Freiheit und Moral: Konzeption einer libertären Ethik 353426813X, 9783534268139

Die Verallgemeinerung der Idee, dass die Freiheit jedes Einzelnen ihre Grenze an der Freiheit des anderen findet, bildet

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German Pages [236] Year 2017

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
I Vorbemerkung
II Einleitung
III Agenda
1 Freiheit (Libertarismus)
1.1 Libertärer Freiheitsbegriff
Handlungsfreiheit und Hindernisse
Tun und Unterlassen
Intentionalität
Drohungen und Zwang
Der Freiheitsbegriff nach Hayek
Negative und Positive Freiheit
Der Freiheitsbegriff nach Seebaß
1.2 Libertäre Rechte und Pflichten
Recht auf Freiheit
Eigentumsrechte und Selbsteigentum
Aneignungstheorie
Das Proviso
Libertäre Gerechtigkeit
Nozicks Anspruchstheorie
Ablehnung positiver Pflichten
Die inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts
2 Moral (Kontraktualismus)
2.1 Moralbegründung
Kognitivismus vs. Nonkognitivismus
Objektivistische Begründungen
Naturrecht
Intuitionismus
Subjektivistische Begründungen
Klassisch-liberaler Konsequentialismus
Ethischer Egoismus
Hobbesianischer Kontraktualismus
Politischer Kontraktualismus
Moralischer Kontraktualismus
2.2 Stemmers Normativitätstheorie
Das Müssen
Normatives Müssen
Praktische Gründe
Normativität
Motivationales Potential
Gewicht
Rationalität
Begründung von Normen, Rechten und Pflichten
Künstliche Gründe, Sanktionen und Normen
Pflichten und Rechte
Das moralische Müssen
Moralische Sanktionen
2.3 Stemmers Kontraktualismus
Das Interesse aller
Minimalmoral und Quasi-Moral
Einstimmigkeit, Unterdrückung und essentielle Normen
Das Unterdrückungsverbot
Essentielle Normen
Weitere Begrenzung der Einstimmigkeitsforderung
Fixpunkte des moralischen Maßstabs
3 Freiheit und Moral (Kontraktualismus alslibertäre Moralbegründung)
3.1 Narvesons Strategie
3.2 Libertäre Normen
Das Diebstahlverbot
Das Hilfsgebot
Reichweite des Hilfsgebots
3.3 Kontraktualistisches und Libertäres Selbstverständnis
3.4 Auswirkungen auf den politischen Libertarismus – ein Ausblick
IV Fazit
V Literaturverzeichnis
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Freiheit und Moral: Konzeption einer libertären Ethik
 353426813X, 9783534268139

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Samuel Kis

Freiheit und Moral Konzeption einer libertären Ethik

Gefördert durch den Wilhelm-Weischedel-Fond der WBG

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: SatzWeise GmbH Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26813-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74327-8 eBook (epub): 978-3-534-74328-5

Inhaltsverzeichnis

I Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Agenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Freiheit (Libertarismus) . . . . . . . . . . . . . 1.1 Libertärer Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . Handlungsfreiheit und Hindernisse . . . . . . . Tun und Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drohungen und Zwang . . . . . . . . . . . . . . Der Freiheitsbegriff nach Hayek . . . . . . . . . Negative und Positive Freiheit . . . . . . . . . . Der Freiheitsbegriff nach Seebaß . . . . . . . . 1.2 Libertäre Rechte und Pflichten . . . . . . . . . . Recht auf Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigentumsrechte und Selbsteigentum . . . . . . Aneignungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . Das Proviso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Libertäre Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . Nozicks Anspruchstheorie . . . . . . . . . . Ablehnung positiver Pflichten . . . . . . . . Die inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts

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2 Moral (Kontraktualismus) . . . . . . 2.1 Moralbegründung . . . . . . . . . . . Kognitivismus vs. Nonkognitivismus Objektivistische Begründungen . . . Naturrecht . . . . . . . . . . . . . Intuitionismus . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Subjektivistische Begründungen . . . . . . . . . . . . . . Klassisch-liberaler Konsequentialismus . . . . . . . . Ethischer Egoismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hobbesianischer Kontraktualismus . . . . . . . . . . . Politischer Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . . Moralischer Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . 2.2 Stemmers Normativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . Das Müssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normatives Müssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Praktische Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivationales Potential . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begründung von Normen, Rechten und Pflichten . . . . Künstliche Gründe, Sanktionen und Normen . . . . . Pflichten und Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das moralische Müssen . . . . . . . . . . . . . . . . . Moralische Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Stemmers Kontraktualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Interesse aller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Minimalmoral und Quasi-Moral . . . . . . . . . . . . . Einstimmigkeit, Unterdrückung und essentielle Normen Das Unterdrückungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . Essentielle Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Begrenzung der Einstimmigkeitsforderung . . Fixpunkte des moralischen Maßstabs . . . . . . . . .

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung) . . . . . . . . 3.1 Narvesons Strategie . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Libertäre Normen . . . . . . . . . . . . . . Das Diebstahlverbot . . . . . . . . . . . . . Das Hilfsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . Reichweite des Hilfsgebots . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

3.3 Kontraktualistisches und Libertäres Selbstverständnis . . 215 3.4 Auswirkungen auf den politischen Libertarismus – ein Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 IV Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 V Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

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I

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, mit der ich im August 2016 bei der Geisteswissenschaftlichen Sektion im Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz meinen Promotionsstudiengang abgeschlossen habe. Ich will mich bei allen Institutionen und Personen bedanken, die mir dabei geholfen haben. Meinen Betreuern Julius Schälike und Gottfried Seebaß, wie auch Peter Stemmer, der meine Arbeit zwar nicht betreut, aber stets durch Anregungen, Kritik und Diskussionen sehr gefördert hat, gilt besonderer Dank. Auch allen Teilnehmern der diversen Doktorandenkolloquien und Doktorandenakademien möchte ich für ihre wichtigen Hinweise und Verbesserungsvorschläge danken, wie auch Freunden und Kollegen, mit denen ich meine Arbeit besprechen konnte. Moritz Scherzer, Martin Zimmermann, Stefan Fischer und Kevin Laue möchte ich für unzählige Kommentare und Korrekturen danken, von denen die Arbeit sehr profitiert hat. Ebenso will ich allen Freunden und meiner Familie für die seelische Unterstützung und Motivation danken, durch die ich die Promotion erst bewältigen konnte. Gedankt sei der Friedrich-Naumann-Stiftung, die die Promotion mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert hat, wie auch der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, die die Dissertation mit ihrem Doktorandenstipendium ebenso gefördert und im Rahmen ihres Verlagsprogramms veröffentlicht hat.

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II

Einleitung

Freiheit und Moral sind Begriffe, die in unserem Alltag eine fundamentale Rolle spielen und wohl zu den zwei wichtigsten Begriffen der Philosophie zählen. Dies spiegelt sich in einer kaum zu bewältigenden Flut an Literatur wieder. Zu beiden Begriffen wurde bereits so viel veröffentlicht, dass problemlos ein Buch geschrieben werde könnte, dessen Inhalt lediglich der Versuch ist, diese Schriften zu kategorisieren 1. Diese Arbeit soll kein Versuch werden, auch nur einen der beiden Begriffe zu erschließen. Es werden zwar beide Begriffe thematisiert, dies aber zum Zweck, eine bestimmte Moralkonzeption zu untersuchen. Eine Moral, die – so könnte man sagen – auf Freiheit basiert. Gemeint ist der Libertarismus – eine politische Theorie, die in der Tradition des Liberalismus steht, mit dem Fokus auf Freiheit als grundlegenden Wert, der moralisch von höchster Bedeutung ist. Deutschland kann zwar auf eine lange Tradition des Liberalismus zurückblicken, jedoch ist der Libertarismus weitesgehend unbekannt. In den USA hingegen, die nach ihrem eigenen Verständnis freiheitsliebend und von Grund auf liberal sind, sind die Einflüsse libertärer Überzeugungen offensichtlich. Das Freiheitsverständnis der Amerikaner ist eher libertär und in diesem Sinne weitaus radikaler. Zwang und Fremdbestimmung sind einem Libertären ein Dorn im Auge, egal wie sinnvoll sie erscheinen mögen. So stehen z. B. die Amerikaner staatlichen Regulierungen und Steuern traditionell kritischer gegenüber als die Deutschen. Die Einführung einer Zwangsgebühr, wie z. B. in Deutschland der Rundfunkbeitrag, wäre in den USA politischer Selbstmord und würde zu landesweiten Massenprotesten führen. Kein Deutscher hingegen geht auf die Straße, um gegen die gesetzliche Krankenversicherung zu demonstrieren, weil sie ihn in seiner Freiheit beschneidet. In den USA hingegen war die Ein1

Ein Versuch die wichtigsten Werke der Ideengeschichte der Freiheit zusammenzustellen stellt das Buch „Die Idee der Freiheit“ dar. Schwarz et al. 2007

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Einleitung

führung einer gesetzlichen Krankenkasse hoch umstritten. Präsident Barack Obama setzte zwar 2010 sein sogenanntes „Obamacare“ durch, musste aber gegen massiven Widerstand kämpfen. Diese Reaktion lässt sich darauf zurückführen, dass der Libertarismus weitaus mehr ist als eine politische Bewegung – er ist ein Ideal, an dem sich viele Menschen politisch wie auch moralisch orientieren. Der wohl beeindruckendste Beleg dafür ist das „Free-State-Project“. Ins Leben gerufen von einem Doktoranden der Yale University hat dieses Projekt als Ziel, einen libertären Bundesstaat in den USA zu schaffen. Der Bundesstaat New Hampshire wurde von den Projektteilnehmern als Ziel auserkoren und soll die neue Heimat der Libertären werden. Die politische Struktur New Hampshires ist so beschaffen, dass durch 20.000 Wählerstimmen maßgeblich Einfluss auf die Politik genommen werden kann. Auf der Hompage www. freestateproject.org konnte man eine Vereinbarung unterzeichnen, die zum Inhalt hat, dass sobald 20.000 US-Bürger unterzeichnet haben, alle Teilnehmer nach New Hampshire umsiedeln, um dort libertäre Überzeugungen politisch durchzusetzen. Anfang Februar wurde die 20.000er-Marke überschritten 2 und in den nächsten fünf Jahren werden tausende libertäre Amerikaner nach New Hampshire umsiedeln. Fast 2000 Teilnehmer sind bereits nach New Hampshire gezogen und sind dort politisch aktiv. Die damit verbundene Erwartung ist, dass New Hampshire zu einem libertären Vorzeigestaat umgewandelt wird, der sich durch maximale Freiheitsrechte und damit auch durch minimale staatlichen Regulierungen und Steuern auszeichnen soll. Was zuerst wie ein PR-Gag wirkte, ist nun Realität geworden. Die anscheinend große Anziehungskraft der libertären politischen Gesinnung gibt Anlass, das moralische Fundament des Libertarismus genauer zu betrachten.

2

Als ich 2013 während meiner Forschungsarbeit zum ersten Mal von diesem Projekt erfuhr, waren es noch weniger als 15.000 Teilnehmer und es war sehr fraglich, ob das Projekt überhaupt erfolgreich sein würde. Kurz vor Fertigstellung meiner Arbeit am 03. Februar 2016 wurde jedoch die 20.000-Marke überschritten und es bleibt abzuwarten, welchen realpolitischen Einfluss das Projekt haben wird.

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III Agenda Diese Dissertation hat zum Ziel, die Möglichkeit einer Begründung libertärer Moral zu untersuchen. Dies wird in drei Arbeitsschritten erfolgen. Der erste Schritt ist eine Darstellung des Libertarismus als politische Theorie und dessen moralische Grundlage. Eine genaue Betrachtung des libertären Freiheitsbegriffes ist dafür zentral. Nach der Darstellung und Kritik des libertären Verständnisses von Freiheit folgt das daran anknüpfende Verständnis von Rechten und Pflichten. Die negative Auffassung von Freiheit spiegelt sich auch in der negativen Auffassung von Rechten und Pflichten wieder. Die inhaltliche Bestimmung des Rechts auf Freiheit und dessen enge Verknüpfung mit dem (Selbst-)Eigentum und die Bedeutung für die Reichweite der libertären Moral werden dabei herausgearbeitet. Die libertäre Vorstellung von Freiheit, Rechten und Pflichten sind Ausdruck eines bestimmten moralischen Grundprinzips. Die inhaltliche Bestimmung dieses libertären Grundprinzips und die daraus hervorgehenden moralischen Normen sind weniger problematisch. Im Gegensatz dazu mangelt es an einer Begründung für dieses moralische Grundprinzip. Das ist der schwerwiegendste Vorwurf gegen den Libertarismus. Der zweite Schritt widmet sich daher dem Hauptproblem der Begründung libertärer Moral. Nachdem die Frage geklärt wird, warum Moral überhaupt begründungsbedürftig ist, wird versucht, die verschiedenen Möglichkeiten libertärer Moralbegründungen zu beleuchten. Naturrechtliche, intuitionistische, tugendethische, konsequentialistische und kontraktualistische Begründungsversuche werden als Kandidaten dargestellt, untersucht und die Gründe für ihr Scheitern aufgezeigt. Der Hauptgrund für das Scheitern einer kontraktualistischen Begründung ist deren mangelnde Fähigkeit, verpflichtende Normen zu generieren. Im Anschluss wird daher Peter Stemmers Kontraktualismus und seine Theorie über Normativität Gegenstand der Untersuchung sein, denn Stemmer beansprucht, eine kontraktualistische Begründung verpflichtender Normen entworfen zu haben. 13

Agenda

Nachdem Stemmers Argumentation detailliert wiedergegeben und einer kritischen Überprüfung unterzogen wurde, gilt es im dritten Schritt zu prüfen, ob der von ihm entworfene Kontraktualismus als Grundlage der libertären Moral dienen kann. Ein Vergleich der moralischen Inhalte wie auch der grundlegenden Annahmen des Libertarismus und des Stemmerschen Kontraktualismus sind dafür notwendig. Inhaltlich sind beide Moraltheorien weitgehend deckungsgleich und teilen ebenfalls ein vergleichbares Selbstverständnis. Einzelne abweichende moralische Normen und deren Bedeutung für die jeweiligen Theorien werden dafür analysiert und mögliche Unterschiede auf ihre Relevanz geprüft. Auf dieser Basis wird ein Urteil gefällt, ob die bestehenden Unterschiede dazu führen, dass die kontraktualistische Moral als Begründung libertärer Moral dienen kann. Abschließend wird ein Ausblick gegeben, welche Auswirkungen eine Konzeption libertärer Moral, auf Basis der erarbeiteten Ergebnisse, auf den politischen Libertarismus haben könnte.

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1

Freiheit (Libertarismus)

Der Libertarismus ist eine spezielle Form des Liberalismus – eine politische Ideologie, die ein freiheitliches soziales und politisches Zusammenleben zum Ziel hat. Als Gegenentwurf zum Totalitarismus und zur Monarchie soll ein liberaler Rechtsstaat in Form einer parlamentarischen Demokratie die Volkssouveränität garantieren. Damit werden jedem Mitglied der Gesellschaft bestimmte individuelle Freiheiten zugesichert. Die Freiheiten beziehen sich vor allem auf die Abwesenheit von staatlicher Gewalt und Zwang. Neben der Freiheit können auch andere Werte wie Gerechtigkeit grundlegend für das moralische und politische Selbstverständnis sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist John Rawls „Theory of Justice“ 1, die eine Gerechtigkeitskonzeption darstellt, die zwar die grundlegende Aufgabe des Staates darin sieht, die Freiheitsrechte der Bürger zu schützen, aber auch für Chancengleichheit zu sorgen. Der Liberalismus sieht die grundlegende Aufgabe des Staates darin, die Freiheitsrechte der Bürger zu schützen. Grundlegend für liberale Theorien ist die Verallgemeinerung der Idee, dass die Freiheit jedes einzelnen ihre Grenze an der Freiheit des anderen findet. Dieser Gedanke und das daraus resultierende Recht auf Freiheit gehen auf Denker wie John Locke (Two Treatises of Government, 1698), John Stuart Mill (On Liberty, 1859) und Immanuel Kant (Die Metaphysik der Sitten, 1797) zurück. Aus diesem Recht auf Freiheit leitet heutzutage der sogenannte Wirtschafts-, oder Neoliberalismus die Forderung nach freien Märkten ab, denn Eingriffe in den freien Markt und die Regulierung durch den Staat werden als Eingriffe in das Freiheitsrecht der Bürger aufgefasst. Der Libertarismus ist eine radikale Weiterführung der liberalen Idee. Er unterscheidet sich von anderen liberalen Theorien darin, dass er aufgrund eines solchen Freiheitsbegriffs nur einen sogenannten Minimalstaat (Robert Nozick; Anarchie, Staat, Utopia, 1974) als moralisch gerechtfertigt ansieht. So verstanden hat der Staat ausschließlich die Aufgabe, die Freiheitsrechte seiner Bürger 1

Rawls 1971

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Freiheit (Libertarismus)

zu schützen und darf selbst nicht durch irgendwelche Maßnahmen in die Freiheit der Bürger eingreifen, auch wenn dies positive Effekte auf die Gesellschaft hätte und z. B. für Chancengleichheit sorgen würde. Ein libertärer Staat muss bloß sicherstellen, dass jeder sein Recht auf Freiheit ausleben kann und darf nur für diese Aufgabe das Eigentum seiner Bürger beanspruchen, da er sonst das Recht auf Freiheit verletzt, das er eigentlich schützen soll. Die Bürger können mit ihrem Eigentum machen was sie wollen, solange sie nicht andere oder deren Eigentum beschädigen. Dies, so die Theorie, gelingt nur unter möglichst wenig staatlicher Regulierung und im Rahmen eines uneingeschränkten Kapitalismus. Die Libertären verteidigen deshalb nachdrücklich eine möglichst freie Marktwirtschaft. Dem Staat kommt damit eine sehr kleine Rolle in diesem Spiel zu. Sie lässt sich auch als Minimalstaat oder auch Nachtwächterstaat 2 beschreiben, der das Funktionieren des freien Austausches von Gütern und das Beachten von Eigentumsrechten sicherstellen soll. Das hat weitreichende Konsequenzen für die praktische Ausgestaltung der Staatsaufgaben, da der Libertarismus u. a. staatliche Schulen, Sozialhilfe und kulturelle Förderprogramme als moralisch verwerfliche und illlegitime Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger seitens des Staates bewertet. Solche Maßnahmen gehen über die Kompetenzen des Staates hinaus. Der Staat soll lediglich durch Landesverteidigung, Polizei und Gerichte dafür sorgen, dass die Freiheitsrechte der Bürger geschützt sind. Die Enzyklopädie für Wissenschaftstheorie und Philosophie definiert den Libertarismus wie folgt: „Libertarismus […] (ist eine) Bezeichnung für eine sozialphilosophische Strömung, die eine liberale Rechtspolitik mit der Befürwortung eines Minimalstaates verbindet.“ (Mittelstraß 2010, S. 567)

Der politische Libertarismus sieht sich mit zwei Grundproblemen konfrontiert: Zum einen die Bestimmung von Freiheit und Recht, im Speziellen die inhaltliche Ausformulierung des Freiheitsrechts; 2

Für eine genaue Beschreibung eines Minimalstaats und Argumenten dafür, warum ein solcher nach libertärer Auffassung gerechtfertigt ist vgl. Nozick 1974, S. 88 ff.

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Freiheit (Libertarismus)

zum anderen die Festlegung der Reichweite und Legitimierung staatlicher Eingriffe in das Freiheitsrecht der Bürger. Ausgehend von der konkreten Ausgestaltung des Freiheitsrechts können staatliche Eingriffe gerechtfertigt werden oder auch nicht. Verschiedene Ansätze führen zu einer Vielzahl an Theorieversionen, die bestimmen, inwieweit staatliche Regulierung im privaten und wirtschaftlichen Rahmen gerechtfertigt werden kann. Daran schließen sich Debatten um freie Marktwirtschaft, Steuern und Allokationsgerechtigkeit an. Als Klassiker und grundlegendes libertäres Werk gilt Robert Nozicks „Anarchie, Staat, Utopia“. Er übernimmt die Lockesche Eigentumstheorie und akzeptiert selbst Lockes Idee des Selbsteigentums und eines Naturrechts, um damit seine libertäre Moral zu rechtfertigen. Auf dieser Basis versucht Nozick zu zeigen, dass nur ein Minimalstaat, der bloß das Leben und Eigentum seiner Bürger schützt, moralisch gerechtfertigt ist. Das Privateigentum von materiellen Gütern hat für ihn denselben moralischen Status wie das Selbsteigentum am eigenen Körper. Eine Umverteilung durch den Staat, wie z. B. durch eine von Steuern finanzierte Arbeitslosenhilfe, stellt einen Eingriff in das Privateigentum dar, der moralisch so zu bewerten ist wie ein staatlicher Angriff auf den eigenen Körper. Akzeptiert man eine Theorie dieser Art, können zweifelsohne starke inegalitäre Güterverteilungen entstehen, welche als ungerecht empfunden werden könnten. Der Links-Libertarismus, welcher in den letzten zwanzig Jahren von Autoren wie Philippe Van Parijs (Real Freedom for All: What (if anything) can justify capitalism?, 1995) und Michael Otsuka (Libertarianism without inequality, 2003) entwickelt wurde, akzeptiert zwar den libertären Grundgedanken des Selbsteigentums, versteht natürliche Güter aber als Gemeingut. Wer sich an der Natur bedient, um privates Eigentum zu erlangen, muss dies gegenüber der Gesellschaft kompensieren. Daher sehen Links-Libertäre staatliche Eingriffe zum Zwecke egalitärer Umverteilung von Gütern in bestimmten Fällen als gerechtfertigt an. Dem entgegen steht der klassisch-liberale Konsequentialismus, welcher hauptsächlich von Ludwig von Mises (Liberalismus, 1927) und dessen Schüler Friedrich August von Hayek (The Constitution of Liberty, 1960) vertreten 17

Freiheit (Libertarismus)

wurde. Im Zentrum ihrer Überlegungen stehen ökonomische Gesetzmäßigkeiten, die beinhalten, dass nur ein freier Markt die materielle Wohlfahrt steigert. Daher vertreten auch sie, dass es keine weitreichenden staatliche Eingriffe geben darf, vor allem nicht in die freie Wirtschaft. Dieser Meinung ist auch Ayn Rand (Atlas Shrugged, 1957), welche mit ihrem Bestsellerroman „Atlas Shrugged“ eine libertäre Bewegung in den USA begründete. Hinter diesem Roman steht der von ihr entwickelte „Objektivismus“, welcher am ehesten als eine Art von Tugendethik beschrieben werden kann, bei der es tugendhaft ist, seine egoistischen Ziele zu verfolgen. Sogenannte Anarcho-Kapitalisten wie Murray Rothbard (The Ethics of Liberty, 1982) gehen noch einen Schritt weiter. Sie akzeptieren nur einen absolut freien Markt, lehnen alle staatlichen Eingriffe und damit auch jede Form des Staats ab. Sie bilden aber bei weitem nicht die Mehrzahl der Libertarier. Der Libertarismus ist nur eine spezielle Unterform des Liberalismus, bietet aber ein breites Spektrum an Antworten auf die Frage nach der Rolle der Freiheit in der Gesellschaft. Alle libertären Theorien teilen die radikale Verteidigung ihrer jeweiligen Freiheitskonzeption und der daraus folgenden Ablehnung staatlichen Zwangs. „As different as these groups are, they do have some beliefs in common. They all put a high priority on protecting their (conflicting) conceptions of liberty, and they are all skeptical of authority. All advocate strict limits on government authority, sometimes to the point of advocating its complete abolition.“ (Widerquist 2008, S. 342)

Diskussionsgegenstände sind die Legitimation des Staates, die Reichweite seiner Befugnisse und damit Allokationsfragen bezüglich Gütern und Steuern. Auf die genauen Zusammenhänge und Implikationen von einem bestimmten Freiheitsverständnis hin zu bestimmten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen will ich an dieser Stelle nicht genauer eingehen 3. Das sind zweifellos spannende

3

Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Themen der politischen Philosophie vgl. Nozick 1974, S. 88 ff., Narveson 1988, S. 187 ff. und Wendt 2009, S. 143 ff.

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Freiheit (Libertarismus)

Fragen der politischen Philosophie, mit denen ich mich aber nur am Rande beschäftigen werde. Die tiefer liegende Frage ist eine moralische: Wie es für eine politische Gesinnung üblich ist, steht hinter der politischen meist eine moralische Überzeugung. „Moral philosophy sets the background for, and the boundaries of, political philosophy. What persons may and may not do to one another limits what they may do through the apparatus of a state, or do to establish such an apparatus. The moral prohibitions it is permissible to enforce are the source of whatever legitimacy the state’s fundamental coercive power has.“ (Nozick 1974, S. 6)

Das moralische Fundament des politischen Libertarismus ist die Idee, dass jeder frei ist zu tun, was er will, solange er damit nicht die Freiheit der anderen beeinträchtigt. Die Freiheit bildet somit den Maßstab dafür, was ein Mensch tun darf und was nicht. Jedem möge also ein Recht auf Freiheit zustehen, aus dem sich dann alle moralischen Normen ableiten lassen. „[…] „Libertarianism“, as the term is used in current moral and political philosophy […], is the doctrine that the only relevant consideration in political matters is individual liberty: that there is a delimitable sphere of action for each person, the person’s „rightful liberty,“ such that one may be forced to do or refrain from what one wants to do only if what one would do or not do would violate, or at least infringe, the rightful liberty of some other person(s).“ (Narveson 1988, S. 7)

Um also zu verstehen, was die moralische Grundlage des Libertarismus ist, muss bestimmt werden, was das Freiheitsrecht beinhaltet. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf der Klärung des ersten Grundproblems des Libertarismus, nämlich der Bestimmung des Freiheitsbegriffs und des Rechtsbegriffs und eine anschließende inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts.

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Freiheit (Libertarismus)

1.1

Libertärer Freiheitsbegriff

Wer das Ideal vertritt, frei zu sein, bis die Freiheit eines anderen dadurch beeinträchtigt wird, muss erklären, was mit frei und Freiheit gemeint ist. „In proposing that individual liberty is the fundamental and only legitimate concern of any just society, libertarianism assumes the burden of explaining what liberty is, and then in particular what a fundamental right to liberty would look like.“ (Narveson 1988, S. 13)

Im Alltag ist bei nahezu jeder Gelegenheit von „Freiheit“ die Rede. Der inflationäre Gebrauch des Wortes lässt Freiheit vor allem im politischen Kontext zu einer Worthülse werden, die im besten Fall keinen erkennbaren Sinn mehr hat, im schlimmsten Fall aber dazu dient, das Gegenteil von Freiheit zu propagieren. Ein gutes Beispiel dafür sind stets Werbeslogans für Zigaretten 4, die Freiheit versprechen, obwohl das beworbene Produkt süchtig und damit unfrei macht. Für eine Moraltheorie, die auf diesem Begriff aufbaut, ist es deshalb zentral, klar zu definieren, was darunter zu verstehen ist. Gelingt dies, bleibt kein Interpretationsspielraum, der dazu missbraucht werden kann, den Begriff „Freiheit“ umzudeuten und einen anderen Zweck anzudichten. Die Bestimmung des Begriffs „Freiheit“ gestaltet sich aber gerade aufgrund der unzähligen Verwendungsweisen schwierig. Bei der Beantwortung der Frage, was Libertäre unter Freiheit verstehen, werde ich hauptsächlich auf Hayek 5, Jan Narveson und

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Die Zigarettenmarke „Winston“ wirbt zur Zeit mit folgendem Slogan: „Stay true, stay free“ 5 Hayek würde sich selbst nicht als Libertären bezeichnen und grenzt sich, obwohl er eine freie Marktwirtschaft fordert vom Libertarismus ab, indem er weitaus mehr als nur einen Minimalstaat für gerechtfertigt hält. Er sieht Gesetze als notwendige Bedingung für ein gesellschaftliches Zusammenleben und Freiheit an und positioniert sich damit klar gegen anarchische bzw. anarchokapitalistischen Strömungen des Libertarismus. Sein Freiheitsbegriff gilt als einer der ausdifferenziertesten und wird oft von Libertären als Grundlage ihrer Überzeugung angeführt.

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Libertärer Freiheitsbegriff

Fabian Wendt 6 eingehen. Narveson versucht in „The Libertarian Idea“ 7 eine Begründung libertärer Moral zu finden, die nicht auf metaphysischen Prämissen basiert, was ihn von den meisten libertären Denkern unterscheidet. Wendt hingegen kritisiert diesen Begründungsansatz explizit und lehnt die Theorie von Narveson ab. Der Dissens liegt aber nicht im Freiheitsbegriff, der zentral für die Begründung ist, sondern im Moralbegriff, auf den ich später eingehen werde. Es ist wichtig zu sehen, dass sich beide bei der Begriffsbestimmung von Freiheit, verstanden als negative Handlungsfreiheit, weitgehend einig sind. Einen davon abweichenden Freiheitsbegriff etabliert Hayek, der zwar auch von der negativen Handlungsfreiheit ausgeht, diese aber im Gegensatz zu Wendt und Narveson über die Abwesenheit von Zwang definiert. Narveson beantwortet die Frage, was Freiheit ist, anfänglich damit, dass „frei sein“ heißt, dass man tun kann, was man will: „To be free is, to begin with, to be free to do what one wants.“ (Narveson 1988, S. 18) „Person A is [completely] free with respect to S’ = ’S obtains if and only if A chooses that S’.“ (Narveson 1988, S. 18)

Eine solche Definition von Freiheit wirft Fragen auf, denn Menschen können nicht sprichwörtlich „frei wie ein Vogel sein“, da sie z. B. ohne Hilfsmittel einfach nicht fliegen können. Ist man also bereits durch die Einschränkung nicht fliegen zu können unfrei? Manche Einschränkungen, so scheint es, können für die Frage nach der Frei-

6

Wendt würde sich wohl ebenfalls selbst kaum als Libertären beschreiben und kritisiert die libertäre Position, vor allem ihre Begründung, stark. Dennoch hat er den Anspruch in seinem Buch „Libertäre Politische Philosophie“ eine systematische Rekonstruktion des Libertarismus und dessen grundlegenden Begriffen zu liefern. Vor allem die Rekonstruktion des Freiheitsbegriffes geschieht sehr detailliert und mit Rücksicht auf eine Vielzahl libertärer und anderer philosophischer Theorien, daher werde ich neben Hayeks exemplarisch diesen Freiheitsbegriff als den libertären Freiheitsbegriff behandeln. 7 Narveson 1988

21

Freiheit (Libertarismus)

heit außer Acht gelassen werden. Aber welche? Die Frage ist also, welche Einschränkungen und Hindernisse sind relevant für die Definition von Freiheit?

1.1.1

Handlungsfreiheit und Hindernisse

Wendt versucht, die Kernbedeutung des Freiheitsbegriffs im Hinblick auf die libertäre Moral zu definieren. Er teilt Freiheit in deskriptive Freiheit, normative Freiheit und Willensfreiheit ein. Anhand der verschiedenen Typen von Hinderungen bzw. Unfreiheiten lassen sich fünf Fälle unterscheiden 8: (a) Nicht-Handeln-Können aufgrund von natürlichen Ursachen, ohne Einwirkung anderer Personen. (b) Nicht-Handeln-Können aufgrund von anderen Personen mittels physischer Gewalt. (c) Nicht-Handeln-Können aufgrund von anderen Personen mittels Drohung bzw. Zwang. (d) Nicht-Handeln-Dürfen aufgrund eines Verbotes. (e) Handeln-Können und Dürfen ist zwar gegeben, aber mit der Willensbildung ist etwas nicht in Ordnung. Die Fälle (a), (b) und (c) betreffen die deskriptive Handlungsfreiheit, (d) die normative Handlungsfreiheit und (e) die Willensfreiheit. Die deskriptive Handlungsfreiheit ist der für die Libertären zentrale Begriff, so Wendt; die normative Handlungsfreiheit oder ist im Kontext von Rechten und Pflichten wichtig, sie ist aber nicht der entscheidende Freiheitsbegriff; genauso wenig wie die Willensfreiheit, da sie die Selbstbestimmung betrifft und damit zwar grundlegend für moralische Verantwortung ist, aber nicht den relevanten Freiheitsbegriff darstellt. Auch Narveson ist der Meinung, dass die Handlungsfreiheit der relevante Freiheitsbegriff ist:

8

Vgl. Wendt 2009, S. 18

22

Libertärer Freiheitsbegriff

„Moral philosophy generally, and political philosophy in particular, being normative theories concerned with the direction of human action, are therefore concerned only with what is within our control. […] (W)hat is within our control are actions. The subject of freedom, then, for purposes of moral philosophy, is the subject of how we ought to act vis-à-vis freedom. The libertarian holds that freedom matters a great deal for moral and political purposes—that considerations of freedom are of first importance in determining what we ought to do.“ (Narveson 1988, S. 26–27)

Zentral ist die deskriptive Handlungsfreiheit: In welchen Fällen macht ein Nicht-Handeln-Können unfrei? Das Nicht-HandelnKönnen lässt sich auch als ein Gehindert-Werden beschreiben. Die Frage ist also, was ein für die Freiheit relevantes Hindernis darstellt. Damit gilt es einerseits zu klären, ob man nur durch von Menschen ausgehende Hindernisse, oder durch alle möglichen Hindernisse unfrei sein kann. Zuvor muss geklärt werden, ob Hindernisse wunschabhängig sind oder nicht, denn intuitiv würde man die Handlungsfreiheit als wunsch- bzw. wollensabhängig beschreiben. Eine naheliegende Definition, wie sie auch anfangs von Narveson beschrieben wurde, ist, dass man frei ist, wenn man tun kann, was man will. Jedoch ergeben sich mit einer solchen wollensabhängigen Definition der Handlungsfreiheit einige Probleme. Wird mir die Möglichkeit genommen, eine bestimmte Handlung auszuführen, und wollte ich diese Handlung von vorneherein nicht tun, könnte man nicht von einer Freiheitseinschränkung sprechen. Angenommen, jemand sperrt meine Stricknadeln weg, und ich möchte gerne jetzt einen Schal stricken, dann bin ich unfrei, das zu tun, was ich will, weil ich daran gehindert wurde. Will ich aber gar nicht stricken, bin ich im Bezug auf das Stricken nicht unfrei, obwohl meine Stricknadeln nicht zur Verfügung stehen, da die Freiheit an dem Wunsch zu Stricken hängt. Käme später aber der Wunsch auf, den Schal zu stricken, wäre ich wieder unfrei, da nun das Hindernis mich davon abhält, das zu tun, was ich will. Umgekehrt kann ich aber auch wieder frei werden, wenn ich diesen Wunsch verliere, selbst wenn das Hindernis immer noch besteht. Es erscheint merkwürdig, die Freiheit allein am Wollen und nicht am bestehenden Hindernis fest zu 23

Freiheit (Libertarismus)

machen. Deutlicher wird das am Beispiel von Sklaven oder Gefangenen. Würden diese einfach das Wollen verlieren, nicht versklavt oder eingesperrt zu sein, dann wären sie – der Struktur des StrickBeispiels folgend – frei. Isaiah Berlin beschreibt dies als „einen Rückzug in die innere Zitadelle“ 9. Dieses psychische Manöver erleichtert den Betroffenen eventuell den Umgang mit dem Eingesperrtsein, aber es scheint doch klar zu sein, dass dies nicht die Freiheit vergrößert: Die Unfreiheit hängt eben an der Tatsache, versklavt oder eingesperrt zu sein, und nicht am Frei-Sein-Wollen. Selbst wenn es ein Gefangener schafft, dass das Wollen, nicht mehr eingesperrt zu sein, erlischt, ist er nicht frei. Analog zum Wollen sieht Wendt auch im Wissen einen ungeeigneten Kandidaten für eine Abgrenzung von Freiheit. Wer nicht weiß, dass er eingesperrt ist, ist immer noch unfrei, analog zu demjenigen, der gar kein Wollen bezüglich eines Nicht-eingesperrt-Seins hat. Umgekehrt ist einer nicht frei, nur weil er glaubt, nicht eingesperrt zu sein. Wendt schließt daraus, dass Freiheit nicht wollens- oder wissensabhängig ist, sondern nach der Art der Hindernisse bestimmt werden muss. Von welcher Art also muss ein Hindernis sein, um freiheitsrelevant im zu klärenden Sinne zu sein? Kandidaten für relevante Hindernisse sind natürliche und von Menschen geschaffene Hindernisse. Beide könnten freiheitsrelevant sein, Aber es könnten auch bloß die von Menschen geschaffenen Hindernisse freiheitsrelevant sein. Wenn ein natürliches Hindernis, also ein Hindernis, das ohne die Einwirkung von anderen Menschen besteht, freiheitsrelevant ist, könnte man z. B. durch eine zu geringe Körpergröße unfrei sein, professionell Basketball zu spielen. Solche natürlichen Hindernisse definieren den Handlungsspielraum der Menschen, da sie z. B. daran gehindert sind, unter Wasser zu atmen oder ohne technische Hilfsmittel zu fliegen. Mit anderen Worten bestimmen diese Hindernisse, was ein Mensch tun kann und was nicht. Sind natürliche Hindernisse freiheitsrelevant, fallen „Freiheit“ und „Können“ zusammen. Alles, was man nicht tun kann, macht dementsprechend unfrei und 9

Vgl. Berlin 1969, S. 135

24

Libertärer Freiheitsbegriff

umgekehrt. „Freiheit“ und „Können“ wären in diesem Fall synonym. Laut Wendt sind die meisten Philosophen der Meinung, dass Freiheit nicht synonym mit Können verwendet werden sollte. „Können“ mit „Freiheit“ gleichzusetzen, würde den Begriff der Freiheit überflüssig machen, da der Begriff des Könnens bereits existiert. Freiheit aber beinhaltet mehr als nur in der Lage zu sein, etwas zu tun. Wendt und Narveson sehen darin den Grund, den Bereich der freiheitsrelevanten Hindernisse eingzuschränken. Ein Vorschlag besteht darin, dass nur von anderen Personen verantwortete Hindernisse unfrei machen können. Damit wäre „Freiheit“ nicht mehr synonym mit „Können“, sondern eine Unterkategorie von „Können“. Ist man unfrei, etwas zu tun, dann kann man es auch nicht tun, aber nicht alle Dinge, zu denen man frei ist, kann man deshalb einfach tun. Wenn mich jemand am Boden festkettet, damit ich nicht wegfliegen kann, wäre ich demnach nicht unfrei zu fliegen, da ich auch ohne die Ketten nicht fliegen könnte. Gleichzeitig bin ich auch daran gehindert, mich frei zu bewegen, und das konnte ich davor tun. Dementsprechend bin ich unfrei geworden, mich zu bewegen, wohin ich will, da mich eine andere Person mittels eines Hindernisses davon abhält. Es sollte jetzt klar sein, dass Freiheit eng mit Können zusammenhängt, aber es Fälle von Nicht-Können gibt, die keine Unfreiheit darstellen. Wir können also sinnvoll von Freiheit sprechen, ohne dass Freiheit mit Können zusammenfällt, sondern eine Unterkategorie ist. Wendt ist daher der Meinung, dass es sich um eine Unterkategorie des Könnens handelt, die sich durch die Eigenschaft auszeichnet, dass eine Einschränkung nur durch von Personen geschaffene Hindernisse möglich ist. Narveson meint, dass man bei natürlichen Hindernissen von „Unfreiheit“ reden kann, aber diese Unfreiheit bzw. Freiheit nicht die für die Frage der Moral relevante Freiheit ist. Er redet dementsprechend immer von verschiedenen Freiheiten, im Falle des für die libertäre Moral relevanten Begriffes von „sozialer Freiheit“ 10 und nicht wie Wendt von „verschiedenen freiheitsrelevanten Hindernissen“. Beide sind aber der Meinung, dass der libertäre Freiheitsbegriff als Handlungs10

Vgl. Narveson 1988, S. 26–27

25

Freiheit (Libertarismus)

freiheit, die nicht durch Handlungen anderer Personen eingeschränkt ist, verstanden werden muss: „[…] (W)e must limit the relevant range of liberties. The appropriate restriction is that whereas all sorts of things may interfere with or contribute to my liberty, our concern is social—in particular, with the structure of society. We are concerned with the cases where our liberty is affected by the actions of some other person or persons, and not with the case where some natural condition, for instance, does so. You are at liberty in the social sense when others do not, by their actions, prevent you from doing what you want. You are at liberty in this sense when nobody is interfering with your liberty.“ (Narveson 1988, S. 30)

Es bleibt zu klären, inwieweit andere Personen für Hindernisse verantwortlich sind und was genau ein freiheitsrelevantes Hindernis ist. Wendt versucht deshalb, den Freiheitsbegriff bzw. den der freiheitsrelevanten Hinderung noch deutlicher zu definieren: „Eine Person ist unfrei zu einer Handlung y dann und nur dann, wenn gilt: (1) Die Handlung ist der Person wegen eines Hindernisses unmöglich zu tun. (2) Das Hindernis ist freiheitsrelevant: Für das Hindernis sind andere Personen verantwortlich in dem Sinne, dass sie es aktiv und intentional herbeigeführt haben. (3) Die Person konnte die Handlung ohne das freiheitsrelevante Hindernis tun und es ist möglich, das freiheitsrelevante Hindernis wieder zu entfernen. Eine Person ist frei zu einer Handlung dann und nur dann, wenn gilt: Bedingung (1) oder Bedingung (2) ist nicht gegeben. Eine Person ist weder frei noch unfrei zu einer Handlung dann und nur dann, wenn gilt: Bedingung (1) und Bedingung (2) sind gegeben, Bedingung (3) ist nicht gegeben.“ (Wendt 2009, S. 57)

Diese Definition ist recht komplex, deshalb ist es wichtig, die einzelnen Punkte genauer zu analysieren. Am plausibelsten ist wohl der Punkt (3). Wenn Freiheit eine Unterkategorie von Können ist, impliziert dies bereits, dass man Handlung (y) tun können muss, um zur Handlung (y) frei zu sein. So ist z. B. derjenige, der ins Gefängnis 26

Libertärer Freiheitsbegriff

gesteckt wird, nun nicht unfrei geworden, über den Mond zu hüpfen. In diesem Fall war die Person auch bevor sie ins Gefängnis kam nicht in der Lage, über den Mond zu hüpfen und somit bezüglich dieser Handlung weder frei noch unfrei. Die zweite Bedingung von Punkt (3) ist aber strittig. Denn es ist fraglich, dass es sich nur dann um Unfreiheit handelt, wenn ein Hindernis wieder entfernt werden kann. Ein Klavierspieler, dem die Hände nach einem Unfall amputiert wurden, ist nach Wendt nicht sein restliches Leben unfrei, Klavier zu spielen, er kann es einfach nicht mehr. Wendt würde nicht über jemanden, der von Geburt an keine Hände hat, sagen, dass er unfrei ist, Klavier zu spielen. Es gibt aber keinen Grund, das kritiklos zu akzeptieren. Diese auf den ersten Blick sehr einleuchtenden und simplen Einschränkungen haben weitreichende Konsequenzen. Eine davon ist, dass eine Erweiterung von Handlungsspielräumen keine Zunahme an Freiheiten bedeuten würde und keine Unfreiheiten abgebaut würden. Würde z. B. ein von Geburt an Querschnittsgelähmter plötzlich geheilt, würde die Heilung zwar das Laufen-Können der Person ermöglichen. Aber man könnte nicht sagen, dass der Gelähmte davor unfrei war zu laufen, und jetzt die Freiheit besitzt, zu laufen. Ebenso wenig könnte man sagen, dass es jetzt, verglichen mit dem Zustand des Gelähmtseins davor, zu einem Zuwachs an Freiheit bzw. einer Abnahme an Unfreiheit gekommen ist. Die Konsequenz ist: Wollte ich die Freiheit dieser Person maximieren, und es stünde in meiner Macht, ihn zu heilen oder zu verhindern, dass andere Menschen ihm Hindernisse in den Weg legen, dann müsste ich ihn nicht heilen, sondern müsste einfach nur verhindern, dass andere Personen ihm Hindernisse in den Weg stellen. Das Prinzip scheint nicht in der Lage, die Heilung in diesem Fall als Freiheitsgewinn zu verbuchen. Dies ist unplausibel. Das Gleiche gilt bei der Verkleinerung von Möglichkeitsspielräumen. Nach dem zur Debatte stehenden Prinzip könnte man nicht sagen, dass dem Klavierspieler, dem die Hände abgenommen wurden, ein Stück seiner Freiheit geraubt wurde, bzw. dass er unfrei gemacht wurde, da das Hindernis nicht wieder entfernt werden kann. Punkt (3) ist damit zwar nicht widerlegt, aber seine Plausibilität dürfte damit Schaden genommen haben. Punkt (3) ist aber auch 27

Freiheit (Libertarismus)

nicht elementar für die Definition, da die anderen beiden Punkte bedeutender sind. Ein großes Problem ist Punkt (2). Hier spezifiziert Wendt, was damit gemeint ist, dass andere Personen für ein Hindernis verantwortlich sind. Er argumentiert dafür, dass kausale Urheberschaft und Intentionalität eine Rolle bei der Verantwortung, und damit bei der Bestimmung der Freiheit, spielen. Laut ihm sind die Absicht und die Aktivität des Tuns in Bezug auf die Schaffung eines Hindernisses durch eine andere Person maßgeblich dafür, ob es freiheitsrelevant ist.

1.1.2

Tun und Unterlassen

Das Kriterium der aktiven Herbeiführung eines Hindernisses setzt einen Unterschied zwischen Tun und Unterlassen voraus. Es scheint auf den ersten Blick völlig klar, dass Handeln etwas anderes ist als Unterlassen. Narveson spricht genau diese Intuition an, wenn er einen möglichen Unterschied zwischen Beeinträchtigung und unterlassener Hilfeleistung darstellt: „If we are to say that a nonaction is nevertheless an action, then such „actions“ are being „performed“ all the time and everywhere by everyone who is not currently doing the particular thing that would, in the present case, relieve your starvation. When one considers all the things I conceivably could be doing right now, and proposes to account each of them an „action“, then I am one exceedingly busy person just now, as are we all—and equally so, too, since the membership of this set is no doubt infinite. But we should not say that Jones, who is currently fast asleep, is infinitely busy doing all of those nonactions he is currently nondoing. […] Another, though related, reason for resisting the assimilation of nonhelping to harming is that it leaves us with no contrast at all between such things as liberty and welfare.“ (Narveson 1988, S. 38)

Jedoch kann man bei genauer Betrachtung erkennen, dass sich Tun und Unterlassen eben doch nicht so einfach unterscheiden lassen. Die Behauptung, eine Unterlassung zeichne sich dadurch aus, dass 28

Libertärer Freiheitsbegriff

einer Handlung einfach ein „nicht“ vorangestellt wird und sie damit eine „nonaction“ ist, ist unplausibel. Es scheint in vielen Fällen vor allem darauf anzukommen, wie man den Sachverhalt beschreibt. Wenn eine aktive Handlung als „(A) macht, dass (x)“ und eine Unterlassungshandlung als „(A) macht, dass : (x)“ beschrieben werden kann, dann lässt sich z. B. die Unterlassung „(A) setzt sich nicht hin“ auch aktiv als ein Tun formulieren: „(A) bleibt stehen.“ Ob ein Vorzeichen positiv oder negativ ist, bzw. ob etwas aktiv oder passiv beschrieben wird, scheint kein belastbares Unterscheidungskriterium zu sein 11: (A) bleibt stehen (A) unterlässt es, sich hinzusetzen (A) bleibt sitzen (A) unterlässt es, aufzustehen

(A) macht, dass (y) (negationslose Beschreibung) (A) macht, dass : (x) (negierte Beschreibung) (A) macht, dass (x) (negationslose Beschreibung) (A) macht, dass : (y) (negierte Beschreibung)

Wäre ein vorangestelltes „nicht“ kausal relevant für die Verursachung, käme es zu absurden Ergebnissen. Angenommen (A) steht vor (B) und (A)s Körper würde (B) Deckung vor einem abgefeuerten Pfeil geben, dann kann es über das Leben von (B) entscheiden, ob (A) stehen bleibt, oder nicht. Wenn sich (A) nun hinsetzt [(A) macht, dass (x)] und (B) vom Pfeil getroffen wird, hätte (A) aktiv zum Tod von (B) beigetragen und wäre demnach kausaler Urheber bzw. zumindest kausal mitverantwortlich für die Tötung. Würde (A) aber das Stehenbleiben unterlassen [(A) macht, dass : (y)], trifft der Pfeil zwar auch (denn er tut ja genau dasselbe), aber er hätte nur passiv dazu beigetragen und wäre so kein kausaler Faktor für die Tötung. An der Negation lässt sich somit kein kausaler Unterschied festmachen. Wendt und andere Libertäre vertreten daher die „individuals making a difference“ – Theorie, die besagt, dass eine Person genau dann kausal für ein Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt verantwortlich ist, wenn ohne sie zu diesem Zeitpunkt das Ereignis 11

Vgl. Seebaß 2006, S. 56 ff.

29

Freiheit (Libertarismus)

nicht stattgefunden hätte. Wenn (A) im Pfeilbeispiel nicht existiert hätte, wäre (B) ebenso von einem Pfeil getroffen worden, daher ist das Hinsetzen bzw. das unterlassene Stehenbleiben von (A) nach dieser Theorie passiv und nicht ursächlich 12 für den Tod von (B). In diesem Beispiel macht die Theorie Sinn. Leicht modifiziert zeigt sich jedoch, dass das Beispiel auch gegen die Theorie sprechen kann. Angenommen, eine Tür mit Bewegungssensor befindet sich zwischen (A) und (B). Der heranfliegende Pfeil würde den Sensor nicht auslösen und an der geschlossenen Tür abprallen. Setzt sich (A) jedoch, löst er den Sensor aus und der Pfeil fliegt durch die nun geöffnete Tür und trifft (B). Damit macht die Existenz von (A) einen Unterschied und seine Handlung wäre aktiv. (A) vollzieht in beiden Fällen jeweils dieselbe Handlung, nämlich sich zu ducken. Im ersten Fall (ohne Tür) ist die Handlung passiv, im zweiten Fall (mit Tür) ist sie aktiv. Das Vorhandensein der Tür ändert zwar das Ergebnis, nicht aber die Handlung des Hinsetzens selbst. Dass ein und dieselbe Handlung in einem Fall somit als aktiv und ursächlich, im anderen als passiv und nicht-ursächlich bezeichnet werden muss, spricht eindeutig gegen die „individuals making a difference“ – Theorie. Zudem gibt es kausal überdeterminierte Fälle, in denen klarerweise eine Person kausal verantwortlich für ein Ereignis ist, dieses aber ohne seine Existenz ebenso eingetroffen wäre. Wenn (A) und (B) z. B. gleichzeitig einen Knopf drücken, bei dem jeweils eine Explosion ausgelöst wird, die (C) in den Tod reißt, würde die Nichtexistenz einer der beiden Täter (A) oder (B) keinen Unterschied machen. Person (C) würde trotzdem sterben, da eine der beiden Explosionen reicht, um ihn zu töten. Beide Personen sind laut der „individuals making a difference“ – Theorie nicht kausal für den Tod von (C) verantwortlich. Ein solches Ergebnis ist inakzeptabel. Bei einer genaueren Betrachtung von Kausalität und Ursachen wird schnell klar, 12

Eine Voraussetzung dafür ist, dass (A) im Vorfeld nicht bereits darauf Einfluss genommen hat, dass (B) von dem Pfeil getroffen wird. So wäre (A) kausal verantwortlich, wenn er (B) im Vorfeld versprochen hätte, einen Pfeil für ihn abzufangen und sich (B) nur deshalb nicht in Sicherheit gebracht hätte. Dann hätte die Nicht-Existenz von (A) einen Unterschied gemacht und sein Hinsetzen wäre eine aktive Verursachung.

