomiedenkens sehen wir heute täglich deutlicher. Der sich dann nur noch allein in der Welt vorfi ndende Mensch vermag keinen Dialog mehr mit dem Kosmos oder der Schöpfung zu führen. Der Dialog als Möglichkeit von Grenze und Grenzüberschreitung war aber der die gewachsenen alten Kulturen tragende Grund. Der Monolog hingegen führt den Menschen als das Wesen des Zwischen, das er ist und wie ihn Platon mit der alten Tradition von Mythos und Philosophie versteht, zum Fall ins Bodenlose, in die Leere des Nichts. In der die alten Kulturen bestimmenden Überzeugung von der Entsprechung des Makrokosmos Welt mit dem Mikrokosmos Mensch, die Platon mit den vorsokratischen Philosophen teilt, spricht sich ein kosmosbedingtes und von der Gottheit verliehenes Urvertrauen aus. Dieses hat sich bereits vor Platon nicht zuletzt infolge der bitteren Erfahrungen des innergriechischen Krieges Athen – Sparta mehr und mehr aufgelöst. Dieser ‚Peloponnesische Krieg‘ (431–404 v. Chr.) war bereits eine Folge des neuen individualistischsubjektiven Zeitgeistes, den außerhalb der Sophistik im engeren Sinn wohl am deutlichsten der Machtmensch Alkibiades repräsentiert. Gegen die herrschenden geistigen Tendenzen seiner Zeit versuchte Platon als einer unter wenigen das Steuer noch einmal in die Richtung des Ganzheitlichen und damit des Sinnvollen und des Bergend-Mütterlich-Väterlichen zu stellen. 35 Mit den von ihm entfalteten neuen denkerischen Mitteln versuchte er die unheilvolle Lehre vom Willen zur Macht des auf sich allein gestellten Einzelnen und von seinen durch Niemanden und Nichts gezügelten Wünschen zu widerlegen. Die gegensätzlichen Denkstile in zahlreichen Dialogen weisen auf die tiefe Erschütterung hin, die das Kosmos- und Polisdenken damals heimgesucht haben. Das neue Denken der Sophisten konnte sich in der Folgezeit mehr und mehr auch politisch durchsetzen. Der politisch-gesellschaftliche Weg führte zur Herrschaft des Einzelnen: In Griechenland und in den hellenistischen Staaten waren es Alexander und seine Nachfolger, die Diado-
34
M. Narcy, Art. Sophistik: Der Neue Pauly 11 (2001) 723–726. Der mythisch-philosophische Dialog Timaios, der so tief viele Kirchenschriftsteller beeindruckt hat, macht dies besonders deutlich. 35
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13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens
chen, und in Rom die Feldherren des 1. Jh. v. Chr. und die ihnen folgenden Cäsaren. Nach Platon versuchte die stoische Schule noch einmal wichtige Impulse des alten ganzheitlichen Denkens aufzugreifen. Ihre Opposition gegen die Tyrannis ist bekannt, konnte aber am Gang der Entwicklung nichts mehr ändern. Hier blieb nur der Weg in die innere Emigration oder sogar ins Martyrium.36
5. Zusammenschau Alles an der Wirklichkeit orientierte Denken, also ein organisches Denken, da es sich dem objektiven ganzheitlich ausgerichteten Lebensvollzug des Ganzen anpasst, hält an der Einheit der Wirklichkeit und der Verwiesenheit von allem auf alles fest. Es ist unitarisch bestimmt, schon deshalb, weil die Einheit das Prinzip von Mensch und Welt ist: der Einzelne als Individuum und Person, die eine Erde und der eine Kosmos oder die eine Schöpfung des einen Gottes. Die Einheit geht prinzipiell, da das Denken auf ein Principium, einen Anfang, angelegt ist, der Zweiheit und damit der Vielheit voraus. In diesen Bahnen verläuft auch das Denken Platons. Seine Wirkmächtigkeit bezieht es nicht allein aus sich selbst, sondern aus der Verwiesenheit auf die Wirklichkeit, wie sie bereits der gewachsene, aus der Uroffenbarung stammende, gemeinschaftsbestimmte Mythos bezeugt. Die Gefahren, dass das Denken aus seiner von Natur angelegten rechten Bahn abweichen kann, dass es sich der inneren Führung durch den Geist Gottes entzieht, wachsen mit dem Grad der Bewusstheit und damit zugleich der Freiheit des Einzelnen. Hier versuchte Platon in immer neuen Anläufen seiner Dialoge gegenzusteuern. Die Kraft dieses Denkens stammt aus der Übereinstimmung mit einer ‚Mythologia perennis‘, die in der Offenbarung, der ‚Uroffenbarung‘, wurzelt. Insofern steht Platon mit seinem Denken in einer Überlieferungskette, die zeitlich über ihn weit hinausweist. Der Quellgrund liegt in den Erfahrungen des mythischen Bewusstseins der mythischen und auch noch der myth-historischen Epoche. Über grundlegende Übereinstimmungen platonischen Denkens mit den griechischen Denkbewegungen der Orphik, des Pythagoreismus und einzelner Vorsokratiker wäre nunmehr zu sprechen. Ob und wie weit Platons Schule, die bis in die Gegenwart reicht, ihrem Gründer und seinen Voraussetzungen immer treu geblieben ist, wäre eine weitere Frage.
36 W. Speyer, Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen = Bibliothek des Buchwesens 7 (Stuttgart 1981) 68–73. 100 f.
14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker 1. Voraussetzungen einer Annäherung an das Thema Unser heute geltendes Verständnis von Wissenschaft und damit von Wahrheit und Wirklichkeit geht zwar auf die antike Wirklichkeitserfahrung und ihre Verarbeitung im antiken theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Denken zurück, hat sich aber sehr weit davon entfernt1. Wir stehen zwar noch in einem zunächst antiken und sodann christlich überformten Denkstrom; dieser hat sich aber seit den subjektivistisch-nominalistischen Ansätzen im Hochmittelalter, die wesentlich zum Entstehen der Renaissance beigetragen haben, vor allem seit der Aufklärung des 18. und dem Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts tiefgreifend verändert. Die Selbstkritik des heutigen Forschers erfordert, die Voraussetzungen unseres Verständnisses von Wirklichkeit, die mehr ist, als was heute nach den für unseren Zeitgeist repräsentativen Wissenschaften als Realität gilt, zu überprüfen und damit unsere Vorstellungen, mit denen wir die Wirklichkeit in Geschichte und Gegenwart zu erfassen versuchen, zu überdenken. Viele moderne Forscher des antiken religiösen Denkens, das der Wurzelgrund alles späteren diskursiv argumentierenden Denkens ist, begnügen sich damit, dieses in die ihnen geläufigen Schubfächer der eigenen neuzeitlich-aufgeklärten Erfahrung und deren Deutung einzuordnen. Das neuzeitlich-aufgeklärte Denken hat aber kaum mehr Zugang zum Wesen und zu den Inhalten der Religion. Das Göttliche ist diesem Denken so fremd wie das Dämonische oder die Seele als Empfängerin des Göttlichen und des Dämonischen. Ebenso fremd sind ihm die Offenbarungen des Göttlichen in der äußeren und in der inneren Wirklichkeit, in den Erscheinungen der Schöpfung oder des Kosmos und der Natur und in den Erscheinungen der Geistseele, angefangen vom gewachsenen ursprünglichen Mythos und vom Offenbarungsempfang bis hin zu den suprarationalen Phänomenen des religiösen Wunders2 . 1 W. Speyer, Das verkürzte Wirklichkeitsganze im Erleben und Denken des heutigen Menschen, in: Zeitschrift für Ganzheitsforschung N. F. 44 (2000) 115–128. 2 Aus der Forschungsliteratur seien genannt: R. M. Grant, Miracle and natural law in Greco-Roman and early Christian thought (Amsterdam 1952); G. Mensching, Das Wun-
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
So wenig wir aber auf Grund der Tatsache, dass es Selbst- und Fremdtäuschung, dass es Irrtum, Lüge, Fälschung und freie literarische Erfi ndung gibt, die Möglichkeit ablehnen dürfen, Wahrheit zu erkennen und mitzuteilen, so wenig dürfen wir auch das Supra-Rationale der Religion ablehnen, nur weil es auch das vorgetäuschte oder erfundene Supra-Rationale gibt. Hier besteht vielmehr die Aufgabe darin, die Geister des Wahren von denen des Irrtums, der Lüge oder der literarischen Erfindung zu unterscheiden 3 . Jedenfalls fordert das Gebot der intellektuellen Redlichkeit, den eigenen geschichtlich und vor allem bewusstseinsgeschichtlich vielfältig bedingten Erfahrungshorizont nicht absolut zu setzen. So sprechen Forscher bei antiken religiösen Denkern, wie Porphyrios, schnell von Aberglauben und von Magie, wobei man auch die neuplatonische Theurgie, Handlungen, die das Göttliche / die Götter an den betreffenden Menschen vollziehen, mitversteht 4 . Dabei verwendet man diese abwertenden Begriffe, Aberglauben, Magie und Theurgie, als Etiketten, ohne immer nach der sachlichen Berechtigung zu fragen. So wenig aber die Grenzen zwischen Religion und Magie immer deutlich und fest sind, so wenig sind es die Grenzen zwischen Glauben und Aberglauben 5 . Als religiöser Denker ist Porphyrios Theologe, als solcher zugleich Mythologe und daher um das Ganze der Wirklichkeit bemüht. Jeder religiöse Denker ist der Sache nach ein ganzheitlicher Denker. Gehen wir von den geistigen Voraussetzungen aus, unter denen die Platoniker der Antike standen, dann der im Glauben und Aberglauben der Völker (Leiden 1957); A. Bingham Kolenkow, Relationships between miracle and prophecy in the Greco-Roman world and early Christianity: Aufstieg und Niedergang d. röm. Welt 2, 23, 2 (Berlin, New York 1980) 1470–1506; A. Suhl, (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament = Wege der Forschung 295 (Darmstadt 1980); B. Wenisch, Geschichten oder Geschichte. Theologie des Wunders (Salzburg 1981); S. Wiedenhofer, Art. Wunder III, in: LThK 10 (32001) 1316–1318. 3 1 Cor. 12,1–11 zu den Gaben des Heiligen Geistes; H. Wulf, Art. Unterscheidung der Geister, in: Lexikon für Theologie und Kirche 10 2 (1965) 533–535; K. Niederwimmer / J. Sudbrack / W. Schmidt, Unterscheidung der Geister (Kassel 1972); D. Mieth, Art. Unterscheidung der Geister, in: ebd. 103 (2001) 444 f. 4 Th. Hopfner, Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber 2,1 = Studien zur Palaeographie und Papyruskunde 23,1 (Frankfurt M. 1924, Ndr. Amsterdam 1983) § 29. 42–47. 70–115 unterscheidet drei Hauptformen des Zaubers: Theurgie, Magie im engeren Sinn und Goëtie; Ders., Art. Mageia, in: RE 14,1 (1928) 301–393, bes. 378 f., Th. Stäcker, Art. Theurgie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998) 1180–1183. Alles nicht berücksichtigt von S. I. Johnston, Art. Theurgie, in: Der Neue Pauly 12,1 (2002) 460–462. 5 L. Petzoldt (Hg.), Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie = Wege der Forschung 337 (Darmstadt 1978); Ch. Daxelmüller, Vorwort zum Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1 (Berlin, New York 1987 im Ndr. von 1927) V-XXXIV, bes. XXV: „Dennoch, eine allgemein gültige Defi nition von ‚Aberglaube‘ ist ebenso wenig möglich wie zu Bächtold-Stäublis und Hoffmann-Krayers Zeiten“. Ferner vgl. W. F. Otto, Aufsätze zur römischen Religionsgeschichte = Beiträge zur Klassischen Philologie 71 (Meisenheim am Glan 1975) 72–130 zu religio und superstitio; D. Harmening, Superstitio, Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters (Berlin 1979).
2. Porphyrios und sein literarisches Werk
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ergibt sich ein Weiteres: Diese religiösen Denker sind nicht Philosophieprofessoren oder Intellektuelle im heutigen Sinne, sondern zunächst religiöse Menschen und versuchen als solche an die Traditionen der religiösen Ausnahmemenschen oder der heiligen Menschen anzuknüpfen, als welche viele Denker der griechischen Frühzeit galten oder wie es auch viele waren6 . Damit nähern sich die neuplatonischen Philosophen dem Typus des ‚göttlichen Menschen‘7. Nicht umsonst stehen ihnen Pythagoras und Apollonius von Tyana als Leitbilder vor Augen. So werden wie von diesen auch von Plotin und Porphyrios sowie vor allem von Iamblichos wunderbare Begebenheiten berichtet 8 . Mehr als dem metaphysischen Systematiker Plotin ging es Porphyrios um das Heil des Einzelnen. Dieses Ziel versuchte er nicht nur denkend zu erfassen, sondern durch seinen Lebensvollzug auch selbst zu erreichen. Damit wollte er religiöses Denken und sittlich-religiöses Handeln zur Deckung bringen. Auf diese Weise erwies er sich ähnlich wie Pythagoras und Platon als eine ganzheitlich ausgerichtete Persönlichkeit, für die Theorie und Praxis, Denken, Reden und Tun, in Übereinstimmung zu bringen sind9. Sprechen wir über Porphyrios als religiösen Denker, so sprechen wir damit gleichzeitig über den tragenden Strom griechischen Denkens, der sich auch in den bestimmenden literarischen und künstlerischen Ausprägungen von den Anfängen der griechischen Kultur an als religiös zeigt.
2. Porphyrios und sein literarisches Werk als Zeugnis seines Sinnes für das Göttliche Grundlage für die hier gestellten Fragen bilden Porphyrios’ Person und sein Werk10 . Die Fremdbestimmung durch das altgriechische und hellenistische religiöse und philosophische Erbe sowie durch die religiösen Traditionen des 6 W. Fiedler, Antiker Wetterzauber = Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 1 (Stuttgart 1931) 17–23: ‚Der Weise als Wetterzauberer‘; H. D. Betz, Art. Gottmensch II (Griechisch-römische Antike und Urchristentum), in: RAC 12 (1983) 234–312, bes. 255– 286. 7 Betz a.O. (o. Anm. 6) 238–286. 8 Porphyr. vit. Plot. 23: Plotini opera, edd. P. Henry / H. R. Schwyzer 1 (Paris, Bruxelles 1951) 34; Eunap. vit. soph. 4,1,12 (9 Giangrande). 9 W. Speyer, Voraussetzungen platonischen Philosophierens, in: Zeitschrift für Ganzheitsforschung N. F. 47 (2003) 131–144; s. o. S. 201–214. 10 O. Reverdin (Hg.), Porphyre = Entretiens sur l’antiquité classique 12 (Vandœuvres, Genève 1965); Andrew Smith, Porphyrian studies since 1913: Aufstieg u. Niedergang d. röm. Welt 2, 36, 2 (Berlin, New York 1987) 717–773; Ders., Porphyrii philosophi fragmenta (Stuttgart, Leipzig 1993); G. Girgenti, Porfi rio negli ultimi cinquant’anni. Bibliografi a sistematica e ragionata della letteratura primaria e secondaria riguardante il pensiero porfi riano e i suoi influssi storici = Temi metafi sici e problemi del pensiero antico. Studi e testi 35 (Milano 1994).
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
Vorderen Orients, die Porphyrios gut kannte, traf auf seine Selbstbestimmung: Er entschied sich für Platons ganzheitlich ausgerichtete religiöse Philosophie, die als solche auch einen entsprechenden Lebensvollzug einschloss. Neben den platonischen Dialogen Kratylos, Phaidon, Symposion, Staat, Philebos und Sophistes waren vor allem die Dialoge Timaios und Parmenides für ihn ausschlaggebend. Zu allen diesen Schriften oder Teilen von ihnen hat er Kommentare verfasst, die aber wie sein übriges Werk mit wenigen Ausnahmen heute nur mehr in Fragmenten und aus Zeugnissen erkennbar sind11. Neben Platon hat auch der dritte Schulleiter der Akademie, Xenokrates, auf sein Denken eingewirkt12 . Zum Verständnis des geistigen Profi ls von Porphyrios ist zunächst seine Herkunft aus dem phönizischen Tyros aufschlussreich. Wenn er in späteren Jahren die ‚Oracula Chaldaica‘ des Julianos kommentiert, so zeigt sich darin diese räumlich-kulturelle Nähe ebenso wie in der Auseinandersetzung mit dem aus dem benachbarten Palästina kommenden Christentum13 . Sein späterer Lehrer Plotinos stammte aus dem Syrien und Palästina benachbarten Ägypten und sein Nachfolger Iamblichos aus Chalkis in Syrien14 . Ähnlich wie die Begründer der Stoa gehören diese Neuplatoniker dem vorderorientalischsemitischen Kulturkreis an, dessen Religionen teilweise bis nach Indien reichende, ältere Wurzeln als die griechische Religion besitzen und dessen Bewohner eine besondere Befähigung zum religiösen Denken aufweisen15 . Porphyrios, der um 234 n. Chr. geboren wurde und ursprünglich Malkos oder Malchos hieß, was soviel wie ‚König‘ bedeutet, worauf die griechische Namensform Porphyrios mittelbar hinweist, studierte zunächst in Athen bei Longinos, dem Kritiker und Philologen unter den Philosophen16 . Aus dieser Zeit stammt seine Schrift ‚De philosophia ex oraculis haurienda‘17. Diese Frühschrift gibt bereits vor seiner Bekanntschaft und Schülerschaft Plotins die wesentliche Ausrichtung seines Denkens zu erkennen: Die Philosophie dient zur geistigen Klärung der überlieferten Religion und steht im Dienst des Heiles, der Rettung der Seele. Von Athen ging Porphyrios nach Rom und war
11
Smith, Fragmenta a.O. (o. Anm. 10) frg. 168–187. P. Boyancé, Xénocrate et les Orphiques, in: Revue des Études Anciennes 50 (1948) 218–231. 13 É. des Places (Hg.), Oracles chaldaiques (Paris 1971); ebd. 18–24: „Influence des ‚Oracles‘. Porphyre“; R. Majercik (Hg.), The Chaldean oracles (Leiden 1989); vgl. H. Lewy, Chaldaean oracles and theurgy 2 (Paris 1978) 449–456: ‚Porphyry and the Chaldaeans‘. 14 P. Hadot, Art. Plotinos, in: Der Neue Pauly 9 (2000) 1146–1155, bes. 1146; L. Brisson, Art. Iamblichos nr. 2, in: ebd. 5 (1998) 848–852, bes. 848. 15 M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung 1 (Göttingen 1948, Ndr. 1964) 22 f. zu Zenon; 28 zu Chrysippos. 16 R. Beutler, Art. Porphyrios nr. 21, in: PW 22,1 (1953) 275–313, bes. 276 f. 17 Smith, Fragmenta a.O. (o. Anm. 10) frg. 303–350. 12
2. Porphyrios und sein literarisches Werk
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in den Jahren 263–268 mit Plotin zusammen (Plotin starb im Jahr 270). In dieser Zeit verfiel er in einen depressiven Zustand und begab sich auf Anraten Plotins nach Sizilien. Hier gab er am Ende seines Lebens dessen Schriften heraus. Seine Herausgeberfähigkeit kann geradezu als eine Mitverfasserschaft gewertet werden. In Sizilien schrieb er auch sein großes Werk gegen die Christen in 15 Büchern, in dem er vor allem an drei großen Themen des christlichen Glaubens Anstoß nahm: an der Schöpfung der Welt aus dem Nichts durch einen vom Kosmos unabhängigen Gott, an der Menschwerdung dieses Gottes in dem gekreuzigten Jesus Christus und an der Auferstehung des Leibes18 . Der hohe geistige Rang des Porphyrios als eines Kontroverstheologen und eines scharfsinnigen philologisch-historisch geschulten Kritikers ist bekannt, wie vor allem seine Umdatierung des Buches Daniel (um 605 v. Chr.) in die Zeit des Königs Antiochos IV. Epiphanes beweist19. Trotz der gleichfalls verlorenen Gegenschriften der Kirchenschriftsteller Methodios von Olympos, Eusebios, Apollinaris von Laodikeia und Pacatus sowie des Arianers Philostorgios20 war der Einfluss seines Denkens auf die Kirchenschriftsteller groß, so vor allem auch auf Augustinus, vornehmlich auf dessen Werk civitas Dei. Bereits vor dessen umfassender Reflexion über Gnade und freien Willen hat Porphyrios dem freien Willen die zentrale Bedingung für das Heil und Unheil des Einzelnen zugewiesen 21. Die Reflexion, also das Bedenken des Denkens, und die Beschäftigung mit den religiösen und philosophischen Traditionen der Griechen und der benachbarten Fremdvölker haben Porphyrios auf eine ganzheitliche Betrachtung von Welt und Mensch geführt. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. wissen die griechischen Denker ähnlich wie die Dichter seit dieser Epoche, dass sie im goethischen Sinne nur noch Enkel sind, dass das Entscheidende längst gedacht ist und sie teils nur mehr vermitteln, teils das Altgedachte mit neuen Worten noch einmal sagen, teils es systematisierend und damit wohl zugleich auch vereinseitigend zusammenfassen. Wie in der Antike allgemein steht der einzelne geistig Schaffende in einer Überlieferungskette und verzichtet so auf
18 Beutler a.O. (o. Anm. 16) 298 f.; A. Meredith, Porphyry and Julian against the Christians, in: Aufstieg u. Niedergang d. röm. Welt 2,23, 2 (Berlin, New York 1980) 1119–1149, bes. 1125–1137; ferner vgl. auch W. Speyer, Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen = Bibliothek des Buchwesens 7 (Stuttgart 1981) Reg.: ‚Porphyrios, Neuplatoniker‘. 19 Ders., Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = Handb. d. Altertumswiss. 1,2 (München 1971) Reg.: ‚Porphyrios, Neuplatoniker‘; M. P. Casey, Porphyry and the origin of the book of Daniel: Journal of Theological Studies 27 (1976) 15–33; Ders., Porphyry and Syrian exegesis of the book of Daniel: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 81 (1990) 139–142. 20 Speyer, Büchervernichtung a.O. (o. Anm. 18) 23 Anm. 80. 21 Beutler a.O. (o. Anm. 16) 307, 51–65; A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike (Göttingen 1985) 126–130: ‚Neuplatonische Ontologie‘.
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
die Effekte einer fast ausschließlich individuell-subjektiven Äußerung, wie sie in neuester Zeit oftmals gesucht werden. Der Gedanke einer theologia und philosophia perennis konnte nur auf einem antiken Boden wachsen 22 . Ganzheitlich war nicht nur der Blick des jeweiligen Denkers von seinem Inneren auf das Gesamt der Erscheinungen und auf dessen Spiegelung im Gedanklichen gerichtet, sondern ganzheitlich war auch das Bewusstsein, in das Gesamt der vorangehenden Denkgeschichte einbezogen zu sein, also in den Verlauf vom mythischen und mythenbildenden Vorstellen und Denken bis hin zum abstrakten, diskursiv-argumentierenden Denken. Porphyrios und sein Werk stehen so in einem einheitlichen lebendigen Strom des Denkens und Gestaltens, der damals zeitlich noch recht nahe an die Bewusstseinsstufe des mythenbildenden Vorstellens und Denkens reichte, also an ein Denken, das von religiösen Bildern bestimmt war. Auf Grund dieser zeitlichen Nähe zum mythischen Zeitalter, das einen viel längeren Zeitraum als das junge, abstrakt-rationale Denken einnimmt, musste diesen Denkern von Thales aus Milet bis zu den Neuplatonikern die religiöse Dimension der äußeren und der inneren Wirklichkeit, vom Makrokosmos des Universums und vom Mikrokosmos Mensch, viel vertrauter sein als uns, die wir uns immer mehr von dieser wirklichkeitsgesättigteren Erlebnis- und Denkweise entfernt haben und in einer fast gänzlich entsakralisierten und profanen Informationswirklichkeit aufzugehen scheinen. Wir können demnach folgende Verhältnisse beschreiben, die zwischen dem Menschen und der ihm zugänglichen Wirklichkeit bestehen, wobei dem Denken die Erfahrung vorgeordnet ist und beides sich auf die eine, uns sinnenhaft und geistig zugängliche Wirklichkeit bezieht: Wie das mythische und das religiöse philosophische Denken der Griechen dem religiös erlebten Wirklichkeitsganzen als dem göttlichen Kosmos entspricht, so das moderne Denken einem Universum, das entgöttert oder entgottet und damit auch weithin sinnund logos-entleert erscheint. Religiöses Denken, so lautet die übereinstimmende unausgesprochene oder ausgesprochene Überzeugung der für das Verständnis des Porphyrios in Betracht kommenden geistigen Ahnen, also der von ihm als inspiriert aufgefassten Dichter, Schriftsteller und Denker, ist ein dem göttlichen Kosmos und den ihm eingeschriebenen göttlichen Mächten, den Göttern und Geistern, entsprechendes Denken. Die Gerechtigkeit als die Grundkategorie der Sittlichkeit erscheint hier als ein metaphysisches Prinzip, das sich dem Menschen als sittlich handelndem und als entsprechend denkendem Wesen immer er-
22 B. Lakebrink, Klassische Metaphysik. Eine Auseinandersetzung mit der modernen Anthropozentrik (Freiburg, Basel, Wien 1967).
2. Porphyrios und sein literarisches Werk
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neut in Natur- und Geistesleben aufdrängt23 . Aus dem Sein der Welt, ihrem religiös aufzufassenden Sein, folgt das Sollen im Denken und Handeln. Ein derartiges Erfahren, Denken und Handeln haben im Altertum ihren Niederschlag – und zwar in der geschichtlichen Abfolge von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit – in heiligen Worten, heiligen Reden und heiligen Schriften gefunden 24 . So konnten Philosophen wie Porphyrios ihr Denken, Reden und Schreiben als ‚heilig‘ erleben und bezeichnen; denn sie bemühten sich zugleich auch in ihrem Lebensvollzug um Heiligung, oder wie es Porphyrios ausdrückt, um Angleichung an Gott25 . Das ganzheitliche, kosmoskonforme Denken musste so erneut zu einer Einheit von Denken und Tun führen. In dieser Dimension werden dann auch Erkennen und Wissen zu Gottesdienst. Insofern ist die von Porphyrios weitergeführte orphisch-pythagoreische, platonische und xenokratische, mittelplatonische und plotinische Philosophie nicht nur eine Theorie über das Ganze von Welt, Göttern und Menschen, sondern eine Lebensführung auf hochspiritueller religiös-sittlicher Grundlage und damit zugleich Gottesdienst, der ganz in der Richtung des johanneischen Wortes liegt: „Gott ist Geist, pnecma. Wer ihn anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“26 . Weil es nicht zum geistigen Gottesbild des Porphyrios passte, lehnte er auch die blutigen Opfer und damit die Opfermahlzeiten ab und gleichfalls verzichtete er auf das Bittgebet27. Gewiss wird man bei Porphyrios graduelle Abstufungen im Hinblick auf die Beurteilung einer seiner Schriften als ‚Hieros Logos‘ vornehmen müssen. In diesem Zusammenhang bemerkt Heinrich Dörrie, dass unter diese Bezeichnung nicht die diskursiv geschriebenen „Symmikta Zetemata“ zu rechnen seien, wohl aber Schriften wie ‚De antro Nympharum‘, ‚Über die Styx‘ oder ‚De regressu animae‘28 . Tatsächlich wird es sich hier um Grade innerhalb
23 A. Dihle, Art. Gerechtigkeit, in: RAC 10 (1978) 233–360, bes. 234–280; A. Havelock, The Greek concept of justice (Cambridge 1979). Wenn Stephan George einmal vom „Gleichgewicht der ungeheuren Waage“ spricht (Werke in zwei Bänden 1 [1958] 251), dann weist er auf das Prinzip der Vergeltung hin, von dem bereits Anaximander gesprochen hat: VS 12 B 1 (Diels / Kranz); vgl. G. S. Kirk / J. E. Raven / M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, deutsche Ausgabe (Stuttgart 1994) 128–133. 24 C. Colpe, Art. Heilige Schriften, in: RAC 14 (1988) 184–223, bes. 211–213: ‚Sakralisierte Philosophie‘. ‚Plotins Enneaden‘. Hier wäre auf Porphyrios noch näher einzugehen gewesen; ferner vgl. R. Baumgarten, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen = ScriptOralia 110 (Tübingen 1998). 25 H. Merki, Art. Ebenbildlichkeit, in: RAC 4 (1959) 459–479, bes. 461 f. zum Neuplatonismus; É. Des Places, Syngeneia. La parenté de l’homme avec Dieu d’Homère à la Patristique (Paris 1964). 26 Joh. 4,24. 27 PerH %poc8: 4my6cwn in 4 Büchern (erhalten); abst. 2, 34 f.; Beutler a.O. (o. Anm. 16) 292. 28 H. Dörrie, Porphyrios’ Symmikta Zetemata = Zetemata 20 (München 1959) 161– 165.
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
eines weitgehend einheitlichen Werkes handeln, das bei aller scheinbaren Verschiedenartigkeit in allen seinen Teilen von einem einheitlichen religiösen Geist getragen erscheint. Die scheinbare Verschiedenartigkeit und das geistige Auseinanderfallen seines Werkes werden alle jene Forscher betonen, die dem skizzierten religiösen Hintergrund seines Denkens fremd gegenüberstehen und die so Porphyrios weder aus dessen wahrer geistiger Herkunft noch aus seiner persönlichen Entscheidung heraus gerecht werden können, da sie ihn nur in den Kategorien ihrer eigenen mehr oder weniger profanen Weltbetrachtung zu erfassen versuchen. Die Darstellung eines antiken Denkers muss aber zunächst von dessen Selbstverständnis ausgehen; es muss also den Denker dort abholen, wo er steht, und ihn nicht in die dem Betrachter eigene Gegenwart zerren.
3. Grundgedanken und geistesgeschichtliche Voraussetzungen seiner religiösen Philosophie Im Folgenden ist es unmöglich, die Weite des porphyrischen Denkens auszuschreiten, ganz abgesehen von den rein philologischen Fragen der Rekonstruktion seiner meistens nur in Fragmenten und Zeugnissen umrisshaft erkennbaren Schriften. In dieser Hinsicht erinnert Poryphyrios an M. Terentius Varro. Der Metaphysiker oder Theologe ist dem Mythologen, Allegoriker und Symboliker Porphyrios eng verwandt. Porphyrios rechnet mit verschiedenen Quellen der Erkenntnis, mit der Sinneserfahrung, mit den der Seele angeborenen Vorstellungen und mit der religiösen Offenbarung. Wie die Arbor Porphyriana den Stammbaum der Substanzen vom Stein bis zum körperlosen Geistwesen aufgliedert29, so geht sein Blick über die sinnenhafte Realität hinaus zu den transzendentalen Wesenheiten der Seele und der Geister bis hin zum unaussprechbaren göttlich Einen 30 . Mit diesen Annahmen bleibt Porphyrios dem Denkgebäude seines Lehrers Plotin verpfl ichtet. Wie Porphyrios umfassend auf die Wesenheiten des Wirklichkeitsganzen blickt, so überblickt er auch ein weites Spektrum des Geschichtlichen, und hier des geschichtlich Religiösen, der Religionen. Er sucht in ihnen die eine Offenbarung oder denkt sie als Ausprägungen der einen geistigen Religion. Insofern ist er auch ein Vorläufer einer vergleichenden Religionswissenschaft und Religionsphiloso-
29 W. Speyer, Zu einem Quellenproblem bei Sidonius Apollinaris (carm. 15,36–125), in: Hermes 92 (1964) 225–248, bes. 233–241; H. M. Baumgartner, Art. Arbor Porphyriana, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971) 493 f. 30 W. Beierwaltes, Art. Hen, in: RAC 14 (1988) 445–472.
3. Grundgedanken und geistesgeschichtliche Voraussetzungen
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phie31, und dies auf einer Erfahrungsstufe, auf der Existenz und Erkenntnis noch eng aufeinander bezogen sind. Entscheidend für das philosophische und das geschichtliche Weltbild des Porphyrios vor und nach seiner Begegnung mit Plotin und damit für seinen gesamten geistigen Entfaltungsweg war seine Überzeugung von einem ewigen Logos, an dem der Mensch auf Grund seines geistig-seelischen Wesens teilhat und den er dann bewusst bedenken kann. Damit verband er die Überzeugung von der Ewigkeit der Wahrheit; denn durch Erkennen des Erkennens, dem Innewerden des Wesens des Geistes als eines gleichsam göttlichen Geistes, glaubte er, den Zugang zur Wahrheit zu besitzen. Was in der Neuzeit einzelne Philosophen, die sich der platonischen Schule verpfl ichtet fühlten, als philosophia perennis bezeichnet haben, ist das, was Porphyrios mit anderen Philosophen der platonischen Schule als ihr grundlegendes Fundament angesehen hat. Da ihr Denken – zeitlich zurückgehend, in den Stationen Mittelplatonismus, Antiochos von Askalon, Poseidonios, Aristoteles, Platon, Heraklit, Parmenides, Pythagoras, Thales – als eine Fortsetzung der geistigen Entfaltung des mythischen Denkens in gewandelter Form ihnen selbst mehr oder weniger bewusst war, entsprach die Annahme einer philosophia perennis der Annahme einer mythologia oder eines mythos perennis 32 . Da der ursprüngliche, gleichsam gewachsene Mythos der frühen Phase des Denkens angehört, wenn nicht diese früheste Phase bildet und ausfüllt, musste auch die älteste dichterische Überlieferung mit Einschluss Homers als des inspirierten Sängers und ebenso des Orpheus für Porphyrios von größter Bedeutung sein 33 . War es eine Erinnerung daran, dass der Mensch als Geistträger nur von oben her, vom Göttlichen, erklärbar sei und nicht von unten, den Pflanzen und Tieren? War es eine Erinnerung daran, dass die gründenden Vorstellungen des Menschen Ergebnisse der göttlichen Inspiration sind 34 , so wie nach der Überzeugung der frühen Griechen allein die Götter und Heroen die Bringer der Kulturgüter waren?35 Wenn Platon „die Alten stärker als wir 31 P. Nautin, Trois autres fragments du livre de Porphyre ‚Contre les chrétiens‘, in: Revue Biblique 57 (1950) 409–416, bes. 416. 32 Das mythische Bewusstsein enthält Archetypen, wie Vater und Mutter als Eltern und als Welteltern, wie den Helden als Bezwinger des Drachens; vgl. J. Hüllen, Art. Archetypos, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1 (1971) 497–500 und o. S. 1–9. 33 Smith, Fragmenta a.O. (o. Anm. 10) frg. 441–478 nennt unter der Werkrubrik ‚Homerica‘ folgende Schriften: perH t8: 4x 'Om3rou kfele4a: t9n basil2wn bibl4a i'; perH t8: Om3rou filosof4a:; perH toc 4n Odusse4# t9n numf9n )ntrou; perH Stug5:; ein unbekanntes Werk des Porphyrios, aus Johannes Stobaios erkennbar; Omhrik% zht3mata; O. Kern (Hg.), Orphicorum fragmenta (Berlin 1922, Ndr. Dublin, Zürich 1972) frg. 21 a. 34 W. Speyer, Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes. Zu einer abendländischen Offenbarungsvorstellung: Th. Krisch / Th. Lindner / U. Müller (Hg.), Analecta homini universali dicata, Festschrift O. Panagl 1 (Stuttgart 2004) 425–436; s. o. S. 89–101. 35 K. Thraede, Art. Erfi nder II (geistesgeschichtlich), in: RAC 5 (1962) 1191–1278, bes. 1194–1197.
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
und den Göttern näher wohnend“ nennt, so entspricht dies ganz der Überzeugung des Porphyrios36 . Hier wurzelt der Gedanke der Nachfolge und Weiterführung innerhalb einer geistigen Gemeinschaft, die tote und lebende Denker mitumfasst und die von einem Kontinuum des richtigen Denkens ausgeht. In der Hochschätzung des Alten als des Ursprünglichen, des Wahren und des noch Ungetrübten stimmt Porphyrios mit einer Grundgestimmtheit der kulturtragenden Menschen der Antike überein: Unausgesprochen oder ausgesprochen galt ihnen der Satz, dass am Anfang von allem die Gottheit steht und dass mit ihr die Einheit des Anfangs und die Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis gegeben sind 37. Daher erschienen Wege zum Alten als Wege zum Ursprünglichen und letztlich als Wege der Heimkehr des Menschen aus einer Verbannung. Damit war die Hinwendung zu den alten, gewachsenen Mythen gegeben. Sie erschienen als Selbstoffenbarungen des göttlichen Geistes, die nunmehr im noch jungen Zeitalter der Geschichtlichkeit und des diskursiven Denkens auf ihre Übersetzung durch den Philosophen warteten. In der Annahme einer Offenbarung unterscheiden sich Porphyrios und seine Schule nicht von Juden und Christen, nur in der Beurteilung der von diesen beanspruchten Offenbarung; denn die jüdische und christliche Offenbarung kann nach der Vorstellung des Porphyrios mit der uralten antiken Offenbarung, zu der er die vorderorientalische hinzurechnet, nicht konkurrieren, da sie neu, jung und unerprobt sei 38 . Das höhere Alter der außerjüdisch-christlichen Offenbarung wird so für Porphyrios zu einem Qualitätsmerkmal. Die Wahrheit sucht diese Philosophie in einer vorgeschichtlichen mythischen Zeit, in der die Götter noch mit den Menschen verkehrten und sich ihnen offenbarten. Dieser philosophische Glaube von der mythisch-göttlichen Verwurzelung von Logos – Nus – Dianoia und damit der Wahrheit zog seine Kraft auch aus der Erkenntnis von der Zeitüberhobenheit und Ungeschichtlichkeit geistiger Erkenntnisse und damit der Wahrheit. So wurzelt der Hinweis auf das hohe Alter der Offenbarung letztlich in der Dimension des göttlichen Geistes, an dem der erkennende Mensch teilhat. Dann aber sind das Wesen des alten gewachsenen Mythos und das Wesen des wahren Logos das gleiche, nämlich Anteil am göttlichen Wesen, das nach Aristoteles n5hsi: no3sew: ist, also sich selbst offenbarer Geist 39.
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Philebos 16 c. H. Görgemanns, Art. Anfang, in: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 401–448. 38 W. Kinzig, Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche bis Eusebius = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 58 (Göttingen 1994) 366–374: ‚Pagane Philosophie‘. 39 Met. 1074 b 34. 37
3. Grundgedanken und geistesgeschichtliche Voraussetzungen
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Mit dieser Erkenntnis geht die Überzeugung parallel, dass es nur eine Wahrheit geben kann. Hier liegt ein dogmatisches Verständnis vor, wie es sich auch aus der Tatsache ergibt, dass Porphyrios mit der Realität der philosophischen Häresie rechnet: Der Glaube an die eine unteilbare Wahrheit, die im Mythos und im Logos und damit im Göttlichen wurzelt, muss dazu führen, alle jene auszugliedern, die den Auseinanderfall der philosophia perennis verschuldet haben40 . Der Gedanke vom göttlichen Einen hat als Folge bei sich den Gedanken von der einen wahren Philosophie. Letztlich wirkt hier der axiomatische Satz Heraklits weiter: Wenn alles eins ist, dann ist das Viele Widerschein des Einen und verweist im jeweils Einzelnen immer erneut auf die Einheit des Wirklichkeitsganzen, sei dieses Erscheinung oder Erkanntes 41. In diesem Kosmos des Kreises als dem in sich lebendigen und einen Organismus oder der einen Weltseele musste den Religionen ein eminenter Wahrheitsbeweis innewohnen; denn sie erschienen als Selbstmitteilungen des einen Göttlichen, des einen göttlichen Kosmos oder kosmischen Gottes, wie es Zeus in der Orphik war42 . Mythen und Orakel sind davon Ausdruck, individueller, zugleich auch jeweils geschichtlich gebrochener Ausdruck des im Unsinnenhaften verborgenen göttlichen Einen. Die neuplatonische Schule bleibt hier ihrem geistigen Vater Platon mit seinem Gedanken von der Idee des Guten an der Spitze der Ideen jenseits des Wesens, der Usia, treu43 . Wie Platon grundsätzlich den Ausgleich zwischen Analyse und Synthese, diskursivem und intuitivem Denken, Begriff und Bild, Ratio und Mythos, menschlichem Denken und göttlicher Inspiration in seinen Dialogen gehalten und damit die mitaufgegebene Spannung dieser Gegensätze durchgetragen hat, so versucht dies auch Porphyrios auf seine Weise. Religion und Mythos fallen in gewisser Weise bei einem so entschiedenen Denker der Einheit mit dem richtigen Denken zusammen. Wenn, wie der Neuplatoniker und Freund Kaiser Julians Sallustios bemerkt, das Wesen eines echten Mythos seine Ungeschichtlichkeit und zugleich Übergeschichtlichkeit ist44 , so ist diese Voraussetzung auch der tragende Grund der Lehre vom Einen bei Porphyrios, der hier Gedanken Plotins aufgreift und weiterführt. Der Wirkkraft des Ursache-Seins des Einen entspricht die Umkehrung: Das Eine als der unbewegte Ausgangspunkt und damit die Ursache und der Grund des Vielen ist zugleich auch die letzte Zweckursache und das Ziel, t2lo:, von 40 H. Dörrie, Die Schultradition im Mittelplatonismus und Porphyrios, in: Porphyre a. O. (o. Anm. 10) 3–25. Diskussion ebd. 26–32, bes. 14 f. 16. 41 Heraclit: VS 22 B 50 (Diels / Kranz); vgl. ebd. B 32. Zum Unterschied des Einen bei Heraklit und bei Plotin sowie Porphyrios Beierwaltes a.O. (o. Anm. 30) 446–459. 42 Kern a.O. (o. Anm. 33) 378: ‚Ze6:‘. 43 Res publ. 6,509 A 9-B 10; vgl. M. Baltes, DIANOHMATA. Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus (Stuttgart/Leipzig 1999) 351–371. 44 De dis 4 (8,14–16 Nock).
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
allem45 . Das Eine ist so Ausgang und zugleich Ziel aller Bewegung. Entscheidend ist hier die Beobachtung, die bisher wohl noch nicht gemacht wurde, dass diese hochspekulative philosophische Annahme selbst mythische Struktur besitzt; denn sie reflektiert in der Begriffssprache einen mythischen und archetypischen Bildgedanken über die Gesamtwirklichkeit in ihrem realen und idealen Aspekt und in ihrem makro- und mikrokosmischen Aspekt, und zwar die zunächst in Ägypten bezeugte und bis in den Klassizismus begegnende Vorstellung vom göttlichen Uroboros 46 . Die göttliche Schlange Uroboros, die, wie der Name sagt, ihr Schwanzende in ihrem Munde hält und damit den Gedanken ausdrückt, dass Anfang und Ende dasselbe sind, ist das Bild von der Wirklichkeit als einer göttlichen Wesenheit in Form des immerwährenden Kreises, in dem jeweils Anfang und Ende, Ausgang und Ziel von allem in eins fallen. In einer alchemistischen Handschrift des 11. Jahrhunderts aus der Marcusbibliothek in Venedig ist in das Bild dieser das Wesen der Wirklichkeit abbildenden göttlichen Schlange der bedeutungsschwere Satz Heraklits eingeschrieben: Das Ganze der Wirklichkeit ist eines, 9n t0 p(n47. Das neuplatonische System wiederholt also auf seine Weise die sich dem menschlichen Geist aufdrängende Grundstruktur von allem. Diese Grundstruktur erscheint auch in der jüdisch-christlichen Offenbarung, aber charakteristisch verändert. So heißt es in der Apokalypse des Johannes von Gott / Jesus Christus (c. 22, 13): „Ich [bin] das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ziel“. Diese göttliche Selbstaussage ist zunächst eine Umschreibung des zuvor mythisch in der Gestalt des Uroboros und des davor philosophisch im System der porphyrianischen Lehre vom Einen ausgesprochenen Sachverhaltes. Eine grundlegende Veränderung ist aber dadurch gegeben, dass die antike Denkweise diese mythische Aussage rein sachbezogen und damit unpersönlich ausdrückt, das christliche Zeugnis aber den nämlichen Sachverhalt personalisiert: Das Ich ist der geschichtliche und übergeschichtliche Jesus von Nazareth / Jesus Christus als die eine göttliche Gestalt, von der und auf die hin alles geschaffen ist. Jesus Christus erscheint hier als der transzendente Anfang, also als der präexistente Logos, und zugleich als das Ziel der Geschichte von Welt und Mensch.