30

Libertärer Freiheitsbegriff

dass die „individuals making a difference“ – Theorie nicht haltbar ist. Dieter Birnbacher hat eine solche nähere Betrachtung in seinem Buch „Tun und Unterlassen“ vorgenommen und kommt zu folgendem Schluss: „(D)as Argument, der Unterlassende bzw. Geschehenlassende sei für den Ergebnisverlauf, in den er verhindernd eingreifen könnte, deshalb in geringerem Maße – oder gar nicht – moralisch verantwortlich, weil er für ihn auch kausal weniger – oder gar nicht – verantwortlich sei (, lässt sich nicht aufrechterhalten). Wie wir gesehen haben ist das Unterlassen in keinem anderen und keinem geringeren Sinn Kausalfaktor, Ursache oder „entscheidende“ Ursache einer Ereigniskette, in die man handelnd eingreifen könnte, als die jeweiligen positiven Kausalfaktoren und Ursachen.“ (Birnbacher 1995, S. 117)

Unterlassungen können nicht per se als Kausalfaktor ausgeschlossen werden, auch wenn sie in vielen Fällen kontrafaktisch keine Rolle spielen. Eine Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen scheint damit in keiner Hinsicht kausal relevant zu sein. Und man kann auch nicht behaupten, dass ein Hindernis erst bei Hervorbringung durch aktives Tun freiheitsrelevant ist. 1.1.3 Intentionalität Wendt macht die Verantwortung für Hindernisse nicht nur am Kriterium der kausalen Urheberschaft, sondern auch an der Intentionalität fest. Mit der aktiven Handlung (x) zum Zeitpunkt (t) am Ort (y) hindert die Person (A) die Person (B) daran, dieselbe Handlung am selben Ort zur selben Zeit zu tun. (A) generiert zwar durch eine aktive Handlung ein Hindernis für (B), aber wenn dieses freiheitsrelevant wäre, würde mit jeder aktiven Handlung ein freiheitsrelevantes Hindernis und damit Unfreiheit geschaffen. Dadurch, dass ich jetzt auf meinem Bürostuhl sitze, sind alle anderen Menschen unfrei zum selben Zeitpunkt auch auf meinem Bürostuhl zu sitzen. Dies geht Wendt zu weit, daher will er den Freiheitsbegriff anhand von Intentionalität weiter einschränken. Konkret behauptet er, dass ein Hindernis intentional bzw. absichtlich herbeigeführt werden 31

Freiheit (Libertarismus)

muss, damit es freiheitsrelevant ist. Er geht davon aus, dass ein Ereignis intentional herbeigeführt wurde, wenn es die kausale Konsequenz einer Handlung ist, die zusammen mit ihren Mitteln beabsichtigt wurde. Wenn (A) also um 15.30 Uhr den Squashcourt 1 belegt, um dort seine Rückhand zu üben, macht er damit nicht alle anderen Menschen, die zum selben Zeitpunkt auf Squashcourt 1 spielen wollen unfrei, da seine Intention nicht darauf abzielt, den Court für andere zu blockieren, sondern dies nur ein nichtbeabsichtigter Nebeneffekt seiner Handlung ist. Dies führt direkt zu dem Problem, dass intendierte und nicht-intendierte Konsequenzen von Handlungen schwer zu unterscheiden sind. Zudem ist es fraglich, ob eine Unterscheidung zwischen intendierten Folgen und nicht-intendierten Nebenfolgen Sinn ergibt. Wendt will eine solche Unterscheidung stark machen und vertritt dafür die Lehre der Doppelwirkung 13: Ein Ereignis als Mittel zu intendieren muss moralisch anders gewichtet werden, als ein Ereignis als vorhergesehene, aber unbeabsichtigte Konsequenz in Kauf zu nehmen. Demnach ist es z. B. moralisch gravierender, jemanden zu töten, um dessen Schmerzen zu lindern (aktive Sterbehilfe), als etwas zu tun, was seine Schmerzen lindert, aber seinen Tod zur Nebenfolge hat (passive Sterbehilfe). Wendt bringt dafür kein Argument, sondern verweist lediglich auf die Intuition: „Und dann sieht man ohne Zweifel, dass jemand eine größere moralische Schuld auf sich geladen hat, der ein Kind absichtlich verletzt hat, als jemand, der ein Kind unabsichtlich verletzt hat.“ (Wendt 2009, S. 56)

Es ist wohl überflüssig zu behaupten, dass ein Unfall, bei dem ein Kind unabsichtlich angefahren wurde, weitaus weniger moralisch verwerflich ist, als das absichtliche Anfahren eines Kindes. Jedoch geht es bei der Lehre von der Doppelwirkung um einen anderen Punkt. In beiden Fällen wurde wissentlich gehandelt. Es macht aber einen Unterschied, ob die entsprechende Handlungskonsequenz ge13

Wird u. a. auch als Lehre des Doppeleffekts, Doktrin vom Doppeleffekt, oder Prinzip der Doppelwirkung bezeichnet.

32

Libertärer Freiheitsbegriff

wolltes Ziel resp. gewolltes Mittel, oder bloß in Kauf genommene Nebenfolge ist. Handelt es sich um eine in Kauf genommene Nebenfolge der Handlung (x), ist die moralische Verantwortung geringer, als bei einer darauf abzielenden Handlung (y). Dies gilt auch, wenn die Handlungen (x) und (y) die gleichen Konsequenzen haben. Diese Unterscheidung ermöglicht es, Fälle als moralisch erlaubt anzusehen, bei denen eine negative Folge abzusehen ist, aber in Kauf genommen wird, während Fälle, in denen eben diese negative Folge beabsichtigt wird, als moralisch verboten zu beurteilen. Dies hat zur Konsequenz, dass z. B. im Fall von aktiver und passiver Sterbehilfe ein moralisch relevanter Unterschied gemacht werden kann, wenn der Tod im ersten Fall als eine in Kauf genommene Nebenfolge und im zweiten Fall als Ziel der Handlung herbeigeführt wird. Ob diese Unterscheidung wirklich gelingt, hängt maßgeblich von der Überzeugungskraft von Beispielen wie jenen aus der Sterbehilfe ab. Sollte man deshalb einen solchen Unterschied machen? „Für sich genommen und außerhalb konkreter Anwendungskontexte ist diese Konsequenz der Lehre von der Doppelwirkung alles andere als plausibel. Im allgemeinen macht es für die moralische Beurteilung einer Handlung oder Unterlassung keinen erheblichen Unterschied, ob eine schlechte Folge nur erwartet oder auch beabsichtigt ist.“ (Birnbacher 1995, S. 154)

Es lassen sich leicht Beispiele konstruieren, die eine entgegengesetzte Intuition hervorrufen dürften. Angenommen, (A), ein Autonarr, will auf der Strecke (y) zum Zeitpunkt (t) besonders schnell fahren, muss dafür aber (B), der sich zu diesem Zeitpunkt auf der Strecke befindet, überfahren. (A) ist sich bewusst, dass er (B) damit tötet, nimmt es aber wissentlich in Kauf. Nach der Lehre des doppelten Effekts wäre es zwar für (A) verboten, (B) zu überfahren, um ihn zu töten, aber es wäre moralisch zumindest weniger verwerflich, wenn er (B) lediglich als ungewollte, aber bewusste Nebenfolge überfährt. (A) wäre im ersten Fall weniger moralisch verantwortlich für den Tod von (B), obwohl in beiden Fällen dieselbe Handlung mit derselben Folge wissentlich vollzogen würde. Das Beispiel zeigt, dass eine solche Unterscheidung nicht nur absurd, sondern geradezu zynisch 33

Freiheit (Libertarismus)

wirkt 14. Das Wissen um den Tod von (B) als Konsequenz des eigenen Handelns und die moralische Beurteilung scheint hier intuitiv nicht an der Frage zu hängen, ob (A) den Tod von (B) nur in Kauf nahm oder beabsichtigte. Die Lehre der Doppelwirkung führt also zu unplausiblen Ergebnissen; damit ist es zweifelhaft, dass moralische Verantwortung an Intentionalität hängt, wenn es darum geht, nichtintendiertere Nebeneffekte von beabsichtigten Folgen zu unterscheiden. Der dafür verwendete Begriff kausaler Verantwortung ist ebenso fraglich. Eine handlungstheoretische Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen hinsichtlich der Kausalität lässt sich, wie Birnbacher zeigt, nicht rechtfertigen. Zwar ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass Intentionalität eine Rolle für das Ausmaß moralischer Verantwortung spielt, aber damit ist noch lange nicht gesagt, dass die Freiheit nur absichtlich eingeschränkt werden kann. Wenn (A) (B) nur als unbeabsichtigte aber vorausgesehene Nebenfolge überfährt, kann sehr wohl von einer Einschränkung von (B)s Freiheit die Rede sein. Daher kann die Intentionalität in dem von Wendt beschriebenen Ausmaß kein Kriterium kausaler Urheberschaft für eine Abgrenzung freiheitsrelevanter Hindernisse darstellen.

1.1.4 Drohungen und Zwang Nicht nur die Punkte (3) und (2) sind problematisch, sondern auch Punkt (1). Dieser birgt zudem noch ein schwerwiegendes Problem bezüglich der Phänomene Drohung und Zwang. Der Räuber, der seinen Opfern droht, sie umzubringen, wenn sie nicht die Hände hoch nehmen, scheint ein Paradebeispiel für die Einschränkung von Freiheit zu sein. Jedoch ist dies ein Fall, bei dem eine Handlungsoption zwar enorm unattraktiv, aber nicht unmöglich gemacht wird. Es ist zweifellos möglich, anders zu handeln: Die Opfer können die Hände auch nicht hochnehmen. Wenn eine Person aber erst dann zu einer Handlung unfrei ist, wenn diese durch ein Hindernis 14

Vgl. Nagel, Thomas (1972): War and Massacre. In: Philosophy & Public Affairs 1 (2), S. 123–144, oder Roughley 2007, S. 113

34

Libertärer Freiheitsbegriff

unmöglich gemacht wird, dann wären Drohungen und Zwang keine Mittel, um die Freiheit einer Person einzuschränken. Selbst Narveson sagt, dass Drohungen und Zwang äußerst schwierige Phänomene sind, wenn man an der These festhält, dass eine Handlungsoption unmöglich gemacht werden muss, damit es sich um eine freiheitsrelevante Hinderung handelt. „Another major problem area here is that of „pressures“ – related to but not quite identical with coercion. If the government puts a tax on activity x, is it interfering with freedom? It is making it more difficult to do x – more trouble and more costly – but not making it impossible. (Forbidding x by law also doesn’t make x impossible, of course; that comes under the heading of coercion.)“ (Narveson 1988, S. 35)

Im Gegensatz zu Wendt versucht er aber nicht direkt eine Lösung für das Problem zu finden. Durch Drohungen und Zwang werden Handlungen kostspieliger und unattraktiver, aber nicht unmöglich gemacht. Trotzdem sind es klarerweise Formen freiheitsrelevanter Hinderungen. Angenommen, eine Person (A) wird in einen zehn Quadratmeter großen Käfig gesperrt, dann ist (A) ohne Zweifel unfrei, sein Gefängnis zu verlassen. Nehmen wir jetzt an, der Käfig würde durch ein Kreidequadrat ersetzt und (B) droht (A), er würde (A) erschießen, wenn er das Quadrat verlässt, dann ist dies ebenso eine freiheitsrelevante Hinderung. Dies gilt ebenso, wenn (A) nicht von (B) durch eine Drohung, sondern durch ein Angebot gezwungen wird, in seinem „Gefängnis“, das jetzt nur noch aus Strichen auf dem Boden besteht, zu bleiben. Angenommen, (A) ist todkrank und nur (B) hat die rettende Medizin. Wenn (B) anbietet, (A) die rettende Medizin nur zu geben, wenn er sein Gefängnis nicht verlässt, übt er im selben Maße Zwang aus wie mit Waffengewalt. „Zwang liegt also vor, wenn die Person -gegeben ihre Wunschstruktur- keine andere Wahl hat, als der Drohung oder einem ausbeuterischen Angebot nachzugeben.“ (Wendt 2009, S. 42)

(B) übt also nun Zwang auf (A) aus. Hinsichtlich seiner Freiheit hat sich für den Gefangenen (A) gegenüber dem Fall mit den Gefängnismauern nicht viel geändert. Jedoch müsste Wendt sagen, dass (A) 35

Freiheit (Libertarismus)

trotz des Zwanges nun frei ist, das Kreidequadrat zu überschreiten und sein „Gefängnis“ zu verlassen; frei in dem Sinne, dass er die Striche überqueren kann und dass das Tun zwar mit einem sehr hohen Preis verknüpft ist, aber dies nicht freiheitsrelevant ist. Diese höchst unplausible Antwort versucht Wendt zu entschärfen, indem er zwischen einfachen und komplexen Handlungen unterscheidet. (A) ist laut Wendt nicht mehr zu der komplexen Handlung frei, die Markierung zu überschreiten ohne erschossen zu werden. Gleichzeitig ist er aber zu der einfachen Handlung frei, sein Gefängnis zu verlassen (aber eben nur um dem Preis, erschossen zu werden). Wendt sagt, dass die Androhung, erschossen zu werden, ein klarer Fall von Zwang ist, aber er behauptet tatsächlich, dass Zwang nicht unbedingt unfrei macht, zumindest nicht bezogen auf einfache Handlungen. „Drohungen und Angebote, die komplexe Handlungen, die uns vorher offen standen, verhindern, machen unfrei zu komplexen Handlungen. Drohungen und Angebote, auch zwingende Drohungen und Angebote, machen nie unfrei zu einfachen Handlungen. Auf diese […] Weise kann man der Intuition, dass Drohungen unfrei machen, gerecht werden und gleichzeitig bei der theoretisch alternativlosen Einsicht bleiben, dass Freiheit und Unfreiheit nicht relativ zu den Wünschen des Freiheitssubjekts verstanden werden können.“ (Wendt 2009, S. 43)

Dagegen lässt sich einwenden, dass es doch genau um den Fall der einfachen Handlung geht, bei der man sagen will, dass der Handelnde unfrei ist. Er ist unfrei, sein Gefängnis zu verlassen, Punkt. Die Markierung zu übertreten und zu sterben ist eben keine echte Wahlmöglichkeit bzw. Alternative, deshalb will man auch bei dieser einfachen Handlung von Unfreiheit sprechen. Die starke Unmöglichkeitsbedingung von Punkt (1) ist deshalb fragwürdig. In Anbetracht von Drohung und Zwang an der Unmöglichkeitsbedingung (1) festzuhalten und diese Phänomene als nicht freiheitsrelevant zu betrachten, scheint höchst unplausibel. Wie gesehen hat Wendt drei Kriterien für freiheitsrelevante Hindernisse definiert, die den libertären Freiheitsbegriff bestimmen sol36

Libertärer Freiheitsbegriff

len. Alle drei Kriterien sind untauglich, was auch den von Libertären zugrunde gelegten Freiheitsbegriff unplausibel erscheinen lässt.

1.1.5 Der Freiheitsbegriff nach Hayek Ein alternativer Freiheitsbegriff, der weder eine Unterscheidung von Tun und Unterlassen, die Lehre vom Doppeleffekt, noch die Unmöglichkeitsbedingung voraussetzt, wird von Hayek als Grundlage für den Liberalismus vorgeschlagen. Das Phänomen des Zwangs spielt bei Hayek eine wesentlich wichtigere Rolle bei der Definition von Freiheit, als es bei Narveson oder Wendt der Fall ist. Hayek will seinen Begriff der individuellen Freiheit von politischer, innerer und positiver Freiheit abgrenzen: politisch frei ist derjenige, der am politischen Entscheidungsprozess teilhaben kann. Innerlich frei ist derjenige, der das tun kann, was er auch tun will, ohne von inneren Zwängen davon abgehalten zu werden. Positiv frei ist derjenige, der die Macht bzw. die Fähigkeit hat, das zu tun, was er will und seine Ziele erreichen kann. Hayek wehrt sich entschieden gegen den Gebrauch des Begriffs der Freiheit im Sinne von Macht oder Fähigkeiten, vor allem in Form positiver Freiheit. „And though „political liberty“ and „inner liberty“ are long-established alternative uses of the term which, with a little care, may be employed without causing confusion, it is questionable whether the use of the word „liberty“ in the sense of „power“ should be tolerated. In any case, however, the suggestion must be avoided that, because we employ the same word, these „liberties“ are different species of the same genus. This is the source of dangerous nonsense, a verbal trap that leads to the most absurd conclusions.“ (Hayek 1976, S. 18)

Sachzwänge, bzw. natürliche Hindernisse sind damit nicht freiheitsrelevant. Ein in Not gekommener Kletterer, der im Gebirge nur noch einen Ausweg und damit keine Wahlmöglichkeit mehr hat, um sich zu retten, unterliegt laut Hayek keinem Zwang und ist immer noch frei. Die Tatsache, dass dem Kletterer alle Wege außer dem einen verschlossen sind und dass er diesen wählen muss, um zu überleben, 37

Freiheit (Libertarismus)

ist nicht freiheitsrelevant. Selbst wenn gar keine Wahlmöglichkeit mehr gegeben ist und der Kletterer in einer Gletscherspalte feststecken würde, wäre er immer noch frei. Nach Hayek ist Freiheit negativ, d. h. sie zeichnet sich nicht durch das Bestehen von Handlungsmöglichkeiten, sondern durch die Abwesenheit bestimmter Bedingungen aus: Derjenige ist frei, der seine selbstgesetzten Ziele verfolgen kann, ohne dass andere Menschen ihn durch Zwang 15 davon abhalten. Diese Freiheit nennt er persönliche oder auch individuelle Freiheit. „The state in which a man is not subject to coercion by the arbitrary will of another or others is often also distinguished as „individual“ or „personal“ freedom […].“ (Hayek 1976, S. 11)

Der Freiheitsbegriff bei Hayek ist durch die Abwesenheit von Zwang definiert. Deshalb ist die konkrete Ausformulierung des Zwangsbegriffs zentral für die Bestimmung von Freiheit. „By „coercion“ we mean such control of the environment or circumstances of a person by another that, in order to avoid greater evil, he is forced to act not according to a coherent plan of his own but to serve the ends of another.“ (Hayek 1976, S. 20–21)

Zwang macht Handlungen nicht unmöglich, er verändert jedoch die Wahlmöglichkeiten des Betroffenen in der Hinsicht, dass er den Handelnden dazu veranlasst, nicht mehr nach seinen Plänen, sondern entsprechend den Plänen des Erzwingers zu handeln. Der Betroffene wählt die vom Erzwinger intendierte Handlungsmöglichkeit, um damit ein schweres Übel zu vermeiden, das ihm angedroht wurde, für den Fall, dass er nicht im Sinne des Erzwingers handelt. Neben der gezielten Verhaltensänderung beim Gezwungenen, beinhaltet Zwang also auch die Androhung eines Übels bzw. einer negativen Konsequenz. 15

Im Englischen wird zwischen Zwang, der durch Umstände hervorgerufen wird (compulsion) und Zwang, der von Menschen hervorgerufen wird (coercion) begrifflich unterschieden. Diese Unterscheidung gibt es im Deutschen nicht. Im weiteren Verlauf ist mit Zwang immer „coercion“, also durch Menschen verursachter Zwang, gemeint.

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Libertärer Freiheitsbegriff

„Coercion occurs when one man’s actions are made to serve another man’s will, not for his own but for the other’s purpose. It is not that the coerced does not choose at all; if that were the case, we should not speak of his „acting.“ If my hand is guided by physical force to trace my signature or my finger pressed against the trigger of a gun, I have not acted. Such violence, which makes my body someone else’s physical tool, is, of course, as bad as coercion proper and must be prevented for the same reason. Coercion implies, however, that I still choose but that my mind is made someone else’s tool, because the alternatives before me have been so manipulated that the conduct that the coercer wants me to choose becomes for me the least painful one. Although coerced, it is still I who decide which is the least evil under the circumstances.“ (Hayek 1976, S. 133)

Freiheitsrelevante Hindernisse können also nur von anderen Personen stammen, aber sie müssen, zum Zweck der Verhaltensänderung beim Gezwungenen, intentional und durch die Androhung von negativen Konsequenzen, zustandekommen: „Coercion implies both the threat of inflicting harm and the intention thereby to bring about certain conduct.“ (Hayek 1976, S. 134)

Die Intention zur Verhaltensmanipulation beim Gezwungenen ist also ebenso Teil des Zwangs. Dies schließt Fälle aus, bei denen jemand unabsichtlich eine Verhaltensänderung bei einer anderen Person hervorruft, z. B. wenn er jemandem unwissentlich im Weg steht und derjenige dann einen Umweg laufen muss. Allerdings ist man für ungewollte, aber bewusst in Kauf genommene Nebeneffekte verantwortlich. „Since we assign responsibility to the individual in order to influence his action, it should refer only to such effects of his conduct as it is humanly possible for him to foresee and to such as we can reasonably wish him to take into account in ordinary circumstances.“ (Hayek 1976, S. 83) „Freedom demands that the responsibility of the individual extend only to what he can be presumed to judge, that his actions take into account effects which are within his range of foresight, and particularly that he be responsible only for his own actions (or those of per-

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Freiheit (Libertarismus)

sons under his care) – not for those of others who are equally free.“ (Hayek 1976, S. 107)

Es gibt Ausnahmen: von anderen Personen intentional errichtete Hindernisse, die das Verhalten anderer unter Androhung negativer Konsequenzen lenken sollen, aber dennoch keinen Zwang darstellen und dementsprechend nicht freiheitsrelevant sind. So kann jemand z. B. bestimmte Kleidervorschriften für seinen Club erlassen und androhen, dass jeder, der sich nicht den Vorschriften entsprechend kleidet, der Zutritt verwehrt wird. Dennoch kann man nach Hayek hier nicht sagen, dass derjenige, der in den Club will, unfrei ist, sich nach Belieben zu kleiden und gezwungen wird, sich nach den Vorstellungen des Clubbesitzers anzuziehen. Es handelt sich hierbei um ein Angebot von Gütern und Dienstleistungen seitens des Clubbesitzers, das an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, wobei der Austausch freiwillig stattfindet und daher nicht von Zwang gesprochen werden kann. Dies gilt auch für Angebote, bei denen mehr auf dem Spiel steht, als die freie Kleiderwahl. „Even if the threat of starvation to me and perhaps to my family impels me to accept a distasteful job at a very low wage, even if I am „at the mercy“ of the only man willing to employ me, I am not coerced by him or anybody else. So long as the act that has placed me in my predicament is not aimed at making me do or not do specific things, so long as the intent of the act that harms me is not to make me serve another person’s ends, its effect on my freedom is not different from that of any natural calamity […].“ (Hayek 1976, S. 137)

Lediglich, wenn jemand unentbehrliche Güter oder Dienstleistungen in einer Monopolstellung zurückhält, kann mit Hayek von Zwang gesprochen werden. Er nennt dafür das Beispiel eines Wasserquellenbesitzers in einer Oase, die für die dort wohnenden Menschen die einzige Überlebenschance darstellt. „A monopolist could exercise true coercion, however, if he were, say, the owner of a spring in an oasis. Let us say that other persons settled there on the assumption that water would always be available at a reasonable price and then found, perhaps because a second spring dried up, that they had no choice but to do whatever the owner of

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Libertärer Freiheitsbegriff

the spring demanded of them if they were to survive: here would be a clear case of coercion.“ (Hayek 1976, S. 136)

Das Vorenthalten einer Dienstleistung oder eines Gutes bzw. der Verkauf zu willkürlichen Preisen kann also Zwang genannt werden, wenn diese Güter notwendig zum Erhalt des eigenen Lebens oder für einen vergleichbar wichtigen Wert unentbehrlich sind. „So long as the services of a particular person are not crucial to my existence or the preservation of what I most value, the conditions he exacts for rendering these services cannot properly be called „coercion.““ (Hayek 1976, S. 136)

Das Oasenbeispiel wird kontrovers diskutiert 16 und gilt als Schwachstelle von Hayeks Zwangsbegriff. Hayeks Schüler Ronald Hamowy 17 kritisierte das Beispiel so: Sobald der Oasenbesitzer das Wasser einfach für sich behält und dementsprechend gar keine Gegenleistung von den Verdurstenden haben und so auch gar nicht Einfluss auf ihr Handeln nehmen will, ist die Bedingung des Zwangs gar nicht erfüllt und das obwohl er ihnen die einzige Überlebenschance nimmt. Hayek antwortete auf diese Kritik 18 mit einem weiteren Beispiel: Ein Arzt, der als einziger in der Lage ist, in einem Notfall eine Operation durchzuführen und damit einem anderen Menschen das Leben zu retten. Wenn der Arzt in einer solchen Notfallsituation, auch ohne Verlangen einer Gegenleistung, die Hilfe unterlässt, handelt es sich laut Hayek um Zwang. Dies steht im Gegensatz zu der von Hayek gelieferten Definition des Zwangs, bei der durch Drohung eine Verhaltensänderung beim Betroffenen erfolgen soll. Man könnte Hayek so lesen, dass die unterlassene Hilfeleistung des Arztes und damit gleichsam des Oasenbesitzers eine Form von Gewalt sei und Gewalt eine Form von Zwang ist. Hayek ist zwar der Meinung, dass Zwang nicht synonym mit Gewalt ist, aber üblicherweise mit Gewalt oder zumindest ihrer Androhung verbunden ist. 16

Vgl. Batthyány 2007, S. 202 ff., Bouillon 1997, S. 43 ff., Hamowy 1961, S. 18–31 17 Vgl. Hamowy 1961, S. 18–31 18 Vgl. Hayek 1967, S. 348–350

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Freiheit (Libertarismus)

„It would be less misleading if occasionally the terms „force“ and „violence“ were used instead of coercion, since the threat of force or violence is the most important form of coercion. But they are not synonymous with coercion, for the threat of physical force is not the only way in which coercion can be exercised. Similarly, „oppression,“ which is perhaps as much a true opposite of liberty as coercion, should refer only to a state of continuous acts of coercion.“ (Hayek 1976, S. 135)

Dementsprechend könnten Gewalt und Unterdrückung unter den Begriff des Zwangs subsumiert werden. „We can probably include all forms of violence under coercion or at least maintain that a successful prevention of coercion will mean the prevention of all kinds of violence.“ (Hayek 1976, S. 143)

Zusätzlich lassen sich Irreführung und Betrug laut Hayek ebenso unter Zwang subsumieren: „This is fraud and deception. Yet, though it would be straining the meaning of words to call them „coercion,“ on examination it appears that the reasons why we want to prevent them are the same as those applying to coercion. Deception, like coercion, is a form of manipulating the data on which a person counts, in order to make him do what the deceiver wants him to do. Where it is successful, the deceived becomes in the same manner the unwilling tool, serving another man’s ends without advancing his own. Though we have no single word to cover both, all we have said of coercion applies equally to fraud and deception.“ (Hayek 1976, S. 143–144)

Diese Erweiterungen des Zwangsbegriffs lassen zwar zu, dass Hayek im Oasen- wie auch im Arztbeispiel von Zwang reden kann, jedoch wirken diese Erweiterungen ad-hoc, da sie sich weder aus dem allgemeinen Gebrauch des Wortes, noch aus seiner ursprünglichen Definition ableiten lassen. „Obwohl Hayek sagt, die Rechtfertigung von Zwang sei die Verhinderung von größerem Zwang, bleibt er seinem eigenen Kriterium nicht treu. Er scheint ein weiteres Kriterium zu benutzen: die Verhinderung von Schaden.“ (Gaulke 1993, S. 293)

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Libertärer Freiheitsbegriff

Zusätzliche Probleme entstehen durch die von Hayek getroffene Unterscheidung von privatem und staatlichem Zwang, wie auch aus den verschiedenen Graden des Zwangs 19. Lässt man all diese Schwächen des Hayekschen Zwangsbegriffs außen vor, kann man den Zwangsbegriff bei Hayek zusammenfassend wie folgt beschreiben: „[…] Zwang verstanden als Oberbegriff […] liegt vor, wenn ein Individuum die Handlungsumstände eines anderen Individuums so manipuliert, daß dieses gegen seinen Willen dem Willen des Zwingenden nach handelt oder Opfer der Verletzung seines Leibes, seines Lebens oder seines Eigentums wird.“ (Batthyány 2007, S. 199)

Abwesenheit von so verstandenem Zwang würde in einem negativen Freiheitsbegriff resultieren, der sich als libertär bezeichnen lassen könnte. Frei ist also derjenige, der von anderen Personen weder Gewalt, Unterdrückung, Betrug, Irreführung erfährt, noch gezwungen wird, in einer bestimmten Weise zu handeln, die nicht seinen Wünschen entspricht. Der Zwangsbegriff ist zwar durchaus problembehaftet, was sich auch auf den Freiheitsbegriff Hayeks überträgt, hat aber dafür den Vorteil, im Unterschied zu Wendt und Narveson, weder die Lehre des Doppeleffekts, die Unmöglichkeitsbedingung, noch eine Unterscheidung von Tun und Unterlassen vorauszusetzen. Die Bestimmung eines libertären Freiheitsbegriffs ist, wie gesehen, kontrovers; die verschiedenen Konzeptionen unterscheiden sich in vielen Details, jedoch vertreten sie stets im Kern ein ähnliches Konzept von Freiheit. Der Kern besteht darin, dass Freiheit durch die Abwesenheit von Hindernissen bestimmt wird, die von anderen Personen verursacht sind. Diese Auffassung von Freiheit wird auch als „negative Freiheit“ bezeichnet.

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Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Zwangsbegriff und dessen Schwächen ist aufgrund des Umfangs der Problematik an dieser Stelle nicht möglich, da dies eine Betrachtung des Gesamtwerk Hayeks bedarf. Jedoch will ich hier auf Philipp Batthyánys „Zwang als Grundübel in der Gesellschaft?: der Begriff des Zwangs bei Friedrich August von Hayek“ (2007) verweisen, der im Rahmen seiner Dissertation in aller Gründlichkeit auf die Problematiken eingeht.

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Freiheit (Libertarismus)

1.1.6 Negative und Positive Freiheit In diesem Zusammenhang ist es nützlich, auf die von Isaiah Berlin berühmt gemachte Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit einzugehen. „The first of these political sense of freedom or liberty […], which […] I shall call the ‚negative‘ sense, is involved in the answer to the question ‚What is the area within which the subject – a person or group of persons – is or should be left to do or be what he is able to do or be, without interference by other persons?‘ The second, which I shall call the ‚positive‘ sense, is involved in the answer to the question ‚What, or who, is the source of control or interference that can determine someone to do, or be, this rather than that?‘“ (Berlin 1969, S. 2) „By being free in this [negative] sense I mean not being interfered with by others.“ (Berlin 1969, S. 3) „The ‚positive‘ sense of the word ‚liberty‘ derives from the wish on the part of the individual to be his own master.“ (Berlin 1969, S. 8)

Berlin bleibt vor allem bei der Definition des positiven Freiheitsbegriffs recht vage, daher gibt es in Anlehnung an seine Arbeiten verschiedene Versuche, negative und positive Freiheit als sich gegenüberstehende Freiheitsbegriffe zu artikulieren. Seebaß unterscheidet hier drei verschiedene Deutungen 20: – – –

Der Gegensatz zwischen „Freiheit von“ und „Freiheit zu“ Der Gegensatz zwischen dem „Positivum“ des Tuns und dem „Negativum“ des Unterlassens Der Gegensatz zwischen dem Nichtbestehen von Hindernissen, die den Zugang zu relevanten Teilen eines Möglichkeitsspielraums prinzipiell ausschließen und den konkreten Möglichkeiten, diese Optionen zu ergreifen

Der erste Gegensatz ist laut Seebaß gar keiner, da eine Freiheit von relevanten Hindernissen eine Freiheit zu bestimmten Möglichkeiten 20

Vgl. Seebaß 2006, S. 259–260

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Libertärer Freiheitsbegriff

bedeutet. Wenn z. B. ein Gefangener nach Ablauf seiner Haftstrafe frei ist zu gehen, bedeutet das, dass er frei von seiner Gefangenschaft ist und das Gefängnis verlassen kann. Die vorangehenden Wörter „von“ und „zu“ können, je nach Formulierung, für ein und denselben Sachverhalt gebraucht werden, daher können sie nicht als Unterscheidungskriterium dienen. Den zweiten Gegensatz anhand der Unterscheidung von Tun und Unterlassen bezeichnet Seebaß, auch im Hinblick auf die bereits vorgetragenen Gegenargumente, als „[…] sachlich gegenstandslos bzw. (ist) als ein Versuch zu werten, inhaltliche Differenzen darüber, welche Freiheiten schützenswert sind, scheinformal zu verschleiern.“ (Seebaß 2006, S. 260) Der dritte Gegensatz ist für Seebaß signifikant, sobald mit „negativer Freiheit“ die Abwesenheit von Hindernissen, die eine bestimmte Option verschließen und mit „positiver Freiheit“ nicht nur eine abstrakte Chance, sondern auch der Besitz von konkreten Fähigkeiten und Gelegenheiten, die betreffende Option zu realisieren, gemeint ist. Von Libertären (so auch Narveson, Hayek und Wendt) wird dieser Gegensatz stets als Abgrenzungskriterium für die Bestimmung von Freiheit gesehen, wobei die positive Freiheit, also der Besitz von konkreten Fähigkeiten und Gelegenheiten, als gar keine wirkliche Freiheit betrachtet wird. Narveson stellt die Frage, ob positive Freiheit überhaupt Freiheit ist und antwortet, dass sie eher durch den Begriff „power“ 21 ersetzt werden sollte: „Perhaps ‚power‘ would do: you have the positive liberty to do x if you have the power to do x. This usage, which follows that of Isaiah Berlin 21

Hayek spricht hierbei ebenso von „power“: „Neither of these confusions of individual liberty with different concepts denoted by the same word is as dangerous as its confusion with a third use of the word to which we have already briefly referred: the use of „liberty“ to describe the physical „ability to do what I want,“ the power to satisfy our wishes, or the extent of the choice of alternatives open to us. […] Once this identification of freedom with power is admitted, there is no limit to the sophisms by which the attractions of the word „liberty“ can be used to support measures which destroy individual liberty, no end to the tricks by which people can be exhorted in the name of liberty to give up their liberty.“ Hayek 1976, S. 65–66

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Freiheit (Libertarismus)

in his classic discussion of the subject, has the merit of indicating in a compendious way the area in which the ideas collected by the term ‚positive liberty‘ lie.“ (Narveson 1988, S. 31) „This confusion of liberty as power with liberty in its original meaning inevitably leads to the identification of liberty with wealth; and this makes it possible to exploit all the appeal which the word „liberty“ carries in the support for a demand for the redistribution of wealth.“ (Hayek 1976, S. 17)

Wendt sieht das ähnlich und ist der Meinung, dass positive Freiheit entweder als Selbstbestimmung oder als Synonym von „Können“ verstanden werden muss. Bei der Selbstbestimmung geht es laut ihm zwar indirekt auch um Freiheit im Sinne der Willensfreiheit, aber es handelt sich nicht um eine Form der Handlungsfreiheit und ist damit irrelevant für die libertäre Moral. Bei der Verwendung von Freiheit als Synonym für „Können“ wird laut ihm nicht zwischen freiheitsrelevanten und irrelevanten Hindernissen unterschieden, was dazu führt, dass man dem Freiheitsbegriff nicht gerecht wird. Ebenso sind Narveson und Hayek der Meinung, dass ein positiver Freiheitsbegriff dazu führt, dass man die Fähigkeit oder Macht, etwas zu tun, mit Freiheit verwechselt. Eine solche Auffassung von Freiheit ist in ihren Augen jedoch falsch und sie sehen die negative Freiheit im Anschluss an Berlin als die eine, echte Freiheit. Ein negatives Freiheitsverständnis kann als zentral für den Libertarismus bezeichnet werden. Seebaß behauptet jedoch, dass der Unterschied zwischen positiver und negativer Freiheit nur ein gradueller und kein kategorischer ist, weshalb er nicht als Abgrenzungskriterium dienen kann. Betrachten wir hierfür noch einmal die verschiedenen Gefängnis-Beispiele 22: 22

An dieser Stelle scheint mir der Hinweis wichtig, dass die verschiedenen Beispiele keine moralische Wertung beinhalten. Sie sollen nur zeigen, dass sich in den vermeintlich kategorisch unterschiedlichen Fällen an den Möglichkeitsspielräumen und damit auch an der Freiheit von (A) nicht viel ändert. Gleichwohl kann es bei einer moralischen Bewertung der verschiedenen Fälle erhebliche Unterschiede geben. Lediglich wenn das einzige moralische Kriterium die Freiheit ist, wird es schwierig, hier eine Unterscheidung zu treffen.

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Libertärer Freiheitsbegriff

1. (A) wird unfrei durch eine Handlung von (B) (Einsperren in ein Gefängnis). 2. (A) wird unfrei durch eine zwingende Drohung von (B) bezüglich einer Handlung (Überqueren der Striche führt zur Erschießung). 3. (A) wird unfrei durch ein zwingendes Angebot von (B) bezüglich einer Unterlassung (Überqueren der Striche führt zur Vorenthaltung der rettenden Medizin). Eine weitere Möglichkeit, das Gefängnisbeispiel zu gestalten, wäre folgende: (A) wird unfrei durch eine Unterlassung von (B) (Die Krankheit schwächt (A) so sehr, dass er die Striche nicht ohne die Hilfe der Medizin überqueren kann, aber (B) unterlässt es, (A) die Medizin zu geben).

Wendt gibt zu, dass zwischen 2. und 3. kein relevanter Unterschied besteht. Zwar ist (A) frei zu der einfachen Handlung, das Gefängnis zu verlassen, jedoch unfrei zu der komplexen Handlung, die Striche zu überqueren, ohne zu sterben. Auch besteht zwischen 1. und 2. kein kategorialer Unterschied, da es in beiden Fällen zu Unfreiheiten kommt. Erst 4. müsste kategorisch unterschiedlich sein, da hier kein freiheitsrelevantes Hindernis, sondern eine fehlende Ermöglichung vorliegt. Jedoch scheint der Unterschied von 1. zu 2. ebenso signifikant, wie der Unterschied zwischen 3. und 4., nur mit dem Unterschied, dass bei den ersten beiden Fällen aktives Tun zur Unfreiheit führt und in den letzten beiden Fällen eine Unterlassung. Bereits die Argumentation Birnbachers hat gezeigt, dass der Unterschied zwischen Tun und Unterlassen keinen kategorialen Unterschied ausmachen kann. Aber auch die Beurteilung der Fälle 2. und 3., bei denen ebenfalls der Unterschied nur im Tun bzw. im Unterlassen liegt, zeigt, dass die Art der Handlung kein Faktor für die Freiheitsrelevanz des Hindernisses sein kann. Wenn also zwischen all diesen Fällen kein kategorialer Unterschied besteht, scheint es einen fließenden Übergang von 1. bis 4. zu geben. Auch Hayek müsste zugestehen, dass kein kategorialer Unterschied besteht. 4. ist analog 47

Freiheit (Libertarismus)

zu seinem Arztbeispiel konstruiert und damit ein Fall von Zwang und Unfreiheit, ebenso 3., das analog zum Oasenbeispiel ist. Eine zwingende Drohung, wie bei 2., ist geradezu das Paradebeispiel für Zwang bei Hayek und entspricht damit seiner Definition von Unfreiheit. Lediglich bei 1. könnte bestritten werden, dass Hayek hier von Zwang und damit von Unfreiheit reden würde, da dem Gefangenen nicht gedroht wird und er auch keine Wahlalternative hat. Jedoch muss man das Eingesperrtsein als eine Form von Gewalt, im Sinne einer schädigenden Veränderung der Umstände, auffassen. Damit wäre auch dieser Fall eine Form von Unfreiheit. Hayeks eigene Differenzierung von verschiedenen Graden des Zwangs und seine Ausweitung des Zwangsbegriffs auf Gewalt legt nahe, dass ein fließender Übergang zwischen den verschiedenen Fällen vorliegt. Wie von Seebaß behauptet, scheint der Unterschied zwischen den Beispielen tatsächlich graduell und nicht kategorisch zu sein. Ein substantieller Gegensatz zwischen dem Nichtbestehen von Hindernissen und dem Zugang zu relevanten Teilen des Möglichkeitsspielraums lässt sich ebenso wenig plausibel machen. „Zwischen der konkreten Freiheit eines Schlaraffenlands, in dem jedem, der es möchte, die gebratenen Tauben von selbst in den Mund fliegen, und der abstrakten Freiheit eines Landes, in dem niemand Zugang zu solchen Genüssen hat, obwohl sie prinzipiell verfügbar wären, gibt es alle Arten von Zwischenstufen.“ (Seebaß 2006, S. 261)

Der Übergang von negativer zu positiver Freiheit ist fließend, und ein kategorischer Unterschied zwischen beiden Arten der Freiheit ist demnach auszuschließen. Negative Freiheit als die eine „wahre“ Freiheit zu bezeichnen und sich mit der prinzipiellen Zugänglichkeit zu bestimmten Möglichkeitsspielräumen zu begnügen und dabei zu behaupten, dass ein positiver Freiheitsbegriff ein begrifflicher Zwitter sei, ist für Seebaß eine „interessenbedingte Verbiegung“ 23 des Wortes Freiheit. Den Libertarismus bezeichnet er deshalb als „Schwundstufe des politischen Liberalismus“, der nicht zugeben will, 23

Seebaß macht explizit Hayek diesen Vorwurf. Vgl. Seebaß 2006, S. 261– 262

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Libertärer Freiheitsbegriff

dass ein Mangel an Fähigkeiten, Wissen, Macht und Besitz freiheitseinschränkende Hindernisse sind, um so mit Bezug auf Freiheit eine Minimierung staatlicher Regulation zu rechtfertigen. Auch andere Philosophen sind der Meinung, dass der libertäre Freiheitsbegriff verkürzt ist: „[…] (F)reedom is best understood in terms of free agency, the agent being free to the extent that he is the author of his actions and able to realize his purposes. Coercion is one situation in which his will and action are not his, but there are also others with a similar outcome. A well-considered theory of freedom therefore cannot remain content to stress coercion; it must give a coherent philosophical account of what it means to be the author of one’s actions and under what conditions this is possible. Since the libertarian does not offer such a theory, his account of freedom remains superficial.“ (Parekh 1995, S. 267–268)

Behalten die Kritiker Recht, wäre die libertäre Definition von freiheitsrelevanten Hindernissen nach Wend, Narveson oder Hayek viel zu eng. Die Alternative, alle Hindernisse als freiheitsrelevant einzustufen, scheint aber zu weit zu gehen. Wenn der Mangel an Fähigkeiten oder „power“, wie Narveson und Hayek es nennen, freiheitsrelevante Hindernisse darstellt, scheint Wendts Einwand, dass „Freiheit“ zu einem Synonym für „Können“ verkommt, zu greifen. Die Frage ist also, ob es weitere, von den Kriterien der Libertären verschiedene Kriterien gibt, um freiheitsrelevante Hindernisse zu bestimmen und den Freiheitsbegriff vom Begriff des Könnens abzugrenzen. Seebaß kritisiert nicht nur die Abgrenzung anhand der Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit, sondern bietet eine eigene Bestimmung von Freiheit und freiheitsrelevanten Hindernissen an. 1.1.7 Der Freiheitsbegriff nach Seebaß Gottfried Seebaß sucht in seinem Buch „Handlung und Freiheit“ den Gattungsbegriff der Freiheit, also einen Überbegriff, der so allgemein ist, dass jede Verwendung von „Freiheit“ bzw. „frei“ darunter 49

Freiheit (Libertarismus)

subsumiert werden kann. Als ersten Kandidaten bespricht er die Handlungsfreiheit. Damit ist die Freiheit gemeint, so handeln zu können, wie man will. Seebaß ist der Meinung, dass diese Definition von Handlungsfreiheit nicht allgemein genug ist, um als Gattungsbegriff für Freiheit zu fungieren. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch gibt es die Rede vom „freien Fall“ oder z. B. Beobachtungen „in freier Wildbahn“, aber auch andere Phänomene, wie das der Willensfreiheit. Solche Verwendungsweisen müssen keine Handlungen beinhalten und können somit nicht unter Handlungsfreiheit fallen. Deswegen ist ein allgemeinerer Begriff der Freiheit notwendig. Für Seebaß kommt hier nur die Hindernisfreiheit in Frage, da sie alle Formen menschlicher Freiheit – äußere (z. B. politische Freiheiten) und innere (z. B. geistige Freiheiten, Freiheit von Sucht und Phobien) – abdeckt. Die anfängliche Definition lässt sich dahingehend spezifizieren: „Wer handeln kann, wie er will, ist frei, weil er nicht gehindert wird, seinen Willen handelnd zu verwirklichen.“ (Seebaß 2006, S. 209)

Der Freiheitsbegriff hängt also davon ab, wie „Hinderung“ definiert ist 24. Die Definition muss Antworten dafür haben, wer oder was, woran und wodurch gehindert wird, so Seebaß. Für unsere Untersuchung ist lediglich die Hinderung von Personen von Interesse. Die Rede davon, an etwas gehindert zu werden, umfasst laut Seebaß zwei Charakteristika: Zum einen, dass es eine bestimmte Menge an Möglichkeiten bzw. Möglichkeitsspielräume gibt und dass diese dem Gehinderten verschlossen sind; und zum anderen, dass diese Möglichkeiten wesentlich und bedeutsam für den Gehinderten sind und ihm diese seinem Anspruch nach offen stehen sollten. Mehr Möglichkeiten und größere Spielräume bedeuten mehr Freiheit. Wenn Möglichkeiten genommen und Spielräume verkleinert werden, werden Alternativen verschlossen. Dies muss nicht automatisch eine Hinderung darstellen. Denn eine solche verschlossene Alternative muss zu den „naturgemäßen“ Möglichkeiten des Gehinderten gehören, 24

Hier wird deutlich, dass Wendt eigentlich auch von „Hindernisfreiheit“ reden will, obwohl er von „Handlungsfreiheit“ redet.

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Libertärer Freiheitsbegriff

sprich diese Alternative zu eliminieren wäre „wider die Natur“ des Gehinderten. Seebaß bringt also den Begriff der „Natürlichkeit“ ins Spiel und spricht in diesem Zusammenhang auch von „Wesensgemäßheit“ und „Bedeutsamkeit“. Wenn jemand seine Möglichkeiten „wesensgemäß“ oder „naturgemäß“ verwirklichen kann und dabei nicht gehindert wird, nennt Seebaß dies „freie Entfaltung“. Diese freie Entfaltung impliziert ein Streben nach der Realisierung bestimmter Möglichkeiten. Wird jemand daran gehindert, nimmt es dem Gehinderten Möglichkeiten, die für ihn wesensgemäß, naturgemäß und bedeutsam sind. Erst dann, wenn ein solches Streben eingeschränkt wird, liegt nach Seebaß eine freiheitsrelevante Hinderung vor. Das Streben kann intentional (z. B. durch ein Wollen) oder nichtintentional (der „frei fallende“ Stein strebt zum Boden hin) zielgerichtet sein. Menschliches Streben ist meistens intentional zielgerichtet und davon ist auch meistens im Zusammenhang mit Freiheit die Rede. Daher will sich Seebaß auf das intentionale volitionale Streben konzentrieren und die Frage beantworten, wann eine Mensch in seiner volitionalen freien Entfaltung gehindert ist. Dazu muss geklärt werden, was der betreffende Möglichkeitsspielraum ist und in welcher Weise er eingeschränkt werden kann. Der relevante Möglichkeitsspielraum besteht aus allen Sachverhalten, auf die sich das Wollen eines Menschen richten kann. Einige davon können durch physische und psychische Verrichtungen und deren Folgen beeinflusst werden, aber die meisten Sachverhalte können nicht beeinflusst werden und stellen den Teil des Möglichkeitsspielraumes dar, der den Menschen generell, individuell oder situativ verschlossen ist. Wenn einem Menschen die Möglichkeit verschlossen ist, etwas Bestimmtes zu tun, dann kann er dies nicht tun. Dieses Nicht-Können ist aber erst dann eine Form der Unfreiheit, wenn die Offenheit der Möglichkeit der Natur des Betroffenen entsprechen würde. Was genau unter „natürlich“ oder „wesentlich“ verstanden werden kann, lässt Seebaß offen. Er weist aber darauf hin, dass es, zumindest bei leblosen Dingen, theorieabhängig ist und der Mensch dies von außen festsetzt (z. B. der freie Fall des Steines). Einen solchen externen Standard, etwa einen Normalitätsstandard, auch beim Menschen festzulegen, hält Seebaß für aussichtslos: 51

Freiheit (Libertarismus)

„Zu sagen, was der „Natur“ eines Menschen entspricht, bemesse sich nach den Strebungen und Formen von Wissen, Rationalität oder Reflektiertheit, die Menschen normalerweise besitzen, ist keine befriedigende Antwort […]. Denn solche Normalitätsstandards, soweit sie sich überhaupt sinnvoll einführen lassen, erfassen die Einzelperson nicht […].“ (Seebaß 2006, S. 166)

Deshalb hängt es bei Menschen davon ab, wie der Akteur sich wahrnimmt und was er als für sich naturgemäß ansieht. „Bei menschlichen Personen, normal entwickelten Erwachsenen zumindest, wird häufig die Antwort genügen, daß ihr jeweiliger Wille darüber entscheidet, was für sie wesentlich ist.“ (Seebaß 2006, S. 210)

Verschiedene Personen haben unterschiedliche Wollensinhalte und damit ist es auch von Person zu Person verschieden, was „naturgemäß“ oder „wesensgemäß“ für diese Person bedeutet. „Da die Inhalte dessen, was menschliche Individuen „wesentlich“ wollen, offenbar äußerst verschieden sind und sich (wenn objektive, extern herangetragene Kriterien ausscheiden) kaum einschlägig und umfassend spezifizieren lassen, erscheint es naheliegend, die Form der Willensbildung als ausschlaggebendes Zusatzkriterium heranzuziehen.“ (Seebaß 2006, S. 226)

Was für eine Person wesentlich ist, hängt demnach also daran, auf welche Weise ihr Wille gebildet wurde. Für Seebaß sind dabei zwei Schritte entscheidend: „„[…] (Die) entscheidende(n) Schritte der Willensbildung (sind) (1) die epistemische, emotive und volitionale Selbstaufklärung der Individuen und (2) ihre nachfolgende persönliche Stellungnahme.““ (Seebaß 2006, S. 227)

Vor jeder wesenskonstitutiven Stellungnahme steht also eine aufgeklärte Willensbildung, sodass sich die Person über Möglichkeitsbzw. Handlungsspielräume und die Bedeutung für sich selbst im Klaren sein muss, um sagen zu können, was für sie wesentlich ist und ob sie frei ist. Deshalb können die gleichen Begrenzungen von Handlungsspielräumen auch von verschiedenen Personen als frei52

Libertärer Freiheitsbegriff

heitseinschränkend oder auch nicht freiheitseinschränkend empfunden werden. Dazu gibt Seebaß u. a. folgendes Beispiel: „Daß ich nicht so schnell schwimmen kann wie Franziska von Almsick und nicht so gut Geige spielen wie Arthur Grumiaux, begrenzt meinen Handlungsspielraum. Kann ich doch weder Medaillen sammeln noch den Grand Prix du Disque bekommen. Gleichwohl bin ich als Eingeschränkter nicht unfrei. Daß ich nur eine lahme Ente im Wasser bin, stört mich überhaupt nicht. Eher schon meine violinistischen Defizite. Aber auch sie sind, wenngleich bedauerlich, kein entscheidendes Freiheitshindernis für einen musikalischen Amateur, der seinen Abstand zu den wirklichen Könnern erkannt und ein für allemal anerkannt hat.“ (Seebaß 2006, S. 251)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Seebaß Freiheit nicht bloß als Handlungsfreiheit, sondern als hindernisfreie Entfaltung begreifen will. In dieser freien Entfaltung wird ein Streben des Menschen verwirklicht, das seinem Willen auf eine besonders bedeutsame Weise entspricht. Unfrei bin ich also erst, wenn ich an einer Handlung gehindert werde bzw. in meinen Möglichkeiten eingeschränkt bin, die für meine wesentliche oder naturgemäße Entfaltung notwendig ist. „Der Freiheitsbegriff ist graduierbar, allerdings muss die Hinderung signifikant sein. Allen Unterarten gemeinsam ist der Gedanke, dass etwas bzw. jemand gehindert wird, so zu existieren, zu leben oder sich zu entfalten, wie es seiner „Natur“ oder seinem „Wesen“ entspricht. In welchen möglichen Hinsichten und Graden eine Person (Individuum oder Kollektiv) frei oder unfrei ist, bemisst sich deshalb nach zwei zentralen Kriterien: (1) den relevanten Standards der Natürlichkeit oder Wesentlichkeit und (2) dem Spielraum der Möglichkeiten, die für sie offen oder verschlossen sind.“ (Seebaß 2014, S. 216)

Die Unterschiede zum libertären Freiheitsverständnis sind deutlich. Im Gegensatz zu Wendt verwirft Seebaß die Idee der Wollensabhängigkeit. Das Wollen kann zwar, vor allem beim menschlichen Handeln, eine sehr wichtige Rolle spielen, ist aber nicht definitorisch relevant für Freiheit. Freiheit bleibt eine Subklasse des Könnens, das sich durch die Abwesenheit bestimmter Hindernisse definiert. 53

Freiheit (Libertarismus)

Seebaß verwirft auch Wendts Unterscheidung verschiedener Kategorien von freiheitsrelevanten Hindernissen und damit die klassische Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit. Ein Hindernis ist erst dann freiheitsrelevant, wenn es das Wesentlichkeitskriterium erfüllt, das heißt, wenn die Hinderung einer wesensgemäßen Entfaltung im Wege steht. Die Freiheitstheorie von Seebaß kann damit alle möglichen Hindernisse und nicht bloß die von Menschen intentional durch Handlungen hervorgebrachten Hindernisse als „freiheitsbeschränkend“ beschreiben. So kann er erklären, warum der alltägliche Sprachgebrauch von Freiheit in einigen Spezialfällen und bei unbelebten Dingen, wie z. B. der Willensfreiheit und anderen Fällen, die nicht die Handlungsfreiheit betreffen, keineswegs verfehlt ist. Die Rede vom „freien Fall“ des Steins ergibt Sinn, da der Stein nicht an seiner wesensgemäßen Entfaltung gehindert wird. Zudem kann er viel besser freiheitsbeschränkende Phänomene wie Drohungen und Zwang erklären. In allen vier bisher besprochenen Gefängnisbeispielen kann Seebaß dem Gefangenen durch das Fehlen von entsprechenden Möglichkeiten oder aufgrund von Zwang Unfreiheit attestieren, da er in allen Fällen an seiner wesensgemäßen Entfaltung gehindert wird – ohne auf die vermeintlichen Unterscheidungen von Handlung und Unterlassung einzugehen. Dies, ohne auf kontroverse Theorien wie die Lehre von der Doppelwirkung, die handlungstheoretische Unterscheidung von Tun und Unterlassen, oder die Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit zurückzugreifen. „Wer Freiheitsspielräume eröffnet, indem er „negativ“ dafür sorgt, dass hindernde Umstände (Zäune, diskriminierende Schulgesetze o. ä.) nicht auftreten oder verschwinden, tut im Prinzip nichts anderes als jemand, der diese Spielräume durch Schaffung „positiver“ Zugangsmöglichkeiten (Zauntüren oder Brücken, nichtdiskriminierende Schulgesetze etc.) sicherstellt. Entscheidend ist jeweils nicht die besondere Art der freiheitssichernden Umstände, sondern allein die Tatsache, dass der Zugang zu jenen Möglichkeiten, die für die Betreffenden wesentlich sind, nicht signifikant behindert oder verhindert wird.“ (Seebaß 2014, S. 217)

54

Libertäre Rechte und Pflichten

Diese strittigen Theorien bilden aber die Grundlage für die Ablehnung positiver Freiheit und die daraus abgeleiteten positiven Pflichten, die den Libertarismus auszeichnen. Der defizitäre Freiheitsbegriff ist die Grundlage für die Freiheitsrechte und somit die Basis der ganzen libertären Moral – das hat gravierende Folgen für den Inhalt und die Tragfähigkeit der libertären Moraltheorie. Wie Seebaß zeigt, lässt sich die Verkürzung des Freiheitsbegriffs auf negative Freiheiten nicht auf den Gattungsbegriff zurückführen. Freiheit ist begrifflich viel reichhaltiger. Libertäre müssen daher erklären, warum in vielen Fällen (wie z. B. beim freien Fall) der Freiheitsbegriff angeblich falsch verwendet wird und zusätzlich, warum er so eng zu fassen ist. Würden Libertäre den Freiheitsbegriff tatsächlich nur deshalb so definieren, um positive Pflichten ablehnen zu können, wäre Seebaß’ Vorwurf einer interessenfundierten Verbiegung des Freiheitsbegriffs berechtigt. Andererseits könnte man den Libertären jedoch auch zugestehen, dass sie eine stark spezifizierte Unterart der Freiheit einführen, die zwar nicht dem allgemeinen Verständnis von Freiheit entspricht, aber dennoch angemessen ist, um ein bestimmtes moralisches Ideal auszudrücken. Eine solches Ideal wäre dementsprechend getragen von dem Wunsch nach Abwesenheit von Drohungen, Zwang und anderen, von Personen intentional verursachten Hindernissen. Hier muss also Begründungsarbeit geleistet werden, aus welchen Gründen ein auf diese Weise verengtes Verständnis von Freiheit moralisch von Bedeutung sein soll und warum genau dieses Verständnis als Grundlage für moralische Rechte dienen soll. Im Folgenden ist es daher wichtig zu analysieren, was Libertäre unter „Pflichten“ und „Rechten“ verstehen und wie dann ein Freiheitsrecht inhaltlich bestimmt werden kann.

1.2 Libertäre Rechte und Pflichten Nachdem geklärt ist, was Libertäre unter „Freiheit“ verstehen und warum dieses Verständnis ein verengtes ist, liegt die Vermutung nahe, dass dem grundlegenden Freiheitsrecht dieses Defizit ebenso anhaftet. Um dies zu beurteilen, ist eine Klärung des Rechtsbegriffs 55

Freiheit (Libertarismus)

und dem, was Libertäre unter dem „Freiheitsrecht“ verstehen, notwendig. Im Deutschen wird „das Recht“ oft im Sinne von „Er hat gegen geltendes Recht verstoßen.“ verwendet, womit die Summe der juridischen Normen gemeint ist. Im Englischen würde man hierbei von „the law“ sprechen, wohingegen der Begriff „rights“ die Rechte bezeichnet, um die es im Folgenden gehen soll. Dabei ist zwischen juridischen und moralischen Rechten zu unterscheiden. Juridische Rechte hängen von einem Staat bzw. einem politischen System ab und haben ihren Grundlage in den jeweiligen Gesetzen. Rechtsverletzungen werden von den dafür zuständigen staatlichen Organen sanktioniert. Moralische Rechte sind unabhängig von staatlichen Organen und werden informell sanktioniert. Im weiteren Verlauf soll es ausschließlich um moralische Rechte gehen. R. M. Hare weist darauf hin, dass auch dieser Begriff von Recht mehrdeutig ist und in drei verschiedenen Weisen gebraucht wird: „In the first of these I have a right to do something if I have no obligation not to do it. For example, I have a right to get myself elected to some body by the means which the rules for elections to that body allow. Equally, anybody else has the right to stop me, if he can, by advancing his own candidature, again in accordance with the rules. In this sense a right entails no obligation, but only the absence of one. In the second sense […] I have a right if others have obligations not to stop me. My right to get myself elected is not of this second sort. […] In a third sense, I have a right if others […] have obligations positively to see to it that I can do or have that to which I have the right. In this sense we speak of a right to equal educational opportunities, or to work, or to enough to eat.“ (Hare 1981, S. 149)

Birnbacher beschreibt die Bedeutung von Recht im ersten Sinne als Erlaubnis, im zweiten Sinne als Freiheitsrecht und im dritten Sinne als Anspruchsrecht 25. Inwieweit es Sinn ergibt, davon zu sprechen, dass jemand die Erlaubnis hat, (x) zu tun, ohne dass dies impliziert, dass man nicht an (x) gehindert werden darf, ist fraglich. Auch bei 25

Vgl. Birnbacher 2007, S. 130–131; Stemmer redet von einem Leistungsrecht anstatt von einem Anspruchsrecht. Vgl. Stemmer 2000, S. 75

56

Libertäre Rechte und Pflichten

Hares Wahl-Beispiel impliziert das Wahlrecht doch auch, dass entweder der Kandidat nicht daran gehindert werden darf, sich zur Wahl zu stellen, oder dass die Wähler nicht gehindert werden dürfen, ihn zu wählen. Es gibt aber Fälle, bei denen eine Erlaubnis nicht mit einer Nicht-Hinderungspflicht einhergeht. Beim Fußball könnte man sagen, dass jeder Spieler das Recht hat, ein Tor zu schießen. Gemeint wäre damit, dass es allen Spielern auf dem Feld erlaubt ist, Tore zu schießen, sie aber auch daran gehindert werden dürfen. So verstandene Rechte könnten aber gar nicht verletzt werden. Wie aber lässt sich hier plausibel von Rechten sprechen? Man geht doch bei der Rede von Rechten auch von einer möglichen Rechtsverletzung aus. Wendt ist der Meinung, dass die Rede von „Rechten“ hier unangebracht ist und redet deshalb von „normativen Freiheiten“ 26. „Da normative Freiheiten nicht mit Pflichten für andere einhergehen, sollte man sie m. E. auch nicht „Rechte“ nennen.“ (Wendt 2009, S. 79)

Philosophen wie Narveson und Stemmer behaupten daher, dass Rechte stets mit Pflichten korrelieren 27. Dann ist es nur in den letzten beiden Fällen, bei Freiheitsrechten und Anspruchsrechten, angemessen, von „Rechten“ zu sprechen. Libertäre gehen, wie gesagt, von einem negativen Freiheitsbegriff aus und im Anschluss an den Gegensatz von negativen und positiven Freiheiten werden Freiheitsrechte als „negative Rechte“ und Anspruchsrechte als „positive Rechte“ bezeichnet. Narveson fasst dies wie folgt zusammen: „[…] (A) negative duty is a duty to refrain from some specified sort of action or from any action that would bring about a certain specified sort of result, whereas a positive duty is to perform some specified action, or any action that would bring about a certain specified sort of result. A negative right, then, is one that correlates with a negative duty on the part of those against whom it is a right; a positive right is one that correlates with a positive duty on the part of those against whom it is a right.“ (Narveson 1988, S. 57)

26 27

Vgl. Narveson 1998, S. 8 „A „right“ which forbids nothing is not a right.“ Vgl. Narveson 1988, S. 46, Stemmer 2000, S. 74–75

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Freiheit (Libertarismus)

Dies führt zu folgender Unterscheidung: –



„(A) hat das negative Recht gegenüber (B), (x) zu tun“, bedeutet, dass (B) die negative Pflicht hat, es zu unterlassen (A) in seinem (x)-tun einzuschränken. „(A) hat das positive Recht gegenüber (B), (x) zu tun“, bedeutet, dass (B) die positive Pflicht hat, (A) bei seinem (x)-tun zu unterstützen.

Daraus ergibt sich, dass man negative Rechte normalerweise durch reines Nichtstun wahren kann. Die Wahrung positiver Rechte hingegen kann u. U. sehr viel Aufwand bedeuten. Dafür muss zusätzlich geklärt werden, wie viel Aufwand betrieben werden muss, um keine Rechte zu verletzen. So kann z. B. (A)s Recht auf Leben im negativen Sinne (nicht getötet zu werden) von (B) durch völlige Inaktivität und Nichtstun gewahrt werden; wenn (A) jedoch dieses Recht im positiven Sinne hat (Überleben muss gesichert werden), ist noch unklar, was (B) alles tun muss. Es hängt dann von der Situation ab, in der sich (A) befindet. Wenn (A)s Leben akut bedroht ist und ein Aufwand (x) von (B) ihn retten könnte, müsste (B) den Aufwand (x) erbringen. Jedoch kommt es darauf an, wie hoch und welcher Art der Aufwand (x) ist. Ab einer bestimmten Menge an Zeit, Ressourcen und Kraft, die aufgewendet werden müssen, um (A) zu retten, könnte (B) vielleicht zurecht einwenden, dass es ihn überfordert. Spätestens wenn es an die Gesundheit von (B) geht und er z. B. einen Lungenflügel an (A) spenden müsste und dabei sein eigenes Leben riskiert, scheint der Einwand der Überforderung 28 berechtigt. Zudem kann es zu Konflikten von positiven und negativen Rechten kommen. Eine Beschneidung von negativen Rechten zugunsten von positiven Rechten wäre möglich. Die Zwangsenteignung eines 28

Vgl. dazu den Einwand der Überforderung, der klassischerweise dem Utilitarismus entgegengebracht wird: Aufgrund der Forderung nach Nutzenmaximierung und der Situation der Welt mit vielen Hilfsbedürftigen ergibt sich eine Pflicht zu helfen, die einen sehr hoher Aufwand bedeutet, der oft erst mit der eigenen Unfähigkeit zu helfen erreicht ist. Birnbacher 2007, S. 229–231, Singer 1972, S. 238 ff.

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Libertäre Rechte und Pflichten

reichen Menschen um armen Menschen in Not zu helfen wäre z. B. eine Verletzung des negativen Eigentumsrechts des Reichen zugunsten des positiven Lebensrechts der Armen. Positive Rechte bringen also die Gefahr mit sich, dass sie in moralische Dilemmata 29 führen können. Es ist ebenso schwierig, ihre Reichweite zu bestimmen und sie gegen andere Rechte aufzuwiegen. Die Libertären bieten hier eine simple Lösung an. Da sie von negativer Freiheit ausgehen, kann auch das grundlegende Freiheitsrecht nur negativ sein; und da sich alle moralischen Rechte vom Recht auf Freiheit ableiten, können diese ebenfalls nur negative Rechte sein.

1.2.1 Recht auf Freiheit Was aber verstehen Libertäre unter einem „fundamentalen Recht auf Freiheit“ und was bedeutet es, dieses Recht als Grundlage für ihre Moralvorstellung zu verstehen? „Libertarianism is the view that we all have one single, general, fundamental right – the right to liberty.“ (Narveson 2001, S. 306)

Wenn (A) ein Recht auf (x) gegenüber (B) hat, bedeutet dies, dass (B) gegenüber (A) (y) tun oder unterlassen muss. Wenn (A) ein Recht auf Leben hat, kann dies bedeuten, dass (B) (A) nicht töten darf, oder dass (B) es (A) ermöglichen muss, zu überleben. Wie gesehen verstehen Libertäre Rechte in diesem Sinne negativ und damit bezieht sich (y) stets auf eine Unterlassung. Wenn (x) Leben ist, gilt für (B), dass er es unterlassen muss, (A) das Leben zu nehmen. (B) muss dementsprechend nicht eine bestimmte Handlung (y) tun, bei der er (A) z. B. Geld oder ein Organ spenden müsste, um ihm das Leben zu retten. 29

Ein Konflikt zwischen zwei moralischen Ge/Verboten ist zwar nicht notwendigerweise ein Dilemma. Zunächst erfordert ein solcher Konflikt die Abwägung, welche Regel schwerer wiegt. Erst, wenn beide Regeln gleich viel wiegen, ist es ein Dilemma. Dennoch kann es in einer Moral, die nur aus negativen Pflichten besteht erst gar nicht zu einem Konflikt von Regeln und damit auch gar nicht zu einem moralischen Dilemma kommen.

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Freiheit (Libertarismus)

„In jedem Fall kann das Recht auf Freiheit nur aktiv verletzt werden, schließlich ist es ein Recht auf Nicht-Hinderung. Positive Rechte, die Libertarier freilich nicht akzeptieren, würden jedoch auch durch passives Zulassen verletzt werden können.“ (Wendt 2009, S. 114)

Wenn man ein negatives Recht auf Freiheit so verstehen würde, dass derjenige, der dieses Recht hat, handeln kann, wie er will und alle anderen es unterlassen müssen, ihn bei seinen Handlungen zu behindern, könnte dieses Recht nicht gleichzeitig für alle gelten. Denn wenn alle Handlungen uneingeschränkt vom Recht auf Freiheit geschützt würden, würden auch die Handlungen erlaubt sein, die andere in ihren Handlungen behindern. Ein gleichzeitiges Recht auf Freiheit für mehrere Personen wäre so unmöglich. Dem libertären Ideal entsprechend soll jeder dieses Recht haben, deshalb müssen die Handlungen, bei deren Ausführung man nicht gehindert werden darf, eingeschränkt werden. Es können also nicht alle möglichen Handlungen vom Recht auf Freiheit geschützt sein, sondern nur diejenigen, die nicht das Recht auf Freiheit anderer beschneiden. „Jeder hat ein Recht, an keiner Handlung gehindert zu werden, außer an denjenigen Handlungen, die gegen das gleiche Recht aller anderen verstoßen.“ (Wendt 2009, S. 112)

Diese Vorstellung eines solchen Freiheitsrecht findet sich ebenfalls bereits bei Kant: „Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit nothwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges unter dem Princip der allgemeinen Freiheit ist gleichsam die Construction jenes Begriffs […].“ (Kant MdS, AA VI, 232)

Narveson deutet bereits an, dass es schwierig sein könnte, hieraus konsistente Normen abzuleiten. „Libertarianism wants to allow everyone the completest possible freedom of action compatible with the same fundamental freedom for all others, and the question is whether that idea, as such, can generate any clear and coherent rules at all.“ (Narveson 2001, S. 309)

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Libertäre Rechte und Pflichten

Denn welche Handlungen jetzt genau erlaubt sind und welche das Recht auf Freiheit anderer beschneiden, ist noch unklar. Um die Menge der Handlungen, die von einem Recht erfasst werden, zu bestimmen, kann nicht auf eben dieses Recht bei anderen Personen verwiesen werden. Auch ein Verweis auf Hayeks Zwangsbegriff hilft hier nicht weiter, denn auch hier müsste festgelegt werden, wann genau eine Person Zwang auf eine andere Person ausübt. Wo des einen Recht auf Freiheit endet und das Recht auf Freiheit des anderen beginnt, bedarf also eines unabhängigen Kriteriums. Egal, welche Handlung ausgeführt wird: sie hat immer eine raumzeitliche Komponente. Wenn Handlungen Dinge involvieren und man nicht an diesen Handlungen gehindert werden darf, ist es unvermeidlich, dass zumindest für den Zeitraum der Handlung der Handelnde einen Anspruch auf das Ding hat, da er ansonsten an seiner Handlung gehindert werden würde. Selbst wenn ich mich zum Zeitpunkt (t) lediglich auf der Fläche (x) befinde und sonst nichts tue, bedeutet dies, dass alle anderen Menschen sich zum Zeitpunkt (t) nicht ebenfalls auf (x) befinden können. Wenn mich nun jemand von der Fläche (x) wegzerrt, beschneidet er mein Freiheitsrecht, da er mich daran hindert, auf Fläche (x) zu stehen. Gleichzeitig kommt aber die Frage auf, ob ich nicht dadurch, dass ich mich zum Zeitpunkt (t) auf (x) befinde, alle anderen Menschen in ihrem Freiheitsrecht beschneide, da sie sich nicht ebenfalls zum Zeitpunkt (t) auf (x) befinden können. Wessen Freiheitsrecht verletzt wird, hängt also davon ab, wie (x) bestimmt ist bzw. wer Anspruch auf (x) hat. Es ergibt sich also eine Frage danach, wie weit die Freiheiten der einzelnen Personen reichen, was oft mit der Rede von Freiheitssphären beschrieben wird. Um diese Sphären zu bestimmen, kommen für Libertäre nur Eigentumsrechte in Frage. Hayek drückt dies wie folgt aus: „(R)ules are required which make it possible at each moment to ascertain the boundary of the protected domain of each and thus to distinguish between the meum and the tuum. The understanding that ‚good fences make good neighbours‘, that is, that men can use their own knowledge in the pursuit of their own ends without colliding with each other only if clear boundaries can be

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Freiheit (Libertarismus)

drawn between their respective domains of free action, is the basis on which all known civilization has grown. Property, in the wide sense in which it is used to include not only material things, but (as John Locke defined it) the ‚life, liberty and estates‘ of every individual, is the only solution men have yet discovered to the problem of reconciling individual freedom with the absence of conflict. Law, liberty, and property are an inseparable trinity. There can be no law in the sense of universal rules of conduct which does not determine boundaries of the domains of freedom by laying down rules that enable each to ascertain where he is free to act.“ (Hayek 1973–1979, S. 107)

Wer was und wann mit der Fläche (x) tun darf, wird dadurch bestimmt, wem (x) gehört. Gehört die Fläche mir und will ich zu diesem Zeitpunkt dort stehen, aber jemand anders befindet sich bereits dort, wäre dies ein Eindringen in meine Freiheitssphäre und würde damit mein Recht auf Freiheit verletzen. Wenn nun die ganze Welt durch Eigentumsansprüche aufgeteilt wäre, wären alle Freiheitssphären bestimmt und es wäre klar, wo die Freiheit des einen anfängt und die Freiheit des anderen aufhört. Aus libertärer Sicht ist damit ein starker Zusammenhang von Freiheitsrecht und Eigentumsrecht gegeben. „Das Recht auf Freiheit muss also letztlich aus Eigentumsrechten bestehen […]. Bisher ist gesagt, dass eine Aufteilung der materiellen Welt in Eigentum eine inhaltliche Bestimmung eines allgemeinen Rechts auf Freiheit erst ermöglicht.“ (Wendt 2009, S. 122) „The recognition of property is clearly the first step in the delimitation of the private sphere which protects us against coercion; and it has long been recognized that „a people averse to the institution of private property is without the first element of freedom“ and that „nobody is at liberty to attack several property and to say at the same time that he values civilization.“ (Hayek 1976, S. 140)

Es ist abhängig vom Eigentumskriterium, was genau das Recht auf Freiheit beinhaltet und damit auch welche Handlungen für wen erlaubt und verboten sind. Daher müssen wir wissen, was genau mit Eigentumsrechten gemeint ist und wie die Aneignung und Verteilung von Eigentum gestaltet ist. 62

Libertäre Rechte und Pflichten

1.2.2 Eigentumsrechte und Selbsteigentum Für Libertäre bestehen Eigentumsrechte zum einen aus dem Recht auf Nicht-Hinderung an der Benutzung des eigenen Eigentums und zum anderen aus dem Recht auf die exklusive Nutzung des Eigentums. „[…] for person A to „own“ item x, is for A to have the right to determine the disposition/use of x as A sees fit – A has a veto over anyone else’s use of it.“ 30 (Narveson 1998, S. 7)

Eine solche Definition von Eigentumsrechten ermöglicht die Zuteilung von Freiheitssphären und es lässt sich nun klar bestimmen, wo die Freiheit des einen aufhört und die Freiheit des anderen anfängt. Mein Freiheitsrecht wird dann eingeschränkt, wenn mein Eigentumsrecht auf (x) beschnitten wird. Wenn also (B) (x) nutzt, obwohl (A) dies nicht will und (A) ein Eigentumsrecht auf (x) hat, verletzt (B) das Freiheitsrecht von (A). Damit muss jetzt nur noch geklärt werden, wie das Eigentum verteilt ist und wem was gehört, um die Zuteilung der Freiheitssphären zu bestimmen. Eigentum beschränkt sich bei Libertären nicht nur auf Waren und Güter, sondern es bezieht sich auch auf die eigene Person bzw. den eigenen Körper. Sie vertreten im Anschluss an Locke das so genannte Prinzip des „selfownership“ 31: „Though the Earth, and all inferior Creatures be common to all Men, yet every Man has a Property in his own Person. This no Body has any Right to but himself.“ (Locke 1960, II, § 27) „Let x be the entity that we identify as „your“ body, with its animating cognitive and other psychological apparatus. Then the thesis of selfownership is a straightforward application of the concept of ownership to the case x.“ (Narveson 1998, S. 8)

30

Vgl. Narveson 2001, S. 308, Wendt 2009, S. 120, aber auch Nozick 1974, S. 171 31 Vgl. Narveson 2001, S. 308

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Freiheit (Libertarismus)

„[…] (N)ach unserem Ansatz kann es Eigentum am eigenen Körper geben, da Eigentum nur in den beiden (Rechten) […], dass niemand meinen Körper ohne meine Erlaubnis gebrauchen darf und dass niemand mich am Gebrauch meines Körpers hindern darf, besteht.“ (Wendt 2009, S. 123)

Mit einem solchem Recht auf Selbsteigentum nimmt die inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts Gestalt an. Ein Recht auf Eigentum am eigenen Körper bedeutet, dass der Rechtsträger nicht an seinem Gebrauch gehindert werden darf und auch nicht ohne Erlaubnis benutzt werden darf. Das Prinzip des Selbsteigentums und damit ein Recht auf den eigenen Körper bedarf aber dennoch einer Begründung. Locke begründet das Recht auf den eigenen Körper mit Gott, während neuere Autoren hierfür nicht mehr auf eine theologische Begründung zurückgreifen. Viele gehen davon aus, dass ein Eigentumsrecht am eigenen Körper selbstevident ist. „Die These der self-ownership ist intuitiv einleuchtend und attraktiv […]. Wer, wenn nicht ich, sollte denn der Eigentümer meines Körpers sein?“ (Wendt 2009, S. 123)

Das Prinzip des Selbsteigentums ist eine grundlegende Überzeugung der Libertären. Es ist zwar keine abwegige, aber immer noch eine unbegründete Annahme. Denn es ist nicht klar, warum jemand nicht auch Ansprüche an den Körper eines anderen richten kann. So könnte man der Meinung sein, dass jemand moralisch dazu verpflichtet ist, einem Verletzten Blut zu spenden. Das würde bedeuten, dass der Verletzte einen Anspruch auf einen Teil des Körpers eines anderen hat. Deshalb ist die Annahme des Selbsteigentums nicht selbstevident und bleibt begründungsbedürftig. Offen ist auch die Frage, wie mit natürlichen bzw. materiellen Gütern umgegangen wird. In einem Zustand, in dem niemand etwas besitzt außer seinem eigenen Körper, ist das nicht trivial. Wir brauchen eine Eigentumstheorie, die die ursprüngliche Aneignung und Verteilung natürlicher Güter (also aller Gütern, die über das Selbsteigentum hinausgehen und die sich niemand angeeignet hat) regelt, um diese Freiheitssphären zu bestimmen.

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Libertäre Rechte und Pflichten

1.2.2.1

Aneignungstheorie

Wie beim Selbsteigentum beziehen sich die meisten Libertären auf Locke 32, der davon ausgeht, dass man sich natürliche Güter aneignen kann, indem man seine Arbeitskraft mit ihnen vermischt. Da einem der eigene Körper gehört, fließt – so das Bild – eigenes Eigentum durch Arbeit in die äußeren Gegenstände und vermischt sich damit. Dadurch entsteht laut Locke Eigentum an natürlichen Gütern. „The Labour of his Body, and the Work of his Hands, we may say, are properly his. Whatsoever then he removes out of the State that Nature hath provided, and left it in, he hath mixed his Labour with, and joyned to it something that is his own, and thereby makes it his Property. It being by him removed from the common state Nature placed it in, it hath by this labour something annexed to it, that excludes the common right of other Men. For this Labour being the unquestionable Property of the Labourer, no Man but he can have a right to what that is once joyned to, at least where there is enough, and as good, left in common for others.“ (Locke 1960, II, § 27)

Die Rede von der „Vermischung“ von Gütern und eigener Arbeitskraft ist metaphorisch zu verstehen, und obwohl prima facie plausibel, nicht sehr deutlich und klar. Welche absurden Folgen sich ergeben würden, wenn lediglich eine Vermischung von persönlichem Eigentum (respektive Arbeit) und natürlichen Gütern ausreichen würde, um Eigentum zu rechtfertigen, stellt Nozick anhand dieses Beispiels dar: „If I own a can of tomato juice and spill it in the sea so that its molecules (made radioactive, so I can check this) mingle evenly throughout the sea, do I thereby come to own the sea, or have I foolishly dissipated my tomato juice? Perhaps the idea, instead, is that laboring on something improves it and makes it more valuable; and anyone is entitled to own a thing whose value he has created.“ (Nozick 1974, S. 175)

32

Vgl.Rothbard 2000, S. 222,

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Freiheit (Libertarismus)

Am besten lässt sich Lockes Überlegung auf die Weise interpretieren, dass durch Arbeit etwas von Wert 33 geschaffen wird und daher der Anspruch auf das bearbeitete Gut gerechtfertigt ist. „That labour put a distinction between them and common. That added something to them more than Nature […] had done; and so they became his private right.“ (Locke 1960, II, § 28)

Wenn also (A) aus einem Baumstamm einen Stuhl schnitzt, darf er den Stuhl sein Eigentum nennen, da er etwas von Wert geschaffen hat. Angenommen, das Holz hatte vorher den Wert (x) und nun hat es in Form des Stuhles den Wert 3(x), dann ist der Stuhl nun (A)s Eigentum, da er einen Mehrwert geschaffen hat. Wendt erwidert an dieser Stelle, dass (A) nur einen Anspruch auf den geschaffenen Mehrwert hat, also 2(x), da das Holz vorhin auch ohne sein Zutun den Wert (x) hatte 34, wobei mir nicht klar ist, was das bedeuten soll. Gehört damit der Stuhl nur zu 2/3 (A) und 1/3 des Stuhls gehört noch zu den natürlichen Gütern, an denen sich jeder bedienen darf, oder dürfen alle anderen Menschen den Stuhl 1/3 der Zeit mitbenutzen, oder muss (A) den Wert (x) in anderer Form als Kompensationsleistung an die restliche Menschheit zahlen und darf dafür den Stuhl sein Eigentum nennen? Warum sollte das Aneignen des Mehrwerts plausibler sein als das Aneignen des kompletten Wertes? Wendt liefert hier kein Argument und verweist lediglich auf Nozick, der argumentiert, dass dadurch, dass ein Ding (in unserem Beispiel der Baumstamm) aus der Natur genommen wurde, alle anderen nicht mehr frei sind, dieses Ding zu benutzen. Jedoch scheint mir dieses Argument nicht den Punkt zu treffen, da ja erst durch Eigen33

Locke hat noch eine weitere Bedingung für die Erstaneignung: „As much as any one can make use of to any advantage of life before it spoils; so much he may by his labour fix a Property in. Whatever is beyond this, is more than his share, and belongs to others. Nothing was made by God for Man to spoil or destroy.“ Locke 1960, II, § 31 Dass der Wert eines natürlichen Gutes nicht gemindert werden darf, ist ein Indiz dafür, dass es Locke bei der Vermischung von Arbeit und natürlichen Gütern um eine Wertsteigerung geht, da er zumindest den Werterhalt einfordert. 34 Vgl. Nozick 1974, S. 175, Wendt 2009, S. 130

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Libertäre Rechte und Pflichten

tum die Freiheitssphären bestimmt werden können. Daher kann das Herauslösen eines Baumstamms aus der Natur nicht die Freiheit der anderen per se beinträchtigen. Sie haben zwar nicht mehr die Möglichkeit, den Baumsatmm zu benutzen, aber ob dies ihre Freiheitssphäre tangiert, kann doch eben erst durch die Bestimmung des Eigentums geklärt werden. Erinnern wir uns an den Fall mit der Belegung des Squashcourts. Werden alle anderen unfrei, den Court zu benutzen, wenn ich ihn in dieser Zeit belege? Das negative Freiheitsverständnis der Libertären lässt es nicht zu, hier von Unfreiheit zu sprechen, außer jemand anders hätte Anspruch auf den Court. Dieser Anspruch setzt Eigentum voraus, was aber in der Situation mit der Aneignung des Stuhls nicht gegeben ist 35. Niemand kann Anspruch auf das unverarbeitete Holz erheben, daher kann der Erstaneigner die anderen durch die Bearbeitung und Inanspruchnahme des Gutes auch nicht unfrei machen. Da erst durch die Aneignung Eigentum und damit auch Ansprüche entstehen, können erst nach einer Erstaneignung die Freiheitssphären definiert werden und deshalb auch erst dann eingeschränkt werden 36. 1.2.2.2 Das Proviso Aber wird durch die Aneignung begrenzter Güter tatsächlich nicht die Freiheit der anderen eingeschränkt? Es ist einfach, den Vorgang der Aneignung knapper Güter als derart krasse Einschränkung der Möglichkeitsspielräume anderer zu sehen, dass dies als Zwang oder

35

Links-Libertäre bilden hier eine Ausnahme, da sie davon ausgehen, dass jeder im gleichen Maße Anspruch auf natürliche Güter hat. Dadurch kommen sie trotz libertärem Selbsteigentumsprinzip zur egalitären (Um-)Verteilung von Gütern. Die linkslibertären Ansätze sollen aber vorerst außer Acht gelassen werden, da sie eine Minderheit in der libertären Debatte darstellen und ein egalitäerer Anspruch auf natürliche Güter einer unabhängigen Begründung bedarf. Vgl.Otsuka 2003, S. 11 ff. 36 Dies gilt natürlich nur für den libertären Freiheitsbegriff. Mit einem Seebaßschen Begriff der Freiheit lässt sich sehr wohl sagen, dass durch Aneignung Unfreiheit geschaffen werden kann, da Möglichkeitsspielräume für andere verschlossen werden.

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Freiheit (Libertarismus)

Schädigung begriffen wird. Andernfalls könnte sich jemand wie in Hayeks Beispiel, alle verbliebenen Wasserquellen aneignen und alle anderen Menschen verdursten lassen, ohne damit ihre Freiheit einzuschränken. Dieses Problem hat neben Hayek auch bereits Locke beschäftigt. Er knüpfte die Aneignung von natürlichen Gütern an die Bedingung, dass genug und gleich Gutes für die anderen übrig bleiben muss. Diese Bedingung wird auch als das Lockesche Proviso 37 bezeichnet. Es ist schwierig zu sagen, was genau unter „genug und gleich Gutes“ zu verstehen ist, aber die Interpretation Nozicks, dass niemand durch eine Aneignung jemand anders schlechter stellen darf, scheint den Punkt zu treffen. „A process normally giving rise to a permanent bequeathable property right in a previously unowned thing will not do so if the position of others no longer at liberty to use the thing is thereby worsened.“ (Nozick 1974, S. 178)

Hierbei verschiebt sich jedoch das Problem lediglich, da unklar ist, was mit „schlechter stellen“ genau gemeint ist. Es muss mehr sein, als dem anderen die Möglichkeit genommen zu haben, sich selbst das Ding anzueignen, was man sich bereits angeeignet hat. In dem Fall wäre jegliche Aneignung eine Verschlechterung der Situation des Anderen und damit nicht gerechtfertigt. Nach Nozick können so lange natürliche Güter angeeignet werden, bis das letzte Stück des natürlichen Gutes noch frei verfügbar ist und auf diese Weise für jeden nutzbar ist. Erst die Aneignung des letzten Stückes wäre eine Verschlechterung, die des Vorletzten nicht. Das letzte Stück darf also nicht angeeignet werden und bleibt ein natürliches Gut, das jeder benutzen darf 38. Dass aber derjenige, der z. B. das letzte Stück Holz lediglich nutzen, aber nicht mehr zu seinem Eigentum machen kann, aber bereits eine Verschlechterung. Wenn er sich einen Stuhl daraus bauen will, darf er es dann? Hat er dann nicht das letze Stück Holz so bearbeitet, dass es andere eventuell nicht mehr so benutzen können, wie sie es wollen? Spätestens wenn er ein Feuer machen 37 38

Vgl. Nozick 1974, S. 178, Kymlicka 2002, S. 116 Vgl. Nozick 1974, S. 175–176

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will, kann er das letzte Stück Holz nicht mehr dafür benutzen, ohne dass es alle anderen nicht mehr benutzen können. Somit hat derjenige, der sich das vorletzte Stück Holz aneignet, den Nachfolgenden in der Hinsicht schlechter gestellt, dass er kein Feuer mehr machen kann. Ich sehe nicht, wie eine Verschiebung von Aneignung zu Benutzung einen relevanten Unterschied bezüglich der Schlechterstellung ausmachen kann. Aber dies ist nur eines von einer ganzen Reihe von Problemen, die ein Lockesches Proviso mit sich bringt 39. Dazu kommt: Es lohnt nicht, diese Probleme zu diskutieren, da das Hauptproblem des Provisos ist, dass es ohne eine theologische Hintergrundannahme wie bei Locke völlig unbegründet ist. „Meines Erachtens ist das Lockesche Proviso […] aus ganz anderen Gründen zurückzuweisen: Durch das Ergänzen des Rechts auf Eigentum um das Lockesche Proviso wird keine alternative Aufteilung der Welt in Freiheitssphären geschaffen. Vielmehr werden einer solchen Aufteilung Grenzen der Legitimität gesteckt. Das Proviso ist nicht als Teil des Aneignungskriteriums – und damit der Operationalisierung des Rechts auf Freiheit – zu sehen, sondern als quasi von außen kommende eigenständige moralische Erwägung.“ (Wendt 2009, S. 140) 40

Das Proviso ist eine moralische Zusatzannahme, die sich nicht aus der libertären Grundannahme ergibt, dass jeder ein Freiheitsrecht besitzt. Narveson geht noch einen Schritt weiter als Wendt und behauptet nicht nur, dass das Proviso unbegründet, sondern sogar falsch sei. „[…] (T)he Lockean Proviso as Locke framed it is a mistake. As a restriction on initial acquisition of the type it is all but universally regarded as being, it is baseless and must be jettisoned. But in the only form in which it is sustainable, […] it has no retributive implications, requiring only that people not acquire by force or fraud.“ (Narveson 1999, S. 224)

Natürlich ist damit die Debatte um das Locksche Proviso und seiner Theorie der Möglichkeit der Erstaneignung durch Arbeit nicht ge39 40

Vgl. Cohen 1995, S. 67 ff. Vgl. Narveson 1988, S. 69–70

69

Freiheit (Libertarismus)

klärt 41, doch lässt sich sagen, dass die Idee der Erstaneignung mittels Arbeit und der damit verbundenen Wertsteigerung ohne das Locksche Proviso dem libertären Verständnis am nächsten kommt. Wendt behält aber Recht, wenn er dafür argumentiert, dass die Theorie der Erstaneignung sich nicht aus dem Selfownership-Prinzip ableiten lässt. Es sei eine unbegründete moralische Intuition, dass jemand, der etwas von Wert geschaffen hat, diesen Wert auch behalten darf. „Wir haben also kein Argument gefunden, das vom akzeptierten Recht auf […] (self-ownership) zu Eigentum an äußeren Gegenständen führt.“ (Wendt 2009, S. 130)

Man muss also eine Eigentumstheorie finden, die sich nicht aus dem Freiheitsrecht ableitet. Somit sind wir auf zwei grundlegende Intuitionen des Libertarismus gestoßen: Zum einen, dass man sich selbst gehört und zum anderen, dass man Dinge, die man durch Arbeit wertvoller gemacht hat, sein Eigentum nennen darf. Diese beiden grundlegenden Annahmen des Libertarismus sind bis jetzt unbegründet, aber sie ermöglichen eine inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts. „[…] (D)ie Annahme eines Rechts auf […] (self-ownership) zusammen mit einem Recht auf Eigentum […] (stellt) die einzige mögliche Aufteilung der Welt in Freiheitssphären und damit Interpretation eines allgemeinen Rechts auf Freiheit dar […]. Man sollte den Libertariern also zugestehen, „im Namen der Freiheit“ (als Abkürzung für „im Namen des Rechts auf Freiheit“) für laissez-faire in allen Bereichen einzutreten.“ (Wendt 2009, S. 142) „It is plausible to construe all rights as property rights. Whenever anyone has a right, Rx, to engage in any sort of actions x, we can find some thing or things y, such that that person must be understood to have, given that he has the right to engage in those actions, the right, Ry, to use that thing or those things: Rx entails Ry. At a minimum, y is

41

Einen Überblick über die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten der Lockeschen Eigentumstheorie und die Argumente für und gegen eine mögliche Erstaneignung findet sich in Widerquist 2010, S. 3–26

70

Libertäre Rechte und Pflichten

some part of that person’s body or mind; the agent in question must employ his body and/or mind to do anything, and the liberty to do it will follow automatically from the liberty to use those pieces of human equipment as that person will. Thus it is plausible to suggest that Liberty is Property, and in particular that the libertarian thesis is really the thesis that a right to our persons as our property is the sole fundamental right there is.“ (Narveson 1988, S. 66)

Ob eine inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts anhand einer solchen Theorie von Aneignung ohne ein Locksches Proviso und einer negative Auffassung von Rechten und Pflichten plausibel ist, ist zweifelhaft, denn sie lässt massive Unterschiede im Ausmaß der Freiheitssphären zu. Bei einer begrenzten Möglichkeit von Erstaneignungen, wie es nun mal auf unserem Planeten der Fall ist, können viele Akteure leer ausgehen und nichts außer sich selbst besitzen. Ihre Freiheitssphären wären entsprechend klein. Da zudem keine positive Pflicht besteht, solchen Benachteiligten zu helfen, kommt schnell die Frage nach Gerechtigkeit auf. Daher ist es wichtig, sich das libertäre Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit vor Augen zu führen.

1.2.3

Libertäre Gerechtigkeit

Bei der Frage nach Gerechtigkeit geht es in erster Linie um die Verteilung 42 von Gütern. „Die Situation, in der die Idee und die Rede von „gerecht“ und „ungerecht“ wohl am deutlichsten zuhause ist, ist die einer Verteilung. Wenn jemand ein knappes Gut an verschiedene Personen zu verteilen 42

Das Wort „Verteilung“ ist hierbei mehrdeutig. Zum einen kann der Zustand gemeint sein, indem geregelt ist wer wie viel besitzt. Zum anderen kann die Handlung gemeint sein, bei der bestimmte Güter verteilt werden. Verteilung als Handlung setzt eine Handelnde Person voraus. Der Zustand der Verteilung setzt keine Handlung voraus. Deshalb werde ich in Anlehnung an Stemmer bei einer Verteilungshandlung von einer Verteilung sprechen und bei einem Verteilungszustand von Aufteilung. Vgl. Stemmer 2000, S. 214, FN 16

71

Freiheit (Libertarismus)

hat, paßt die Frage, welche Verteilung gerecht ist.“ (Stemmer 2000, S. 214)

Eine grundlegende Intuition im Rahmen der gerechten Verteilung ist, dass jeder gleich viel bekommen soll. Ein simples Beispiel ist das von vier Kindern, unter denen ein Kuchen aufgeteilt werden soll. Eine naheliegende gerechte Verteilungsoption ist, dass jeder ein Viertel des Kuchens und damit alle gleich viel bekommen sollten. Gerechtigkeit im Wesentlichen als Gleichheit zu verstehen ist naheliegend. Eine egalitaristische Konzeption von Gerechtigkeit geht davon aus, dass Gleichheit ein intrinsischer Wert ist, auf den die Gerechtigkeit abzielt. Darunter fallen Theorien gleicher Verteilung von Gütern, Chancengleichheit bis hin zum Ausgleich von natürlichen Ungleichheiten. An dieser Stelle werde ich die egalitaristischen Positionen nicht weiter ausführen, will aber darauf hinweisen, dass diese durchaus umstritten sind 43. Sie stehen im Gegensatz zu Gerechtigkeitskonzeptionen, die der Auffassung sind, dass Gerechtigkeit im Wesentlichen nicht auf Gleichheit abzielt, sondern auf einen anderen Standard, wie z. B. Verdienst oder Bedürftigkeit. Eine Verteilung ist demnach nicht gerecht, wenn jeder dasselbe bekommt, sondern dann, wenn jeder das bekommt, was er verdient bzw. was ihm zusteht. Dazu gehört auch die libertäre Auffassung von Gerechtigkeit. Hier besonders hervorgetan hat sich Nozick mit seiner Anspruchstheorie. 1.2.3.1

Nozicks Anspruchstheorie

Laut Nozick muss bei der Frage nach gerechter Verteilung geklärt werden, wie Besitz ursprünglich angeeignet werden kann, wie dieser Besitz übertragen werden kann und wie ungerechte Besitzverhältnisse korrigiert werden können, um sagen zu können, wem was zusteht. Nach libertärer Ansicht kann Besitz wie oben besprochen durch eine Vermischung von eigener Arbeit und natürlichen Gegebenheiten, bzw. durch die Wertsteigerung an natürlichen Gütern, ursprünglich angeeignet werden. Die natürlichen Güter, die man sich aneignen 43

Vgl. Krebs 2000

72

Libertäre Rechte und Pflichten

kann, sind jedoch begrenzt. Irgendwann sind alle natürlichen Güter aufgeteilt und es kann keine weitere Erstaneignung stattfinden. Dann kann Besitz nur noch von einer Person auf die andere übertragen werden. Zum einen kann eine Übertragung von Besitz mittels freiwilligem Tausch oder Schenkung, gemäß dem Freiheitsrecht, stattfinden; zum anderen auch durch Betrug, Zwang und Diebstahl. Dies geht natürlich mit Freiheitseinschränkungen einher. Solche Freiheitseinschränkungen bzw. Rechtsverletzungen führen nicht zu einem rechtmäßigen Anspruch auf Eigentum und müssen passend entschädigt und bestraft werden. Nozick präsentiert mit seiner Anspruchstheorie drei Grundsätze, die genau diese Punkte regeln: „1. A person who acquires a holding in accordance with the principle of justice in acquisition is entitled to that holding. 2. A person who acquires a holding in accordance with the principle of justice in transfer, from someone else entitled to the holding, is entitled to the holding. 3. No one is entitled to a holding except by (repeated) applications of 1 and 2.“ (Nozick 1974, S. 151)

Nach der Anspruchstheorie kommt es in Bezug auf Gerechtigkeit nicht darauf an, wer aktuell wie viel besitzt, sondern nur, in welcher Weise eine bestimmte Aufteilung zustande gekommen ist. Eine Aufteilung von Gütern ist also genau dann gerecht, wenn sie auf legitime Weise zustande gekommen ist. Daher nennt er seine Theorie einen historischen Ansatz („historical principle“). Im Kontrast dazu stehen z. B. egalitäre Forderungen nach Gleichheit, bei denen Eigentum so umverteilt werden muss, dass alle gleich viel besitzen, oder jeder so viel bekommen soll, wie er braucht. Einen solchen Gerechtigkeitsansatz bezeichnet Nozick als strukturellen Ansatz („structural principle“ oder „end-result principle“). Politisch verkörpert der Sozialismus üblicherweise die eben genannten strukturellen Ansätze, während der Libertarismus den historischen Ansatz hochhält, der die persönliche Freiheit besonders wertschätzt. Der Sozialismus bemisst den Wert der Gleichheit höher und ist bereit, dafür Freiheiten der Bürger zu opfern oder einzuschränken. Der Libertarismus bemisst hingegen die Freiheit als 73

Freiheit (Libertarismus)

höchsten Wert und sieht einen Eingriff in die persönliche Freiheit zugunsten der Gleichheit als verwerflich an. Für Gleichheit reicht es aus, dass jeder Mensch das Recht auf Freiheit besitzt. „Libertarianism may certainly be characterized as the view that everyone has an equal right to liberty. But here the term ‚equal‘ clearly does not refer to a quantity of anything that may be „distributed“ among a number of persons. Rather, we should say simply that everyone has the fundamental right to liberty, explained as in the preceding, and that anything that deprives him or her of this, or violates or infringes it, is an injustice.“ (Narveson 1988, S. 98–99)

Für Libertäre gibt es einen eindeutigen Gegensatz zwischen Gleichheit und Freiheit, wobei Freiheit der Wert ist, dem hier klarerweise der Vorzug gegeben werden muss. Gerechtigkeit basiert nicht auf Gleichheit, denn letztere kann sogar ungerecht sein, wenn jemandes Freiheit mit einer Angleichung verletzt wird. Der auf dem politischen Streit der egalitaristischen und der libertären Theorien beruhende Gegensatz von Gleichheit und Freiheit wird jedoch von Seebaß als verfehlt betrachtet. „In der politischen Auseinandersetzung zwischen „Liberalisten“ und „Sozialisten“ stellt sich das oft sogar so dar, als seien Freiheit und Gleichheit originäre Gegensätze und ließen sich nur auf Kosten der jeweils anderen realisieren. Doch das ist ein prinzipielles, begriffliches Mißverständnis.“ (Seebaß 2006, S. 256–257)

Seebaß argumentiert, dass die beiden Begriffe nicht auf der gleichen Ebene liegen, da Freiheit eine Antwort auf die Frage gibt, was wertvoll ist und Gleichheit die Frage danach beantwortet, wer alles und wie viel von einem Gut abbekommt. Freiheit ist für Seebaß ein intrinsischer Wert, Gleichheit aber nicht. Denn Gleichheit ist kein Wert an sich, sondern kann sich lediglich auf eine mögliche Auf – bzw. Verteilung von Gütern beziehen. Daher ist auch eine Gegenüberstellung der beiden Begriffe als konkurrierende Werte ausgeschlossen. Auch in einem libertären System muss festgelegt werden, wer alles ein Recht auf Freiheit bekommt, ebenso wie in einem egalitären System festgelegt werden muss, von was jeder gleich viel bekommt. Libertäre gehen davon aus, dass jedem ein Recht auf Frei74

Libertäre Rechte und Pflichten

heit zukommt, was bereits eine Gleichverteilung eines normativen Status ist. Der angebliche Gegensatz zwischen Gleichheit und Freiheit wird also von libertärer Seite zu stark gemacht, jedoch kommt es Nozick vor allem auf einen bestimmten Aspekt an, der auch durch Seebaß’ Einwand nicht von der Hand zu weisen ist. Er versucht zu zeigen, dass das Zugrundelegen eines strukturellen Ansatzes bei der Gerechtigkeit dazu führt, dass es ständig zu Umverteilungen von Gütern kommen muss. Diesen Punkt versucht er am Beispiel von Wilt Chamberlain, einem berühmten US-Basketballer, zu zeigen: „Now suppose that Wilt Chamberlain is greatly in demand by basketball teams, being a great gate attraction. […] He signs the following sort of contract with a team: In each home game, twenty-five cents from the price of each ticket of admission goes to him. […] The season starts, and people cheerfully attend his team’s games; they buy their tickets, each time dropping a separate twenty-five cents of their admission price into a special box with Chamberlain’s name on it. They are excited about seeing him play; it is worth the total admission price to them. Let us suppose that in one season one million persons attend his home games, and Wilt Chamberlain winds up with $ 250,000, a much larger sum than the average income and larger even than anyone else has.“ (Nozick 1974, S. 161)

Angenommen, bereits vor der Saison gilt ein struktureller Gerechtigkeitsgrundsatz (z. B. alle besitzen gleich viel) und die Aufteilung aller Güter (A1) ist damit gerecht. Nach der Saison haben eine Million Zuschauer 25 Cents weniger und Wilt Chamberlain hat nach der Saison 250.000 Dollar mehr, womit eine neue Aufteilung der Güter (A2) besteht. (A2) entspricht jetzt aber nicht mehr dem strukturellen Gerechtigkeitsgrundsatz. Nun ist die Frage, ob die Aufteilung (A2) ungerecht ist. Nach Nozicks Anspruchstheorie wäre (A2) zweifelsohne gerecht, da die neue Aufteilung anhand eines rechtmäßigen Übergangs von einer vorherigen gerechten Ausgangsaufteilung, durch freiwillige 44 Tauschakte zustande gekommen ist. Nach 44

Der hier verwendete Begriff von Freiwilligkeit schließt, wie bereits bei der Diskussion um den Freiheitsbegriff geschehen, Fälle von Drohungen und zwingenden Angeboten aus. Wer eine Tauschhandlung mit dem Paten

75

Freiheit (Libertarismus)

dem strukturellen Gerechtigkeitsgrundsatz ist (A2) ungerecht und es müsste Besitz umverteilt werden, bis wieder alle gleich viel besitzen, wie in (A1). Das würde bedeuten, dass das Ergebnis einer freiwilligen Tauschhandlung ungerecht ist, was auf den ersten Blick unplausibel scheint. Freiwillige Tauschhandlungen sind zum Vorteil aller involvierten Parteien (sonst würden sie ja nicht freiwillig tauschen), deshalb wird es immer zu solchen Tauschhandlungen kommen. Damit müssten freiwillige Tauschhandlungen immer rückgängig gemacht und stetig gestört werden, um immer wieder eine strukturell gerechte Aufteilung zu erreichen. An freiwilligen Tauschakten ist intuitiv nichts falsch. Ständige Eingriffe durch eine Autorität hingegen, die das Ergebnis eines freiwilligen Tauschakts rückgängig macht, erscheinen durchaus freiheitsfeindlich und ungerechtfertigt. Aus diesem Grund sprechen sich Libertäre gegen staatliche Umverteilung, wie z. B. aus Steuern finanzierte Sozialhilfe aus und wollen allgemein den Staat bzw. dessen Befugnisse minimieren, da Interventionen der Regierung meist Eingriffe in das Freiheitsrecht einzelner Personen darstellt. „If I own myself, then I own my talents. And if I own my talents, then I own whatever I produce with my self-owned talents. Just as owning a piece of land means that I own what is produced by the land, so owning my talents means that I own what is produced by my talents. Hence the demand for redistributive taxation from the talented to the disadvantaged violates self-ownership.“ (Kymlicka 2002, S. 109)

Nozick versucht mit dem Beispiel, die intuitive Akzeptanz seiner Anspruchstheorie zu stärken. Ob es als intuitiv gerecht angesehen wird, nur negative Eigentumsrechte zu schützen, kann aber bezweifelt werden. Die nach der Anspruchstheorie entstandene Aufteilung von Gütern kann, wie gesagt, extreme Ungleichheiten bezüglich des Eigentums und damit der Größe der Freiheitssphären zur Folge haben.

eingeht, weil er ein „Angebot, dass man nicht ablehnen kann“ erhalten hat, tut dies nicht freiwillig.