45 Plotin. enn. 6,7,42,10–15; 6,8,18,1 f.; 5,8,7,44–47: &rc3 = t2lo:; 1,7,1,22 f.: pr0: aat0 (&ga_5n als 4p2keina) d3 4pistr2fein p1nta, osper k6klon pr0: k2ntron &f'oh p(sai gramma4. (Hinweise von W. Beierwaltes); vgl. Beutler a.O. (o. Anm. 16) 303, 28–38. 46 Redaktion, Art. Uroboros: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11 (2001) 3671 f. 47 E. Norden, Agnostos Theos 2 (Leipzig 1923, Ndr. Darmstadt 1974) Titelblatt, 249 Anm. 1; A. Stückelberger, Bild und Wort. Das illustrierte Fachbuch in der antiken Naturwissenschaft, Medizin und Technik = Kulturgeschichte der antiken Welt 62 (Mainz 1994) 121 Anm. 70; Abb. 60.
4. ‚Über die Nymphengrotte‘
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Die Verbindung zwischen der Gottheit als dem prinzipiell Ersten und dem Einen und dem Menschen, der sich als eine diesem Ersten und Einen nachgeordnete, weil zusammengesetzte Einheit von Leib, Geist und Seele erlebt, führte Porphyrios zu der Erkenntnis, dass die Seele in gewisser Weise göttlich sein müsse. Die nachgeordnete Einheit des Menschen zeigte sich beispielsweise in Ekstase und Schamanismus: Die Seele vermag den Leib in der raumzeitlichen Wirklichkeit nur auf Zeit zu verlassen und dem Göttlichen zu begegnen. Nicht nur in außergewöhnlichen Zuständen der Seele, wie sie Porphyrios auch von Plotin überliefert hat 48 , zeigt sich die Seele in ihrer Leib-, Raum- und Zeitungebundenheit, sondern auch dort, wo sie befreit von den sinnenhaften Eindrücken des Tages und dessen Bewusstsein ganz auf sich gestellt erscheint, also im Schlaf und im Traum. Im Traum vermag sie nach dem Glauben der archaischen Zeit, der noch bei Herodot nachwirkt, in die Zukunft zu sehen. Im Traum wird die Seele prophetisch49. Porphyrios zeigt mit dieser Auffassung eine große Nähe zur alten orphischen Lehre: Für sie ist alles leiblich Bedingte mit Negativität behaftet: „Der Leib ist das Grab der Seele“50 . Sie befreit sich von ihm, indem sie sich den Nachtzuständen anvertraut, dem Traum und auch der Ekstase. So werden Schlaf und Tod, Traum und Jenseits, Entrückung und Erlösung in unmittelbarem Bezug aufeinander gesehen. Was die Seele im Traume sieht, ist ein erster Blick in die sonst verschlossene Dimension des wahren Lebens51.
4. ‚Über die Nymphengrotte‘ als Beispiel des religiösen Denkens des Porphyrios In der Schrift ‚De antro Nympharum‘ deutet Porphyrios die wenigen Verse Homers über die Nymphengrotte auf Ithaca als einen Offenbarungstext über die Seele52 . Homer galt ihm als der von der Muse inspirierte Dichter und somit als ein Träger göttlichen Geistes. Wenn der Philosoph, indem er ohne nähere Erläuterung die Verse aus dem 13. Gesang der Odyssee an den Anfang seiner Darlegungen stellt, so scheinbar mit der Tür ins Haus fällt, so gilt das nur für unser modernes Empfi nden, nicht aber für den antiken Leser, der
48
Vit. Plot. 22, 13. Porphyr. vit. Plot. 23,16; H.-R. Schwyzer, Art. Plotinos, in: RE 21,1 (1951) 471–592, bes. 568–572: ‚Die Einswerdung‘. 50 Plat. Cratyl. 400c = Kern a.O. (o. Anm. 33) frg. 8; P. Courcelle, Art. Grab der Seele, in: RAC 12 (1983) 455–467, bes. 455. 459. 51 Dörrie, Porphyrios a.O. (o. Anm. 28) 198 f. 52 Od. 13, 102–112; dazu J. J. Bachofen, Gesammelte Werke, hg. von K. Meuli, 7 (Basel, Stuttgart 1958) 48–59; Beutler a.O. (o. Anm. 16) 279 f.; H. Blumenberg, Höhlenausgänge (Frankfurt, M. 1989) 235–242; Girgenti a.O. (o. Anm. 10) 321 Nr. 8 (Lit.). 49
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
sehr wohl den Gesamtzusammenhang dieser Verspartie überblickt hat. Auf folgende Zusammenhänge ist zu achten, die zeigen, dass Porphyrios diese Verse nicht so willkürlich auf die Seele bezieht, wie es dem modernen Betrachter zunächst erscheinen könnte: Das mythische Volk der Phäaken, geradezu ein Volk aus dem Jenseits, bringt den schlafenden Odysseus, also den sich im Jenseits aufhaltenden Heros, in seine irdische Heimat zurück. Erwacht Odysseus auf Ithaka, so kommt er von einer Jenseitsreise zurück53 . Das Schiff, das den schlafenden Odysseus heimbringt, ist ein Totenschiff 54 . Vom Schlaf des Odysseus heißt es, er sei ein nicht aufweckbarer Schlaf, der ganz dem Tode gleiche55 . Die Phäaken fahren in den Hafen Ithakas ein, der dem Meergreis Phorkys gehört, also ihm heilig ist, und legen den noch schlafenden Odysseus auf den Strand. Die ihm geschenkten Schätze aber legen sie an einem Ölbaum nieder, der bei der Nymphengrotte steht, also wieder an einem heiligen Ort. Dort sollen die Schätze vor dem Zugriff der Menschen sicher sein. Sie genießen also den Status eines Asylanten. Daraufhin kehren die Phäaken in ihr Jenseitsland zurück 56 . Wie der Zusammenhang lehrt, konnte dieser homerische Text wie ein heiliger Text gelesen werden. Den zugleich auch der göttlichen Sphäre angehörenden Odysseus konnte Porphyrios geradezu als Repräsentanten der menschlichen Seele auffassen, die auf sich gestellt mit den Göttern Umgang pflegt. Wenn Homer in diesem Zusammenhang die Nymphengrotte genauer beschreibt, dann muss auch sie – so dachte Porphyrios – auf dem Hintergrund der Erfahrungen der Seele des Heros zu deuten sein. Dann aber hat seine Darlegung nichts Befremdliches mehr. Diese Auslegung betrifft die Prä- und Postexistenz der Seele, d. h. die Seele wird ähnlich wie bereits bei Platon aufgrund von dessen Annahme und Lehre der Wiedererinnerung und der Seelenwanderung als zeitlos beurteilt, und dies aufgrund und anhand eines heiligen Textes. Mit der Wahl der Nymphengrotte hat Porphyrios ein Ursymbol gefunden; denn die Höhle ist Sinnbild des Ganzen, in dem der Mensch lebt, ist Sinnbild des Makrokosmos, des Gesamt von Himmel und Erde, und Sinnbild des Mikrokosmos, also des Menschen als des aus dem Schoß der Frau Geborenen, der dann dem Schoß der Erde im Tod anvertraut wird 57. Die Höhle als Symbol 53 C. Colpe / P. Habermehl, Art. Jenseitsreise, in: RAC 17 (1996) 490–543, bes. 502–504: ‚Die schamanische Seelenreise‘, wo aber Odysseus nicht genannt ist. 54 C. Mengis, Art. Seelenüberfahrt, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 7 (1935/36, Ndr. 1986) 1568–1572, bes. 1568–1571; Jungwirth, Art. Schiff, Schiffer, in: ebd. 9 (1938/41, Ndr. 1986) 152–160, bes. 153 f. 55 Od. 13, 78–80. 56 Od. 13, 93–125. 57 P. Saintyves, Les grottes dans les cultes magico-religieux et dans la symbolique primitive, in: Porphyre L’antre des nymphes, traduit par J. Trabucco (Paris 1918) 37–256; M. Zepf, Der Mensch in der Höhle und das Pantheon, in: Gymnasium 65 (1958) 355–382; W.
4. ‚Über die Nymphengrotte‘
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des Weiblichen zeigt sich ferner in der Ambivalenz von dessen Wirkweisen und damit Bedeutungsweisen und zwar positiv und negativ. Einmal kann die Höhle als das Gebärend-Mütterliche, das Bergende, das Heimat-Gebende, also als Mutterschoß und als Haus erscheinen und dann wieder als das Gegenteil davon, als die böse Mutter, die das Leben ihrer Kinder verzehrt und es dem Grabe und der Unterwelt preisgibt. Mit einer derartigen Ambivalenz der Höhle rechnet Porphyrios auch in seiner Auslegung der homerischen Verse58 . Hier kann nicht der weitere Gedankengang der Auslegung näher betrachtet werden. Dass dabei Porphyrios auch Platons Höhlengleichnis heranzieht und dieses gleichsam weiterdenkt, war zu erwarten 59. Die Voraussetzung seiner symbolischen Deutung ist der Gedanke der Spiegelung von Makrokosmos und Mikrokosmos oder der gegenseitigen Erhellung von Natur und Geist, von Erde, Materie (hyle), und Himmel, Idee, Formgestalt (morphe), und von Mensch und Gott60 . Bei diesem Text und seiner Auslegung befi nden wir uns zugleich im Mittelpunkt eines archetypisch geprägten und damit gewachsenen mythischen Bildes und im Mittelpunkt metaphysischer Betrachtung. Die Inhalte beider stimmen in einer Tiefenschicht miteinander überein. Himmel und Erde, die der Seele / dem Geist und dem Leib sowie der Form und Materie entsprechen, lassen sich mit der Grotte als dem symbolischen Geburts- und Todesort in Verbindung bringen. Höhlen galten im mediterranen Kulturraum als Orte von Götter- und Heroengeburten bis hin ins Christentum, sowie als Orte der Initiation innerhalb von Mysterien und damit als Orte der Wiedergeburt, aber zugleich auch als Orte des Todes. Die Grabeshöhle Christi wird zu seiner Auferstehungshöhle61. Porphyrios wollte mit seiner religiös begründeten Philosophie in gewisser Weise an die Stelle der antiken Religion und auch der Mysterien treten62 . Wie Speyer, Die Vision der wunderbaren Höhle: Ders.: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 1 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Göttingen 1989) 322–331. 501; Blumenberg a.O. (o. Anm. 52); U. Egelhaaf-Gaiser / J. Rüpke, Orte des Erscheinens – Orte des Verbergens. Höhlen in Kult und Theologie, in: Orbis terrarum 6 (2000) 155–176. 58 Antr. Nymph. 3. 6. 59 Antr. Nymph. 8; vgl. Plat. rep. 7, 514 a-517 a; K. Gaiser, Das Höhlengleichnis. Thema und Variationen von Platon bis Dürrenmatt, in: Schweizer Monatshefte 65 (1985) 55–65; Blumenberg a.O. (o. Anm. 52) Reg.: ‚Platon‘. 60 Manil. astron. 4,893–895: quid mirum, noscere mundum / si possunt homines, quibus est et mundus in ipsis / exemplumque dei quisque est in imagine parva?; Plotin. ennead. 1, 6, 8; von Goethe übertragen; vgl. E. Grumach, Goethe und die Antike. Eine Sammlung 2 (Potsdam 1949) 819 f.; ferner vgl. M. Gatzemeier / H. Holzhey, Art. Makrokosmos / Mikrokosmos, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 5 (1980) 640–649. 61 S. o. Anm. 57; ferner E. Benz, Die heilige Höhle in der alten Christenheit und in der östlich-orthodoxen Kirche, in: Eranos-Jahrbuch 22 (1953) 365–432. 62 Auch hier konnte er an Platon und an eine platonische Tradition anknüpfen: K. Al-
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
diesen geht es auch ihm um das Heil der Seele. Die Seele soll nachdenkend mit Hilfe der alten mythischen Überlieferung sich ihres göttlichen Ursprungs bewusst werden und dementsprechend handeln. Wenn das Viele der sinnenhaften Erscheinungen einen Abstieg von und gegenüber dem göttlich Einen bedeutet, dann gilt dies auch für die Seele, wenn sie mit dem Leib bekleidet die Geburtshöhle der irdischen Mutter verlässt. Sie muss sich ihrer wahren Herkunft erinnern, um ihrem göttlichen Wesen gemäß wieder zum göttlich Einen aufsteigen zu können63 . Abstieg und Aufstieg der Seele sieht Porphyrios in den beiden Eingängen der homerischen Nymphengrotte nach Norden und nach Süden angedeutet64 . Er liest also im Buch der Offenbarung, das für ihn einmal die sichtbare Welt ist und sodann der Mythos sowie die ihm folgende mythosgebundene Dichtung. In beiden fi ndet er Urwahrheiten, die zugleich, je nachdem wie der Mensch mit ihnen umgeht, über sein zukünftiges Leben und seinen zukünftigen Tod bestimmen. So wird für Porphyrios die Welt zum Gleichnis einer höheren Wirklichkeit gemäß dem Worte Goethes, der tief vom Neuplatonismus geprägt war: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis; Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis“65 . Beide Denker, Porphyrios und Goethe, sind davon überzeugt, dass die Vielheit der Erscheinungen dieser Wirklichkeit, des Kosmos, mehr ist als eine unverbundene, beliebige Vielheit von Einzelnem, dass vielmehr das Eine für das Ganze, das Ganze für das Eine steht und dass dieses Universum, als Makro- und als Mikrokosmos gelesen, wieder über sich auf etwas Unsinnenhaftes-Geistiges-Göttliches, auf das unsagbar göttlich Eine hinausweist66 . Damit stehen der neuplatonische Philosoph und der deutsche Dichter in einer Tradition eines ganzheitlich geprägten Erlebens, Vorstellens und Denkens, das sich in der Religion und den gewachsenen Mythen der griechischen Stämme und im perspektivisch-geschichtlichen, aber doch religiös gebundenen Denken von Thales und Pythagoras bis hin zu Plotin ausgedrückt hat. bert, Griechische Religion und Platonische Philosophie (Hamburg 1980) 96–108: ‚Mysterien‘; Ch. Riedweg, Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien = Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 26 (Berlin, New York 1987). 63 Hier besteht eine große Nähe zu den Bildgedanken des ‚Perlenliedes‘ in den Thomasakten; M. Geerard, Clavis apocryphorum Novi Testamenti (Turnhout 1992) nr. 249: Carmen animae (De margarita): Acta Thomae 108–113 mit Literatur. 64 Antr. Nymph. 3. 23–31. 65 Faust, Zweiter Teil, Schlussverse: Chorus mysticus. – Vgl. F. Koch, Goethe und Plotin (Leipzig 1925); W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus = Philosophische Abhandlungen 40 (Frankfurt, M. 1972) 93–100. 66 Goethes Gedicht ‚Eins und Alles‘ aus der Sammlung ‚Gott und Welt‘.
5. Abschließende Gedanken
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5. Abschließende Gedanken Wir treffen in ‚De antro Nympharum‘ und in methodisch und inhaltlich verwandten Schriften von Porphyrios, wie in seinen verschiedenen Abhandlungen zu Homer und zu den ‚Oracula Chaldaica‘ sowie in seiner Frühschrift ‚De philosophia ex oraculis haurienda‘, auf ein Verfahren, das weitgehende Entsprechungen zur Vorgangsweise der Kirchenschriftsteller aufweist. Während diese sich auf ihre Heiligen Schriften stützen, die wie die Evangelien und die übrigen Schriften des Neuen Testaments jung sind und nur in der Rückkoppelung an das Alte Testament ein höheres Alter besitzen, so benutzt Porphyrios mit seinem Rückgriff auf Homer alte mythologische Zeugnisse, die für ihn gleicherweise offenbarenden Charakter besitzen. Als hauptsächlich verwendete literarische Form begegnet bei Porphyrios wie bei den Kirchenschriftstellern der Kommentar, und zwar speziell der Kommentar zu Offenbarungsschriften67. Dies weist zugleich auf die in der Kaiserzeit bereits weit fortgeschrittene Reflexionskultur hin, die mit dem 6. Jahrhundert v. Chr. beginnt und bis in die Spätantike und dann wieder erneut vom Hochmittelalter bis heute wirkt. Während christliche Theologen ausgehend vom Prolog des Johannesevangeliums die Prä- und Postexistenz des Göttlichen Logos in Jesus Christus lehren, beansprucht Porphyrios diese Existenzweise für die menschliche Seele. Um ein weiteres Beispiel einer gewissen Parallelität zu nennen: Wie die Seele und der Leib für Porphyrios eine unvermischte Einheit, eine unio inconfusa, bilden, also eine Einheit sind und doch getrennte Größen bleiben, so sind für die kirchliche Lehre Gottheit und Menschheit in Jesus Christus vereint und bleiben doch getrennt68 . Dazu kommen ferner gewisse Ähnlichkeiten zwischen der Trinitätslehre und der porphyrianischen Lehre über die göttliche Triade: Vater, Dynamis und Nus69. Wie die Dynamis Vater und Nus verbindet und vermittelt, so verbindet und vermittelt ähnlich der Heilige Geist den göttlichen Vater mit dem gottmenschlichen Sohn. Die göttliche Triade des Porphyrios stimmt mit der der Oracula Chaldaica überein und nicht mit der Triade Plotins, Agathon, Nus und Psyche, der Porphyrios an anderer Stelle folgt70 . Methodisch und bisweilen auch inhaltlich sind die Gegner Porphyrios und die Kirchenschriftsteller gar nicht immer so weit voneinander entfernt, wie sie selbst angenommen haben und es manche auch heute noch glauben. Weithin offen ist die Frage, wie weit die Auseinandersetzung mit der jüdisch-christlichen Offenbarung und deren christlichen Deutern Porphyrios in 67
L. Fladerer, Art. Kommentar, in: RAC 21 (2005) 274–296. 309–329. Girgenti a.O. (o. Anm. 10) 337: ‚Anima – Corpo‘. 69 Girgenti a.O. (o. Anm. 10) 19 Anm. 7; ebd. 348: ‚Triade Padre – Potenza – Intelletto‘; ‚Trinità cristiana‘. 70 Beutler a.O. (o. Anm. 16) 296 f. 68
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14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker
seiner Philosophie beeinflusst hat. War er wie später der vom Christentum zum Heidentum zurückgekehrte Kaiser Julian nicht auch zugleich ein Apologet der alten Überzeugungen, der wie dieser in seinen Gedanken nicht immer unbeeindruckt von seinem Gegner geblieben ist? Oder war er zunächst selber Christ?71 Religiöse Tradition und damit letztlich göttliche Autorität bestimmen das Denken der orphisch-pythagoreisch-platonischen Schule und so auch das Denken des Porphyrios. Für ihn steht das menschliche Denken nicht auf sich selbst, sondern stützt sich auf eine überlieferte Wahrheit, die nach einer im Mittelmeerraum weitverbreiteten außer- und vorphilosophischen Überzeugung und Überlieferung auf die Götter zurückgeht, also inspirierte Wahrheit ist. Damit liegen die wesentlichen Voraussetzungen der religiösen Philosophie der Griechen, einer Philosophie, die Porphyrios übernommen und auf Grund seiner Gelehrsamkeit auf eine breitere religionsgeschichtliche Basis stellen konnte, in der mythischen Periode mit ihren Offenbarungen. Er konnte so für sein Denken aus drei Quellen schöpfen: aus der diskursiv argumentierenden philosophischen Tradition, die von den frühgriechischen Denkern über Platon zu den Neuphythagoreern, dem Mittelplatonismus und Plotin reicht, aus einer in diese Schulen integrierte, weit ältere mythische Überlieferung und schließlich aus Selbsterfahrungen, zu denen auch mystische Erlebnisse gehören, wie sie der Philosoph in seinem Leben Plotins beschrieben hat und wie sie aus der Geschichte der Mystik bekannt, aber sprachlich und begriffl ich nur unvollkommen und nur andeutungsweise mitteilbar sind.
71 W. Kinzig, War der Neuplatoniker Porphyrios ursprünglich Christ?, in: Mousopolos Stephanos. Festschrift H. Görgemanns (Heidelberg 1998) 320–332.
15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums Einleitung Nach Bedeutung und Umfang gehört das vorliegende Thema zu den zentralen und umfangreichen Aufgaben der Wissenschaft vom griechischen und römischen Altertum. In einem Aufsatz kann es nur als Skizze vorgestellt werden. Der Begriff ‚hellenistisch-römisch‘ ist dabei zunächst in einem zeitlichen Sinn zu verstehen: gemeint ist die Periode von Alexander dem Großen bis zu Konstantin. Da die Epoche des Ausgreifens der Griechen in den Osten und Süden unter Alexander und den Diadochen aber von der früheren Zeit der griechischen Kultur nicht abtrennbar ist – man vergleiche auch Reinhold Bichlers Kritik am Begriff des Hellenismus und an der Bildung von Epochen überhaupt1 –, musste für die folgende Darstellung zeitlich weiter ausgeholt werden. Als Nächstes ist der Begriff des Christentums kurz zu umreißen. Auf das Christentum kann und darf der Begriff des Synkretismus nicht angewendet werden, da das Christentum wie das mit ihm nächstverwandte Judentum und ähnlich wie die gewachsenen antiken Volksreligionen eine Gestalt und kein Konglomerat innerhalb der Geistes- und Kulturgeschichte ist 2 . Diese Gestalt des Christentums kann nur als eine Ganzheit entsprechend zu den Gestalten und Formen des Lebendigen erfasst und dargestellt werden. Wie jedes Lebewesen sind die ‚Gestalten‘ der Kultur spezifisch und unableitbar. Analysen der Elemente bieten zwar Teileinsichten, vermögen aber deren Wesen nicht zu erschließen 3 . 1 ‚Hellenismus‘. Geschichte und Problematik eines Epochenbegriffs = Impulse der Forschung 41 (Darmstadt 1983), bes. 145–157: ‚Die Bildung von Epochen als allgemeines Problem‘; ferner vgl. H. D. Betz, Art. Hellenismus, in: TRE 15 (1986) 19–35. 2 Zum Begriff des Synkretismus W. Fauth, Helios megistos. Zur synkretistischen Theologie der Spätantike = Religions in the Graeco-Roman World 125 (Leiden, New York, Köln 1995) VII-XVI (mit Literatur). 3 R. Piepmeier/ Red., Art. Morphologie I, in: HdWbPhilos 6 (1984) 200–205; H. Wagenhammer, Das Wesen des Christentums. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung = TTS 2 (Mainz 1973).
234 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums Die hier darzulegenden Voraussetzungen bilden ihrerseits die Bedingungen für das von mir nicht zu besprechende Problem der Hellenisierung des Christentums 4 . Dieses oft verhandelte Thema wäre übrigens durch den weiteren Aspekt der Romanisierung vor allem seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. zu ergänzen. Neben der These der Hellenisierung des Christentums steht die weitere, von J. Fontaine formulierte: ‚Christentum ist auch Antike‘5 . Zu erinnern ist an folgende Wesensmerkmale des Christentums: Das Christentum ist als personal zu verantwortender Glaube auf das engste mit dem Glauben der alten Israeliten verbunden. Dieser Glaube des jeweils einzelnen Juden und Christen stützt sich auf das autoritative Wort der ersten Glaubenszeugen, niedergelegt in der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments, und auf die lebendige mündliche Glaubensüberlieferung. Der Inhalt dieses geschichtlich vermittelten Glaubens unterscheidet sich grundlegend von den Überzeugungen der Natur- und Volksreligionen. Die griechische Religion ist an die sich dem ursprünglichen Erleben aufdrängende Grundüberzeugung von der kosmos- und naturgebundenen, immerwährenden Wiederkehr des Gleichen gebunden6 . Für sie sind deshalb ein innerkosmischer Mythos und eine innerkosmische Gottesvorstellung charakteristisch. Sowohl die Mythen von den einander ablösenden Göttergenerationen als auch die Mythen von den Erd-, Mutter- und Vegetationsgottheiten zeichnet der Vorrang des Identischen gegenüber dem Geschichtlichen aus: Bestimmend ist die Vorstellung einer Identität der zeugend-gebärenden Gottheit trotz des pulsierenden Rhythmus ihres stets erneuerten Werdens und Vergehens. Diese Identität im Rhythmus von Werden und Vergehen entspricht den Rhythmen, die das Leben des Kosmos und der Natur bestimmen, wie von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Aussaat und Ernte, Leben und Tod. Insofern bilden in diesem Weltbild Gottheit und Kosmos eine unauflösliche Einheit: Die Gottheiten sind Teile und Aspekte des Kosmos, Zeus schließlich der Kosmos selbst, wie es wohl zuerst die Orphik ausgesprochen hat. Dieses Überzeugtsein von der Vorherrschaft des Seins über das Werden reicht in die vorgeschichtliche Zeit 4 J. Hessen, Griechische oder biblische Theologie? Das Problem der Hellenisierung des Christentums in neuer Beleuchtung (München, Basel 2 1962); A. Grillmeier, ‚Christus licet vobis invitis deus‘. Ein Beitrag zur Diskussion um die Hellenisierung der christlichen Botschaft, in: A. M. Ritter (Hrsg.), Kerygma und Logos. Festschrift C. Andresen (Göttingen 1979) 226–257; L. Scheffczyk, Tendenzen und Brennpunkte der neueren Problematik um die Hellenisierung des Christentums (SBAW.PH) 1982, 3; M Lutz-Bachmann, Hellenisierung des Christentums?, in: C. Colpe/ L. Honnefelder/ M. Lutz-Bachmann, Spätantike und Christentum. Beiträge zur Religions- und Geistesgeschichte der griechischrömischen Kultur und Zivilisation der Kaiserzeit (Berlin 1992) 77–98. 5 Einige Überlegungen zu Bildung und Literatur in der lateinischen Spätantike, in: JahrbAntChrist 25 (1982) 5–21. 6 B. L. van der Waerden, Das Große Jahr und die ewige Wiederkehr, in: Hermes 80 (1952) 129–155; W. Speyer, Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, Zürich, New York 1995) 60. 131. 141. 192.
Einleitung
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zurück und entspricht einer andersartigen, gleichsam noch zeitlosen Mentalität des vorgeschichtlichen Menschen. Dieses Bewusstsein hat seinen Schatten weit in die geschichtliche Periode vor allem beim Volk geworfen. Damit fehlt allen aus einer derartigen Mentalität und Erfahrung erwachsenen Religionen die das Judentum und Christentum bestimmende und auszeichnende Dimension der realen Unterschiedenheit des einen Gottes und der Welt und damit die auf Offenbarung zurückgehende Kategorie der Transzendenz7. Die Mitte des christlichen Glaubens ist die Überzeugung, dass sich der weltunabhängige Schöpfer-, Erhalter- und Erlösergott geschichtlich durch die von ihm geschaffene Welt geoffenbart hat und sich auch nach dem Urfrevel der Stammeltern der Menschheit immer wieder und sogar steigernd in dichterer Folge in einen Dialog mit der Menschheit eingelassen hat. Der Weg führte von den Nachkommen des Urelternpaares zu Noe, dem zweiten Stammvater der Menschheit, zu Abraham und seinen Nachkommen, dem auserwählten Volk. Ihnen offenbarte der Schöpfergott seinen universal auf die Menschheit und seine Schöpfung ausgerichteten Heilswillen. So wurde die Menschheitsgeschichte zur Heilsgeschichte. Diese gipfelt in Jesus Christus, dem menschgewordenen Logos, d. h. in der Menschwerdung des transzendenten Gottes 8 . Jesus Christus hat durch sein Leben, seine Lehre, seinen Tod und seine Auferstehung das Wesen des Schöpfergottes über die Mitteilungen der Propheten des Alten Testaments hinaus geoffenbart sowie den Heiligen Geist angekündigt und gesendet. Gemäß dieser Offenbarung ist der trinitarische Gott nicht nur der gerechte, sondern zugleich der Gnade schenkende, seine Schöpfung erlösende und damit liebende Gott. In diesem nicht aufhebbaren Paradoxon besteht das Evangelium, das die Schüler Jesu ‚zu allen Völkern‘ und ‚bis an die Grenzen der Erde‘ verkünden sollten 9. Missionsauftrag und Kirche bilden eine Einheit, wenn auch aus dem Erlebnis- und Erfahrungshorizont der unmittelbaren Jünger Jesu eine Kirchengeschichte von bisher fast zweitausend Jahren mit einem zeitlich offenen Ende zunächst undenkbar schien. Vielmehr bezeugen nicht wenige Texte des Neuen Testaments und der Alten Kirche die Naherwartung des Weltendes mit dem Gericht Gottes. Aber gerade diese eschatologische Gestimmtheit war eine der machtvollsten Trieb7 W. R. Schoedel, Enclosing, not enclosed. The early christian doctrine of god, in: W. R. Schoedel/ R. L. Wilken (Hrsg.), Early christian literature and the classical intellectual tradition. Festschrift R. M. Grant = ThH 54 (Paris 1979) 75–86; D. Wyrwa, Die christliche Platonaneignung in den Stromateis des Clemens von Alexandrien = AKG 53 (Berlin 1983) 268–282; L. Honnefelder/ W. Schüssler, Transzendenz. Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik (Paderborn, München, Wien, Zürich 1992); M. Baltes, Is the idea of the good in Plato’s Republic beyond being? = Ders., DIANOHMATA. Kleine Schriften zu Platon und dem Platonismus (Stuttgart, Leipzig 1999) 351–371; A. P. Bos, Art. Immanenz und Transzendenz: RAC 17 (1996) 1041–1092. 8 A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche 1/2,1–4 (Freiburg 1989/91). 9 Lk 24, 47; Apg 1,8.
236 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums kräfte für die Verbreitung der christlichen Erlösungsbotschaft innerhalb der paganen Welt. Einen derartig begründeten Missionseifer gab es weder im Judentum noch in einer paganen Religion10 . So wenig wie das Wesen des Christentums kann hier die Forschungsgeschichte des angekündigten Themas näher beschrieben werden. Hermann Usener und seine Schule sowie die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘, ferner das Lebenswerk von Franz Joseph Dölger und seinen Schülern seien wenigstens genannt11. Viele Artikel des ‚Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament‘ sowie des ‚Reallexikons für Antike und Christentum‘ sprechen mittelbar von den Voraussetzungen und den Bedingungen für die Annahme der christlichen Botschaft in der antiken Welt12 . Dazu kommen Beiträge im Sammelwerk ‚Aufstieg und Niedergang der römischen Welt‘ sowie zahlreiche Monographien und Aufsatzsammlungen13 . 10 E. Grässer, Die Naherwartung Jesu = SBS 61 (Stuttgart 1973); G. Klein, Art. Eschatologie IV. Neues Testament, in: TRE 10 (1982) 270–299; G. May, Art. Eschatologie V. Alte Kirche: ebd. 299–305. 11 H. J. Mette, Nekrolog einer Epoche. Hermann Usener und seine Schule, in: Lustrum 22 (1979/80) 5–106; K. Rudolph, Eduard Nordens Bedeutung für die frühchristliche Religionsgeschichte, unter besonderer Berücksichtigung der ‚Religionsgeschichtlichen Schule‘, in: B. Kytzler/ K. Rudolph/ J. Rüpke (Hrsg.), Eduard Norden (1868–1941) = Palingenesia 49 (Stuttgart 1994) 83–105; D. Zeller, Art. Religionsgeschichtliche Schule, in: LThK3 8 (1999) 1057 f.; K. Thraede, Art. Antike und Christentum, in: LThK 3 1 (1993) 755–759; E. Dassmann, Art. Dölger, F. J. nr. 1: ebd. 3 (1995) 304 f. 12 ThWNT, hrsg. von G. Kittel, fortgeführt von G. Friedrich 1–10,2 (Stuttgart 1933– 1979); RAC, hrsg. von Th. Klauser, fortgeführt von E. Dassmann, G. Schöllgen Bd. 1– 21 ff., Suppl.-Bd. 1 ff. (Stuttgart 1950–2006); vgl. E. Dassmann (Hrsg.), Das Reallexikon für Antike und Christentum und das F. J. Dölger-Institut in Bonn, Stuttgart 1994. 13 ANRW 1,1 ff.–2,1 ff. Aus der Fülle der Literatur seien einige Titel genannt: P. Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zum Judentum und Christentum = HNT 1,22/3 (Tübingen 1912); 4. Aufl. von H. Dörrie: ebd. 1972; E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede (Leipzig 2 1923, Ndr. Darmstadt 1974); A. v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums (Leipzig 41924), Ndr. ebd. o. J. (um 1965) 23–39; A. v. Gall, BASILEIA TOU QEOU. Eine religionsgeschichtliche Studie zur vorkirchlichen Eschatologie = RWB 7 (Heidelberg 1926); E. Peterson, EIS QEOS. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen = FRLANT N. F. 24 (Göttingen 1926); K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte II (Tübingen 1928), 1–32: ‚Urchristentum und Religionsgeschichte‘; K. Prümm, Der christliche Glaube und die altheidnische Welt 1/2 (Leipzig 1935); C. Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums 1/2 (München 1954) bes. 1, 1–28; vgl. aber die Besprechung von E. Stommel, in: JahrbAntChrist 1 (1958) 119–127; U. Mann, Vorspiel des Heils. Die Uroffenbarung in Hellas (Stuttgart 1962); O. Gigon, Die antike Kultur und das Christentum (Gütersloh 1966); H. Hommel, Sebasmata. Studien zur antiken Religionsgeschichte und zum frühen Christentum = WUNT 32 (Tübingen 1984) 3–279; A. H. Armstrong, Hellenic and Christian Studies = Collected Studies 324 (Aldershot, Hampshire 1990); H.-D. Betz, Hellenismus und Urchristentum I (Tübingen 1990); J. G. Griffiths, The divine verdict. A study of divine judgement in the ancient religions = SHR 52 (Leiden/ New York/ Köln 1991); H.-J. Klauck, Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments = NTOA 29 (Fri-
Einleitung
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Zur Antike gehören von Anbeginn an Einwirkungen aus dem Vorderen Orient, dem Iran und Ägypten. Sie sind bereits im 2. Jahrtausend v. Chr. erfolgt und seit dem 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. genauer erkennbar, sie haben wesentlich die hellenische, die hellenistische und die römische Kultur mitgeprägt, ja gehören zu einem Teil zum mediterranen Kultursubstrat, auf das die Vorväter der Griechen und Römer bei ihren Einwanderungen gestoßen sind14 . Griechen und Römer haben sich mehr als andere Kulturvölker durch die von ihnen vorgenommene Gleichsetzung fremder Gottheiten mit den eigenen jene angeeignet. Allerdings ging eine derartige Interpretation nicht immer reibungslos vonstatten15 . In den Zusammenhang der Beeinflussung der Griechen durch östliche Kulturen gehört auch die bis heute widersprüchlich beantwortete Frage nach einer möglichen Beeinflussung der antiken Kultur durch die religiöse Tradition der Juden. Bereits jüdische Schriftsteller des Hellenismus haben diese Beeinflussung behauptet und ihnen folgend christliche Apologeten16 . Für unser Thema ist diese Kulturbegegnung von großer Bedeutung. Allerdings scheinen unserem Wissen über sie enge Grenzen gesetzt zu sein. Auf einen bestimmten Aspekt wird noch zurückzukommen sein17. Auf die Entsprechungen, die im Christentum zur Antike vorliegen, wird im Folgenden nur in Ausnahmefällen hingewiesen. Der Kundige wird die Berührungspunkte unschwer erkennen. So wie es nicht zufällig zu sein scheint, dass das Land des ‚auserwählten Volkes‘, der Israeliten, gleichsam im Drehpunkt der drei Kontinente Europa, Asien und Afrika liegt, so wenig scheint es zufällig, dass Jesus Christus, der bourg, Göttingen 1994) 11–143; H. Lichtenberger (Hrsg.), Geschichte, Tradition, Reflexion, Festschrift M. Hengel, Bd. 3 Frühes Christentum (Tübingen 1996) und u. Anm. 50. 14 R. Reitzenstein/ H. H. Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus aus Iran und Griechenland = SBW 7 (Leipzig 1926); W. Burkert, Iranisches bei Anaximandros, in: RheinMus 106 (1963) 97–134; Ders., Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (SHAW.PH 1984, 1); s. auch unten Anm. 36; C. Colpe, Art. W uJ5: toc &n_r7pou, in: ThWNT 8 (1969) 403–481; H. Merklein, Ägyptische Einflüsse auf die messianischen Sohn-Gottes-Aussagen des Neuen Testaments, in: Lichtenberger, a. O. 22–48. 15 G. Wissowa, Interpretatio Romana. Römische Götter im Barbarenland, in: ARW 19 (1916/19) 1–49; W. Schenk, Interpretatio Graeca – Interpretatio Romana. Der hellenistische Synkretismus als semiotisches Problem, in: P. Schmitter/ H. W. Schmitz (Hrsg.), Innovationen in Zeichentheorien (Münster 1989) 83–121. – Zur Toleranz und Intoleranz vgl. W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = WUNT 116 (Tübingen 1999) 103–123. 282, bes. 105 f. 111–115; A. Fürst, Der Einfluss des Christentums auf die Entwicklung der kulturellen Identität Europas in der Spätantike, in: JahrbAntChrist 43 (2000) 5– 24, bes. 15–21; H. Schmidinger (Hrsg.), Wege zur Toleranz (Darmstadt 2002) 21–31. 16 P. Pilhofer, Presbyteron kreitton. Der Altersbeweis der jüdischen und christlichen Apologeten und seine Vorgeschichte = WUNT 2. Reihe 39 (Tübingen 1990). Zur Antike selbst vgl. M. Stern, Greek and Latin authors on Jews and Judaism 1: From Herodotus to Plutarch (Jerusalem 1974); 2: From Tacitus to Simplicius (Jerusalem 1980). 17 S. u. Abschnitt 4.
238 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums Stifter des Christentums, im Zeitalter des weite Teile der drei genannten Erdteile umspannenden Imperium Romanum zur Welt gekommen ist. Mannigfache kulturelle Voraussetzungen und Bedingungen mussten zusammenkommen, um zu ermöglichen, dass das Christentum innerhalb weniger Jahrhunderte zu der neuen und einzigen Religion im Imperium Romanum und vieler seiner Anrainerstaaten aufsteigen konnte. Diese Voraussetzungen gehen teils auf die altgriechische sowie die hellenistische Kultur zurück, teils auf die altrömisch-italische, die sich seit dem 3. Jh. v. Chr. zu einer römisch-hellenistischen Mischkultur gewandelt hat. Seit dieser Zeit erscheint die Stadt Rom als eine, ja – während der Kaiserzeit des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. – als die führende Stadt des Hellenismus im Westen18 . Die folgende Darstellung muss diese beiden antiken Kulturen je nachdem bald getrennt, bald zusammen in den Blick bringen.
1. Die mentalitätsmäßigen und religiösen Voraussetzungen a. In der myth-historischen und in der religiös bestimmten geschichtlichen Epoche der Antike Da die Religion in der Antike wie in allen Frühkulturen das Leben der Gemeinschaft und des Einzelnen bestimmt hat, da deshalb auch Politik und Gesellschaft nicht ohne Religion denkbar waren und nicht zu verstehen sind, gehören zu den geistigen Voraussetzungen ebenso politische und gesellschaftliche. Politik und Gesellschaft waren im Altertum weithin Ausdruck und Konkretisierung der das gesamte Leben bestimmenden religiösen Anschauungen und Überzeugungen. Entsprechendes gilt für Sitte und Recht. Eine bewusst vollzogene Trennung von Profan und Heilig und eine damit eingeleitete Entsakralisierung ist in der griechisch-römischen Antike nur in Ansätzen erfolgt – man denke an die Sophisten, die Atomisten, Epikur, die Skeptiker und auch die Schule des Aristoteles –, wurde aber in der hellenistischen und kaiserzeitlichen Epoche nicht zuletzt infolge eines wachsenden Einflusses der religiösen Bewegungen aus dem Osten, zu denen auch das Christentum gehört, wieder weitgehend rückgängig gemacht. Die Mehrzahl der Bevölkerung fühlte und dachte in den weiter lebendig gebliebenen Traditionen der alten bzw. der infolge des Einströmens hellenistisch-orientalischer Kulte gewandelten Sakralgemeinschaft. Die ältesten literarischen Zeugnisse der griechischen Kultur, die homerischen Epen Ilias und Odyssee, der epische Kyklos und die homerischen 18 Bereits Heraclid. Pont. Frg. 102 Wehrli bemerkte: p5lin Ellhn4da R7mhn; vgl. P. Steinmetz, Untersuchungen zur römischen Literatur des 2. Jahrhunderts n. Chr. = Palingenesia 16 (Wiesbaden 1982) 110–113.