76

Libertäre Rechte und Pflichten

1.2.3.2

Ablehnung positiver Pflichten

Will Kymlicka verdeutlicht, dass Nozicks Appell an die Intuition bezüglich gerechter Verteilung gleichsam gegen die Anspruchstheorie, bzw. gegen eine Theorie rein negativer Rechte spricht: „Hence each person starts with an equal share of resources, regardless of their natural talents. But at the end of the basketball season, Chamberlain will have earned $ 250,000, while the handicapped person, who may have no earning power, will have exhausted her resources, and will be on the verge of starvation. Surely our intuitions still tell us that we can tax Chamberlain’s income to prevent the starvation.“ (Kymlicka 2002, S. 106)

Aufgrund der Ablehnung positiver Rechte und Pflichten kann der Libertarismus kaum von einer intuitiven Akzeptanz seiner Gerechtigkeitsvorstellung oder gar seiner gesamten Moralvorstellung sprechen. Jedoch hat Nozick Recht damit, dass ein struktureller Ansatz von Gerechtigkeit einen stetigen Eingriff in die Besitzverhältnisse voraussetzt, da durch freiwilligen Tausch stets Abweichungen vom strukturellen Ideal zustande kommen. Eine positive Pflicht, den Bedürftigen zu helfen, bzw. Güter so umzuverteilen, sodass diese nicht mehr bedürftig sind, lässt sich nur durch Einschränkungen von negativen Rechten und Eindringen in die Freiheitssphären des Einzelnen erreichen. Die meisten Libertären sind daher gewillt, die Ablehnung positiver Pflichten mitsamt aller Konsequenzen zu vertreten. „Wenn Gerechtigkeit nur in der Achtung der negativen libertären Rechte besteht, dann ist jede Form von Steuereinzug durch den Staat moralisch verboten. Denn jeder Steuereinzug verletzt libertäre Eigentumsrechte. Es konnte […] zwar nicht gezeigt werden, dass positive Rechte begrifflich unmöglich oder sachlich inakzeptabel sind. Doch gibt es eine große Begründungslast für positive Rechte. Denn positive Rechte widerstreiten Eigentumsrechten und unserer Intuition, dass freiwilliger Tausch moralisch unproblematisch ist.“ (Wendt 2009, S. 160)

77

Freiheit (Libertarismus)

Fasst man Rechte ausschließlich negativ auf, hat das zur Konsequenz, dass niemand ein Recht auf Hilfe in Notsituationen hat, selbst wenn er vom Tode bedroht ist und völlig unverschuldet in diese Situation geraten ist. Mit der Behauptung, dass eine Pflicht, Menschen in Notsituationen zu helfen, ungerecht ist und gegen die Moral verstößt, scheint mir eher der Libertarismus die Begründungslast zu tragen als die Vertreter positiver Pflichten. Vertreter rein negativer Pflichten propagieren ein sehr extremes Gerechtigkeits- und Moralverständnis, das sehr weit vom Common Sense entfernt ist. Hoerster verdeutlicht dies an einem simplen Beispiel: „In einem See droht ein Kind zu ertrinken. Es kann nur dadurch gerettet werden, dass A und/ oder B, die gemeinsam am Ufer stehen, mit einem vor Anker liegenden Motorboot auf den See hinausfahren. B, dem das Boot gehört, will jedoch nicht fahren und auch sein Boot nicht zur Verfügung stellen. Darf A ihm unter Anwendung von Gewalt den Schlüssel für das Boot wegnehmen und das Kind retten? Jeder, der diese frage mit „Ja“ beantwortet, kann die Instrumentalisierung eines Menschen nicht mehr unter allen Umständen missbilligen.“ (Hoerster 2002, S. 15)

Narveson spricht den Umstand, dass noch nicht einmal ein positives Recht auf Leben durch das libertäre Moralverständnis gegeben ist, klar an: „We come into the world equipped with the right not to be harmed, not to have our liberty violated. But we don’t come equipped with a positive right to any resource. And in a desperate circumstance, this could be taken to mean that we do not come equipped even with a „right to life“. In the sense in which this is so, however, it means a positive right to life, that is, the right to be helped to remain alive, rather than merely the right not to be deprived of the life we have. In insisting that a pervasive right to liberty is fundamentally negative, not positive, we are therefore repudiating any such right as a fundamental right.“ (Narveson 1988, S. 100)

Die Anspruchstheorie kann zwar durch einfache praktische Umsetzbarkeit glänzen, denn es müssten nicht ständige Umverteilungsprozesse eingeleitet werden. Das trifft die Intuition, dass freiwillige Tau78

Libertäre Rechte und Pflichten

schakte moralisch unproblematisch sind 45. Jedoch kann die libertäre Gerechtigkeitsvorstellung keine intuitive Akzeptanz für sich verbuchen; denn wenn mögliche massive Ungleichheiten und unverschuldete Benachteiligungen moralisch in Ordnung sind und nicht wenigstens zu einem gewissen Grad von Hilfspflichten ausgeglichen werden müssten, ist das weit entfernt von unserem gegenwärtigen Moralverständnis.

1.2.4

Die inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts

Die libertäre Gerechtigkeitsvorstellung ist eine konsequente Weiterführung des negativen Freiheitsverständnisses und des negativen Rechtsbegriffs. Geht man von einem libertären Recht auf Eigentum und Selbsteigentum aus, lässt sich das Freiheitsrecht inhaltlich bestimmen. Es kann jetzt geklärt werden, wem welche Freiheitssphären zustehen und wer welche Handlungen tun oder unterlassen muss. Wenn (A) die Fläche (x) besitzt, kann er sich darauf befinden so lange er will und damit tun, was er will, ohne dass (B) darauf irgend eine Art von Anspruch hat. (A) hat das Recht gegenüber (B), in keiner Weise daran gehindert zu werden, dass zu tun, was er will. Sein Eigentum bestimmt seine Freiheitssphäre und in diese darf (B) nicht eindringen. Nur wenn (A) in einer Weise handelt, die das Eigentum von (B) und damit seine Freiheitssphäre tangiert, darf (A) nicht tun, was er will. So dürfte (A), auch wenn er sich auf seiner Fläche (x) befindet, (B) nicht mit Steinen bewerfen, da er damit dessen Eigentum – seinen Körper – beschädigt. So lassen sich alle Rechte und Pflichten als Eigentumsrechte beschreiben, ohne dass es positive Pflichten geben muss. „[…] (Die libertäre politische Philosophie) kommt tatsächlich allein mit einem Recht auf Freiheit aus, das sachlogisch mit dem Recht auf 45

Alan Haworth kritisiert u. a. die Reduktion von marktwirtschaftlichen Prozessen auf moralisch unproblematische Tauschakte, da durch komplexe Handlungen unbeteiligte Dritte moralisch signifikant beeinträchtigt werden könnten.Vgl. Haworth 1994, S. 14–17

79

Freiheit (Libertarismus)

Leben und dem Recht auf Eigentum und in der Folge mit konkreten Eigentumsrechten verknüpft ist. Diese Rechte erlauben zwar einen Minimalstaat, aber keinen darüber hinausgehenden Staat.“ (Wendt 2009, S. 185)

Wenn bei Tauschhandlungen keine Rechte verletzt wurden, ist die so entstandene Verteilung von Gütern nach libertärer Auffassung gerecht. Wenn der Besitzer dem nicht zugestimmt hat, ist jede Umverteilung von Eigentum, selbst für soziale Zwecke, ungerecht. Auf diese Weise lässt sich die Befürwortung der freien Marktwirtschaft und die Ablehnung staatlicher Interventionen in der libertären politischen Philosophie erklären. Die politische Strömung setzt sich für eine Abschaffung allerlei staatlicher Autoritäten und Eingriffe ein, bis nur noch ein Staat vorhanden ist, der lediglich die Freiheitsrechte der Bürger schützt. Daher ist auch jeder Staat, der mehr tut, als die Eigentumsrechte und damit die Freiheitsrechte seiner Bürger zu gewährleisten, nicht legitim. Dies spiegelt sich in einem ebenso umstrittenen politischen System wider, das lediglich einen Minimalstaat zulässt, um die libertären Rechte und Pflichten durchzusetzen. All dies basiert auf der moralischen Grundüberzeugung, dass jeder ein Recht auf Freiheit besitzt. Der Libertarismus ist in dem Sinne egalitär, dass jedem dasselbe Recht auf Freiheit zukommt, jedoch lässt dies, wie gesehen, massive Ungleichheiten im Bezug auf die Größe der verschiedenen Freiheitssphären zu. Dem staatlichen Zwang, diese Ungleichheiten auszugleichen, steht die Wertschätzung der persönlichen Freiheitssphären gegenüber, und das macht den Libertarismus als politische Theorie für viele attraktiv. Damit hat auch das libertäre Gerechtigkeits- und Moralverständnis seinen Reiz und es lässt sich sehr gut die ablehnende Haltung der Libertären gegenüber staatlicher Autorität nachvollziehen. Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Umsetzung des Libertarismus eine massive Umwälzung unseres alltäglichen Lebens bedeuten würde, politisch wie auch moralisch: Es würde die Abschaffung des Sozialstaates bedeuten, bis hin zur Aufgabe der moralischen Überzeugung, dass man Menschen in Not helfen muss. Diese Umwälzung basiert auf dem libertären Verständnis von Rechten und

80

Libertäre Rechte und Pflichten

Pflichten, basierend auf dem Freiheitsbegriff. Das Fundament dieses Verständnisses bildet der negative Freiheitsbegriff, der jedoch nur ein verkürzter Begriff der Freiheit ist. Der Freiheitsbegriff von Seebaß bietet eine Alternative, die dem allgemeinen Verständnis von Freiheit viel näher ist als das libertäre, dafür aber nicht rein negativ verstanden werden kann. Da der Libertarismus jedoch ausnahmslos einen negativen Freiheitsbegriff zugrunde legt, werden dessen Probleme auf das Recht auf Freiheit übertragen. Für die inhaltliche Bestimmung des Freiheitsrechts wird eine umstrittene Eigentumstheorie und das zweifelhafte Prinzip des Selbsteigentums angenommen, die beide völlig unbegründet vorausgesetzt werden. Daraus ergibt sich eine äußerst fragwürdige Gerechtigkeitstheorie, die massive Ungleichheiten billigt, aber keinen sozialen Ausgleich zulässt. Der Libertarismus steht also hinsichtlich seiner Begründung auf sehr schwachen Beinen. Wenn der Libertarismus jedoch lediglich den Anspruch hätte, eine begrifflich stark spezifizierte Unterart von Freiheit einzuführen und gar nicht auf das Bezug nehmen will, was allgemein unter Freiheit verstanden wird, könnte die libertäre Unterart von Freiheit als ein Ausdruck eines bestimmten Ideals verstanden werden. Dieses Ideal spiegelt sich auch in dem Prinzip des Selbsteigentums wieder. Ich gehöre mir selbst, wie auch die Produkte meiner Arbeit, wodurch sich eine Sphäre ergibt, die meine persönliche Freiheit darstellt. Da ich mir selbst gehöre habe ich ein Recht auf diese Freiheit. Ein Recht auf diese Unterart von Freiheit würde dann dem moralischen Ideal entsprechen, dass es jedem erlaubt sein sollte, zu tun was er will, beschränkt allein durch das Recht der anderen, das zu tun was sie wollen. Dieses Recht wird eingeschränkt, wenn jemand in meine Sphäre gegen meinen Willen eindringt. Wie groß diese Sphäre ist und wie durch welche Handlungen jemand in diese Sphäre eindringen kann, unterscheidet die verschiedenen libertären Auffassungen voneinander. Im Folgenden muss nun geklärt werden, welche moralische Normen sich daraus ergeben und wie eine solches moralisches Grundprinzip begründet werden kann.

81

2

Moral (Kontraktualismus)

Bis hierhin wurde geklärt, was „Libertarismus“ bedeutet und welche Rechte und Pflichten eine libertäre Theorie beinhaltet. Zentral ist das Freiheitsrecht und damit auch die Bestimmung von Freiheit. Freiheit ist je nach Definition die Abwesenheit von Zwang oder freiheitsrelevanten Hindernissen bzw. Hinderungen durch andere Personen. Ob man von Zwang oder einer Hinderung sprechen kann, hängt davon ab, ob jemand in die Freiheitssphäre des anderen eindringt. Diese ist über das (Selbst-)Eigentum bestimmt. Die libertären Definitionen von Eigentum, Selbsteigentum, Zwang und Freiheit sind allesamt diskussionsbedürftig, lassen sich aber so interpretieren, dass ein moralisches Grundprinzip zum Ausdruck gebracht wird, das trotz der Schwächen der theoretischen Grundlagen eine Berechtigung hat. Das moralische Grundprinzip des Libertarismus kann deshalb so aufgefasst werden: Niemand darf in die Freiheitssphäre eines anderen eindringen. Narveson bezeichnet das moralische Grundprinzip als das „libertarian principle“ und ein Eindringen in die Freiheitssphäre nennt er „aggression“. „The libertarian principle prohibits aggression – not, flatly, all use or threat of force; it merely restricts it to defensive purposes.“ (Narveson 2001, S. 306) „Aggression is acting against persons, and thus the vague idea that individuals are to be held „inviolate“ or „sacrosanct“ is readily identified with the libertarian idea […]. One important thrust in that direction consists in identifying the fundamental libertarian status as that of self-ownership […]. To say that someone owns something is to say that he has authority over it, that he decides about its use or disposition, that he may do as he chooses with it. […] To say, then, that a person „owns himself“ is to say that is he who decides what is to be done with that self – it is „his“ to do with or to it, or allow or forbid others from doing to or with it, whatever can be done with it or to it by that self ’s „owner“ or others.“ (Narveson 2001, S. 308)

83

Moral (Kontraktualismus)

Das moralische Ideal bzw. Grundprinzip der Libertären wird auch oft als non-aggression principle oder non-aggression axiom 1 bezeichnet. „The libertarian creed rests upon one central axiom: that no man or group of men may aggress against the person or property of anyone else this may be called ‚nonaggression axiom‘. ‚Aggression‘ is defined as the initiation of the use or threat of physical violence against the person or property of anyone else.“ (Rothbard 2000, S. 215)

Auch das non-aggression principle ist eng mit dem Eigentum und dem Selbsteigentum verknüpft. Es beinhaltet, dass man nicht daran gehindert werden darf, sein Eigentum zu gebrauchen. Das Eigentum umfasst den materiellen und geistigen Besitz und auch den eigenen Körper. Man darf nur an Handlungen gehindert werden, die Eigentumsrechte anderer verletzen. „(1) Each person, A, has a determinate set of fundamental personal resources such that (2) A has the [negative] right to use those resources in whatever way A sees fit, provided that in doing so, A does not violate the similar right of any other person, B, over the use of B’s resources. Or, more briefly yet: our sole basic duty is to refrain from utilizing the fundamental resources of others without their consent; and those resources include, at a minimum, the bodies and minds of those others.“ (Narveson 1988, S. 165)

Andere Libertäre reden im Anschluss an Hayek ebenfalls von einem Verbot von Zwang: „Any use of coercion that infringes upon an individual’s control of her person or property […] is illicit. […] Within the liberty tradition, any proposal to expand the list of legitimate uses of force – either by expanding the list of rights for which people can demand coercive protection or by expanding the role of legitimate coercion beyond the protection of rights – bears a heavy burden of proof. And part of what must be proven within the liberty tradition is that the proposed expansion of legitimate coercion still leaves individual liberty, as ori1

Vgl. Hamowy 2008, S. 357–360

84

Moral (Kontraktualismus)

ginally conceived, as the central political norm.“ (Gaus und Mack 2004, S. 117)

Hier wird deutlich, dass Narveson mit der Rede von „aggression“ sehr nah an dem ist, was Hayek und ihm nachfolgende Libertäre mit „coercion“ bezeichnen. Es gibt verschiedene Auffassungen und Formulierungen, wie genau das Freiheitsrecht zu interpretieren ist. Es ist unabhängig davon, ob es als Recht am eigenen Körper, oder als Recht, nicht Zwang oder Aggressionen ausgesetzt zu sein, beschrieben wird: im Grunde sind all diese Formulierungen Ausdruck eines moralischen Grundprinzips. Dieses libertäre moralische Grundprinzip bzw. libertarian principle (LP) 2 beinhaltet zum einen das Recht, nicht getötet oder verletzt zu werden, da der Anspruch auf die exklusive Nutzung des eigenen Körpers besteht. Zum anderen folgt das Recht, nicht bestohlen und unterdrückt zu werden, aus dem exklusiven Anspruch an den angeeigneten Gütern, da weder durch Zwang, noch durch Diebstahl jemand daran gehindert werden darf, diese zu nutzen. Diese Rechte und die damit korrelierenden Pflichten bilden den Rahmen der libertären Moral, die folgende Normen enthält: – – – –

Tötungsverbot Verbot körperlicher und psychischer Schädigung Diebstahlverbot Unterdrückungsverbot

Die libertäre Moral besteht aus diesen vier Normen 3. Doch unabhängig davon, wie der Freiheitsbegriff und damit das Freiheitsrecht und letztendlich das LP verstanden wird, muss dieses immer noch begründet werden, da der Rückbezug auf den Freiheitsbegriff 2

Im weiteren Verlauf werde ich für das libertäre moralische Grundprinzip die Abkürzung „LP“ verwenden. 3 Jede einzelne dieser Normen muss konkretisiert und ausformuliert werden, um klarzustellen, was genau unter die einzelnen Normen fällt. Doch für das Ziel, eine Begründung dieser Normen zu finden, reicht eine Darstellung in groben Zügen aus.

85

Moral (Kontraktualismus)

dies nicht leisten kann. Die grundlegende libertäre Überzeugung, dass jeder ein Recht auf Freiheit besitzt, bzw. dass auf niemanden Zwang oder Gewalt ausgeübt werden darf, ist eine starke These, für die es gute Argumente braucht. Denn selbst wenn das LP und die daraus folgenden Rechte und Pflichten, so wie es Libertäre verstehen wollen, plausibel sein sollte, muss dennoch die Frage beantwortet werden, warum es überhaupt akzeptiert werden soll. Mögliche Antworten auf die Frage werden in diesem Kapitel analysiert.

2.1

Moralbegründung

In der Einleitung wurde bereits die Problemlage angedeutet, welche sich für den Libertarismus stellt. Ein Problem, das alle libertären Konzepte verbindet, ist, dass es an einer plausiblen Begründung mangelt. Thomas Nagel kritisierte eben dies in seinem berühmten Aufsatz „Libertarianism without Foundations“ 4 an Nozicks libertärer Konzeption. Bis heute haben sich zwar viele mit dem Libertarismus beschäftigt und ihn und das zugrundeliegende LP auf verschiedene Weise interpretiert, um ihn gegen unzählige Kritikpunkte zu verteidigen. Jedoch scheint Nagels Kritik immer noch aktuell zu sein. Wendt fasst den aktuellen Stand der libertären Moralbegründung wie folgt zusammen: „Es gibt keine überzeugende Begründung des Libertarismus. Der klassisch-liberale Konsequentialismus kann keine anti-konsequentialistischen libertären Rechte generieren. Der randianische ethische Egoismus kommt nur mit unplausiblen ad-hoc-Prämissen von seiner Tugendethik zu libertären Rechten. Und der hobbesianische Kontraktualismus kann nur Klugheitsnormen, aber keine echten moralischen Rechte begründen.“ (Wendt 2009, S. 243)

In diesem Kapitel soll untersucht werden, ob eine libertäre Moralbegründung möglich ist, oder ob eine libertäre Moral bereits an der grundlegenden libertären Überzeugung scheitert. Es fehlt eine plau4

Nagel 1975

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Moralbegründung

sible Antwort auf die Frage, warum man eine libertäre Moral akzeptieren und sich an ihre Normen halten soll. In der Alltagspraxis gelten bestimmte grundlegende Moralnormen als selbstverständlich oder selbstevident, daher kann es den Anschein haben, dass die Beantwortung der Frage unbedeutend sei und gar keine Begründung von Moral notwendig ist. Norbert Hoerster 5 sieht eine Aufgabe der Moralphilosophie darin, grundlegende Fragen wie die der Moralbegründung weitestgehend zu beantworten, auch wenn die Antwort obsolet erscheint. Doch selbst der, der diese Auffassung nicht teilt, muss eingestehen, dass auch vermeintlich selbstverständliche Normen oft von Einzelnen nicht akzeptiert werden. Zudem gibt es Moralnormen, die erst gar nicht den Status der Selbstverständlichkeit erlangen. Sowohl zwischen verschiedenen Gesellschaften (und selbst innerhalb einer Gesellschaft) als auch in verschiedenen zeitlichen Perioden kommt es immer wieder zum Dissens darüber, welche Normen es geben soll und warum man sich an sie halten muss. Daher ist eine Methode zur Lösung solcher Konflikte wünschenswert und die Auseinandersetzung mit den möglichen Antworten auf die Begründungsfrage wichtig. Die Frage nach der Begründung libertärer Moral ist im wesentlichen die Frage danach, wie das Freiheitsrecht begründet ist. Das Freiheitsrecht hingegen beruht für viele Libertäre auf dem Prinzip des „self-ownership“. Auf die Frage, warum niemand mein Freiheitsrecht beschränken darf, könnte ich also antworten, dass ich mir selbst gehöre und deshalb niemand außer mir Anspruch auf meinen Körper und den daraus hervorgehenden Dingen hat. Dieses Prinzip halten viele Libertäre für selbstevident. Es sei klar, dass man sich selbst gehört und niemand anderes Ansprüche auf den eigenen Körper erheben kann. Doch eine solche Antwort ist unbefriedigend, da ein Eigentumsrecht an einem selbst ebenfalls begründungsbedürftig ist. Denn ein solches Recht setzt bereits einen normativen Rahmen voraus. Dieser soll aber erst durch dieses Recht begründet werden. Andererseits kann aber auch behauptet werden, dass das Freiheitsrecht gar nicht begründungsbedürftig ist. C. J. Lester begnügt 5

Hoerster 2014, S. 19

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Moral (Kontraktualismus)

sich z. B. damit, seine Position gegen diverse Gegenargumente und Kritiken zu verteidigen, ohne dabei eine Begründung für die grundlegende moralische Norm zu liefern. „My general moral position is of critical-rationalist libertarianism: I can see no good reason for limiting interpersonal liberty. I see liberty as the basic social rule within which other values must fit. I do not base this moral position on anything; it is as unsupported as universal empirical theories.“ (Lester 2000, S. 8)

Er sieht seinen Ansatz analog zu naturwissenschaftlichen Theorien, die als gültig betrachtet werden können, bis sie falsifiziert werden. Für eine Moraltheorie ist eine solcher Ansatz jedoch nicht zufriedenstellend, da sie im Gegensatz zu den meisten naturwissenschaftlichen Theorien in Konkurrenz mit einer Reihe von anderen Theorien steht. Die libertäre Moral ist eine von vielen Moraltheorien und muss deshalb Gründe liefern, warum genau diese Moralvorstellung und keine andere akzeptiert werden soll. Zudem muss sie die Frage beantworten können, was diese von ihr propagierten Normen überhaupt zum Ausdruck bringen. Diese Aufgaben stellen sich aber nicht nur der libertären Moral, sondern allen Moralkonzeptionen. Solche Fragen zweiter Ordnung unterscheiden sich von moralischen Fragen erster Ordnung, die z. B. danach fragen, ob Abtreibung erlaubt sein sollte. Moralische Fragen zweiter Ordnung, betreffen den Status moralischer Aussagen erster Stufe und werden als „Metaethik“ bezeichnet. Um Antworten auf diese Fragen zu finden lohnt es sich die libertäre Moral in der fortlaufenden Metaethikdebatte einzuordnen. 6 Eine wichtige Debatte in der Metaethik ist die zwischen Kognitivisten und Nonkognitivisten.

6 An dieser Stelle wird nur ein kurzer Einblick in die Debatte gegeben, der dazu dienen soll, die libertäre Moralbegründung in den Kontext einordnen zu können. Jedoch kann hierbei nicht auf die einzelnen Theorien und Argumente im Detail eingegangen werden. Einen guten Überblick über den aktuellen Stand der metaethischen Debatte liefert Alexander Miller mit seinem Buch: „An Introduction to Contemporary Metaethics“ (2003)

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Moralbegründung

2.1.1

Kognitivismus vs. Nonkognitivismus

Die Debatte beruht auf der Frage, ob moralische Urteile wahr oder falsch sein können. Kognitivisten meinen, dass moralische Urteile wahrheitsfähig und damit begründbar sind. Der Nonkognitivismus bestreitet, dass moralische Urteile wahrheitsfähig sind. Laut diesem beziehen sich moralische Urteile überhaupt nicht auf Tatsachen, also nicht auf etwas, was der Fall ist. Mit ihnen äußert das Subjekt seine nonkognitiven Einstellungen, die nicht zum Ausdruck bringen, dass etwas der Fall ist, sondern dass etwas der Fall sein möge. Eine Art, kognitive Einstellungen z. B. Überzeugungen von nonkognitiven Einstellungen z. B. Wünsche zu unterscheiden, besteht darin, zu sagen, dass sie unterschiedliche „directions of fit“ haben. Bei dem Wunsch: „Mein Chef möge mir morgen frei geben.“ wäre die Passrichtung von „world-to-mind“, da sich die Welt den mentalen Einstellungen anpassen soll. Die entgegengesetzte Richtung „mind-toworld“ zeichnet kognitive Einstellungen aus. Die Überzeugung: „Vor mir steht ein brauner Tisch.“ muss sich dementsprechend der Welt anpassen. Falls dort jedoch kein brauner Tisch steht, wäre die Aussage falsch. Hingegen gibt es keine Tatsache in der Welt, die den Satz: „Mein Chef möge mir morgen frei geben.“ falsch bzw. wahr macht, da ein solcher Wunsch nicht wahrheitsfähig ist. Auch wenn der Chef den freien Tag verweigert, ist dadurch der Wunsch nicht falsifiziert. Für den Nonkognitivisten bringt auch ein moralisches Urteil, wie z. B. der Satz: „Abtreibung ist falsch.“ keine wahrheitsfähige Überzeugung, die sich auf eine Tatsache 7 in der Welt bezieht, sondern lediglich eine mentale Einstellung zum Ausdruck. Welcher Art von mentaler Einstellung ein moralisches Urteil entspricht beantworten diverse nonkognitivistische Theorien unterschiedlich. Zu den wichtigsten Varianten zählen hierbei der Emotivismus, der Präskriptivismus und der Quasi-Realismus: 7

Hier liegt eine korrespondeztheoretische Auffassung von Wahrheit zugrunde, die nicht unbedingt geteilt werden muss. Dennoch will ich diese Auffassung hier vertreten, da sie intuitiv am zugänglichsten und im weiteren Verlauf für die Erklärung moralischer Tatsachen dienlich ist.

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Moral (Kontraktualismus)







Laut Emotivismus drücken moralische Urteile Gefühle aus. Zu nennen sind hierbei vor allem A. J. Ayer 8 und Charles L. Stevenson 9. Die auch als „Boo-Hurray Theory“ bezeichnete Variante des Emotivismus von Ayer, nach der mit einem moralischen Urteil keine Behauptung aufgestellt wird, sondern eine zustimmende (hurray) oder ablehnende (buuh) Haltung signalisiert wird, ist die wohl bekannteste emotivistische Theorie. Laut Präskriptivismus artikulieren moralische Urteile Empfehlungen oder Vorschriften. Zu sagen, dass Abtreibung falsch ist, entspricht demnach einer Empfehlung Abtreibung zu unterlassen. Als grundlegend für den Präskriptivismus gelten die Arbeiten von Richard M. Hare 10. Laut Quasi-Realismus sind moralische Urteile nonkognitive Einstellungen in Form einer wahrheitsfähigen, deskriptiven Aussage. Die Aussage, dass Abtreibung falsch ist, scheint zwar wahrheitsfähig zu sein, jedoch handelt es sich nur um eine Projektion z. B. eines Wunsches (Es soll der Fall sein, dass keine Abtreibungen stattfinden.) auf den beschriebenen Sachverhalt. Jedoch kommt der Abtreibung die Eigenschaft des Falschseins gar nicht zu und dass Abtreibung falsch sei, ist dementsprechend auch nicht wahrheitsfähig. Gleichwohl ist eine solche Ausdrucksweise nicht unangebracht, da ihre Funktion darin besteht, Standpunkte zu markieren, die man für universell verbindlich erachtet, auch wenn sie lediglich nonkognitive Einstellungen zum Ausdruck bringen. Die Theorie geht auf Simon Blackburn 11 zurück.

Der Nonkognitivismus hat den Vorteil, dass moralische Aussagen nicht auf Tatsachen referieren zu müssen, um eine Aussage wie „Abtreibung ist falsch.“ erklären zu können. Hier würde sich nämlich die schwierige Frage auftun, was denn eine moralische Tatsache sei. Wenn eine solche Aussage aber lediglich eine nonkognitive Einstel8 9 10 11

Ayer 1952 Stevenson 1937 Hare 1952 Blackburn 1971

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Moralbegründung

lung zum Ausdruck bringt, benötigt es auch keine moralische Tatsache in der Welt, die diese Aussage wahr macht. Jedoch bringt eine solche Auffassung eine Reihe von Problemen mit sich 12. Eines der schwerwiegendsten ist das „Frege-Geach-Problem“. Peter Geach 13 argumentiert mit Bezug auf Gottlob Frege, dass wenn moralische Aussagen nicht wahrheitsfähig sind, es zu Schwierigkeiten führt, wenn diese Teil einer Subjunktion sind. So kann der Satz (1) „Abtreibung ist falsch.“ – nonkognitivistisch aufgefasst – zwar nur ein Ausdruck eines Gefühls sein, z. B. im Sinne von „Abtreibung BUUH!“. Bei einer solch simplen Aussage scheint dies nachvollziehbar, da es sich lediglich um eine Behauptung handelt. Bei dem komplexeren Satz (2) „Wenn Abtreibung falsch ist, dann ist es ebenso falsch, seine Freundin zum Abtreiben zu verleiten.“ stellt der Teil des Satzes „Abtreiben ist falsch.“ keine Behauptung mehr da, sondern ist Teil einer Subjunktion. Man kann (2) zustimmen, ohne (1) zuzustimmen. Damit kann der Satz nicht mehr die Bedeutung von „Abtreibung BUUH!“ haben, was bedeuten würden, dass der Satz ambig verwendet wird. Für den Fall, dass diese Ambiguität besteht, wäre der folgende Schluss (3) nicht gültig: (1) Abtreibung ist moralisch falsch. (2) Wenn Abtreibung falsch ist, dann ist es ebenso falsch, seine Freundin zum Abtreiben zu verleiten. (3) Also: Seine Freundin zum Abtreiben verleiten ist moralisch falsch. Solche Schlüsse sind jedoch eine gängige Praxis des moralischen Argumentierens. Der Nonkognitivismus hat also Schwierigkeiten mit moralischen Sätzen außerhalb eines behauptenden Kontextes 12 Neben dem Frege-Geach-Problem, was auch das „The Embedding Problem“ genannt wird, zählen auch noch die „The Wishful Thinking Objection“ und der Vorwurf des entsehenden moralischen Relativismus zu den wichtigsten Einwänden gegen den Nonkognitivismus. Vgl. hierzu: Eklund 2009, S. 705–712, Kalderon 2008, S. 133–43, Dorr 2002, S. 97–103, Lenman 2003, S. 265–274, Dreier 2009, S. 79–110 13 Geach 1965

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Moral (Kontraktualismus)

(z. B. im Antezedens einer Subjunktion) sinnvoll umzugehen, ohne dabei die Fähigkeit des moralischen Argumentierens aufzugeben. Zudem ist es eine kontraintuitive Annahme, dass moralische Urteile lediglich nonkognitive Einstellungen zum Ausdruck bringen und entspricht nicht dem Sprachgebrauch und der Art und Weise, wie moralische Debatten und Argumente geführt werden. Mit den gennanten Problemen ist der Nonkognitivismus zwar nicht widerlegt 14, jedoch lässt sich zeigen, dass es gute Gründe gibt einen anderen Ansatz zu verfolgen. Aufgrund dieser Probleme und dem Umstand, dass kognitivistische Theorien näher an der Praxis des alltäglichen moralischen Urteilens sind, möchte ich moralische Aussagen im Folgenden kognitivistisch verstehen. Zudem ist mir keine nonkognitivistische libertäre Moralbegründung bekannt, daher werde ich auch nicht weiter auf diese metaethische Ausrichtung eingehen, sondern mich auf den Kognitivismus konzentrieren. Kognitivistische Theorien gehen davon aus, dass moralische Urteile wahrheitsfähig sind und deshalb einer Begründung bedürfen. Diese Theorien lassen sich dann, in einem zweiten Schritt, durch ihre Auffassungen darüber unterscheiden, was genau moralische Aussagen wahr macht. Kognitivisten, die der Meinung sind, dass moralische Aussagen durch Tatsachen wahr gemacht werden, die unabhängig von unseren mentalen Einstellungen sind und die rationalerweise oder intuitiv erfasst bzw. erkannt werden können und die vorgegeben und objektiv verbindlich sind (wie z. B. Naturrechte), nennt man Objektivisten. Kognitivisten, die der Meinung sind, dass moralische Aussagen nicht durch Tatsachen, sondern durch mentale Einstellungen (z. B. Interessen) wahr gemacht werden, bezeichnet man als Subjektivisten. Ob moralische Urteile abhängig oder unabhängig von mentalen Einstellungen sind, ist eine Frage, an der sich also die kognitivistischen Theorien unterscheiden lassen.

14

Es handelt sich hier um eine fortlaufende metaethische Debatte, wobei der Nonkognitivismus auch gegen die genannten Einwände verteidigt wird. Dies geschieht zum Teil auch mit Hybridtheorien um die genannten Probleme lösen oder zumindest umgehen zu können. Vgl. dazu Hallich 2008

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Moralbegründung

Der Objektivismus, der die Unabhängigkeit von mentalen Eigenschaften propagiert, muss demnach eine außerempirische, aber dennoch epistemisch zugängliche, objektive Realität voraussetzen. „Falls es inhaltlich feststehende, dem Menschen vorgegebene Moralnormen gibt, muss es eine außerempirische Wirklichkeit geben, in der diese Normen existieren und vom Menschen erkannt werden können.“ (Hoerster 2014, S. 23)

Moralische Normen existieren demnach vorpositiv, also unabhängig vom Subjekt und dessen mentalen Einstellungen wie z. B. Wünschen, Zielen und Interessen, sind aber dennoch Gegenstand menschlicher Erkenntnis. Subjektivisten wie Hoerster oder Peter Stemmer meinen, dass normative Phänomene einen bestimmten ontologischen Status haben, nämlich dass sie ontologisch subjektiv sind. Eine Tatsache ist ontologisch subjektiv genau dann, wenn sie nur abhängig von einem betrachtenden Subjekt existiert. Umgekehrt ist eine Tatsache ontologisch objektiv genau dann, wenn sie unabhängig von einem betrachtenden Subjekt existiert. Dass das Matterhorn 4478 Meter hoch und einer der höchsten Berge der Alpen ist, ist beispielsweise in diesem Sinne objektiv, da diese Tatsache unabhängig davon existiert, wie ein Betrachter dazu steht, was er sich diesbezüglich wünscht, fühlt oder denkt. Anders ausgedrückt sind ontologisch objektive Tatsachen die, die bestehen bleiben würden, wenn die Welt plötzlich ohne Denken, Fühlen, Wünschen und Bewerten wäre. Demgegenüber stehen ontologisch subjektive Tatsachen, die nicht unabhängig vom subjektiven Betrachter und dessen mentalen Zuständen existieren würden. So kann es z. B. die Tatsache, dass Gold mehr Wert hat als Silber, nicht in einer Welt geben, in der keine Subjekte existieren, die bewerten. Für Stemmer ist diese Unterscheidung grundlegend um die normative Wirklichkeit zu verstehen, denn alle normativen Tatsachen sind ihm zufolge ontologisch subjektiv. Sie existieren nur aufgrund von menschlichen Wesen und ihren mentalen Fähigkeiten. Stemmer behauptet somit, dass wer die Ontologie von Normativität verstehen will, normative Phänomene als subjektive Artefakte von menschlichen Wesen verstehen muss. Danach ist Moral ein menschliches 93

Moral (Kontraktualismus)

Artefakt, das sich nicht auf objektive moralische Tatsachen, sondern auf soziale Tatsachen bezieht. Subjektivisten wie Stemmer bestreiten also die Existenz objektiver moralischer Werte, zugleich verneinen sie deren Notwendigkeit im Bezug auf die Existenz moralischer Normen. Moralische Normen beruhen auf den Interessen der Menschen, die intersubjektiv begründet werden können. Stemmer steht damit in der Traditionn J. L. Mackies 15 und seiner Kritik am Werteobjektivismus. Er wendet sich damit auch gegen den Mainstream in der aktuellen philosophischen Debatte 16, der Normativität zumindest in Teilen (insbesondere die Moral) für objektiv hält. Es gibt zwei empirische Befunde, die jeweils für die eine und damit gegen die andere Theorie sprechen. Zum einen spricht für den Objektivismus, dass im Sprachgebrauch moralische Normen stets ohne Bezug auf Interessen formuliert werden. Die Forderung: „Du darfst keine Menschen töten!“ scheint auf den ersten Blick einen objektiven Anspruch zu haben, der genau dann seine Wirkung entfalten soll, wenn keine bzw. sogar entgegengesetzte Interessen im Spiel sind. Zum anderen gibt es eine Fülle von Moralvorstellungen und Normen, die sich unterscheiden und teilweise sogar widersprechen, sodass es nahe liegen könnte, dass Moral eine subjektive Komponente hat. Ungeachtet dieser beiden Befunde wird die Debatte zwischen Objektivisten und Subjektivisten zu einem großen Teil durch Argumente bestimmt, die nicht für die eigene, sondern gegen die andere Theorie sprechen. So versteht sich Norbert Hoersters Buch („Wie lässt sich Moral begründen?“, 2014) und die enthaltenen Argumente, die ich zum Teil im folgenden Abschnitt referieren werde, zum Großteil als Kritik am moralischen Objektivismus. Hoerster kritisiert vor allem Begründungen mittels eines Naturrechts und durch Intuitionen. Die Kritik an diesen beiden Theorien sind für meine Arbeit interessant, da viele Liberale und Libertäre implizit oder explizit eine oder eine Kombination aus diesen Begründungen annehmen.

15 16

Mackie 1977 Scanlon 2014, Parfit 2011, Halbig 2007

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Moralbegründung

„Libertarians in general support their views by appeals to intuitions, especially intuitions about our „natural rights“. This is a method that has very wide currency in contemporary philosophy; it is by no means confined to libertarians. Libertarians who base their convictions on intuition are thus in good company. This, as we shall see, is ironic, for the other members of that company have widely varying views about these matters.“ (Narveson 1988, S. 109)

Die Frage nach einer Begründung libertärer Moral ist also berechtigt. Ihre Antwort hängt vom Interessensbezug moralischer Urteile ab. Mithilfe von Naturrechten und Intuitionen wird die Begründungsfrage von vielen Libertären ohne Bezug auf das Interesse beantwortet. Diese Anworten sind nicht nur im libertären Kontext umstritten. Daher werde ich im Folgenden die Kritik Hoersters an diesen Theorien kurz darstellen. Seine Sichtweise ist ebenfalls stark beeinflusst von der Arbeit Mackies. Dieser würde die Frage, ob eine objektivistische Moralbegründung überzeugen kann, ebenfalls verneinen.

2.1.2

Objektivistische Begründungen

Der Klassiker im Bezug auf die Objektivismuskritik ist Mackies Buch „Ethics. Inventing Right And Wrong“. Auf ihn beziehen sich fast alle Autoren, die über Moralbegründung schreiben. Seine Kritik umfasst hauptsächlich folgende zwei Argumente: Argument from relativity Es ist empirisch leicht feststellbar, dass in verschiedenen Gesellschaften und innerhalb einer Gesellschaft in verschiedenen Gruppierungen und in allen Epochen der Menschheit jeweils verschiedene moralische Überzeugungen vorherrschen. Diese Tatsache deutet darauf hin, dass die Einsicht in objektive moralische Wahrheiten, soweit überhaupt möglich, zumindest sehr schwierig sein dürfte. Die Meinungsverschiedenheiten bei moralischen Überzeugungen lassen sich nicht wie bei Naturwissenschaften auf spekulative Schlussfolgerun95

Moral (Kontraktualismus)

gen oder nicht ausreichend erforschte Daten und Erklärungen zurückführen. Also erkennen entweder die meisten Menschen die objektiven Werte nicht richtig, oder die Meinungsverschiedenheiten sind keine über objektive Wahrheiten, sondern einfach nur die Folge unterschiedlicher Lebensweisen. Letzteres scheint plausibler. „In short, the argument from relativity has some force simply because the actual variations in the moral codes are more readily explained by the hypothesis that they reflect ways of life than by the hypothesis that they express perceptions, most of them seriously inadequate and badly distorted, of objective values.“ (Mackie 1977, S. 37)

Argument from queerness Wenn objektive Werte existieren würden, wären sie Entitäten oder Beziehungen sehr seltsamer Art, welche anders als alle anderen Dinge in der Welt sind. Es sind nicht Tatsachen wie z. B. dass da ein Baum im Garten steht, den wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Um sie zu erkennen, bräuchten wir eine vom üblichen Erkenntnisvermögen verschiedene Erkenntnismöglichkeit. Es muss sich um eine besondere Art der Einsicht handeln, die dazu befähigt, objektive Werte zu erkennen. Es bedarf nicht nur der Fähigkeit, natürliche Eigenschaften wie z. B. Grausamkeit zu erkennen, sondern auch jene, seine moralische Falschheit und die Beziehung zwischen diesen beiden Eigenschaften zu erkennen. Ein solch unübliches Erkenntnisvermögen hält Mackie für äußerst fragwürdig und bezeichnet es als „queer“. „Another way of bringing out this queerness is to ask, about anything that is supposed to have some objective moral quality, how this is linked with its natural features. What is the connection between the natural fact that an action is a piece of cruelty […] and the moral fact that it is wrong? […] It is not even sufficient to postulate a faculty which ‚sees‘ the wrongness: something must be postulated which can see at once the natural features that constitute the cruelty, and the wrongness, and the mysterious consequential link between the two.“ (Mackie 1977, S. 41)

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Moralbegründung

Dies scheint für Mackie völlig an der Realität vorbei zu gehen. Es wäre bedeutend einfacher zu sagen, dass moralische Sätze, die geäußert werden, oft einen scheinbar objektiven Anspruch erheben, dieser aber immer in Bezug zu Wünschen, Zielen etc. steht und daher ein Satz wie: „Du darfst keine Kinder quälen!“ keinen Bezug auf objektive „queere“ Entitäten in der Welt nehmen muss. Über die Gültigkeit und die genaue Interpretation dieser Argumente wird bis heute diskutiert und kaum eine metaethische Theorie nimmt nicht Stellung zu Mackies Argumenten. Für meine Zwecke genügt es jedoch zu attestieren, dass folgende Fragen und Zweifel berechtigt sind: – – –

Wie ist ein objektiver Wert beschaffen und was soll eine solch mystische Entität sein? Wie können objektive Werte erkannt werden? Ist es plausibel einen speziellen „moralischen Sinn“ anzunehmen? Warum gibt es unzählig viele, sich gegenseitig widersprechende moralische Überzeugungen, wenn doch alle Menschen mit einer Art moralischem Sinn ausgestattet sind, mit dem sie die objektiven Werte erkennen können?

Selbst wenn eine plausible Antwort auf die ersten beiden Fragen gefunden werden könnte, scheint eine Antwort auf die dritte Frage sehr schwierig. Der Objektivist müsste behaupten, dass es entweder eine nicht-empirische Wirklichkeit gibt, die zwar von den Menschen erkannt werden kann, aber von vielen nicht richtig erkannt wird. Oder diese Menschen erkennen zwar, was richtig ist, aber lassen sich dennoch aus irgend einem Grund nicht davon zu einer moralischen Handlung anleiten. 2.1.2.1

Naturrecht

Aber fangen wir mit der ersten Frage an. Eine Weise zu behaupten, dass es objektive Werte und damit eine nicht-empirische Wirklichkeit gibt, ist es, zu sagen, dass der Mensch von Natur aus bestimmte

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Moral (Kontraktualismus)

Rechte hat. Diese Auffassung hat eine lange Tradition in der Moralphilosophie und speziell im libertären Kontext. „Let us turn to then to the natural-rights basis for the libertarian creed, a basis which, in one form or another, has been adopted by most of the libertarians, past and present.“ (Rothbard 2000, S. 218)

Analog zur Eigentumstheorie berufen sich die meisten Libertären, so auch z. B. Nozick 17, bei der Moralbegründung auf Locke. Locke bezeichnet das grundlegende Freiheitsrecht als ein Naturrecht. Das Recht auf Freiheit ist für ihn gottgegeben. „The State of Nature has a Law of Nature to govern it, which obliges every one: And Reason, which is that Law, teaches all Mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health, Liberty, or Possessions. For Men being all the Workmanship of one Omnipotent, and infinitely wise Maker […].“ (Locke 1960, II, § 6)

Die bis in die Antike reichende Vorstellung, dass die Natur bestimmte Ziele und Zwecke auch und gerade in der Moral vorgibt, ist bis heute verbreitet. Jedoch ist es schwierig, der Redeweise, dass die Natur bestimmte Ziele und Zwecke verfolgt, Sinn abzugewinnen. Es ist fraglich, ob etwas ohne Bewusstsein überhaupt Ziele haben kann, daher scheint es eine Bedingung zu sein, der Natur (oder zumindest ihrem Schöpfer) ein Bewusstsein zuzuschreiben. Dies ist eine anspruchsvolle metaphysische Annahme, für die nur schwer zu argumentieren ist. Für Stemmer ist es fast schon selbstverständlich, eine solche Form der Begründung abzulehnen. „Dieses Recht wird nicht von Gott oder einer anderen höheren Macht verliehen, und es ist auch nicht naturgegeben. Es bedarf keiner Erläu-

17 Nozick ist hier besonders hervorzuheben, da er zwar die Naturrechtstheorie Lockes voraussetzt, aber bereits eingesteht, dass diese keine gute Begründung ist: „[…] we here are following the respectable tradition of Locke, who does not provide anything remotely resembling a satisfactory explanation of the status and basis of the law of nature in his Second Treatise.“ Nozick 1974, S. 9 ff.

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Moralbegründung

terung, wenn ich sage, dass diese beiden Theorien, die man für viele Jahrhunderte für wahr hielt, nicht haltbar sind.“ (Stemmer 2013, S. 1)

Hoerster hingegen widmet sich den naturrechtlichen Moralbegründungen. Diese beruhen auf der Annahme, dass die Natur nicht nur von Naturgesetzen und anderen Kausalitäten bestimmt ist, sondern auch durch Ziele. Diese natürlichen Ziele, wie etwa das Streben der Blume nach Licht, um zu wachsen, dienen der Entwickulng der Lebewesen. In allen Lebewesen sind solche natürlichen Ziele angelegt, an denen sie sich orientieren. Wer sich nicht an diesem Ziel orientiert, verhält sich unnatürlich. So verhält sich die Schwalbe, die kein Nest baut, unnatürlich und damit falsch. Maßstab für das natürliche Verhalten ist also das, was unter normalen Bedingungen typisch ist. „Die Maßstäbe der menschlichen Natur, also die Normen des Naturrechts, erfassen sowohl das selbstbezogene Verhalten des Menschen als auch sein Sozialverhalten. Das, was jedes menschliche Individuum tun soll […], ist nach dieser Sichtweise identisch mit dem, was für die menschliche Spezies insgesamt als das Normale und Naturgemäße – als das „Natürliche“ – betrachtet werden muss.“ (Hoerster 2014, S. 24)

Der Mensch hat darüber hinaus die Fähigkeit, sich diese Ziele bewusst zu machen und danach zu handeln. Wenn er nicht den natürlichen Zielen entsprechend handelt, verhält er sich unnatürlich, unnormal und damit nicht so, wie er sollte, das heißt: Er verhält sich unmoralisch. Vor allem in der katholischen Kirche ist eine solche Verknüpfung von naturgemäß, normal und moralisch bis heute noch sehr populär. Das natürliche Ziel des Menschen und seiner Sexualität ist die Fortpflanzung, daher ist gleichgeschlechtlicher Sex und der Gebrauch von Verhütungsmitteln wie Kondomen moralisch verwerflich. Auch wenn ein solches Moralverständnis in Bezug auf Sexualität in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr viel Verständnis findet, bedienen sich immer noch sehr viele Menschen naturrechtlicher Begründungen. Laut Hoerster ist die wahre Schwierigkeit aber nicht der Inhalt der Naturrechte, sondern die vermeintliche Erkenntnis naturrechtlicher Normen. Selbst wenn das, was natürlich ist, auch das ist, was moralisch geboten ist, bleibt die Frage, wie man 99

Moral (Kontraktualismus)

herausfindet, welche Handlung natürlich ist. In der Regel wird das als normal angesehen, was die meisten Menschen tun. Dementsprechend wäre eine heterosexuelle Neigung normal, da etwa 90 % der Menschen heterosexuell sind. Es wäre also unnormal bzw. unnatürlich, sich zu leblosen Gegenständen sexuell hingezogen zu fühlen, da dies nur auf einen Bruchteil aller Menschen zutrifft. Eine solche Neigung und die entsprechenden Handlungen aber aufgrunddessen als umoralisch einzustufen ist unplausibel. Hoerster wendet hierauf ein, dass das Schreiben einer philosophischen Dissertation ebenfalls eine Handlung ist, der nur ein Bruchteil der Gesellschaft nachgeht und demnach müsste dies konsequenterweise auch als unnatürlich und unmoralisch eingestuft werden. Dem könnte der Naturrechtler entgegenhalten, dass die Handlung zu spezifisch ist. Es sei völlig normal, dass Menschen sich theoretisch, ästhetisch und kontemplativ beschäftigen und damit ist auch das Schreiben einer philosophischen Dissertation normal. Dieses Argument bringt den Naturrechtler aber nicht weiter, da eine solche Verallgemeinerung bei allen Handlungen angewendet werden kann, sodass sie als normal beschrieben werden können. So könnte auch Sex mit Gegenständen als normal eingestuft werden, denn dass der Mensch im Allgemeinen zu sexuellen Handlungen neigt, ist völlig natürlich. Die natürlichen Ziele an der Normalität im Sinne der Häufigkeit des Auftretens festzumachen ist fragwürdig. Vieles, was nur von einer Minderheit getan wird, ist moralisch völlig unbedenklich und dementsprechend ist es unplausibel, Natürlichkeit und damit auch Moral über Normalität zu bestimmen. Der Naturrechtler benötigt daher laut Hoerster ein anderes Kriterium für Natürlichkeit. Und selbst wenn er ein solches Kriterium findet, ist weiterhin unklar, warum „natürlich“ mit „moralisch“ gleichzusetzen ist. Am Beispiel des Alterungsprozesses zeigt Hoerster, wie absurd diese Gleichsetzung ist. Der Alterungsprozess ist natürlich. Jedoch versuchen viele Menschen diesem Prozess mit Medizin, gesunder Ernährung und Sport entgegen zu wirken. Diese Maßnahmen als unmoralisch zu bezeichnen, weil ein natürlicher und damit moralisch wertvoller Prozess aufgehalten würde, ist absurd. Hoerster schließt, dass die naturrechtliche Begründung der Moral nicht über100

Moralbegründung

zeugen kann. Dieser Schluss ist etwas voreilig, da er zwar gezeigt hat, dass Normalität als Kandidat für die Bestimmung von Natürlichkeit ausfällt, jedoch könnten Naturrechtler noch andere Weisen finden, um Natürlichkeit zu bestimmen. Und selbst wenn sie keine klare Definition von Natürlichkeit liefern können, kann immer noch ein fundamentalistischer Standpunkt vertreten werden, dass es bestimmte Naturrechte schlichtweg gibt und diese auch nicht begründet werden müssen. Aber selbst wenn es solche von der Natur vorgegebenen Ziele und Normen geben sollte, bleibt immer noch die Frage, wie sie erkannt werden können. Anhand von normalem bzw. natürlichem Verhalten der Mehrheit kann wie gesehen nicht auf die natürlichen Ziele und damit auch nicht auf die moralisch gebotenen Handlungen geschlossen werden. Es gibt jedoch den Versuch, die von der Natur vorgegebenen moralischen Normen durch das Vorhandensein von Intuitionen als natürlich oder gegeben zu erkennen. 2.1.2.2

Intuitionismus

Der Intuitionismus ist eine Theorie, die moralische Normen als objektiv gegeben und erkennbar betrachtet und damit die zweite Frage im Anschluss an Mackie beantworten will. Der Mensch soll auf intuitive Weise die objektiv moralischen Normen erkennen können. Narveson widmet dem Intuitionismus zwar ein ganzes Kapitel in „The Libertarian Idea“, jedoch begegnet er intuitionistischen Moralbegründungsversuchen eher mit Sarkasmus denn mit Argumenten: „But it [libertarianism] seemed also to be in an important sense unfounded. At any rate, its defenders generally appealed, as did Nozick, to what professional philosophers call „intuition“ – the philosopher’s word for seat-of-the-pants judgments, that is, judgments lacking a basis in explicit theory and resting simply on whatever immediate appeal they may have.“ (Narveson 1988, S. xii)

Er geht nicht auf die Besonderheiten der intuitionistischen Position ein, sondern stellt das ganze Vorhaben unter den Verdacht, von der Mackieschen Objektivismuskritik betroffen zu sein:

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„In the first place, we have to appreciate how utterly wrong was the model of moral thought and talk implied by metaphysical intuitionism. The idea that attributions of rightness and wrongness are claims that certain actions have certain occult, nonphysical, exotic properties is wildly, completely, and fundamentally off base. Morals is lived out in the streets of ordinary life, and it has to do with getting ordinary people to do or refrain from doing quite ordinary things. The idea that the way to get them to do this is by prattling about metaphysics is too absurd to be contemplated outside the hoary stone walls of Oxbridge.“ (Narveson 1988, S. 118)

Hoerster hingegen nimmt die Aufgabe ernst. Er liefert eine alltagssprachliche Analyse, nach der eine Intuition „[…] eine unmittelbare, nicht auf Reflexion beruhende Annahme oder Einsicht […]“ (Hoerster 2014, S. 30) ist. Danach kann sich der Mensch auf eine innere Einsicht, Eingebung oder Stimme verlassen, die ihn in den entsprechenden Situationen erkennen lässt, welche Handlung moralisch geboten ist. Oft wird dieses Phänomen als das „Gewissen“ bezeichnet. Nach Hoerster behaupten Intuitionisten, dass die Menschen so etwas wie ein Gewissen haben, wodurch sie gleichsam bestimmte moralische Inhalte gespeichert haben und abrufen können. Diese Inhalte referieren auf vorpositiv geltende Moralnormen, welche außerempirsich existieren. Beide Behauptungen weist Hoerster entschieden zurück. Die erste Behauptung ist grundsätzlich empirischer Natur. Menschen machen die Erfahrung, dass ihnen in einschlägigen Situationen Gedanken ins Bewusstsein kommen, die so etwas wie richtige oder falsche Handlungsoptionen beschreiben. Diese Behauptung wird von Hoerster nicht empirisch widerlegt, jedoch verweist er hier darauf, dass nicht nur Gewissensinhalte, sondern auch das Phänomen des Gewissens selbst von verschiedenen Menschen verschieden aufgefasst und erlebt werden können. Diese Variation steht aber der Annahme entgegen, dass es einen objektiv verstandenen Gewissensinhalt gibt, auf den alle Menschen durch Intuition zugreifen können und der in vergleichbaren Situationen gleiche Intuitionen liefern müsste. Daher kann in Frage gestellt werden, ob Intuitionen als verlässliche Erkenntnisquelle für moralische Normen dienen können. 102

Moralbegründung

Selbst wenn größtenteils Einigkeit darüber herrschen würde, was das Gewissen ist und welchen Inhalt es hat, bedeutet das nicht, dass die Intuition ein Mittel zur Erkenntnis von objektiven Maßstäben ist. Um dies zu verdeutlichen, zieht er einen Analogieschluss zur Ästhetik. Nur weil sich die meisten Menschen darüber einig sind, dass Rosen schön und Ratten hässlich sind, fehlt immer noch ein Argument, das plausibel macht, dass es erkennbare, objektiv gültige, ästhetische Grundsätze gibt. Sowohl das Gewissen als auch das ästhetische Empfinden sind keine Indizien für objektive nicht-empirische Entitäten. Fällt das Gewissen als zuverlässige Quelle für objektiv gültige moralische Normen aus, kann sich der Intuitionismus nicht darauf berufen. Eine andere Variante des Intuitionismus behauptet, dass auf eine empirische Wahrnehmung direkt eine moralische Wahrnehmung folgen kann. Wer z. B. ein Kind ertrinken sieht, würde intuitiv und unmittelbar wahrnehmen, dass das Kind gerettet werden muss. In diesem Beispiel lässt sich die moralisch gebotene Handlung aus der unmittelbaren Intuition ableiten. Jedoch gibt es laut Hoerster Fälle, in denen die Intuition nicht eindeutig ist odersogar auf eine moralisch falsche Handlung verweist. Wenn z. B. beobachtet wird, dass eine Frau in der Öffentlichkeit von einem Mann offensichtlich gegen ihren Willen gewaltsam festgehalten wird, gibt es sicher die unmittelbare Intuition, der Frau zu helfen und sie aus der Gewalt des Mannes zu befreien. Diese Intuition ist aber nicht zuverlässig. Es könnte der Fall sein, dass die Frau zurecht festgehalten wird, da sie versucht hat, den Mann zu beklauen und dieser sie festhält, bis die Polizei eintrifft, um ihre Flucht zu verhindern. Zu der aus einer wie auch immer gearteten moralischen Wahrnehmung generierten Intuition werden zusätzliche Informationen benötigt, um eine Situation bzw. eine Handlung korrekt beurteilen zu können. Eine unmittelbare Sinneswahrnehmung reicht also nicht als Quelle der Erkenntnis moralischer Urteile aus. Wie kann der Intuitionismus diesem zweiten Einwand begegnen? Der Intuitionist könnte davon ausgehen, dass die moralische Wahrnehmung nur eine Komponente ist, welche den primären Zugang zu generellen Moralnormen bietet. Zusammen mit weiteren 103

Moral (Kontraktualismus)

Informationen können diese dann auf konkrete Fälle angewendet werden. Jedoch weist Hoerster auch diese Variante als unhaltbar zurück. Denn bei dieser Variante kann es zu verschiedenen konkreten Anwendungen von generellen Moralnormen kommen, die sich widersprechen. Das Tötungsverbot z. B. kann üblicherweise mit Intuition erkannt werden, doch herrschen bei verschiedenen Anwendungsfragen dieses Verbots verschiedene Intuitionen vor. Das Tötungsverbot betrifft die Bereiche der Todesstrafe, Sterbehilfe und Abtreibung18, doch manche Menschen haben die Intuition, dass diese Tötungen moralisch erlaubt sind, andere haben die gegenteilige Intuition. Es ist leicht vorstellbar, dass in einer Gesellschaft alle Betroffenen sich der Folgen und der Reichweite der Tötung sehr wohl bewusst sind, aber dennoch verschiedene moralische Einstellungen dazu haben. Wie entscheidet der Intuitionist aber, welche der sich widersprechenden Intuitionen die richtige ist? Die einzige Lösung dieses Konfliktes scheint darin zu liegen, einer Partei vorzuwerfen, dass ihre Intuitionen falsch sind: Diejenigen, die diese Intuitionen haben, haben quasi eine getrübte Einsicht hinsichtlich der objektiv moralischen Urteile – ähnlich einem Farbenblinden, der die Farben nicht richtig erkennt oder jemandem, der Halluzinationen hat. Es sind vielleicht Wahrnehmungen von Dingen, die nicht existieren, oder man hat keine Wahrnehmungen von Dingen, die aber existieren. Doch im Gegensatz zu den Intuitionen als moralischen Wahrnehmungen können solch gestörte sinnliche Wahrnehmungen leicht aufgedeckt werden. Farbenblinde können zum Arzt gehen und sich bestätigen lassen, dass sie einen Defekt im Wahrnehmungsapparat haben, Menschen mit Halluzinationen können ihre anderen Sinne nutzen, um sich davon zu überzeugen, dass was sie für wirklich hal-

18 In der Diskussion um Abtreibung geht es hauptsächlich um die Frage, wann genau menschliches Leben beginnt. Daher kann bestritten werden, dass es sich um eine Tötung handelt. Wer z. B. der Meinung ist, das Leben beginnt erst mit der Geburt, für den ist Abtreibung keine Tötung. Jedoch kann man auch der Meinung sein, dass es sich um eine Tötung handelt, die Abtreibung dennoch moralisch erlaubt ist, da es sich z. B. nicht um eine Person handelt und man nur Personen nicht töten darf.

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Moralbegründung

ten, eine Täuschung ist. Diese Möglichkeiten fehlen bei moralischen Intuitionen. Diese können immer nur auf andere moralische Intuitionen verweisen. Der Intuitionismus kann also laut Hoerster weder erkennen, welche Handlungen objektiv moralisch geboten sind noch eine Begründung dafür liefern, wieso es überempirisch existierende moralische Tatsachen geben soll. Mit Hoersters Argumentation ist die Debatte um den Intuitionismus lange nicht erschöpft. Trotz starker Kritik halten viele Philosophen an einem moralischen Objektivismus, meist inspiriert von Kant, fest. Versionen des Intuitionismus wie Scanlons Überlegungsgleichgewicht und Parfits Versuch mit Analogieschlüssen zur Mathemathik zu zeigen, dass Intuitionen selbstevidente Wahrheiten betreffen, haben aktuell größte Popularität. Nach Stemmer gibt es zwei konkrete Intuitionen, die diese Popularität erklären könnten. Die erste Intuition rührt für Stemmer daher, dass viele Menschen sich als autonome und sich selbst bestimmende Wesen auffassen, und dass dies mit dem Subjektivismus nicht vereinbar ist. Denn ohne interessensunabhängige Gründe ist der Mensch abhängig von seinen Wünschen und kann sich nicht frei dazu entscheiden, „das Vernünftige“ zu tun – denn es ist stets ein Interesse involviert. Doch Stemmer betont immer wieder, dass es nicht darum geht, wie die Menschen sich selbst verstehen, sondern darum, wie die Welt tatsächlich ist. Es geht um die ontologische Frage und nicht um Fragen des Selbstverständnisses. Nur weil jemand will, dass etwas anders ist, als es in Wirklichkeit ist, heißt das nicht, dass es auch so ist. Im Grunde wirft Stemmer den Objektivisten vor, dass bei ihren Theorien der Wunsch Vater des Gedankens ist. Aus einer Erklärungsnot für moralische Phänomene heraus wird daher ein Objektivismus angenommen. Die zweite Intuition ist, aufgrund der Art und Weise, wie moralische Normen üblicherweise formuliert werden – nämlich kategorisch – anzunehmen, dass sie tatsächlich kategorisch und interessensunabhängig sind. Dies zeigt sich im alltäglichen Sprachgebrauch. Normativität scheint intuitiv nicht von einem Wollen oder anderen mentalen Fähigkeiten abzuhängen und sei folglich ontologisch ob-

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Moral (Kontraktualismus)

jektiv. 19 Die Ursache dafür sieht Stemmer bei Kant. Ihm wirft Stemmer vor, dass das nur eine Erfindung sei, welche selbst höchst mysteriös ist. Denn bei interessensunabhängigen moralischen Gründen ist ungeklärt, wie Normativität, Gewicht und motivationales Potential von Gründen überhaupt wirken können. Hypothetische und kategorische Imperative Kant unterscheidet zwei Arten von Imperativen, hypothetische und kategorische. Hypothetische Imperative nehmen Bezug auf die Wünsche und Interessen des Normadressaten: „Wenn ich ein guter Pianist werden will, dann muss ich Klavierspielen üben.“ Dieses Müssen gilt nicht absolut, jedoch stellt sich bei einem Anders-Handeln unausweichlich eine negative Konsequenz ein: Derjenige, der ein guter Pianist werden will, und nicht übt, dessen Wunsch wird nicht erfüllt werden. Das ist ein klassisches Beispiel für einen hypothetischen Imperativ. Kategorische Imperative hingegen haben keinen Bezug zu Wünschen und Interessen des Adressaten, z. B.: „Du darfst nicht stehlen!“. Man könnte es auch als eine Unterscheidung zwischen Klugheitsregeln und moralischen Regeln auffassen. Für Kant haben alle moralischen Urteile die kategorische Form. Dies klingt völlig plausibel, da es dem alltäglichen Gebrauch von moralischen Urteilen entspricht. In ihrem Aufsatz „Morality as a System of Hypothetical Imperatives“ 20 bezweifelt Phillipa Foot, dass moralische Urteile stets kategorisch sind. Moralische Urteile würden im alltäglichen Sprachgebrauch zwar kategorisch ausgedrückt, aber dies gelte auch für Regeln der Etikette. Die Form von moralischen Regeln und Regeln der Etikette sind strukturell analog. Jemand, der behauptet, dass ein moralisches Urteil keinen Bezug auf irgendwelche Wünsche nimmt und trotzdem einen Grund liefert, es zu befolgen, müsste ebendies auch von Regeln der Etikette behaupten. Wenn ich zu Tisch meinen Fisch mit dem Brotmesser anstelle des Fischmessers zerteile, versto19 20

Vgl. Schälike 2002, S. 140 Foot 1978a

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Moralbegründung

ße ich gegen eine Anstandsregel, die besagt, dass ich den Fisch nur mit dem Fischmesser zerteilen soll. Nun bin ich aber ein Mensch, der solche Anstandsregeln bei Tisch und eine solch bemerkenswerte Besteckvielfalt überhaupt nicht zu schätzen weiß. Es ist mir egal, mit welchem Messer ich den Fisch zerteile, solange er sich damit zerteilen lässt. Vorausgesetzt, niemand stört sich daran, dass ich meinen Fisch mit dem Brotmesser esse und mich auch sonst keine Sanktion trifft, habe ich auch keinen Grund, mich an diese Regel der Etikette zu halten. Und das, obwohl diese Norm kategorisch formuliert ist, ohne auf meine Wünsche zu rekurrieren. Anstandsregeln scheinen also vielmehr hypothetische Imperative zu sein, die im Gewand kategorischer Imperative daherkommen, da sie ohne entsprechende Wünsche des Normadressaten völlig wirkungslos bleiben. Entsprechendes müsste dann auch für moralische Normen gelten, wenn sie dieselbe Form wie Anstandsregeln haben. Es gibt zwei Möglichkeiten, mit dieser Erkenntnis umzugehen: Entweder man behauptet, dass auch Regeln der Etikette Gründe liefern können, obwohl keinerlei Wünsche im Spiel sind, der Etikette zu folgen. Oder man trennt sich von dem Gedanken, dass moralische Normen interessensunabhängig sind, weil sie kategorisch formuliert sind. Beide Normarten sind kategorisch formuliert, dennoch kann man sinnvollerweise bei beiden fragen, warum man ihnen folgen sollte. Auch wenn es viele Menschen gibt, die den Normen gehorchen, steht ihnen die Möglichkeit offen, nach dem „Warum“ zu fragen. Und wenn keine überzeugende Antwort gegeben wird, gibt es auch keinen Grund, der Norm – Moral oder Etikette – zu folgen. Somit ist es gegen den Sprachgebrauch plausibel, dass moralische Urteile lediglich hypothetischer und nicht kategorischer Natur sind. Demnach könnte der Satz: „Du musst Menschen in Not helfen!“ auch als „Wenn du willst, dass Menschen nicht Not leiden und es tatsächlich der Fall ist, dass deine Hilfe dies verhindert, dann musst du ihnen helfen!“ reformuliert werden. Trotz des scheinbaren Widerspruchs zwischen eigenen Interessen und moralischen Forderungen und der Tatsache, dass moralische Äußerungen im Gewand kategorischer Imperative erscheinen, können sie plausiblerweise als hypothetische Imperative verstanden werden. Eine interessensunab107

Moral (Kontraktualismus)

hängige Formulierung zeigt wie gesehen nicht, dass die Moral interessensunabhängig ist und stützt somit nicht die Annahme interessensunabhängiger objektiver Moralbegründung. Intuitionen bezüglich interessensunabhängiger Moralbegründung sind keine solide Grundlage für den moralischen Objektivismus. Genauso wie Erklärungen anhand von Naturrechten scheinen sie auf den ersten Blick einleuchtend, können aber letztlich nicht alle Zweifel beseitigen. Subjektivisten wie Hoerster, Stemmer und Narveson können also berechtigterweise einen moralischen Objektivismus bestreiten und interessensabhängige Moralbegründungen als Alternative vorschlagen. Auf die Frage, warum man moralische Normen akzeptieren soll, scheint eine Anwort mindestens ebenso plausibel, wenn sie auf die Interessen der Betroffenen abstellt. Auf diese Weise ist es nachvollziehbar, eine subjektivistische Auffassung der Moral zu vertreten. Bei der Beantwortung der Frage, warum man einer libertären Moral folgen sollte, kann es also sinnvoll sein, Antwortmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, die auf Interessen Bezug nehmen.

2.1.3

Subjektivistische Begründungen

Dem Einwand, libertäre Moral sei unbegründet, muss nach wie vor etwas entgegengebracht werden. Fabian Wendt analysiert drei verschiedene Typen von Moraltheorien, die seines Erachtens als libertäre Begründungen angeführt werden können: Konsequentialismus, Tugendethik und Kontraktualismus. Konsequentialismus und Tugendethik sind nicht zwangsläufig subjektivistisch, nehmen aber zumindest Bezug auf Interessen. Der Kontraktualismus ist offensichtlich subjektivistisch. Die anderen beiden Theorien können ebenfalls interessensabhängig interpretiert werden. Wendt bewertet die drei 21 Moraltheorien so: 21

Wendt erwähnt noch die libertäre Moralbegründung von Hans-Hermann Hoppe, bezeichnet diese aber als „exotisch“ und widmet ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Hoppe geht davon aus, dass eine wissenschaft-

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Moralbegründung

„Es gibt keine überzeugende Begründung des Libertarismus. Der klassisch-liberale Konsequentialismus kann keine anti-konsequentialistischen libertären Rechte generieren. Der randianische ethische Egoismus kommt nur mit unplausiblen ad-hoc-Prämissen von seiner Tugendethik zu libertären Rechten. Und der hobbesianische Kontraktualismus kann nur Klugheitsnormen 22, aber keine echten moralischen Rechte begründen.“ (Wendt 2009, S. 243)

Bezüglich der ersten beiden Theorietypen werde ich lediglich Wendts Ergebnisse präsentieren und kommentieren, da ich ihm hier weitgehend zustimme. Beim Kontraktualismus hingegen hat er meines Erachtens eine wichtige Spielart außer Acht gelassen. Deshalb lohnt es sich, diesen genauer zu betrachten. Aus der Analyse des Kontraktualismus ergibt sich nicht nur ein Ergebnis hinsichtlich der Frage nach den Gründen, sondern auch hinsichtlich des Inhalts der Moral.

liche Begründung Gewaltfreiheit voraussetzt, da ansonsten ein Diskurs nicht möglich ist. Damit sei durch die Bedingung für einen wissenschaftlichen Diskurs auch die Norm der Gewaltfreiheit begründet. Das Gewaltverbot und die sich daraus ableitende libertäre Moral, ist nach Hoppe also durch eine Art diskursethische Überlegung begründet. Aufgrund der Absurdität der Argumentation sehe ich keinen Bedarf über diese Anmerkung hinaus auf den Begründungsansatzes Hoppes einzugehen. Vgl. Hoppe 1987, S. 13, Wendt 2009, S. 186–188 22 Hierbei von einer Norm zu reden ist irreführend. Wendt hat hypothetische Imperative im Auge. Das Müssen, das in hypothetischen Imperativen ausgedrückt wird, ist üblicherweise nicht allgemein formuliert. Dies ist aber eine Besonderheit von Normen: Sie richten sich an jeden. Dass ich üben muss, um Klavier spielen zu können, ist durch die Umstände bedingt. Wenn ich nicht übe, tritt die negative Konsequenz ein, dass ich nicht Klavier spielen können werde. Da ich das aber will, wäre es unklug von mir, nicht zu üben. Jedoch betrifft dies lediglich mich. Ich bin niemandem gegenüber verpflichtet zu üben und niemand hat ein Recht darauf, es von mir einzufordern (außer ich hätte mich durch ein Versprechen o. ä. dazu verpflichtet). Daher wäre es klug von mir zu üben, aber es handelt sich beim ÜbenMüssen nicht um eine Norm.

109

Moral (Kontraktualismus)

2.1.3.1

Klassisch-liberaler Konsequentialismus

Zunächst geht Wendt auf den klassisch-liberalen Konsequentialismus ein, wie ihn Ludwig von Mises 23, Hayek 24 und Milton Friedman 25 vertreten: Danach maximiert ein freier Markt die materielle Wohlfahrt. Libertäre Freiheits- und Eigentumsrechte führen zum freien Markt und damit zur maximalen Wohlfahrt, was das höchste Ziel sei. Wenn diese Thesen überzeugend sind, wären damit libertäre Rechte konsequentialistisch 26 begründet. Wendt bezweifelt alle drei Thesen 27 und bespricht dabei ausführlich das Verhältnis von freiem Markt und Wohlfahrtssteigerung 28. Wendt ist der Meinung, dass selbst wenn diese Thesen zutreffen würden, dies nur eine instrumentelle und deshalb indirekte Begründung libertärer Rechte darstellen würde. Sobald es die Wohlfahrt für die gesamte Gesellschaft erhöhen würde, Rechte (z. B. das Freiheitsrecht des Einzelnen) zu beschneiden, ist dies nicht nur erlaubt, sondern sogar moralisch geboten. Die Rechte des Einzelnen haben aufgrund dieser indirekten Begründung keinen absoluten Status. Dieser absolute Status ist aber laut Wendt und Narveson konstitutiv für den Libertarismus: „One apparent aim of the libertarian is to provide a schedule of rights that is „hard“, so that in any given case we will always be able to 23

Mises 1927 Es ist unklar, ob Hayeks Moralbegründung überhaupt konsequentialistisch ausgelegt werden sollte. Dennoch ist es sinnvoll, Hayek hier aufzuführen, da es eine entsprechende Lesart gibt. Vgl. dazu Batthyány 2007, S. 78 ff. 25 Friedman 1980 26 Der Konsequentialismus bewertet die Güte einer Handlung nach ihren Folgen. Konsequentialistische Theorien unterscheiden sich zum einen am Gut (z. B. Glück, Nutzen, Wohlfahrt oder Lust), an dem sich die Handlungsfolgen messen lassen und zum anderen, was mit diesem Gut passieren soll (z. B. Befördern, Steigern oder Maximieren) und wer davon betroffen ist. Populärster Kandidat einer konsequentialistischen Ethik ist der Utilitarismus, dem es um die Maximierung des Nutzens aller geht. 27 1. Libertäre Rechte führen zu einem freien Markt. 2. Ein freier Markt maximiert den materiellen Wohlstand. 3. Maximaler materieller Wohlstand ist das höchste Ziel. 28 Ich halte die Argumentation Wendts für plausibel, erspare mir aber ihre Rekonstruktion, da sie für das Weitere keine Rolle spielt. 24

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Moralbegründung

identify the area of permissible action, precisely bounded by the relevant set of rights. […] That is, they are not to be founded upon considerations of the general good or general interest.“ (Narveson 1988, S. 127) „Konsequentialistische Rechte können deshalb gerade nicht ihre antikonsequentialistische Funktion erfüllen, die ja darin besteht, zu verhindern, dass manche Dinge getan werden, auch wenn dies zu besseren Konsequenzen führen würde. […] Kein Konsequentialismus kann als Rahmenphilosophie für die deontologischen Rechte der Libertären dienen.“ (Wendt 2009, S. 191)

Allerdings lässt Wendt eine Spielart des Konsequentialismus außer Acht, nämlich den strikten Regelutilitarismus. Dieser bewertet eine Handlung, die den Nutzen nicht maximiert, als moralisch richtig, wenn sie im Einklang mit einer Regel steht, deren allgemeine Befolgung den Nutzen maximieren würde. Wenn die absolute Geltung von Rechten den Nutzen maximiert, wäre eine Regel bzgl. der absoluten Geltung von Rechten legitim, welche verhindert, dass individuelle Rechte zum Wohle aller beschnitten werden können. Auf diese Weise lassen sich absolute Rechte utilitaristisch begründen. Jedoch wirkt eine solche Begründung paradox, da selbst in einem Ausnahmefall die Befolgung der Regel geboten ist, obwohl ein Regelbruch klarerweise den Nutzen steigern bzw. maximieren würde und die Maximierung des Nutzens doch das eigentliche Ziel des Konsequentialismus ist. Der Konsequentialismus taugt also durchaus als Rahmenphilosophie für die deontologischen Rechte der Libertären, man nimmt dafür aber die Annahme einer recht fragwürdigen Spielart des Utilitarismus in kauf. Zudem muss die zweifelhafte These vertreten werden, dass die libertären Normen, welche massive Ungleichverteilungen zulassen und Umverteilungen von Gütern nahezu ausschließen 29, den Gesamtnutzen maximieren. 29

Konsequentialistische Theorien tendieren meist zu einer Gleich- oder Umverteilung von Gütern, aufgrund des sinkenden Grenznutzens von nahezu allen Gütern. Umverteilungen sind aber in libertären Theorien äußerst schwer begründbar, sowohl aufgrund des starken Freiheitsrechtes jedes Einzelnen als auch bezüglich des Eigentumsrechts.

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Moral (Kontraktualismus)

Ich teile daher die Meinung Wendts, dass zumindest die von ihm angesprochenen konsequentialistischen Theorien keine plausible Antwort auf die gestellte Frage geben können. Dies gilt nicht für alle konsequentialistischen Theorien, denn theoretisch könnte ein strikter Regelutilitarismus libertäre Normen begründen. Das beinhaltet aber fragwürdige Thesen und wirkt mit seiner, wie Wendt es bezeichnet, „anti-konsequentialistischen Funktion“ unplausibel und geradezu paradox. Selbst wer akzeptiert, dass das Ziel des strikten Regelutilitarismus zwar die Maximierung von Nutzen ist, jedoch dafür Normen strikt befolgt werden müssen, auch wenn sie klarerweise den Nutzen nicht maximieren, muss eingestehen, dass damit die Begründungsleistung lediglich verschoben wird. Auf die Frage, warum ich libertäre Rechte akzeptieren sollte, zu antworten, dass es die Wohlfahrt steigert, ist zwar legitim, aber warum sollte mir das Wohl aller wichtiger sein als z. B. mein eigenes Wohl? Nur weil etwas die Wohlfahrt steigert, bedeutet dies nicht automatisch, dass es einen Grund für mich darstellt, mein Handeln danach auszurichten. Warum sollte man sein Handeln am Wohle aller orientieren? Hier fehlen Gründe, subjektivistische Gründe. Wer hier nicht auf Intuitionen oder andere objektivistische Begründungsfiguren zurückgreifen will, müsste zeigen, dass es im Interesse des Akteurs ist, sein Handeln am Wohle aller zu orientieren. Natürlich kann ich ein Interesse am Wohl aller und damit auch einen Grund haben. Genauso kann aber jemand dieses Interesse und damit auch diesen Grund nicht haben. Ihm dann vorzuwerfen, sich nicht an die utilitaristischen Normen zu halten, scheint absurd, denn er hat ja keinen Grund, sich an diese Normen zu halten. Ob sich überhaupt libertäre Normen aus dem Konsequentialismus ableiten lassen ist zweifelhaft. Im Endeffekt wird hier keine große Begründungsleistung erbracht, da es nur zu einer Verschiebung der Frage: „Warum soll ich die libertären Normen akzeptieren?“ hin zu der Frage: „Warum soll ich das Allgeimwohl zum Maßstab meiner Handlungen machen?“ kommt. Eine echte Antwort ist das nicht.

112

Moralbegründung

2.1.3.2

Ethischer Egoismus

Als nächstes bespricht Wendt den ethischen Egoismus von Ayn Rand, den sie „Objectivism“ nennt, der aber nicht mit dem moralischen Objektivismus gleichzusetzen ist. Rands Position steht in der Tradition des antiken Eudaimonismus und der Vorstellung, dass die Natur bestimmte Ziele und Zwecke vorgibt. Das Ziel des Menschen sei „eudaimonia“, das gute Leben. Um diese antike Moralvorstellung zu vertreten, bedarf es also der Annahme, dass die Natur bestimmte Ziele und Zwecke verfolgt. Wie bereits oben gezeigt ist eine solche Naturrechtsaufassung problematisch, aber das sei um des Argumentes willen geschenkt. Rand ist der Meinung, dass das eigene Überleben das Ziel jedes Lebewesens ist. Das am Leben sein ist eine Bedingung für Werte, denn wenn niemand leben würde, dann würde auch niemand existieren, für den etwas wertvoll sein kann. Aus diesem Grund ist das (Über-)Leben für Rand der höchste Wert. Sie leitet aus einer Bedingung für einen Wert ab, dass dieser bereits der höchste Wert ist. Das ist unplausibel, denn es kann durchaus Werte geben, die dem Menschen wichtiger sind als das eigene Überleben. Zudem wird nur deshalb, weil es eine Bedingung für Werte überhaupt ist, das Überleben nicht einfach automatisch selbst zu einem Wert und erst recht nicht zum höchsten Wert. Das Überleben des Menschen wird Rand zufolge durch die Tugenden der „rationality“, „pride“ und „productiveness“ gesichert. Dass es notwendig ist, rational zu handeln, um zu überleben, mag noch nachvollziehbar sein. Demgegenüber ist es nicht ersichtlich, weshalb Stolz oder Produktivität notwendige Bedingungen für das Überleben sind. Rand scheint das gute Leben mit dem bloßen Überleben zu verwechseln. Demnach wäre die Ausbildung dieser Tugenden notwendig, um ein gutes Leben zu führen. Rand meint, dass wer diese Tugenden ausbildet und sein Handeln danach ausrichtet, die eudaimonia bzw. das gute Leben erreicht. Abweichendes Verhalten ist moralisch falsch, denn der Mensch hat ja die Fähigkeit, dieses Ziel zu erkennen und darüber nachzudenken. Wendt kritisiert, dass, selbst wenn die strittigen Thesen eines solchen tugendethischen An-

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Moral (Kontraktualismus)

satzes akzeptiert würden, es keinen plausiblen Übergang von den genannten Tugenden zu libertären Normen gäbe: „Doch widerspricht ein Leben, in dem man Gewalt gegen andere anwendet, […] einem Leben, in dem die ein wesensgemäßes Leben konstituierenden Tugenden rationality, productiveness und pride verwirklicht sind? Soweit ich sehe ist in diesen Tugenden nichts impliziert, was Gewalt gegen andere Menschen ausschließen könnte.“ (Wendt 2009, S. 207)

Andere nicht zu verletzen ist eine grundlegende moralische Norm, die sich auch im Libertarismus findet. Folglich sollten die Tugenden diese Norm beinhalten. Wendt bezweifelt dies. Wendt beschreibt danach einige Versuche, die Theorie durch Modifikationen und zusätzliche Prämissen zu korrigieren. All dies überzeugt ihn jedoch nicht. Auch die indirekte konsequentialistische Begründung für den ethischen Egoismus, dass die Verfolgung der Tugenden zur maximalen Wohlfahrt führt, ist wie bereits besprochen keine Option. Es ist noch die Frage offen, warum es genau diese Tugenden sein sollten, die zum guten Leben führen und ob die Theorie des Guten selbst, welche der Tugendethik zu Grunde liegt, überhaupt plausibel ist. Lassen sich diese Probleme bewältigen, könnte man eine solche Tugendethik auch subjektivistisch interpretieren. Zu behaupten, dass das gute Leben im Interesse jedes Einzelnen ist, scheint nicht besonders abwegig. Das wäre auch eine Antwort auf die Frage, warum man sich tugendhaft verhalten soll. Denn wenn das tugendhafte Handeln zum guten Leben führt und es im Interesse jedes Einzelnen ist, ein gutes Leben zu führen, hätte auch jeder einen Grund, sich tugendhaft und damit den moralischen Normen entsprechend zu verhalten. „Die Ausbildungen der Tugenden ist für Rand also im Interesse jedes Einzelnen: Erst ihre Ausbildung ermöglicht happiness bzw. eudaimonia.“ (Wendt 2009, S. 205)

Was aber, wenn die Tugenden nicht konstitutiv, sondern lediglich instrumentell bedeutsam für das gute Leben sind? Man muss tu114

Moralbegründung

gendhaft bzw. moralisch handeln, um ein gutes Leben haben zu können. Unter einer solchen Bedingung generiert der Objectivism ein lediglich prudentielles Müssen. Damit würde Wendts Einwand gegen den Kontraktualismus, er könne nur Klugheitsnormen begründen, ebenso Rands Theorie treffen. Wendt sieht das anders und weist darauf hin, dass es beim ethischen Egoismus um die Befriedigung wesensgemäßer Interessen geht: „Frankena meint, dass der ethische Egoismus letztlich keine „Moral“ ist, da er Moral durch Klugheit ersetzt […]. Dies wäre sicher zutreffend, ginge es dem randianischen Egoismus um die Befriedigung empirischer Interessen. Da es dem randianischen Egoismus jedoch um die Befriedigung wesensgemäßer Interessen geht, ist das „empirische Ich“ durchaus mit seinen Interessen entgegenstehenden responsibilities konfrontiert.“ (Wendt 2009, S. 206)

Diese Replik ist nicht sehr überzeugend. Ob eine Unterscheidung in ein empirisches und ein wesensgemäßes Ich und damit eine Unterscheidung in empirische und wesensgemäße Interessen Sinn ergibt, ist prima facie fragwürdig. Selbst dann, wenn diese Unterscheidung getroffen werden kann, muss doch letztlich ein Grund, sich normgemäß und damit tugendhaft zu verhalten, ins Spiel kommen. Diesem Grund entspräche dann die wesensgemäße Entfaltung und die Verwirklichung des natürlichen Zwecks, was dann zur Eudaimonia, zum Glück und zum guten Leben führt. Damit wäre das von den Tugenden erzeugte Müssen bloß prudentiell. Auch Stemmer beurteilt dies so: „Eine Reihe von Moralkonzeptionen verstehen das moralische Müssen als ein bloß prudentielles Müssen, so alle eudaimonistischen Theorien, die in der Moralität eine notwendige Bedingung des Glücks, der Selbstidentität oder der Selbstachtung sehen […].“ (Stemmer 2013, S. 65)

Damit sind die Tugenden nicht konstitutiv, sondern lediglich instrumentell bedeutsam für das gute Leben. Wie auch bereits bei der Analyse der konsequentialistischen Begründung sind die zugrundeliegenden Thesen strittig. Ich schließe mich daher Wendts Urteil an: Aus dem ethischen Egoismus können keine libertären Normen ab115

Moral (Kontraktualismus)

geleitet werden. Jedoch könnte der Eudaimonismus, wie auch Rands Objectivism, wenn er subjektivistisch interpretiert würde, eine Antwort auf die Begründungsfrage geben: Die libertären Normen zu befolgen führt zum guten Leben, und das ist im Interesse Aller. Durch das egoistische Interesse gibt es einen Grund, sich tugendhaft und den moralischen Normen entsprechend zu verhalten. Wenn jedoch das Eigeninteresse der Moralbegründung zugrunde liegt, schließt sich die Frage an, inwieweit es sinnvoll ist, den Umweg über metaphysisch aufgeladene Glücksvorstellungen und Tugenden zu gehen, anstatt direkt am Eigeninteresse zu beginnen, wie es der Kontraktualismus tut. 2.1.3.3

Hobbesianischer Kontraktualismus

Bei der Begründung moralischer Normen wird normalerweise nach einer Legitimation für die mit der Norm einhergehende Freiheitsbeschränkung gefragt. Konzeptionen, die Gott, die Natur oder eine andere objektive Instanz als Legitimation nennen, zählen zu den objektivistischen Theorien und haben wie oben gezeigt mit einigen Problemen zu kämpfen. Narveson teilt die Skepsis von Hoerster und Stemmer: „Warum sollten wir denn glauben, dass jedermann ein grundsätzliches, allgemeines Freiheitsrecht habe? Antworten, die darauf hinaus laufen zu sagen, ‚wir haben es einfach‘, richten nichts gegen Leute aus, die sagen ‚wir haben es nicht!‘. Wie sollten wir hier weiterkommen? Meine Antwort war: Jetzt sollte man Gauthier lesen – und Hobbes natürlich!“ (Narveson 2003a, S. 50–51)

Damit verweist Narveson auf den Kontraktualismus. Er beantwortet die Frage nach dem „Warum“ mit dem Eigeninteresse. Obwohl der Gedanke, dass Moral auf egoistischen Interessen basiert, bis in die Antike zurückgeht, war Thomas Hobbes dennoch der Erste, der aus dem Legitimationsgedanken eines Vertrags eine Theorie zur Begründung politischer Herrschaft schuf. Dieser Gedanke wurde später für die Moralbegründung nutzbar gemacht. An dieser Stelle kritisiert Wendt, dass damit moralische Rechte nicht wirklich 116

Moralbegründung

begründet werden könnten. Deshalb ist eine genauere Betrachtung des Kontraktualismus und seiner Varianten nötig, angefangen beim politischen bis hin zum hypothetischen Kontraktualismus, um anschließend Wendts Einwand richtig beurteilen zu können. 2.1.3.4

Politischer Kontraktualismus

In der Antike entwarf Aristoteles das Bild des Menschen als zoon politikon – ein soziales und politisches Wesen, das ohne Staat nicht denkbar ist. Existenz und Eigenschaften des Staates mussten auf diese Weise nicht begründet werden, denn nach dieser Auffassung ist es einfach eine natürliche Eigenschaft des Menschen, sich auf diese Weise zusammenzuschließen. Jedoch gab es bereits bei den Sophisten und bei Epikur kritische Stimmen und erste Rückgriffe auf das Vertragsmotiv zur Begründung von Normen. Hobbes sah eine zentrale Aufgabe für die politische Philosophie in der Beantwortung der Frage, ob Menschen überhaupt einen Staat benötigen und wie politische Herrschaft begründet werden kann. Er entwickelt in seinem Werk „Leviathan“ 30 eine politische Vertragstheorie 31. Nach Hobbes ist ein Staat legitim, wenn seine Bürger ihre Interessen darin besser realisieren können als in einem staatenlosen Zustand. Aus der Vorstellung heraus, in einer Welt ohne Staat zu leben, entwickelte er die Idee des Naturzustandes 32. Der Naturzustand ist ein Gedankenexperiment, um herauszufinden, wie sich Individuen verhalten würden, wenn es keinerlei Normen gäbe. Hobbes geht davon aus, dass alle Individuen zwar unterschiedliche Interessen haben, aber zumindest das Interesse an der Selbsterhaltung allen gemein ist. Aus dem Interesse an der Selbsterhaltung lassen sich, laut Hobbes, verschiedene 30

Hobbes 1996 Die hobbesianische Theorie wird lediglich in Grundzügen dargestellt. Der politische Kontraktualismus stellt lediglich den Rahmen für einen moralischen Kontraktualismus dar. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der Kontraktualismus als politische Theorie nicht plausibel ist, besteht weiterhin die Möglichkeit, dass der moralische Kontraktualismus eine gute Erklärung für die Rechtfertigung moralischer Normen bietet. 32 Vgl. Hobbes 1996, ch. 13, p. 88 31

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Moral (Kontraktualismus)

basale Interessen ableiten, darunter einige, die sich auf Güter beziehen. Es herrscht Güterknappheit, deshalb besteht im Naturzustand eine Konkurrenzsituation, die zu Konflikten führen könnte, da die Individuen zur Sicherung ihrer egoistischen Interessen nicht vor Gewalttaten, Diebstahl und ähnlichem zurückschrecken würden. Das führt zu einem Zustand kontinuierlicher Unsicherheit. Selbst Individuen, die über genügend Güter verfügen und auf Gewalttaten verzichten können, müssen aus Gründen der Sicherung ihrer Güter und ihres Status aggressives Verhalten zur Abwehr potentieller Übergriffe erwägen. Diese aggressive Grundhaltung wird, so Hobbes, durch die Ruhmsucht einiger Individuen verstärkt, die Gewalt ausüben, um Wertschätzung zu erlangen oder zumindest von Anderen gefürchtet zu werden. Das Bedürfnis nach Grundgütern, Sicherheit und Ruhm führt zu einem Kriegszustand. Das bedeutet nicht, dass ständig gekämpft wird – es reicht, dass alle stets zu kämpfen bereit sind. Dieser Zustand verhindert ein sicheres und friedliches Zusammenleben, Fortschritt und Wohlstand; und dies, obwohl alle Akteure sich rein rational mit Bezug auf ihre Interessen verhalten. Hobbes meint, dass ein solcher Zustand aus rationalen Gründen zum Krieg jeder gegen jeden führt. Die Leben der Menschen wären oft kurz und grausam. Den einzigen Ausweg aus dieser Situation sieht Hobbes darin, dass sich alle Menschen auf ein gemeinsames Abkommen einigen. Dieser Gesellschaftsvertrag bestimmt die Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Die Lösung des Problems liegt also in der Etablierung eines Staates bzw. in der Einsetzung eines legitimen Herrschers. Eine solche Theorie zur Legitimation von Herrschaft wird als Kontraktualismus bezeichnet. Im Anschluss wurde diese Idee auch von anderen Philosophen wie Locke, Kant und Jean-Jacques Rousseau 33 weitergedacht. Mit der Aufklärung rückte die Frage nach der Legitimation politischer Herrschaft in den Vordergrund. Die Herrscher haben die Macht, bestimmte Handlungen zu erzwingen und die Zuwiderhandlung mit negativen Konsequenzen zu verknüpfen, d. h. den Handelnden zu sanktionieren. Legitim ist diese Macht dann, wenn die Herrscher auch das 33

Rousseau 1762

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Moralbegründung

Recht dazu haben. Aber woher stammt dieses Recht? Klassische Antworten auf die Frage des Ursprungs waren immer die Natur oder die Götter; jedoch genügten diese Antworten nicht mehr und es bedurfte einer neuen Theorie. Der Kontraktualismus ist eine solche Theorie, die keine metaphysische Instanz voraussetzt, um das Recht auf Herrschaft zu erklären, denn es stammt von den Beherrschten selbst. Sie legen in einem Vertrag fest, wer die Macht – und das Recht – zu herrschen besitzen soll. Auf diese Weise kommt die Begründung aus dem Interesse der Betroffenen. Die Hauptthese des politischen Kontraktualismus ist, dass der Staat legitim ist und ein Recht zur Ausübung von politischer Herrschaft besitzt. Die Bürger des Staates sind damit zum Gesetzesgehorsam verpflichtet. Das zentrale Argument besteht aus den folgenden beiden Prämissen: 1) Die Zustimmung in Form eines Vertragsschlusses begründet eine legitime moralische Pflicht zum Gehorsam, die damit nicht erpresserisch ist (denn der Urheber der Pflicht ist gleichzeitig ihr Adressat). 2) Eine Zustimmung liegt vor. Damit haben die Bürger eingewilligt, einen Staat bzw. einen Herrscher zu akzeptieren und dessen Gesetzen zu gehorchen. Diese zentrale These des politischen Kontraktualismus wird als Gesellschaftsvertrag bezeichnet. Der Gesellschaftsvertrag kann deskriptiv als Erklärung der Entstehung von Staaten Bedeutung gewinnen, er wird aber vor allem in seiner normativen Funktion, nämlich zur Beurteilung der Legitimation politischer Herrschaft genutzt. Einzig diese normative Komponente der Vertragstheorie ist im weiteren Verlauf der Untersuchung relevant, da sich der Legitimationsversuch durch Zustimmung auch auf moralische Normen anwenden lässt. Die Legitimation eines moralischen Müssens analog zu einer legitimen politischen Herrschaft zu begründen, ist die Kernidee des moralischen Kontraktualismus.

119

Moral (Kontraktualismus)

2.1.3.5

Moralischer Kontraktualismus

Die politische Vertragstheorie und ihre zentrale Idee des Gesellschaftsvertrages liefert, wie gesehen, eine Theorie der Legitimation von Herrschaft. Diese Grundidee wird vom moralischen Kontraktualismus aufgegriffen und lässt sich hierbei in die folgenden zwei Traditionen einteilen: Der Kant folgende Kontraktualismus, der bereits moralische Grundannahmen beinhaltet, und der Hobbes folgende subjektivistische Kontraktualismus, der egoistische Interessen voraussetzt. Ersterer wird im Englischen oft als „Contractualism“ bezeichnet, letzterer als „Contractarianism“. „There are two strands of contract theory, a Hobbesian strand, exemplified by Gauthier, and a Kantian strand, exemplified by Rawls and Scanlon. Some call the Hobbesian view contractarianism and the Kantian view contractualism. […] Contractarianism tries to derive morality from non-moral beginnings. Contractualism rejects this project in favour of developing a robust morality from minimal moral precepts.“ (Murray 2007, S. 151–152) „Contractarianism, which stems from the Hobbesian line of social contract thought, holds that persons are primarily self-interested, and that a rational assessment of the best strategy for attaining the maximization of their self-interest will lead them to act morally (where the moral norms are determined by the maximization of joint interest) and to consent to governmental authority. […] Contractualism, which stems from the Kantian line of social contract thought, holds that rationality requires that we respect persons, which in turn requires that moral principles be such that they can be justified to each person. Thus, individuals are not taken to be motivated by selfinterest but rather by a commitment to publicly justify the standards of morality to which each will be held. Where Gauthier, Narveson, or economist James Buchanan are the paradigm Hobbesian contractarians, Rawls or Thomas Scanlon would be the paradigm Kantian contractualists.“ (Cudd 2013)

Für die libertäre Moralbegründung ist vor allem die hobbesianische Ausprägung des Kontraktualismus relevant.