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Hymnen, zeigen, dass die Bewusstseinsstufe des mythischen und – a fortiori betrachtet – des geschichtslosen Zeitalters noch nicht lange überschritten war. So bleibt in der Raum- und Zeitvorstellung des frühen griechischen Epos die Nähe zur Welt der Götter noch allenthalben erkennbar. Insofern können wir von einer Übergangsepoche, einer myth-historischen Periode sprechen. Für die Griechen der geschichtlichen Epoche war der Krieg um Troja zwar ein geschichtliches Ereignis; an ihm nahmen aber bekanntlich Götter und Göttersöhne sowie Heroinnen als Protagonisten teil. Erst vom 7. Jahrhundert v. Chr. an traten einzelne Griechen den vielen ihrer Sakralgemeinschaft gegenüber, und zwar nicht nur in der Funktion von Fürsten, Herrschern und Helden, sondern als geistig und religiös herausragende Menschen und somit als Kulturschaffende. Diese Linie zeigen bereits die genannten homerischen Epen Ilias und die etwas jüngere Odyssee. Gegenüber dem Haupthelden der Ilias, Achill, ist Odysseus bereits der geistig überlegene Held, der ‚Vielgewandte‘ und ‚Listenreiche‘, der nach einer antiken Überlieferung der Sohn des durch seine Schlauheit bekannte Sisyphos war. Die homerischen Sänger verblieben noch weitgehend in der Anonymität; Homer ist noch keine fassbare geschichtliche Gestalt19. Erst mit Hesiod aus Askra am Helikon und den Lyrikern beginnen die Dichter und neben ihnen die Vasenmaler und andere bildende Künstler mit ihrem Namen und auch mit Nachrichten aus ihrem Leben und mit persönlichem Urteil hervorzutreten 20 . Der Einzelne gelangte damit mehr und mehr zu einer perspektivisch angelegten und damit distanzierten und auch kritischen Einstellung zur Wirklichkeit, zur Natur und zur Tradition. Aus dieser neuen Mentalität folgte die wachsende Geschichtlichkeit seines Selbst- und seines Wirklichkeitsverständnisses. Dieser Prozess der Subjektivierung und der Betonung der eigenen verantworteten Leistung hat auf allen Gebieten des Geistes für die altgriechische und die hellenistische Kultur wachsende Bedeutung erlangt. Mit diesem Heraustreten des Einzelnen aus seiner Gemeinschaft, das bereits bei Homer deutlich erkennbar ist, waren aber zugleich seelische Erschütterungen verbunden; denn die ältere Unio magica der mythischen Mentalität war nicht nur von einer tiefer erlebten Fremdbestimmung geprägt – der Bestimmung durch die Gottheit oder den Daimon –, sondern war infolge des Eingebunden- und Geborgenseins im Unpersönlich-Überpersönlich-Göttlichen weit weniger offen für Ängste, wie sie die mehr und mehr auf sich gestellten Menschen der geschichtlichen Zeit bedrängen 21. Im vorgeschicht19 A. Lesky, Art. Homeros, in: REAW Suppl. 11 (1968) 687–846; J. Latacz, Art Homeros 1, in: Der Neue Pauly 5 (1998) 686–699. 20 W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = HAW 1,2 (München 1971) 15; M. Puelma, Der Dichter und die Wahrheit in der griechischen Poetik von Homer bis Aristoteles, in: MusHelv 46 (1989) 65–100. 21 E. R. Dodds, Pagan and christian in an age of anxiety (Cambridge 1965); A Spira,
240 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums lichen, mythischen Zeitalter war der Gegensatz von Ich und Gemeinschaft, Ich und Welt, Ich und Gottheit, Diesseits und Jenseits weit weniger deutlich und erfahrbar22 . Mit dem Abschied von der andersartigen mythischen Raumund Zeitvorstellung und mit dem Eintreten in die Geschichte überfiel den Menschen, in diesem Fall die Griechen, die Angst vor dem Tod und dem Zustand danach mit einer bisher unbekannten Wucht23 . Bereits einer der homerischen Sänger betrauert folgenderweise das beklagenswerte Geschick des Menschen: „Denn kein anderes Wesen wirklich ist mehr zu bejammern / als der Mensch von allem, was atmet und kriecht auf der Erde“24 oder: „So bestimmten die Götter das Los für die kläglichen Menschen, / immer in Sorgen zu leben; allein sie selbst sind sorglos“25 . Die Klage über das Geschick des Menschen gipfelt in der vom weisen Silenos, einem mythischen Offenbarungsträger, gegenüber König Midas geäußerten Sentenz: „Nicht geboren zu werden sei für den Menschen bei weitem das Beste, das Zweitbeste aber, so schnell wie möglich zu sterben“. Dieser Satz begegnet von der griechischen Frühzeit bis in die heidnische Spätantike26 . In der Tragödie des 5. Jahrhunderts v. Chr. erscheint der Mensch zwar als sich selbst bestimmendes und verantwortendes Wesen, das aber jenseits aller persönlichen Schuld infolge einer wie auch immer entstandenen Verblendung von Seiten eines Gottes, eines Daimon seinem unglückseligen Geschick nicht entrinnen kann 27. Diese tragische Sicht ist nicht nur an bestimmte Gestalten des mythischen Heroenzeitalters gebunden, sondern kennzeichnet in ihnen exemplarisch und gleichnishaft das Lebensgefühl der Griechen der hohen Angst und Hoffnung in der Antike, in: F. R. Varwig (Hrsg.), AINIGMA. Festschrift H. Rahn (Heidelberg 1987) 129–181. 22 S. Mowinckel, Religion und Kultus (Göttingen 1953) 13–27. 23 Vgl. E. v. Lasaulx, De mortis dominatu in veteres, in: Ders., Studien des classichen Alterthums (Regensburg 1854) 459–494; C. Segal, Lucretius on death and anxiety (Princeton, New Jersey 1990) und Anm. 21. 24 Il. 17, 446 f. 25 Il. 24, 525 f.; vgl. 6, 146: „Gleichwie die Geschlechter der Blätter, so sind die der Menschen“; Hom. hymn. in Apoll. 190–193: „Die Menschen vermögen kein Heilmittel gegen den Tod und keine Schutzwehr gegen das Alter zu fi nden“; Od. 11, 488–491. 26 Certamen Hom. et Hes. 78 f. (228 Allen); Pind. Pyth. 8,95; dazu H. Fränkel, EFHMEROS als Kennwort für die menschliche Natur; in: Ders., Wege und Formen frühgriechischen Denkens (München 31969) 23–39; Bacchyl. epin 5,160 f.; dazu H. Maehler, Die Lieder des Bakchylides (Leiden 1982) 116 f.; Theogn. 425–428 mit dem Kommentar von B. A. van Groningen = VNAW, Afd. Letterkunde N. R. 72,1 (Amsterdam 1966) 169–171; Soph. Oed. Col. 1224 f.; Euripid. frg. 285 Kannicht; Aristot. Eudem. frg. 44 Rose (= Ps. Plut. cons. ad Apoll. 14,108e-109d); vgl. F. Jacoby im Kommentar zu Theopomp.: FGrHist 115 F 74–75; Posidipp.: Anth. Pal. 9,359; Cic. Tusc. 1,114; Sen. ad Marc. 22,3; Epigr. Bob. 25: ‚Nihil in vita expedire‘. – Vgl. auch die erstmals von Herodot 1,31 mitgeteilte Geschichte von Kleobis und Biton (Cic. Tusc. 1,113) und von Trophonios und Agamedes (ebd. 1,114; vgl. ebd. 1,115). 27 H. Funke, Die sogenannte tragische Schuld. Studien zur Rechtsidee in der Griechischen Tragödie (Diss. Köln 1963).
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Zeit. Eine derartige Einstellung mag man Realismus oder Pessimismus nennen, Tatsache bleibt, dass die Griechen von der Zeit Homers an tief am menschlichen Dasein gelitten haben und ihnen zunächst auch das Jenseits nicht die Hoffnung auf einen besseren Zustand zu gewähren schien28 . Der Weg zu einer weiteren Isolierung des Einzelnen war innerhalb der geschichtlichen Epoche Griechenlands dadurch gegeben, dass seit dem späten 5. Jh. v. Chr. die dem Einzelnen noch einen relativen Halt gewährende kultischpolitische Gemeinschaft der Polis zerfiel. Der Individualismus machte auf allen Gebieten Fortschritte, und mit dem Individualismus gingen Verunsicherung und Vereinsamung Hand in Hand. Andererseits fielen die Menschen der Antike niemals ganz aus dem von ihnen als bergend erlebten göttlichen Kosmos heraus. Seit mythischer und myth-historischer Zeit bestand in Griechenland der Glaube, dass Götter in Menschengestalt erscheinen können, dass es Söhne und Töchter von Göttern und irdischen Frauen, seltener von Göttinnen und irdischen Männern gibt und dass Menschen zum Rang von Heroen, ja von Göttern aufzusteigen imstande sind 29. Die erlebte und geglaubte Nähe des Göttlichen, der Gottheit, ließ die Sehnsucht des Einzelnen erwachen, aus der Schwere des Erdendaseins zum Göttlichen zu gelangen. Die Überzeugung von der Ebenbildlichkeit des Menschen und der Gottheit führte gewisse Kreise dazu, durch philosophische Mystik oder durch die Riten der Mysterien selbst zur Gottheit zu gelangen, ja selbst göttlich zu werden, sei es bereits in diesem oder erst im jenseitigen Leben 30 . Daher erklärt sich die Vorherrschaft religiöser Philosophie sowohl in der klassischen Zeit als auch noch in der nachklassischen Zeit Griechenlands und während der Kaiserzeit: Orphik, Pythagoreismus, Platonismus, Stoizismus, Neuphythagoreismus, Mittel- und Neuplatonismus erweisen
28 A. Baumstark, Der Pessimismus in der griechischen Lyrik (Heidelberg 1898); W. Nestle, Griechische Weltanschauung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart (Stuttgart 1946, Ndr. Aalen 1969) 177–199: ‚Der Pessimismus und seine Überwindung bei den Griechen‘; W. Schadewaldt, Lebenszeit und Greisenalter im frühen Griechentum, in: Die Antike 9 (1933) 282–302; I. C. Opstelten, Sophocles and Greek pessimism (Amsterdam 1952); R. Braun, Kohelet und die frühhellenistische Popularphilosophie = BZAW 130 (Berlin, New York 1973) 14–31. 29 Hesiod frg. 1 Merkelbach/ West; H. D. Betz, Art. Gottmensch II (Griechisch-römische Antike und Urchristentum), in: RAC 12 (1983) 234–312, bes. 234–288; W. Speyer, Art. Heros, in: RAC 14 (1988) 861–877; vgl. auch Apg 14,8–18; dazu Speyer, Studien a.O. (o. Anm. 6) 106–124, bes. 114 f. 30 H. Merki, Art. Ebenbildlichkeit, in: RAC 4 (1959) 459–479; L. Scheffczyk (Hrsg.), Der Mensch als Bild Gottes = WdF 124 (Darmstadt 1969); D. Roloff, Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben = Untersuchungen zur Herkunft der platonischen Angleichung an Gott = UALG 4 (Berlin 1970) 102–197; H. Wrede, Consecratio in formam deorum. Vergöttlichte Privatpersonen in der römischen Kaiserzeit (Mainz 1981); D. Zeller (Hrsg.), Menschwerdung Gottes – Vergöttlichung von Menschen = NTOA 7 (Fribourg, Göttingen 1988).
242 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums sich als prägender im Vergleich mit den profanen philosophischen Richtungen: Sophistik, Atomismus, Epikureismus und Skeptizismus. So wird auch die wachsende Blüte der Mysterienkulte verständlich: des Orpheus und Dionysos, der Demeter, Kybele oder Mater Magna, Isis, des Osiris und Sarapis, des Mithras und der Kabiren von Samothrake31. Mit dem Heraustreten des Einzelnen aus der Unio magica oder mythica des urgeschichtlichen Zeitalters erfolgten mehrere geistige Entdeckungen, die für die Folgezeit von größter Bedeutung wurden: Griechische Denker und Dichter entdeckten den Eigenstand und Eigenwert des Sittlichen und des Rechts und verlangten damit auch von der Gottheit ein entsprechendes Verhalten 32 . Zuvor erlebten die Menschen nur die undurchschaubare, übermenschliche, göttliche Macht, die sich in nicht berechenbarer Weise bald in Segens- und Heilshandlungen, bald in Fluch- und Unheilshandlungen offenbarte. Mit der Entdeckung und der Forderung zu sittlichem Verhalten der Menschen untereinander und gegenüber den Göttern und allem, was dem Menschen nachund untergeordnet ist, entstand eine neue Theologie, die auch von der Gottheit sittliches Verhalten verlangte, vor allem Gerechtigkeit: eine Gerechtigkeit, die für den einzelnen Menschen spätestens im Jenseits offenkundig werden sollte33 . Damit trat das Totenreich des Jenseits in seiner Unbestimmtheit als dunkler Tartaros oder Hades zurück und wurde mehr und mehr zu einem Ort der Belohnung für die Guten und zu einem Strafort für die Bösen. Alte Lehren, wie sie die Orphik vertrat und deren Ursprung im Alten Orient mit Einschluss Ägyptens zu suchen sind, sprachen von einer Belohnung der Guten und der Eingeweihten und einer Bestrafung der Bösen und Nichteingeweihten im Jenseits und damit von einem Totengericht 34 . Bei Platon wirkten diese Vorstellungen nach, wie verschiedene seiner Mythen über das Geschick der Seele nach dem leiblichen Tod zeigen 35 . Die Theologie entlastete auf diese Weise die Götter des Himmels von ihrer ursprünglich gleichfalls vorhandenen fi nsteren Seite, ihrem Zorn- und Fluchaspekt. Die den griechischen Denkern mindestens seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. bekannte iranische Lehre
31 B. M. Metzger, A classified bibliography of the Graeco-Roman mystery religion 1924–1973 with a supplement 1974–1977, in: ANRW II 17,3 (1984) 1259–1423; W. Burkert, Antike Mysterien (München 1990); W. Speyer, Zu den antiken Mysterienkulten: o. S. 103– 119. 32 A. Dihle, Art. Gerechtigkeit, in: RAC 10 (1978) 233–360, bes. 236–245. 33 Griffiths a.O. (o. Anm. 13) 199–343; vgl. auch Plut. de sera numinis vindicta: mor. 548A–568A; K. Ziegler, Art. Plutarchos nr. 2: RE 21,1 (1951) 636–962, bes. 846–850; H. D. Betz/ P. A. Dirkse/ E. W. Smith, Jr., De sera numinis vindicta: H. D. Betz (Hrsg.), Plutarch’s theological writings and early Christian literature = SCHNT 3 (Leiden 1975) 181–235; Klauck a.O. (o. Anm. 13) 66–71. 34 P. Habermehl, Art. Jenseits (Jenseitsvorstellungen) B. Nichtchristlich IV. Griechenland, in: RAC 17 (1996) 258–289, bes. 269–273. 35 Gorg. 523A-525A; Phaed. 112F-115A; res publ. 19,614A-621D.
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eines metaphysischen Dualismus, eines guten und eines bösen Urprinzips, hinterließ Spuren in der Ausgestaltung der Theologie von den Himmlischen, von Zeus und den Olympischen Göttern, und von den Unterirdischen, von Hades/Pluton und Persephone36 . Dazu kam der von Platonikern in die Philosophie aufgenommene Volksglaube von den Dämonen, den meist als schadenstiftend vorgestellten Geistern 37. Die Auseinandersetzungen und der Kampf zwischen den Göttern und den dämonischen Götterfeinden, zu denen auch böse Geister zählen konnten, waren bereits in bestimmten Mythen angelegt 38 . In den Mysterien von Demeter und Persephone in Eleusis bei Athen, die ihre Symbolik aus dem Ackerbau und dem jährlich wiederkehrenden Rhythmus von Same, Halm und Frucht, vom Leben des Weizenkorns auf und unter der Erde, bezogen, erlebte der Myste als Einzelner den segensvollen Aspekt der Gottheit und die immerwährende Wiederkehr des Gleichen 39. Den Weg zu einer wachsend individuell gestalteten Beziehung zu den übermenschlichen geheimnisvollen Mächten, den Göttern, die den Menschen in allem und hinter allem erahnbar waren, zeigt die Geschichte der griechischen Frömmigkeit. In der Ilias und gesteigert, weil konzentriert, in der Odyssee begegnet bereits das eigenartig persönlich anmutende Verhältnis zwischen dem Helden und seiner Schutzgottheit. Das gegenseitige Verhältnis von Odysseus und Athene erschien auf der Stufe der Myth-Historie als Ideal für alle, die sich wie Odysseus um Hilfe an eine göttliche Macht wandten. Sehr bald suchten viele Hilfe und Trost bei einer individuell vorgestellten Gottheit, die sie als Patron oder Patronin anriefen40 . Das Volk verehrte einzelne Gottheiten und Heroen als Heilgottheiten und Heilheroen41. Dazu kam der Kult bestimmter Rettergottheiten: Retter aus Schiffbruch und Seenot, wie die Dioskuren und die mit ihnen gleichgesetzten Kabiren, oder Retterinnen in Ge-
36 Vgl. Isocr. or. 5,117; zu Platon P. Friedländer, Platon, 3 Die platonischen Schriften. Zweite und dritte Periode (Berlin 1960) 408. 514 Anm. 93; ferner U. Bianchi, Il dualismo religioso (Roma 1958, Ndr. ebd. 1991); Ders., Selected essays in gnosticism, dualism and mysteriosophy = SHR 38 (Leiden 1978); C. Colpe, in: GöttGelAnz 222 (1970) 1–22; U. Bianchi, Plutarch und der Dualismus, in: ANRW II 36,1 (1987) 350–365; zu den Stoikern Plut. plac. philos. 1,6,880b; W. Hinz, Art. Areimanios, in: RE Suppl. 9 (1962) 11–13; Speyer, Frühes Christentum a.O. (o. Anm. 15) Reg.: ‚Dualismus‘. 37 C. Colpe/ J. Maier/ J. ter Vrugt-Lenz/ C. Zintzen/ E. Schweizer/ A. Kallis/ P. G. van der Nat/ C. D. G. Müller, Art. Geister (Dämonen), in: RAC 9 (1976) 546–797. 38 W. Speyer, Art. Gottesfeind, in: RAC 11 (1981) 996–1043, bes. 1007 f. 39 Speyer, Studien a.O. (o. Anm. 6) 56–74. 192 f. 40 A.-J. Festugière, Personal religion among the Greeks (Berkeley, Los Angeles 1954). 41 J. H. Croon, Art. Heilgötter (Heilheroen), in: RAC 13 (1986) 1190–1232, der 1219 im Anschluss an A. v. Harnack von einer heilungssüchtigen Welt spricht, in die das junge Christentum mit seinem ‚Evangelium vom Heiland und von der Heilung‘ (Harnack, Mission a.O. [o. Anm. 13] 129–150) eingetreten ist.
244 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums burtswehen und Kindbett, wie Artemis und Eileithyia, und in Todesnot42 . Die Aufgabe des Retters und Heilbringers teilten mit den Göttern die stärker ortsgebundenen Heroen und alle göttlichen Menschen geschichtlicher Zeit, die als Repräsentanten der göttlichen Segensmacht erschienen und Segenswunder vollbrachten, zu denen auch Heilungswunder zählten43 . Die göttlichen Menschen, wie der Arzt-Seher, Jatr5manti:, oder der Philosoph als Wettermacher, die in geschichtlicher Zeit das Erbe bestimmter Heroen, wie Herakles, Aristaios, Aiakos, Salmoneus, Orpheus, Asklepios, angetreten hatten, übten wie jene ihre numinose Macht aus eigener Kraft44 . Damit unterscheiden sie sich von den christlichen Heiligen, die ihre Wunderkraft in der Regel als Gabe Gottes und Jesu Christi empfanden45 . Wie die Aretalogie des Gottes, Heros und ‚göttlichen Menschen‘ den Apostelgeschichten und Heiligenviten entspricht46 , so der Heros und ‚göttliche Mann‘, die Heroine und ‚göttliche Frau‘ dem Heiligen und der Heiligen, wobei aber der Unterschied zwischen innerkosmischer Gottesvorstellung und dem transzendenten Gott der Offenbarung zu berücksichtigen bleibt 47. Von den griechischen Heroen zeigen vor allem Orpheus und Herakles – nicht zuletzt wegen ihres Abstiegs in die Unterwelt – und der göttliche Arzt Asklepios Entsprechungen zu Jesus Christus. Auch die religiöse Verehrung eines toten Menschen, sei er Heros oder göttlicher Mensch, wie sie vor allem römische Kaiser nach ihrem Tod erfuhren, ließ den Kult der geschichtlichen Person Jesu Christi nicht unerhört erscheinen48 . Der Glaube an das Wunder als außergewöhnliche Möglichkeit für Heil, aber auch für Unheil war Heiden und Christen gemeinsam49. Damit berühren wir die magisch-religiöse Mentalität der Menschen von Ursprungs- und Frühkulturen, die sich noch lange in differenzierten Hochkulturen behauptet hat. Dies gilt in vorzüglicher Weise für die von Magie und Religion geprägte hel42 W. Kraus, Art. Dioskuren, in: RAC 3 (1957) 1122–1138; G. Binder, Art. Geburt II (religionsgeschichtlich), in: RAC 9 (1976) 43–171, bes. 75–81. 43 Betz a.O. (o. Anm. 29); Speyer, Heros a.O. (o. Anm. 29) 869 f. 44 W. Fiedler, Antiker Wetterzauber = Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 1 (Stuttgart 1931) 5–24. 45 Speyer, Frühes Christentum 2 a.O. (o. Anm. 15) 153. 46 R. Reitzenstein, Hellenistische Wundererzählungen (Leipzig 1906, Ndr. Darmstadt 1963); M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion 23 = HAW 5,2,2 (München 1974) 228 f. und Reg.: ‚Aretalogien‘; V. Longo, Aretalogie nel mondo greco, 1 Epigrafi e papiri = Pubblicazioni dell’Istituto di Filologia Classica dell’Università di Genova 29 (Genova 1969); ferner vgl. M. Van Uytfanghe, Art. Biographie II (Spirituelle): RAC Suppl. Bd. 1 (2001) 1088–1364. 47 Speyer, Frühes Christentum 2 a.O. 153. 48 J. R. Fears, Art. Herrscherkult, in: RAC 14 (1988) 1047–1093. 49 W. Speyer, Art. Fluch, in: RAC 7 (1969) 1160–1288, bes. 1193–1196. 1231 f. 1252–1257; B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanen in Antike und Christentum = FRLANT 170 (Göttingen 1996).
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lenistische und römische Kultur. Diese Mentalität zeichnete aber nicht nur das Volk aus, sondern auch viele Gebildete, ob heidnische Philosophen oder Männer der Kirche. Die Mehrzahl der damaligen Bevölkerung glaubte an die Wirksamkeit von Dämonen/Geistern, an die heute sogenannten parapsychologischen Fähigkeiten der ‚göttlichen Menschen‘ und der Heiligen, an die Gaben der Prophetie und des Exorzismus, an das Segens- und Fluchwort, an wahrsagende Träume, Vorzeichen oder Prodigien, an Visionen und Epiphanien, also Erscheinungen jenseitiger Gestalten, an Auditionen, also Himmelsstimmen, an Apokalypsen und Offenbarungen sowie besondere Arten der Offenbarungsübermittlung bis hin zum himmlischen Buch und zum geschriebenen Hieros Logos50 . Hierbei schöpften alle religiös eingestellten Menschen jener Epoche aus einem gemeinsamen Schatz von Vorstellungen und Erfahrungen, und so bestand neben der rationalen sozusagen noch eine zweite, religiöse Sprache, in der sich Heiden und Christen nicht nur über die Grenzen ihrer persönlichen Religion verständigen konnten, sondern die ihnen auch weitgehend gemeinsam war. Mindestens ebenso grundlegend und Brücken gegenseitiger Verständigung ermöglichend war die Gemeinsamkeit der religiösen Menschen der verschiedenen Kulturen in ihren religiösen Betätigungen: Gebet, Gelübde, Opfer und Initiation, dazu die Heilighaltung bestimmter Orte, Räume und Zeiten, das Fest und der Festkalender, also der Kult im weitesten Sinn, verbanden bei allen jeweils gegebenen Eigenheiten die Angehörigen der antiken Volksreligionen mit den Christen. Schließlich gab es ein allgemein anerkanntes Weltbild mit Himmel, Erde und Unterwelt 51, das bis ans Ende des Mittelalters prägend und bestimmend blieb.
50 Zunächst sei auf die entsprechenden Artikel im RAC verwiesen; ferner vgl. M. Frenschkowski, Traum und Traumdeutung im Matthäusevangelium, in: JahrbAntChrist 41 (1998) 5–47; K. Berger, Hellenistisch-heidnische Prodigien und Vorzeichen in der jüdischen und christlichen Apokalyptik, in: ANRW II 23, 2 (1980) 1428–1469; A. Bingham Kolenkow, Relationship between miracle and prophecy in the Greco-Roman world and early Christianity: ebd. 1470–1506; D. E. Aune, Magic in early Christianity: ebd. 1507– 1557; Ders., Prophecy in early Christianity and the ancient mediterranean world (Grand Rapids 1983); K. Koch/ J. Schmidt (Hrsg.), Apokalyptik = WdF 365 (Darmstadt 1982); D. Hellholm (Hrsg.), Apocalypticism in the mediterranean world and the Near East. Proceedings of the international colloquium on apocalypticism, Uppsala 1979 (Tübingen 21989); R. Baumgarten, Heiliges Wort und Heilige Schrift bei den Griechen, Hieroi Logoi und verwandte Erscheinungen = Scripta Oralia 110, R. 8, Bd. 26 (Tübingen 1998); ferner o. S. 75–88. 51 R. Mehrlein, Art. Drei, in: RAC 4 (1959) 269–310, bes. 270.
246 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums b. In der Epoche des Hellenismus und der frühen Kaiserzeit Mit dem vom Rand Griechenlands aus Makedonien stammenden Alexander erschien in der vielgliedrigen Staatenwelt der Griechen eine dämonische Persönlichkeit, die in wenigen Jahren die griechische Kultur zu einer Weltzivilisation im Kleinen umschaffen sollte. Ähnlich wie die sich im Westen Europas ausbreitende Macht Roms versuchte Alexander auf seine Weise den aus dem Alten Orient stammenden Weltreichsgedanken neue Realität zu verleihen. Parallel zu dieser von Alexander und Rom erstrebten Einheit der Welt durch militärisch-politisches Eingreifen begegnet in der diese Epoche mehr und mehr bestimmenden Philosophie der Stoa, aber auch der Kyniker, der Gedanke der einen, ungeteilten Menschheit und damit der Welt als der einen Gemeinschaft, ja als der Stadt aller Menschen, seien sie die Angehörigen von Hoch- oder von Ursprungskulturen, seien sie Griechen oder Barbaren, Freie oder Sklaven, Männer oder Frauen 52 . Dieser Ruf nach Gleichstellung aller Menschen und nach Einheit der Kulturen und damit auch der Götterverehrung wirkte sich religiös-theologisch dahingehend aus, dass nicht nur die Gebildeten dazu neigten, eine Gottheit als das wahre Zentrum von allem anzuerkennen statt viele Gottheiten zu verehren. Das Streben nach Einheit des Imperiums mit einem Herrscher an der Spitze setzte sich auch nach dem frühen und plötzlichen Tod Alexanders fort. Ihn beerbten tatsächlich nicht seine Feldherren, die Diadochen, sondern das zunächst noch republikanische Rom, das sich aber seit Scipio Africanus maior, also seit dem späten 3. Jahrhundert v. Chr., auf die Herrschaft eines Einzelnen zubewegte: Sulla, Marius, Pompeius, Caesar, Antonius und schließlich Augustus und seine Erben vollendeten diesen Weg. Entsprechend zu dieser politischen Entwicklung begegnen in der hellenistisch-römischen Kultur Religionen, die den Zug nach Vereinheitlichung in größerem oder geringerem Maß ausgebildet haben. Die henotheistische Tendenz der Epoche entspricht der monarchischen. Andererseits waren der Hellenismus und die römische Kaiserzeit von einem wachsenden Pluralismus der Weltdeutungen geprägt. Die beiden gegenstrebigen Tendenzen dieser Zeit scheinen sich geradezu zu bedingen: Wo Zerspaltenheit herrscht, keimt zugleich der Wunsch nach Einheit. Mit dem Streben nach dem einen Gott berühren wir zwei große religiöse Themen dieser Epoche: den Kult des einen Herrschers – Alexanders, der Di-
52 A. S. Pease zu Cicero, nat. deor. 1, 121: censent [sc. Stoici] autem sapientes sapientibus etiam ignotis esse amicos; H. C. Baldry, The unity of mankind in Greek thought (Cambridge 1965); J. Moles, Le cosmopolitisme cynique, in: M.-O. Goulet-Cazé/ R. Goulet (Hrsg.), Le cynisme ancien et ses prolongements. Actes du colloque intern. du CNRS Paris, 22–25 juillet 1991 (Paris 1993) 259–280; M. Schofield, The stoic idea of the city (Cambridge 1991).
1. Die mentalitätsmäßigen und religiösen Voraussetzungen
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adochen, der römischen Feldherren der späten Republik, der römischen Kaiser53 – und das Thema der Götterverschmelzung, des religiösen Synkretismus, der bereits in der so oft geübten Interpretatio Graeca oder Romana fremder Gottheiten angelegt erscheint 54 . Beide Religionsformen mussten die Christen ablehnen, beide Religionsformen haben aber der von den Christen geübten Verehrung des einen Gottes und des einen Gottessohnes Jesus Christus unmittelbar vorgearbeitet. Ob Dionysos, Hypsistos, Sabazios, Mithras, Helios-Sol, Iupiter Dolichenus und Heliopolitanus, Hermes Trismegistos, Sarapis oder Aion, ob Isis, Dea Caelestis, Dea Syria-Atargatis, Kybele-Mater Magna oder Venus Victrix: Die Menschen suchten in verschiedenen Gottheiten den Einen oder die Eine55 . Seit ältester Zeit haben die Indoeuropäer den Himmelsgott und auch andere Götter als ‚Vater‘ verehrt: Zeus ist bei Homer ‚der Vater der Menschen und Götter‘. Dabei ist ‚Vater‘ bald genealogisch, bald als Ehrentitel zu verstehen 56 . Über die seelischen Bedingungen, die zur Entstehung von Religion beigetragen haben, ist hier nichts Genaueres auszuführen. Soviel steht fest, dass die Angst des Menschen, seine Angst vor dem geheimen Urgrund von Leben und Tod, von Segen und Fluch, von Heil und Unheil, ein Motiv für den Kult war57. In Griechenland scheint in einer Zeit der Reflexion, vielleicht in hellenistischer Zeit, die Angst dazu geführt zu haben, Götter, die mit Namen nicht bekannt waren, trotzdem zu verehren. So entstand der Kult ‚Unbekannter Götter‘. Nach der Apostelgeschichte hat Paulus an diesen Kult angeknüpft
53
S. o. Anm. 48. S. o. Anm. 2 und 15. 55 C. Colpe/ A. Löw, Art. Hypsistos (Theos), in: RAC 16 (1994) 1035–1056, bes. 1036– 1051; Sh. E. Johnson, The present state of Sabazios research, in: ANRW 2,17,3 (1984) 1583–1613; R. Beck, Mithraism since Franz Cumont, in: ANRW II 17, 4 (1984) 2002–2115; R. Merkelbach, Mithras (Königstein 1984); M. Clauss, Mithras. Kult und Mysterien (München 1990); R. L. Gordon, Art. Mithras, in: Der Neue Pauly 8 (2000) 287–291; Fauth a.O. (o. Anm. 2); M. Hörig, Iupiter Dolichenus, in: ANRW II 17,4 (1984) 2136–2179; A. González Blanco, Hermetism. A bibliographical approach, in: ANRW II 17,4 (1984) 2240–2281; H. S. Versnel, Ter Unus. Isis, Dionysos, Hermes. Three studies in henotheism = SGRR 6 (Leiden 1990); R. Merkelbach, Isis regina – Zeus Sarapis. Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt (Stuttgart, Leipzig 1995); G. Zuntz, Aion. Gott des Römerreichs (AHAW.PH 1989, 2); Ders., AIWN in der Literatur der Kaiserzeit = WSSt.B 17 (Wien 1992). – G. H. Halsberghe, Le culte de Dea Caelestis, in: ANRW II 17,4 (1984) 2203–2223; M. Hörig, Dea Syria – Atargatis, in: ANRW II 17,3 (1984) 1536–1581; G. Thomas, Magna Mater und Attis: ebd. 1500–1535; M. Speidel, Venus Victrix. Roman and Oriental, in: ANRW II 17,2 (1984) 2225–2238. – Vgl. auch Varro, ant. rer. div. frg. 14.27 Cardauns zu Zeus/Juppiter als dem Allgott. 56 Von Kamptz, Art. pater, in: Thes. Ling. Lat. 10,1 (1990) 667–692, bes. 685 f.; vgl. Lact. inst. 4,3,11 f. (CSEL 19,2,279 f.). 57 Petron. frg. 27 (=Anth. Lat. 466 Riese): primus in orbe deos fecit timor . . .; wiederholt von Stat. Theb. 3,601. 54
248 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums und den Gott des Alten Testaments und Vater Jesu Christi als jenen den Heiden unbekannten, einen und einzigen Gott verkündet 58 . Der Synkretismus zwischen dem Gott des Alten Testaments und Zeus/Juppiter sowie hellenistischen Göttern, wie Hypsistos und Sabazios, näherte zwar Heiden und Juden einander an, verwischte aber auch die tiefgreifenden theologischen Unterschiede59. Andererseits gab es in vorchristlicher Zeit nicht wenige, die entweder als Sympathisanten der alttestamentlichen Religion – das sind wohl die nicht nur aus heidenchristlichen Texten bekannten ‚Gottesfürchtigen‘ – oder als Proselyten dem Judentum nahetraten60 . Gerade diese Gruppen waren dann am ehesten auch für das Christentum zu gewinnen61. In der Isisreligion wird die durch den Hellenismus geförderte Emanzipation der Frau erkennbar. Im Gegensatz zu patriarchalischen Strukturen in Griechenland, vor allem in Rom, aber auch in Israel hat die griechisch-ägyptische Isisreligion, die zunächst eine erfolgreiche Konkurrentin des Christentums war, die von Jesus geforderte Gleichberechtigung der Frau anerkannt 62 . Wie weit die Isisreligion die Marienfrömmigkeit vorbereitet und auf deren Entfaltung eingewirkt hat, ist strittig63 . Der Kult weiblicher Gottheiten wie Isis, die zum Typus der ‚Großen Mutter‘ gehört, dürfte aber zumindest ein Anknüpfungspunkt für die Verehrung Mariens gewesen sein. Mit der Verinnerlichung und Psychologisierung, die sei Euripides zu erkennen ist, sieht der Hellenismus nicht nur die Frau neu, sondern schenkt auch dem Kind erhöhte Aufmerksamkeit. Der Gedanke vom göttlichen Erlöserkind ist eine Vorstellung des alten Orients und vor allem des Hellenismus64 . 58 Apg 17,22–31; Norden a.O. (o. Anm. 13) 1–140; P. W. van der Horst, The altar of the ‚unknown god‘ in Athens (Acts 17:23) and the cult of the ‚unknown gods‘ in the Hellenistic and Roman periods, in: ANRW II 18,2 (1989) 1426–1456; H. D. Betz, Eduard Norden und die frühchristliche Literatur, in: Kytzler/ Rudolph/ Rüpke a.O. (o. Anm. 11) 107–127, bes. 117–127. 59 Varro, ant. rer. div. frg. 15–17 Cardauns; Johnson a.O. (o. Anm. 55) 1602–1607: ‚Syncretism with Judaism‘. 60 M. Simon, Art. Gottesfürchtiger, in: RAC 11 (1981) 1060–70; ebd. 1068–1070 zur Sekte der Hypsistarier; vgl. auch Colpe/ Löw a.O. (o. Anm. 55) 1036–1051; K. G. Kuhn, Art. pros3luto:, in: ThWNT 6 (1959) 727–745; 10,2 (1979) 1249 f. (Literatur). B. Wander, Gottesfürchtige und Sympathisanten = WUNT 104 (Tübingen 1998). 61 Kuhn a.O. 744. 62 Sh. Kelly Heyob, The cult of Isis among women in the Graeco-Roman world = EPRO 51 (Leiden 1975); kritisch dazu S. A. Takacs, Isis and Sarapis in the Roman world = Religions in the Graeco-Roman World 124 (Leiden 1995) 6 f. 63 Th. Klauser, Art. Gottesgebärerin (_eot5ko:), in: RAC 11 (1981) 1071–1103; E. Stauffer, Madonnenreligion, in: ANRW II 17,3 (1984) 1425–1499 (zu undifferenziert). 64 H. Lietzmann, Der Weltheiland (Bonn 1909); W. Weber, Der Prophet und sein Gott. Eine Studie zur 4. Ekloge Vergils (Leipzig 1925); von Gall a.O. (o. Anm. 13) 447–467: ‚Die Heilandshoffnung der hellenistisch-römischen Welt‘; E. Norden, Die Geburt des Kindes (Leipzig 2 1930); W. Kraus, Vergils vierte Ekloge. Ein kritisches Hypomnema, in: ANRW
1. Die mentalitätsmäßigen und religiösen Voraussetzungen
249
Das unschuldige Kind galt hier als Träger einer starken magisch-religiösen Kraft; deshalb erschien es auch als Medium der Zauberer65 . Sein Tod konnte sühnende Bedeutung erlangen. So lassen sich bestimmte Kinderopfer an Götter deuten66 . Darüber hinaus begegnet das göttliche Kind vor allem in der Minoischen Religion. Das göttliche Kind ist dort eine Gottheit, die als Kind geboren wird, heranwächst, stirbt und gegebenenfalls wieder auflebt67. Wenn nach christlichem Glauben Gott in Jesus Christus Mensch wurde, so geschah dies nach den Kindheitsgeschichten bei Matthäus und Lukas in Gestalt eines Kindes. In der griechischen Heroensage und im Rom der alten Republik begegnet bisweilen der für das Christentum so bedeutungsvolle Gedanke des freiwillig für die kultisch-politische Gemeinschaft dargebrachten Opfertodes 68 . Dieser Gedanke lebte in augusteischer und nachaugusteischer Zeit erneut auf69. Da die monarchische Regierungsform des Hellenismus und der Kaiserzeit die Macht den Bürgern vorenthielt und sie auf das rein Private beschränkte, ja einschränkte, entstand der Wunsch nach Befeiung, Erneuerung und Erlösung. Besonders die niederen Volksschichten, die Hirten, Bauern, kleinen Handwerker, die Sklaven und das städtische Proletariat, sehnten sich nach einem Wandel der sozialen Missstände. Im guten Herrscher, den die Gottheit von Kindheit an oder erst im späteren Leben erwählt haben soll, erschien ihnen der ersehnte, gleichsam irdisch fassbare Gott, der _e0: 4pifan3:, der deus II 31 (Berlin, New York 1980), 604–645; S. Benko, Vergil’s fourth eclogue in Christian interpretation: ebd. 646–705. 65 H. Herter, Kleine Schriften = STA 15 (München 1975) 598–619: ‚Das unschuldige Kind‘ und Reg. ebd. 684: ‚Kind‘; Th. Hopfner, Art. Askese, in: RE Suppl. 7 (1940) 50–64, bes. 58 f. 66 F. Schwenn, Die Menschenopfer bei den Griechen und Römern = RGVV 15,3 (Gießen 1915, Ndr. Berlin 1966) 199 Reg.: ‚Kinderopfer‘; A. Henrichs, Die Phoinikika des Lollianos. Fragmente eines neuen griechischen Romans = PTA 14 (Bonn 1972) Reg. ‚Kinderopfer‘, ‚Knabenopfer‘; vgl. Liban. decl. 42, 26 (7,415 Förster). 67 M. P. Nisson, Geschichte der griechischen Religion 13 = HAW 5,2,1 (München 1967, Ndr. ebd. 1976) 315–324. – Ferner vgl. C. G. Jung/ K. Kerényi, Das göttliche Kind in mythologischer und psychologischer Beleuchtung = Alb. Vig. 6/7 (Amsterdam, Leipzig 1940). – Zum Fest des Aion als eines Kindes in Alexandrien G. Zuntz, LIWN in der Literatur der Kaiserzeit = Wiener Studien Beih. 17 (Wien 1992) 11–25. 68 Johanna Schmitt, Freiwilliger Opfertod bei Euripides = RGVV 17,2 (Gießen 1921); G. Stübler, Die Religiosität des Livius = TBAW 35 (Stuttgart, Berlin 1941, Ndr. Amsterdam 1964) 66–68; K. Winkler, Art. Devotio, in: RAC 3 (1957) 849–853); Speyer, Fluch a.O. (o. Anm. 49) 1210 f.; M. Hengel, The atonement (London 1981) 6–32; H. S. Versnel, Selfsacrifice, compensation and the anonymous gods: Le sacrifice dans l’antiquité = EnAC 27 (Vandœuvres, Genève 1981) 135–194. 69 Cic. prov. consul. 23; Verg. Aen. 5,815: unum pro multis dabitur caput [Neptun spricht und weist auf den Tod des Palinurus voraus]; Lucan. 2,306–319, bes. 312 f.: hic redimat sanguis [sc. Catonis Uticensis] populos, hac caede luatur, / quidquid Romani meruerunt pendere mores . . . 317 f.: Hic dabit, hic pacem iugulus fi nemque malorum / gentibus Hesperiis (vgl. 2, 380–383); Liban. decl. 42,26 (7, 415 Förster): .
250 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums praesens. Sinnenhaft erkennbar und gegenwärtig trat er als der große Wohltäter, Euergetes, und der Segensstifter oder Heilbringer auf70 .Die damit verbundene archetypisch geprägte Vorstellung vom König gewann selbst im spätrepublikanischen Rom an Boden, wenn auch Caesar an der Verwirklichung dieser Idee gescheitert ist71. Sein Adoptivsohn vermochte die monarchische Ambition hinter der Maske des Prinzipats mit diplomatischem Takt zu verbergen. Die bereits zu Lebzeiten des Augustus und wohl mit seiner Billigung verbreitete Legende machte ihn nicht nur zu einem Nachfahren des Aphroditesohns Aeneas, sondern auch zu einem Sohn Apollons72 . Der Glaube an die göttliche Herkunft eines besonderen Menschen blieb so bis an die Schwelle des Christentums im Volk und bei vielen Gebildeten lebendig. Blicken wir auf das Selbstverständnis der Menschen jener Jahrhunderte vor und nach Christi Geburt, so zeigen sich unverkennbare Züge einer Spät-, ja einer Niedergangskultur. Seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. schauen viele gebildete Griechen, seit spätrepublikanischer Zeit viele Römer auf ihre als groß beurteilte Vergangenheit zurück. Nicht wenige von ihnen hielten ihre Gegenwart für epigonal. Tatsächlich hatten die schöpferischen Kräfte gegenüber der archaischen und klassischen Zeit Griechenlands nachgelassen. Dies äußerte sich einmal darin, dass die Dichtung kaum noch neue literarische Gattungen hervorbrachte, sondern als gelehrte Dichtung vornehmlich von der Vergangenheit inhaltlich und formal abhängig blieb. Die Nachahmung der Vorbilder, die Kopie, ferner Kanonbildung und das Sammeln der alten Literatur in Bibliotheken und der Bildenden Kunst in Privatmuseen sind charakteristische Eigentümlichkeiten der hellenistischen und kaiserzeitlichen Epoche73 . In die gleiche Richtung weist die Vorliebe dieser Zeit für den Altersbeweis und die Hochschätzung alles Alten74 : Das Heidentum blickte nach rückwärts, das Christentum auf das scheinbar nahe bevorstehende Ende aller irdischen Dinge. Dass das Ende nicht lange auf sich warten lasse, war auch die Meinung einzelner Heiden jener Jahrzehnte um Christi Geburt. Nicht wenige Zeugnisse sprechen vom Altwerden und Altgewordensein der Welt, vom mundus 70 J. Ramminger, Art. praesens, in: Thes. Ling. Lat. 10,2, 836–850, bes. 839,22–44; 843,64–844,14; E. Pax, Art. Epiphanie, in: RAC 5 (1962) 832–909, bes. 842–844: ‚Soteriologische Epiphanien‘ (im Hellenismus); B. Kötting, Art. Euergetes, in: RAC 6 (1966) 848– 860; J. R. Fears, Art. Gottesgnadentum (Gottkönigtum), in: RAC 11 (1981) 1103–1159, bes. 1103–1132. 71 P. Dworak, Gott und König. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung ihrer wechselseitigen Beziehungen (Diss. Bonn 1938). 72 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld I = WUNT 50 (Tübingen 1989), 402–430, bes. 407–410: ‚Das Verhältnis des Augustus zur Religion‘. 73 Speyer, Frühes Christentum 2 a.O. (o. Anm. 15) 77. 74 J. Ranft, Art. Consuetudo, in: RAC 3 (1957) 379–390; Ch. Gnilka, Art. Greisenalter, in: RAC 12 (1983) 995–1094; RAC s.v. Hochschätzung des Alten; Pilhofer a.O. (o. Anm. 16). – Kritik äußerten einzelne Kirchenschriftsteller: Tert. nat. 2,1,7 (CCL 1,41); Ambrosiaster, quaest. test. 114, 24 (CSEL 50, 314).
2. Die theologisch-philosophischen Voraussetzungen
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senescens 75 . Viele waren von einer Niedergangsstimmung beherrscht, die durch die Entmachtung breitester Volksschichten infolge des politischen Wandels von der Res publica zum Prinzipat und Dominat noch verstärkt wurde. Zur Zeit Varros gab der römisch-etruskische Seher Vettius der Herrschaft Roms eine Dauer von zwölf Saecula, das saeculum zu 120 Jahren gerechnet76 . An diese Voraussage erinnerten sich im 5. Jahrhundert v. Chr., als das römische Reich von Fremdvölkern überrannt wurde, literarisch gebildete Römer77. Andererseits hat der von den Juden an die Christen vererbte Gedanke der Auserwählung eine gewisse Entsprechung in Rom. Auf die Erwählung des römischen Volkes und seiner Führer durch die Götter weisen Dichter, Geschichtsschreiber und Redner bis in die augusteische Zeit hin. Als göttlicher Dichter oder vates hat Vergil diese Überzeugung in der Aeneis gestaltet und dabei die lapidaren Worte für Roms Auftrag gefunden: „tu regere imperio populos, Romane, memento / – hae tibi erunt artes – pacisque imponere morem, / parcere subiectis et debellare superbos“ 78 .