120

Moralbegründung

„In promoting a contractarian turn in political philosophy we are filling a gap in the moral defence of liberal civilization as we find it in Hayek’s work.“ (Gray 1998, S. 145)

Im deutschen Sprachraum wird diese Unterscheidung meist nicht begrifflich expliziert und stets von „Kontraktualismus“ gesprochen. Peter Rinderle bildet hierbei weitestgehend eine Ausnahme und verwendet den Begriff „Kontraktarianismus“ 34 für den hobbesianischen Kontraktualismus. Da sich dieser (noch) nicht etabliert hat und ich ausschließlich die hobbesianischen Vertragstheorien behandle, werde ich, anstatt von „contractarianism“ oder „Kontraktarianismus“ zu sprechen, einfach den Begriff „Kontraktualismus“ verwenden. Gemeint ist damit immer eine moralische, subjektivistische Vertragstheorie nach Hobbes, die keinerlei objektivistische oder metaphysische Annahmen voraussetzt. Zur Begründung von Normen kann das gleiche Gedankenexperiment wie zur Begründung der Herrschaft herangezogen werden. Ausgehend von einem hobbesianischen Naturzustand kann eine Gemeinschaft gedacht werden, in der es keine Moral und keine Normen gibt. Diese Gemeinschaft sieht sich mit den Problemen des Naturzustandes konfrontiert. Um diese Probleme zu lösen, will sie sich Normen geben. Jeder will also, dass die Freiheit des anderen beschränkt wird und bietet dafür eigene Freiheitsbeschränkungen an. Damit lässt sich die Grundidee der Vertragstheorie, die eigene Freiheit zu beschränken, um im Gegenzug durch Gesetze und Regeln mehr Sicherheit zu erlangen, auch auf die Moral übertragen. Jetzt fordert nicht etwa ein Herrscher, sondern die Gemeinschaft, dass sich alle so oder so verhalten. Die Freiheit des Einzelnen wird auf diese Weise eingeschränkt: Einige Handlungsoptionen fallen weg. Somit schließt auch hier in gewisser Hinsicht jeder mit jedem einen Vertrag ab. Die Normen stellen zwar ungewollte Freiheitsbeschränkungen dar, liegen aber im Interesse jedes Einzelnen und sind daher letztendlich gewollt. Es ist ein vorteilhafter Tausch: Durch den Verzicht auf einige bestimmte Handlungsalternativen erhält jeder ein großes Maß an Sicherheit. 34

Rinderle 2012, S. 181

121

Moral (Kontraktualismus)

Auf den ersten Blick klingt der moralische Kontraktualismus nach einer sehr attraktiven Theorie. Zum einen benötigt er keine metaphysischen Annahmen, denn er muss keinen Gott, moralische Tatsachen oder Naturrechte annehmen, um die Normen zu begründen. Er ist eine vom Menschen erschaffene Moral. Die bereits beim politischen Kontraktualismus genannten Hauptthesen 1) und 2) lassen sich modifizieren und auch auf die Moral anwenden: 1*) Die Zustimmung in Form eines Vertragsschlusses begründet legitime moralische Pflichten, die damit nicht erpresserisch sind (denn der Urheber der Pflicht ist gleichzeitig ihr Adressat). 2*) Eine Zustimmung liegt vor und damit haben die Mitglieder einer Gemeinschaft eingewilligt, die Moral zu akzeptieren und den Normen zu folgen. Die Legitimität der moralischen Pflichten speist sich aus der Zustimmung zum Vertrag. Dieser bietet gleichzeitig eine klar strukturierte Konzeption von Normativität in Form eines selbstauferlegten wollensrelativen Müssens. Genau dieser Vertragsgedanke, welcher die kontraktualistische Moral so klar und einfach macht, bietet auch eine große Angriffsfläche für Kritiker. Gegen beide Prämissen 1*) und 2*) lassen sich leicht Einwände formulieren. Der ersten Prämisse kann entgegnet werden, dass ein Vertragsschluss vormoralisch unmöglich sei, da es keine Pflicht gebe, Verträge einzuhalten. Diese Pflicht müsste zuvor vertraglich festgelegt werden. Wie aber könnte man sich sicher sein, dass sich alle an diese Zusage halten? Der Vorgang müsste unendlich oft wiederholt werden, d. h. es käme zu einem infiniten Regress. Im vormoralischen Zustand könne es also keine Verträge geben. Gegen Prämisse 2*) spricht schlicht und ergreifend der Umstand, dass es eine solche Zustimmung aller Mitglieder der Gemeinschaft strenggenommen nie gab. Der Gesellschaftsvertrag wurde also nie beschlossen, warum also sollte er gelten? Beide Einwände zielen darauf ab, dass Verträge nicht der Ursprung moralischer Verpflichtungen sein können. Der erste Einwand lässt sich dadurch entkräften, dass der Vertragsgedanke ersetzt wird durch die Etablierung einer Sanktionspra122

Moralbegründung

xis. 35 So einigen sich die Bewohner des Naturzustandes nicht auf einen Vertrag, sondern auf bestimmte Normen, bei deren Nichteinhaltung die Gemeinschaft Sanktionen erlässt. Die Sanktionspraxis benötigt keinen vormoralischen Rahmen, denn alle autorisieren 36 sich gegenseitig, einen Normenverstoß zu sanktionieren. Auf diese Weise entstehen Normen jenseits eines Vertrags und die Kritik geht ins Leere. Die modifizierte erste These könnte dann wie folgt lauten: 1**) Die Zustimmung zu einer Norm und die damit wechselseitige Autorisierung einer Sanktionspraxis begründet legitime moralische Pflichten, die damit nicht erpresserisch sind (denn der Urheber der Pflicht ist gleichzeitig ihr Adressat). Der zweite Einwand, dass es keine faktische Zustimmung zu einem Vertrag gegeben hat, betrifft aber auch die modifizierte These. Eine tatsächliche wechselseitige Autorisierung und damit eine gemeinsam geschaffene Sanktionspraxis hat es ebensowenig gegeben. Die These der wechselseitigen Autorisierung muss also weiterentwickelt werden. Dies wird vom hypothetischen Kontraktualismus beansprucht. Der wohl bekannteste Vertreter eines moralischen hypothetischen Kontraktualismus ist David Gauthier 37. Seine spieltheoreti35

Vgl. Stemmer 2013, S. 6 ff. An dieser Stelle kann eingewendet werden, dass „Autorisierung“ ein normativer Begriff ist und analog zu einem Vertragsschluss einen normativen Rahmen benötigt, der ebenfalls noch nicht geschaffen ist. Mit „Autorisierung“ ist aber in diesem Fall kein normativ anspruchsvolles Konzept gemeint, dass Rechte o. ä. voraussetzt. Es geht darum, dass sich alle Mitglieder damit einverstanden erklären, dass die anderen sie sanktionieren, wenn sie sich nicht an die vereinbarte Norm halten. James Buchanan erläutert dies anhand eines Roboterbeispiels, bei dem ein Roboter von allen Mitgliedern programmiert wird, einen Normbruch zu sanktionieren. Die Programmierung des Roboters setzt keinerlei normativen Rahmen voraus, dennoch wird eine Sanktionspraxis geschaffen und damit eine verpflichtende Norm etabliert. Der Vertragsschluss und ein bereits existierender normativer Rahmen sind nicht notwendig. Vgl. Buchanan 1993, S. 94 f., 131 f. 37 Gauthier 1986 36

123

Moral (Kontraktualismus)

sche Version des Kontraktualismus ist aber mit verschiedenen Problemen konfrontiert. Kritik kam aus der Spieltheorie, aber auch aus anderen Bereichen. Wendts Einwand, dass der Kontraktualismus lediglich ein bloß prudentielles Müssen beinhalten kann, betrifft vor allem Rational-Choice-Theorien 38 zu denen Gauthiers Theorie gehört. Aus diesem Grund beleuchte ich im Folgenden einen leicht anders gelagerten moralphilosophischen Kontraktualismus hobbesianischer Prägung, nämlich Peter Stemmers moralischen Kontraktualismus. Seine Theorie entwickelt Stemmer in „Handeln zugunsten anderer“ und „Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot“. Er verzichtet auf einen spieltheoretischen Ansatz. Trotzdem sieht er sich aber mit dem Einwand konfrontiert, dass es faktisch nie eine wechselseitige Autorisierung für ein gemeinsam geschaffenes Sanktionssystem gab. Stemmer bietet folgende Lösung für diesen Einwand an: „Die Grundidee des hypothetischen Kontraktualismus besagt, dass eine moralische Norm dann legitim und verpflichtend ist, wenn sie so beschaffen ist, dass sich ganz gleichgültig wie sie faktisch entstanden ist, denken lässt, dass sie aus einem Vertrag – oder auf andere, nicht-vertragliche Weise aus den Interessen der Betroffenen – hervorgegangen ist. Wenn sich denken lässt, dass die Personen, die von einer Norm betroffen sind, in einem noch vormoralischen Zustand im Blick auf ihre Interessen und rational überlegend diese Norm schaffen, ist die Norm verpflichtend und die entsprechende Forderung legitim.“ (Stemmer 2013, S. 12–13)

Die weitere Modifikation ist, dass sich die Legitimation der Norm nicht mehr aus einer tatsächlich stattgefundenen wechselseitigen Autorisierung ableitet. Allein die Tatsache, dass sich eine Person hypothetisch rationalerweise mit anderen auf die Norm und eine bestimmte Sanktionspraxis geeinigt hätte, verleiht ihr Legitimität. Der Naturzustand ist hier bloß ein Gedankenexperiment. Sobald sich 38

Ich werde hier nicht genauer erläutern, wie die Rational-Choice-Überlegungen laufen und in welchen Fällen sie nicht zu den gewünschten Normen führen. Genaueres hierzu in Stemmer 2013, S. 65, Stemmer 2000, S. 94 ff. und Iturrizaga 2007, S. 155 ff.

124

Moralbegründung

denken lässt, dass in diesem Zustand eine Norm erlassen würde, die, bezogen auf die Interessen der Person, rational ist, ist diese Norm verpflichtend. Die faktische Zustimmung zu einem Vertrag oder einer Vereinbarung ist auf diese Weise keine Bedingung mehr für die Gültigkeit der Norm. Hier liegt aber bereits ein neuer Einwand nahe: Wie kann ein hypothetischer Vertrag dann echte Pflichten und Rechte generieren? Entstehen so nicht einfach bloß hypothetische Pflichten und damit bloß Klugheitsregeln? Aber auch dieser Einwand läuft ins Leere, denn die Legitimation stammt nicht zwingend aus dem Vertrag. Es reicht aus, dass sich denken lässt, die Normen entstammen einem tatsächlichen oder hypothetischen Vertrag. Ein Vertragsschluss zwischen allen Personen ist unmöglich und es gab ihn auch nie. Es ist ausreichend, wenn eine bestimmte Interessenkonfiguration vorhanden ist, die der Interessenkonfiguration, auf der ein Vertrag basieren würde, entspricht. Eben diese Interessenskonfiguration der betroffenen Personen gibt laut Stemmer der Norm ihren verpflichtenden Charakter und ihre Legitimität. Folgende beiden Elemente muss die Interessenkonfiguration aufweisen, um Normen zu legitimieren: – Wechselseitige, jeweils an die Anderen gerichteten Interessen. – Diese Interessen zu erfüllen ist wichtiger als die Möglichkeit zu haben, gegen das Interesse des anderen zu handeln. Am einfachsten lässt sich eine solche Interessenkonfiguration am Beispiel einer Zwei-Personen-Welt erläutern: Zwei Personen haben jeweils ein Interesse. (A)s Interesse an (x). (B)s Interesse an (x). Ein einfaches Interesse reicht nicht aus, um eine Norm zu etablieren, es muss wechselseitig an den anderen gerichtet sein: (A)s Interesse, dass (B) ihm (x) nicht nimmt bzw. ihm (x) ermöglicht. (B)s Interesse, dass (A) ihm (x) nicht nimmt bzw. ihm (x) ermöglicht. 125

Moral (Kontraktualismus)

Das wechselseitige Interesse reicht immer noch nicht aus, es muss eine bestimmte Interessenskonfiguration vorliegen: (A) muss es wichtiger sein, (x) zu behalten bzw. es zu bekommen, als die Möglichkeit, (B) (x) zu nehmen bzw. es unterlassen zu können, (B) (x) zu ermöglichen. (B) muss es wichtiger sein, (x) zu behalten bzw. es zu bekommen, als die Möglichkeit, (A) (x) zu nehmen bzw. es unterlassen zu können, (A) (x) zu ermöglichen. Jetzt muss noch eine Sanktionspraxis bezüglich einer Zuwiderhandlung des Erhalts bzw. der Ermöglichung von (x) etabliert werden. Sobald all diese Bedingungen erfüllt sind, ist die Norm, (x) zu unterlassen (Verbot) bzw. (x) zu ermöglichen (Gebot), moralisch verpflichtend und legitimiert. Beispielsweise könnten zwei Personen (A) und (B) jeweils das Interesse haben, vom anderen nicht verletzt zu werden. (A) ist es wichtiger, von (B) nicht verletzt zu werden, als die Möglichkeit zu haben, (B) verletzen zu können. (B) ist (A) gegenüber in derselben Weise eingestellt. Alle Elemente der Interessenkonfiguration sind gegeben. Sobald eine Verletzung durch (A) oder (B) mittels einer Sanktionspraxis künstlich mit negativen Folgen verknüpft wird, wäre die Norm, welche besagt, dass (A) und (B) sich gegenseitig nicht verletzen dürfen, legitimiert und moralisch verpflichtend. Der hypothetische Kontraktualismus kann also erklären, wie Normen legitimiert werden und moralische Regeln entstehen. Der hypothetische Kontrakt verdeutlicht bloß die Interessenlage der Akteure. Es ist weder ein konkreter Vertrag notwendig, noch ist es wichtig, wie die Norm entstanden ist. Wenn (A) (B) verletzt, obwohl die beschriebene Interessenskonfiguration vorliegt, handelt er unmoralisch. (A) würde eine moralische Norm verletzen, auch wenn er diese Norm faktisch ablehnt. Stemmer spricht davon, dass es sich hierbei um eine „Seins-, nicht um eine Handlungslegitimität“ 39 handelt.

39

Stemmer 2013, S. 14

126

Moralbegründung

Die Norm entspricht aber nicht nur hypothetisch jeweils dem Interesse der Akteure und ist für sie von Vorteil. Damit ist es für die Akteure rational, der Norm zuzustimmen. Sie haben also faktisch einen Grund, der Norm zuzustimmen, auch wenn eine faktische Zustimmung zur Norm nicht gegeben ist. Für den zweiten Einwand ließe sich die zweite These wie folgt modifizieren: 2**) Eine hypothetische Zustimmung liegt aufgrund der Interessenlage der Akteure vor. Bezogen auf ihre Interessen ist es für sie rational (und damit besitzen sie faktisch einen Grund) der Moral zu folgen. Damit können beide Einwände gegen den Kontraktualismus entkräftet werden. Hier ist erneut eine Übersicht über die Thesen und Modifizierungen: 1) Die Zustimmung in Form eines Vertragsschlusses begründet eine legitime moralische Pflicht zum Gehorsam, die damit nicht erpresserisch ist (denn der Urheber der Pflicht ist gleichzeitig ihr Adressat). 2) Eine Zustimmung liegt vor und damit haben die Bürger versprochen, einen Staat bzw. einen Herrscher zu akzeptieren und dessen Gesetzen zu gehorchen. 1*) Die Zustimmung in Form eines Vertragsschlusses begründet legitime moralische Pflichten, die damit nicht erpresserisch sind (denn der Urheber der Pflicht ist gleichzeitig ihr Adressat). 2*) Eine Zustimmung liegt vor und damit haben die Mitglieder einer Gemeinschaft eingewilligt, die Moral zu akzeptieren und den Normen zu folgen. 1**) Die Zustimmung in Form einer wechselseitigen Autorisierung einer Sanktionspraxis begründet legitime moralische Pflichten, die damit nicht erpresserisch sind (denn der Urheber der Pflicht ist gleichzeitig ihr Adressat). 127

Moral (Kontraktualismus)

2**) Eine hypothetische Zustimmung liegt aufgrund der Interessenlage der Akteure vor. Bezogen auf ihre Interessen ist es für sie rational, (und damit besitzen sie faktisch einen Grund,) der Moral zu folgen. Trotzdem bleiben die wesentlichen Elemente des ursprünglichen Kontraktualismus erhalten. Die Wechselseitige Freiheitsbeschränkung durch die Etablierung von Normen liegt im Interesse aller und ist zu jedermanns Vorteil. Die Interessenkonfiguration entspricht also der eines Vertrages, der hypothetische Kontraktualismus kommt nun aber ohne irgendeinen Vertrag aus. Ebenso ist eine faktische Zustimmung des Akteurs nicht mehr erforderlich, allein die Tatsache, dass er ein Interesse dieser oder jener Art hat, gibt ihm einen Grund, die Moral zu akzeptieren. Mit dem Kontraktualismus wäre so eine subjektivistische Moralbegründung gefunden. An dieser Stelle setzt Wendt mit seiner Kritik an, dass es sich bei den hier begründeten Normen nicht um moralische, sondern nur um Klugheitsnormen handelt. Da lediglich das Eigeninteresse ausschlaggebend ist, wäre bloß ein prudentielles, aber kein moralisches Müssen gegeben. Wer gegen ein rein prudentielles Müssen handelt, handelt einfach irrational, missachtet aber keine Rechte oder Pflichten. Die Rede von Forderungen, Rechten und Pflichten, welche alle konstitutiv für eine Moral sind, ergeben in einem System bloß prudentiellen Müssens keinen Sinn. Stemmer, gegen den sich der Einwand richtet, sieht das ebenso: „Die Idee der Pflicht ist für das, was wir „Moral“ nennen, konstitutiv. Moralische Normen sind, so unsere Überzeugung, verpflichtend. Hätten sie diesen Verpflichtungscharakter nicht, wären sie keine moralischen Normen.“ (Stemmer 2013, S. 21)

Der moralische Kontraktualismus muss einen Pflichtbegriff etablieren können und kann sich dabei nur auf Interessen und nicht auf nichtempirische Entitäten berufen. Abschließend kann unter Vorbehalt eine positive Antwort auf die Frage nach einer interessensabhängigen Moralbegründung gegeben 128

Stemmers Normativitätstheorie

werden. Wendt behält zwar Recht bei seiner Beurteilung des Konsequentialismus und Rands Objectivism, aber der Kontraktualismus ist immer noch ein potentieller Kandidat für die Begründung libertärer Normen. Der Kontraktualismus kann die Frage, warum man moralische Normen akzeptieren sollte, mit Bezug auf die Interessen beantworten. Doch dies kann nur gewährleistet werden, wenn es die Möglichkeit gibt, im Rahmen einer interessensbasierten Theorie von Pflichten zu sprechen. Wenn dies möglich ist, kann in einem zweiten Schritt geprüft werden, ob die moralischen Normen, die aus einem so beschaffenen Kontraktualismus abgeleitet werden können, auch den libertären Normen entsprechen. Falls dies gelingt, kann der Kontraktualismus als Begründung libertärer Normen dienen. In seinem Buch „Normativität“ präsentiert Stemmer eine Theorie praktischer Gründe, die den Anspruch hat, mehr als bloß prudentielle Müssen generieren zu können und damit „echte“ moralische Rechte und Pflichten zu begründen, obwohl diese nur auf egoistischen Interessen beruhen. Ob die Theorie der Normativität und der Kontraktualismus Stemmers diesem Anspruch gerecht werden können, wird im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein.

2.2

Stemmers Normativitätstheorie

Wendts Einwand – der Kontraktualismus könne keine echten moralischen Normen und Rechte bzw. Pflichten begründen – kann zurückgewiesen werden, sofern es möglich ist zu zeigen, dass der Kontraktualismus Normen begründen kann, die über ein bloßes prudentielles Müssen 40 hinausgehen. Peter Stemmer entwickelt eine kontraktualistische Moral, die genau dies leisten soll. Um zu verstehen, wie die Begründung von echten Pflichten durch den Kontraktualismus erfolgen kann, ist es zuerst wichtig, nachzuvollziehen, wie Stemmer das Phänomen der Normativität erklärt. Seine Theorie 40

An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass der verpflichtende Charakter des Müssens das ist, was über das prudentielle Müssen hinaus geht. Das verpflichtende Müssen ist immer noch prudentiell.

129

Moral (Kontraktualismus)

über Gründe und das Müssen legt er in seinem Buch „Normativität“ vor. Es bildet die Grundlage für seine kontraktualistische Moral. Der Kern seiner Theorie ist, dass ein praktischer Grund durch das Zusammenkommen eines Müssens der notwendigen Bedingung und eines Wollens entsteht. Diese Bausteine konstituieren Normativität. Damit ist jedes normative Müssen ein bedingtes Müssen und in diesem Sinne prudentiell. Jedoch sieht Stemmer einen Unterschied zwischen dem bloß prudentiellen Müssen und dem verpflichtenden prudentiellen Müssen. Moral besteht für ihn aus verpflichtenden prudentiellen Müssen. Dieser reduktionistische Ansatz wirkt sehr simpel, birgt aber eine Fülle von Implikationen und zieht viele Probleme und Einwände auf sich. Ein Großteil der Einwände kommen von objektivistischer Seite und tangieren Stemmers Ansatz nicht, wenn die subjektivistischen Grundannahmen geteilt werden. Diese Einwände können außen vor gelassen werden. Aber selbst wenn die Auffassung geteilt wird, dass Moral ein subjektivistisches interessenbasiertes Phänomen ist, muss Stemmer erklären können, wie die moralischen Normen ihren verpflichtenden Charakter bekommen. Was also versteht Stemmer unter Rationalität, praktischen Gründen und dem Müssen?

2.2.1

Das Müssen

Die Moral als interessenabhängiges Phänomen zu beschreiben ist so kontraintuitiv wie Stemmers Behauptung, dass das Kernphänomen der Normativität nicht das „Sollen“ sondern das „Müssen“ ist. Dabei sind Gebote, die ein Sollen beinhalten, wie z. B. das fünfte der Zehn Gebote („Du sollst nicht töten!“), paradigmatische Beispiele für moralische Normen und damit für Normativität. Dem zum Trotz ist Stemmer der Meinung, dass ein „Sollen“ lediglich das Wollen eines Anderen zum Ausdruck bringt: „Wenn a x tun soll, impliziert das, dass jemand will, dass a x tut.“ (Stemmer 2008, S. 46)

130

Stemmers Normativitätstheorie

Wenn die große Schwester zum Brüderlein sagt: „Du sollst dein Zimmer aufräumen.“ wird damit z. B. der Wille der Mutter zum Ausdruck gebracht. Auch wenn nicht gesagt wird, wer etwas will, weist das Sollen klarerweise auf das Wollen einer anderen Person hin. Das Wollen der anderen Person kann den Adressaten zu einer Handlung bewegen, aber auch schlicht kalt lassen. Es kann sein, dass durch das Wollen des anderen kein Handlungsdruck 41 für ihn entsteht. Das Sollen kann also nicht allein die Normativität ausmachen. Es kann zwar sein, dass das Wollen eines Anderen für jemanden verbindlich ist und dass derjenige auch so handeln muss, aber nur dann, wenn noch etwas hinzukommt. So kann es sein, dass das Wollen der Mutter für den Sohn zwingend ist, aber eben nur, weil er nicht den Zorn der Mutter auf sich ziehen will. Das bedeutet also, dass der Handlungsdruck und damit die Normativität nicht vom Wollen (sprich dem Sollen) der Mutter stammt, sondern vom Wollen des Sohnes. Der Sohn will nicht, dass die Mutter zornig ist, und um den Zorn der Mutter nicht zu wecken, muss er sein Zimmer aufräumen. Das als Paradebeispiel genannte Tötungsgebot drückt damit auch nur den Willen einer anderen Person (hier: Gott) aus. Gott (G) will, dass sich die Menschen (M) nicht gegenseitig töten (x). Aus „(G) will (x)“ folgt per se noch nichts für (M). Ein normativer Druck kommt erst zustande, wenn z. B. (M) eine Strafe Gottes (s) zu befürchten hat und (s) von (M) nicht gewollt wird. (M) will (s) vermeiden und muss dafür (x) tun. Erst dieses Müssen mit Bezug auf das Wollen erklärt die Normativität. Das Phänomen des Sollens reicht dafür nicht aus. Für Stemmer ist klarerweise das Müssen der geeignete Kandidat für diese Aufgabe. 2.2.1.1

Normatives Müssen

Mit der Festlegung auf das Müssen entstehen neue Probleme, die sich aus den Eigenschaften des Müssens ergeben. Um diese zu klä41

Stemmer ist der Meinung, dass Normativität mit Handlungsdruck einhergeht. Ich komme noch darauf zurück.

131

Moral (Kontraktualismus)

ren, unterscheidet Stemmer drei Haupttypen des Müssens: Das naturgesetzliche, das logische und das normative Müssen. Das naturgesetzliche Müssen existiert unabhängig von einem Betrachter und ist deshalb ontologisch objektiv. Ein Müssen, das durch Naturgesetze bedingt ist und nicht umgangen werden kann, ist determinierend. Es ist unumgänglich, dass die Temperatur über 0 Grad steigen muss, damit der Schnee schmilzt, solange die Naturgesetze gelten und sich nicht ändern, gleichgültig wie ein Subjekt dazu steht oder was es tut. Das logische Müssen ist ebenso determinierend. Der folgende Satz: „Wenn Sokrates ein Mensch ist und alle Menschen sterblich sind, ist Sokrates sterblich.“ enthält ein solches logisches Müssen. Wenn die Prämissen wahr sind, muss es so sein, dass Sokrates sterblich ist, da es logisch unmöglich ist, dass es nicht so ist. Das normative Müssen unterscheidet sich vom logischen und naturgesetzlichen dadurch, dass es diese Unausweichlichkeit scheinbar nicht besitzt. Ein Beispiel für ein normatives Müssen wäre: „Bernd will einen Marathon laufen. Bernd kann mit seiner körperlichen Verfassung im Moment aber keinen Marathon laufen. Damit dieser Wunsch erfüllt werden kann, muss er trainieren.“ Bei diesem Müssen gibt es eine Alternative. Bernd kann sich anders als „gemusst“ verhalten. Er kann auch einfach nicht trainieren. Der Gegenstand des normativen Müssens ist eine Handlung und es ist nicht determinierend. Es ist damit ein nicht determinierendes Müssen im Unterschied zum naturgesetzlichen und zum logischen Müssen. Damit ergibt sich eine Schwierigkeit, die Stemmer als das Paradox des normativen Müssens bezeichnet: „Die Handlung x tun zu müssen, bedeutet, dass es notwendig ist, sie zu tun, dass es also unmöglich ist, sie nicht zu tun. Wenn man x tun muss, dann ist es unausweichlich, x zu tun. Nun weiß aber jeder, dass man, wenn man bei „rot“ anhalten muss, durchaus durchfahren kann. Man muss anhalten, das heißt, man kann nicht anders als anzuhalten, und doch kann man ganz offensichtlich anders.“ (Stemmer 2008, S. 7)

Es scheint so, dass es gleichzeitig möglich und unmöglich ist, anders als gemusst zu handeln. Die Lösung des scheinbaren Problems liegt 132

Stemmers Normativitätstheorie

in der Beschaffenheit des normativen Müssens. Ein praktisches Müssen existiert nur, wenn ein bestimmtes Wollen vorausgesetzt wird. Nur wenn Bernd den Marathon laufen will, muss er auch trainieren. Zudem beinhaltet dieses Müssen scheinbar einen Handlungsdruck. Wenn Bernd den Marathon laufen will, besteht für ihn ein Druck, er ist motiviert, zu trainieren. Er muss es tun, weil er sonst nicht in der Lage ist, den Marathon zu laufen. Das Nicht-Anders-Können ist das Müssen, welches aber nicht determinierend ist. Bernd kann nicht anders als zu trainieren, um sein Ziel, den Marathon laufen zu können, zu erreichen. Er hat aber dennoch die Möglichkeit, nicht zu trainieren. Diese Handlungsalternative steht ihm prinzipiell offen. Stemmer nennt dies das „Müssen der notwendigen Bedingung“. Ein Müssen der notwendigen Bedingung ist unausweichlich, um das damit verbundene Wollen zu realisieren, aber es ist zugleich nicht determinierend, denn die alternative Handlungsmöglichkeit ist prinzipiell offen. Wenn man (x) tun muss, um (y) zu erreichen, ist es also unmöglich, (x) nicht zu tun und trotzdem (y) zu erreichen. In diesem Sinne ist das Müssen notwendig und unausweichlich, dennoch ist damit noch nicht determiniert, dass (x) getan wird. Wer mit dem Auto an eine rote Ampel fährt, muss anhalten. Das Anhalten ist aber nicht determiniert: Man ist natürlich in der Lage, weiterzufahren, aber nicht ohne die Verkehrsregeln zu missachten. Wer also die Verkehrsregeln achten will, muss unausweichlich an der roten Ampel stehen bleiben. Diese Unausweichlichkeit ist ausreichend für das Phänomen der Normativität. Eine Lösung des scheinbaren Problems ist damit gegeben und das Hauptargument, warum ein Müssen das Phänomen der Normativität nicht erklären kann, entkräftet. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Stemmer annimmt, dass Normativität ein von Menschen und deren mentalen Zuständen abhängiges ontologisch subjektives Phänomen ist. Und es geht beim Phänomen der Normativität nicht um ein Sollen, sondern um ein Müssen. Um genauer zu sein: es geht um das normative Müssen. Dieses praktische Müssen bezieht sich auf Handlungen und hat wie andere Formen des Müssens die Eigenschaft der Unausweichlichkeit, aber gleichzeitig kann dennoch anders als gemusst gehandelt werden. 133

Moral (Kontraktualismus)

2.2.2

Praktische Gründe

Stemmer ist dazu der Meinung, dass Normativität nur mit Gründen erklärt werden kann. Stemmer definiert einen Grund wie folgt: „Ein Grund ist etwas, was dafür spricht, etwas zu tun.“ (Stemmer 2013, S. 139)

Gründe zwingen und nötigen zu bestimmten Handlungen; sie schaffen oder bedeuten die Notwendigkeit, etwas zu tun. Mit ihnen ist geht ein normatives Müssen einher. „[…] Gründe sagen uns, dass wir etwas tun müssen. Wenn man davon ausgeht […], dass Normen nur eine bestimmte Sorte von Gründen sind, kann man sagen, dass Normativität eine Eigenschaft von Gründen ist. Und dass sie darin besteht, dass Gründe uns sagen, dass wir etwas tun müssen.“ (Stemmer 2013, S. 128)

Um zu erklären, was es heißt, dass Gründe für etwas sprechen und einen dazu nötigen, etwas zu tun, muss von einer Theorie über Gründe geleistet werden. Dafür müssen laut Stemmer drei Eigenschaften von Gründen erklärt werden: Ihre Normativität, ihr motivationales Potential und ihr Gewicht. 2.2.2.1

Normativität

Stemmer ist der Auffassung, dass sich ein Grund aus der Kombination von zwei nicht-normativen Elementen zusammensetzt: Dem Müssen der notwendigen Bedingung und dem Wollen. Wenn beide kombiniert werden entsteht ein komplexer Sachverhalt, der normativ ist und einen Grund konstituiert. Das Müssen der notwendigen Bedingung ist dabei das zwingende Element und das Wollen das subjektive Element, das motivierend wirkt. Der Handlungsdruck entsteht durch das Zusammenkommen der Elemente. Stemmers Beispiel für das Müssen der notwendigen Bedingung ist die Geburt eines Löwenjungen. Wenn ein Löwenjunges geboren wird, ist es notwendig, dass zuvor eine Eizelle der Löwin und eine Samenzelle des Löwen durch die Begattung zusammenkommen

134

Stemmers Normativitätstheorie

mussten. Dieses Müssen ist ontologisch objektiv, da es unabhängig von irgendwelchen Bewertungen schlicht aus Naturgesetzen resultiert. Gleiches gilt auch für menschliche Handlungen, bei denen notwendige Bedingungen im Spiel sind. Um in der Lage zu sein, einen Marathon zu laufen, muss Bernd trainieren. Dieses Müssen ergibt sich aus der biologischen Verfassung seines Körpers und der Herausforderung der Strecke. Hierbei ist wichtig, dass dieses Müssen allein noch nicht normativ ist, sondern lediglich eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass bestimmte Dinge oder Handlungen zustande kommen können. Man muss das eine tun, um das andere tun zu können. Dass Bernd für den Marathon trainieren muss, ist eine biologische Tatsache, die unabhängig ist von irgendwelchen Bewertungen oder sonstigen mentalen Einstellungen von Menschen, also ontologisch objektiv ist, genau wie die Bedingungen für das Entstehen eines Löwenbabys. Das Müssen der notwendigen Bedingung kann aber auch ontologisch subjektiv sein, denn es kann auch u. a. aus konventionellen Gegebenheiten (wie z. B. dem Arm heben, um mit „Ja“ zu stimmen) resultieren. Ein solches institutionelles Müssen ist nicht durch die Natur gegeben, sondern ist vom Menschen geschaffen und abhängig von dessen Bewertung und Konvention. Daher ist diese Notwendigkeitsbeziehung ontologisch subjektiv. Das Müssen der notwendigen Bedingung ist an sich nicht normativ. Dass die Löwen Geschlechtsverkehr haben müssen, damit ein Löwenbaby entsteht, ist schlicht eine biologische Tatsache. Sie impliziert nichts Normatives. Die Notwendigkeitsbeziehung hängt nicht davon ab, ob jemand dieses Ereignis herbeiführen will. Auch wenn z. B. niemand jemals wollte, dass ein Gewehr Schüsse abfeuert, bleibt es eine notwendige Bedingung, dass für einen Schuss der Abzug betätigt werden muss. Stemmer fasst die Eigenschaften des Müssens der notwendigen Bedingung wie folgt zusammen: „Das Müssen der notwendigen Bedingung kennt Fälle, in denen menschliche Handlungen (…) eine notwendige Bedingung für das Eintreten eines Ereignisses sind. Es handelt sich dann um das praktische Müssen der notwendigen Bedingung. Dieses Müssen und das

135

Moral (Kontraktualismus)

Müssen der notwendigen Bedingung insgesamt resultiert aus natürlichen und aus nicht-natürlichen, z. B. technischen, institutionellen oder konventionellen Gegebenheiten. Das Müssen der notwendigen Bedingung kann – auch in seiner praktischen Spielart – ontologisch objektiv und ontologisch subjektiv sein. Das praktische Müssen der notwendigen Bedingung ist vom Wollen dessen, der etwas tun muss, unabhängig. Und, besonders wichtig, es ist nicht normativ.“ (Stemmer 2008, S. 34)

Das zweite Element ist das Wollen. Stemmer charakterisiert „einen Wunsch haben“ bzw. „etwas wollen“ damit, zu etwas zu tendieren: „Etwas zu wollen, bedeutet, grob gesprochen, von etwas angezogen zu sein und zu etwas zu tendieren.“ (Stemmer 2008, S. 35)

Für sich ist dieser Zustand nicht normativ, und etwas zu wollen bedeutet nicht, etwas zu müssen. Angenommen, Stemmer hat Recht und das Wollen ist selbst kein normatives Element, dann würde aus der Kombination von zwei nicht-normativen Bauteilen Normativität entstehen. Das normative Müssen ist also das Müssen der notwendigen Bedingung, zu dem ein entsprechendes Wollen hinzukommt und das dadurch eine neue Eigenschaft gewinnt, die Eigenschaft der Normativität: die Eigenschaft, mit einem Handlungsdruck verbunden zu sein. Die zentrale Idee seiner Theorie lässt sich wie folgt darstellen: (1) (2) (3)

(A) muss (x) tun dafür, dass (y) geschieht, und (A) will, dass (y) geschieht. Also muss[n] (A) (x) tun.

Das Novum an Stemmers Theorie ist, dass die Prämissen (1) und (2) nicht-normativ sind, das „muss(n)“ in der Konklusion (3) aber normativ ist. Es ist Stemmer besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass an dieser Stelle kein neues Müssen entsteht. Das normative Müssen ist kein zusätzliches und verschiedenes Müssen neben dem Müssen der notwendigen Bedingung, sondern eine spezielle Form davon. Es reicht, dass ein Wollen, das sich auf die entsprechende Handlung bezieht, hinzukommt. Durch dieses Wollen erhält das 136

Stemmers Normativitätstheorie

Müssen der notwendigen Bedingung die Eigenschaft der Normativität. Somit ist das normative Müssen ontologisch subjektiv, aber es entsteht kein neues Müssen. Das normative Müssen ist kein Müssen eigener Art. 2.2.2.2

Motivationales Potential

Es ist damit deutlich, wie die Eigenschaft der Normativität entsteht. Stemmer unterscheidet in der Folge zwischen der Normativität und dem motivationalen Potential eines Grundes. Die beiden Eigenschaften von Gründen fallen nicht zusammen: Ein Grund hat wegen seiner Normativität ein motivationales Potential. Verdeutlichen lässt sich dies, wenn man das oben beschriebene Schema mit einem Beispiel erläutert: (1) Bernd (A) muss (ein nicht-normatives Müssen der notwendigen Bedingung, da lediglich biologische Tatsache) trainieren (x), dafür dass er einen Marathon laufen kann (y). (2) Bernd (A) will in der Lage sein, einen Marathon laufen zu können (y). (3) Daraus folgt, dass Bernd (A) trainieren (x) muss (normativ!). Bernds Fall zeigt, dass etwas für eine bestimmte Handlung spricht: Wenn er trainiert, wird er etwas von ihm Gewolltes erreichen. Trainiert er nicht, geschieht etwas für ihn Negatives. Mit „negativ“ ist hierbei etwas Ungewolltes gemeint: Sein Wunsch wird frustriert, denn er wird den Marathon nicht laufen können. Wenn (A) will, dass (y) eintritt, muss er (x) tun. Dies ist laut Stemmer die Struktur aller praktischen Gründe und damit auch die Struktur der Normativität. Einen Grund zu haben bedeutet demnach, in einer Situation zu sein, in der man einen Druck bezüglich einer Handlung verspürt. Dieser normative Druck 42, bzw. dieses Ge42

Die Rede vom Druck ist metaphorisch, da es auch Gründe geben kann, die einem nicht bewusst sind, bei denen der Handelnde keinen tatsächlich Druck verspürt.

137

Moral (Kontraktualismus)

fühl des Müssens, rührt von der Situation her, dass etwas für den Handelnden Negatives passiert, wenn man etwas Bestimmtes nicht tut. Der Druck entsteht also nur, wenn (y) gewollt wird und das Nicht-Tun von (x) die negative Konsequenz hat, dass (y) nicht geschieht, und das Tun von (x) die positive Konsequenz hat, dass (y) geschieht. Das (x)-Tun von (A) muss eine notwendige Bedingung für das Eintreten von (y) sein, die gleichzeitig auch hinreichend oder zumindest „unter den gegebenen Umständen“ 43 hinreichend sein muss. Es ist notwendig für Bernd zu trainieren, um den Marathon laufen zu können. Das Training ist hinreichend dafür, in der Lage zu sein, den Marathon wie gewollt laufen zu können. Trainiert er nicht, wird sein Wunsch, den Marathon laufen zu können, frustriert. „Ein normatives Müssen ist ein praktisches Müssen der notwendigen Bedingung, das in zweifacher Weise spezifiziert ist: Es ist ein Müssen dieser Art, bei dem erstens die Bedingung zugleich (im starken oder schwachen Sinn) hinreichend ist und bei dem zweitens der, der muss, das will, wofür seine Handlung eine notwendige Bedingung ist. Ein Müssen dieser Beschaffenheit ist mit einem Handlungsdruck verbunden. Und es hat offensichtlich auch die anderen Merkmale des normativen Müssens: Es ist ein praktisches Müssen, es erlaubt, anders als „gemusst“ zu handeln, und es ist […] ontologisch subjektiv.“ (Stemmer 2008, S. 39)

43

Wenn von hinreichend die Rede ist, wird in der Regel ein Normalfall mit konstanten Umständen vorausgesetzt, sodass die hinreichende Bedingung dadurch ausgezeichnet ist, dass sie die notwendige Bedingung ist, die zum Normalfall hinzukommen muss, damit das Ereignis eintritt. Damit Wasser gefriert, muss die Temperatur unter null Grad sinken. Dies ist eine „unter den gegebenen Umständen“ hinreichende Bedingung bzw. im schwachen Sinne eine hinreichende Bedingung. Zwar sind das Vorhandensein von Wasser und den Naturgesetzen und die Abwesenheit von anderen Bedingungen, die das Wasser vom Gefrieren abhalten, ebenfalls notwendige Bedingungen, aber diese werden im Normalfall verständlicherweise vorausgesetzt.

138

Stemmers Normativitätstheorie

Wenn der Druck hinreichend groß ist und Bernd sich rational 44 verhält, wird er anfangen zu trainieren. Es ist aber nicht determiniert, dass Bernd mit dem Training anfängt, da er sich auch irrational verhalten kann. Irrationalität ist ein Fall, bei dem ein Grund (x) zu tun besteht, aber der Handelnde trotzdem etwas anderes tut. Dies kann auch passieren, wenn der Akteur sich des Grundes nicht bewusst ist. Angenommen, Bernd läuft beim Training durch einen Wald. Er weiß nicht, dass in genau diesem Wald tollwütige Bären eine Lebensgefahr für ihn darstellen. Vorausgesetzt, er will sein Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, wird er dennoch nicht motiviert sein, eine andere Strecke zu laufen. Denn es ist ihm nicht bekannt, dass das Laufen an diesem Ort eine Gefahr für sein Leben ist. Dennoch hat er einen Grund, eine andere Strecke zu laufen. Es gibt diesen Grund, und er hat auch motivationales Potential, aber das Potential wird nicht effektiv. Wenn Bernd von den Bären wüsste, wäre er motiviert, eine andere Strecke zu laufen. Würde er es dennoch nicht tun, würde er sich irrational verhalten. Praktische Gründe haben also, ein entsprechendes Wollen vorausgesetzt, ein motivationales Potential. Unter der Bedingung der Rationalität des Akteurs wird dieser einen normativen Druck zum Handeln verspüren, sobald ihm der Grund bekannt ist. Auf diese Weise kann Stemmer erklären, wie Gründe zu Handlungen motivieren können, und wie Gründe existieren können, die nicht zu Handlungen motivieren. 2.2.2.3

Gewicht

Die bisher geschilderten Fälle waren simpel, da ihnen immer nur jeweils ein Wollen und ein Müssen der notwendigen Bedingung zu Grunde lagen. Im Normalfall handelt es sich aber oft um komplexere Situationen, in denen mehrere Wollen eine Rolle spielen. Bernd will in der Lage sein, einen Marathon zu laufen und fühlt deshalb einen Druck, trainieren zu müssen. Jedoch ist damit noch 44

Eine Erläuterung, wie Rationalität zu verstehen ist, folgt im nächsten Kapitel.

139

Moral (Kontraktualismus)

nicht geklärt, was Bernd vom Trainieren hält. Es besteht ja die Möglichkeit, dass Bernd nicht trainieren will, da es unangenehm ist: Es ist anstrengend, und er schwitzt nicht gern. Auf diese Weise können zwei Wollen im Spiel sein, denen er aber nicht gleichzeitig nachkommen kann. Ob Bernd nun trainiert oder nicht, hängt davon ab, was er „unterm Strich“ will: Es zählt der wichtigere oder stärkere Wunsch. Angenommen, es handelt sich bei beiden Wollen um intrinsische Wollen, mit denen keine weiteren Ziele verfolgt werden, die Einfluss auf das motivationale Potential haben könnten. Dann wird Bernd zu der Handlung tendieren, deren Wollen am stärksten gewichtet ist. Stemmer ist der Meinung, dass wie stark jemand etwas will, die Stärke des Müssens und damit das Gewicht des Grundes bestimmt. Wenn der Wunsch, den Marathon zu laufen, größer ist als der, das Training zu unterlassen, dann wird Bernd (unter der Voraussetzung, dass er rational handelt) trainieren, da es das ist, was er unterm Strich will. Er hat damit zwar einen pro tanto-Grund, nicht zu trainieren, aber einen stärkeren Grund, zu trainieren. Das Training und die damit verbundene Anstrengung (die Bernd nicht will) ist der Preis, den Bernd für die Wunscherfüllung, den Marathon laufen zu können, bezahlen muss. Das ist es, was er in kauf nehmen muss. Falls Bernd sich nicht sicher ist, welches Wollen ihm wichtiger ist, kann er durch Überlegung und Reflexion darauf kommen, welches Ziel ihm wichtiger ist. Das Gewicht oder die Stärke eines Grundes lässt sich bei Stemmer damit erklären, dass ein Bestandteil des Grundes ein Wollen ist und je nach dessen Intensität bemisst sich das Gewicht des Grundes. Je mehr man etwas will, desto stärker ist auch der entsprechende Grund. Anhand dieser drei Eigenschaften von Gründen kann Stemmer verdeutlichen, was es heißt, dass ein Grund für etwas spricht, wie er zu einer Handlung motivieren kann und wie Gründe gewichtet werden. Er muss keinerlei metaphysisch aufgeladene Thesen voraussetzen, um die Eigenschaften von Gründen zu erklären, sondern bezieht sich lediglich auf das Müssen der notwendigen Bedingung und das Wollen. Dieser reduktionistische Ansatz führt das Phänomen der Normativität auf eine subjektive Ontologie zurück, die es

140

Stemmers Normativitätstheorie

erlaubt, einfache Antworten auf die Frage nach den Eigenschaften von Gründen zu geben. Stemmers Ansatz zieht eine Reihe an Einwänden auf sich. Maßgeblich für alle Formen der Kritik an diesem Ansatz ist die „IsOught-Distinction“ 45 von David Hume. Diese besagt, dass aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Eben dies behauptet Stemmer, wenn aus einem Wollen und einem Müssen, also zwei deskriptiven Teilen, etwas Normatives entsteht. Dass Normativität ein zu einer Handlung zwingendes Element beinhaltet, ist eher unumstritten, aber dass es gerade ein Wollen ist, wird vielfach diskutiert. Zum einen wird bestritten, dass ein Wollen überhaupt notwendig für Normativität ist, zum anderen wird gesagt, dass das Wollen an sich bereits normativ ist 46. So könnte ein Wollen bzw. ein Wunsch als eine intrasubjektive Aufforderung verstanden werden, wodurch der Wunsch bereits ohne das Hinzukommen eines Müssens der notwendigen Bedingung normativ wäre. Jedoch läuft dieser Vorschlag in einen infiniten Regress: „Dieser Akt des Aufforderns [Intrasubjektive Aufforderung] müßte, wenn Handlungen nur durch Wünsche motiviert werden können, selbst durch einen Wunsch verursacht sein: den Wunsch, sich dazu aufzufordern, den gewünschten Sachverhalt herzustellen. Dieser Wunsch müßte wiederum als selbstbezogener Imperativ gedeutet werden, so daß ein Regreß enstünde.“ (Schälike 2002, S. 20)

Von Objektivisten wird bestritten, dass das Wollen überhaupt ein elementarer Teil eines Grundes ist. Ihrer Meinung nach könnten auch wollensunabhängige Sachverhalte motivieren (z. B. veranlasst die Tatsache, dass an der Kreuzung ein Stoppschild steht, Bernd 45

Die Is-Ought-Distinction oder auch der Sein-Sollen-Fehlschluss geht auf David Hume zurück und besagt, dass ein Schluss von einer rein deskriptiven Aussage auf eine normative Aussage nicht ohne weiteres möglich ist. Man kann das Stemmer vorwerfen, jedoch ist genau dies die Leistung seiner Theorie: Er hat m. E. eine plausible Antwort auf die Hume’sche Herausforderung. Vgl. Hume 1978, S. 469 f. Stemmer selbst weist den Vorwurf als „einen falschen Gebrauch von Humes Einsicht“ zurück. Vgl. Stemmer 2008, S. 77–79 46 Vgl. Seebaß 1993, S. 106 ff.

141

Moral (Kontraktualismus)

dazu, anzuhalten). Die Idee ist, dass Bernds verschiedene Wünsche gar keine Rolle dafür spielen, dass Bernd einen Grund hat, anzuhalten. Vor allem in der Moralphilosophie wird oft von „wollensunabhängigen Gründen“ gesprochen. Insbesondere Kant und die ihm nachfolgenden Philosophen sahen in der Vernunft eine Quelle wunschunabhängiger Gründe. Können Vernunft und Rationalität wunschunabhängige Gründe schaffen?

2.2.3

Rationalität

Für die Theorie der praktischen Gründe ist Rationalität von großer Bedeutung, denn selbst wenn alle drei Kriterien für einen Grund erfüllt sind und der Akteur entsprechend handeln muss, legt ihn dieses Müssen nicht fest. Er kann auch anders als gemusst handeln. Stemmer definiert Rationalität wie folgt: „Rationalität umfasst also erstens das Element des Überlegens, des Herausfindens und Erkennens dessen, was ist und was zu tun ist, und zweitens die Koordination von Erkennen und tatsächlichem Handeln.“ (Stemmer 2008, S. 57)

Die Möglichkeit, anders als gemusst zu handeln, schafft den Raum für Rationalität bzw. Irrationalität. Eine Person kann also mehr oder weniger rational agieren, je nachdem, wie sehr sie überlegt und erkennt, was getan werden muss und wie verlässlich sie sich dann von diesem Müssen leiten lässt. Wäre das Müssen determinierend, hätte Rationalität keinen Platz, da das Gemusste ohne jegliche Überlegung getan würde. Beispielsweise muss Bernd atmen, um zu überleben. Da er aber gar nicht anders kann als zu atmen, bedarf es keiner Rationalität. Anders stellt sich die Situation dar, wenn er trainieren muss, um einen Marathon zu laufen. Wenn er nicht erkennt, dass ein normatives Müssen für ihn existiert, handelt er irrational; ebenso, wenn er es erkennt und dennoch anders als gemusst handelt. Wenn er jedoch das tut, was er muss, handelt er rational. Wenn Bernd trainieren muss, weil er den Marathon laufen will, ist Trainieren also die rationale und vernünftige Handlung. Durch Überlegung zu er142

Stemmers Normativitätstheorie

kennen, was getan werden muss (in Bernds Fall: zu erkennen, dass er trainieren muss), ist der erste Teil des Sich-Rational-Verhaltens. Dies dann auch zu tun (trainieren), wäre der zweite Bestandteil des SichRational-Verhaltens. Will Bernd darüber hinaus ganz allgemein rational sein, entsteht ein weiteres normatives Müssen. Ohne dieses Wollen ist dieses spezielle Müssen allerdings bloß ein Müssen der notwendigen Bedingung. Erst das Hinzukommen des Wunsches erzeugt den Handlungsdruck und macht es zu einem normativen Müssen. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Rationalität bzw. die Vernunft alleine keine Quelle wollensunabhängiger Gründe sein kann. Es ist immer ein Wollen, das den Handlungsdruck erzeugt. Dies steht im Gegensatz zum kantischen Verständnis der Vernunft, welches über die reine Zweck-Mittel-Rationalität hinausgehend Vernunft als Quelle von Gründen definiert: „Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit ankommt, muß nicht blos den Vormund derselben vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine praktische Vernunft ihr eigenes Interesse ganz allein besorgen.“ (Kant KpV, V, 118) „[…] (Für) eine mögliche allgemeine Gesetzgebung […] zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe (welches der Philosoph untersuchen mag), wenigstens aber doch so viel verstehe: daß es eine Schätzung des Werthes sei, welcher allen Werth dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt, und daß die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus reiner Achtung fürs praktische Gesetz dasjenige sei, was die Pflicht ausmacht, der jeder andere Bewegungsgrund weichen muß, weil sie die Bedingung eines an sich guten Willens ist, dessen Werth über alles geht.“ (Kant GMS, AA IV, 403)

Die Vernunft wird dabei als Gegenpol zu den Trieben verstanden. Das heißt, die Gründe, die aus dem Wollen entspringen, stehen den Gründen der Vernunft gegenüber. Hierbei spielt wieder das bereits angesprochene Bild der Autonomie eine Rolle: Die Fähigkeit und Möglichkeit, sich gegen das Gewollte bzw. Triebhafte zu entschei143

Moral (Kontraktualismus)

den. Doch bereits Kants Zeitgenosse Hume zeichnete ein anderes Bild der Vernunft: „Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them.“ (Hume 1978, S. 415)

Stemmers Ansatz mit dem Fokus auf das Wollen bewegt sich in der humeschen Tradition. Das Wollen bestimmt, für welche Handlungen es Gründe gibt. Das zu tun, wozu man einen Grund hat, ist rational. Ob etwas zu tun rational ist, hängt also immer davon ab, ob es gewollt wird. Rationalität ist also kein Ursprung von Gründen. Zusammengefasst: Stemmers Analyse von praktischen Gründen und Normativität ergibt, dass die Phänomene der Normativität subjektiv sind und aus einem rein prudentiellen Müssen und einem Wollen abgeleitet werden können. Wie können jetzt aus einem prudentiellen Müssen Rechte, Pflichten und allgemein Normen abgeleitet werden? Und lassen sich so „echte“ moralische Rechte und Pflichten begründen, obwohl sie dann nur auf egoistischen Interessen beruhen?

2.2.5

Begründung von Normen, Rechten und Pflichten

Es ist jetzt klar, wie Stemmer das Phänomen der Normativität und praktische Gründe versteht. Offen ist, ob anhand dieser Normativitätstheorie ein verpflichtendes Müssen generiert werden kann, das für moralische Rechte und Pflichten konstitutiv ist. Für Stemmer ist der Begriff der Sanktion zentral, da Normen nur in Verbindung mit Sanktionsmechanismen existieren, das moralische Müssen sanktionskonstituiert ist und sich der Pflichtbegriff daran festmachen lässt, inwieweit Sanktionierung legitim ist. Wenn jedoch Gründe immer vom Wollen abhängen und damit stets subjektiv sind, es also keine Möglichkeit gibt, jemandem Gründe zu nennen, die sich nicht auf wenigstens eines seiner Wollen bezieht, scheint es kaum möglich, moralische Forderungen an jemanden zu richten. 144

Stemmers Normativitätstheorie

2.2.5.1

Künstliche Gründe, Sanktionen und Normen

Kennt man die Eigenschaften von Gründen und wie sich Gründe zusammensetzen, ist es möglich, künstlich Gründe zu schaffen. Künstliche Gründe können dazu verwendet werden, das Verhalten anderer zu beeinflussen und einen Bezug von moralischen Forderungen und ihrem Wollen herzustellen. Ein Grund besteht – wie oben erläutert – aus einem Wollen und einem Etwas-Dafür-TunMüssen, einem Müssen der notwendigen Bedingung. Auf beide Bestandteile kann Einfluss genommen werden. Es ist nicht immer einfach, auf das Wollen einzuwirken. Gehirnwäsche, Werbung oder Kindererzihung sind Mittel, die auf das Wollen von Menschen Einfluss nehmen. Werbung z. B. stellt Konsumgegenstände als attraktiv und besitzenswert dar, sodass bei einem Betrachter auf diese Weise ein Wollen, und damit ein Grund für beispielsweise eine Kaufhandlung hervorgerufen wird. Dieses Wollen ist in dem Sinn künstlich, dass es von außen, durch Werbung, hervorgerufen wurde. Doch oft gelingt es nicht, ein Wollen auf diese Weise – künstlich – zu ändern oder zu schaffen. Es ist erheblich einfacher, den anderen Bestandteil des Grundes, die Notwendigkeitsbeziehung, zu ändern. Wenn Person (A) will, dass Person (B) die Handlung (x) tut, obwohl (B) das nicht will, kann sie versuchen, das Wollen von (B) diesbezüglich zu ändern. (A) kann aber auch eine Notwendigkeitsbeziehung schaffen, bei der das Unterlassen von (x) an negative Konsequenzen für (B) geknüpft wird. Natürlich (B) will die negative Konsequenz nicht. Um die negative Konsequenz zu vermeiden, muss (B) jetzt (x) tun. Somit hat (A) künstlich ein Müssen der notwendigen Bedingung geschaffen, das (B) einen Grund gibt, (x) zu tun. Angenommen, Bernd wird beim Training von einem Fremden aufgehalten. Der Fremde macht Bernd klar, dass er Geld von ihm haben will. Bernd will ihm natürlich kein Geld geben; daher fängt der Fremde an, auf ihn einzureden, dass er das Geld dringend bräuchte. Jedoch scheitert der Versuch des Fremden, Bernds Wollen zu beeinflussen. Daher greift er zu drastischeren Mitteln und zückt ein Messer. Entweder gibt ihm Bernd das Geld, oder er wird erstochen. Die künstliche Verknüpfung der negativen Konsequenz des Erstochenwerdens mit 145

Moral (Kontraktualismus)

der unterlassenen Aushändigung des Geldes schafft eine Notwendigkeitsbeziehung für Bernd. Bernd will nicht erstochen werden, er will die negative Konsequenz nicht. Nicht erstochen werden wollen ist gleichbedeutend mit unversehrt bleiben wollen. Um unversehrt zu bleiben, ist es notwendig für Bernd, dem Fremden Geld zu geben. Seine Unversehrtheit ist Bernd wichtiger als das Geld zu behalten. Bernd muss dem Fremden nun Geld geben, um seinen Wunsch nach Unversehrtheit zu erfüllen. Dieses Müssen der notwendigen Bedingung ist künstlich geschaffen worden und damit ist auch der Grund künstlich. Der Grund wurde erst durch die Drohung des Fremden, von außen, erschaffen. Trotzdem ist dies ist ein normatives Müssen, das Bernd zu einer Handlung „drückt“. Der künstliche Grund entsteht aber nur, weil der Fremde die angedrohte negative Konsequenz an ein Wollen von Bernd knüpft. Wenn es Bernd egal wäre, verletzt zu werden, könnte der Fremde mit seiner Drohung nicht auf ihn einwirken. Jedoch kann der Fremde prinzipiell davon ausgehen, dass Bernd nicht erstochen werden will, da dies wohl auf beinahe alle Menschen zutrifft. Diese negative Konsequenz, die an die Handlung des Geldherausgebens geknüpft wird, ist eine Sanktion. „Sanktion“ definiert Stemmer wie folgt: „Eine Sanktion ist zum einen eine Konsequenz, die einer Handlung unvermeidlich folgt. Weswegen das Unterlassen dieser Handlung eine notwendige Bedingung für das Vermeiden der Sanktion ist. Und eine Sanktion ist zum anderen etwas für den Betroffenen Negatives, etwas, was er nicht will und was er deshalb zu vermeiden sucht.“ (Stemmer 2008, S. 139)

Es ist wichtig zu sehen, dass nicht jede negative Folge eine Sanktion ist. Schlingt man sein Mittagessen herunter, führt das zwar zu Bauchschmerzen, jedoch ist diese negative Folge keine Sanktion, da sie nicht künstlich geschaffen wurde. Sanktionen sind immer künstlich von Menschen geschaffen, aber nicht jedes künstlich geschaffene Müssen ist sanktionskonstituiert: Um die Pistole abzufeuern, muss der Abzug betätigt werden. Dieses künstliche geschaffene Müssen ist nicht sanktionskonstituiert, da hier keine negative Konsequenz an eine Handlung geknüpft wurde. Das Geld-Herausgeben-Müssen 146

Stemmers Normativitätstheorie

hingegen ist an die künstlich geschaffene negative Folge des Erstechens geknüpft und damit ein sanktionskonstituiertes Müssen, und dementsprechend hat Bernd einen sanktionskonstituierten Grund zum Handeln. Sanktionskonstituierte Handlungsgründe zu schaffen ist nur dann möglich, wenn jemand die nötige Macht besitzt, eine Sanktion aufzuerlegen. Die nötige Macht, Sanktionen durchzusetzen, besitzen aber nicht nur mächtige Individuen, Systeme oder Institutionen. Jeder Mensch verfügt über eine gewisse Sanktionsmacht. Die Bandbreite reicht von sozialen Sanktionen wie Verachtung und Geringschätzung desjenigen, der gegen eine sanktionsbewehrte Norm verstößt, bis hin zu körperlicher Gewalt. Diese Sanktionen setzen keinen spezifischen Machtapparat oder ein System voraus. Und wenn einer nur droht, aber die Sanktion letztlich nicht durchsetzen kann? Eine solche leere Drohung schafft kein objektives sanktionskonstituiertes normatives Müssen, aber ein subjektives Müssen. Wenn Bernd dem Fremden zutraut, ihn zu erstechen, obwohl dieser gar kein Messer in der Tasche versteckt, ist es für Bernd rational, dem Fremden sein Geld zu geben, denn er glaubt fälschlicherweise, dass es nicht nur einen subjektiven, sondern auch einen objektiven Grund gibt. Der Bluff des Fremden hat damit funktioniert und mit der Vortäuschung eines objektiven Grundes wurde ein subjektiver nicht-sanktionskonstituierter Grund geschaffen. Dies bedeutet, dass durch die Vortäuschung sanktionskonstituierter objektiver Gründe, ein Müssen entstehen kann, welches bloß subjektiv ist, aber dennoch zu der gewollten Handlung führen kann. „Es ist also – durch die erfolgreiche Simulation objektiver Gründe – möglich, künstlich subjektive Gründe zu schaffen. Der Grund, der auf diese Weise entsteht, ist selbst nicht sanktionskonstituiert, aber es gibt ihn nur, weil jemand die Existenz eines sanktionskonstituierten Grundes vortäuscht.“ (Stemmer 2008, S. 152)

Künstliche Gründe sind ein effektives Mittel, um das Verhalten von Menschen zu steuern. Durch Sanktionen werden Gründe geschaffen, die die Situation so verändern, dass der künstlich erzeugte normative Druck dem Akteur zwar nicht seine Entscheidungsfreiheit 147

Moral (Kontraktualismus)

nimmt, aber nur noch die vom Sanktionierenden gewollte Option vernünftig erscheint. Diese Art von Gründen und deren Existenzbedingungen sind für die Begründung von moralischen Normen von Bedeutung. Im Kontext von Recht und Moral reden wir oft von Normen. Meistens wird „Norm“ im Sinne von „Regel“, „Vorschrift“ oder „Gesetz“ gebraucht und in dieser Weise auch von Stemmer verwendet. Für Stemmer ist das normgenerierte Müssen eine spezielle Art des normativen Müssens, aber mit der Besonderheit, dass es allgemein und sanktionskonstituiert ist. Damit besteht eine Norm aus den gleichen zwei Teilen wie das normative Müssen, nämlich einem Müssen der notwendigen Bedingung und einem Wollen. Zudem ist es künstlich geschaffen, nicht an eine bestimmte einzelne Person adressiert und betrifft keine individuellen Handlungen, sondern einen Handlungstypus. Wenn z. B. in Deutschland eine Norm Raub verbietet, ist es damit nicht nur dem Fremden verboten, Bernd auszurauben, sondern Raub ist jedem Menschen in Deutschland verboten. Ein solch weitreichendes Müssen, das für alle Mitglieder einer Gesellschaft gilt und nicht natürlichen Ursprungs ist, benötigt die entsprechende Macht seitens des Normgebers, um die Norm zu etablieren. Auf diese Weise schafft die Norm einen künstlichen Grund für alle – aber nur dann, wenn dieser Grund auf einem sanktionskonstituierten Müssen basiert. Auch wenn alle Menschen essen müssen, wenn sie überleben wollen, ist dieses Müssen keine Norm, da es sich nicht um ein künstlich geschaffenes Müssen handelt. Normen sind nicht natürlichen Ursprungs, deshalb sind sie immer ontologisch subjektiv und enthalten mit dem Wollen stets eine mentale Komponente. Es gibt Stemmer zufolge keine natürlichen Normen und Gesetze, die den Menschen Ge- oder Verbote auferlegen. Es gibt immer einen personalen Normautor, der mit der Schaffung der Norm das Verhalten der Mitglieder der Gemeinschaft steuern will. Durch die Verbindung mit einer Sanktion wird eine Handlung mit einer negativen Konsequenz verknüpft. In gewissem Sinne kann die Sanktion als Preis für die Handlung angesehen werden. Dieser Preis ist oft so hoch, dass jeder die Sanktion vermeiden will. Die Sanktion knüpft an ein (Vermeiden-)Wollen an, das bestenfalls 148

Stemmers Normativitätstheorie

alle Mitglieder der Gemeinschaft haben. Die Existenz einer Norm ist damit von der Sanktion abhängig. Ist die Sanktion allgemein und an alle gerichtet, spricht man von einer Norm. Ohne Sanktionierung besteht also keine Norm. Hier bricht Stemmer erneut mit dem Common Sense, der eher davon ausgeht, dass jemand sanktioniert wird, weil er gegen eine Norm verstoßen hat. Die Norm besteht vor der Sanktion. Stemmer meint hingegen, dass eine Norm erst dann existiert, wenn der Sanktionsmechanismus existiert. Durch die Etablierung eines Sanktionsmechanismus wird ein künstliches Müssen geschaffen. Damit ist die Sanktion nicht einfach die nachträgliche Strafe für die Verletzung einer Norm. Sie ist nicht etwas von der Norm verschiedenes. Die Norm entsteht erst durch die Sanktionierung. „Eine Handlung wird also nicht sanktioniert, weil sie verboten ist, sie ist vielmehr verboten, weil sie sanktioniert wird.“ (Stemmer 2008, S. 175)

Jedoch muss nicht erst sanktioniert werden, damit eine Norm existiert; es muss lediglich eine Handlung mit einer Sanktion verknüpft werden. „Aber der tatsächliche Vollzug der Sanktionierung ist für die Existenz einer Norm nicht nötig. Das Entscheidende ist die Verknüpfung von bestimmten Handlungen mit Sanktionen. Dieser Mechanismus, der bestimmte Handlungen und negative Reaktionen verbindet, konstituiert die Norm.“ (Stemmer 2008, S. 175)

Beim Normadressaten muss ein Wollen bezüglich der Vermeidung der Sanktion vorhanden sein, damit die Norm ihn erreicht. Wenn (A) (x) unterlassen muss, um die Sanktion (y) zu vermeiden, (A) aber (y) gar nicht vermeiden will, hat er keinen Grund, (x) zu unterlassen. Das Verbot besteht zwar, aber es hat für (A) nicht die Eigenschaft der Normativität, da der Baustein des Wollens fehlt. Wenn er überlegt, ob er (x) unterlassen soll, fühlt er sich nicht dazu motiviert, (x) nicht zu tun, weil ihn die Sanktion kalt lässt. (A) war zwar ebenso wie alle anderen als Normadressat gedacht, aber die Norm erreicht ihn nicht. Für (A) existiert somit die Norm nicht. Also wirkt eine 149

Moral (Kontraktualismus)

Norm individuell unterschiedlich, obwohl sie an alle adressiert ist. Die Existenz einer Norm bedeutet demnach nicht, dass sie jeden erreicht und dass alle normkonform handeln. Da sich die Norm auf das Wollen der Adressaten bezieht und deren Wollen unterschiedlich stark ist, wirkt dieselbe Norm auf verschiedene Personen unterschiedlich stark. Aber nicht nur die Norm, sondern auch die Sanktion bei Nichteinhaltung ist subjektiv unterschiedlich stark. Nicht jeder Normverstoß wird tatsächlich sanktioniert. Stemmer spricht hier von „primären direkten Sanktionen“. Oft bleiben Normverstöße unentdeckt und es besteht generell eine Chance, ohne Strafe davonzukommen. Was aber bleibt, ist die Gefahr, bestraft zu werden. Stemmer zufolge handelt es sich dann um eine derivative, das heißt, eine indirekte Sanktion. Wer also nicht bestraft werden will, oder zumindest sich nicht der Gefahr aussetzen will, bestraft zu werden, muss normkonform handeln. Wenn die primären wie auch die derivativen Sanktionen versagen, gibt es bei Stemmer noch die Instanz der inneren Sanktionen. Die Idee ist, dass gewöhnlich Normen mit der Zeit internalisiert werden, sodass sich bei nicht normkonformem Verhalten ein Gefühl des Unbehagens einstellt. Die äußere Sanktion ist, so könnte man sagen, nach innen gewandert und sanktioniert verbotenes Verhalten mit „affektivem Widerstand“. Dieser affektive Widerstand kann z. B. in Form eines schlechten Gewissens auftreten. Wer etwas Verbotenes tut, kann ein unangenehmes Gefühl empfinden, das seinerseits vermieden werden will. Einerseits will man das Verbotene tun, da es einem z. B. angenehm ist, andererseits will man es unterlassen, da es unangenehme Gefühle in einem hervorbringt. Dadurch entsteht ein normatives Müssen, denn wer diesen inneren Zwiespalt vermeiden möchte, muss das Verbotene unterlassen. Diese inneren Sanktionen ergänzen die beiden bereits genannten Formen der Sanktion. In Fällen, in denen die äußeren Sanktionsmechanismen versagen, können die inneren Sanktionen oft greifen. Es kann aber Situationen geben, in denen sich der, der vorhat, einen Diebstahl zu begehen, sicher ist und auch sicher sein kann, nicht entdeckt zu werden. In solchen Situationen existiert weder der primäre noch der derivative Sanktionsmechanismus, weil nicht einmal 150

Stemmers Normativitätstheorie

die Gefahr besteht, bestraft zu werden. Es existiert aber, die Internalisierung vorausgesetzt, der Mechanismus der inneren Sanktionen. Hier, wo die anderen Sanktionen nicht hinreichen, übernehmen die inneren Sanktionen die Aufgabe, ein normatives Müssen zu konstituieren. Jedoch kann es auch Fälle geben, in denen alle drei Typen der Sanktionierung nicht erfolgreich sind. Dann existiert die Norm nicht, da eine der Existenzbedingungen, nämlich das Vorhandensein des Müssens der notwendigen Bedingung, nicht erfüllt ist. „Eine Norm existiert erstens da nicht, wo eine Konsequenz, die als Sanktion dienen soll, von einzelnen Adressaten nicht als etwas Negatives betrachtet und folglich nicht gefürchtet wird. Hier fehlt das Wollen (bzw. Nicht-Wollen), das eine der beiden Bauelemente einer Norm. Und eine Norm existiert zweitens da nicht, wo der Handlung, auf die die Norm zielt, keine Sanktion, weder eine primäre noch eine derivative, folgt. Hier fehlt das Müssen der notwendigen Bedingung, das andere konstitutive Element einer Norm.“ (Stemmer 2008, S. 181)

Ohne Sanktion also keine Norm. Der Sanktionsmechanismus ist die Norm. Da man in der Regel die Sanktion vermeiden will, besitzt die Norm auch motivationales Potential. Doch selbst dann, wenn die Sanktionen greifen und ein normatives Müssen und damit ein Grund für den Betroffenen existiert, ist nicht garantiert, dass dieser auch normkonform handelt. Es kann immer noch sein, dass er von dem Grund nichts weiß, oder ihn zwar kennt, aber ignoriert und damit irrational handelt, oder ihn kennt, aber Willensschwäche ihn dazu verleitet etwas zu tun, wozu er lediglich einen schwächeren Grund hat – obwohl er eigentlich die Absicht hatte, normkonform zu handeln. Die schiere Existenz bedingt also nicht die Wirksamkeit eines Grundes. Eine Norm kann ebenso bloß ein Pro-Tanto-Müssen generieren. Wenn andere Gründe stärker sind, ist es möglich, dass eine Norm nicht zu normkonformem Handeln führt. Daraus zu schließen, dass eine weitgehend unwirksame Norm aufhört, zu existieren, wäre jedoch voreilig und falsch. So ist z. B. das Tötungsverbot eine bestehende Norm. Und tatsächlich halten sich die meisten Men151

Moral (Kontraktualismus)

schen an das, was die Norm fordert. Sie verhalten sich aber nicht wegen des Tötungsverbots so, sondern aus anderen Gründen: „Die Existenz und die Wirksamkeit einer Norm sind verschiedene Dinge. Auch ist die Wirksamkeit einer Norm keineswegs eine notwendige Folge ihrer Existenz. Nicht die Wirksamkeit geht mit der Existenz einer Norm einher, sondern, zumindest in der Regel, die weitgehende Normkonformität des Verhaltens.“ (Stemmer 2008, S. 186–187)

Aus der Tatsache, dass oft nicht aufgrund der Sanktion, sondern aus anderen Gründen normkonform gehandelt wird, darf nicht geschlossen werden, dass die Sanktion die Norm nicht konstituiert. Die Existenz einer Norm und die Motivation zur normkonformen Handlung fallen zwar oft auseinander, jedoch ist die Norm dennoch sanktionskonstituiert. Sie hat aber oft weniger motivationale Kraft als andere motivationale Ressourcen. Dementsprechend wäre die Rechtsnorm des Tötungsverbots sanktionskonstituiert, aber die meisten Menschen unterlassen das Töten aus moralischer Überzeugung, Mitleid, oder anderen Gründen. Es braucht nicht das Tötungsverbot, um Menschen davon abzuhalten, andere Menschen zu töten. Die allermeisten Menschen wollen gar keine anderen Menschen töten. Das ist einer der Gründe, weshalb sich die Menschen dem Tötungsverbot entsprechend verhalten. Die Existenzbedingung der Norm ist dadurch unverändert. Ihre Existenz hängt weder an ihrer Wirksamkeit noch daran, dass sie rational akzeptabel ist. So kann es auch „schlechte“ Normen geben, wie etwa moralisch verwerfliche Rechtsnormen z. B. die Rassengesetze der Nazis. Eine Norm ist aufgrund ihrer Form normativ, also dem Zusammenkommen eines Wollens mit einem Müssen der notwendigen Bedingung, nicht aufgrund ihres Inhalts.

2.2.5.2

Pflichten und Rechte

Normen sind laut Stemmer allgemeine Sanktionsmechanismen, um das Verhalten der Mitglieder einer Gemeinschaft zu steuern. Durch sie entsteht das Phänomen des normativen Status, der sich bei 152

Stemmers Normativitätstheorie

Handlungen in Verboten und Geboten manifestiert. Mit diesem Status hängen die Begriffe des Rechts und der Pflicht zusammen. Wenn (A) gegenüber (B) ein Recht hat, (x) zu bekommen, ist es für (B) geboten, (A) (x) zu geben. Die Norm, die das Gebot für (B) enthält, schafft also den normativen Status des Rechts für (A). Es steht ihm immer noch frei, normwidrig zu handeln, er muss dann dafür aber die Sanktion in kauf nehmen. Diese Steuerung durch die Norm bedeutet eine Einschränkung des Möglichkeitsspielraums des Betroffenen. Damit ist eine Norm in erster Linie etwas Schlechtes für den Betroffenen, zumindest etwas Pro-Tanto-Schlechtes. Wenn die Norm aber im Interesse des Betroffenen ist, ist sie unter dem Strich gut für ihn. So stellt z. B. ein allgemeines Tötungsverbot eine Beschränkung für (A) dar, jedoch profitiert er viel stärker davon, dass andere ihn auch nicht töten dürfen, weil sein Interesse zu überleben größer ist als das Interesse, andere zu töten. Allerdings kann es auch der Fall sein, dass eine Norm überhaupt nicht im Interesse des Betroffenen ist und er lediglich durch die Sanktionsmacht gezwungen wird, die Norm zu befolgen. Die Ausübung von Macht und Zwang seitens des Normautors ist Stemmer zufolge deshalb legitimationsbedürftig. Hier ist der entscheidende Punkt, an dem Stemmer dem Einwand begegnet, dass in seiner sanktionstheoretischen Konzeption eben bloß das prudentielle Müssen, aber keine Rechte und Pflichten Platz haben. Trotzdem verwendet Stemmer diese Begriffe. Sie haben eine essentielle Funktion in seiner Theorie, da sie zur Unterscheidung bestimmter normativer Phänomene notwendig sind. Rechte und Pflichten markieren den Unterschied zwischen einem legitimen prudentiellen sanktionskonstituierten Müssen und einem erpresserischen prudentiellen sanktionskonstituierten Müssen. Bloßer Zwang, der durch Macht ausgeübt wird, kann auf diese Weise von Pflichten unterschieden werden. „Der Begriff der Pflicht hat die Funktion, Normen, deren Einrichtung und Durchsetzung legitim ist, von Normen zu unterscheiden, bei denen das nicht der Fall ist. Die einen Normen sind verpflichtend, die anderen sind erpresserisch. Das zu tun, was eine legitime Norm ge-

153

Moral (Kontraktualismus)

bietet, ist eine Pflicht. Das zu tun, was eine erpresserische Norm gebietet, ist – im Blick auf die Sanktionen – wahrscheinlich klug, aber keine Pflicht.“ (Stemmer 2008, S. 260–261)

Offen bleibt, woher die Legitimation genau stammt. Wichtig ist, dass sie mit dem Begriff der Pflicht verknüpft ist und damit das verpflichtende sanktionskonstituierte Müssen vom erpresserischen sanktionskonstituierten Müssen unterschieden wird. Legitimität verleiht der Pflicht keine zusätzliche Kraft. Der normative Druck setzt sich wie bei allen sanktionskonstituierten Müssen aus dem künstlich geschaffenen Müssen der notwendigen Bedingung und dem Vermeiden-Wollen der Sanktion zusammen. Der Unterschied ist lediglich, dass die Sanktionierung bei Pflichten legitim ist. Nur Personen bzw. Gesellschaften können Pflichten schaffen, da es sich um ein sanktionskonstituiertes Müssen handelt. Dementsprechend ist Bernd nicht verpflichtet zu trainieren, auch wenn er es tun muss, um den Marathon zu laufen. Bei einer Pflicht kann anders als gemusst gehandelt werden. Das verpflichtende Müssen ist auch hier nur ein Pro-Tanto-Müssen, das von anderen Gründen (verpflichtend oder nicht) übertroffen werden kann. Zusätzlich geht Stemmer davon aus, dass Rechte mit Pflichten korrelieren. Hat jemand ein Recht, haben andere ihm gegenüber eine Pflicht. Wenn (A) gegenüber (B) die Pflicht hat, (x) zu tun, hat (B) das Recht darauf, dass (A) (x) tut. Wie auch Pflichten, entstehen Rechte durch legitime Normen, das heißt, durch generelle Sanktionsmechanismen. Der normative Status, ein Recht zu haben, erlaubt dem Rechtsträger, vom Rechtsadressaten normkonformes Verhalten einzufordern. Auch dies ist kein natürlicher Status. Rechte sind wie Pflichten von Personen geschaffen. Es gibt keine natürlichen Rechte. Damit sind Rechte, juridische wie auch moralische, stets positiv. Somit handelt es sich um ontologisch subjektive Tatsachen. An dieser Stelle wird oft eingewendet, dass moralische Rechte oder gar Menschenrechte natürliche Rechte sein müssen, denn beispielsweise Menschenrechte besäße jeder Mensch, eben weil er ein Mensch sei. Also gebe es natürliche Rechte, die ontologisch objektiv sind. Dem entgegnet Stemmer, dass die Tatsache, dass es vernünftig 154

Stemmers Normativitätstheorie

oder wünschenswert ist, dass alle Menschen bestimmte Rechte besitzen, nicht gleichbedeutend ist mit der Existenz dieser Rechte. Auch diese müssen von einer legitimierten Instanz, d. h. einer Sanktionsinstanz, durch die Etablierung von Normen geschaffen werden. Sobald diese Sanktionspraxis nicht mehr existiert, existieren auch die damit geschaffenen Rechte und Pflichten nicht mehr. Somit sind Rechte und Pflichten kontingente Phänomene, selbst wenn es sich um Menschenrechte handelt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Pflichtbegriff ein sanktionskonstituiertes, normgeneriertes Müssen bezeichnet, das legitim ist. Es steht dem bloß erpresserischen sanktionskonstituierten normgenerierten Müssen gegenüber. Rechte korrelieren mit Pflichten und haben die gleichen Eigenschaften. Vor allem bei moralischen Rechten und Pflichten ist dies umstritten. 2.2.5.3

Das moralische Müssen

Ein verpflichtendes Müssen ist sanktionskonstituiert und legitim, meint Stemmer. Solche Müssen finden sich im Recht und in der Moral. Im juridischen Kontext sind verpflichtende sanktionskonstituierte Müssen eher einleuchtend als im moralischen Kontext. Dass ein Gesetz nur aufgrund der Sanktionierung besteht und demjenigen einen Grund liefert, normkonform zu handeln, der nicht bestraft werden will, scheint plausibel. Bernd fährt nur deshalb nicht schwarz, weil er nicht das Risiko eingehen will, 40 Strafe zu zahlen. Gäbe es diese Strafe nicht, hätte Bernd keinen Grund (unter der Voraussetzung, dass Bernd auch keine moralischen Gründe hätte), sich an die Norm zu halten und einen Fahrschein zu kaufen. Für Stemmer lässt sich dies auch auf die Moral übertragen. Das moralische Müssen ist also eine Form des normativen Müssens, das ebenso aus einem Wollen und einem Müssen der notwendigen Bedingung besteht. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch wird das moralische Müssen als verpflichtendes und kategorisches Müssen verwendet: „Du musst Menschen in Not helfen!“. Doch wenn Pflichten wollensabhängig sind, bedeutet dies, dass auch das darin ausgedrückte Müssen von einem Wollen abhängt und damit nicht kategorisch ist. 155

Moral (Kontraktualismus)

Wie bereits besprochen haben Kant und ihm nachfolgende Philosophen die Vernunft als Ursprung eines kategorischen moralischen Müssens betrachtet. Damit wird der Intuition Rechnung getragen, dass das moralische Müssen zu Handlungen zwingt, die eigentlich nicht im Interesse des Akteurs sind. Das moralische Müssen wäre demnach nicht prudentiell. Stemmer hält dem entgegen, dass alle praktischen Müssen hypothetisch, das heißt, wollensrelativ und bedingt sind. Moralisches Müssen sei nicht kategorisch, sondern ein Spezialfall praktischen bedingten Müssens. Die Norm „Du musst Menschen in Not helfen!“ wird bei Nichteinhaltung ebenso bestraft, auch wenn dieses Müssen erpresserisch wäre. Der Bankräuber ruft bei seinem Überfall einfach „Hände hoch!“. Was bedeuten diese Müssen aber genau? Beide Male handelt es sich laut Stemmer um bedingte Müssen, die jeweils eine negative Konsequenz implizieren. Einer, der Notleidenden nicht hilft, erfährt soziale Ächtung und Tadel, und dem, der beim Überfall die Hände nicht hoch nimmt, droht Gewaltanwendung seitens des Räubers. Anders als beim Marathonbeispiel sind die negativen Konsequenzen nicht den Umständen geschuldet, sondern werden in beiden Fällen künstlich und absichtlich geschaffen. Ohne diese negativen Konsequenzen gäbe es das korrespondierende Müssen bzw. die Norm nicht. Diese künstlich geschaffenen negativen Konsequenzen sind nichts anderes als Sanktionen. Beim moralischen wie auch beim erpresserischen Müssen handelt es sich also auch um ein sanktionskonstituiertes Müssen. Damit sind diese Fälle von Müssen nicht kategorisch. Moralische Normen sind also bedingt: Es sind prudentielle Müssen, die künstlich geschaffen wurden. Unmoralisch zu handeln ist damit schlicht irrational. „Wenn das moralische Müssen ein bedingtes Müssen und damit ein prudentielles Müssen ist, bedeutet, sich unmoralisch zu verhalten, demnach, sich irrational zu verhalten.“ (Stemmer 2013, S. 24)

Diese vielleicht überraschende Einsicht, dass das moralische Müssen eine Form des prudentiellen Müssens ist, entspricht einer der ältesten Auffassungen der Philosophiegeschichte. Bereits die eudaimonistische Ethik der Antike verfolgte diesen Ansatz. Um des eigenen 156

Stemmers Normativitätstheorie

Glücks Willen soll man tugendhaft und moralisch handeln. Wer dies nicht tut, kann nicht glücklich werden. Da aber jeder glücklich werden will, wäre es irrational, unmoralisch zu handeln. Das moralische Handeln ist das vernünftige Handeln. Wer klug handelt, handelt auch moralisch. In der antiken Tugendethik ist das moralische Müssen auch ein bedingtes prudentielles Müssen. Dieses ist aber nicht künstlich durch Sanktionierung geschaffen, sondern allein durch die natürliche Gegebenheit, dass tugendhaftes Handeln glücklich macht, konstituiert. Heute verfahren die meisten moralischen Kontraktualisten nach dem gleichen Prinzip. Wenn sich die Mitglieder einer Gesellschaft rational verhalten, schließen sie einen Vertrag, der von allen moralisches Verhalten fordert. Beide Konzeptionen gehen davon aus, dass ein System prudentiellen Müssens ausreicht, um das Phänomen der Moral zu erklären. Genau dies aber kritisiert Wendt, wenn er davon spricht, dass im Kontraktualismus lediglich Klugheitsnormen und keine „echten“ moralischen Rechte begründet werden können. Mit dem Einwand trifft er vor allem Rational-Choice-Theorien 47 wie die Theorie Gauthiers, aber auch die gesamte eudaimonistische Ethik 48 der Antike. Der Einwand kommt aus der Intuition, dass moralisches Handeln nicht aus Eigeninteresse geschieht. Zum anderen ist es fraglich, ob der Verweis auf das Eigeninteresse ausreicht, um mora-

47

Ich werde hier nicht genauer erläutern, wie die Rational-Choice-Überlegungen aussehen und in welchen Fällen sie nicht zu den gewünschten Normen führen. Genaueres hierzu in Stemmer 2013, S. 65, Stemmer 2000, S. 94 ff. und Iturrizaga 2007, S. 155 ff. 48 Die Begriffe „Moral“ und „Ethik“ werden von mir in dieser Arbeit gleichbedeutend verwendet. Bei der Rede von Tugendethik und eudaimonistischer Ethik geht es mir ebenfalls um Moral, wobei hier fraglich ist, ob in der Antike die Rede von Moral überhaupt angebracht ist. Die antike Ethik hat ihren Fokus auf dem guten Leben und es fehlt der Bezug zu Pflichten, der heutzutage als konstitutiv für Moral gilt. Vgl. Birnbacher 2007, S. 3 Heutzutage werden beide Begriffe jedoch oft synonym verwendet, was bei Begriffen wie „Wirtschaftsethik“, Medizinethik“ oder „Ethikkommission“ deutlich wird, bei denen es schlicht um Moral geht.

157

Moral (Kontraktualismus)

lisches Müssen stark genug zu machen, damit es handlungsleitend ist. Dazu kommt, dass ein rein prudentielles Müssen kein moralisches Müssen sei, da es keinen verpflichtenden Charakter hat. Dadurch kann es, so Wendt weiter, keine moralischen Rechte und Pflichten generieren. Wer gegen eine rein prudentiellen Norm handelt, handelt lediglich irrational, missachtet aber niemandes Rechte. Der entscheidende Unterschied zu Stemmers Theorie liegt darin, dass bei ihm das moralische Müssen zwar auch ein bedingtes prudentielles Müssen ist, dieses aber sanktionskonstituiert ist. Eine legitimierte sanktionierende Instanz verleiht den normativen Status des Rechts bzw. der Pflicht. Verhielte es sich anders, könnte jemand, dessen Rechte verletzt wurden, diese Instanz auch nicht zur Sanktionierung desjenigen, der das Recht verletzt hat, auffordern. Die eudaimonistische Ethik und die Rational-Choice-Kontraktualisten verstehen moralische Normen als eine Form des rein prudentiellen Müssens. Wer nicht normkonform handelt, erleidet negative Konsequenzen, die nicht durch Sanktionen, sondern natürlicherweise mit Unglück oder einer suboptimalen Interessenverfolgung verknüpft sind. Zwar sind neben bestimmten Glücksvorstellungen und Rational-Choice auch Mitgefühl und altruistische Ideale Faktoren, die zu moralischem Handeln bewegen können, trotzdem scheint dies oft nicht auszureichen. All diese Faktoren sind nicht homogen in der Gesellschaft verteilt: Wo der eine durch Mitgefühl bestimmt normkonform handelt, tut ein anderer dies nicht, weil ihm das Mitgefühl in einer vergleichbaren Situation fehlt. Ähnlich verhält es sich mit den anderen eben aufgeführten Faktoren. Deshalb ist es sinnvoll, dass das moralische Handeln an etwas gekoppelt wird, das jedem gleichermaßen unterstellt werden kann und auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass sich alle moralisch verhalten. Daher liegt die Idee nicht fern, zusätzlich künstliche Gründe, also Sanktionsmechanismen, zu schaffen, die zusätzlichen normativen Druck auf alle Mitglieder der Gemeinschaft erzeugen können. Stemmer weist also zu Recht darauf hin, dass das bloß prudentielle Müssen, ohne eine Sanktionspraxis in vielen Fällen nicht stark genug ist, um wünschenswerte Normen zu etablieren. Laut

158

Stemmers Normativitätstheorie

Stemmer muss zu dem prudentiellen Müssen noch ein zusätzlich durch Sanktionen geschaffenes Müssen hinzukommen, um den nötigen normativen Druck zu erzeugen: „In all diesen Situationen bedarf es der Existenz einer Sanktionspraxis, um – künstlich – ein Müssen in die Welt zu bringen, das dazu nötigt, anderen x nicht zuzufügen. Das künstliche Müssen repariert gewissermaßen die Schwächen eines bloß prudentiellen Systems der Handlungskoordination.“ (Stemmer 2013, S. 67)

Dies ist auch eine Entgegnung auf den Einwand, das sanktionskonstituierte Müssen sei überflüssig, da man mit einem rein prudentiellen Müssen zum selben Ergebnis kommen würde. Die Rede von Forderungen, Rechten und Pflichten, welche alle konstitutiv für eine Moral sind, haben in einem System rein prudentieller Normen keinen Sinn. Eine Theorie bloß prudentieller Normen kann das nicht leisten. Eine Moraltheorie, bei der es keinen Sinn hat, von Rechten und Pflichten zu sprechen, scheint aber für das heutige Verständnis von Moral untragbar. Rechte und Pflichten zu opfern sei ein zu hoher Preis, und was dann herauskommt, könne man doch nicht mehr eine Moral nennen. Das ist einer der Gründe dafür, dass viele Philosophen behaupten, dass es objektive Werte gibt, aus welchen sich ein moralisches Müssen ergibt, das unabhängig vom Wollen ist. Eine Zuwiderhandlung ist so weit mehr als nur unklug, sondern darüber hinaus auch eine Rechts- und Pflichtverletzung. Doch Stemmer bietet hier eine Theorie subjektiver Werte an, bei der rationalerweise moralisch gehandelt werden muss und dennoch die Rede von Rechten und Pflichten Sinn ergibt. 2.2.5.4

Moralische Sanktionen

Sanktionen sollen den nötigen normativen Druck erzeugen, sich wie von der Moral vorgesehen zu verhalten. Dabei sollen sie so gewählt sein, dass möglichst alle sie vermeiden wollen und sie so stark sind, dass der Druck handlungswirksam ist. Bei der der Moral sind die Sanktionen laut Stemmer informell. Die Mitglieder der moralischen

159

Moral (Kontraktualismus)

Gemeinschaft 49 sanktionieren selbst durch soziale Ausgrenzung, Distanzierung und Zurückweisung. Stemmer ist der Meinung, dass erst durch diese moralischen Sanktionen die Institution der Moral entsteht. Erst durch das zu dem Eigeninteresse hinzukommende moralische Müssen wird, im Gegensatz zur eudaimonistischen Ethik und den Rational-Choice-Theorien, künstlich die Notwendigkeitsbeziehung und damit die Norm geschaffen, sich moralisch zu verhalten. Künstliche Notwendigkeitsbeziehungen werden auch vom Recht durch Sanktionen geschaffen. Diese beinhalten meist Freiheits- oder Geldstrafen, mancherorts auch Todesstrafen, und richten sich damit an basale Wünsche der Menschen. Diese Wünsche sind meistens sehr stark und können jedem unterstellt werden. Niemand möchte eingesperrt und unfrei sein, niemand möchte um sein Eigentum gebracht werden, und niemand möchte getötet werden. Die Moral hingegen richtet sich an andere basale Wünsche, die dennoch jedem unterstellt werden können, nämlich die Akzeptanz und Anerkennung der anderen Mitglieder der Gemeinschaft. An dieses Wollen knüpfen die moralischen Sanktionen an. Unmoralisches Verhalten wird mit Entzug von Akzeptanz und Anerkennung bestraft. „Man reagiert affektiv mit Zorn und Empörung: man regt sich auf; man zeigt seinen Unwillen, seine Bestürzung über das, was passiert ist; man tadelt den Übeltäter, stellt ihn zur Rede, weist ihn zurecht; man wird ihm gegenüber argwöhnisch und misstrauisch; man geht auf Distanz, meidet Kontakte, will mit ihm nichts mehr zu tun haben und zeigt ihm das.“ (Stemmer 2008, S. 307)

Diese Reaktion ist nicht nur vom Opfer der unmoralischen Handlung, sondern auch vom Rest der Gesellschaft zu erwarten, denn dieser hat ebenfalls, z. B. aufgrund einer potentiell abschreckenden Wirkung, ein Interesse daran, dass der Täter sanktioniert wird. Diese „äußeren“ Sanktionen – wie Stemmer sie nennt – können seiner Auffassung nach auch internalisiert werden und damit zu „inneren“

49

Wer Mitglied in der moralischen Gemeinschaft ist, wird im folgenden Kapitel erläutert.

160

Stemmers Normativitätstheorie

Sanktionen werden. Wer etwas Unmoralisches tut, wird von einem „Gefühl des Unbehagens“ bis möglicherweise hin zum „inneren Zwiespalt“ betroffen. Diese Gefühle sind unangenehm, und man sucht sie zu vermeiden. Dies ist zwar eine spontane Reaktion und keine intendierte Strafe; da es aber aufgrund der Internalisierung äußerer Sanktionen geschieht, hält es Stemmer für angemessen, hier von „Sanktionen“ zu sprechen. Durch die Antizipation der Gegenreaktion der Anderen trifft die Absicht zur unmoralischen Handlung auf einen inneren Widerstand, der bestenfalls jedes Mal entsteht, wenn eine solche unmoralische Handlung ausgeführt werden soll. Dieser Widerstand könnte mit der Zeit auch eintreten, ohne dass die Gegenreaktion der anderen im Blick ist und einem gar nicht mehr bewusst ist, woher dieses Gefühl des Unbehagens kommt. Der Wunsch nach Akzeptanz durch die anderen wird zum Wunsch nach „Akzeptanz durch sich selbst“ 50. Dieses Wollen ist, laut Stemmer, elementar: „Die moralischen Sanktionen, die äußeren und die inneren, docken, um einen künstlichen Grund zugunsten der Moral für möglichst alle zu schaffen, an zwei Wünsche an, die alle oder fast alle Menschen unabhängig von der speziellen Ausformung ihres Lebens haben: den Wunsch, durch die anderen anerkannt und akzeptiert zu werden, und den Wunsch, auch von sich selbst anerkannt und akzeptiert zu werden.“ (Stemmer 2008, S. 310)

Damit wird durch die innere Sanktion selbst dort ein moralisches Müssen geschaffen, wo eine unmoralische Handlung faktisch nicht von Anderen sanktioniert wird. Es reicht aus, dass sie sanktioniert werden würde, wenn die Anderen davon wüssten. Die moralischen Sanktionen sind zwar an alle gerichtet, wirken aber individuell unterschiedlich. Das Ausmaß, wie stark der Wunsch nach Anerkennung ausgeprägt ist und wie sehr man die Sanktionen vermeiden will, entscheidet, ob eine solches moralisches Müssen existiert und wie stark es ist. Stemmer meint, dass jeder den Wunsch nach An-

50

Stemmer 2008, S. 309

161

Moral (Kontraktualismus)

erkennung hat, und deshalb jeder dem moralischen Müssen unterliegt: „Jeder will durch die anderen und durch sich selbst anerkannt werden. Dieses Bedürfnis ist zu elementar, als dass man sich davon frei machen könnte. […] Das moralische Müssen existiert also unabhängig von einem Wollen, das man haben kann oder auch nicht haben kann.“ (Stemmer 2008, S. 314)

Damit ist die Kategorizität der Moral gegeben. Jedoch ist das moralische Müssen immer noch wollensrelativ. Es ist eben ein Pro-TantoMüssen, da es sich um ein normatives Müssen handelt und es konkurriert mit anderen normativen Müssen darum, handlungsleitend zu sein. Daher kann das moralische Müssen nicht „overriding“ 51 sein. Das moralische Müssen überschreibt nicht einfach alle anderen Wünsche, wenn es auftritt. Daher ist die moralische Erziehung von immenser Bedeutung, denn wenn sie funktioniert, wird das Kind so beeinflusst, dass sein Selbstbild davon abhängt, sich moralisch richtig zu verhalten. Damit würden die Sanktionen bereits verinnerlicht und die äußeren Sanktionen verlieren an Bedeutung. Moralische Normen sind aber, und das ist der entscheidende Punkt, legitime Normen. Sie sind nicht allein durch Macht etabliert. Diese Legitimität bringt auch die Anderen dazu, sich an der Sanktionierung zu beteiligen. Wer den äußeren Druck für gerechtfertigt hält, wird auch leichter die Sanktion verinnerlichen als bei nicht gerechtfertigten Normen. Damit ein oder mehrere Mitglieder der Gemeinschaft gerechterweise sanktionieren dürfen, müssten sie dazu ermächtigt worden sein. Doch woher kommt diese Ermächtigung, die Legitimation, normativen Druck zu erzeugen und so Normen durchzusetzen? „Zu zeigen, dass die Durchsetzung einer Norm legitim ist, bedeutet also zu zeigen, dass diese Durchsetzung selbst normkonform ist und nicht mit einer Norm kollidiert. Die Norm, die hier den Maßstab 51

Einige Philosophen behaupten, dass moralische Gründe eben nicht mit anderen Gründen konkurrieren und immer ausschlaggebend bzw. handlungsleitend sind. Vgl. hierzu: Portmore 2008, S. 369

162

Stemmers Kontraktualismus

bildet, ist das Verbot, andere Menschen zu unterdrücken.“ (Stemmer 2013, S. 137)

Sofern Stemmers Normativitätstheorie zutrifft, haben Rechte und Pflichten einen Platz in einem System prudentiellen Müssens. Dafür ist es notwendig, ein sanktionskonstituiertes Müssen zu legitimieren. Stemmer ist der Meinung, dass sich ein solches Müssen im Kontext von Recht und Moral auf analoge Weise legitimieren lässt. Im juridischen Kontext ist die Unterscheidung von legitimen und erpresserischen Normen intuitiv leicht zugänglich. Die vom Gesetzgeber erlassene Norm: „Jeder muss 30 % Einkommenssteuer abführen.“ ist legitim, wohingegen die durch die Mafia erlassene Norm: „Jeder muss 30 % seines Einkommens als Schutzgeld abführen.“ erpresserisch ist. Beide Normen sind sanktionskonstituiert und geben den Adressaten Gründe, die Norm zu befolgen. Hier gibt es einen entscheidenden Unterschied bezüglich der Legitimation der beiden Normen. Laut Stemmer ist klar, dass es sich dabei um die Autorisierung des Normautors handelt. Die Mafia wurde nicht durch die Betroffenen autorisiert und die Norm ist damit eine bloße Machtausübung und Unterdrückung seitens der Mafia. Die Gesetzgeber hingegen wurden z. B. durch demokratische Wahlen von den Betroffenen autorisiert, Gesetze bezüglich der Einkommenssteuer zu erlassen. Wenn sich die moralischen sanktionskonstituierten Müssen, analog zum Recht, ebenso durch Autorisierung der Betroffenen legitimieren lassen, bietet sich der Kontraktualismus als Legitimationsverfahren an. Ob der Kontraktualismus dies leisten kann und damit als Moralbegründung dienen kann, gilt es somit im Folgenden zu prüfen.

2.3

Stemmers Kontraktualismus

In Stemmers Normativitätstheorie ist mit einer Norm ein sanktionskonstituiertes Müssen gegeben. Eine Norm zu erlassen setzt also die Macht voraus, einen Verstoß auch sanktionieren zu können. Wenn der Normautor dazu autorisiert ist, Normen zu erlassen und damit 163

Moral (Kontraktualismus)

auch zu sanktionieren, handelt es sich bei dem Müssen um ein legitimes und damit verpflichtendes Müssen; ansonsten ist es ein erpresserisches Müssen, das nicht verpflichtet und bloßer Gebrauch von Macht ist. Da der Pflichtbegriff konstitutiv für Moral ist, muss der Autor moralischer Normen autorisiert sein, diese zu erlassen. Der Vorwurf, der Kontraktualismus könne bloß prudentielle Müssen begründen, kann also zurückgewiesen werden, wenn es gelingt zu klären, wie ein Normautor dazu ermächtigt wird. An dieser Stelle schließt sich der Kreis 52 in Stemmers Theorie, da er für diese Autorisierung bzw. Legitimation von Normen das Verfahren des Kontraktualismus vorschlägt. „Die Ermächtigung […] erfolgt […] in der Form des gegenseitigen Ermächtigens: Jeder einzelne ermächtigt alle anderen und wird von allen anderen ermächtigt.“ (Stemmer 2013, S. 42)

Die Gemeinschaft ist damit ein legitimer Normautor, da sich die Mitglieder wechselseitig autorisieren, Normen zu erlassen und diese bei Nicht-Einhaltung sanktionieren. Wer aber ist Mitglied der moralischen Gemeinschaft? Nach kontraktualistischer Auffassung sind nicht einfach alle Menschen durch ihr Menschsein Teil der moralischen Gesellschaft. Nur diejenigen sind Mitglied der moralischen Gemeinschaft, die kontraktfähig sind und zu einer wechselseitigen Autorisierung fähig. Somit können nur Lebewesen teilhaben, die auch Interessen besitzen, da diese die Grundlage der Moral sind. Zudem muss ein Lebewesen gegen die Interessen eines anderen handeln zu können, damit überhaupt die Notwendigkeit besteht, eine 52

Ein an dieser Stelle aufkommender Verdacht, dass die Moralbegründung Stemmers zirkulär sei, kann zurückgewiesen werden. Wenn Stemmer seine Normativitätstheorie für die kontraktualistische Moralbegründung voraussetzen würde und die Normativitätstheorie den Kontraktualismus voraussetzen würde, wäre der Vorwurf der Zirkularität berechtigt. Jedoch erklärt seine Normativitätstheorie unabhängig vom Kontraktualismus das Phänomen der Normativität. Nur wenn es darum geht, moralische legitime Normen von erpresserischen Normen zu unterscheiden wird ein Legitimationsverfahren benötigt. Der Kontraktualismus bietet ist ein solches Legitimationsverfahren für moralische Normen. Zudem liefert der Kontraktualismus zugleich eine Moralbegründung und die Inhalte der Moral.