2. Die theologisch-philosophischen Voraussetzungen a. Religiöse Philosophie Fragen wir nach der soziologisch nächsten Verwandtschaft zwischen Christentum und Heidentum, so dürfte diese in der sich auf einen Gründer oder Stifter zurückführenden Philosophenschule liegen. Die älteren Philosophenschulen der Griechen waren kultisch gebunden. Der Philosoph galt ursprünglich als ein ‚göttlicher Mensch‘ und war damit dem Heros verwandt79. Was der mythische Orpheus den Orphikern bedeutete, waren in geschichtlicher Zeit Pythagoras, Sokrates oder Platon für ihre Schüler. Selbst der römische Lehrdichter Lukrez, der ausschließlich der materialistisch-atomistischen Welterklärung wissenschaftliche Beweiskraft zuerkannte, malte seinen Lehrer und Meister Epikur mit den Farben eines religiösen Ausnahmemenschen, ja
75
Speyer, Frühes Christentum 2 a.O. 69–87. Ant. rer. hum. 18 frg. 4 Mirsch (bei Censorin. de die nat. 17,15–41 Rapisarda). 77 Vgl. Claud. bell. Goth. 265 f.; Sidon. Apoll. carm. 7,55 f. 357 f. 78 Aen. 6, 851–853; vgl. O. Seel, Römertum und Latinität (Stuttgart 1964) 103–137: ‚Das auserwählte Volk‘. 79 E. Pfeiffer, Studien zum antiken Sternglauben = Stoicheia 2 (Leipzig 1916) 93–103: ‚Der Philosoph als Wettermacher‘; W. Fiedler, Antiker Wetterzauber = Würzburger Studien zur Altertumswissenschaft 1 (Stuttgart 1931) 17–23: ‚Der Weise als Wetterzauberer‘; Betz, Gottmensch a.O. (o. Anm. 29) 255–286. 76
252 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums gleichsam eines religiösen Heilbringers80 . Die Verehrung für den Schulgründer, die Überzeugung, dass Philosophie als geistige Einsicht und Lehre zugleich Lebensvollzug und damit sittliches Handeln bedeute, und der damit verknüpfte sittliche Höchstanspruch an die Mitglieder der Gemeinschaft verbanden die Angehörigen der meisten Philosophenschulen mit Grundüberzeugungen der Christen. In dieser Hinsicht musste die Gestalt des unschuldig leidenden Sokrates für die Christen eine nachdrückliche Bedeutung gewinnen81. Der Begriff Philosophie im Sinne von Weisheitslehre und die Bezeichnung Philosoph gewannen so bei vielen aus dem Heidentum kommenden Christen so sehr an Wert, dass sie ihren Glauben danach benannten und sich selbst als die wahren Philosophen bezeichneten 82 . Der aus der griechischen Geistigkeit erwachsene Charakterzug eines Begriffsdenkens erhielt sich bei den aus der heidnischen Philosophen- und Rhetorenschule kommenden Konvertiten. Dies war die Bedingung für das Entstehen einer christlichen Theologie. Diese war sowohl in ihrer frühjüdischen Wurzel bei Philon aus Alexandrien als auch in ihrer hellenistisch-heidnischen Wurzel im Umkreis von Paulus und Johannes von platonischem und kynischem sowie stoischem Gedankengut geprägt. Die griechische Religiosität hat im Unterschied zur römischen Frömmigkeit eine mystische Seite ausgebildet, und dies vor allem in der religiösen Philosophie von der Orphik zu Pythagoras über Platon und die Stoa (Poseidonios) zum Mittel- und Neuplatonismus. So lässt sich parallel zur henotheistischen Tendenz in den griechisch-orientalischen Volksreligionen und Mysterien ein Streben der religiösen Philosophen beobachten, zum göttlichen Anfang des Ureinen oder zum göttlichen Demiurgen zu gelangen83 .
80 De rer. nat. 1, 62–79; 3,1–30; dazu E. Ackermann, Lukrez und der Mythos = Palingenesia 13 (Wiesbaden 1979) 141–180; Betz, Gottmensch a.O. 286; C. Graca, Da Epicuro a Lucrezio. Il maestro ed il poeta nei poemi del De rerum natura = CIByM 14 (Amsterdam 1989). 81 K. Döring, Exemplum Socratis = Hermes. E. 42 (Wiesbaden 1979) 143–161. 82 A.-M. Malingrey, Philosophia. Étude d’un groupe de mots dans la littérature grecque des Présocratiques au 4e siècle après J.-C. = EeC 40 (Paris 1961). 83 É. des Places, Études platoniciennes 1929–1979 = EPRO 90 (Leiden 1981); A. Louth, The origins of the Christian mystical tradition. From Plato to Denys (Oxford 1983, Ndr. ebd. 1990); J. Whittaker, Studies in Platonism and Patristic thought = CStS 201 (London 1984); J. M. Rist, Platonism and its Christian heritage = CStS 221 (London 1984); J. Pépin, De la philosophie ancienne à la théologie patristique = CStS 233 (London 1986); K. Kremer, Bonum est diffusivum sui. Ein Beitrag zum Verhältnis von Neuplatonismus und Christentum, in: ANRW II 36,2 (1987) 994–1032; M. Joyal (Hrsg.), Studies in Plato and the Platonic tradition. Festschrift J. Whittaker (Aldershot, Brookfield USA, Singapore, Sydney 1997) 81–210; W. Beierwaltes, Platonismus im Christentum = PhA 73 (Frankfurt, M. 1998). Ferner vgl. W. Eckle, Geist und Logos bei Cicero und im Johannesevangelium = Spudasmata 36 (Hildesheim, New York 1978).
2. Die theologisch-philosophischen Voraussetzungen
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Platonismus und Stoizismus haben der christlichen Theologie vor allem mit ihrer Tendenz zur Vergeistigung vorgearbeitet. Die Bedeutung des Platonismus, vornehmlich Platons Timaios, kann kaum überschätzt werden. In diesem Dialog fanden die Christen nicht nur den Gedanken der Schöpfung, sondern selbst Hinweise auf die Trinität und Christus. Ähnliche Bedeutung besaß der Phaidon für den Glauben an ein Leben nach dem Tod und das gesamte Werk Platons für die Einsicht in die Gestuftheit oder Hierarchie der Wirklichkeit. Vor allem war es Platons Bemerkung im ‚Staat‘ von der Analogie zwischen der Sonne und der Idee des Guten sowie deren Wesensbeschaffenheit jenseits der Usia 84 . Dazu kam seine Ausführung über den gekreuzigten Gerechten85 . Kein Wunder, dass die Christen Plato zu jenen von göttlichem Geist erfüllten Heiden zählten, die Christus mit den Gerechten des Alten Testaments aus der Unterwelt befreit habe86 . So eröffnet sich das breite und bis heute wirksam gebliebene Kraftfeld einer nicht unproblematischen Begegnung von Platonismus und Christentum. Die Verwirrung zwischen diesen beiden auf sehr verschiedenen Voraussetzungen beruhenden Geistesrichtungen lässt sich zugespitzt darauf zurückführen, dass der Transzendentalismus Platons und seiner Schule mit der Transzendenz des weltunabhängigen Schöpferund Erlösergottes gleichgesetzt wurde. In diesen verhängnisvollen philosophischen ‚Synkretismus‘ ist die abendländische Philosophie, vor allem die christliche, weitgehend verstrickt. Der Schritt, eine Offenbarung auch außerhalb des Alten Testaments – und zwar bei den Heiden – anzunehmen, lag jedenfalls nahe. Zu den heidnischen Offenbarungsträgern, die angeblich auf Christus hingewiesen haben, gehören neben Platon vor allem die Sibyllen, Hermes Trismegistos, Zarathustra, Hystaspes, Ostanes und Vergil87. b. Ethik Eine Brücke zwischen Altgläubigen und Christen bildete das Streben nach sittlicher Vervollkommnung, nach ‚Arete‘, Virtus, das die führenden Philosophenschulen des Späthellenismus und der frühen Kaiserzeit in der Nachfol84 Vgl. Plat. rep. 6, 509b; J. P. Kenney, Mystical monotheism. A study in ancient Platonic theology (Hanover, London 1991); Baltes a.O. (o. Anm. 7). – Bedeutungsvoll war auch die stoische Vorstellung einer göttlichen Pronoia/Providentia (A. St. Pease zu Cic. nat. deor. 1,18; 2,73 und Reg. s.v.). 85 Rep. 2,361e; dazu die Literatur bei Döring a.O. (Anm. 81) 145 Anm. 113. Ferner vgl. H. Dörrie/ M. Baltes, Der Platonismus in der Antike, Bd. 1 ff. (Stuttgart, Bad Cannstadt 1987 ff). 86 F. Novotny, The posthumous life of Plato (Prag 1977) 122–150. 177–218. 87 W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = HAW 1,2 (München 1971) 246–252: ‚Unechte messianische Weissagungen heidnischer Propheten und Weiser‘; Ders., Art. Christianisierung IV (heidnischer Schriften): RAC Suppl.Bd. 2 (2004) 365–367.
254 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums ge von Pythagoras, Sokrates, Platon und Aristoteles neben aller übrigen Erkenntnisarbeit in die Mitte ihres Nachdenkens gestellt haben. Ein derartiges Streben ließ eine Bekehrung vom Platonismus, Aristotelismus, Kynismus, Stoizismus, Neupythagoreismus, ja selbst vom Epikureismus zum Christentum als verhältnismäßig leicht erscheinen. Der aus der Bewegung Johannes des Täufers stammende Zug zu einer eschatologisch begründeten Askese verstärkte sich im Lauf der frühchristlichen Zeit und führte zur Nahrungs-, Geschlechts- und Schlafaskese sowie zum ehelosen und keuschen Leben in der Einsamkeit und damit zum Mönchsideal eines ‚engelgleichen‘ Lebens. Dieses Ideal besaß gewisse Parallelen in der Lebensweise, die einzelne griechische Philosophenschulen vorschrieben, vor allem Orphiker, Pythagoreer, Platoniker und einzelne Kyniker88 . Wie groß die Übereinstimmung zwischen dem heidnischen und dem christlichen Tugendstreben war, könnte ein Vergleich mit der Ethik Platons, des Aristoteles und der Stoa zeigen. Für die philosophisch gebildeten Römer besaß die Ethik den Vorrang gegenüber Kosmologie, Logik und Dialektik. Vor allem die stoische Ethik kam dem altrömischen sittlichen Streben entgegen. Für das römische Interesse am sittlichen Handeln ist beispielsweise die vielgelesene Sammlung des Valerius Maximus aufschlussreich: die dem Kaiser Tiberius gewidmeten ‚Facta et dicta memorabilia‘89. Von den erhaltenen neun der ursprünglich zehn Bücher umfassenden Sammlung nennt das dritte Buch die sittlichen Grundhaltungen fortitudo, patientia, constantia, das vierte moderatio, abstinentia et continentia, paupertas, verecundia, amor coniugalis, amicitia, liberalitas, das fünfte humanitas et clementia, gratitudo, pietas, parentum amor et indulgentia in liberos, das sechste pudicitia, iustitia, fides und das neunte Buch zählt eine Reihe von Lastern auf90 . Dabei veranschaulicht Valerius Maximus gemäß der römischen Vorliebe für das Konkrete und Reale die allgemeinen Aussagen durch Beispiele aus der Geschichte Roms und seiner Nachbarn91. Gerade das hier fassbare Denken in Vorbildern, in Beispielen von Personen der Geschichte oder der Sage, die darüber hinaus in ihrem Sprechen und Handeln noch verklärt wurden, ohne dass dies der antike Leser durchschaut hätte, musste die Christen beeindrucken92 .
88 Th. Hopfner, Art. Askese, in: RE Suppl. 7 (1940) 50–64, bes. 50–62; J. Leipoldt, Griechische Philosophie und frühchristliche Askese = BVSAW.PH 106,4 (Berlin 1961). 89 M. von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur 2 (München, New Providence, London, Paris 31994) 852–859. 90 Spezifi sch christlich ist hingegen die Tugend der Demut (A. Dihle, Art. Demut, in: RAC 3 [1957] 735–778) und mit Einschränkung der Barmherzigkeit (W. Schwer, Art. Barmherzigkeit, in: RAC 1 [1950] 1200–1207). 91 A. Lumpe, Art. Exemplum, in: RAC 6 (1966) 1229–1257. 92 Zum Fortwirken von Albrecht a.O. 857 f.
3. Allgemeine Voraussetzungen
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Weitere entscheidende Belege für dieses echt römische Interesse am sittlichen Handeln bieten die römischen Geschichtsschreiber und Biographen. Gerade sie sahen das Ziel ihrer literarischen Tätigkeit darin, auf die Sittlichkeit ihrer Mitbürger im privaten und öffentlichen Leben einzuwirken. Dies ist die bekannte moralisierende Geschichtsschreibung der Römer. Hier war es vor allem der über die geschichtliche Wahrheit hinaus idealisierte altrömische Tugendheld, der sein sittliches Streben, vor allem seine Liebe zur Gemeinschaft, der Res publica, oft mit seinem Tod besiegelt hat: Als Beispiel sei Regulus genannt93 . Für den Freimut eines Philosophen vor dem Tyrannen gab es aber bereits geschichtliche Beispiele aus der griechischen Welt94 . Möglicherweise wirkten diese bei römischen Stoikern des 1. Jahrhunderts v. Chr. weiter, die ihr Festhalten an den Idealen der alten Res publica mit dem Tod bezahlt haben95 . Die vor allem römische Unerschrockenheit gegenüber dem Tod, die nicht zuletzt durch die Überzeugung, einem hohen sittlichen Ziel verpfl ichtet zu sein, zustandekam, war eine Parallele zur Haltung des christlichen Märtyrers. Insofern gab es auch einzelne Heiden, wie Galenos, die die Christen wegen ihres Todesmutes bewundert haben96 .
3. Allgemeine Voraussetzungen Als die ersten Christen ihre Botschaft außerhalb der engen Grenzen des damaligen Palästina verkündeten, vermochten sie dies, weil sie die griechische Sprache beherrschten. Diese Sprache aber war neben dem Lateinischen auch im Westen die bestimmende Kultursprache des Imperium Romanum und blieb dies im Westen bis in den Anfang des 3. Jahrhunderts n. Chr.97 93 K.-L. Elvers, Art. Atilius Regulus, M. [I 21], in: Der Neue Pauly 1 (1997) 212; ferner G. Stübler, Die Religion des Livius = TBA 35 (Stuttgart, Berlin 1941, Ndr. Amsterdam 1964) 66–68 und o. Anm. 68 und 69. 94 Z. B. Zenon von Elea, Anaxarchos; A. Alföldi, Der Philosoph als Zeuge der Wahrheit und sein Gegenspieler der Tyrann: Scientiis Artibusque 1 (1958) 7–19. 95 W. Speyer, Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen = BBW 7 (Stuttgart 1981) 68–73. 100. Ferner vgl. A. Hugenschmidt, Magnae mortes. Im Sterben bewiesene Größe bei den Römern (Diss. Freiburg 1960); A. Ronconi, Art. Exitus illustrium virorum, in: RAC 6 (1966) 1258–1268. 96 R. Walzer, Art. Galenos, in: RAC 8 (1972) 777–786, bes. 783. 97 Cic. pro Arch. 23: nam si quis minorem gloriae fructum putat ex Graecis versibus percipi quam ex Latinis, vehementer errat, propterea quod Graeca leguntur in omnibus fere gentibus, Latina suis fi nibus sane exiguis continentur (dazu H. und K. Vretksa im Kommentar [Darmstadt 1979] 156 f.); vgl. G. Neumann/ J. Untermann (Hrsg.), Die Sprachen im römischen Reich der Kaiserzeit = BoJ.B 40 (Köln 1980). – Zum Bildungswesen vgl. H.Th. Johann (Hrsg.), Erziehung und Bildung in der heidnischen und christlichen Antike = WdF 377 (Darmstadt 1976) 485–572.588–593.
256 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums Der Vorrang der theologisch-philosophischen Denkweise der Griechen ist im lateinischen Westen bis zum Ende des römischen Westreichs erkennbar, wie die mittel- und neuplatonische Philosophie und die durch sie beeinflussten lateinischen Kirchenschriftsteller erkennen lassen. Verbreitet wurde die ‚Frohe Botschaft‘ innerhalb der vom hoch rhetorisierten Wort, der antiken Kunstprosa, und von einer vielfältig gefächerten Bilderwelt und zahlreichen Symbolen geprägten paganen Kultur zunächst ausschließlich durch das Wort98 . Die erst verhältnismäßig spät entstandene altchristliche Kunst konnte allenthalben an pagane Bilder und Symbole anknüpfen. So kannten manche Heiden auch das älteste sichtbare Erkennungszeichen der Christen, das Kreuz, in seinem Segensaspekt99. Weitere Gesichtspunkte sind hier nur noch kurz zu erwähnen, wie die ausgezeichneten Reisemöglichkeiten innerhalb des Imperiums oder die Öffentlichkeit des gesamten Lebens und damit die Lehrmöglichkeit in den Städten: Als frühes Beispiel darf die Areopagrede des Paulus gelten.
4. Ausblick auf die ältere Religionsbegegnung: Heidentum – Judentum Bereits die Verfasser oder Redakteure des ‚Buches Genesis‘ und anderer Bücher des Alten Testaments haben den allgemeinen Heilswillen Gottes dadurch veranschaulicht, dass sie mit gottgefälligen, ja geradezu heiligen Menschen außerhalb Israel gerechnet haben. Gab es aber gleichsam ‚Gerechte‘ und Heilige der Heiden, so gab es auch eine Uroffenbarung oder die Möglichkeit, auch außerhalb der spezifischen Offenbarung, wie sie die Geschichte des Volkes Israel und des Christentums aufweist, von Gott etwas zu wissen, ihm zu dienen und zu gefallen100 . Derartige Überlegungen haben bereits jüdische Apologeten hellenistischer Zeit angestellt. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Aufnahme des Christentums durch die Heiden liegt in jener vergleichbaren älteren Begegnung von Heidentum und Judentum. Bei dieser Begegnung, die keineswegs immer nur feindlich, wie vor allem zur Zeit Antiochos’ IV Epiphanes, ablaufen musste, wurden bereits geistige Weichen gestellt, die eine Annäherung ermöglichen konnten. Dies zeigen auch jüngere Schriften des Alten Testaments mit ihrer Hochschätzung der Könige Kyros und auch Nebukadnezar
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W. Speyer, Art. Patristik, in: Histor. Wörterb. d. Rhetorik 6 (2003) 717–727. F. J. Dölger, Beiträge zur Geschichte des Kreuzzeichens II. IX, in: JahrbAntChrist 2 (1959) 15–29; 10 (1967) 7–29. 100 J. Daniélou, Les saints païens de l’Ancien Testament, deutsche Ausgabe (Stuttgart 1955). 99
5. Rückblick
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oder ihrer Aufnahme griechischer Theologie, so wenn Jahwe in der Septuaginta als ‚der Seiende‘ bezeichnet wird. Das ‚Buch der Weisheit‘, die ‚Proverbia‘, das Buch ‚Jesus Sirach‘ und dann in höherem Maße Philon weisen eine Geistigkeit auf, die sich zunehmend der platonischen Theologie nähert. Die jüdische Weisheitsliteratur wurde aber nicht zuletzt wegen ihres Pessimismus und ihrer Tendenz zu einem Dualismus Wegbereiterin der Gnosis101. Auf einem anderen Blatt steht die Begegnung der Juden mit dem Iran. Die jüdisch-christliche Apokalyptik und Eschatologie scheinen von dorther wesentlich mitgeprägt zu sein102 . Ohne die griechisch sprechende jüdische Diaspora in ihrer sozialen Struktur und in ihren geistigen Voraussetzungen, wie der Verarbeitung griechischen und iranischen Gedankengutes, wäre die Christianisierung der paganen Welt nicht möglich geworden. So war die frühjüdische Gedankenwelt, angefangen mit den Weisheitsbüchern, der Danielapokalypse und der übrigen außer-kanonischen Apokalyptik, wie vor allem den Henochbüchern, bis zu der Sprache der Septuaginta und der Theologie Philons von Alexandrien der Mutterboden des Neuen Testaments und damit auch die Brücke zur griechisch sprechenden und hellenistisch fühlenden und denkenden Bevölkerung des Imperium Romanum103 .
5. Rückblick Blicken wir auf das Dargelegte zurück, so zeigt sich dem Betrachter gleichsam ein weites und vielfältig gegliedertes Gebirgspanorama: Es steigt von der Magie als weißer oder Segensmagie auf und reicht bis zu den Überlegungen und Einsichten der theologisch-philosophischen Denker über die geheimnisvolle und machtvolle Letztursache, den Grund aller Erscheinungen und damit über das göttliche Eine oder den göttlichen Einen. Dieses Panorama reicht ferner von Riten und Kulten, von Mysterien, Mythen und Hieroi Logoi, von Hymnen und Gebeten bis zur Spiritualität und Mystik, von der Betrachtung des Kos101 K. Rudolph (Hrsg.), Gnosis und Gnostizismus = WdF 262 (Darmstadt 1975) 768– 797; Eckle a.O. (o. Anm. 83) 11–24. 102 A. Hultgård, Das Judentum in der hellenistisch-römischen Zeit und die iranische Religion – ein religionsgeschichtliches Problem, in: ANRW 2,19,1 (1979) 512–590. 103 H. F. Weiss, Zur Frage der historischen Voraussetzungen der Begegnung von Antike und Christentum, in: Klio 43/45 (1965) 307–328; H. Solin, Juden und Syrer im westlichen Teil der römischen Welt. Eine ethnisch-demographische Studie mit besonderer Berücksichtigung der sprachlichen Zustände, in: ANRW II 29,2 (1983) 587–789; M. Hengel, Judentum und Hellenismus = WUNT 10 (Tübingen 31988); A. Lehnardt, Bibliographie zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit = JSHRZ 6,2 (Gütersloh 1999). Ferner vgl. E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, englische Ausgabe von G. Vermes/ F. Millar u. a. 1–3, 1. 2 (Edinburgh 1973/87).
258 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums mos zur Betrachtung des Theos als des Unsagbaren, )rrhton, und von den Mysterien innerweltlicher Götter zum Mysterium der Heilsgeschichte und damit der Mensch- und Brotwerdung Gottes. Der antike Reichtum an religiösen Erfahrungs- und Ausdrucksformen, an Aussagen in Worten, Bildern, Symbolen und Zeichen und an Abstraktionen ist gleichsam in einer Metamorphose der Antike durch einen Jahrhunderte währenden Prozess ins Christentum gelangt oder fand dort seine Entsprechung. Vieles, was einmal Voraussetzung und nähere oder fernere Parallele war, hat das Christentum gefi ltert, gleichsam in sich getauft aufgenommen, ohne doch Jesus Christus und seine Botschaft dadurch gänzlich zu verdunkeln oder zu verlieren, mag es auch bisweilen so den Anschein haben. Insofern ist der ungeheure geistige Reichtum der hochdifferenzierten religiösen Kulturen der antiken Mittelmeerländer im Christentum aufgehoben und bis heute weitgehend erhalten geblieben. Von diesem religiösen und zugleich kulturellen Reichtum der Antike und des Christentums bezieht unsere späte europäisch-amerikanische Kultur immer noch ihre besten, weil allein humanisierenden Kräfte, Werte, Vorstellungen, Formgestalten und Inhalte. Weder die moderne Technik, noch die Wirtschaft, der Sport oder die Zivilisation können dazu einen Ersatz bieten.
16. Der christliche Heilige der Spätantike Wesen, Bedeutung, Leitbild
1. Methodologische und systematische Voraussetzungen Wer über den christlichen Heiligen Begründetes mitteilen will, sieht sich einem fundamentalen Problem gegenüber, nämlich dem Problem von Wissenschaft einerseits und kirchlichem Glauben andererseits. Da der christliche Heilige wesensmäßig durch seine Beziehung zum Gottmenschen Jesus Christus, der zweiten Person der göttlichen Dreieinigkeit gemäß der kirchlichen Lehre, bestimmt ist, ist dieses Problemfeld mit dem Glauben an den Schöpfergott des Alten und Neuen Testamentes, an den geoffenbarten personalen Gott, eng verbunden. Insofern übersteigt das Thema die Grenzen der profanen Wissenschaft; denn den Bereich des Göttlichen und Heiligen kann sie höchstens im Reflex des äußerlich Bezeugten phänomenologisch beschreiben, das heißt weithin nur von außen wahrnehmen. In das Wesen des einen und dreieinigen Gottes aber, der sich nach den Glaubensquellen des Christentums geschichtlich-heilsgeschichtlich geoffenbart hat, und seines Repräsentanten auf Erden, des Heiligen, kann die Wissenschaft nicht vordringen; im besten Fall kann sie bis an die Grenze von Profan und Heilig, von Wissen und geoffenbartem Glauben führen. Um den christlichen Heiligen entsprechend zu würdigen, ist deshalb zunächst vom christlichen Glaubensverständnis, also dem christlichen Selbstverständnis, auszugehen. Dazu kommt eine weitere Schwierigkeit: Das hier angekündigte und näher zu entfaltende Thema bildet ein Kapitel aus der Religionsgeschichte, und zwar einen Abschnitt aus dem umfassenderen Thema des religiösen Ausnahmemenschen. Dieser begegnet in allen Kulturen, den Ursprungs- und den Hochkulturen. Der Heilige ist eine Sonderart dieses Menschentypos, der vor allem diese Kulturen in ihrer Frühzeit bestimmt und in ihnen als der integrale seelisch-geistige Machtträger und Führer den Vielen gegenübersteht. Er erscheint dort als der geistig-geistliche Vater, als Priesterkönig und Gesetzgeber, als Dichter-Seher und Arzt sowie Wundertäter, als Prophet, als religiössittlicher Erzieher und gesteigert als Heilbringer; daneben aber auch als Schamane, als Zaubersänger, wie der vates in Rom, und als Magus. Zwar sind in
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16. Der christliche Heilige der Spätantike
den erhaltenen Quellen meistens Männer in dieser Eigenschaft und Aufgabe bezeugt, doch stehen neben ihnen auch Frauen: So begegnen bei den Griechen neben den Zauberinnen des Mythos und der Geschichte die Sibyllen und Pythien, bei den Germanen die Seherinnen und bei den Christen zahlreiche weibliche Heilige. Als geschichtliche Ausprägung des religiösen Ausnahmemenschen gestaltet der sogenannte ‚göttliche Mensch‘ die griechische und die griechisch-römische Kultur von ihrer Frühzeit bis in die Spätantike, wobei seine formende Kraft in den verschiedenen Jahrhunderten unterschiedlichen Einfluß besitzt. Der göttliche Mensch begegnet bei den frühen Griechen als Schamane, wie Abaris und Aristeas von Prokonnesos, als Mantis und Iatro-Mantis, Arzt-Seher, als Weiser und Philosoph, der aber zunächst als mit Wunderkräften begabt erscheint. Die Linie führt von Pythagoras, Epimenides, Empedokles und Demokrit bis zu Apollonios von Tyana, Julianos und den neuplatonischen Theurgen, über die Eunapios berichtet. Religionsphänomenologisch gehören beide, der göttliche Mensch der Antike und der christliche Heilige, zum Typos des religiösen Ausnahmemenschen, den wir auch den numinosen Menschen nennen können. Auch im alten Israel ist der dort ‚Gottesmann‘ Genannte Träger von Gottes- und Wunderkräften. Bestimmbar und unterscheidbar sind nachweisbare geschichtliche Konkretisierungen des religiösen Ausnahmemenschen auf dem Hintergrund des jeweils geltenden allgemeinen religiösen Erfahrungs- und Glaubenshorizontes. Ist dieser in der Antike und in den Kulturen des antiken Mittelmeerraumes aufgrund einer religiös-magischen Auffassung vom Wesen und Wirken des Göttlich-Dämonischen religiös-magisch geprägt, so versuchten demgegenüber das alte Israel und das eng mit diesem verbundene Christentum, das Magische bald mit mehr, bald mit weniger Erfolg auszuscheiden, da es auch bei ihnen sowohl aus dem ursprünglichen Erleben des Menschen als auch aus der paganen Umgebung mitandrängt. Je mehr das Christentum während der sich nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch bildungsmäßig auflösenden Spätantike in mentalitätsmäßig archaische und damit undifferenzierter erlebende Bevölkerungskreise des Imperium Romanum und der umwohnenden Fremdvölker eindringt – das gilt vor allem vom 4. Jahrhundert n. Chr. an –, umso mehr gewinnt der christliche Heilige Züge des Magischen. Gilt auch grundsätzlich für das Selbstverständnis des Heiligen, daß nicht er, sondern Jesus Christus oder der dreieinige Gott alle wunderbaren Wirkungen vollbringt, nämlich an ihm und durch ihn, so drängt sich doch mitunter die ältere, pagane Vorstellung von einem allein aus sich selber wirkenden Wundertäter ein. Wir haben demnach beim christlichen Heiligen der Spätantike unsere Aufmerksamkeit in zwei Richtungen zu lenken: in eine glaubensmäßig-theologisch begründete und in eine, die vom Erleben des Volkes her bestimmt ist,
1. Methodologische und systematische Voraussetzungen
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einem Erleben, das noch viel Archaisch-Paganes und Dämonisch-Magisches aufweist. Insofern zeigen sich bei vielen Heiligen des ausgehenden Altertums und des frühen Mittelalters Entsprechungen zu jenen alttestamentlichen ‚Gerechten‘ und ‚Gottesmännern‘, über die vor allem die Bücher ‚Exodus‘, ‚Deuteronomium‘ und ‚Könige‘ berichten. Gestalten, wie Elias und sein Schüler Elisa, stehen auf einer noch urtümlicheren religiös-magischen Mentalitätsstufe, wie vor allem ihre Fluch- und Strafwunder zeigen. Magisches und religiöses Erleben und Tun gehen bei ihnen noch weitgehend ineinander über. Die Theologen der alten Kirche sind davon überzeugt, daß der christliche Heilige Vorgänger in vorchristlicher Zeit gehabt hat. Zahlreiche Kirchenväter haben über die Heiligen des Alten Testamentes nachgedacht und fanden, daß es heilige Menschen nicht nur in Israel, sondern auch außerhalb Israels gegeben hat. Dabei konnten sie Beweise für ihre Auffassung unmittelbar dem Alten und Neuen Testament entnehmen. Gemäß der Heiligen Schrift gab es bereits vor Abraham, dem Vater aller an den einen Schöpfer-, Erhalter- und Erlösergott Glaubenden, Gerechte. Als solche erscheinen das Urelternpaar, Abel, Seth, Noe, sodann Melchisedech, die Königin von Saba und Hiob, mit denen nur einige aus einer größeren Anzahl erwähnt seien. Dieses Rechnen mit Gottesfreunden außerhalb des Christentums, um eine weitere Bezeichnung des Altertums für den heiligen Menschen zu nennen, ergab sich auch aus dem geoffenbarten Glaubenssatz vom alle Menschen aller Zeiten und Räume einschließenden Heilswillen Gottes, seiner Zuwendung und Erwählung von Menschen, die durch ihr Verhalten gegenüber dem Göttlichen und ihren Mitmenschen als heilig erscheinen konnten. Insofern konnte sich der christliche Heilige im Gegensatz zu den jeweils für sich allein stehenden göttlichen Menschen der Antike in einer ihn miteinschließenden Gemeinschaft sehen, zunächst aller gleich ihm Gesinnten, sodann aller jüdischen und heidnischen heiligen Menschen. Ausdruck hierfür ist der Glaube an die Gemeinschaft der Heiligen, die communio sanctorum. Der einzelne Heilige besitzt so gleichsam geistig-geistliche Ahnen. Zeitlich geht er innerkirchlich zunächst auf den Stifter des Christentums zurück und folgt der Linie weiter über Abraham und Noe bis hin zum Urelternpaar. Als entsprechende Gestalten aus der Antike sind hier die Sibyllen zu nennen, ferner Orpheus und einzelne religiöse Philosophen. Ferner kennzeichnet den christlichen Heiligen, daß er nicht als solcher geboren sein muß. Vielmehr kann er auch – und zwar infolge der Gnade Gottes – erst im Verlauf seines Lebens und selbst nach einem bis dahin sündigen und unheiligen Leben zu einem Heiligen werden. Die innere Wandlung, das Phänomen der Bekehrung, die Glaube, Reue sowie Vorsatz und damit eine religiös-sittliche Entscheidung miteinschließt, ist dagegen dem göttlichen Menschen unbekannt.
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16. Der christliche Heilige der Spätantike
Wie zuvor angedeutet wurde, ist der religiöse Ausnahmemensch an das für ihn geltende, geschichtlich bedingte religiöse Weltbild gebunden und von ihm her bestimmt. Zwischen Antike und Christentum besteht aber in der Gottesfrage folgender grundlegender Unterschied: Die Götter der Natur- und Volksreligionen, also des Polytheismus, und auch die Gottheit des antiken Henotheismus sind innerkosmische Größen. Für dieses religiöse Weltbild fallen Welt/Kosmos und Gottheit in eins zusammen, während nach dem christlichen Glauben Gott und Welt wesensmäßig getrennt sind. Deshalb ist in der Antike der Unterschied zwischen Gott und Mensch verwischt, während im Christentum der Mensch niemals Gott werden kann. Finden sich dennoch derartige Gedanken, wie vor allem bei christlichen Mystikern, so stammen sie aus dem antiken religiösen Platonismus sowie dem Mittel- und Neuplatonismus. Insofern ist der antike Terminus ‚göttlicher Mensch‘ für die antiken heiligen Menschen passend, betont er doch die engste Verbindung von Gottheit und Mensch im beide umspannenden Kosmos. Im Christentum hingegen gibt es neben den unübersehbar vielen Heiligen nur den einen Gottmenschen Jesus Christus, auf den sie alle bezogen sind. Jesus Christus kann deshalb auch nicht der erste christliche Heilige sein. Vielmehr könnte man seine Mutter Maria als die erste christliche Heilige bezeichnen: Sie weiß sich gänzlich an Gott gebunden und von Gott begnadet; ihr kommt die spezifisch christliche Tugend der Demut zu. Der christliche Heilige ist wie Maria wesentlich Empfangender: Der transzendente Gott handelt durch ihn als sein Werkzeug. Da die Gottheit nach antiker und auch nach christlicher Auffassung Herrin und Garantin von Leben und Tod, Heil und Unheil, Segen und Fluch ist, verfügt auch der heilige Mensch über diese beiden gegensätzlichen Wirkweisen. Da nach christlichem Glaubensverständnis der Zorn-, Fluch- und Strafaspekt dem Heils-, Lebens- und Segensaspekt untergeordnet ist, kann der christliche Heilige die ihm verliehene göttliche Macht grundsätzlich nur zum Heil der Menschen, der Gläubigen wie der Ungläubigen, verwenden. Er bleibt nur solange in der Heiligkeit, als er seine ihm verliehene übernatürliche und übermenschliche Macht zum Segen und Heil der Seelen ausübt. Dabei soll sein Blick über das irdische Wohlbefi nden des Mitmenschen hinaus auf dessen jenseitiges und himmlisches Ziel gerichtet bleiben. So kann sich der Heilige als der von Gott erwählte Erzieher und Hirte der Menschen seiner Umgebung fühlen. Gott hat den Heiligen durch Gnade aus den Menschen erwählt, wobei diese Erwählung von Geburt oder erst im Verlauf des Lebens geschehen sein kann. Das Vorbild und Beispiel der alttestamentlichen Gottesfreunde, der ‚Gerechten‘, der heiligen Könige, der ‚Gottesmänner‘ und der Propheten, war den christlichen Heiligen und ihren Biographen durchaus gegenwärtig. Deshalb setzt der christliche Heilige den alttestamentlichen Heiligen sinngemäß fort.
2. Der Heilige als Wundertäter
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Der Heilige ist damit die zentrale formende Gestalt des Christentums, und dies nicht nur in der frühchristlichen und spätantiken Zeit, sondern in den ersten anderthalb Jahrtausenden nach Christus. Mit der Renaissance beginnt der Niedergang dieses Leitbildes der christlichen Kultur. Die paganisierende Richtung innerhalb der Renaissance, einzelne Reformatoren, die Aufklärung und die Französische Revolution bekämpfen die Kirche mit ihrer Hierarchie des Amtes und der geistlichen Stände sowie ihrer Bewahrung der Charismata. Gewiß gibt es innerhalb der Verfallsgeschichte des Heiligen während der Neuzeit noch retardierende Momente: Die Zeit der katholischen Reformbewegung bringt im Anschluß an das Konzil von Trient noch einmal zahlreiche Heilige hervor. Das Jahrhundert der Aufklärung wirkt aber umso negativer. Noch einmal versucht die innerkirchliche Reformbewegung des 19. Jahrhunderts im Anschluß an die katholisierende Romantik eine Kurskorrektur. Mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft, mit Naturalismus und dem Untergang der bis dahin noch immer sakral bestimmten Monarchien, also seit dem späten 19. Jahrhundert, wird die Idee des Heiligen mehr und mehr zu einer musealen Größe. Wo hätte der Heilige in der sogenannten ‚Belle époque‘ seinen Platz? Mit dem Niedergang des Heiligen ist unmittelbar der Niedergang der Kirche als der prägenden und bestimmenden Kulturmacht verknüpft. Im Willen und im Wort des lebendigen Heiligen, des Trägers und Verwalters göttlicher Macht und Deuters des Willens Gottes, erlebten die Menschen von den Anfängen des Christentums bis in die Neuzeit die Gegenwart des Gottessohnes Jesus Christus und des transzendenten Gottes. Der Heilige war Vermittler der Transzendenzerfahrung, indem er durch seine Nachfolge Jesu Christi dessen einmaliges und niemals voll einholbares Wirken und Lehren jeweils geschichtlich neu und konkret zu erneuern versuchte.
2. Der Heilige als Wundertäter Nach dem Selbstverständnis der Katholischen Kirche, die sich in niemals unterbrochener Abfolge der Bischöfe von Rom über Petrus auf Jesus Christus zurückführt, ist jeder offi ziell kanonisierte Heilige (belegt seit 993, als Papst Johannes XV. den hl. Ulrich von Augsburg zur Ehre der Altäre erhob) nicht nur durch seinen religiös-sittlichen Lebenswandel gemäß der Lehre Jesu und der Kirche ausgezeichnet. Vielmehr sollen von ihm auch mehrere Wunder verbürgt sein. Diese Wunder kann der Heilige während seines Lebens oder nach seinem Tod gewirkt haben. Damit sagt die Kirche zugleich aus, daß der Heilige in einem unmittelbaren Verhältnis zum Gründer der Kirche steht. Diese innere Nähe bezeichnet der den Heiligen charakterisierende Begriff der Nachfolge Jesu Christi: Strenggenommen muß jeder Christ, der diesen Namen
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16. Der christliche Heilige der Spätantike
zu Recht trägt, aufgrund seiner seelischen Bindung an Jesus so wie dieser ausgezeichnet sein durch religiös-sittliches Verhalten und durch charismatisches Wirken. Wenn die ersten Christen sich selbst als ‚die Heiligen‘ bezeichneten, so dürfte in dieser Namensgebung auch die innere Verknüpfung von religiös-sittlichem Handeln im Sinne des Liebesgebotes Jesu und charismatischem Tun zum Tragen kommen; denn tatsächlich erscheinen die unmittelbaren Schüler und Jünger Christi auch als Träger der Charismata: als Exorzisten und damit als Wunderheiler, und ganz allgemein als Wundertäter, als Propheten und als Visionäre. Der Unterschied zwischen Jesus und den Christen als Heiligen liegt darin, daß Jesus Christus im eigenen Namen, der zugleich der Name des transzendenten Schöpfergottes ist, die Wunder wirkte, seine Jünger aber nicht im eigenen Namen, d. h. nicht aufgrund eigener gleichsam autonom wirkender numinoser oder göttlicher Vollmacht, sondern im Namen, also in der Vollmacht Jesu Christi. In diesem Rückbezug auf den Gottessohn Jesus Christus liegt der nicht überbrückbare Unterschied zwischen dem christlichen und dem antiken Wundertäter. Während der letztere enge Berührungen, wenn nicht Gleichheit mit dem Magus aufweist, bleibt der christliche Heilige als Wundertäter grundsätzlich auf das durch ihn sich zeigende, dem Menschen nicht verfügbare Wirken Gottes angewiesen. Ähnlich der Offenbarung ereignet sich nach christlichem Selbstverständnis das vom Heiligen ‚vollbrachte‘ Wunder aufgrund eines freien Eingreifens Gottes. Das gilt sowohl für die Wunder zu Lebzeiten des Heiligen als auch für die nach seinem Tode, durch die sich der christliche Heilige außerdem vom göttlichen Menschen unterscheidet. Aus diesem Unterschied folgt ein weiterer: Der christliche Heilige wirkt seine Wunder- und Krafttaten unentgeltlich; die göttlichen Menschen und Zauberer verlangen hingegen meist eine Bezahlung. Die Rivalität zwischen beiden Religionen konnte niemandem verborgen bleiben. So berichtet die christliche Hagiographie von Wunderwettstreiten zwischen christlichen Heiligen und göttlichen Menschen. Vorbild war auch hier das Alte Testament mit dem Wettstreit zwischen Moses und den Zauberern, den göttlichen Menschen am Hof des Pharao. Seitdem Paulus in Ephesos die Zauberer dazu veranlaßt hatte, ihre magischen Schriften selber dem reinigenden Feuer zu übergeben, bezeugen viele hagiographische Berichte den Sieg des Geistes und der geistgewirkten Kraft des Heiligen über die dämonische Macht des göttlichen Menschen. Wie der Heilige als Wundertäter den göttlichen Menschen als Wundertäter abgelöst hat, so auch die Heilgötter und Heilheroen. Gewiß ging die ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ des 19. Jahrhunderts zu weit, wenn sie in vielen hagiographischen Überlieferungen die christliche Aneignung antiker Götterund Heroenmythen sehen wollte. Tatsächlich haben aber viele Heilige Aufgaben übernommen, die zuvor und zu ihrer Zeit Götter und Heroen für die Menschen ausgeübt haben. Der leiblich und seelisch leidende Mensch fand im
2. Der Heilige als Wundertäter
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Laufe der Christianisierung in sich steigerndem Maß bei den Heiligen die Hilfe, die er zuvor von Göttern und Heroen erbeten hatte. Diese Hilfe erfuhr er vom lebenden und vom toten Heiligen. Seit dem 4. Jahrhundert wurden die Gräber der Heiligen zunehmend zu Orten, an die notleidende Pilger zogen und wo sie um Hilfe beteten. Den heiligen Ort des Lebens und des Sterbens eines Heiligen erfuhren die Menschen als mit übernatürlicher Kraft erfüllten Raum. Von den Reliquien schien eine wunderbare Segens- und Heilkraft auszugehen. Diese konnte sich neben wunderbaren Heilungen und Errettungen aus Krankheit, Tod und Not in einem eigentümlichen Wohlgeruch, dem Duft der Heiligkeit, äußern. Bei der Erhebung der Gebeine ist oftmals von diesem Duft die Rede. In den Jahrhunderten der Kämpfe der Römer gegen den persischen Landesfeind und gegen die zahlreichen Fremdvölker, die in das Imperium einfielen, hören wir von Heiligen als den Schutzherren ihrer Stadt, als Schützern in der Schlacht, als Nothelfern, Patronen und Fürsprechern bei Gott in jeglichen Anliegen. Sie waren in der Zeit der Reichskirche die ersten Ansprechpartner der mannigfach leidenden Bevölkerung. In dieser Funktion waren sie die Nachfolger der Götter und Heroen. So erscheint der Heilige der Spätantike zum einen als eine der eindrücklichsten Manifestationen des übernatürlich herbeigeführt erscheinenden Sieges des Christentums, zum anderen als ein Gnadengeschenk Gottes in dessen heilsgeschichtlicher Ökonomie. Ähnlich wie das Martyrium bei den zum Tode verurteilten Christen besondere Seelenkräfte freigesetzt hat, wie Ekstase und Vision – man denke an den Bericht der Apostelgeschichte über Stephanus oder an die geschichtlichen Akten der Perpetua und Felicitas –, hat die Askese der Mönche die Gabe der Herzenserkenntnis, Kardiognosie, des Zweiten Gesichts, der Prophetie und auch der Heilung mitermöglicht. Die hagiographischen Überlieferungen über das Leben der heiligen Mönche, der heiligen Mönchsväter, geben dazu im Osten und im Westen viele Beispiele. Zur Beurteilung dieser und anderer wunderbarer Kräfte und Zeichen stehen uns nicht nur die hagiographischen Texte der Spätantike und des Mittelalters zur Verfügung, die Acta und Vitae Sanctorum und die Sammlungen der Wunder, die gewiß auch kritisch nach Wundermotiv und Topos, nach literarischer Fiktion und Fälschung zu prüfen sind, sondern aufgrund der Tatsache der Festigkeit dieses Menschentypos bis in das 19., in seltenen Fällen bis in das 20. Jahrhundert hinein auch neuzeitliche Zeugnisse. Beachten wir vor allem die durch unbezweifelbare Zeugen und Zeugnisse bestätigten Wunderberichte in den Akten der Heiligsprechungen, so zeigt sich in den Wundern der Heiligen die Grenze einer nur profan-wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeit. Gewiß ist der Satz in Goethes Faust nachdenkenswert: ‚Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind‘, aber der Zusammenhang von Glaube und Wunder
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16. Der christliche Heilige der Spätantike
besteht seit dem Gründer des Christentums und meldet sich immer neu zu Wort. Im Heiligen, in seiner Person, wird dieser Zusammenhang sichtbar, sei es, daß der Heilige als Heiliger in Erscheinung tritt, indem er selbst Träger des Wunderbaren ist, sei es, daß er Wunderbares wirkt.
3. Geschichtlicher Durchblick Das Auftreten des Heiligen ist nicht in einer bestimmten Epoche des Christentums erfolgt, sondern steht ähnlich wie die Glaubens-, Lehr- und Amtstradition in einem Zusammenhang, der von Jesus Christus als dem gründenden Anfang ausgeht. Deshalb gehört das charismatische Element bis heute zum Heiligen, wenn auch zu erkennen ist, daß der Heilige als Wundertäter seit der Zeit der Aufklärung mehr und mehr gegenüber seiner Aufgabe als gleichsam eines Heroen christlicher Gottes- und Nächstenliebe im allgemeinen Bewußtsein zurückgetreten ist. Damit ist zugleich angedeutet, daß der christliche Heilige innerhalb der katholischen Kirche bei aller wesensmäßigen Identität doch gewisse Wandlungen durchgemacht hat. Diese Wandlungen sind das Ergebnis geistiger und sozialer sowie allgemeiner kultureller Veränderungen, betreffen aber auf das Ganze gesehen mehr Akzidentelles und weniger Wesensmäßiges. Die Hagiographie, die mit der kanonischen Apostelgeschichte beginnt und bis in das 20. Jahrhundert reicht und die vor allem in den Acta Sanctorum und den Analecta Bollandiana niedergelegt ist, bezeugt mehr die Identität des Typos als die geschichtlichen Wandlungen. Sprechen wir von den Heiligen als den maßgebenden Menschen, so waren sie für die Christen ‚zweiter Ordnung‘, also für alle jene, die oft nur mehr Sympathisanten und Mitläufer waren – und dies nicht zuletzt wegen ihrer Schwäche, dem Anspruch des Evangeliums genügen zu können –, die Identifikationsgestalten und die großen Hoffnungsträger in allen Nöten des Lebens. Die Heiligen waren nicht zuletzt aufgrund ihrer charismatischen Gaben Träger höchster Autorität, auf die selbst der Kaiser hörte. Man denke beispielsweise an den Säulensteher Simeon (um 390 bis 459)! Charakteristisch für nicht wenige Heilige seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. ist ihre Verbindung mit der reflexiven Glaubenserhellung, der Theologie. Der Heilige kann so vom 2. bis zum 4. Jh. als Träger einer Rationalität erscheinen, die ihn dazu befähigt, als Theologe und Lehrer der Kirche aufzutreten. Der Großteil der sogenannten Kirchenväter ist so zu Lebzeiten oder nach dem Tod als heilig verehrt worden. Seit der Zeit der Reichskirche treten zahlreiche Heilige als Gründer kirchlicher und sozialer Einrichtungen auf: Sie gründen Kirchen und Klöster, Krankenhäuser, Waisen-, Witwen-, Alters- und Säuglingsheime.
3. Geschichtlicher Durchblick
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In der Zeit der Massen- und Völkerbekehrungen vom 4. Jahrhundert an traten die Heiligen immer mehr in das Machtvakuum ein, das der Niedergang des Heidentums und der Zerfall des Imperium Romanum vor allem im Westen verschuldet haben. Nicht zuletzt zählen zu den Heiligen der Spätantike zahlreiche Bischöfe und Päpste. Sie waren es, die in den Stürmen der Völkerwanderungen an die Stelle der zerfallenden Staatsgewalt traten und das antike Erbe, selbst das Bildungserbe, wenn auch in engeren Grenzen als zuvor, vor gänzlicher Zerstörung durch die fremden Völker aus dem Norden, Osten und Süden zu bewahren versuchten. Hier ist vor allem an das Wirken der heiligen Päpste Leo I und Gregor des Großen oder an die Bischöfe Isidor und Leander von Sevilla sowie an zahlreiche Bischöfe Galliens zu denken. Sind in den ersten drei Jahrhunderten der Kirchengeschichte der Glaubensbote und Missionar und vor allem der Märtyrer / die Märtyrerin und der Bekenner / die Bekennerin die Haupttypen, so im Zeitalter der Reichskirche der Asket / die Asketin, der Mönch oder die heilige Jungfrau. Gerade diese sind es, die den Zusammenhang von der spätantiken zur frühmittelalterlichen Epoche, also von der Zeit vom 4. bis ins 8. und 9. Jahrhundert, sichern und gegen eine tiefere geschichtliche Zäsur zwischen diesen beiden angeblichen Zeitabschnitten zeugen. Wäre die historische Forschung von Ostrom ausgegangen, dann hätte in Byzanz nichts für einen Kulturbruch gesprochen. Mit der beide Epochen, die Spätantike und das Mittelalter, verklammernden asketischen Mönchsbewegung hängt auch ein bedeutsamer bildungsgeschichtlicher Wandel zusammen: Die Konzentration auf die christliche Askese als Geschlechts-, Nahrungs- und Schlafaskese verengte zugleich den bisherigen weiter gespannten Bildungshorizont, wie ihn der christliche Humanismus vornehmlich in seiner Spielart des christlichen Platonismus seit dem 2. Jahrhundert gestaltet hatte. Die mit der Askesewelle parallel verlaufende Barbarisierung des Imperium Romanum hat diese Reduktion der heidnischen Bildung weiter verstärkt. Für die Mehrzahl der Christen genügten nunmehr, in diesen Jahrhunderten der Geldentwertung und Entvölkerung infolge von Hungersnöten, Erdbeben, Seuchen und Kriegen, die Heilige Schrift oder auch nur einzelne Teile von ihr, wie vor allem die Psalmen und die Evangelien. Die reiche antike Literatur, die am Beginn der asketischen Bewegung während des 4. Jahrhunderts für die gebildeten, vielfach noch aus dem Heidentum kommenden Christen von anziehender und formender Kraft war, verlor im Verlauf des folgenden 5. Jahrhunderts diesen Einfluß. Nur sehr wenige Christen blieben für die alten Bildungsgüter noch offen, wie Cassiodor, Boethius und Isidor. Als das antik bestimmte Schul- und Hochschulwesen mit seinen Artes liberales vor allem im lateinischen Westen zusammenbrach, breitete sich ein Analphabetentum mehr und mehr aus. Die Träger der Bildung waren jetzt allein die theologisch Gebildeten, also in der Mehrzahl Mönche und Kleriker. Mit dem 5. Jahrhundert war die große Zeit der schöpferischen Theolo-
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16. Der christliche Heilige der Spätantike
gen abgeschlossen. Seitdem konzentrierten sich die Asketen und Asketinnen mehr und mehr allein auf die Heilige Schrift. Das Mönchsideal als Heiligkeitsideal zog Menschen aller Bevölkerungsschichten an. Aus allen Ständen drängten sich Christen, als Einsiedler oder in einer Mönchskolonie zu wohnen und dort ein ‚engelgleiches Leben‘, b4o: &ggelik5:, mit immerwährendem Gebet zu führen. Die syrisch geschriebene Vita des georgischen Prinzen und monophysitischen Heiligen Petrus’ des Iberers (409–488) zeichnet das Kaiserhaus Theodosius’ II (408–450) und der Kaiserin Eudokia (gest. 460) sowie das Königshaus in Georgien (spätes 4. Jh.) mit den Farben der Mönchsaskese. Seit dem späten 4. Jahrhundert erfaßte das asketische Ideal auch die westliche Kirche, die in Rom zur Zeit des Hieronymus noch recht reserviert dieser neuen innerkirchlichen Frömmigkeitsbewegung gegenüberstand. Das neue Ideal im 5. und 6. Jahrhundert wird der Mönchsbischof. Insofern bestimmt der heilige Asket seit dem 5. Jahrhundert die kirchliche Kultur und damit die gesamte damalige Kultur im Osten wie im Westen bis hin nach Irland. Die Kategorie der Heiligkeit ist das Kennzeichen dieser Zeit. Sie erfaßt das gesamte Leben, die Ämter der Kirche bis hin zum Kaiser in Konstantinopel und seinem Hof. Von einer profanen Kultur ist in diesen Jahrhunderten kaum mehr zu sprechen. Zum Typos des Mönchsheiligen als der kennzeichnenden Form des Heiligen der Spätantike sowie des Frühmittelalters und zu seiner Monopolstellung als des Trägers geistlicher und geistiger Macht haben unter anderem beigetragen: die aufgrund der politischen Wandlungen seit Konstantin nicht mehr gegebene Möglichkeit einer blutigen Zeugenschaft oder Bekennerschaft für Christus – von Ausnahmen abgesehen, so vor allem außerhalb des römischen Reiches –; die steigende Masse von Namens- und halben Christen, von denen sich jene Christen, denen es mit ihrem Glauben ernst war, abzusetzen versuchten; die Möglichkeit für viele einfache und arme Menschen, durch Askese zu einer allgemein anerkannten, ja verehrungswürdigen Persönlichkeit aufzusteigen: An der Wiege des ägyptischen Mönchtums stehen die koptischen Fellachen. Viele Sklaven versuchten Mönche zu werden, um ihrem Stand zu entkommen. Je mehr das äußere Leben von Katastrophen bedroht erschien, um so mehr wuchs bei vielen Christen der Glaube an das nahe bevorstehende und bedrohliche Weltgericht. Die das älteste Christentum bestimmende eschatologische Gestimmtheit brach gerade in den Jahrhunderten der Völkerwanderungen immer neu auf und zog neue Nahrung aus dem Natur- und Kriegsunheil. Die Einfälle der Fremdvölker, vornehmlich der Goten, ließen an die endzeitlichen Gestalten Gog und Magog denken. Aus allen diesen Gefahren versuchten sich die Asketen durch ihren radikalen Glaubensvollzug zu retten. Bei der Pest des Jahres 590 predigte Papst Gregor der Große, der als vierter lateinischer heiliger Kirchenlehrer verehrt wird, vom Schwert des göttlichen
3. Geschichtlicher Durchblick
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Zornes, von dem das Volk getroffen sei. Wie eine spätere Legende zu berichten weiß, sei während der von Gregor veranstalteten Sühne- und Bußprozesse ein Engel auf der Spitze des Grabmals Hadrians erschienen und habe des blutige Schwert zum Zeichen des besänftigten Zornes Gottes in die Scheide gesteckt. Diese Überlieferung stimmt in ihren religiösen Gedanken mit einer im ersten Buch der Ilias beschriebenen, beeindruckenden Szene überein: Apollon zürnt wegen des Frevels eines Menschen, er entsendet seine Pestpfeile und wird schließlich durch Gebet und Opfer versöhnt. Nach der christlichen Überlieferung tritt Papst Gregor als der Repräsentant sowohl Gottes als auch seiner heiligen Gemeinschaft, der Kirche, auf. Er vertritt das Volk vor Gott und entsühnt es durch sein Gebet. Er ist im Kleinen Stellvertreter wie Jesus Christus im Großen. Insofern fl ießen in ihm wie in einem Brennpunkt die Ströme des göttlichen Geistes und der menschlichen Hilfsbedürftigkeit für das Heil von Leib und Seele zusammen. Das spätantike und frühbyzantinische Heiligkeitsideal prägte die Jahrhunderte des Mittelalters, der Gegenreformation bis in die katholische Romantik des 19. Jahrhunderts. Das Bild des Heiligen, wie es die ersten sechs Jahrhunderte des Christentums ausgeformt haben, blieb verbindlich. Beweis dafür sind nicht zuletzt die Darstellungen des Heiligen in der christlichen Kunst von der Spätantike bis zu den Nazarenern des 19. Jahrhunderts. Erst seit dem Ausklang dieser Kunstrichtung gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlischt das Bild des Heiligen auch in der Kunst. Zur Literatur vgl. die Bibliographien von Th. Baumeister, Art. Heiligenverehrung I: Reallexikon für Antike und Christentum (=RAC) 14 (1988) 96–150; M. van Uytfanghe, Art. Heiligenverehrung II (Hagiographie): ebd. 150–183; Ders., Art. Biographie II (spirituelle): ebd. Suppl.-Bd. 1 (2001) 1088–1364; ferner meine folgenden Artikel und Aufsätze: Art. Heros: RAC 14 (1988) 861–877; Die Hilfe und Epiphanie einer Gottheit, eines Heroen und eines Heiligen in der Schlacht: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 〈1〉 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) 269–291. 499–501; Der numinose Mensch als Wundertäter: ebd. 369–394. 503; Religiöse Betrüger. Falsche göttliche Menschen und Heilige in Antike und Christentum: ebd. 440–462; Der numinose Mensch als Mittler und Bürge der Lebensordnungen: Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, New York 1995) 96–105; Die Verehrung des Heroen, des göttlichen Menschen und des christlichen Heiligen. Analogien und Kontinuitäten: ebd. 106–124. 193; Das christliche Ideal der geschlechtlichen Askese in seinen negativen Folgen für den Bestand des Imperium Romanum: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 125–150. 282 f. Der kirchliche Heilige als religiöses Leitbild in der Kirchengeschichte: ebd. 151– 180. 283; ferner vgl. Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen = Bibliothek des Buchwesens 7 (Stuttgart 1981) Reg.: ‚Heiliger‘.
17. Das Leben im Garten Eden nach Dracontius Blossius Aemilius Dracontius hat ein dem Boethius vergleichbares Schicksal erlitten. Wie dieser wegen Beziehungen zum oströmischen Kaiser unter dem Ostgotenkönig Theoderich in Ungnade fiel, so der katholische Dichter und Anwalt Dracontius unter dem Vandalenkönig Gunthamund (484–496 n. Chr.). Nach einem wohl eher weltlichen Leben, das mittelbar seine Gedichte in antiker Manier bezeugen, gelangte Dracontius infolge seiner politischen Verfolgung und damit verbundenen Leiderfahrung zu einer christlichen Verinnerlichung, die ihn anders als Boethius zu einer personalen Entdeckung des liebenden Schöpfer-, Erhalter- und Erlösergottes befähigte. Das Hauptzeugnis dieser inneren Bekehrung ist sein Versepos De laudibus dei in drei Büchern1. Trotzdem zeigen sich auch in diesem epischen christlichen Gedicht zum Lob und Preise Gottes zahlreiche Spuren der Antike. Wie nicht wenige christliche Schriftsteller vor ihm, die aus dem Heidentum zur Kirche kamen, holte die pagane Vergangenheit auch Dracontius immer wieder ein. So laviert er nicht selten zwischen den Fronten, wie seine Bearbeitung des alttestamentlichen Buches Genesis mit Sechstagewerk und Paradieserzählung im ersten Buch seiner Laudes dei beweist2 .
1 P. Langlois, Dracontius, in: RAC 4 (1959) 250–269; Ders., Africa II (literaturgeschichtlich), in: RAC Suppl. I (2001) 211–215; C. Moussy in seiner Ausgabe der Werke des Dracontius 1 (Paris 1985) 7–140. Neben dieser Ausgabe mit dem Kommentar zum ersten Buch der Laudes dei von C. Camus ist weiterhin die Edition von F. Vollmer zu beachten, in: MGH AA 14 (Berlin 1905). 2 Vgl. W. Speyer, Kosmische Mächte im Bibelepos des Dracontius, in: Ders., Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, Zürich, New York, 1995) 141–151. 194; Ders., Der Bibeldichter Dracontius als Exeget des Sechstagewerkes Gottes, in: Ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999) 181–206. 284; Ders., Die Vorzeichen im Bibelgedicht des Dracontius: ebd., 207–219; ferner vgl. K. Smolak, Die Stellung der Hexamerondichtung des Dracontius (laud. dei 1, 118–426) innerhalb der lateinischen Genesispoesie, in: Antidosis. Festschrift W. Kraus = Wiener Studien, Beiheft 5 (Wien 1972) 381–397; W. Evenepoel, Dracontius, De laudibus dei 1, 329–458, Adam and Eve before the fall, in: Panchaia. Festschrift K. Thraede, in: Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband 22 (Münster, W. 1995) 91–101.
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17. Das Leben im Garten Eden nach Dracontius
1. De laudibus dei 1,437–453 und antike Kulturentstehungslehren Im Gegensatz zum gallischen Bibeldichter Claudius Marius Victorius (5. Jh.) und seinen übrigen Vorgängern verläßt Dracontius das erste Menschenpaar nach dessen Vertreibung aus dem Paradies. Zu dem von ihm gesungenen Lob auf den barmherzigen Schöpfergott hätte schlecht eine Beschreibung gepaßt, nach der die Menschen auf die dunkle Erde verstoßen wurden und dort jämmerlich und sich allein überlassen erst nach und nach zu einem würdigen Dasein fanden 3 . Vielmehr ist es das erklärte Ziel des Dichters, Gottes Milde hervorzuheben, die in der Verheißung einstiger Erlösung vom ewigen Tod infolge des Heilswerkes Jesu Christi gipfelt. Darum versucht Dracontius auch, die Lichtseiten nach der Vertreibung aus dem Paradies hervorzuheben. Wie in der griechischen Mythologie und der ihr folgenden wissenschaftlichen, d. h. begriffl ichen Durchdringung des Wirklichkeitsganzen Kosmologie und Anthropologie – und entsprechend Kosmogonie und Anthropogonie – zusammenhängen, so auch bei Dracontius, der dieser Betrachtungsweise gewiß auf dem Hintergrund der Genesis, die gleicherweise diese Blickrichtungen verbindet, folgt. Seine Beschreibung des Lebens im Paradies beginnt mit der Übergabe der Herrschaft an die Menschen. Der Schöpfer übergibt alles, was die Erde, die Luft, das Meer, die Elemente auf sein Wort hervorgebracht haben, dem freien Ermessen der Ureltern4 . Aber auch nach dem Verlust des Paradieses wird den Menschen diese Herrschaft über die irdische Schöpfung erhalten bleiben5 . Der Dichter läßt mit wenigen Strichen das Leben des ersten Menschenpaares im Garten Eden in seiner Unbeschwertheit vor unseren Augen erstehen: Ibant per flores et tota rosaria laeti inter odoratas messes lucosque virentes simpliciter pecudum ritu vel more ferarum, corporibus nudis et nescia corda ruboris 6 . Die Formulierung pecudum ritu vel more ferarum führt den Leser mitten in bestimmte antike Theorien über den Zustand der Urmenschen. Die antiken Berichte über das Werden der Kultur zerfallen – undifferenziert gesprochen – in zwei gegensätzliche Ansichten. Nach der einen haben sich die Menschen allmählich aus einem tierähnlichen Leben zu Kultur und Zivilisation heraus3 Anders Proba cento 269–277, in: CSEL 16, 585 f.; Mar. Vict. 2,6–202, in: CCL 128, 148–154 beschreibt ausführlich das Leben der Stammeltern nach ihrer Vertreibung und will damit die antike Kulturentstehungslehre durch eine christianisierte ersetzen; Hil. Gen. 160–169, in: CSEL 23, 237. 4 Laud. dei 1,402–404. 5 Ebd. 1,570–583. 6 Ebd. 1,437–440. – Gen. (Vulg.) 2,25: erat autem uterque nudus, Adam scilicet et uxor eius, et non erubescebant; vgl. Cypr. Gall. Gen. 71, in: CSEL 23, 4: ac modo formatos vestis non texerat artus.
1. De laudibus dei 1,437– 453 und antike Kulturentstehungslehren
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gearbeitet7. Dieser Evolutions- und Fortschrittstheorie der Kultur steht eine andere, ältere Überlieferung gegenüber, die der gewachsene Mythos und ihm folgend einzelne Dichter vertreten: Nach einer in vielen Kulturen antreffbaren Vorstellung lebten die Menschen in der Urzeit glücklich und sorgenlos; erst infolge eines gottesfeindlichen Frevels sei ein Umschlag erfolgt 8 . Die Rede vom „tierartigen Leben“ der Urmenschen war jedoch ein Schlagwort der Entwicklungs- und Fortschrittslehre9. Wie more ferarum in den antiken Berichten das inhumane, schreckliche Leben der ersten Menschen umriß10 , so galt auch die Nacktheit als Zeichen mangelnder Kulturhöhe, so bei Protagoras in seinem Prometheus-Mythos bei Platon11 ; im Politikos hingegen hebt Platon gerade diesen Zug als Zeichen des damaligen glücklichen Lebens hervor, wobei er die Milde der Witterung betont12 . Dracontius brauchte das milde Klima nicht ausdrücklich zu betonen, da er es zuvor eindringlich in seiner Beschreibung des Paradieses erwähnt hatte13 . Während in den Berichten über die Kulturentstehung das tierähnliche Leben der ersten Menschen zur Beschreibung des rohen Urzustandes gehörte, konnte die Nacktheit der Körper auch wie im Politikos Platons ins Positive umgedeutet werden. Die Theoretiker eines Kulturfortschrittes sahen jedenfalls in der ursprünglichen Nacktheit des Menschen im Vergleich zu den Tieren einen Mangel14 . Mit V. 440: corporibus nudis . . . steht Dracontius zugleich 7 Dies ist die „protagoreisch-atomistische Aszendenz“-Lehre; dazu B. Gatz, Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen = Spudasmata 16 (Hildesheim 1967) 114– 174, bes. 145–174: Die Kulturentstehungslehren; ferner vgl. W. Spoerri, Späthellenistische Berichte über Welt, Kultur und Götter = Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 9 (Basel 1959) 152–156: ‚Der tierähnliche Zustand der Menschheit‘. 8 Gatz, a. O. 1–86. 9 Eine Stellensammlung bietet Gatz, a. O. Reg. 231: ferarum more vel sine legibus viventes. Als Vorlage des Dracontius kommt vor allem Lukrez in Betracht, mit dem er sich in den Laudes dei oft auseinandersetzt: 5,932: vulgivago vitam tractabant more ferarum; zum Versschluß: more ferarum Lucr. 4,1264; Hor. sat. 1,3,109; Stat. Theb. 8,71; ferner Claud. rapt. Pros. 3,42 f.: pecudum si more pererrant avia. – Das „tierartige Leben“ gehörte deshalb auch zu den Topoi des negativen Bildes von den Fremdvölkern; dazu W. Speyer / I. Opelt, Barbar I, in: RAC Suppl.-Bd. 1 (2001) 811–895, bes. 839. 869. 886. 10 Vgl. Lact. inst. 6,10,25, in: CSEL 19, 2, 518: non ritu hominis, sed ferarum more vivendum est. 11 Plat. Protag. 321c: Promh_e`: . . . Wr& t% m3n *lla zva 4mmel9: p1ntwn 6conta, t0n d3 )n_rwpon gumn5n te kaH &nup5dhton . . .; vgl. Diod. Sic. 1,8,5 f.: to`: ohn pr7tou: t9n &nqr7pwn mhden0: t9n pr0: b4on crhs4mwn ebrhm2nou 4pip5nw: di1gein, gumno`: m3n 3sq8to: Xnta:, oIk3sew: d3 kaH pur0: &3_ei:, trof8: d' ?m2rou pantel9: &nenno3tou:. 12 Plat. politic. 272a: gumnoH d3 kaH )strwtoi _uraulocnte: t% poll% 4n2monto! t0 g%r t9n 7r9n a`toK: )lupon 4k2krato . . . 13 Laud. dei 1,180–205, bes. 185: illic fl oret humus semper sub vere perenni; vgl. auch die Schilderung des Paradieses Laud. dei 2,440–463, bes. 445–452 zur Aufhebung der Jahreszeiten. Zu den Unterschieden der beiden Ekphraseis Speyer, Bibeldichter a. O. (Anm. 2) 198. Zum Topos des Ewigen Frühlings Gatz, a. O. (Anm. 7). 14 Vgl. Anm. 11; Ov. fast. 2,299 f.: sub Iove durabant et corpora nuda gerebant / docta
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17. Das Leben im Garten Eden nach Dracontius
auch in der Traditionslinie, die in Platons Politikos faßbar wird. Auch in den Versen Laud. dei 1,449–453 folgt er dieser Überlieferung, wie der Vergleich mit der Platonstelle zeigt15 : Vomere non tellus, non rastris iussa domari16 , quaerere nec sudor fructus quocumque labore cogitur aut campos aliquo de fonte rigare; imbre ferax nullo, pluviis absentibus uber caespes et arbitrio crescit fetura marito17. Aufgrund der bruchstückhaften antiken Überlieferung können bei derartigen Quellennachweisen nur bestimmte feste Punkte angegeben werden, wie in diesem Fall Platon und Dracontius; die Kette der Tradenten dagegen bleibt im dunklen. Dracontius schildert anschließend die Nacktheit und Geschlechtlichkeit der Ureltern vor dem Sündenfall: Quid pars membrorum secretior esset habenda? unde rudes scirent, quid moribus esset honestum? quod digitos oculosque, putant hoc quoque pudenda? publica iungebant affectibus oscula passim nec rubor ullus erat, cum staret origo pudoris, illicitumque sibi prorsus nihil esse putabant. Et bene credebant, quibus omnia iussit ad usus arboris unius fructu sub lege negato18 . Zum ursprünglichen Zustand des Menschen, der aus der Hand des göttlichen und damit vollkommenen Schöpfers hervorgegangen war, gehörte die Nacktheit, ohne daß sie ein Gefühl der Unsicherheit oder der Scham ausgelöst hätte. In der paradiesischen Urzeit liebten die Menschen trotz der geschlechtlichen Spannung zwischen Adam und Eva unschuldig, also ohne von Scham eingeschränkt zu sein. Damit blieb auch für Dracontius das Phallische frei
graves imbres et tolerare notos (von den urzeitlichen Arkadiern berichtet). Laktanz verbindet inst. 6,10,3, in: CSEL 19, 2, 514 christliches Gedankengut von der pietas und misericordia gegenüber dem Nächsten mit stoischem über die im Vergleich zum Tier ungleiche Ausrüstung des Menschen. Die Schwäche des Körpers (nudus fragilisque) und die Überlegenheit des Verstandes, sapientia, beim Menschen stehen der Stärke des Körpers und dem Fehlen der Ratio bei den Tieren gegenüber; vgl. Spoerri, a. O. (Anm. 7) 221 Nachtrag zu 157, Anm. 7. 15 272a: karpo`: d3 &fq5nou: ePcon (sc. oJ )n_rwpoi) &p5 te d2ndrwn kaH poll8: flh: )llh:, oac bp0 gewrg4a: fuom2nou:, &ll' aatom1th: &nadido6sh: t8: g8:; vgl. Gatz, a. O. (Anm. 7), Reg. 229: terra sua sponte victum ferens. 16 Proba cento 144, in: CSEL 16, 577 = Verg. ecl. 4,40 im selben Zusammenhang: non rastros patietur humus, non vinea falcem; vgl. Ov. met. 1,101 f. 109. 17 Zu diesen dichterischen Metaphern vgl. F. Leonhardi, fetura, in: ThlL VI, 1, 1912/26, 635,79–636,6; O. Hey, maritus, in: ebd. VIII, 1936/66, 404,7–16. 18 Laud. dei 1,441–448; vgl. Evenepoel, a. O. (Anm. 2) 97.
1. De laudibus dei 1,437– 453 und antike Kulturentstehungslehren
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von jedem Anstoß19. Nach der Genesis zeigten sich gerade im „Fehlen der Scham“ das vollkommene Glück des paradiesischen Menschen und seine Überlegenheit über den Zustand nach dem Sündenfall 20 . Auch die antike Überlieferung hebt das Liebesleben der ersten Menschen als andersartig gegenüber dem späteren der Zivilisation hervor, wobei sie aber den Gegensatz zwischen ursprünglicher pudicitia und späterer kulturimmanenter inpudicitia herausstellt. Hier fassen wir noch Kulturkritik hellenistischer und kaiserzeitlicher Philosophen, Gelehrter und Dichter21. In der Betonung der pudicitia zeigt sich wohl eine Spur zur Kulturentstehungstheorie des Poseidonios22 . Dieser Philosoph versuchte nämlich ein Bild von der Vorzeit der Menschen zu entwerfen, das er auf der Grundlage seiner empirischen Studien über die Gewohnheiten und Sitten der Ursprungskulturen am Rande des Imperium Romanum genauer ausführte23 . Der Lobpreis der Scham begegnet aber öfter in Berichten über Naturvölker24 . Vergleichen wir die drei betrachteten Abschnitte bei Dracontius mit den entsprechenden des Lukrez, so erkennen wir die antilukrezische Zielrichtung: 1. Der Ausdruck more ferarum besitzt in beiden Darstellungen eine verschiedene Aufgabe. Dracontius verleiht der Fügung einen positiven Sinn, wobei er selbständig zu sein scheint. Gegenteilig verwenden Lukrez und ihm verwandte Dichter den Ausdruck. Anders als bei Dracontius bedeutet die Nacktheit der ersten Menschen bei Lukrez einen Mangel 25 . 2. Das Fehlen des Ackerbaus ist bei Dracontius ein Zeichen eines mühelosen und sorgenfreien Lebens, bei Lukrez Beweis des menschlichen Unvermö-
19 Zu Laud. dei 1,445 D. Kuijper, Varia Dracontiana (Diss. Amsterdam 1958) 34. – Andere christliche Schriftsteller erklärten die geschlechtliche Unschuld der Ureltern damit, daß sie annahmen, jene hätten das Alter von Kindern gehabt; dazu E. Peterson, Frühkirche, Judentum und Gnosis (Rom, Freiburg, Wien 1959) 195 f. 206 f. Anm. 88. 20 2,25. 21 E. Graf, Ad aureae aetatis fabulam symbola = Leipziger Studien 8 (Leipzig 1885) 53–55; Iuvenal preist die Scham des eichelessenden Zeitalters der Menschen unter dem Gott Saturnus (6,1–18) ähnlich wie Ov. ars 2,621–624 und das Epiced. Drusi = Cons. ad Liv. 343: femina digna illis, quas aurea prodidit aetas, während Tibull 2,3,68–74 im gleichen Zusammenhang von der Ungebundenheit der Liebe spricht. 22 Poseidonios bei Sen. epist. 90,4 (= F 448 Theiler); vgl. W. Theiler, Poseidonios. Die Fragmente 2 (Berlin, New York 1982) 385; G. Pfligersdorffer, Fremdes und Eigenes in Senecas 90. Brief an Lucilius, in: Ders., Itinera Salisburgensia. Gesammelte Aufsätze zur Antike und ihrem Nachwirken (Salzburg 1999) 219–243. 23 G. Rudberg, Forschungen zu Poseidonios = Skrifter utg. af Kungl. Human. Vetenskaps-Samfundet i Uppsala, 20,3 (Uppsala, Leipzig 1918) 76–78. 84. 24 Tac. Germ. 19,1. 25 5,931 f.; 953 f.: neque uti (sc. sciebant) / pellibus et spoliis corpus vestire ferarum. Dies war ein Topos der Gegner der Stoa; vgl. W. Capelle, Zur antiken Theodicee, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 20 (1907) 173–195, bes. 188, Anm. 62.
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gens26 . Bei Dracontius bedarf es keines Regens; das Land ist fruchtbar. Bei Lukrez hingegen erscheinen die Gaben der Erde für den Menschen als eingeschränkt und bedingt27. 3. Cupido und libido beherrschen bei Lukrez das Liebesleben der Urmenschen 28 . Bei Dracontius, der hier der Genesis folgt, war es ein sündenloser und zwangloser Umgang, der nur beseligte.
2. Die Tiere im Garten Eden In den Versen Laud. dei 1,356–358 at procul exspectat virides iumenta per agros et de se tacitus quae sint haec cuncta requirit vel 29 quare secum non sint haec cuncta volutat 30 , weicht der Dichter vom Bericht des Buches Genesis ab. Die Tiere sind anscheinend nicht bei Adam. Dieser sieht sie in der Ferne und fragt sich, weshalb sie nicht bei ihm seien. Dracontius geht aber in der folgenden Paradiesesschilderung noch einen Schritt weiter und behauptet, daß überhaupt kein Lebewesen außer den Stammeltern das Paradies bewohne, wobei er überdies sämtliche Vögel ausdrücklich ausschließt: Praeterea solis datus est locus ille duobus: deliciis hominum tantum constructus opacis nec placidas sustentat aves, non ore cruentas, unguibus armatas nescit perferre volucres, omne genus pecudum nescit, genus omne ferarum 31. In der Genesis macht Gott den Menschen zum Herrn über die gesamte unbelebte und belebte Schöpfung32 . Hier führt Gott die Tiere zu Adam, da-
26 5,933–936: nec robustus erat curvi moderator aratri / quisquam, nec scibat ferro molirier arva / nec nova defodere in terram virgulta neque altis / arboribus veteres decidere falcibu’ ramos. 27 5,937 f.: quod sol atque imbres dederant, quod terra crearat / sponte sua, satis id placabat pectora donum. Lukrez hat hier den Ausdruck sponte sua, der sonst und selbst auch bei ihm 2,1157–1159 die Fülle der Gaben der Aurea aetas malt (Gatz, a. O. [Anm. 7], Reg. 229: terra sua sponte victum ferens), mit Einschränkung verwendet; vgl. Ov. fast. 4,395 f.: messis erat primis virides mortalibus herbae, / quas tellus nullo sollicitante dabat. 28 5,962–964. Ähnlich drastisch und naturalistisch Hor. sat. 1,3,107–110; vgl. auch Ov. ars 2,477–480. 29 vel ist im Sinne von et gebraucht; vgl. E. Rapisarda (ed.), La tragedia di Oreste (Catania 1951) 50 f. zu Orest. 37–39. 30 Ähnliche Wortspiele bei Ov. met. 1,361 f.; Iuvenc. 2,635 f., in: CSEL 24, 70. 31 Laud. dei 1, 454–458. 32 Gen. 1,26. 28. 30.
2. Die Tiere im Garten Eden
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mit er sie benenne33 . Auch Dracontius hat einige Verse zuvor zweimal betont, daß Gott die Tiere der Herrschaft der Ureltern unterworfen habe: His datur omnis humus cum quicquid iussa creavit aeris et pelagi fetus, elementa duorum arbitrio commissa manent. und: nam totum quod terra creat, quod pontus et aer protulit, addictum vestro sub iure manebit 34 . Diese Aussagen haben nur einen Sinn, wenn die Tiere nicht vom Paradies ausgeschlossen waren 35 . Dracontius dürfte unter den Genesiskommentatoren in Wort und Bild allein stehen, wenn er den Vögeln den Eintritt ins Paradies verwehrt. Christliche Künstler haben das zukünftige Paradies des Himmels mit den gleichen Farben gemalt wie das urzeitliche Paradies, den Garten Eden. Dies bezeugen eindeutig Fresken in den Katakomben, Mosaiken und Reliefs36 . Einzelne christliche Dichter und Schriftsteller sind auch für die Gleichheit der beiden „glücklichen Orte“, loca felicia, eingetreten 37. Auf zwei aus der Spätantike erhaltenen bildlichen Darstellungen des Paradieses, einem Diptychon von Areobindus und einem zweiten im Museum von Florenz, leben im Garten Eden Tiere38 . Im Rankenwerk des Diptychons von Areobindus spielen zahlreiche Vögel. Auf die singuläre Abweichung bei Dracontius kann jedenfalls von der spätantiken christlichen Kunst kein Licht fallen. Ebenso wenig vermag die antike Tradition weiterzuhelfen. Tibull erwähnt den süßen Gesang der Vögel in den Elysischen Gefi lden 39 ; Vergleichbares teilt Claudian mit40 ; vom Tierfrieden im Goldenen Zeitalter spricht Pythagoras bei Ovid, wobei die Vögel an erster Stelle genannt sind41. Hingegen deutet das Fehlen der Vögel in der Antike auf einen schaurigen und unheimlichen Ort 42 . Selbst in der 33 Gen. 2,19; vgl. Cypr. Gall. Gen. 42–44, in: CSEL 23, 2 f.; Mar. Vict. 1,337–345, in: CCL 128, 141. 34 Laud. dei 1,402–404. 412 f. 35 Vgl. Carm. de resurr. 53, hrsg. von J. H. Waszink = Florilegium Patristicum, Suppl. 1 (Bonn 1937). – Die sachliche Schwierigkeit, woher Adam denn das Meer kennen könne, enthält bereits der alttestamentliche Bericht Gen. 1,26. 36 A. Dieterich, Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse (2. Aufl. Leipzig, Berlin 1913, Ndr. Darmstadt 1969) 45; H. Leclercq, Paradis, in: DACL 13,2 (1938) 1578–1615, bes. 1586–1590, Abb. 9701 f. 37 Prud. cath. 10,161–168; vgl. aber auch hamart. 839–862; ferner die Stellen bei Leclercq, a. O. (Anm. 36) 1595, Anm. 7. 38 Ebd. 1607. 1610. 39 1,3,59 f. 40 Carm. 10, 62–64. 41 Met. 15,99–103. 42 Claudian. rapt. Pros. 2,348 f.: tunc et pestiferi pacatum fl umen Averni / innocuae transistis, aves.
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Unterwelt sollten Vögel sein43 , und Ovid erfi ndet launig einen Jenseitsort für „fromme Vögel“44 . Wie bereits Empedokles mitteilt, lebten in der Goldenen Zeit Mensch und Tier friedlich miteinander45 . Eine Erklärungsmöglichkeit für die Abweichung von der Tradition bei Dracontius könnte man vielleicht in folgendem sehen: Bei Lukrez bedrohen wilde Tiere das Leben der Urmenschen und machen ihnen ihr Lager streitig46 . In der antiken Kulturentstehungslehre, die Laktanz vorträgt, sind die wilden Tiere der Anlaß, Städte und befestigte Plätze anzulegen47. Dracontius ist möglicherweise unter dem Eindruck derartiger Gedanken dazu gekommen, rigoros sämtliche Tiere aus dem Paradiese zu verweisen.
3. Wechsel von Tag und Nacht im Paradies? Eigenartige Vorstellungen fi nden sich auch im weiteren Verlauf der Beschreibung des Lebens der Ureltern im Paradies, so vor allem in folgenden Versen: . . .Mirata diem, discedere solem nec lucem remeare putat terrena propago solanturque graves lunari luce tenebras, sidera cuncta notant caelo radiare sereno. Ast ubi purpureo surgentem ex aequore cernunt luciferum vibrare iubar fl ammasque ciere et reducem super astra diem de sole rubente, nox revocata fovet hesterna in gaudia mentes; temporis esse vices noscentes luce diurna coeperunt sperare dies, ridere tenebras48 . Diese psychologisierende Beschreibung der Reaktion der Ureltern auf das Verschwinden der Sonne am Abend und des Erscheinens des Mondes sowie der Sterne in der Nacht paßt nicht zu den gewohnten Vorstellungen vom Paradies. Eine allgemein verbreitete antike und auch christliche Überlieferung spricht von der zeitlosen Lichtfülle, die den Aufenthaltsort der Seligen ver-
43 Apollon. Rhod. 4,599 f.; aufgenommen von Verg. Aen. 6,239 f.; vgl. E. Norden im Kommentar (3. Aufl. Leipzig 1927, Ndr. Darmstadt 1981) 201 f. zur Stelle; 1. Buch Henoch 18,12. 44 Ov. am. 2,6,49–58 (Gedicht auf den Papagei). 45 VS 31 B 130; vgl. auch Graf, a. O. (Anm. 21) 18. 20. 42 mit Hinweis auf Ov. met. 15,96– 103. 46 5,982–987. 47 Inst. 6,10,15, in: CSEL 19, 2, 516; ebenso bereits Plat. Protag. 322b. Zur Frage, wem diese Theorie gehört, vgl. Spoerri, a. O. (Anm. 7) 157 f. und ebd. Anm. 8 mit Nachtrag; Ders., Zu Diodor von Sizilien 1,7 f., in: Museum Helveticum 18 (1961) 63–82, bes. 79–81. 48 Laud. dei 1,417–426; vgl. auch Smolak, a. O. (Anm. 2) 393.
3. Wechsel von Tag und Nacht im Paradies?
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schönere. Dieses ewige Licht verträgt sich nicht mit dem Wechsel von Tag und Nacht unserer irdischen Welt. Auch der unbekannte Verfasser des Carmen de resurrectione schildert, obwohl er die Darstellung des Paradieses in den Laudes dei gekannt hat, eindringlich das Paradies als Ort des Lichtes 49 ; denn die Nacht, selbst wenn Mond und Sterne sie erhellen, ist für die Menschen gegenüber dem lichten Tag weit weniger erfreulich. Nicht umsonst bezeichnet Tertullian den Mond als „Trost für die Nächte“50 . Adam und Eva scheinen in den Laudes dei zudem über den Weggang des Himmelslichtes erschreckt und trösten sich darüber, indem sie auf den Tag warten und die Nacht verlachen. Diese seelischen Reaktionen passen aber nicht zum glücklichen und ungetrübten Leben im Paradies. Vielmehr hat hier Dracontius anachronistisch Züge des späteren Lebens der Stammeltern, nachdem sie Gott auf die infolge der Ursünde gewandelte Erde verjagt hatte, auf ihr Dasein im Garten Eden übertragen. Nicht zufällig zeigen diese Verse Anklänge an Lukrezens Darstellung von den Anfängen der menschlichen Kultur, die dieser nach Art der geschichtlich-evolutionistischen Kulturentstehungslehre bietet: Nec plangore diem magno solemque per agros quaerebant pavidi palantes noctis in umbris, sed taciti respectabant somnoque sepulti, dum rosea face sol inferret lumina caelo. a parvis quod enim consuerant cernere semper alterno tenebras et lucem tempore gigni, non erat ut fi eri posset mirarier umquam nec diffidere ne terras aeterna teneret nox in perpetuum detracto lumine solis51. Nicht ohne Kenntnis dieser Verspartie hat Manilius seinen kulturgeschichtlichen Abschnitt gestaltet: Nam rudis ante illos nullo discrimine vita. ... Et stupefacta novo pendebat lumine mundi, 49
V. 193–250 (Waszink), bes. 193–195: Est locus Eois Domino dilectus in oris lux ubi clara nitet spiratque salubrior aura, aeternaque dies atque inmutabile tempus. 197: beataque nimis sereno in cardine sedes 245: nox ibi nulla, sua defendunt astra tenebras. Vgl. Waszink zur Stelle; ferner Leclercq, a. O. (Anm. 36) 1597; Apoc. Petri 15 (2 5,576 Schneemelcher); Apoc. Pauli 51 (2 5,673 Schneemelcher); Theophil. ad Autol. 2,19; Iuvenc. 2,651 f., in: CSEL 24, 71; Drac. laud. dei 2,149 f. 50 Nat. 2,5,4, in: CCL 1, 48; ähnlich Novatian. trin. 1,2, in: CCL 4, 11; Aug. conf. 13,32; Aug. Gen. ad litt. 2,13 in: CSEL 28, 1, 53. 51 5,972–974. 976–981.
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tum velut amissis maerens, tum laeta renatis sideribus. . .52 Obwohl der christliche Dichter das astronomische Gedicht des Manilius ebensogut wie das Naturgedicht des Lukrez gekannt hat, dürfte er doch für die zuvor betrachteten Verse eher von der ausführlicheren Darlegung des Lukrez ausgegangen sein 53 . Wie aus den besprochenen Versen über das Leben der Stammeltern im Paradies ebenso wie auch aus anderen Abschnitten der Laudes dei zu ersehen ist, war Dracontius nicht immer in der Lage, das ursprünglich Christliche in seiner reinen Gestalt festzuhalten. Zum einen lag dies an seiner Herkunft aus der paganen Bildungstradition 54 , zum anderen wohl auch an seiner Rücksicht auf die erhofften oder tatsächlich auch vorhandenen paganen Leser. Beides hat ihn zu dieser Mischung von inhaltlichen – und nicht nur stilistischen sowie formalen – antiken Reminiszenzen mit dem christlichen Glaubenserbe geführt, zu dem natürlich auch das Alte Testament, insbesondere das Buch Genesis, gehört. Insofern erscheint der Bibeldichter Dracontius wie nicht wenige andere christliche Schriftsteller der Spätantike als ein „Wanderer zwischen zwei Welten“. Diese Spannung zwischen Antike und Christentum liegt als Schatten über der gesamten abendländischen Kultur und ist bis heute wirksam.
52 1,66–71; zu den Quellen des Manilius und seinen Abweichungen von der Auffassung des Lukrez (z. B. 1,69 widerspricht Lucr. 5,972) vgl. J. van Wageningen, Commentarius in M. Manilii Astronomica = Verhandel. d. Kgl. Akad. d. Wetensch. Amsterdam, Letterk., N. R., 22,4 (1921) zur Stelle und die Literatur bei Spoerri, a. O. (Anm. 7) 134, Anm. 12 mit Nachtrag. 53 Die gleichen Quellen wie für Dracontius kommen auch für Stat. Theb. 4,282–484 in Betracht: hi [sc. Arcades, die nach einer Überlieferung als die ältesten Menschen galten] lucis stupuisse vices noctisque feruntur / nubila et occiduum longe Titana secuti / desperasse diem; vgl. E. K. Rand, Founders of the Middle Ages (New York 1928, Ndr. 1957) 202, Anm. 36; Camus, a. O. (Anm. 1) zur Stelle (S. 297). 54 Moussy, a. O. (Anm. 1) 56–64 verweist auf folgende von Dracontius benutzte Dichter: an erster Stelle Vergil, Ovid, Lukan, Statius, Juvenal, Claudian, an zweiter Stelle Lukrez, Catull, Horaz. Daraus ist zu ersehen, daß die inhaltliche Auseinandersetzung des Dracontius in den Laudes dei mit Lukrez bisher noch nicht hinreichend gewürdigt wird.
18. Zum antiken Hintergrund der Ikone Die verschiedenartige Aufnahme des christlichen Glaubens in den antiken Hochkulturen und in den Ursprungskulturen am Rande des Imperium Romanum, vor allem im Norden und Süden, sowie die verschiedenartige Ausprägung des Christlichen in den unterschiedlichen Kulturen der antiken Welt bestätigen die Annahme eines Kulturgefälles bei den verschiedenen Völkern des Altertums und darüber hinaus die Annahme verschiedener Mentalitäten oder Bewusstseinslagen. So kam es bei der Christianisierung germanischer Stämme vor allem darauf an, den König und die Vornehmen für den neuen Glauben zu gewinnen. Nahmen diese die Taufe an, so folgte das Volk. Der bekannteste Fall ist die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig. Anders musste die frühchristliche Mission in der hellenisierten römischen Welt vorgehen, einer Welt der Städte und damit auch eine Welt des Privaten. Hier hatten die Missionare den Einzelnen zu gewinnen, welchem Stand er auch immer angehören mochte. Diese Vereinzelung mit ihrer Loslösung aus Sippe und Stamm führte zugleich zu einer Subjektivierung und damit zu einer stärkeren Differenzierung. Die Folgen waren ein der Gegenwart vergleichbarer Pluralismus der Religionen und der philosophischen Weltdeutungen. Dieser Prozess ereignete sich zunächst im Reich Alexanders des Großen, der Orient und Okzident zu verschmelzen versucht hat, und darauf im römischen Westen. Ausgelöst hat diese Entwicklung der innere und äußere Zerfall der griechischen Polis der archaischen und der klassischen Zeit. Der Niedergang der griechischen Polis, die sich als eine von Religion und Kult gebundene und geeinte überschaubare Gemeinschaft verstand, begann mit dem Auftreten der Sophisten, die während des 5. Jahrhunderts v. Chr. zum ersten Mal in Europa und im Geistesleben der Menschheit überhaupt eine kritische Aufklärung über Welt und Mensch durchzuführen versuchten. Den politischen Niedergang der Polis haben der Peloponnesische Krieg und die Makedonenkönige Philipp und Alexander sowie deren Erben, die Diadochen, vollendet. Nunmehr zerfiel das Leben mehr und mehr in eine allein vom König bestimmte Öffentlichkeit und in das Privatleben der Vielen, die von der Leitung des Gemeinwesens ausgeschlossen waren. Dieser Prozess, der während des 4. Jahrhunderts v. Chr. beginnt und in der Folgezeit anhält, wiederholte sich im Westen mit dem Aufstieg Roms nach den Karthagischen Kriegen zur Hauptmacht im Mittelmeergebiet. Aus der zunächst kultisch gebundenen römischen
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18. Zum antiken Hintergrund der Ikone
Res publica libera entstand die hellenistisch geprägte Staatsform der Alleinherrschaft eines einzelnen, zunächst in Gestalt der großen römischen Feldherrn des 1. Jahrhunderts – hier ist vor allem an Sulla und Marius, Pompeius und Cäsar zu denken – und sodann ohne tieferen Bruch der ihnen folgenden Cäsaren. Infolge dieser neuen Staatsform der Alleinherrschaft, die sich von Anfang an, seit Alexander, einen sakralen Nimbus zulegte, der hellenistischen Monarchie, des römischen Prinzipats und Dominats, wurde das Volk aus der Mitwirkung und Verantwortung für die noch immer kultisch geprägte politische und rechtliche Gemeinschaft auf ihr privates Dasein zurückgeworfen. Auch die seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. steigende Bevölkerungsanzahl sorgte dafür, dass der alte überschaubare Kultverband der Polis im Osten wie im Westen bald zu seinem Ende kam. Die Polis war so vom Königreich und vom römischen Imperium abgelöst worden. Die neue religiöse Form des Herrscherkultes, der mit der Orientalisierung der griechischen Kultur in der Epoche Alexanders und der Diadochen entstanden war, konnte die religiösen Wünsche der Vielen nicht zufrieden stellen. Die seit der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. in ein neues Stadium getretene Reflexion und Kritik, die vor den überlieferten Religionsinhalten und Religionsformen nicht Halt machte, erfassten in der Folgezeit durch weitere Verbreitung der Bildung und durch ein bereits verzweigtes Buch- und Bibliothekswesen größere Bevölkerungskreise in den Städten. Religions- und Götterkritik untergruben hier die alten traditionellen Religionsformen und damit auch den Staatskult. Auf diese geistesgeschichtlichen Wandlungen versuchten die im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Philosophenschulen zu antworten. Diejenigen Philosophenschulen, die wie die platonische, aristotelische und stoische Schule über die größte Resonanz verfügten, gingen von der religiösen Anlage des Menschen aus. Die Göttlichkeit der Welt, des Universums, des Kosmos und damit auch des Menschen als der kleinen Welt war für sie unbestritten. Nicht zufällig traten im Späthellenismus und in der römischen Kaiserzeit die neupythagoreischen Philosophen als Erneuerer einer alten religiös gebundenen Schule auf, eben der des Pythagoras, dessen Denken im Werk Platons tiefe Spuren hinterlassen hat. Sowohl die platonische als auch die stoische Schule waren religiös geprägt. Der die ganze Antike als Grund- und Ausgangslage bestimmenden Religiosität konnte sich auch die peripatetische und selbst auch die epikureische Schule nicht entziehen. Sie mussten auf die religiöse Anlage des Menschen Rücksicht nehmen. Abseits stand nur die wenige Anhänger zählende skeptische Richtung. Alle Philosophenschulen außer der skeptischen sahen sich genötigt und wollten auch in wachsendem Maße dem Einzelnen auf seine religiösen Sehnsüchte, Wünsche und Fragen antworten. Damit berührten sie sich mit den Mysterienkulten, deren Wurzeln in Griechenland teilweise bis in das 2. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen, wie dies bei
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den Demeter/Persephone-Mysterien in Eleusis bei Athen der Fall ist, die einen unmittelbaren Bezug zur frühen Kulturstufe des Ackerbaus haben, und wohl auch bei den Dionysos/Orpheus-Mysterien. In der klassischen und nachklassischen Zeit Griechenlands versuchten die Mysterien auf ihre mythischsymbolische Weise ähnlich wie die Philosophenschulen dem Einzelnen sein Heil zu verschaffen. Im Gegensatz zu Skeptikern und Epikureern war der Glaube an ein Jenseits mit Weiterleben des Einzelnen allgemein anerkannt und weit verbreitet. Der Totenkult mit Grabdenkmälern und Grabinschriften beweist dies. Als ein verbindendes Glied zwischen Mysterienkult und Philosophenschule religiöser Prägung darf der symbolisch gedeutete Mythos gelten: nach Inhalt und Bedeutung in der Philosophenschule bedacht vor allem der Platoniker, der Mittel- und Neuplatoniker, sinnenhaft vollzogen in den erlebnisstarken Riten der Mysterienkulte. Auch Philosophen ließen sich bis in die Spätantike in Mysterien einweihen und zeigten damit die innere Nähe beider Ausprägungen des griechischen Geistes an. Für die Religion der Griechen war seit frühester Zeit die Erfahrung des Göttlichen durch den Augensinn wesentlich. Die Göttlichkeit des Kosmos und seiner Erscheinungen erschloss sich ihnen primär durch das Sehen. Anders erlebten die Römer das göttliche Walten. In dieser Hinsicht zeigen sie eine gewisse Nähe zu den alten Hebräern. Das Göttliche erfuhren die Römer vornehmlich als ein Sprechen und zwar als ein willentlich bestimmtes Sprechen. Insofern besaß bei ihnen der Hörsinn als Organ der Gotteserfahrung ein Übergewicht. Das fatum, die fata, also der Götterspruch, die Göttersprüche, leiten sich von lateinisch fari, sprechen, her. Gewiss gab es in Griechenland zahlreiche Orakelstätten, die teils in das vorgriechische Substrat der Urbevölkerung zurückreichen. So ist der Name der weissagenden Sibylle vorgriechisch. Trotzdem blieben die Griechen stets die Sehend-Schauenden, deshalb auch die plastisch und malerisch Gestaltenden. Während die bildende Kunst bei den Griechen zur höchsten und reifsten Blüte gelangt ist, fehlt sie den Römern zunächst weitgehend. Die Gestalt, die Gestalten der Physis, der Schöpfung, und nicht zuletzt die menschliche Gestalt als das eigentliche Gotteswerk und Abbild des göttlichen Geistes in dieser Welt, blieb für das sinnenhafte und geistige Erleben der Griechen bestimmend. In der Epiphanie, der Erscheinung, der göttlichen und zugleich menschlichen Gestalt, des ePdo: – daher die platonische Idee – erlebten sie die segensvolle und heilkündende, die heilverheißende Gegenwart des Göttlichen als eines Gottes oder einer Göttin. In den griechischen Mysterien und hier an erster Stelle in den Demeter/ Persephone-Mysterien von Eleusis nahm das Sehen der rituellen Handlungen, zu denen wohl unter anderem auch der dramatisch dargestellte Mythos von der Demetertochter Persephone und ihrem Raub durch Pluton gehörte, den ersten Platz ein. Auf dem Höhepunkt der Riten wurde den Mysten eine gol-
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dene Ähre gezeigt, die Gabe der Demeter und das Unterpfand der eigenen Unsterblichkeit. Auch die Heilige Hochzeit von Himmelsgott und Erdgöttin, von Zeus und Hera/Demeter, und die Identifi kation des einzelnen Mysten mit dem Geschick der Persephone und dem Weizenkorn, das in die Erde gesenkt wird, stirbt und wiederauflebt, gehört zu den sichtbaren rituellen Handlungen, den dr7mena. Die mythische, außer- und übergeschichtliche Dimension bestand darin, dass der Mythos von Demeter/Persephone im Ritus der Mysterien Gegenwart wurde und Gegenwart war, so sehr Gegenwart, dass der Myste sich mit Persephone nicht nur selbst identifi zierte, sondern im Ritus identifiziert war. Der Raub der Persephone durch Pluton bedeutete den Schritt vom Diesseits ins Jenseits. Diesen Schritt vollzog der Myste im Ritus und dieser Schritt wurde an ihm vollzogen. Die Mysten erlebten das Jenseits in seiner Ambivalenz von Himmel und Hades, von Ort der Beseligung und Ort der Strafe; denn sie nahmen ganz konkret Teil am Geschick von Persephone, der geraubten und in den Hades verbrachten Göttin, die nach einer gewissen Frist wieder zum Licht gelangt, oder am Geschick des getöteten und wieder auflebenden Dionysos oder Osiris in den Dionysos- und den Isis/Osirismysterien. Dieses Innewerden der beschriebenen Jenseitserfahrung und Jenseitsschau halten wohl die Mumienporträts Ägyptens fest. In ihnen sind Menschen dargestellt, die bereits einen Blick ins Jenseits getan haben und die dort antreffbare göttliche Wirklichkeit schauen durften. In ihren Augen, in ihren Gesichtszügen spiegelt sich trotz aller Individualität der Widerschein einer anderen Welt. Sie erscheinen als initiierte, ja als adoptierte Söhne und Töchter der Mysteriengottheit, die immer zugleich eine Jenseitsgottheit ist, wie in Eleusis Demeter/ Persephone und in Ägypten Isis und Osiris, wobei Isis der griechischen Demeter entspricht. Ein Zusammenhang zwischen griechischen und ägyptischen Mysterien dürfte seit früher Zeit bestanden haben. Wahrscheinlich reicht dieser Zusammenhang bis in die vorgriechische Zeit zurück und betrifft das mediterrane Kultur-Substrat, in dem der Muttergottheit ein größerer Platz eingeräumt war als in der indogermanischen Zeus-Religion, einer Religion des Himmels und des Vaters. Demeter und Isis erscheinen dabei als geschichtlich bedingte Derivate der alten mediterranen ‚Großen Mutter‘ oder Erdgöttin. Noch Herodot berichtet im 5. Jahrhundert v. Chr. von der Abhängigkeit der Eleusinischen Mysterien von Ägypten: Historien 2,171,3 teilt er Folgendes mit: „Die Töchter des Danaos, die Danaiden, waren es, die die Weihe von Eleusis aus Ägypten gebracht haben und die pelasgischen Frauen gelehrt haben. Nach der Vertreibung der ganzen Peloponnes [d. h. ihrer Einwohner] durch die Dorer ging die Weihe zugrunde. Die übriggebliebenen Peloponnesier und die nicht vertriebenen Arkadier haben sie allein bewahrt.“ Bemerkenswert ist bei Herodot die Betonung des weiblichen Elements sowohl in den Weihen als auch in den Trägerinnen der Weihen: den pelasgischen Frauen. Die Pelasger zählen neben
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Karern und Lelegern und anderen Völkern zu den Ureinwohnern der Länder, in die die Griechen aus dem Norden eingedrungen sind. Tatsächlich besaß die Frau in der mediterranen Urbevölkerung in Religion und Gesellschaft einen weit mächtigeren Platz als nach den patriarchalisch geprägten griechischen Einwanderungswellen. Dafür zeugt in klassischer Zeit noch Aischylos mit seiner Orestie. Wenn im Christentum die Gottesgebärerin Maria nicht zuletzt in den Ikonen und in der Frömmigkeitsgeschichte einen so herausragenden Platz gewinnt, so dürfte dies auch mit dem Wiederaufleben ganz früher Erlebnisbereiche in einer gewandelten späteren Kultur zusammenhängen. Die Vorstellung der Muttergottheit, die gleichberechtigt, wenn nicht sogar gegenüber dem Vatergott übergewichtet war, konnte zurückgedrängt, aber niemals ganz überwunden werden. Die Geschichte der Marienfrömmigkeit, die in Byzanz zu einem gewichtigen Teil auch die Geschichte der Ikone ist, müsste von diesen Voraussetzungen, die im vorindogermanischen Substrat der antiken Mittelmeervölker ihren Wurzelgrund besitzen, neu bedacht werden. Eine derartige Betrachtung hätte wohl auch Auswirkungen auf die christliche Theologie. Von der Einheit des mediterranen Kulturraums und von seinen verschiedenen Schichtungen und Mischungen ist auszugehen. Dann zeigt sich, dass die griechische Kultur wie jede Hochkultur nicht nur aus einer völkischen Wurzel, der ursprünglichen stammesmäßigen Herkunft, gespeist ist, sondern das Ergebnis mannigfacher Völker- und Kulturmischungen ist. Die innere Verwandtschaft aller Mysterien des Altertums ist jedenfalls unabweisbar. In ihnen geht es um das eine zentrale Geheimnis des Menschen, um sein Leben und seinen Tod und um die Überwindung seines Todes durch göttliche Hilfe. Sowohl die Dionysisch/Orphischen als auch die Eleusinischen Mysterien zeigen mit denen der Isis und Osiris Verwandtschaft. Die tiefste Gemeinsamkeit besteht darin, dass der Myste, wie es bei Apuleius in seinen Metamorphosen heißt (11. Buch, Kap. 23), an die Grenze des Todes gelangt und die Schwelle der Proserpina, d. i. der Persephone, betritt und in das Jenseits einen Einblick erhält. In den Mysterien erfuhren so der Myste – wir wissen nicht wie – die Nähe nicht nur des Todes, sondern den Überschritt ins Jenseits. Wollen wir uns diese Erfahrungen des Mysten näher bringen, so können wir an das Nahtoderlebnis anknüpfen, über das vor allem heute Selbsterfahrungsberichte vorliegen. In jenen Jahrhunderten einer bereits entfalteten Geistigkeit konnte der Tote, der durch sein Ableben in ein höheres Dasein getreten war, selbst als Myste gelten; denn jeder Tote nahm wie der Myste am Geschick des getöteten Gottes teil. Die Vorstellung vom getöteten und wiederauflebenden Gott war nicht nur auf die Mysterien beschränkt. Hierbei handelt es sich um eine Uranschauung, die täglich, monatlich und jährlich aus dem Schauspiel von Tag und
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Nacht, von Vollmond und Neumond, von Sommer und Winter Nahrung ziehen konnte. Wie hieraus zu ersehen ist, besitzen die tragenden religiösen Vorstellungen und Anschauungen ihr Fundament in der uns sinnenhaft zugänglichen Wirklichkeit. Schließen wir aus den Mumienporträts auf die Mysten und von den Mysten auf die Mumienporträts, so spricht aus ihnen ein Staunen über das tiefe Geschenk des Lebens auf der neuen Stufe nach dem Tod. Für diese Menschen erschien der Tod als eine neue Geburt zu einem neuen Licht-Land. Blicken wir von den Mysterien wieder auf die ihnen innerlich am nächsten stehenden Philosophenschule, so war dies die platonische. Zwei Punkte sind für diese innere Nähe aufschlussreich: einmal die Verwendung der Mysterienterminologie, einer religiösen Fachsprache, bei Platon und den Neuplatonikern, sodann der bei Platon im Siebten Brief angedeutete Aufstieg des Einzelnen zu einer Licht-Vision, zur platonischen Licht-Metaphysik und zur Schau des Göttlichen überhaupt, wie es dann vor allem aus dem Leben Plotins und Porphyrios’ bekannt ist. Alle religiöse Philosophie – und die platonische Philosophie ist dies in hervorragender Weise – enthält in sich das Moment des Überstiegs aus dem Diesseits ins Jenseits. Das für das griechische Erleben so kennzeichnende Schauen verbindet die platonische Philosophie mit den Epopten, den Schauenden, dem höchsten Mysten-Grad in den Eleusinischen Mysterien. Beide, platonischer Philosoph und Myste, versuchen als Menschen den Weg zur Gottheit zu fi nden. Die Initiative ergreift der Mensch. Dies ist antik: alle Erlösung geht hier vom Menschen aus. Demgegenüber steht das Christentum mit seinem Glauben an Jesus Christus und mit seiner Lehre von der Menschwerdung des einen transzendenten Schöpfergottes in Jesus Christus. In diesem christlichen Zusammenhang geht alle Erlösung allein von Gott aus. Gott wendet sich zum Menschen, den er mit der Erlösung gnadenhaft beschenkt. Ob sich dieser Unterschied von Aufstieg des Menschen zu Gott und von Abstieg Gottes zu den Menschen auch im Unterschied von Mumienporträt und Ikone aufweisen lässt? Paulus und seine Mitarbeiter, die aus dem hellenistischen Judentum kamen, hatten des junge Christentum aus seiner judenchristlichen Enge befreit und die Grundlagen für die Entfaltung zu einer alle Völker umfassenden Religion gelegt. Dieses Ziel konnte das Christentum nur erreichen, wenn es Einiges aus seiner jüdischen Vergangenheit aufgab. Dazu gehörte auch der durch das Bilderverbot des Dekalogs vorgeschriebene Verzicht auf das Bild, wobei hier allerdings unter Bild ursprünglich das plastisch geformte Kultbild, wie es die Nachbarn Israels verehrten, gemeint war. Aus der Hörkultur des alten Israel trat das junge paulinische Christentum in den Bildersaal von Hellas mit seinen Plastiken und Malereien in den verschiedenen Techniken. Hier kann nicht auch nur umrisshaft auf die Geschichte der altkirchlichen Kunst eingegangen werden. Es sollen vielmehr nur Nähe und Ferne von anti-
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ker und christlicher Kunst betrachtet werden. Vergleichen wir die Mumienporträts mit den Ikonen, so könnte man überlegen, ob nicht die Mysten und die vergöttlichten Toten ins Jenseits blicken, während Christus und seine Erlösten, die Heiligen mit Einschluss der Gottesmutter, auf den Mosaiken und Ikonen aus dem Jenseits uns anblicken und zwar auch prüfend. Dass die christliche Kunst die technischen Mittel der Antike zur Bildherstellung weiter verwendet und nur den Inhalt materialmäßig geändert habe, dürfte eine zu oberflächliche Annahme sein. Hier hat sich mehr geändert: Der Geist von Antike und Christentum ist verschieden, mag es auch viele Grade der Annäherung zwischen beiden geben; denn sonst wäre auch der Mysterieninhalt mit dem Inhalt des Abendmahles und seiner Fortsetzung in der Eucharistiefeier identisch. Natürlich gab es und gibt es Forscher, die dies behaupten und behauptet haben. Sonst sprächen diese nicht bei den antiken Sachverhalten der Mysterien von Sakrament. Die Identifi kation der Mysten mit dem Geschick der Mysteriengottheit oder den Mysteriengottheiten, war etwas Anderes als die Identifikation eines Christen mit Christus. Der Unterschied liegt darin, dass die Mysteriengottheit einen Aspekt des von den Griechen verehrten göttlichen Kosmos ausprägt, dass Jesus Christus aber, der ‚Sohn‘ des transzendenten Schöpfergottes, mit diesem wesensgleich ist. Die Sicherheit für diesen Glauben liegt in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Insofern war und ist Jesus Christus mit seinem Leben, Leiden, Tod und Auferstehung ein anderes Unterpfand der Hoffnung als das Geschick einer Mysteriengottheit, die letztlich die immerwährende Wiederkehr des Gleichen im Zyklus des göttlichen Kosmos und damit der Jahreszeiten darstellt: Leben und Tod als Spiegel von Frühling/ Sommer und Herbst/Winter. Wie sich Jesus Christus wesenhaft von den Mysteriengottheiten unterscheidet, so die Ikone von den Mumienporträts. Der Begründer des christlichen Glaubens ist der tragende Grund für die neue, die christliche Kunst. Wird sie ihrem Auftrag gerecht, so muss auf ihr stets ein Schimmer der Auferstehung Christi, seiner gott-menschlichen Natur, liegen. Neben dem Mysten der Mysterien, neben dem Porträt des vergöttlichten Toten, dem Mumienporträt, gibt es noch eine weiter Annäherung zwischen einer antiken Bildnisform und der Ikone. Diese Brücke führt zum spätantiken Bildnis des Herrschers und des Philosophen, wie es in Mosaiken und Malereien, so in der konstantinischen Deckenmalerei von Trier, noch heute zu sehen ist. Infolge der Vergeistigung, die der Mittel- und der Neuplatonismus mit sich gebracht haben, zeigt sich seit dem Ende des 3. Jahrhunderts nicht nur eine neue Art der Monumentalisierung des menschlichen Gesichtes, wie diese beispielsweise das Kolossalhaupt Konstantins im Konservatorenpalast, Rom, aufweist, sondern auch eine Art von Geschichts- und Zeitlosigkeit im hieratischen Ausdruck. Hier ist auch der Himmelsblick, ein Jenseitsblick, des Dar-
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gestellten aufschlussreich: der Herrscher erscheint als Visionär. So erscheint seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts n. Chr. in einzelnen Bildnissen ein von Jenseitigkeit geprägter Ausdruck. In ihm liegt Verklärung und Erhabenheit. Es ist der Ausdruck der Heiligkeit, deren Träger besondere Menschen sind. Der göttliche Herrscher und der Herrscher von Gottes Gnaden sowie der göttliche Philosoph der Heiden und der christliche Heilige werden seit dem Ausgang des 3. Jahrhunderts vor allem im Osten für viele, Altgläubige und Christen, zur maßgebenden und richtungweisenden Ausprägung des Menschen überhaupt. Der Zeitgeist dieser Jahrhunderte, die unmittelbar in das christliche Mittelalter führen, ist von Jenseitigkeit und vor allem vom Wunder, also von der Durchlässigkeit des Diesseits ins Jenseits, bestimmt. Der Reliquienkult, zugleich ein Totenkult, mit seinen Wundern zeigt dies ebenso wie die Berichte über die ‚göttlichen‘ Menschen der Heiden und die christlichen Heiligen der Spätantike. Der neuplatonische Theurg, der sich in seinem geistigen Ahnen Pythagoras als dem religiösen Philosophen schlechthin spiegelt, wie dies Porphyrios und Jamblich in ihrem Leben des Pythagoras dargelegt haben, bestimmt die Zeit ebenso wie bei den Christen die asketische Weltentrücktheit der Mönchsväter Syriens, Palästinas, Ägyptens und angrenzender Länder, zu denen viele Christen aus dem Westen im 4. und 5. Jahrhundert pilgern. Der Herrscher von Gottes Gnaden zeigt sich in den monumentalen Bildern in Plastik, Malerei und Mosaik ebenso vom Strahl des Jenseits getroffen wie der neuplatonische Philosoph und Theurg und der heilige Mönchsvater. Die Spätantike als die Zeit eines gewissen Ausgleichs zwischen Antike und Christentum offenbart sich darin gerade im Bildnis des heiligen Menschen, der nunmehr nicht mehr wie in den Mumienbildern nur mehr als Einzelner, als Individuum, erscheint, sondern zugleich auch als Repräsentant eines religiösen Typos, des von Gott erwählten und erleuchteten Herrschers und seiner Gemahlin, des ‚göttlichen‘ Philosophen oder des asketischen Mönchsvaters und des Heiligen beiderlei Geschlechts. Von diesen vier Typen des Bildnissen des heiligen Menschen laufen zur Ikone wohl die engsten Fäden. Das herrscherliche Moment prägt vor allem die Ikonendarstellung des Christus als Pantokrator aus sowie der Gottesmutter Maria, die mit dem Glanz der byzantinischen Kaiserin von Gottes Gnaden umflossen ist. Die männlichen und weiblichen Heiligen auf den Ikonen sind einerseits von Darstellungen des Hofgefolges geprägt und zwar eines Hofes, der wie der des Kaisers Theodosios II. und seiner Gemahlin Athenais-Eudokia in der Mitte des 5. Jahrhunderts in Konstantinopel zu einem klosterartigen kaiserlichen Hof geworden war. Hatten wir zuvor die Ikone inhaltlich vom Mumien- und Mystenporträt aufgrund von dessen rein antiken Voraussetzungen trennen müssen, so sehen wir jetzt in den spätantiken Jahrhunderten – vom späten 3. Jahrhundert an –, in einer Epoche, in der Platonisch/Neuplatonisches sowie Neupythagoreisches
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mit Christlichem oft Hand in Hand gehen, wie sich aus dieser rationalen und zugleich auch wieder mythisch und mystisch geprägten Geistigkeit die Ikone auferbaut hat. Sie ist demnach eine voraussetzungsreiche Kunstform, die einen Wurzelgrund in der Antike besitzt, also als Ganze kein rein christliches Gebilde ist. Eine christliche Kunst ist ebenso wie eine christliche Philosophie eine Erscheinung, die nur möglich wurde, weil das Evangelium seinen Weg über die Kultur Griechenlands genommen hat. Aus dem Evangelium selbst führt unmittelbar kein Weg zur Ikone und ebenso wenig zu einer christlichen Philosophie. Hatte die Ikone für viele Jahrhunderte das Profan-Individuelle zurückgedrängt, so führte die Hereinnahme des Profan-Individuellen und des Persönlich-Geschichtlichen in der italienischen Frührenaissance nicht nur zum Untergang der Ikone, sondern allmählich auch zum Untergang einer wahrhaft christlichen, einer spirituellen Malerei. Die in der Neuzeit seit dem Quattrocento mehr und mehr dargestellte profane, geschichtlich geprägte Individualität tendierte allmählich zu einer geradezu in sich abgeschlossenen und sich selbst genügenden Diesseitigkeit, jedenfalls in der Mehrzahl der Werke der hohen und offi ziellen Kunst. Seit dieser Zeit erlischt zumeist der Schimmer einer anderen, einer höheren Welt in den Bildnissen Jesu Christi und seiner Mutter sowie der heiligen Personen des Alten und des Neuen Testaments sowie der christlichen Heiligen.
Bibliographische Nachweise 1. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums: Philotheos, International Journal for Philosophy and Theology 5 (2005) 139–153. 2. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens: Hairesis, Festschrift K. Hoheisel = Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 34 (Münster, W. 2002) 456–463. 3. Der Gott des Universums und die Vierheit: Alvarium, Festschrift Ch. Gnilka = Jahrbuch für Antike und Christentum, Erg.-Bd. 33 (Münster, W. 2002) 335–343. 4. Gewalt und Weltbild. Zum Verständnis grausamen Tötens im Altertum: J. Styka (Hrsg.), Violence and aggression in the ancient world = Classica Cracoviensia 10 (Kraków 2006) 185–201. 5. Die Offenbarungsübermittlung und ihre Formen als mythische und geschichtliche Anschauung: Grazer Beiträge 24 (2005) 31–43. 6. Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes. Zu einer abendländischen Offenbarungsvorstellung: Th. Krisch / Th. Lindner / U. Müller (Hrsg.), Analecta homini universali dicata, Festschrift O. Panagl, Bd. 1 (Stuttgart 2004) 425–436. 7. Zu den antiken Mysterienkulten, neu. 8. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum, neu. 9. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum: J. Korpanty / J. Styka (Hrsg.), Freedom and democracy in Greek literature, Festschrift R. Turasiewicz = Classica Cracoviensia 6 (Kraków 2001) 163–179. 10. Die Stadt als Inbegriff der menschlichen Kultur in Realität und Symbolik: J. Styka (Hrsg.), Studies of Greek and Roman civilization = Classica Cracoviensia 4 (Kraków 1998) 125–142. 11. Reale und ideale Ökumene in der griechischen und römischen Antike: Wiener Studien 114 (2001) 449–462. 12. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen: Europäische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im (Musik)Theater: Der Trojanische Krieg. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposion 2000 = Wort und Musik 51 (Salzburg 2002) 117–134.
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Bibliographische Nachweise
13. Voraussetzungen platonischen Philosophierens: Zeitschrift für Ganzheitsforschung N. F. 47 (2003) 131–144. 14. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker: R. von Haehling (Hrsg.), Griechische Mythologie und frühes Christentum (Darmstadt 2005) 65–84. 15. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums: J. Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament = Quaestiones Disputatae 190 (Freiburg, Basel, Wien 2001) 11–38. 16. Der christliche Heilige der Spätantike. Wesen, Bedeutung, Leitbild: J. Dummer / M. Vielberg (Hrsg.), Leitbilder in der Diskussion = Altertumswissenschaftliches Kolloquium Bd. 3 (Stuttgart 2001) 79–92. 17. Das Leben im Garten Eden nach Dracontius: J. M. Carrié / R. Lizzi Testa (Hrsg.), ‚Humana sapit‘. Études d’antiquité tardive, Festschrift L. Cracco Ruggini = Bibliothèque d’Antiquité Tardive, vol. 3 (Turnhout, Belg. 2002) 277–282. 18. Zum antiken Hintergrund der Ikone, neu.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer Ein * bezeichnet die Arbeiten, die in dem unter Nr. 117 aufgeführten Band enthalten sind, ** die Studien, die in dem unter Nr. 150 genannten Band zusammengefasst sind, *** die Aufsätze, die in der unter Nr. 168 aufgeführten Sammlung vereinigt sind, und **** die Ausführungen, die in der unter Nr. 212 verzeichneten Sammlung aufgenommen sind. 1956 1.
Zur Verschwörung des Cn. Cornelius Cinna: Rheinisches Museum 99 (1956) 277–284. 1959
2. 3.
Naucellius und sein Kreis. Studien zu den Epigrammata Bobiensia = Zetemata 21 (München 1959) 128 S. Varronische Studien II = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, geistes- u. sozialwissenschaftliche Klasse 1959, Nr. 11, 26–57. 1960
4.
Rez. von: Albert Esser, Cäsar und die julisch-claudischen Kaiser im biologisch-ärztlichen Blickfeld (Leiden 1958): Historische Zeitschrift 191 (1960) 114–116. 1962
5. 6.
Rez. von: Jacques Moreau, Die Christenverfolgung im römischen Reich (Berlin 1961): Historische Zeitschrift 195 (1962) 720 f. Rez. von: Peter Sattler, Augustus und der Senat (Göttingen 1960): Historische Zeitschrift 194 (1962) 739. 1963
7. 8. *9. 10.
Herausgabe von: Epigrammata Bobiensia (Leipzig 1963) XVII, 105 S, tab. XXII. Addenda zur Editio Teubneriana der Epigrammata Bobiensia: Helikon 3 (1963) 448–453. Zu den Vorwürfen der Heiden gegen die Christen: Jahrbuch für Antike und Christentum (JbAC) 6 (1963) 129–235. Rez. von: D. Kuijper, Varia Dracontiana (Diss. Amsterdam 1961): Gymnasium 70 (1963) 166–168.
294
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
1964 11. 12. 13. *14. 15. 16.
Herausgabe von: G. Pico della Mirandola, Carmina Latina (Leiden 1964; Nachdruck Torino 1972) X, 60 S. Die unbekannte Epitome des Dictys Cretensis im Codex Brixiensis 691: Rheinisches Museum 107 (1964) 76–92. Zu einem Quellenproblem bei Sidonius Apollinaris (carm. 15, 36–125): Hermes 92 (1964) 225–248. Octavius, der Dialog des Minucius Felix: Fiktion oder historische Wirklichkeit?: JbAC 7 (1964) 45–51. Rez. von: Dieter Timpe, Untersuchungen zur Kontinuität des frühen Prinzipats (Wiesbaden 1962): Historische Zeitschrift 198 (1964) 373 f. Rez. von: Vinzenz Buchheit, Studien zum Corpus Priapeorum (München 1962): Göttingische Gelehrte Anzeigen 216 (1964) 149–154. 1965
*17.
18. 19.
Religiöse Pseudepigraphie und literarische Fälschung im Altertum: JbAC 8/9 (1965/66) 88–125 = N. Brox (Hrsg.), Pseudepigraphie in der heidnischen und jüdisch-christlichen Antike = Wege der Forschung 484 (Darmstadt 1977) 195–263. Rez. von: Jochen Bleicken, Senatsgericht und Kaisergericht (Göttingen 1962): Historische Zeitschrift 200 (1965) 375 f. Rez. von: Johannes Norkus, Die Feldzüge der Römer in Nordwestdeutschland in den Jahren 9–16 n.Chr. von einem Soldaten gesehen (Hildesheim 1963): Historische Zeitschrift 201 (1965) 734. 1966
20.
21. 22.
Die vollständige Vita Ioannis Ioviani Pontani auctore Fabio Pontano im Codex Spoletinus 163: Rinascimento 17 (1966) 233–257; Addendum: ebd.18 (1967) 329. Rez. von: Eckart Olshausen, Rom und Ägypten von 116 bis 51 v. Chr. (Diss. Erlangen – Nürnberg 1963): Historische Zeitschrift 202 (1966) 215. Rez. von: Otto Seel, Römertum und Latinität (Stuttgart 1964): Historische Zeitschrift 203 (1966) 379–381. 1967
*23. *24. 25.
26. 27.
28.
Der Tod der Salome: JbAC 10 (1967) 176–180. Der bisher älteste lateinische Psalmus abecedarius. Zur Editio princeps von R. Roca-Puig: ebd. 211–216. (mit Ilona Opelt) Artikel Barbar: ebd. 251–290, Nachdruck: Reallexikon für Antike und Christentum (RAC) Suppl. Bd. 1, Lief. 5/6 (1992) 811– 895. Ein angebliches Zeugnis für die Doctrina apostolorum oder Pelagius bei Pseudo-Hieronymus: Vigiliae Christianae 21 (1967) 241–246. Rez. von: Joseph Schumacher, Die Anfänge abendländischer Medizin in der griechischen Antike (Stuttgart 1965): Historische Zeitschrift 204 (1967) 197. Rez. von: E. Mary Smallwood, Documents Illustrating the Principates of Nerva, Trajan and Hadrian (Cambridge 1966): Historische Zeitschrift 205 (1967) 456 f.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
29. 30.
31.
295
Rez. von: Josephus, Jewish Antiquities. Books 18–20, ed. L. H. Feldman (London 1965): Historische Zeitschrift 205 (1967) 718 f. Rez. von: Remigius Autissiodorensis, Commentum in Martianum Capellam, ed. C. E. Lutz, 1. 2 (Leiden 1962/65): Deutsche Literaturzeitung 88 (1967) 796–799. Rez. von: M. Minucius Felix, Octavius, lateinisch und deutsch, hrsg., übersetzt und eingeleitet von B. Kytzler (München 1965): JbAC 10 (1967) 226– 269. 1968
32. *33.
Vier unbekannte Grabgedichte des Tito Vespasiano Strozzi: Rinascimento 19 (1968) 323–326. Angebliche Übersetzungen des heidnischen und christlichen Altertums: JbAC 11/12 (1968/69) 26–41. 1969
34. 35. 36. 37. 38.
Art. Fälschung, literarische: RAC 7 (1969) 236–277. Art. Fluch: RAC 7 (1969) 1160–1288. Rez. von: Otto Seel, Caesar-Studien (Stuttgart 1967): Historische Zeitschrift 208 (1969) 372 f. Rez. von: Detlef Rasmussen (Hrsg.), Caesar (Darmstadt 1967): Historische Zeitschrift 208 (1969) 373. Rez. von: Charles Saumagne, La Numidie et Rome. Massinissa et Jugurtha (Paris 1966): Historische Zeitschrift 209 (1969) 120 f. 1970
39. *40. 41. 42. 43.
Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike = Hypomnemata 24 (Göttingen 1970) 157 S. Die Legende von der Verbrennung der Werke Papst Gregors I: JbAC 13 (1970) 78–82. Art. Büchervernichtung: JbAC 13 (1970) 123–152. Rez. von: Hans Oppermann (Hrsg.), Römische Wertbegriffe (Darmstadt 1967): Historische Zeitschrift 210 (1970) 103. Rez. von: Adolf Lippold, Theodosius der Große und seine Zeit (Stuttgart 1968): Historische Zeitschrift 210 (1970) 104. 1971
44.
45. *46. 47. 48.
Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum. Ein Versuch ihrer Deutung = Handbuch der Altertumswissenschaft 1, 2 (München 1971) XXIV, 343 S. Tacitus, Annalen 14, 53/56 und ein angeblicher Briefwechsel zwischen Seneca und Nero: Rheinisches Museum 114 (1971) 351–359. Die Euphemia-Rede des Asterios von Amaseia. Eine Missionsschrift für gebildete Heiden: JbAC 14 (1971) 39–47. Rez. von: Antonie Wlosok, Rom und die Christen (Stuttgart 1970): Historische Zeitschrift 212 (1971) 636. Rez. von: Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte. Lateinischdeutsch, mit einem Kommentar versehen von W. Seyfarth (Berlin 1968): Historische Zeitschrift 212 (1971) 638 f.
296 49.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
Rez. von: Michel Spanneut, Tertullien et les premiers moralistes africains (Gembloux-Paris 1969): Theologische Revue 67 (1971) 363. 1972
50. *51.
52.
Art. Gallia II (literaturgeschichtlich): RAC 8 (1972) 927–962. Fälschung, pseudepigraphisch freie Erfi ndung und ‚echte religiöse Pseudepigraphie‘: Pseudepigrapha I = Fondation Hardt, Entretiens sur l’antiquité classique 18 (Vandoeuvres- Genève 1972) 331–366. Rez. von: Bernd Reiner Voss, Der Dialog in der frühchristlichen Literatur (München 1970): JbAC 15 (1972) 201–206. 1973
*53.
54. *55.
56. 57. 58.
Religionen des griechisch-römischen Bereichs. Zorn der Gottheit, Vergeltung und Sühne: U. Mann (Hrsg.), Theologie und Religionswissenschaft (Darmstadt 1973) 124–143. Sicco Polenton und ein angeblicher Briefwechsel zwischen Seneca und Nero: Rheinisches Museum 116 (1973) 95 f. Die Segenskraft des ‚göttlichen Fusses‘. Eine Anschauungsform antiken Volksglaubens und ihre Nachwirkung: W. den Boer, P. G. van der Nat, C. M. J. Sicking, J. C. M. van Winden (Hrsg.),Romanitas et Christianitas: Iano Henrico Waszink A. D. VI Kal. Nov. MCMLXXIII XIII lustra complenti oblata (Amsterdam, London 1973) 293–309. Art. Gans: JbAC 16 (1973) 178–189. Rez. von: Rudolf Lorenz, Das vierte bis sechste Jahrhundert (Westen) (Göttingen 1970): Historische Zeitschrift 216 (1973) 646 f. Rez. von: Gerd Petzke, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament (Leiden 1970): JbAC 16 (1973) 133–135. 1974
59. **60. *61. 62. 63.
Art. Geier: RAC 9 (1974) 430–468. Das entdeckte heilige Buch in Novalis’ Gedicht ‚An Tieck‘: Arcadia. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 9 (1974) 39–47. Zum Bild des Apollonios von Tyana bei Heiden und Christen: JbAC 17 (1974) 47–63. Art. Baruch (Wirkung im Christentum): ebd. 17 (1974) 185–190, Nachdruck: RAC Suppl. Bd. 1, (2000) 979–992. Rez. von: Alexander Demandt, Geschichte als Argument. Drei Formen politischen Zukunftsdenkens im Altertum (Konstanz 1972): Historische Zeitschrift 218 (1974) 377 f. 1975
*64. 65. *66. 67.
Die Nachahmung von Tierstimmen durch Besessene. Zu Platon, resp. 3, 396 b: Grazer Beiträge 3 (1975) 335–340. Myrons Kuh in der antiken Literatur und bei Goethe: Arcadia 10 (1975) 171–179. Kaiser Nero in einer christlichen Legende: JbAC 18 (1975) 87–89. Rez. von: Karl-Leo Noethlichs, Die gesetzgeberischen Maßnahmen der christlichen Kaiser des vierten Jahrhunderts gegen Häretiker, Heiden und Juden (Diss. Köln 1971): Historische Zeitschrift 220 (1975) 158 f.
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68.
297
Rez. von: Edgard Marsch, Biblische Prophetie und chronographische Dichtung. Stoff- und Wirkungsgeschichte der Vision des Propheten Daniel nach Dan. VII (Berlin 1972): Arcadia 10 (1975) 91–94. 1976
69. 70.
Art. Genealogie: RAC 9 (1976) 1145–1268. Rez. von: Charal S. Floratos, Strabon über Literatur und Poseidonios (Athen 1972): Arcadia 11 (1976) 89 f. 1977
*71.
72. *73. 74.
Die leibliche Abstammung Jesu im Urteil der Schriftsteller der alten Kirche: Commentationes philologicae. Festschrift J. Campos Ruiz = Bibliotheca Salmanticensis. Estudios 19 (1977) 523–539. Drei unbekannte lateinische Epigramme: Grazer Beiträge 6 (1977) 107– 112. Der Ursprung warmer Quellen nach heidnischer und christlicher Deutung: JbAC 20 (1977) 39–46. Rez. von: Arnaldo Momigliano, Alien Wisdom. The Limits of Hellenization (Cambridge 1975): Historische Zeitschrift 225 (1977) 664. 1978
*75. *76. 77. 78. 79.
80.
Neue Pilatus-Apokryphen: Vigiliae Christianae 32 (1978) 53–59. Die Zeugungskraft des himmlischen Feuers in Antike und Urchristentum: Antike und Abendland 24 (1978) 57–75. Art. Gewitter: RAC 10 (1978) 1107–1172. Art. Gigant: RAC 10 (1978) 1247–1276. Rez. von: Peter Llewellyn, Roma nei secoli oscuri. Aus dem Englischen übersetzt von G. Di Benedetto und A. Vasina (Bari 1975): Historische Zeitschrift 227 (1978) 406. Rez. von: Werner Strohmann, Johannes von Apamea (Berlin 1972): Vigiliae Christianae 32 (1978) 309–311. 1979
*81.
Religiös-sittliches und frevelhaftes Verhalten in seiner Auswirkung auf die Naturgewalten: JbAC 22 (1979) 30–39. 1980
*82.
*83.
*84.
Die Geschichte vom Blinden und Lahmen: Elemente der Literatur, Beiträge zur Stoff-, Motiv- und Themenforschung, Festschrift E. Frenzel 2 (Stuttgart 1980) 18–22. Die Hilfe und Epiphanie einer Gottheit, eines Heroen und eines Heiligen in der Schlacht: E. Dassmann/K. S. Frank (Hrsg.), Pietas, Festschrift B. Kötting = JbAC Erg.-Bd. 8 (1980) 55–77. Der heilkundige Hippozentaur, Alexander der Große und Hippokrates. Ein neuer Text über die erste Offenbarung der Heilpflanzen: J. Dalfen/K. Forstner/ M. Fussl/W. Speyer (Hrsg.), Symmicta Philologica Salisburgensia, Festschrift G. Pfl igersdorffer = Filologia e Critica 33 (Roma 1980) 171–183.
298 *85. 86.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
Eine rituelle Hinrichtung des Gottesfeindes, die Zweiteilung: Rheinisches Museum 123 (1980) 193–209. Rez. von: Hildegard Hammerschmidt, Die Importgüter der Handelsstadt London als Sprach- und Bildbereich des Elisabethanischen Dramas (Heidelberg 1979): Arcadia 15 (1980) 331 f. 1981
87. 88. 89.
90.
Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen = Bibliothek des Buchwesens 7 (Stuttgart 1981) X, 209 S. mit 10 Abb. Art. Gottesfeind: RAC 11 (1981) 996–1043. Religion als politisches und künstlerisches Mittel. Zum Verständnis des Augusteischen Zeitalters: P. Neukam (Hrsg.), Widerspiegelungen der Antike = Klassische Sprachen und Literaturen 14 (München 1981) 28–51. Rez. von: Bernhard Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Berlin 1979): Gnomon 53 (1981) 456– 460. 1982
*91.
*92. 93.
Die Vision der wunderbaren Höhle: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift für A. Stuiber: JbAC Erg.-Bd. 9 (1982) 188– 197. Das Weiblich-Mütterliche im christlichen Gottesbild: Kairos, NF 24 (1982) 151–158. Rez. von: Jan Badewien, Geschichtstheologie und Sozialkritik im Werk Salvians von Marseille (Göttingen 1980): Vigiliae Christianae 36 (1982) 412–415. 1983
94.
95. 96.
Ein Lobgedicht auf Cesare Borja: J. Oroz Reta (Hrsg.), Corollas philologicas. Festschrift J. Guillén Cabanero = Helmantica 34 (Salamanca 1983) 603–611. Art. Gründer (christlich): RAC 12 (1983) 1145–1171. Art. Gürtel: RAC 12 (1983) 1232–1266. 1984
*97.
*98.
*99.
Mittag und Mitternacht als heilige Zeiten in Antike und Christentum: Vivarium, Festschrift Th. Klauser zum 90. Geburtstag = JbAC Erg.-Bd. 11 (1984) 314–326. Realität und Formen der Ekstase im griechisch-römischen Altertum: P. Neukam (Hrsg.), Tradition und Rezeption = Klassische Sprachen und Literaturen 18 (München 1984) 21–34. Der numinose Mensch als Wundertäter: Kairos, NF 26 (1984) 129–153. 1985
100.
Herausgabe des nachgelassenen Werkes von Karl Groß, Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum (Stuttgart 1985) 537 S., 20 Abb.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
*101.
299
Das wahrere Porträt. Zur Rivalität von bildender Kunst und Literatur: Arcadia 20 (1985) 195–201. 1986
102. 103. 104. 105. *106.
*107.
Art. Gyges: RAC 13 (1986) 150–155. Art. Gymnasium, Abschnitt A. I. d/e. II; B.: RAC 13 (1986) 169–174. Art. Hagel: RAC 13 (1986) 314–328. Art. Asterios von Amaseia: RAC Suppl. Bd. 1 (2000) 626–639. Spuren der ‚Genesis‘ in Ovids Metamorphosen?: U. J. Stache / W. Maaz / F. Wagner (Hrsg.), Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire, Festschrift F. Munari (Hildesheim 1986) 90–99. Das Verhältnis des Augustus zur Religion: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt 2, 16, 3 (Berlin 1986) 1777–1805. 1987
**108.
109.
110.
Der numinose Mensch als Mittler und Bürge der Lebensordnungen: M. W. Fischer / E. Mock / H. Schreiner (Hrsg.), Worauf kann man sich noch berufen? Dauer und Wandel von Normen in Umbruchszeiten = Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beih. 29 (Wiesbaden 1987) 101–110. Ein unbekanntes Epigramm des Eobanus Hessus auf Vergil und Homer: J. Dummer (Hrsg.), Texte und Textkritik. Eine Aufsatzsammlung = Texte und Untersuchungen 133 (Berlin 1987) 553–555. Art. Bilingue: Lexikon des gesamten Buchwesens 1 2 (Stuttgart 1987) 443. 1988
111. *112. *113.
**114. 115.
116.
Art. Heros: RAC 14 (1988) 861–877. Hat das Christentum das heutige Elend von Natur und Mensch mitverursacht?: Zeitschrift für Ganzheitsforschung 32 (1988) 3–17. Religiöse Betrüger. Falsche göttliche Menschen und Heilige in Antike und Christentum: Fälschungen im Mittelalter, Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica München, 16.–19. September 1986, Teil 5: Fingierte Briefe, Frömmigkeit und Fälschung, Realienfälschungen = Monumenta Germaniae Historica, Schriften 33,5 (Hannover 1988) 321– 343. Kosmische Mächte im Bibelepos des Dracontius: Philologus 132 (1988) 275–285. Die literarische Fälschung im griechisch-römischen Altertum: K. Corino (Hrsg.), Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik (Nördlingen 1988) 138–149. Art. soprannaturale e meraviglioso: Enciclopedia Virgiliana 4 (Roma 1988) 945 f. 1989
117.
118. 119.
Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Ausgewählte Aufsätze Bd. 〈1〉 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 50 (Tübingen 1989) X, 531 S. Art. Hierokles I (Sossianus Hierocles): RAC 15 (1989) 103–109. Das letzte Mahl Jesu im Lichte des sogenannten Eidopfers: Frühes Christentum a.O. (s. Nr. 117) 477–492.
300 120. **121.
***122. 123. 124. 125. 126. 127.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
Art. Himmelsstimme: RAC 15 (1989) 286–303. Murillos Halbfigurenbild der ‚Inmaculada‘ auf der Mondsichel, eine unbekannte Variante und ihre antiken Parallelen: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 42 (1989) 131–134. Die Griechen und die Fremdvölker. Kulturbegegnungen und Wege zur gegenseitigen Verständigung: Eos 77 (1989) 17–29. Art. Bücherfluch: Lexikon des gesamten Buchwesens 2 2 (Stuttgart 1989) 4. Art. Bücherverbrennung: ebd. 14 f. Art. Damaskusschrift: ebd. 217. Art. Defi xionstafeln: ebd. 240. Art. Exorcismorum liber: ebd. 520. 1990
**128.
**129.
Geheimgehaltene Überlieferungen und Schriften der Antike = P. Neukam (Hrsg.), Die Antike als Begleiterin = Klassische Sprachen und Literaturen 24 (München 1990) 91–109. Die Verehrung des Heroen, des göttlichen Menschen und des christlichen Heiligen. Analogien und Kontinuitäten: P. Dinzelbacher / D. R. Bauer (Hrsg.), Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart (Ostfi ldern, Schwaben 1990) 48–66. 1991
130.
131.
Von der Ambivalenz der Wirklichkeit zu ihrer Aufhebung: K.-H. Deschner (Hrsg.), Woran ich glaube (Gütersloh 1991) 278–283 = K.-H. Deschner/A. Sanjuán (Hrsg. u. Übers.), En qué creo yu (Zaragoza 1992) 281– 287. J. H. Waszink 1908–1990: JbAC 34 (1991) 5–11. 1992
132. 133.
**134.
**135.
136. **137.
Art. Holz: RAC 16 (1992) 87–116. Albrecht von Brandenburg als heiliger Martin. Zu einem unbekannten Bild des Simon Frank: Tesserae. Festschrift J. Engemann = JbAC Erg.Bd. 18 (1992) 164–169. Christliche Ehrfurcht vor dem Leben und antike Scheu vor Leben und Tod: Gottesgeschichten, W. Achleitner/U. Winkler (Hrsg.), Festschrift G. Bachl (Freiburg, Basel, Wien 1992) 254–269. Die drei monotheistischen Weltreligionen im Gespräch. Zu einem unbekannten Bild des Quattrocento: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 45 (1992) 215–216. Eine unbekannte frühe Wiederholung der Rogier van der Weyden zugeschriebenen vierfigurigen Kreuzabnahme: ebd. 323–325. Das Buch als magisch-religiöser Kraftträger im griechischen und römischen Altertum: P. Ganz (Hrsg.), Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt, Symposion Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel = Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 5 (Wiesbaden 1992) 35–63.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
301
1993 138.
**139.
**140.
**141. 142.
143. 144.
Italienische Humanisten als Kritiker der Echtheit antiker und christlicher Literatur = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 1993, Nr. 3, 64 S. Die Erschaffung von Meer und Erde. Gen. 1,9 f. 13 und Dracontius, De laudibus dei 1, 149–166: F. V. Reiterer/P. Eder (Hrsg.), Liebe zum Wort. Beiträge zur klassischen und biblischen Philologie, Festschrift P. Ludger Bernhard OSB (Salzburg 1993) 55–65. Einblicke in die Mysterien von Eleusis: J. Dalfen/G. Petersmann/F. F. Schwarz (Hrsg.), Religio Graeco-Romana. Festschrift W. Pötscher = Grazer Beiträge Suppl. Bd. 5 (1993) 15–33. „Derjenige, der verwundet hat, wird auch heilen“: JbAC 36 (1993) 46–53. Verkannte Magie – reinigendes Feuer. Die kulturellen Voraussetzungen für die Vernichtung heterodoxer Literatur und des Heidentums in der christlichen Spätantike: H. R. Seeliger (Hrsg.), Kriminalisierung des Christentums? K. Deschners Kirchengeschichte auf dem Prüfstand (Freiburg/Basel/Wien 1993) 303–310. Art. Asterios, Bischof v. Amaseia: Lexikon für Theologie und Kirche 13 (1993) 1101. Art. Barbar: ebd. 1401. 1994
**145.
Das Hören einer göttlichen Stimme. Zur Offenbarung und zu Heiligen Schriften im frühen Rom: Thesauramata philologica. Festschrift J. Oroz Reta, 2 Graeca-Latina = Helmantica 45 (1994) 7–27. 1995
146. ***147.
148. 149. 150. 151. ***152.
Die Kirchenschriftsteller und die Juden: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 24 (1995) 225–233. Das christliche Ideal der geschlechtlichen Askese in seinen negativen Folgen für den Bestand des Imperium Romanum: M. Wacht (Hrsg.), Panchaia. Festschrift K. Thraede = JbAC Erg. Bd. 22 (1995) 208–227. Art. Fälschung II. Literarische Fälschungen in der Kirchengeschichte: Lexikon für Theologie und Kirche 3 3 (1995) 1164 f. Art. Florilegium: ebd. 1330 f. Religionsgeschichtliche Studien = Collectanea 15 (Hildesheim, New York 1995) XX, 222 S. mit 6 Abb. Das Kunstwahre und das Naturwahre. Zur Auseinandersetzung Goethes mit einem antiken Kunsturteil: Grazer Beiträge 21 (1995) 209–212. Über die Uneindeutigkeit des Barbarischen: Festschrift K. Gantar = Ziva Antika. Antiquité vivante 45 (Skopje 1995) 359–369. 1996
***153.
Der Bibeldichter Dracontius als Exeget des Sechstagewerkes Gottes: G. Schöllgen/C. Scholten (Hrsg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift E. Dassmann = JbAC Erg. Bd. 23 (1996) 464–484.
302 ***154. ***155.
***156.
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158.
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
Toleranz und Intoleranz in der alten Kirche: I. Broer/R. Schlüter (Hrsg.), Christentum und Toleranz (Darmstadt 1996) 83–106. Die Vorzeichen im Bibelgedicht des Dracontius: H. Cancik/H. Lichtenberger/ P. Schäfer (Hrsg.), Geschichte-Tradition-Reflexion. Festschrift M. Hengel 2 (Tübingen 1996) 141–153. Dekadenzempfi nden und Sehnsucht nach den für machtvoll gehaltenen Anfängen. Zu einem romantischen Charakterzug in der Antike: Zeitschrift für Ganzheitsforschung NF 40 (1996)171–191. Kulturwandel und Wanderungen in Europa: G. E. Tichy/H. Matis/F. Scheuch (Hrsg.), Wege zur Ganzheit, Festschrift J. H. Pichler (Berlin 1996) 245–260. Art. Apokryphe Literatur B [3]: Der Neue Pauly 1 (1996) 854 f. 1997
***159.
***160.
***161.
162. ***163.
Der kirchliche Heilige als religiöses Leitbild in der Kirchengeschichte: W. Kerber (Hrsg.), Personenkult und Heiligenverehrung = Fragen einer neuen Weltkultur 14 (München 1997) 57/120. Zur Identität des Menschen: R. Bäumer/J. H. Benirschke/T. Guz (Hrsg.), Im Ringen um die Wahrheit, Festschrift Alma von Stockhausen (Weilheim-Bierbronnen 1997) 273/282. Fluchmächte und Dämonen. Zur Vorgeschichte des Teufels in der Antike mit Ausblicken auf das Christentum: Zeitschrift für Ganzheitsforschung NF 41 (1997) 171/189. Art. Epigrammata Bobiensia: Der Neue Pauly 3 (1997) 1115. Der Dichter in der Einsamkeit. Zu einer abendländischen Denkvorstellung: J. Styka (Hrsg.), Studies of Greek and Roman antiquity = Classica Cracoviensia 3 (Kraków 1997) 129–143. 1998
***164.
165.
166. ****167.
Das einzige Entweder-Oder. Gedanken zur Neuheit der jüdischen und christlichen Offenbarung: W. M. Neidl/F. Hartl (Hrsg.), Person und Funktion. Gedenkschrift J. Hommes (Regensburg 1998). 55–62. Art. Asterius von Amasea: S. Döpp/W. Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur (Freiburg 1998) 55 f. (zweite Auflage ebd. 1999). Eine goldene Paxtafel theresianisch-josephinischer Zeit: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 52 (1998) 547–549. Die Stadt als Inbegriff der menschlichen Kultur in Realität und Symbolik: J. Styka (Hrsg.), Studies of Greek and Roman civilization = Classica Cracoviensia 4 (Kraków 1998) 125–142; ergänzte Fassung von: Die Stadt als das umfassende Zeugnis der menschlichen Kultur in Realität und Symbolik: Mahagonny. Die Stadt als Sujet und Herausforderung des (Musik)Theaters. Vorträge und Materialien des Salzburger Symposions 1998 (Anif/Salzburg 2000) 41–54. 1999
168.
Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld Bd. 2 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 116 (Tübingen 1999), X, 303 S. (enthält die in diesem Verzeichnis mit *** markierten Aufsätze mit Nachträgen und Ergänzungen).
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
***169. 170. 171. 172.
303
Töten als Ritus des Lebens. Zum Sinn des Opfers: Frühes Christentum a. O. (s. Nr. 168) 15–49. Art. Pilatus II. Apokryphe Schriften: Lexikon für Theologie und Kirche3 8 (1999) 298 f. Art. Pseudepigraphie I. Terminologie. IV. Echtheitskritik: ebd. 706 f. 707 f. Art. Privatabschrift: Lexikon des gesamten Buchwesens2 (Stuttgart 1999). 2000
173. 174. 175. 176. 177. 178.
Art. Sedulius: Lexikon für Theologie und Kirche3 9 (2000) 367. Art. Naucellius: Der Neue Pauly 8 (2000) 743. Das verkürzte Wirklichkeitsganze im Erleben und Denken des heutigen Menschen: Zeitschrift für Ganzheitsforschung N. F. 44 (2000) 115–128. Art. Kabiren: RAC 19 (2000) 907–912. Art. Kaiphas: RAC 19 (2000) 982–992. Verlöschen der Antike heute?: S. Düll/O. Neumaier/G. Zecha (Hrsg.), Das Spiel mit der Antike. Zwischen Antikensehnsucht und Alltagsrealität. Festschrift R. Düll = Arianna. Wunschbilder der Antike, Bd. 1 (Möhnesee 2000) 3–13. 2001
****179. ****180.
****181.
182.
183. 184. ****185.
186.
Reale und ideale Oikumene in der griechischen und römischen Antike: Wiener Studien 114 (2001) 449–462. Der christliche Heilige der Spätantike. Wesen – Bedeutung – Leitbild: J. Dummer/M. Vielberg (Hrsg.), Leitbilder in der Diskussion = Altertumswissenschaftliches Kolloquium 3 (Stuttgart 2001) 79–92. Hellenistisch-römische Voraussetzungen der Verbreitung des Christentums: J. Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament = Quaestiones Disputatae 190 (Freiburg, Basel, Wien 2001) 11–38. Joseph von Führich (1800–1876): Abhandlung zur Sonderpostmarke: „125. Todestag des Malers und Zeichners Joseph Ritter von Führich“; 2001 (Österreichische Post AG, Wien) 1–3. Art. Polemik: Der Neue Pauly 10 (2001) 3–5. Art. Pseudepigraphie I: Der Neue Pauly 10 (2001) 509 f. Zum magisch-religiösen Inzest im Altertum: J. Korpanty/J. Styka, Freedom and democracy in Greek literature = Classica Cracoviensia 6 (Kraków 2001) 163–179. Das stille Lesen, ein Paradigmenwechsel: G. Groschner (Hrsg.), StillLesen, Malerei des 17. bis 19. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog Residenzgalerie Salzburg 23. 11. 2001–3. 2. 2002 (Salzburg 2001) 26–29. 2002
****187. ****188. ****189.
Der Gott des Universums und die Vierheit: Alvarium, Festschrift Ch. Gnilka = JbAC Erg.-Bd. 33 (Münster, W. 2002) 337–343. Zur Grundstruktur und Geschichte des Gottesgedankens: Hairesis, Festschrift K. Hoheisel = JbAC Erg.-Bd. 34 (2002) 456–463. Die Kenntnis des Trojanischen Krieges im lateinischen Westen: Europä-
304
****190.
18. Zum antiken Hintergrund der Ikone
ische Mythen von Liebe, Leidenschaft, Untergang und Tod im (Musik)Theater: Der Trojanische Krieg = Wort und Musik Bd. 51 (Salzburg 2002) 117–134. Das Leben im Garten Eden nach Dracontius: J. M. Carrié/R. Lizzi Testa (Hrsg.), ‚Humana sapit‘. Études d’antiquité tardive, Festschrift L. Cracco Ruggini = Bibliothèque d’Antiquité Tardive vol. 3 (Turnhout, Belg. 2002) 277–282. 2003
191. 192. 193.
194.
****195. 196.
Art. Büchervernichtung: RAC Supplement-Lieferung 10 Sp. 171–233 (zweite ergänzte Auflage). Art. Patristik: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003) 717–727. Zum Problemhorizont weiblicher Gestalten der griechischen u. römischen Antike: F. Witek, Frauengestalten des antiken Mythos, in Zusammenarbeit mit S. Düll, O. Neumaier, W. Speyer = Arianna Bd. 3 (Möhnesee 2003) 11*-16*. Antike Mysterienreligionen: J. Figl (Hrsg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen (Innsbruck, Wien, Göttingen 2003) 198–206. Voraussetzungen platonischen Philosophierens: Zeitschrift für Ganzheitsforschung N. F. 47 (2003) 131–144. Vom Paradox der Wirklichkeit. Eine philosophisch-theologische Skizze: Philotheos. International Journal for Philosophy and Theology 3 (2003) 31–39. 2004
197. 198.
****199.
200.
Art. Christianisierung IV (heidnischer Schriften): RAC Suppl.-Bd. 2 (2004) 362–76. Zur geisterfüllten Hand als der Bedingung der Kultur: G. Groschner (Hrsg.), Beredte Hände, Die Bedeutung von Gesten in der Kunst des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Ausstellungskatalog 17. 7.–1. 11. 2004 Residenzgalerie Salzburg, Salzburg 2004, 19–24. Gottheit und Mensch, die Eltern des Kunstwerkes. Zu einer abendländischen Offenbarungsvorstellung: Th.Krisch/Th.Lindner/U.Müller (Hrsg.), Analecta homini universali dicata, Festschrift O. Panagl, Bd. 1 (Stuttgart 2004) 425–436. Zur Gottesfrage heute: Philotheos. International Journal for Philosophy and Theology 4 (2004) 12–18. 2005
****201. ****202.
****203.
204.
Die Offenbarungsübermittlung und ihre Formen als mythische und geschichtliche Anschauung: Grazer Beiträge 24 (2005) 31–43. Porphyrios als religiöse Persönlichkeit und als religiöser Denker: R. von Haehling (Hrsg.), Griechische Mythologie und frühes Christentum (Darmstadt 2005) 65–84. Zur Erfahrung der göttlichen Macht in der Religionsgeschichte des Altertums: Philotheos, International Journal for Philosophy and Theology 5 (2005) 139–153. Von der Ambivalenz des Meeres und der Seefahrt: Th. Habersatter (Hrsg.),
Verzeichnis der Schriften von Wolfgang Speyer
205. ****206. ****207. ****208.
305
Ausstellungskatalog Schiff voraus. Marinemalerei des 14. bis 19. Jahrhunderts, Residenzgalerie 16.7. – 1. 11. 2005, Salzburg 2005, 13–18. Art. Kopf: RAC 21 (2005) 509–535. Zu den antiken Mysterienkulten. Das Mahl als religiöse Handlung im Altertum. Zu den geistes- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen der Ikone. 2006
209. ****210.
211.
Art. Tempelbibliothek: Lexikon des gesamten Buchwesens 7 (Stuttgart 2006) s. v. Gewalt und Weltbild. Zum Verständnis grausamen Tötens im Altertum: J. Styka (Hrsg.), Violence and aggression in the ancient world = Classica Cracoviensia 10 (Kraków 2006) 185–201. Gott als das Maß aller Dinge: R. Düll (Hrsg.), Pertensteiner Gespräche. Das Maß aller Dinge und der Mensch (Möhnesee 2006) 64–67. 2007
212. 213.
214.
215. 216.
Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld, Bd. 3 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 213 (Tübingen 2007). Der Verfall des Marienbildes in der westlichen Kunst der Neuzeit: P. L. Hofrichter (Hrsg.), Marienfrömmigkeit in Ost und West = Pro Oriente Bd. 30 (Innsbruck-Wien 2007) 219–237. Zur Bedeutung des Katalogs in der christlichen Dichtung der Spätantike: Dulce melos = Centro internazionale di studi sulla poesia greca e latina in età tardoantico e medievale, Quaderni 3 (2007) 283–298. Zur theologisch-philosophischen Bedeutung des Lichtes: Philotheos, International Journal for Philosophy and Theology 7 (2007) 115–123. Zur seelisch-geistigen Lage des europäischen Menschen heute: Zeitschrift für Ganzheitsforschung, Ergänzungsheft zu 2006 (2007) 15–28.
Mitherausgabe des Reallexikons für Antike und Christentum Bd. 9 (Stuttgart, A. Hiersemann 1976); Bd. 10 (1978); Bd. 11 (1981); Bd. 12 (1983); Bd. 13 (1986); Bd. 14 (1988); Bd. 15 (1991); Bd. 16 (1994); Bd. 17 (1996); Bd. 18 (1998); Bd. 19 (2001); Bd. 20 (2004); Bd. 21 (2006) Supplement Bd. 1 (2001); Supplement Bd. 2, Lieferung 9–11 (2002/04)
Stellenregister Altes Testament Gen. 1,4 1,7 1,19 f. 1,26 1,26 f. 1,28 1,30 2,8–3,24 2,16 f. 2,18–24 2,19 2,25 3,1–7 3,3 3,24 4,17 10,1–32 11,1–6 Dtn. 32,39
70 Anm. 30 70 Anm. 30 206 Anm. 14 276. 277 Anm. 35 202 276 276 69 7 Anm. 22 68 276 f. 272 Anm. 6. 275 130. 155 7 Anm. 22 69 Anm. 29 186 Anm. 12 179 179 Anm. 26. 186 Anm. 13
25
1 Sam. 2,6 19,22–24
25 99 Anm. 45
Tob. 13,2
25 Anm. 24
Ecclesiastes 1,9
3
Sap. 16,13
25 Anm. 24
Jes. 19,22 20,2–4 25,6 61,1 f.
25 Anm. 24 99 Anm. 45 130 Anm. 32 100 Anm. 53
Ez. 1,4–28 2,8–3,3 10,1–22
56 f. 59 84 Anm. 33 56 f. 59
Hos. 6,1
25
Neues Testament Mt. 4,8 8,11 10,34–36 21,12 f. 21,18 f. 22,1–14 26,29
7 Anm. 24 130 Anm. 32 74 Anm. 44 74 Anm. 44 74 Anm. 44 130 Anm. 32 130 Anm. 32
Mc. 11,12–14 11,20 f. 11,15–17 14,25
74 Anm. 44 74 Anm. 44 74 Anm. 44 130 Anm. 32
Lc. 1,15 1,28
99 Anm. 47 99 Anm. 48
308 1,35 1,36–38 1,41–55 1,67–79 2,25–35 2,46–50 4,1 4,1–22a 12,51–53 14,15 19,45 f. 22,18 24,13–35 24,47 Joh. 1,1 f. 2,14–17 12,24 19,19–22 Act. 1,8 2,1–13 2,4
Stellenregister
99 Anm. 49 99 Anm. 50 100 Anm. 51 99 Anm. 50 99 Anm. 50 8 Anm. 30 100 Anm. 52 100 Anm. 53 74 Anm. 44 130 Anm. 32 74 Anm. 44 130 Anm. 32 135 Anm. 53 235 Anm. 9
231 74 Anm. 44 118 180
235 Anm. 9 180 100 Anm. 53
4,31 10,44–46 17,22–31 19,6
100 Anm. 53 100 Anm. 53 247 f. 100 Anm. 53
Rom. 1,19 f. 9,14–33 11,33 f.
18 25 Anm. 24 22 Anm. 14
1 Cor. 12,1–11
216 Anm. 3
1 Tim. 6,16
22 Anm. 14
Hebr. 9,11–10,18
74 Anm. 43
Apc. 4,2–10 10,9 f. 19,9 21 22,13
56 Anm. 58 84 Anm. 33 130 Anm. 32 180 Anm. 31 226
Personen- und Sachregister Abaris, skythischer Wundermann 260 Abel, Sohn Adams 261 Abendmahl Jesu, letztes 135, 287 Aberglaube 216 Abraham, Patriarch 9, 33, 235, 261 Acheiropoietos 82 f. Achill, Heros 24, 165, 239 Achilles Tatios, griechischer Romanschriftsteller 142 Ackerbaukultur 104, 105, 109, 111, 134 Anm. 50, 159, 265. 266, 274, 275 f., 283 Aconia Fabia Paulina, Gemahlin des Praetextatus (s. d.) 118 Anm. 77 Ada, Gemahlin des Hidrieus 147 Adam und Eva s. Urelternpaar Adler 56, 58 Adonis, syrischer Gott 104 Ägina, griechische Insel 184 Ägypten 56, 80, 81, 82, 83, 91, 104, 109, 138 Anm. 5, 140. 144, 145, 164, 174, 218, 237, 242, 268, 284, 288 Ähre 115, 284; s. auch Kornähre Aelianus, Claudius, griechischer Schriftsteller 197 Aeneas, Heros 188, 189, 190, 191–193, 197, 198, 250 Africa 181, 237 Agathodaimon, Gott 53 Agdistis, göttliches Wesen 139 Anm. 11 Ahriman, iranischer Gott des Bösen 208 Ahura Mazda, iranischer Gott des Guten 208 Aiakos, Heros 244 Aiolos, griechischer Gott 150 Aion, Gott der Zeit 53, 75, 247 Aischylos, attischer Tragiker 21, 86, 156, 285 Aithiopen 129 Akademie von Athen 10
Akten der Perpetua und Felicitas 265 Alba Longa, Stadt in Latium 188 Alexander der Große, König der Makedonen 146, 172, 173, 175, 196, 213, 233, 246, 281, 282 Alexandreia, Stadt in Ägypten 164 Alexarchos, Makedonenfürst 167 Anm. 46 Alkibiades, athenischer Politiker 143, 213 Alkinoos, mythischer Herrscher der Phäaken 150 Allgott s. Kosmosgott Altersstufen 50 Amarna, Stadt in Ägypten 164 Amazonen 185 Ambivalenz 5, 6 f., 20–22, 24–32, 36, 44 f., 63 Ameisen 161 Amenophis III., Pharao 53 Amestris, Tochter des Artaxerxes II. Mnemon 146 Analogie 50 Anamnesis 208 f. Anaxagoras aus Klazomenai, griechischer Philosoph 176 Anaxarchos aus Abdera, griechischer Philosoph 255 Anm. 94 Anchises, Vater des Aeneas 188, 189, 190, 198 Andania s. Mysterien von Andania Andromache, Heroine 143 Anfang 62 f., 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 73, 76, 91 f., 176, 184, 204, 205, 210, 224, 226 Angst 240, 247 Anna, Prophetin 99 Anm. 50 Anonymität 37, 38, 94, 106, 239 Anteros, Sohn der Aphrodite und des Ares 187, 199
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Personen- und Sachregister
Anthropogonie 65–70, 146 f., 149, 272 ‚Anticipation‘ 87, 209 Antiochos I. Soter, König von Syrien 143 Anm. 31 Antiochos IV. Epiphanes, König von Syrien 219, 256 Antiochos aus Askalon, akademischer Philosoph 223 Antiphon, Sophist 177 Antisthenes, Sokratesschüler 143 Antonius, M., der Triumvir 246 Aphrodite, griechische Göttin 28 f., 30, 51, 187, 188, 190, 199, 250 Apokalyptik 245, 257 Apollinaris, Bischof von Laodikeia, Häretiker 214 Apollon, griechischer Gott 24, 28 f., 31, 53, 65, 86, 93, 94, 96, 97, 98, 117, 186, 205, 250, 269 Apollonios von Tyana, neupythagoreischer Philosoph und Wundertäter 217, 237, 260 Apostelgeschichte(n) 244, 265 Apuleius aus Madaura, römischer Schriftsteller und platonischer Philosoph 30, 111, 113, 285 Arabien 147 arbor Porphyriana 203, 222 Archetypos 2, 5, 7, 8, 75, 87, 141, 209, 223 Anm. 32, 226, 229, 250 Ares, griechischer Gott 166, 187, 199 Aretalogie 244 Arethe, Gemahlin des Alkinoos 150 Aristaios, Heros 244 Aristeas aus Prokonnesos, Schamane 260 Aristoteles aus Stageira, griechischer Philosoph 176, 200, 223, 238, 254 Arkadier 274 Anm. 14 Armenien 147 )rhtton 258 Arsames, Vater des Dareios III. 146 Artaxerxes II, Mnemon, König der Perser 146 Artemis, griechische Göttin 28 f., 30, 53, 244; s. auch Eileithyia Artemisia, Schwester und Gemahlin des Mausolos 147 Artes liberales 267 Arzt-Seher 107, 244, 259
Asien 181, 183, 184, 185, 187, 237 Askese 128 f., 254, 265, 267 Asklepios, griechischer Gott 244 Askra, Stadt am Helikon, Böotien 239 Assaon, Heros 151 Assur / Assyrien 53, 56, 172 Astarte, vorderasiatische Göttin 142 Athen 162, 163 f., 167, 178, 197, 213, 218, 243 Athene, griechische Göttin 51, 157, 166, 243 Atlantis 238 Atomisten 23, 238, 242 Atossa, Schwester des Achämeniden Kambyses 146 Atossa, Tochter des Artaxerxes II, Mnemon 146 Attis, phrygischer Gott 104, 115, 193 Anm. 11 Audition 245 Auferstehung der Toten 219 Aufklärung, antike 40, 281 Aufklärung, neuzeitliche 73, 77, 263 Auge, Heroine 150 Augensinn 283, 286 Augustinus, Bischof von Hippo, Kirchenschriftsteller 9, 76. 157, 164, 166 f., 219 Augustus, Princeps 54, 144, 190, 192, 198 f., 246 Autonomie 39 f., 81, 82, 213 Baader, F. von, Philosoph 5 Anm. 14, 59 Anm. 71 Babylon 53, 58, 59, 67, 81, 91, 145, 164, 167, 172, 179, 180, 186, 188, 205 Bacchanalienskandal 148 Bachofen, J. J., Religionshistoriker 78 Bakchos, griechischer Gott 103 Barbaren 113, 177, 178, 185, 246, 267 Barock 190 Bauopfer 157, 162 Beispiel 254 Bekehrung 261 Bekenner(in) 267, 268 Bellerophon, Heros 65 Benedikt, hl. 10 Bes, ägyptischer Gott 53 Bewusstseinsgeschichte 37 f., 121–124, 160, 201 f., 234 f., 238–245, 281
Personen- und Sachregister
Bienen 86, 161 Bilderverbot 57, 286 Bioemergenz 209 Biographen 255 Bios angelikos 268 Bios Orphikos 212 Bios Platonikos 212 Bios Pythagorikos 212 Bittgebet 221 Bliade, Heroine 141, 150 Blut 126, 132 Boethius, Anicius Manlius Severinus, Philosoph 267, 271 Brahmanen 27 Anm. 35 Branchos, Heros 96 ‚Bruder‘ 144 Bücherfunde 83 Buch Daniel 219, 257 Buch Deuteronomium 261 Buch Exodus 261 Buch Genesis 25, 256, 271, 272, 280 Buch Hiob 22 Buch Jesus Sirach 257 Buch der Könige 261 ‚Buch der Natur‘ 87 Buch der Proverbia 257 Buch der Psalmen 267 Buch der Weisheit 257 Bundeslade 82 Byblis, Heroine 142, 150 Byzanz 10, 12, 104, 267, 285 Caesar, C, Iulius, Diktator 144, 190, 191 f., 199, 246, 250, 282 Cäsaren 214 Campanella, T., Schriftsteller 167 Anm. 46 Cardo 159 Anm. 18 Carmen de resurrectione 279 Carmenta, römische Göttin 98 Cassiodorus Senator, römischer und kirchlicher Schriftsteller 10, 267 Cassius Hemina, L., römischer Geschichtsschreiber 193 Cato, M. Porcius Censorius, römischer Schriftsteller 193 Catullus, C. Valerius, römischer Dichter 144 Chaos 47, 62 f., 65, 68, 69, 70, 71, 72, 158, 162, 165, 166, 167, 168
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Charisma 90, 264, 266 Chlodwig, König der Franken 281 Chronos, griechischer Gott 53, 58, 75 Cicero, M. Tullius, römischer Redner, Schriftsteller und Staatsmann 98, 144, 156, 195 Anm. 49 Circumambulatio s. Umgangsriten Claudianus, Claudius, römischer Epiker 277 Claudius, römischer Kaiser 144 coincidentia oppositorum 33 Anm. 55, 45, 47 Coluccio dei Salutati, L., italienischer Humanist 196 Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 181 Crassus, Ninnius, römischer Übersetzer 195 Creuzer, F., Philologe 78 cupido 276 Daduchos, Priesteramt in Eleusis 117 Dämonen 243, 245 Damaskios, Neuplatoniker 57 Danaiden, die 50 Töchter des Danaos 284 Danaos, mythischer König 284 Dareios II., König der Perser 146 Dareios III., König der Perser 146 Dares, angeblicher Geschichtsschreiber 195–198 Dea Caelestis 247 Dea Syria 247 Decumanus (sc, limes), von Osten nach Westen gezogene Linie der Agrimensoren; s. auch Cardo 159 Anm. 18 Dekalog 57, 81 f., 286 Deklamatoren 144 Delphi 184 Demeter, griechische Göttin 114, 115, 116, 117, 118, 242, 243, 283 f. Demiurg, göttlicher 252 Demokritos aus Abdera, griechischer Philosoph 107, 260 Denkard, iranisches Textzeugnis 147 Deukalion, Sohn des Prometheus, Gemahl der Pyrrha 153, 176, 179 deus praesens 249 f. Diadochen 213 f., 281 Diaspora 257
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Personen- und Sachregister
Dichter 50, 78, 79, 85, 86, 93, 94, 96 f., 98, 107, 123, 259 Dichterweihe 85 Dido, Königin von Karthago 191, 192 Diels, H., Philologe 84 Diktys, angeblicher Geschichtsschreiber 195–198 Diodoros Siculus, griechischer Geschichtsschreiber 145 Dionysos (Zagreus), griechischer Gott 53, 56 Anm. 55, 86, 98 Anm. 38, 115, 118, 132, 242, 247, 284 Diores, Heros 150 Dissoi Logoi 146 Doppelgeschlechtlichkeit 27, 116, 138, 149 Drache 58, 65, 71, 205 f. Dracontius, Blossius Aemilius, christlicher Dichter 197. 271–280 Dreizahl 6 Anm. 21, 28 Anm. 35, 48 Dualismus / Dualistische Strukturen 31 f., 42, 62 f., 67, 168, 208, 242 f., 257; s. auch Gegensatz Dürer, A., Maler 12 Echidna, mythisches Wesen 150 Anm. 94 Echtheitsbeglaubigung 196 Eden 130, 221–280; s. auch Paradies ePdo : 209 Eileithyia, griechische Göttin 244; s. auch Artemis Eine, das / der göttliche 27, 16–33, 47– 59, 94 f., 204, 222, 225–227, 230, 247, 252, 257 Einheit 27, 47 f., 62 f., 65–70, 72, 160, 166, 168, 176, 203–205, 209, 210–214; s. auch Ganzheit Einheit der Menschheit 169–181, 187 f., 246 Ekstase 91, 126, 131, 132, 227, 265 Elemente 48, 54, 64, 70, 72 Eleusis 103, 104, 105 Anm. 14, 109, 110, 111 Anm. 39, 112, 113, 115, 243 Eliade, M., Religionshistoriker 78 Elias, Prophet 261 Elisa, Prophet 261 Elisabeth, Mutter von Johannes dem Täufer 100 Elysische Gefi lde 277
Empedokles aus Akragas, griechischer Philosoph und Wundertäter 107, 260, 278 Ende 226 Engel 93 Ennius, Q., römischer Dichter 193, 194 Ennodius, Bischof von Pavia, Kirchenschriftsteller 180 Enthusiasmus 98 Entsakralisierung 238 Entzweiung 70 Anm. 31 Enzyklopädie 118, 212 Epikaste, d. i., Iokaste, Heroine 150 Epiklesis 132 Anm. 39 Epikur, griechischer Philosoph 23, 28, 238, 251 f. Epikureismus 242, 282, 283 Epimenides aus Kreta, Wundertäter 86, 107, 260 Epiphanie 132, 245 Epocheneinteilung 122 f. Epopeus, Heros 151 Epoptes, Mystengrad in Eleusis 114, 286 Er, Pamphylier 115 Eratosthenes aus Kyrene, Geograph, Gelehrter und Dichter 184 Erde 66, 67, 70, 177, 180 f., 226, 228 f., 272, 274 Erdgöttin 30, 48, 68, 116, 117, 127, 128, 134, 139, 142, 149, 176, 234, 284 Erebos, göttliche Anfangsmacht 68 Erechtheus, Heros 151 Erfi nder, erster 81, 90 f., 223 Ernten 127 Eros, griechischer Gott 48, 204 Erzieher 259, 262 Eschatologie 250 f., 257 Essen s. Mahl Essen eines Buches 84 f. Ethik 27, 31, 64, 253–255; s. auch Sittlichkeit Etrurien 159 Anm. 18 Etrusker 188 f., 190 Etymologie 50 Eucharistiefeier 74, 118, 287 Eudokia, Gemahlin des Kaisers Theodosius II. 268, 288 Eunapios, griechischer Biograph 260 Euopis, Heroine 150 Euripides, attischer Tragiker 21, 86, 97, 137, 143 Anm. 32, 146, 150, 151, 248
Personen- und Sachregister
Europa 136, 169–171, 183, 184, 187, 191, 237 Eusebius, Bischof von Kaisareia, Kirchenschriftsteller 219 Eva 68; s. auch Urelternpaar Evangelistensymbole 55–57 Exorzismus 245 Fabius Pictor, Q., römischer Geschichtsschreiber 193 Fälschung, literarische 82, 195 f., 210, 265 Falerii, Hauptstadt der Falisci 55 Familie 165, 178 Farben 48, 54 Fatum, Fata 26 Anm. 30, 40 Feldmesser 159 Anm. 18 Fest 140, 165 Feuer 85, 117, 128 Fiktion, literarische 265 Flaminius, C., römischer Feldherr 190 Anm. 30 Fluch / Segen 21–33, 41–45, 65, 123, 153, 242 Fortschritt 121, 155, 201, 272 f. Fortuna, römische Göttin 30 Franken 197 Anm. 63 Frau 151, 248, 260, 284 f. Fremdvölker 268, 273 Anm. 9 Freud, S., Psychologe 141 Frieden 64, 165 f., 178 f., 192 Frühjudentum 83 Frühling 7 Furcht 153 Gaia, griechische Göttin 38 Anm. 12, 81, 149 f. Galenos aus Pergamon, griechischer Arzt und Schriftsteller 255 Gallier 163 Gallus, Cornelius C., römischer Elegiendichter 142 Anm. 23 Ganzheit 202–214, 216 f.; s. auch Einheit Gayomart, iranischer Urmensch 66, 67 Gebet 245 Geburt 109, 111, 114, 116 f. Gegenreformation 10, 12, 269 Gefäß 98 Gegensatz 6, 17 f., 21, 22, 23, 32, 41, 43, 44 f., 47, 50, 62–65, 69, 117, 164–168, 199, 202–206, 225
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Geheimhaltung 105, 109, 111 Geheimkulte s. Mysterien Geheimnis s. Weltgeheimnis Geist, Heiliger 85, 99 f. Geister 243, 245 Gelübde 245 Gemeinschaft der Heiligen 261 Genealogie 31, 124, 138, 149, 175 f., 187 f., 190 Anm. 30 Geographen 143 Georg, hl. 6 George, St., Dichter 13, 96 f. Gerechten, die 261, 262 Gerechtigkeit 21, 42, 107, 220 f., 242. Germanen 196, 197, 260, 281 Geschichtsschreiber 143, 255 Gesetzgeber 83, 92, 94, 123, 156, 259 Gestalt 76 f., 155, 203, 283 Gestirngottheiten 40 Gewalt 61–74, 162 Gewissen 16, 41, 82 Anm. 19, 200 Giganten 31, 32, 179, 186 Gigon, O., Philologe 19 f. Gilgamesch, babylonischer Heros 29 Gleichnis 230 Globalisierung 169 gn3sio : 95 Gnosis 59, 168, 257 Görres, J., Publizist und Schriftsteller 78 Goethe, J. W. 2, 5, 18, 22 Anm. 16, 25 f., 29, 41, 43, 63, 85, 87, 133 Anm. 43, 158, 209, 230 Götterhochzeit 30 f. Götternamen 38 Göttin, Große 28 f., 51, 53, 142; s. auch Mutter, Große Gog, Magog, eschatologische Gegner des Gottesreiches 268 Gorge, Heroine 151 Goten 268 Gott / Gottheit 14–33, 35–45, 47–59, 65– 70, 75–88, 89–101, 103–119, 129 f., 176 f., 180 f., 202–206, 215–232, 234 f., 262, 271, 283 f., 286 Gottebenbildlichkeit / Gottesverwandtschaft 2, 5, 27, 202, 241 Gottesfeind 31 f., 71 f., 130 Gottesfreund 129 f., 261 Gottesfürchtigen, die 248
314
Personen- und Sachregister
Gottesmann 260, 262 Grausamkeit 61–74 Gregor I., Papst 267, 268 f. Grenzsteine 188 Griechen 246, 256, 260 Griechisch 180, 195, 255 Gründer 156, 159, 186, 188, 194 Anm. 43, 266 Guardini, R., Theologe 11 Anm. 39, 18 Anm. 5 Gunthamund, König der Vandalen 271 Gut / Böse 205 f. Gute, das, als Idee 225 Hades 242, 243, 284 Hadrian, römischer Kaiser 54, 269 Häresie, philosophische 225 Hagiographie 265, 266 Halluzination 112 Hamann, J. G., Philosoph 7, 78, 133 Anm. 43 Hammurapi, König der Babylonier 53 Anm. 35, 83, 84, 145 Hannibal, karthagischer Feldherr und Staatsmann 163 Harmonie 48, 50, 51, 158, 187, 199 Harpalyke, Heroine 151 Haruspicin, Haruspices 159 Anm. 18, 188 Hathor, ägyptische Göttin 53 Haus 161 f. Hausbau 156 Hauskult 105 Heidegger, M., Philosoph 59 Anm. 71 Heilbringer 250, 259 Heilgötter 243, 264 Heilheroen 243, 264 Heilige, das 16, 78, 131, 238 Heiligenvita 244 Heiliger 6, 9, 11, 27, 244, 245, 259–269, 287, 288, 289 Heilsgeschichte 180, 235, 258, 265 Heilswille Gottes, universaler 7, 235, 256, 261 Heimarmene, Schicksalsmacht 40 Hekate-Persephone, griechische Göttin 29 f. Held 6, 8, 205, 239; s. auch Heros Helena, Heroine 150 Anm. 107, 185, 186, 191, 197
Heliopolis (Baalbek), Stadt am Libanon 148 Anm. 86 ‚Heliopolis‘ 167 Anm. 46 Helios, griechischer Sonnengott 38 Anm. 12, 54, 58, 104, 117, 177, 247; s. auch Sonnengott Hellanikos aus Mytilene, griechischer Geschichtsschreiber 189 Hellenisierung des Christentums 234 Hellenismus 233, 238, 246, 248–250 Henoch, Patriarch 9, 186 Henochbücher 257 Henotheismus 176 f., 246, 252, 262 Hephaistos, griechischer Gott 24, 165 Hera, griechische Göttin 149, 284 Herakles, Heros 6, 65, 151, 176, 185, 186, 244 Herakles / Chronos, Gott 58 Heraklit aus Ephesos, griechischer Philosoph 16, 17, 19, 22, 43, 47, 64, 168, 203 f., 212, 223, 225 Herder, J. G., Theologe und Schriftsteller 78 Hermes, griechischer Gott 53 Anm. 41, 55, 81 Hermes Trismegistos, griechisch-ägyptischer Gott 247, 253 Hermias, griechischer Platonkommentator 98 Hermione, Heroine 143 Herodot aus Halikarnassos, griechischer Geschichtsschreiber 146, 189, 227, 284 Heros 6, 11, 27, 49, 58, 65, 81, 90 f., 93, 100, 156, 223, 228, 241, 243, 244, 251, 264 f. Herr(in) der Tiere 29, 127 Herrscherbildnis 287 f. Herrscherkult 244, 246 f., 282 Hesiod aus Askra, griechischer Lehrdichter 26, 38, 47, 49 Anm. 16, 68, 93, 124, 129, 149, 176, 239 Hethiter 145 Hieronymus, Kirchenschriftsteller 27, 161, 268 Hierophanie 23, 26, 27, 37; s. auch Epiphanie Hierophant, Priester in Eleusis 114 Anm. 58 Hieros Logos 30, 108, 111, 221 f., 245 Himmel 48, 66, 67, 70, 117, 179, 180 f., 228, 229, 277, 284
Personen- und Sachregister
Himmelsblick 287 f. Himmelsbrief 82 f. Himmelsgott 30, 72, 134, 139, 247 Himmelsrichtungen 48, 51, 53, 55, 59 Anm. 70 Himmelsstimme 245 Hinrichtung s. Töten Hippias aus Elis, Sophist 177 Hippodamia, Heroine 151 Hippolytos von Rom, Kirchenschriftssteller 116 Hochschätzung des Alten 224, 250 Hochzeit 109, 111, 165 Hochzeit, heilige 116, 117, 139, 142, 284 Höhle 78, 154 Anm. 2, 156, 161 Anm. 25, 227–230 Hölderlin, F., Dichter 155 Hören 91 Hörsinn 283, 286 Hoffnung 153 Holz 7 Homer 11, 21, 26, 38, 39, 73, 93, 94, 106, 123 f., 129, 131, 165 f., 176, 184, 185, 191, 195, 197, 198, 209, 223, 227–231, 238 f., 239–241, 247 Homerischer Apollon-Hymnus 28, 38 Honig 129 Honigmet 126, 132 Horaz, römischer Dichter 26, 29 Anm. 40, 93 Horus, ägyptischer Gott 145 Hütte 161 Humanitätsidee 74, 104, 171, 178, 189 Hyginus, römischer Mythologe 141 Hymenaios, griechischer Gott 48 Anm. 5 Hyperion, Titan 149 Hypsistos (Theos), Gott 177, 247, 248 Hystaspes, iranischer Magier 253 Iakchos, Gott der Eleusinischen Mysterien 116 Idomeneus, Heros 196 Ikone 281–289 Ilias 243 ‚Ilias Latina‘ 195 Immanenz / Transzendenz 76 Anm. 4 Imperium Romanum 173–175, 178, 238, 257, 267, 275, 281, 282 Indien 140 Anm. 12, 218
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Initiation 115, 199, 245 Inka 139 Inspiration 3 Anm. 10, 38, 75–101, 126, 227 Interpretatio Graeca 237, 247 Interpretatio Romana 174, 237, 247 Invektive 143 f. Inzest 137–152 Inzesttabu 137, 140, 147 Iokaste, Heroine 141 Ion der Alte, sagenhafter Stammvater 153 Iran / Iranier 140, 145–147, 168, 237, 242 f., 257 Irland 147, 268 Isaak, Sohn Abrahams 9 Ischtar, akkadische Göttin 29, 143 Isidor von Sevilla, Kirchenschriftsteller 197, 267 Isis, ägyptische Göttin 30, 81, 95, 104, 116, 118, 145, 177, 242, 247, 248, 284, 285 Islam 82 Ithaca 227, 228 Italicus s. ‚Ilias Latina‘ Iulus / Ascanius, Sohn des Aeneas 188, 189, 199 Jaeger, W., Philologe 13 Jahreszeiten 49, 53, 54, 56, 64, 117, 287 Jahwe, Schöpfergott 95 Jakob, Sohn Isaaks 9 Jamblichos, neuplatonischer Philosoph 113, 217, 218, 288 Janus, römischer Gott 55 Jason, Heros 6 Jenseits 107, 115, 118, 228, 240, 241, 242, 283, 284, 285, 286, 287, 288 Jenseitsreise 84 Jerusalem 25, 164, 167 Jesus Christus 6, 7, 8, 9, 25, 32 Anm. 51, 44 Anm. 36, 65, 74, 84, 100, 118 f., 130, 135, 136, 180, 181, 206, 226, 229, 231, 235, 237 f., 244, 247, 248, 258, 259, 260, 262, 263, 264, 266, 269, 272, 286, 287, 289 Johannes, Verfasser der kanonischen Apokalypse 25, 31 Johannes, Evangelist 168, 252 Johannes Chrysostomos, Kirchenschriftsteller 97 f.
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Personen- und Sachregister
Johannes Malalas, byzantinischer Geschichtsschreiber 197 Anm. 63 Johannes der Täufer 99, 100, 254 Jonien 209 Judas Ischariot, Apostel 206 Juden 144, 173 f., 224, 234, 237, 248 Julian, römischer Kaiser 103, 104 Anm. 9, 232 Julianos, Theurge 260 Julier, gens Iulia 190, 192, 199 Jung, C. G., Psychologe 2, 78, 87, 141, 209 Junia Calvina, Römerin 144 Juno, römische Göttin 150 Anm. 99 Jup(p)iter, römischer Gott 54, 150 Anm. 99, 175, 248 Jupiter Dolichenus 247 Jupiter Heliopolitanus 247 Kabiren, vorgriechische Götter 242 Kadmos, Heros 65 Kaerst, J., Historiker 170 Kain, Sohn Adams 157, 186 Kaiser, römische 244, 247, 266, 268 Kaiserzeit 246, 249, 250 Kambyses, Sohn des Kyros, Perserkönig 146 Kampf ums Dasein 73 Kanake, Heroine 150 Kannibalismus 125, 143, 144 Anm. 40, 147 f. Kant, I., Philosoph 64 Anm. 10 Kapitol von Rom 54, 163 Kardinaltugenden 49 Kardiognosie 265 Karer / Karien 142, 147, 285 Karthago 191 Kassandra, mythische Seherin 98 Kastalia, Quelle 97 Kaunos, Heros 142, 150 Kekulé von Stradonitz, R., Archäologe 34 Kerényi, K., Religionshistoriker 13, 78 Kind 115, 116, 129, 248 f., 275 Anm. 19 Kind, göttliches 7, 86, 248 f. Kinderopfer 249 Kinyras, Heros 151 Kirchenschriftsteller 111, 213 Anm. 35, 231, 256 Kirchenväter 113, 261, 266
Kiste 116 f., Anm. 72 Klassizismus 11 f., 35 Kleid, kosmisches 51 Kleinasien 28, 140, 189 Kleopatra VII., Königin von Ägypten 192 Klymenos, Heros 151 König 8, 52 f., 66, 93, 94, 139, 156, 180, 250, 281 Königin 144 Königin von Saba 9, 261 Kommagene, Land im Nordosten Syriens 147 Kommentar 231 Komplementarität 88, 205 Konstantin, römischer Kaiser 73, 233, 268, 287 Konstantinopel 164, 195, 268, 288 Kontinuum 35 f., 121 f., 206 Konvertiten 252 Konzil von Trient 263 Kore s. Persephone Kornähre 114; s. auch Ähre Korythos, Heros 150 Anm. 107 Kosmogonie 38 Anm. 11, 65–71, 138 f., 146 f., 149, 272 Kosmosgott 47–59, 71 Kosmokrator s. Weltherrscher Kosmos 49, 51, 52, 61 f., 63, 65, 69, 70, 71, 72, 105, 114, 149, 158, 160, 161 f., 163, 164, 165, 166, 167, 168, 176, 204, 207, 211, 212, 220, 234, 241, 262, 282, 287 Kranz 96, 133 Kreis 54, 114, 117, 130, 135, 136, 158 f., 160, 165 f., 204; s. auch Uroboros Kreter 163 Kreusa, Frau des Aeneas 188 Kreuz 6 f., 118, 256 Krieg 64, 165, 166, 178, 183–198, 239 Kronos, griechischer Gott 58, 68, 149 Kugel 54 Kuh 159 Kulturenstehungslehren 272–276 Kulturkritik, antike 275 Kunst, altchristliche 256, 277, 286–289 Kunst, bildende 11 f., 32 Anm. 31, 38, 57, 84 Anm. 34, 93, 94, 98, 106, 110, 189, 190, 192 Anm. 39, 239, 250, 269, 281– 289
Personen- und Sachregister
Kuss 96 Kybele, phrygische Göttin 103 f., 116, 139 Anm. 11, 242, 247 Kyllene, Heroine 151 Kyniker / Kynismus 144, 148 Anm. 81, 177 f., 252, 254 Kyros d. Ä., Perserkönig 256 Labyrinth 198 Anm. 64, 199 Laktanz, christlicher Schriftsteller 20, 278 Laomedon, sagenhafter König von Troja 186 Larisa, Heroine 151 Lasaulx, E, von, Philosoph und Philologe 9 Anm. 35, 64 Anm. 9 Latein 180, 255 Latinus, Stammvater der Latiner, sagenhafter König 188 Lavinia, Heroine 188, 192 Lavinium, Stadt der Laurenter 188, 192 Leander, Bischof von Sevilla 267 Leben / Tod 28, 108, 117, 124–129, 131, 135 f., 167, 199, 247, 262, 285, 286, 287 Lebensbaum 7 Lebensformen 164 Lehrer 266 Leleger, mediterranes Urvolk 285 Leo I., Papst 267 Leukippos, Heros 150 libido 276 Licht 207, 286 Liebesvereinigung 95–99, 199 Liktoren 188 Lilie / Schwert 32 Anm. 31, 84 Linos, mythischer Sänger 94 Livia, Frau des Augustus 192 Livius, römischer Geschichtsschreiber 148, 193 Livius Andronicus, römischer Dichter 194, 195 Löwe 55 f., 58 Locke, J., Philosoph 5 Logos 223 Lollianos, griechischer Romanautor 111 Longinos, Homerkritiker und Philosoph 218 Lucifer, gefallener Erzengel 65 Lucius, Romanfigur 30 Luft 85, 96
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Lukas, Evangelist 99 f. Lukrez, römischer Lehrdichter 20, 251, 273 Anm. 9, 275 f., 278–280 Lykurgos, sagenhafter Gesetzgeber der Spartaner 83, 153 Macht, göttliche 15–33, 36–45, 56–59 Männlich / Weiblich 27, 47, 117 Märtyrer 255, 267, 268 Magie 216, 244 f., 257 ‚Magnificat‘ 100 Magoi, persische 142, 146, 161 Anm. 25, 164 Mahl 113, 121–136 Malkos/Malchos 218; s. Porphyrios Makareus, Heros 150 Makedonien 140, 142 Anm. 28 Makro-/Mikrokosmos-Gedanke 27, 51, 52, 68, 72, 114, 161, 208, 213, 220, 226, 228 f., 230 Manichäismus 59, 168 Manilius, römischer Lehrdichter 23, 279 f. Manu, mythische Gestalt 66 Marduk, babylonischer Gott 31, 65, 67, 162, 205 Maria, Gottesmutter 5 f., 12, 99 f., 248, 262, 285, 287, 289 Marius, C., Gegner Sullas 246, 282 Marius Victorius, Claudius, christlicher Dichter 272 Markion, Häresiarch 31 Mars, römischer Gott 188, 193 Martial, römischer Epigrammdichter 144 Martyrium 214, 265 Mater magna deum, Göttin 103 f., 242, 247; s. Kybele, Muttergottheit Mathematik 49 Matius, Cn., römischer Übersetzer 195 Maussollos, Satrap bzw, Dynast/König 54 Meer 209 Anm. 27 Melampus, mythischer Seher 86 Melchisedech, Priesterkönig 9, 261 Menephron, Heros 150, 151 Menes, Pharao 83 Mengs, R., Maler und Kunsttheoretiker 35 Mensch, göttlicher s. Mensch, heiliger
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Personen- und Sachregister
Mensch, heiliger 6, 26 f., 79, 83, 107, 112, 123, 156, 164, 217, 244, 245, 251, 256, 259–269, 288 Mentalitätsgeschichte s. Bewusstseinsgeschichte Messe, heilige 118, 135 f. Metamorphose 13 m2_exi : 205 Methodios aus Olympos, Kirchenschriftsteller 219 metax6 168 Michael, Erzengel 6, 31, 65 Michelangelo, Maler, Bildhauer, Architekt 11 Midas, sagenhafter König von Phrygien 298 Mikrokosmos s. Makro-/MikrokosmosGedanke Milch 116, 129 Minerva, römische Göttin 157 Minos, sagenhafter König und Gesetzgeber der Kreter 83 Minotaurus, Mischwesen 199 Mischwesen, numinoses 55 f., 58 f. Mission, christliche 181, 235 f., 281 Missionar 267, 281 Mithras, persischer Gott 54, 58, 66, 177, 247; s. auch Mysterien des Mithras Mittelalter 10 f., 121, 261, 267 Mittelplatonismus 241, 252, 256, 262, 283, 287 Mnemosyne, griechische Göttin 81 Moderne s. Neuzeit Mönch 265, 267 f., 288 Moiren, griechische Göttinnen 41 Monarchie 246, 249, 263, 282 Mond 139, 147, 149 Mondgöttin 30, 53 Anm. 40 Morphologie 2, 233 Mose, Gesetzgeber der Israeliten 82, 83, 197 Müller, C. O., Philologe 1 Mumienporträts 284, 286, 287, 288 mundus senescens 250 f. Mundt, Th., Schriftsteller 153 f. Musaios, mythischer Sänger 94 Muse(n) 81, 85, 86, 93, 94, 227 Mutter 5 Muttergottheit 248, 284, 285; s. auch Mutter, Große 5 f., 29, 116, 139, 142 s. auch Göttin, Große
Mutterland 163 Myrrha, Heroine 142, 151 Mysten 110, 111, 114, 115, 116, 117, 285 f., 287 Mystik 19, 217 Anm. 8, 232, 241 Mysterien / Mysterienkult 103–119, 241, 242, 257 f., 282–286 Mysterien von Andania 103, 111 Anm. 39, 119 Mysterien des Attis / Adonis 115 Mysterien der Demeter / Persephone (Eleusinische) 103, 104, 114, 115, 116, 117, 119, 243, 283 f., 285 Mysterien des Dionysos / Orpheus 103, 104, 109 Anm. 31, 115, 116, 117 Anm. 75, 283, 284, 285 Mysterien der ‚Großen Götter‘ von Samothrake 103, 110, 119 Mysterien der Isis und des Osiris 284, 285 Mysterien des Mithras 104, 108, 110, 113, 117, 119 Mysterien des Sabazios 115 Anm. 64 Mysterienmahl 132 Anm. 42, 134 Mythische, das 75–78, 86, 87 Mythologen 149, 175 mythologia perennis 223 Mythos 38 f., 149, 223, 225, 226, 230, 234, 283 Nachfolge Christi 263 Nacht 108 Nacktheit 99, 273–275 Naevius, Cn., römischer Dichter 193, 194 Naherwartung des Weltendes, christliche 235 f. Nahrungslosigkeit 125 Anm. 12 Namatianus, Claudius Rutilius, römischer Stadtpräfekt und Dichter 187 Nationalstaatsidee 169 f. Natur 19 f., 23, 26, 37, 57, 64, 70, 73, 76, 87, 109, 118, 122, 133 Anm. 43, 154 f., 158, 162, 176, 204; s. auch Physis Naturkatastrophen 64 Nazarener, Maler 12, 57, 269 Nebo, babylonischer Schreibergott 81, 95 Nebukadnezar II., König der Babylonier 256
Personen- und Sachregister
Nephthys, ägyptische Göttin 145 Pseudo-Nepos, Cornelius 197 Nero, römischer Kaiser 192, 196 Neujahrsfest 70, 141 Neuplatonismus 118, 218, 241, 252, 256, 260, 262, 283, 286, 287, 288 Neupythagoreer 118, 241, 254, 282, 288 Neuzeit 10–13, 19 f., 22 f., 77 f., 163, 164, 169–171, 178 f., 202, 215, 258, 263, 265, 269, 289 Nietzsche, F., Philosoph 13, 16 Nikolaus von Kues, Theologe und Philosoph 9 Anm. 35, 16, 19, 32 f., 47 Ninos, sagenhafter König von Assur 142, 150 Niobe, Heroine 151 Noach (Noe), Stammvater 9, 179, 235, 261 Nomina barbarika 42 Anm. 28, 143 Nominalisten 10 Nonnos aus Panopolis, griechischer Epiker 51, 58 n5qo : 95 Novalis, Dichter 78, 133 Anm. 43 Numa, sagenhafter König und Gesetzgeber der Römer 83, 153 Numitor, sagenhafter König von Alba Longa 188 nutus divinus 83 Nyktimene, Heroine 151 Nymphen 126 Nyx, göttliche Urmacht 68 Oannes, mythischer babylonischer Offenbarer 209 Anm. 27 Odysseus, Heros 197, 228, 239, 243 Ödipus, Heros 150 Offenbarung 16, 20, 31, 44, 45, 59, 78– 88, 89–101, 210, 214, 222, 224, 226, 231 f., 235, 245, 253, 256 Offenbarungsformen 79–87 Oikumene 169–181 Oineus, Heros 151 Oinomaos, Heros 151 Okeanos, griechischer Gott der Gewässer 38 Anm. 12, 149, 150 Anm. 99 Oktavian s. Augustus Ololygé 132 Olympische Götter 243 Omophagie 104
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Omphalos 119 Anm. 81 Opfer 8, 63, 66, 74, 113, 118, 119, 130– 136, 221, 245 Opfertier 131 Opfertod 249 Ops, römische Göttin 150 Anm. 99 ‚Oracula Chaldaica‘ 30, 218, 231 Orakel 225 Orakel von Delphi 24 f. Orakel von Didyma bei Milet 96 orbis terrarum 173, 181 Ordnung 161, 163, 206 Xrexi : 204 Orient, Alter 55, 57–59, 70, 90, 142 f., 159 Anm. 18, 162, 163, 183, 188, 201, 218, 237, 242, 246, 248 Origenes, Kirchenschriftsteller 97 ‚Origo gentis Romanae‘ 193 Orpheus, mythischer Sänger 6, 38, 93, 94, 107, 115, 118, 123, 242, 244, 251, 261 Orphik, Orphiker 27, 50, 51, 57–59, 67 f., 107, 112, 128, 149, 168, 225, 227, 234, 241, 242, 251, 252, 254 Ort, heiliger 6, 36, 245, 265 Orthodoxie 181 Osiris, ägyptischer Totengott 31, 104, 115, 118, 145, 242, 284, 285 Ost-West-Beziehung 183–200 Ostanes, iranischer Magier 253 Ostia, Hafenstadt Roms 104 Otto, R., Religionsphilosoph 16, 23, 44 Otto, W. F., Philologe und Religionshistoriker 13, 78 Ovid, römischer Dichter 13, 69, 98, 194, 278 Pacatus, Kirchenschriftsteller 219 Pachomios, Mönchsvater 83 Palästina 288 Palladion 190 panag3: 24 Pandaie, Heroine 151 Paradies 7, 69, 129, 154, 155, 272–280 Paradoxon 19, 43, 127, 207 Paris, Sohn des Priamos und der Hekabe 187, 191 Parmenides aus Elea, Philosoph 16, 19, 22 Anm. 15, 84, 176, 203, 223 Partherkönige 146, 147
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Personen- und Sachregister
Parthenios, griechischer Elegiendichter 142 Anm. 23 Parthenon auf der Akropolis von Athen 185 Parysatis, Schwester des Dareios II, Nothos 146 Parzen s. Moiren Pascal, B., Philosoph 156 Anm. 6 Pastor, L. von, Historiker 167 Paulus, Apostel 22, 33, 167, 247 f., 252, 256, 264, 286 Pelasger, alte vorgriechische Bevölkerung 284 f. Pelopia, Tochter des Thyest 151 Peloponnesischer Krieg 213 Penaten, Hausgötter der Römer 189 f. Perdikkas, makedonischer Männername 142 Periander, Tyrann von Korinth 150 Anm. 105 Perikles, athenischer Staatsmann 162 Perlenlied (der Thomasakten) 230 Anm. 63 Persephone, Unterweltsgöttin 114, 115, 117, 150, 185, 243, 283, 284, 285 Perserkriege 184 Perseus, Heros 6, 65 Persien 265 Petron, römischer Schriftsteller 192 Petrus, Apostel 263 Petrus der Iberer, monophysitischer Heilige 268 Pferd 67 Pfi ngsten, erstes 180, 181 Pfister, F., Philologe 131 Phäaken, mythisches Volk 228 Phädra-Motiv 143, 150 Phaëthon, Sohn des Helios 58 Phanes, orphischer Urgott 53, 67 Philammon, mythischer delphischer Sänger 93 Anm. 14 Philipp II., König der Makedonen 281 Philippos aus Opus, Schüler Platons 191 Philodem aus Gadara, epikureischer Philosoph 144 Philon aus Alexandrien, jüdischer Philosoph 147, 167 f., 252, 257 Philosoph, religiöser 215–232, 241 f., 251–253, 260, 261, 286 Philosophenbildnis 287 f.
Philosophenschule 50, 251, 282, 283 philosophia perennis 220, 223, 225 Philostorgios, arianischer Schriftsteller 219 Phoenix, mythischer Vogel 205 Phönizien 28, 142, 218 Phorkys, Meergott 228 Phrygien 109 Physis als Göttin 22 Anm. 16 Piasos, Heros 151 pietas 191 Pikten, Volk in Irland 147 Pilatus, Pontius, Prokurator Judäas 180 Pindar aus Theben, griechischer Chorlyriker 160, 176 Platon, attischer Philosoph 2, 5, 68, 76, 84, 86, 113, 115, 118, 132 Anm. 43, 167, 176, 203–205, 208–214, 218, 223, 225, 228, 229, 232, 242, 243 Anm. 36, 252, 253, 254, 262, 273 f., 282, 286 Platonismus 216, 241, 252–254, 257, 267, 274, 282, 283 deo plena(us) 98 gratia plena 99 Plinius der Ältere, römischer Fachschriftsteller 156, 194 Plotin aus Ägypten, Begründer des Neuplato-nismus 176, 217, 218, 219, 222, 223, 225, 227, 230, 231, 232, 286 Plötzlichkeit 37 Pluralismus 246, 281 Plutarch aus Chaironeia, Biograph und Philosoph 113, 153 Pluton, Gott des Reichtums der Erde, später mit Hades, dem Gott der Unterwelt, gleichgesetzt 117, 185, 283, 284 Plutos / Brimos, göttliches Kind 117 Pneuma, göttliches 96, 100, 167 poeta divinus 79 poeta doctus 79 Polarität s. Gegensatz Polenton, Sicco, italienischer Humanist 196 Polis 61, 105, 107, 211, 241, 281, 282; s. Stadt Polymela, Heroine 150 Pompeius, Cn., Magnus, römischer Feldherr 246, 282 Pontos, Teil Kappadokiens 147
Personen- und Sachregister
Porphyrios, neuplatonischer Philosoph 215–232, 286, 288 Poseidon, griechischer Gott 26, 56 Anm. 55, 186, 252 Poseidonios aus Apameia, stoischer Philosoph 17, 223, 275 Postmoderne 11 Praetextatus, M. Vettius Agorius, Stadtpräfekt von Rom 118 Anm. 77 Priesterkönig 123, 259 Prinzipat 282 Proklos aus Konstantinopel, neuplatonischer Philosoph 113 Prokris, Heroine 151 Prometheus, Titane 156 Promiskuität 140 f., 143, 144, 148 Prophet 22, 74, 79, 235, 245, 265 Prophetin 98 Proselyten 248 Protagoras aus Abdera, Sophist 273 Anm. 7 Providentia 253 Anm. 84 Pseudepigraphie 38, 80, 81 Anm. 13, 92, 196 Ptolemaios II. Philadelphos 145 puer-senex 8 Purusa, Urmensch der Inder 67 Pyrrha, Heroine 176 Pythagoras aus Samos, Philosoph 13, 107, 176, 203, 217, 223, 230, 251, 252, 254, 260, 277, 282, 288 Pythagoreer 18 Anm. 5, 27 Anm. 35, 47 Anm. 3, 50, 58, 74, 107, 112, 118, 128, 232, 241 Pythia, prophetische Priesterin des delphischen Apollon 97, 98, 260 Python, mythisches Schlangenwesen 29, 31, 32, 205 Quadrat 54, 158 f. quadriformis 55 quadrifrons 55 Quadriga 53 f. Quelle 126 Quellnymphe 126 Rad 56 Rätselrede 142 Raffael, Maler 12 Rank, O., Psychologe 141
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Raum 53, 58 Realität 160, 202 f. Recht 105, 159 Anm. 19, 165 f., 242 Redner 143 f. Regulus, M. Atilius, römischer Feldherr 255 Reinhardt, K., Philologe 13 Reinheit 117 Reinigungen 113 Religionskritik 282 Reliquien 265 Reliquienkult 288 Remus, Bruder des Romulus 157, 188 Renaissance 11 f., 40, 51 Anm. 27, 77, 121, 136, 171, 190, 200, 215, 262, 289 Res publica Romana 255 Rettergottheiten 243 f. Rhea, Tochter des Uranos und der Gaia 142, 145, 149 Rhea Silvia (oder Ilia), römische Vestalin 188 Rhythmus, als metaphysisches Prinzip 18 Rilke, R. M., Dichter 13, 77, 101, 202 Ritus 199 Rohde, E., Philologe 25, 41 Rom / Römer 50, 54, 55, 109, 110, 113, 187–195, 214, 218, 238, 246, 249, 251, 254, 265, 281 f. Roman 111 Romanisierung des Christentums 234 Romantik, neuzeitliche 10, 12, 77 f., 81, 153 f., 263 Romulus, sagenhafter Gründer Roms 157, 180, 188 Rumlna / Ruma, etruskisches Geschlecht 188 Sabäer, Volk in Arabien 147 Sabazios, phrygischer Gott 103, 247 f. sacer 24 saecula 251 Sage 142, 150, 151 Sakralfrevler 71 f. Sakrament 287 Sallust, römischer Geschichtsschreiber 197 Sallustios, Neuplatoniker 4 Anm. 11, 225 Salmoneus, sagenhafter König von Thessalien 244
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Personen- und Sachregister
Sarapis, Reichsgott der Ptolemäer 104, 247 Sasaniden, die Herrscher des mittelpersischen Reiches 53, 139 Anm. 9, 146, 147 Satan 65; s. auch Teufel Saturnus, römischer Gott 150 Anm. 99 Schadewaldt, W., Philologe 13 Scham 274 f. Schamane, Schamanismus 84, 107, 227, 259, 260 Schamasch, babylonischer Sonnengott 84 Schicksal 107 Schiller, F., Dichter 24 Anm. 19, 29, 44 Anm. 38, 93, 157 Schlaf 227, 228 Schlange 150 Schlegel, F., Schriftsteller der Romantik 59 Anm. 71 Schleier 108 Schönheit 35 Schöpfergott 87, 204, 219, 235, 259, 272 Schöpfung 3, 75, 204, 207 Schriften, heilige 80–82, 91, 221, 228, 231, 267, 268 Schuld 107, 108, 154, 155, 162 Schutzgottheit 243 ‚Schwester‘ 144 Scipio Africanus maior, P. Cornelius, römischer Feldherr 246 Scipio Africanus minor, P. Cornelius Aemilianus, römischer Feldherr 191 Seele 227–231 Seelenheil 107, 218 Segen 134 Segen / Fluch 21, 24, 25–33, 36, 41, 42 f., 44, 84, 91, 105, 109, 126 f., 153, 245, 247, 262 Seher-Ärzte 93, 94 Seinsstufen 49; s. auch arbor Porphyriana Selbstverständnis, christliches 259, 264 sella curulis 188 Semiramis, sagenhafte Königin der Assyrer 142, 150 Selene, griechische Göttin 38 Anm. 12 Seneca, L. Annaeus, Rhetor 98 Seneca, L. Annaeus, Philosoph 26 Anm. 30
Septimius, Lucius, römischer Übersetzer 196 Septimius Serenus, römischer Schriftsteller 196 Septuaginta 257 Serenus Sammonicus, römischer Schriftsteller 196 Seschat, ägyptische Göttin 81, 95 Seth, ägyptischer Gott 31, 32, 145, 261 Sibylle 93 Anm. 14, 97, 98, 253, 260, 261, 283 Signaturenlehre 8 Silanus, römischer Prätor 144 Silenos, Mischwesen aus dem Kreis des Dionysos 167, 240 Silvius, Sohn des Aeneas 188 Simeon, Prophet 99 Simeon, der Stylite d. Ä. 266 Sintflut 149, 179, 186 Sisimithres, persischer Satrap 146 Sisygambis, Mutter Dareios III. 146 Sisyphos, Sohn des Aiolos 239 Sittlichkeit 41–45, 73 f., 242 Sizilien 219 Skeptiker 238, 242, 282, 283 Sklaven 246, 249, 268 Skythen 148 Anm. 81, 83 Sokrates, attischer Philosoph 252, 254 Sol s. Sonnengott Sommer 286, 287 Sonne 70, 117, 139, 147, 149 Sonnengott 53 f., 139 Sophisten, Sophistik 23, 39, 40, 213, 238, 242, 281 Sophokles, attischer Tragiker 21 Sparta 213 Sphinx 56 Anm. 56, 150 Anm. 94 Spiegel 168, 208 Spiel 198–200 Spinnen, die 161 Sprachen 255 Stadt 50, 72, 153–168, 177, 180, 183–189 Stadtgründung 185 f. Stadtmauern 159 Stadttore 159 Stateira, Schwester Dareios III. 146 Statius, römischer Dichter 280 Anm. 53 Staunen 106 Steigerung 18, 24, 27, 63, 206 Stellvertretung 8
Personen- und Sachregister
Stephan, hl. 265 Stier / Urstier 56, 58, 66, 71, 159 Stoa, Stoiker 144, 148 Anm. 81, 176, 177, 211 Anm. 31, 214, 218, 241, 243 Anm. 36, 252, 253, 254, 274 Anm. 14, 282 Strafwunder 261 Stratonike, spätere Gemahlin von Antiochos I. 143 Anm. 31 Subjektivismus 121 Sühne 8 Sulla, L, Cornelius, Feldherr und Dictator 246, 282 Sumerer 159 Anm. 18 Symbol, Symbolische, das, Symbolik 18, 39, 75, 86, 111, 113, 160, 203 Synkretismus 233, 247, 248 Sympathie-Gedanke 17 Syrakus, Stadt in Sizilien 164 Syrien 109, 140, 218, 288 Tabulae Iliacae 185 Tacitus, römischer Geschichtsschreiber 70 f. Tag / Nacht 278–280, 285 f. Tartaros 242 Taufe 281 Taufe Jesu 100 Technik 3, 170 f., 202 Tegea, Stadt in Ostarkadien 55 Teiresias, griechischer Seher 86 Telephos, Heros 150 Telesterion, Weihehaus von Eleusis 110 Anm. 33, 117 Tempel 161–164 Tertullian, Apologet 8 Testament, Altes 9, 21, 22, 25, 44, 57, 59, 67, 73, 74, 77, 157, 167, 179 f., 231, 234, 235, 253, 256, 259, 260, 261, 262, 264, 280, 289 Testament, Neues 21, 32, 44, 57, 77, 180, 231, 234, 257, 259, 261, 289 Tethys, Gemahlin des Okeanos 149, 150 Anm. 99 Tetraktys 50 Teufel 31, 32, 42 f., 206 Thales aus Milet, griechischer Philosoph 220, 223, 230 Theben, Hauptstadt Ägyptens 164 Theben, Hauptstadt Boiotiens 178
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Theia, Tochter von Uranos und Gaia 149 Theoderich, König der Ostgoten 271 Theodizee 21, 42 Theodor von Euchaïta, hl. 6 Theodosius II., römischer Kaiser 268, 288 Theogonie 38 Anm. 11, 149 Theophagie 132 Theophanie 26, 27, 37 Theophrast, Schüler des Aristoteles 177 Theopompos, griechischer Geschichtsschreiber 167 Theorie / Praxis 210–212 Theseus, Heros 6, 65, 185, 199 Theurg 260, 288 Theurgie 216 Thoth, ägyptischer Gott 81, 82, 95 Thrakien 109 Thukydides, griechischer Geschichtsschreiber 39, 162, 194 Thyestes, Sohn des Pelops und der Hippodameia 151 Tiamat, babylonisches Chaosungeheuer 31, 32, 67, 71, 162, 205 Tiberius, römischer Kaiser 192 Anm. 37 Tibull, römischer Elegiendichter 277 Tiere 55 f., 64, 65 f., 67, 202, 272 f., 274 Anm. 14, 275, 276–278 Tierkreis 117 Titanen 115, 132 Titus, römischer Kaiser 174 Tod 30, 63, 105, 106, 108, 109, 111, 115, 117, 124–129, 130–132, 135, 193, 199, 228, 230, 240, 249, 255, 285 Töten 61–74, 125–128, 130–132, 133 f. Toleranz / Intoleranz 237 Anm. 15 Toten, die 29 f., 285, 287 Totengericht 32 Anm. 51, 42, 242 Totenkult 283 Totenmahl 133 f. Totenschiff 228 Toxios, Sohn des Uranos 156 Tragiker, griechische 73 Tragödie 240 Trank 126 f. translatio imperii 172, 184, 190 Traum 67, 83, 86, 141, 202, 205, 209 Anm. 27, 227, 245 Trennen 62–70
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Personen- und Sachregister
Trier 287 Trinken s. Mahl Triptolemos, Heros von Eleusis 114 Triumph 54 Anm. 48, 188 Troja, Trojaner, Trojanischer Krieg 183–200, 239 Trojaspiel 198–200 Trost 108 Tugenden 254 Turnus, König der Rutuler 193 Tyche, griechische Göttin 30, 40, 162 Tyrann 214, 255 Tyros, Stadt der Phönizier 218 Tyrrhener 189 Überlieferung 219 f. Ulrich, hl. 263 Umgangsriten 159 Anm. 18 Unbekannte Götter 247 f. Unendliche, das 23, 39 unio magica 37, 106, 209, 239 Unschuld 128 f., 155 Unteritalien 109 Unterpfänder 54, 82, 190 Unterscheidung der Geister 216 Unterwelt 278 Uranopolis 164 Anm. 46 Uranos, griechischer Himmelsgott 38 Anm. 12, 68, 81, 149 f. Urbilder 179; s. auch Archetypos Urelternpaar 68, 149, 155, 235, 261, 272– 280 Urfrevel 129, 186 Urmensch 66 f., 278 Uroboros, göttliche Kreis-Schlange 47, 55 Anm. 52, 66, 136, 204, 205, 226 Urphänomen 209 Ursprungskultur 148, 178 Urwesen 65 f., 149 Utopie 167, 178 Valerius Maximus, römischer Schriftsteller 254 Varro, M. Terentius, römischer Gelehrter 3 Anm. 6, 122, 158 f., 176, 194, 198, 205 Anm. 9, 222, 251 Vasenmaler, griechische 106, 239 Vater 5, 189, 247, 259, 284 Vaterland 162, 163 vates 79, 259
Vegetarismus 64, 74, 128 Veji, Stadt in Südetrurien 54 Venus, römische Göttin 48 Anm. 5, 190 Venus Victrix 247 Verfasserschaft, mythische 92; s. auch Pseudepigraphie Verfluchter 24, 71, 72 Vergeltung 41 f., 72, 74, 128 Vergil, römischer Dichter 98, 173, 191– 193, 194, 198 f., 251 Vergöttlichung 92, 241, 262 Verhüllen des Hauptes 162 Versöhnung 128, 130, 135 Verwandlung 67 Vettius, römisch-etruskischer Seher 251 Viergesichtig 55–59 Vierzahl 6, 47–59 Vision 56, 91, 245, 265 Visionär 264, 288 Vögel 161, 277 f. Völker, mythische 123 Vogelschau 188 Vollkommenheit 158, 159 f. Vorsehung 40 Vorzeichen 145, 245 Wahnsinn 126 Wahrheit 223, 224, 225, 230, 232 Wasser 85, 126, 128 Wein 126, 132 Weinkanne von Tragliatella 198 Weissagungen des Marcius, der Marcii 190 Weltalter 53 Weltbild 245, 262 Weltbürger 177 Welteltern 48, 138, 149 Weltenberg 7 Weltgeheimnis 23 f., 43, 44 f., 56, 107, 108 f. Weltgericht 84, 268 Weltherrscher 51, 53, 54, 55 Anm. 50, 57 Weltreiche 172 Weltsäule 7 Weltseele 208 Weltwunder 174 Weltzentrum s. Omphalos Wiedererinnerung 208 f. Wiederkehr des Gleichen 114, 234, 243, 287
Personen- und Sachregister
Wilamowitz-Moellendorff, U, von, Philologe 13, 29 Wille 90, 219 Winckelmann, J. J., Kunsthistoriker 35 Wind 85, 96 Anm. 26 Wohlgeruch 265 Würfel 54 Wunder 27, 215, 244, 263–266, 288 Wunderberichte 265 Wundertäter 123, 263–266 Wunderwettstreit 264 Xanthos der Lyder, Geschichtsschreiber 146 Xenokrates, dritter Schulleiter der Akademie 218 Xenophanes aus Kolophon, Philosoph 168, 176 Xerxes, König der Perser 163, 164 Yima bzw, Yemo, iranischer / indogermanischer Urkönig 66, 67, 146 Yin / Yang 19, 207 Yinak, Schwester des Urkönigs Yima 146 Ymir, germanischer Weltriese 67 Zacharias, Vater Johannes des Täufers 99 Zagreus s. Dionysos (Zagreus)
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Zaleukos, Gesetzgeber der epizephyrischen Lokrer 83 Za(l)moxis, mythischer Gesetzgeber der Geten 83 Zarathustra, persischer Religionsstifter 83, 253 Zauberei s. Magie Zehn-Gebote 81 f.; s. auch Dekalog Zeit 53, 58 Zeit, Goldene 7, 129, 130, 278 Zeit, heilige 6, 36, 245 Zeitalter, drei 3, 122, 205 Zeitlosigkeit 2, 4, 75–78, 87 Zelt 161 Zenon aus Elea, Philosoph 255 Anm. 91 Zenon aus Kition, Begründer der Stoa 177 Zentrum 204, 212; s. auch Omphalos Zeugung 95–99, 100, 116 Zeus, Himmelsgott der Indoeuropäer 23, 26, 28, 31, 51, 56 Anm. 55, 65, 93, 116, 129, 139, 149, 150, 225, 234, 243, 247, 248, 284 Zeus Sarapis 177 Zeus Teleios 55 Zorn der Gottheit 31, 41, 44, 269 Zoroastrier 147 Zurvan, iranischer Gott der Zeit 53, 54 Zweizahl 28 Anm. 35, 48, 56, 62