164

Stemmers Kontraktualismus

Moral einzuführen, die diese Interessen schützt. Und nur derjenige kann Mitglied der moralischen Gemeinschaft werden, der über die rationalen Fähigkeiten verfügt, moralischen Forderungen nachzukommen. „Wir haben jetzt die Bedingungen für die Mitgliedschaft in der moralischen Gemeinschaft gefunden: (1) die Interessensbedingung, (2) die Machtbedingung und (3) die Vernunftbedingung.“ (Stemmer 2000, S. 257)

Nur Menschen erfüllen diese Bedingungen und deshalb können nur sie Mitglied der moralischen Gemeinschaft sein. Jedoch gibt es Menschen, die eine der Bedingungen nicht erfüllen 53. Sie sind nicht Teil der moralischen Gemeinschaft, da sie sich nicht in einem reziproken Verhältnis mit den anderen Menschen stehen. Dieses reziproke Verhältnis und damit die wechselseitige Ermächtigung zur Sanktionierung ist aber notwendig für die Legitimation von Normen. Eine solche wechselseitige Autorisierung hat aber nie stattgefunden. Stemmer hingegen ist der Meinung, dass eine hypothetische Ermächtigung in einer hypothetischen Situation als Legitimation ausreicht: „Es gibt den Unterschied zwischen dem Müssen, das zu setzen, sich rationale Individuen gegenseitig ermächtigen würden, wenn sie aus einem vormoralischen Zustand heraus eine Moral erst hervorbringen müssten, und dem Müssen, das zu setzen, sich rationale Individuen nicht ermächtigen würden, wenn sie eine Moral erst erfinden müssten. […] Das Unterscheidungskriterium ist hiernach nicht die faktische Ermächtigung, sondern die hypothetische Ermächtigung, die man in einer hypothetischen Situation vornehmen würde.“ (Stemmer 2013, S. 43)

53

Vgl. dazu Stemmer 2000, S. 249–287; Im Kapitel „Wer ist Mitglied der moralischen Gemeinschaft“ erläutert Stemmer ausführlich wer alles Teil der moralischen Gemeinschaft ist. Ein wichtiger Punkt ist, dass Kinder bis zu einem gewissen Alter die Vernunftbedingung nicht erfüllen, aber dennoch über indirekte moralische Rechte geschützt sind. Dieser Punkt ist zwar für die Attraktivität des Kontraktualismus wichtig, jedoch für meine Arbeit nicht weiter von Relevanz, daher werde ich nicht näher darauf eingehen.

165

Moral (Kontraktualismus)

Eine Norm ist dann legitim, wenn eine bestimmte Interessenskonfiguration vorliegt, die der Konfiguration im Rahmen eines Vertrages ähnelt. Einen Vertragsschluss oder eine andere Art der tatsächlichen wechselseitigen Autorisierung ist also gar nicht nötig. 54 Die Fiktion eines Naturzustandes und des Vertragsschlusses bzw. des Agreements dient nur der Veranschaulichung. „Wenn eine Regelung in der tatsächlichen Welt von der Art ist, dass man sich denken kann, das alle, die von ihr betroffen sind, in einem Zustand, in dem es diese Regelung noch nicht gibt, in Verfolgung ihrer Interessen oder Ideale rationalerweise übereinkommen, sie zu schaffen, ist die Regelung eine, der alle Betroffenen in der tatsächlichen Welt zustimmen können. […] Sie können ihr zustimmen, weil sie im Interesse eines jeden ist und folglich eine für jeden Einzelnen vernünftige Regelung darstellt. […] Die Vernünftigkeit der Regelung bemisst sich an den Interessen der einzelnen Individuen und ihren Idealen […] (und) ist unabhängig davon, dass sie die Regelung als vernünftig […] (erkennen) und ihr deshalb […] (zustimmen).“ (Stemmer 2013, S. 45)

Eine faktische Zustimmung ist also nicht nötig, da es aufgrund der eigenen Interessen vernünftig ist, zuzustimmen. Der verpflichtende Charakter der Norm resultiert aus der genannten Interessenskonfiguration der Betroffenen. „Verpflichtend ist ein Müssen, dessen Konstitution durch Sanktionen im Interesse der Betroffenen liegt, das heißt: für jeden der Betroffenen vernünftig ist. Erpresserisch ist ein Müssen, für das dies nicht gilt.“ (Stemmer 2013, S. 46)

Für das Zustandekommen einer Moral müssen die Normen im Interesse aller Betroffenen sein. Dass eine Norm im Interesse aller 55 liegt, ist somit konstitutiv für den Begriff der moralischen Pflicht.

54

Stemmers Kontraktualismus ist also eine Form des hypothetischen Kontraktualismus; vgl. hierzu das Kapitel: „Moralischer Kontraktualismus“. 55 Wenn hier vom „Interesse aller“ gesprochen wird, ist die Rede vom Interesse aller Mitglieder der moralischen Gemeinschaft und nicht aller Menschen.

166

Stemmers Kontraktualismus

„Eine legitime Ordnung verlangt also immer eine Homogenität der Interessen bei den Betroffenen.“ (Stemmer 2013, S. 14)

Das Kriterium für die Legitimation einer Norm ist die Bedingung, dass die Norm im Interesse aller Betroffenen sein muss. Daher ist es essentiell zu wissen, was genau im Interesse aller ist. Es kommen nur Interessen in Frage, die wirklich jedes Mitglied der Gemeinschaft hat. Wenn sich zeigen lässt, dass die moralischen Normen im Interesse aller sind, könnte man Stemmers Theorie, entgegen der Behauptung Wendts, als Begründung einer (libertären) Moral heranziehen. An dieser Stelle geht es von der Begründung der Moral zum Inhalt der Moral und deren Normen über. Denn dass die Normen im Interesse aller sind, ist die Voraussetzung für die Begründung der Moral; der Inhalt der Moral wird diese Interessen abbilden. Wenn sich die moralischen Normen kontraktualistisch begründen lassen, müsste in einem nächsten Schritt geklärt werden, ob diese Normen den libertären Normen entsprechen und somit eine libertäre Moralbegründung gefunden wäre. Bis hierhin kann festgehalten werden: Der Kontraktualismus generiert lediglich prudentielle Müssen, aber keine stärker oder wollensunabhängig verpflichtende moralische Müssen zur Begründung libertärer, wie auch allgemein moralischer Normen. Dies wird im Allgemeinen als dessen Schwäche ausgelegt. Stemmer liefert mit seiner Normativitätstheorie eine Möglichkeit, sanktionskonstituiertes prudentielles Müssen zu erklären, das verpflichtenden Charakter besitzt. Dazu benötigt er ein Legitimationsverfahren als Unterscheidungskriterium, um zwischen erpresserischem und verpflichtendem prudentiellem Müssen zu differenzieren. Im juridischen Kontext ist ein solches Legitimationsverfahren z. B. durch ein demokratisches Prinzip recht unumstritten. Normen, die durch gewählte Vertreter erlassen worden sind, gelten als legitimiert und verpflichtend; Normen, die nicht auf diesem Weg entstanden sind, sind erpresserisch. Analog dazu schlägt Stemmer für moralische Normen das Verfahren des hypothetischen Kontraktualismus vor. Hier sind Normen legitim, wenn sich denken lässt, dass vernünftigerweise alle Betroffenen 167

Moral (Kontraktualismus)

zustimmen können. Dafür müssen die Normen im Interesse aller sein. Aber dieses Kriterium scheint ein sehr starkes Kriterium, von dem bezweifelt werden kann, dass es überhaupt oder zumindest ausreichend oft erfüllt wird.

2.3.1

Das Interesse aller

Um festzustellen, welche Interessen allen Menschen unterstellt werden können, verfolgt Stemmer keinen empirischen Ansatz. Stattdessen setzt er lediglich voraus, dass Menschen Interessen haben und diesen Interessen nachkommen wollen. Dieses übergeordnete Interesse kann sinnvollerweise jedem unterstellt werden. Jeder will, dass er die Dinge, die er will, auch bekommt. Aus diesem „höherstufigen“ Interesse, Interessen zu befriedigen, können weitere Interessen abgeleitet werden. 56 „[Die zweite Vorgehensweise] läßt offen, welche Interessen die Menschen haben, und geht allein davon aus, daß sie überhaupt Interessen haben, welche auch immer, und daß sie zudem das höherstufige Interesse haben, ihre Interessen zu verfolgen und zu befriedigen. […] Und von diesem einen höherstufigen Interesse kann man […] zu weiteren allgemeinen unterstellbaren Interessen kommen.“ (Stemmer 2000, S. 195–196)

Ein solches abgeleitetes Interesse wäre z. B. die Selbsterhaltung, denn wer tot ist, kann gar kein Interesse befriedigen. Es gilt also zu zeigen, welche basalen Interessen zu verfolgen rational zwingend ist, um überhaupt Interessen befriedigen zu können, unabhängig davon, 56

Dagegen könnte man einwenden, dass es kein höherstufiges Interesse, Interessen zu befriedigen, gibt. Weitere Interessen wie z. B. die Selbsterhaltung leiten sich einfach daraus ab, zukunftsgerichtete Interessen zu haben. Ob es höherstufige Interessen, Volitionen zweiter Stufe, oder Wünsche bezüglich Wünschen gibt, ist eine kritische Frage, spielt aber für die Argumentation keine Rolle. Denn es scheint mir nicht der entscheidende Punkt zu sein. Es reicht aus, dass alle Menschen Interessen haben und um diese überhaupt verfolgen zu können, bestimmte basale Interessen verwirklichen müssen, die dann jedem unterstellt werden können.

168

Stemmers Kontraktualismus

was diese Interessen letztlich beinhalten. Die folgende Liste ist eine Zusammenstellung der basalen Interessen, die laut Stemmer jedem unterstellt werden können 57: – – – – – – –

Selbsterhaltung körperliche Aktionsfähigkeit und damit Gesundheit und Integrität des Körpers Hilfe in lebensbedrohlichen Situationen zu bekommen psychische Gesundheit materielle Mittel, wie etwa den Besitz von Nahrungsmitteln, Kleidung und Gebäuden geistige Handlungsfähigkeit kein bloßer Spielball fremder Macht zu sein und unterdrückt zu werden

sowie – – – – –

nicht gedemütigt und erniedrigt zu werden nicht belogen, betrogen und benachteiligt zu werden Freundschaften soziale Anerkennung/Akzeptanz günstige Umstände und das Glück/günstiger Zufall

Für die ersten sieben Interessen lässt sich mehr oder weniger problemlos behaupten, dass sie basal, und damit notwendig sind, um überhaupt Interessen befriedigen zu können. Die letzten fünf Interessen erfüllen dieses Kriterium hingegen nicht. Dass man seine Interessen nicht verfolgen kann, wenn man körperlich, geistig oder materiell stark eingeschränkt ist, liegt auf der Hand. Wer gedemütigt, belogen und betrogen wird, keine Freunde, keine Anerkennung und kein Glück hat, mag kein besonders schönes Leben führen, scheint aber durchaus die Möglichkeit zu besitzen, Interessen zu verwirklichen. Dennoch lässt sich wohl mit Ausnahme des Interesses an 57

Stemmer 2000, S. 197, Stemmer 2013, S. 83,96,171, Stemmer 2016, S. 107 ff.

169

Moral (Kontraktualismus)

Freundschaften 58 auch für diese Interessen behaupten, dass sie jeder hat. Wenn nun bei allen die Interessenskonfiguration vorliegt, dass die Interessen wechselseitig, jeweils an die Anderen gerichtetet sind und diese Interessen wichtiger sind, als die Möglichkeit, gegen das Interesse der anderen zu handeln, wäre es für alle vernünftig, Normen zu etablieren, die diese Interessen schützen. Das Argument lässt sich wie folgt rekonstruieren: P1: Jeder hat Interessen. P2: Jeder hat ein Interesse daran seine Interessen zu befriedigen. P3: Selbsterhaltung, körperliche und geistige Unversehrtheit und andere grundlegende Freiheiten sind basale Dinge, die notwendig sind, um Interessen verfolgen zu können. ZK: Daraus folgt, dass jeder ein Interesse an diesen basalen Dingen hat. P4: Jeder besitzt die Interessenkonfiguration, dass der Schutz der basalen Interessen wichtiger ist, als die Möglichkeit, anderen die Befriedigung dieser basalen Interessen streitig zu machen. P5: Die Etablierung von moralischen Normen nimmt jedem die Möglichkeit, ungestraft die basalen Interessen anderer zu beeinträchtigen und bietet damit einen Schutz basaler Interessen für jeden. K: Die Etablierung moralischer Normen, die dieser Interessenkonfiguration entspricht, ist somit im Interesse aller. Die ersten drei Prämissen sind unproblematisch. Die Zwischenkonklusion, dass jedem die genannten basalen Interessen unterstellt werden können, ist plausibel. Prämissen 4 und 5 hingegen sind diskussionsbedürftig. Man könnte bezweifeln, dass die Etablierung 58

Es benötigt nicht viel Fantasie, sich einen Menschen vorzustellen, der kein Interesse an Freundschaft hat. Ob es so jemanden wirklich gibt, ist fraglich, spielt aber für die Überlegung keine Rolle. Es ist ja, wie gesagt, keine empirische Frage, sondern eine theoretische Überlegung und es ist vorstellbar, dass jemand kein Interesse an einer Freundschaft besitzt. Jedoch scheint mir dieser Punkt nicht besonders wichtig.

170

Stemmers Kontraktualismus

einer Norm zum Schutz der basalen Interessen beiträgt, jedoch scheint mir das bei den Normen, die aus den basalen Interessen folgen, unplausibel. Wenn eine Norm z. B. zur Hilfe verpflichtet und Zuwiderhandeln sanktioniert wird, müsste die Sanktion völlig wirkungslos bleiben, damit sie nicht zum Schutz des Interesses an Hilfe beiträgt. Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Normautoren einen wirkungsvollen Sanktionsmechanismus zum Schutz der Interessen, die jeder hat, installieren. Lediglich die vierte Prämisse bringt größere Probleme mit sich, auf die ich erst im späteren Verlauf zu sprechen komme. Vorerst ist es wichtig zu sehen, was passiert, wenn das Argument korrekt ist. Angenommen, alle Prämissen treffen zu und die Konklusion folgt, dann könnten die Legitimität und der verpflichtende Charakter moralischer Normen allein aus der Annahme, dass jeder Mensch Interessen hat und diese verfolgen können möchte, abgeleitet werden. Durch die Homogenität basaler Interessen der Menschen entstehen auf diese Weise legitime moralische Normen.

2.3.2

Minimalmoral und Quasi-Moral

Im Einklang mit den basalen Interessen würde sich dann ein Katalog aus Normen ergeben, der die kontraktualistische Moral bildet. Diese Moral ist Stemmer zufolge die einzig vernünftige und allgemeingültige Moral, da alle die gleichen basalen Interessen haben und damit jeder Grund hat, diese Moral zu wollen. „Diese Moral ist die eine für alle vernünftige Moral mit dem einen vernünftigen Inhalt. Sie ist eine nicht-regionale, nicht-relative allgemeine Moral, die ihren Grund in basalen Interessen hat, die man jedem Menschen fraglos unterstellen kann.“ (Stemmer 2000, S. 209)

Stemmer bezeichnet eine solche Moral als rationale bzw. vernünftige Moral und „Minimalmoral“. Grob umrissen enthält sie folgende Pflichten: „[…] Inhalte dieser Moral […]: die Pflicht, nicht zu töten, die Pflicht, dem anderen im Falle einer Lebensgefahr zu helfen, die Pflicht, den anderen körperlich nicht zu verletzen. Weiter die Pflicht, den anderen

171

Moral (Kontraktualismus)

in der Entfaltung und in Gebrauch seiner geistigen Fähigkeiten nicht zu behindern, die Pflicht, ihn psychisch nicht zu schädigen und schließlich die Pflicht, ihn nicht zu demütigen und zu erniedrigen.“ (Stemmer 2000, S. 209–210) „Danach ist immerhin klar, daß ihre Regelungen sich in etwa auf den Schutz der körperlichen, geistigen und psychischen Integrität, auf den Schutz vor Demütigung und Erniedrigung, auf die Sicherung basaler Freiheiten, vor allem der Freiheit sein eigenes Leben zu leben, auf Hilfe in Notsituationen sowie auf den Schutz des Eigentums beschränken.“ (Stemmer 2000, S. 292)

Die Minimalmoral enthält demnach folgende Normen: – – – – –

Tötungsverbot Verbot andere körperlich wie psychisch zu schädigen Unterdrückungsverbot Diebstahlverbot Hilfsgebot bei lebensbedrohlichen Situationen

Diese wenigen Normen sind nach Stemmer für jeden begründbar, unabhängig davon, welche Interessen sonst noch im Spiel sind. Moralische Normen sind Verbote und Gebote, die Rechte und Pflichten schaffen. Das Tötungsverbot bedeutet, dass jeder gegenüber jedem das Recht hat, nicht getötet zu werden, aber auch die Pflicht hat, die anderen nicht zu töten. Jeder erhält durch eine Norm ein entsprechendes Recht und eine entsprechende Pflicht. (A)s Recht, von (B) nicht getötet zu werden, bedeutet eine Pflicht für (A), das Töten von (B) zu unterlassen. (B) nicht töten zu dürfen ist eine Freiheitseinschränkung, die dadurch legitim ist, dass (A) gleichzeitig das Recht erhält, nicht getötet werden zu dürfen – was in seinem Interesse ist. Die Norm zwingt (A) zwar durch die Pflicht zu etwas, was er unter bestimmten Umständen nicht will, aber er bekommt mit dem Recht etwas, was für ihn wertvoller ist. Es ist besser, durch das Recht vor der Tötung durch alle anderen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft geschützt zu sein, als die Möglichkeit zu haben, jemanden ungestraft töten zu können. Alles in allem, oder, wie Stemmer sagt, 172

Stemmers Kontraktualismus

unter’m Strich, will (A) die Norm und akzeptiert die Freiheitseinschränkung. Verstieße (A) gegen die Norm, dann wäre der Zwang ihm gegenüber begründet und gerechtfertigt. Er selbst hat das mit dem Akzeptieren der Norm gewollt. Eine solche Rechtfertigung ist bei allen Normen der Minimalmoral gegeben. Niemand wird durch die moralische Norm zu etwas gezwungen, was er selbst nicht will. Die Tatsache, dass es sich um eine wenig weit reichende, minimal gehaltene Moral handelt, stößt üblicherweise auf Kritik. Alle anderen Moraltheorien postulieren viel weitreichendere Normen und sprechen den Menschen mehr Rechte und Pflichten zu. Die Minimalmoral kann aus diesem Grund kritisiert werden, denn alle Normen die darüber hinaus gehen, wie z. B. das Verbot, Tiere zu quälen, lassen sich nicht auf diese Weise begründen, obwohl viele ein solches Verbot als essentiell für eine Moral betrachten. Stemmer ist der Ansicht, dass eine Moral gegenüber jedem begründet 59 und gerechtfertigt sein muss, selbst dann, wenn jemand ausschließlich egoistische und keine altruistischen Interessen hat. „Die kontraktualistische Theorie, wie ich sie hier entfalte, hat, wie gesagt, das Ziel, zu zeigen, daß es für jeden […] rational zwingend ist, den moralischen Raum zu betreten.“ (Stemmer 2000, S. 201)

Wer kein Interesse am Tierschutz hat, weil er gegenüber Tieren keinerlei altruistische Interessen hat, hat keinen Grund, Tiere zu schützen. Er hätte damit keinen Grund, die moralische Norm zu akzeptieren und zu befolgen, außer man zwingt ihn durch Androhung von Strafe dazu. Das macht die Durchsetzung der Tierschutz-Norm ihm gegenüber zu erpresserischem Zwang, denn durch die Norm würde er zu etwas gezwungen, was er nicht will. Der Zwang wäre nur gerechtfertigt bzw. legitim, wenn die Norm im Interesse aller und damit auch in seinem Interesse wäre. Tiere zu schützen ist in diesem Fall kein Interesse, das zu haben jedem unterstellt werden kann. Eine Tierschutznorm gehört laut Stemmer also nicht in den 59

Zumindest in „Handeln zugunsten Anderer“ behauptet er, dass moralische Normen gegenüber jedem begründet sein müssen. Darauf komme ich im weiteren Verlauf der Arbeit noch zu sprechen.

173

Moral (Kontraktualismus)

Bereich des moralischen, sondern des altruistischen Handelns. Dies stellt für ihn kein Problem dar, da die meisten Gründe für Handlungen zugunsten anderer aus anderen Quellen stammen: „Unser Verhalten zugunsten anderer kommt zum allergrößten Teil aus anderen, nicht-moralischen Quellen, so aus altruistischen Präferenzen und Idealen, aus Sensibilität für das Leiden anderer, aus einem biologisch-genetisch fundierten Altruismus, aus einem Gefühl der Verbundenheit und Gemeinschaft, aus Freundschaft, Sympathie, Zuneigung und Liebe, aus Anpassung an das, was andere tun, an das, was andere erwarten, aus Streben nach Anerkennung, Zuneigung und Reputation, natürlich auch aus handfesterem Eigennutz […].“ (Stemmer 2000, S. 294)

Altruistische Ideale sind dabei die wichtigsten Quellen altruistischen Handelns 60. Ein Interesse an Tierschutz ist ein altruistisches Interesse, das viele Menschen teilen, aber nicht jedem unterstellt werden kann. Dieses Interesse ist aber nicht nur irgendein Interesse, sondern es ist vielen Menschen ein wichtiges Anliegen, ein Ideal, mit dem sie sich identifizieren und an dem sie sich, ähnlich wie an moralischen Normen, orientieren. Es gibt große Gruppen, die solche altruistischen Ideale teilen, die dann z. B. Tierschutz für wichtig erachten. Eine Gruppe kann sich dafür einsetzen, dass dieses Ideal verwirklicht wird und sich Normen auferlegen, die dafür sorgen, dass das Ideal gestärkt und nach ihm gehandelt wird. Analog zur Moral entsteht für die Betroffenen ein zusätzliches Müssen und in diesem Zuge auch Pflichten und Rechte. So kann sich eine Gruppe zusammenfinden, die das altruistische Ideal teilt, dass man Tiere nicht quälen darf. Sie können ein Verbot erlassen, Tiere zu quälen, und die Nichteinhaltung des Verbots sanktionieren. Jedes Gruppenmitglied hat damit die Pflicht, Tierquälerei zu unterlassen. Jedoch gelten diese Pflichten nur für diejenigen, die auch das Ideal teilen. Die so generierten Rechte kommen in diesem Fall nicht den Mitgliedern der Gruppe zugute. Hier sind die Tiere die Nutznießer, ohne dass sie zu etwas verpflichtet sind, und die

60

Vgl. Stemmer 2000, S. 296 f.

174

Stemmers Kontraktualismus

Mitglieder der Gruppe haben in dieser Sache lediglich Pflichten. Rechte und Pflichten sind damit nicht wie in der Moral symmetrisch 61 verteilt. Teilt jemand das altruistische Ideal nicht, ist er auch nicht dazu verpflichtet, sich dem Ideal entsprechend zu verhalten. Auf diese Weise unterscheiden sich die Pflichten und Rechte, die aus einem Ideal entstehen, von den morlaischen Rechten und Pflichten. Erstere gelten für eine Teilgruppe der moralischen Gemeinschaft. Die moralischen Pflichten gelten für alle, da alle diesbezüglich dieselben Interessen besitzen. „Das moralische Müssen ist zwar (wie jedes praktische Müssen) ein relatives Müssen (…), aber eben relativ auf Interessen, die jeder notwendigerweise hat und die man deshalb jedem unterstellen kann. Dem moralischen Müssen kann sich deshalb niemand entziehen, indem er darauf verweist, daß er die Interessen, auf denen das Müssen basiert, gar nicht hat.“ (Stemmer 2000, S. 355)

Trotzdem ist das Müssen, das in einer Gruppe mit geteiltem altruistischem Ideal sanktionskonstituiert eingeführt wird, ebenso verpflichtend. Wenn alle Betroffenen aufgrund ihrer gemeinsamen Interessen Normen einführen, sind sie für jeden der Gruppe legitim begründet und damit verpflichtend. Jedoch gelten die Normen nicht für alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, sondern nur innerhalb dieser Gruppe. Bei solchen normativen Phänomenen spricht Stemmer daher von einer „Quasi-Moral“. Ich werde die normative Ordnung, die die Gruppe auf der Basis gemeinsamer Ideale schafft, „Quasi-Moral“ nennen. (Stemmer 2000, S. 355)

Geteilte altruistische Ideale finden sich in verschiedenen Kulturen, die sich je nach Erziehung und sozialer Prägung unterscheiden. So gibt es viele Quasi-Moralen nebeneinander, die verschiedene Pflichten und Rechte beinhalten können. Die daraus entstehenden Pflich61

Die Symmetrie besteht darin, dass jeder, der ein Recht hat, auch eine entsprechende Pflicht hat. Vgl. dazu das Kapitel: „Libertäre Rechte und Pflichten“

175

Moral (Kontraktualismus)

ten sind dennoch „echte“ Pflichten, da die entsprechende quasi-moralische Norm im Interesse aller Gruppenmitglieder mit dem gleichen Ideal ist. Innerhalb der Gruppe herrscht Einstimmigkeit bezüglich der Norm. Innerhalb der Gruppe wird das Zuwiderhandeln legitimerweise sanktioniert. Analog zur Moral werden die Sanktionen verinnerlicht und ergänzen die äußeren Sanktionen. Wenn eine quasi-moralische Forderung an jemanden außerhalb der Gruppe gerichtet wird, der nicht das entsprechende Ideal hat, braucht er der Forderung nicht nachzukommen. Er hat schließlich kein Interesse an der Norm. Ihm gegenüber ist die quasi-moralische Forderung unbegründet und eine Sanktionierung wäre illegitim. Wird er aber dennoch sanktioniert, handelt es sich dabei um erpresserischen Zwang. Ebenso haben quasi-moralische Normen das Potential, andersdenkende Mitglieder innerhalb einer Gruppe zu unterdrücken. „[…] (Es) besteht die Gefahr, sie (quasi-moralische Forderungen) fälschlich für moralische Forderungen zu halten und sie deshalb unberechtigterweise unterschiedslos an alle zur richten. Und selbst wenn man dies nicht tut, sich vielmehr ihres Status und ihrer bloß regionalen Geltung innerhalb einer Quasi-Moral bewußt ist, besteht die Gefahr, quasi-moralische Forderungen an Personen zu richten, die zwar in der Gruppe leben, die der Quasi-Moral unterliegenden Gruppenideale aber nicht teilen oder nicht mehr teilen. Auch hier wären die Forderungen unberechtigt. (Stemmer 2000, S. 370)

Die Durchsetzung der quasi-moralischen Norm wäre auch hier unmoralisch. Es gibt also klare Unterschiede zwischen Moral und Quasi-Moral. In beiden Fällen handelt es sich um verpflichtende prudentielle Normen, lediglich ihre Reichweite ist unterschiedlich. Stemmer kann also zeigen, dass es prudentielle verpflichtende Normen gibt, die kontraktualistisch legitimiert und begründet sind. Eine geringe Anzahl an Normen kann gegenüber allen begründet 62 werden. Ihre Einhaltung ist damit für jeden verpflichtend. Ein Ver-

62

Das ist der Stand der Dinge, wie ihn Stemmer in „Handeln zugunsten anderer“ formuliert.

176

Stemmers Kontraktualismus

stoß gegen die Normen darf von der Gemeinschaft legitimerweise sanktioniert werden. Diese und nur diese sind die moralischen Normen. Alle Normen, die darüber hinausgehen und ein altruistisches Interesse voraussetzen, das nicht jedem zugeschrieben werden kann, sind folglich nicht gegenüber jedem begründbar und auch nicht für jeden verpflichtend. Diese Normen bezeichnet Stemmer als „quasimoralisch“. Normen, die gegenüber den Betroffenen weder begründet noch gerechtfertigt sind, sind erpresserische Normen. Das in einer solchen Norm enthaltene Müssen ist ein erpresserisches Müssen. Es konstituiert keinen normativen Status von Rechten und Pflichten. Es drückt bloß das Wollen des Normautors aus und stellt damit keine Pflicht dar.

2.3.3

Einstimmigkeit, Unterdrückung und essentielle Normen

Moralische Normen sind allgemeingültig, da sie dem Einstimmigkeitsprinzip genügen: Sie sind im Interesse aller, und deshalb für alle begründet. Ihre Durchsetzung ist gegenüber allen gerechtfertigt. Die moralischen Normen können daher nie erpresserisch sein. Quasimoralische Normen genügen diesem Prinzip hingegen nicht. Würde man eine solche Norm gegenüber denjenigen durchsetzen, die das der Norm zugrundeliegende Interesse nicht teilen, wäre das erpresserisch – eine Form der Unterdrückung. Echte moralische Normen unterscheiden sich durch die Erfüllung des Einstimmigkeitskriteriums von quasi-moralischen Normen, die dieses Kriterium nicht erfüllen. Jedoch setzt ein solcher moralischer Anspruch an moralische Normen bereits einem moralischen Rahmen voraus. „Moralische Normen unterstehen selbst einem moralischen Standard. Dies wird überall vorausgesetzt, wo gerechtfertigte und ungerechtfertigte Normen, verpflichtende Moral- und bloße Machtnormen unterschieden und entsprechende Abgrenzungskriterien benannt werden.“ (Stemmer 2013, S. 80)

177

Moral (Kontraktualismus)

Aber worauf stützt sich das moralische Urteil über die moralischen Normen? Warum genau ist die Zustimmung aller der Maßstab für moralische Normen? Eine Idee, diesen Maßstab zu verteidigen, wäre die Behauptung: der Begriff der Moral beinhaltet dies bereits auf der Definitionsebene. Moral ist einfach so definiert: Sie muss im Interesse aller sein, sonst ist sie keine Moral. Eine solche Definition ist zwar möglich, sie wäre aber begründungsbedürftig. Denn aus welchem Grund ist der Begriff so definiert? Hier fehlt eine plausible Antwort, es sei denn, man greift auf den Objektivismus zurück. 2.3.3.1

Das Unterdrückungsverbot

Für dieses Problem hat der Kontraktualismus eine einfache Antwort jenseits metaphysisch aufgeladener Festlegungen und Annahmen. Sie gleicht der Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Normen – dem Interesse der Betroffenen. Jeder hat ein Interesse an einem solchen Maßstab für moralische Normen. Die Menschen müssten also im Naturzustand vernünftigerweise eine Norm beschließen und ins Leben rufen, die als übergeordnete Norm festlegt, welche moralischen Normen gerechtfertigt sind. „Versetzen wir uns also in den Naturzustand und sehen, ob eine Gemeinschaft, die dabei ist, sich eine Moral zu geben, vernünftigerweise eine höherstufige Norm vorsehen würde und, wenn ja welche. Wir können davon ausgehen, das alle Mitglieder der Gemeinschaft das Interesse haben, nicht unterdrückt zu werden. Niemand will bloßes Objekt fremden Wollens, niemand will bloßer Spielball fremder Macht sein. Dieses Interesse inkludiert – da mit der Etablierung der Moral Normen entstehen – das Interesse, auch durch die Normen der Moral nicht unterdrückt zu werden. Deshalb will jeder, dass nur solche Normen geschaffen werden, deren Existenz in seinem Interesse liegt.“ (Stemmer 2013, S. 83–84)

Nicht unterdrückt zu werden, ist laut Stemmer im Interesse aller, ebenso wie die anderen von ihm genannten basalen Interessen. Daraus ergibt sich ein Unterdrückungsverbot. Diese Norm impliziert, dass auch moralische Normen nicht unterdrücken dürfen und es 178

Stemmers Kontraktualismus

damit einen moralischen Maßstab für moralische Normen gibt. Das Unterdrückungsverbot ist somit eine moralische Norm, die aus den basalen Interessen heraus begründet ist, aber gleichzeitig auch einen Maßstab für moralische Normen darstellt. An ihr müssen sich alle moralischen Normen messen lassen. „Es gibt, wie wir sahen, einen Weg von dem bloßen Interesse, nicht Gegenstand nackter Macht zu sein, zu dem moralischen Recht gleichen Inhalts. Wenn diesen Weg zu gehen, im Interesse aller ist und es gelingt, ihn zu gehen, dann kommt es zu einer moralischen Norm, die die Ausübung nackter Macht moralisch ausschließt. Eine solche Norm vorausgesetzt ist es möglich, vom erpresserischen Müssen zu sprechen.“ (Stemmer 2013, S. 76)

Dem Unterdrückungsverbot kommt damit eine Doppelrolle als moralische Norm und als Maßstab für moralische Normen zu. Daher ist das Unterdrückungsverbot eine moralische Norm, und auch eine Metanorm. „Dieses Verbot gewinnt aber dadurch eine Sonderposition innerhalb der Moral, dass man auch mit Normen und ihrer Durchsetzung andere unterdrücken kann. Deshalb müssen die moralischen Normen selbst dem Unterdrückungsverbot genügen. Das Unterdrückungsverbot wird auf diese Weise auch zu einer Metanorm, es ist eine Norm neben, aber auch über den anderen Normen, weil diese ihm selbst zu genügen haben. Eine bestimmte moralische Norm wird hier auch zum Maßstab der anderen Normen.“ (Stemmer 2013, S. 120)

Doch genau diese Doppelrolle ist äußerst problematisch. An dieser Stelle ist die bereits angesprochene Prämisse 4 des Legitimationsarguments nochmals deutlich hervorzuheben: P4: Jeder besitzt die Interessenkonfiguration, dass der Schutz der basalen Interessen wichtiger ist, als die Möglichkeit, anderen die Befriedigung dieser basalen Interessen streitig zu machen. Denn dass eine Norm dem Einstimmigkeitsprinzip genügt, bedeutet nicht nur, dass jeder ein Interesse an der Norm hat, sondern auch, dass das durch die Norm realisierte Interesse dem Betroffenen wich179

Moral (Kontraktualismus)

tiger ist, als die gleichzeitig entstehende Freiheitseinschränkung. Nimmt man das Einstimmigkeitsprinzip ernst, reicht es aus, dass eine einzelne Person diese Interessenkonfiguration nicht besitzt, damit die Norm dem Prinzip der Einstimmigkeit nicht mehr genügt und mit dem Unterdrückungsverbot kollidiert. Wenn es z. B. jemandem wichtiger wäre, die Freiheit der anderen in einer bestimmten Weise (etwa durch Verletzung) einzuschränken, als selbst davor geschützt zu sein, wäre eine Norm, die eine solche Einschränkung verbietet, nicht im Interesse aller und damit illegitim. Da alle moralischen Normen die Freiheit in irgend einer Weise einschränken, reicht es aus, wenn P4 nicht bei allen erfüllt ist. Gibt es einen, der eine solche Interessenkonfiguration hat, könnte keine Norm der Minimalmoral allen gegenüber begründet 63 und gerechtfertigt werden. Denn das Legitimationskriterium, dass eine Norm im Interesse aller sein muss, wäre bei keiner Norm der Minimalmoral erfüllt. Alle moralischen Normen wären gegenüber einem Einzelnen eine Form der Unterdrückung. Damit würden alle moralischen Normen den Status „moralisch“ einbüßen und zu quasi-moralischen, oder gar zu bloß erpresserischen Normen werden. Die Frage ist also, ob es jemanden gibt, dem es wichtiger ist, die basalen Interessen der anderen zu missachten, als seine eigenen basalen Interessen geschützt zu wissen. Stemmer formuliert dies nicht explizit in seinen Texten, geht aber davon aus, dass alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft das Unterdrückungsverbot als Metanorm befürworten. Diejenigen, die kein Problem damit haben, unterdrückt zu werden, oder diejenigen, denen es wichtiger ist, andere zu unterdrücken, als selbst davor geschützt zu sein, würden gar nie Teil der moralischen Gemeinschaft, sondern würden im Naturzustand verharren. 64 Gegenüber solchen „Vogelfreien“ hätte man

63

Ich werde später dafür argumentieren, das entgegen Stemmers Annahme das Tötungs-, das Verletzungs- und das Unterdrückungsverbot auch mit einer Metanorm gegenüber allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft begründet werden können. 64 Peter Stemmer äußerte sich auf diese Weise mir gegenüber im persönlichen Gespräch.

180

Stemmers Kontraktualismus

weder Rechte noch Pflichten. Auf ihre Interessen muss demnach keine Rücksicht genommen werden und ihnen gegenüber muss auch keine Norm gerechtfertigt werden. Alle diejenigen, die dem Naturzustand entfliehen wollen, haben hingegen ein Interesse am Unterdrückungsverbot. Daher ist es recht unwahrscheinlich, dass jemand sich von den Normen der Minimalmoral unterdrückt fühlt, weil es ihm z. B. egal ist, ob er verletzt wird und er dafür gerne die Freiheit hätte, andere zu verletzen. Eine so veranlagte Person, vorausgesetzt es gibt überhaupt so einen Menschen, würde es wohl eher vorziehen, im Naturzustand zu verharren, als in einer moralischen Gemeinschaft zu leben. Dennoch ist es vorstellbar, dass es so eine Person gibt, wenn sich z. B. jemand aufgrund seiner Stärke und Macht sehr sicher fühlt und ein Verletzungsverbot keine vorteilhafte Norm für ihn wäre. Die Etablierung der Norm wäre dann unter einem absoluten Einstimmigkeitsprinzip nicht möglich, denn es reicht ja bereits eine Person, welche eine solche zwar durchaus unwahrscheinliche und abwegige, aber dennoch mögliche Interessenkonfiguration besitzt. Die Normen der Minimalmoral verhalten sich diesbezüglich nicht alle gleich. Beim Verletzungsverbot mag es vielleicht noch unwahrscheinlich und abwegig anmuten. Für eine derartige Interessenkonfiguration beim Hilfsgebot und beim Diebstahlverbot trifft dies nicht zu. Personen, die sehr viel besitzen und aufgrund dessen nicht auf das Wohlwollen und die Hilfe anderer angewiesen sind, die es vorziehen, anderen nicht helfen zu müssen und dafür in Kauf nehmen, in einer Notlage deshalb keine Hilfe zu erfahren, sind gut vorstellbar. Ebenso sind Personen vorstellbar, die nichts besitzen und die von einem Diebstahlverbot ausschließlich benachteiligt sind. Solche Individuen sind nicht abwegig, und ihre Existenz innerhalb der moralischen Gemeinschaft erzeugen zusammen mit dem Einstimmigkeitsprinzip ein Begründungsproblem für das Gebot zur Hilfe in der Not und für das Diebstahlverbot. Diese Punkte sind nicht leicht von der Hand zu weisen und Stemmer gesteht durchaus ein, dass die für die Legitimation solcher Normen benötigte Interessenkonfiguration nicht bei allen Menschen vorliegt.

181

Moral (Kontraktualismus)

„Kann es nicht einige geben, die lieber die Freiheit haben, zu verletzen, und sich auch ohne moralische Norm davor zu schützen wissen, verletzt zu werden? Es ist unwahrscheinlich, aber vielleicht kann es einige wenige mit solchen Interessen geben. Wenn, dann wäre das Verletzungsverbot nicht im Interesse aller. Und kann es nicht ebenso einige geben, die anderen nicht helfen wollen und dafür in Kauf nehmen, selbst keinen Anspruch auf Hilfe zu haben und in einer Gemeinschaft zu leben, die keine Hilfspflichten in Notsituationen kennt? […] Wenn, dann wäre das Hilfsgebot nicht im Interesse aller. […] Eine weitere Norm, deren Etablierung die Bewohner des Naturzustandes vorsehen werden, ist das Verbot zu stehlen. Doch diese Norm liegt nicht im Interesse aller Betroffenen […], falls es in der Gemeinschaft Mittellose gibt.“ (Stemmer 2013, S. 84–85)

Einstimmigkeit ist also ein zu starkes Kriterium. Damit würde nicht einmal die Minimalmoral für alle begründet und gerechtfertigt sein. Keine der gewünschten Normen, die die basalen Interessen schützen, könnte etabliert werden. Stemmer ist der Meinung, dass die Menschen im Naturzustand dies vorhersehen und die Einstimmigkeitsforderung und damit das Unterdrückungsverbot abschwächen würden. „Dies antizipierend werden die Naturzustandsbewohner, wenn sie über die Frage nachdenken, welchen moralischen Standards die moralischen Normen selbst genügen sollen, zu dem Ergebnis kommen, dass die moralische Forderung der Einstimmigkeit in jedem Fall zu weit geht. […] Wenn die Einstimmigkeitsforderung zu weit geht, liegt es nahe, sie vorsichtig zu modifizieren.“ (Stemmer 2013, S. 85)

Mit einer Modifikation der Einstimmigkeitsforderung würde man den Maßstab für moralisch legitime Normen ändern. So könnten moralische Normen gegen Einzelne mit abweichenden Interessenkonfigurationen gerechtfertigterweise durchgesetzt werden. „Sie (die Gemeinschaft) wird die Normen etablieren und auch gegen mögliche Minderheiten durchsetzen, einfach weil sie sonst auf für das Zusammenleben essentielle Regelungen verzichten müsste.“ (Stemmer 2013, S. 85)

182

Stemmers Kontraktualismus

Die Aufgabe der Moral ist es, Regelungen für ein soziales Zusammenleben zu finden. Die Akteure würden im vormoralischen Zustand bereits voraussehen, dass ein absolutes Einstimmigkeitsprinzip diese Hauptaufgabe der Moral untergräbt. Damit haben sie auch kein Interesse an einem absoluten Unterdrückungsverbot, sondern nur an einem abgeschwächten. Das Einstimmigkeitsprinzip muss also modifiziert werden. Auf der Hand liegt, dass eine moralische Norm nicht mehr im Interesse aller liegen muss, wenn ohne diese Norm ein Zusammenleben nicht möglich wäre. Deshalb würde die Gesellschaft, Stemmer zufolge, eine Modifikation des Legitimationsmaßstabs vornehmen. Das führt zu einer leichten Revision des ursprünglichen Gedankens. 2.3.3.2

Essentielle Normen

Nach dem neuen modifizierten Maßstab ist eine Norm legitim, wenn sie im Interesse aller ist – mit Ausnahme von für das Zusammenleben essentiellen Regelungen. Für das Zustandekommen von essentiellen Normen dürfen diese Normen gegenüber Einzelnen, in deren Interesse die Norm nicht ist, trotzdem zur Geltung gebracht werden. Moralische Normen sind bloß gegenüber fast allen begründet, da sie lediglich im Interesse der meisten liegen und nicht jedem die gleiche bestimmte Interessenkonfiguration bezüglich der Normen unterstellt werden kann. Das in der Norm enthaltene Müssen ist legitim, da es dem modifizierten Maßstab für moralische Normen entspricht. Somit können die Normen gegenüber jedem gerechtfertigterweise zur Geltung gebracht werden. Die Moral ist so für alle verpflichtend und konstituiert den normativen Status von Rechten und Pflichten. Moralische Normen zeichnen sich jetzt dadurch aus, dass sie trotz einer fehlenden Begründung für Einzelne, dennoch allen gegenüber gerechtfertigt sind. 65

65

Das ist der Stand der Dinge, wie ihn Stemmer in seinem aktuellen Buch „Begründen, Rechtfertigen und das Unterdrückungsverbot“ formuliert. Vgl. Stemmer 2013, S. 82 ff.

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Moral (Kontraktualismus)

Zentral ist der Unterschied zwischen „Begründen“ und „Rechtfertigen“: Eine Begründung zu liefern bedeutet nicht mehr als einen Grund zu nennen, also zu zeigen, dass etwas dafür spricht, sich so oder so zu verhalten etc. Im Naturzustand, in dem es keine normativen Voraussetzungen gibt, könnte man z. B. trotzdem jedem einen Grund nennen, kein verdorbenes Essen zu verspeisen. Begründungen setzen somit keinen normativen Rahmen voraus. Von der Begründung einer Norm zu unterscheiden ist die Legitimation oder Rechtfertigung einer Norm. Bei einer Rechtfertigung geht es nicht darum, Gründe zu liefern. Es gilt zu zeigen, dass etwas berechtigterweise getan wurde. Das setzt somit einen normativen Rahmen voraus. Eine Norm ist gerechtfertigt, wenn sie einem normativen Maßstab genügt, also nicht gegen eine bestimmte moralische oder rechtliche Norm verstößt. 66 Eine moralische Norm muss also, um gerechtfertigt zu sein, einem moralischen Maßstab genügen. Dieser Maßstab ist das eingeschränkte Unterdrückungsverbot mit seiner modifizierten Einstimmigkeitsforderung, die nur Ausnahmen zulässt, wenn die Regelung essentiell für das soziale Zusammenleben ist. Somit würde die Gesellschaft z. B. das Hilfsgebot durchsetzen, da es eine essentielle Regelung ist, auch wenn Einzelne kein Interesse an dieser Norm haben. Und dies wäre auch gerechtfertigt, denn der Maßstab für legitime Normen besteht im oben diskutierten modifizierten Unterdrückungsverbot, welches das Übergehen von Einzelnen erlaubt, solange dies notwendig ist, um essentielle Normen zu etablieren. Essentiell sind die Normen, die die basalen Interessen der Gemeinschaft widerspiegeln. Neben dem Interesse, nicht unterdrückt zu werden, gibt es, wie gesehen, auch andere basale Interessen. Diese anderen basalen Interessen scheinen ebenso wichtig dafür zu sein, zu bestimmen, was essentiell für ein Zusammenleben der Gemeinschaft ist und sie sind daher ausschlaggebend für die Modifikation der Einstimmigkeitsforderung.

66

Vgl. dazu Stemmer 2013, S. 110 ff.

184

Stemmers Kontraktualismus

„Die Einstimmigkeitsforderung des traditionellen Kontraktualismus verabsolutiert, so zeigt sich, ein bestimmtes Interesse des Menschen, das Interesse, nicht bloßer Gegenstand fremden Wollens zu sein. Aber die Menschen haben noch andere elementare Interessen, und deshalb sind hier Abwägungen unausweichlich.“ (Stemmer 2013, S. 85)

Es muss also abgewogen werden, wie stark das Unterdrückungsverbot zugunsten der anderen Normen, die basale Interessen schützen, beschränkt wird. Für Stemmer ist es klar, dass die Normen der Minimalmoral essentiell sind und das Unterdrückungsverbot dahingehend modifiziert wird, dass diese Normen etabliert werden können. Die Normen der Minimalmoral würden dann durchgesetzt und sie wären verpflichtend und legitim im Gegensatz zu erpresserischen Normen, da sie die modifizierte Einstimmigkeitsbedingung erfüllen. Dem Hilfsgebot kommt dabei eine Sonderrolle zu, da zusätzlich die Frage aufkommt, wie weitreichend diese Pflicht sein soll. Muss nur geholfen werden, wenn jemand in Lebensgefahr ist, oder auch in Notlagen, die zwar nicht direkt das Überleben, aber z. B. die Gesundheit des Notleidenden betreffen? Diese Frage lässt Stemmer offen. Es liegt wohl im Ermessen der Gemeinschaft. Stemmer hebt stattdessen einen anderen Punkt hervor: Trotz einer Aufweichung des Unterdrückungsverbotes kann die Diskriminierung einer bestimmten Gruppe aufgrund bestimmter Merkmale nie gerechtfertigt sein, da dies nie essentiell für das Zusammenleben ist: „Es ist vielleicht wichtig, ausdrücklich festzuhalten, dass die Einstimmigkeitsnorm auch mit der jetzt vorgenommenen Modifikation moralische Normen ausschließt, die einer Minderheit bestimmte Rechte vorenthalten. […] Der Ausschluss einer Minderheit von bestimmten Rechten ist niemals etwas, was für eine funktionierende Ordnung des gemeinsamen Lebens notwendig ist.“ (Stemmer 2013, S. 86)

Diskriminierende Normen können also nicht gerechtfertigt werden, da Diskriminierung nichts ist, das für das Zusammenleben essentiell ist. Es zeigt sich also, dass sich zwar Normen rechtfertigen lassen, die Einzelne zu etwas zwingen, das sie nicht unbedingt wollen, dennoch lässt das abgeschwächte Einstimmigkeitsprinzip bei moralischen 185

Moral (Kontraktualismus)

Normen nur wenig Spielraum für Normen, die gegen das Interesse von Betroffenen durchgesetzt werden. Eine klare Abgrenzung zu erpresserischen Normen ist nach wie vor möglich. 2.3.3.3

Weitere Begrenzung der Einstimmigkeitsforderung

Stemmer diskutiert anhand eines Verbots von Tierquälerei, ob eine nicht essentielle Regelung, also eine Norm, die weder im Interesse aller ist, noch in einem basalen Interesse begründet ist, gerechtfertigterweise durchgesetzt werden könnte. Wieder scheint die Frage zu sein, inwieweit die Gemeinschaft daran interessiert ist, das Unterdrückungsverbot aufzuweichen, um eine Norm gegenüber einer Minderheit durchzusetzen. „Darf man diesen wenigen die Norm aufzwingen? Auch in diesem Fall würde die große Mehrheit wohl die Norm durchsetzen und dies auch für moralisch gerechtfertigt halten, was eine entsprechende Modifikation der Einstimmigkeitsregel voraussetzt. Warum? Weil man annehmen würde, dass die Zahl derer, die die Norm nicht wollen, einfach zu klein ist, um eine allgemein gewollte Regelung durch ein Veto zu verhindern […].“ (Stemmer 2013, S. 87)

Stemmer äußert Bedenken an dieser Begründung und spricht bei diesem Fall von einer „Grauzone“. Hier bleibt Stemmer vage, aber es hat den Anschein, als gestehe er damit ein, dass die Moral auch Normen beinhalten könnte, die nicht in den basalen Interessen begründet sind, solange sie durch starkes Interesse einer durchsetzungsfähigen Mehrheit getragen werden. „Jede moralische Gemeinschaft muss selbst entscheiden, wie sie das Interesse, nicht unter ungewollten Normen leben zu müssen, und das Interesse, mit großer Mehrheit gewollte Normen auch gegen eine Minderheit durchsetzen zu können, gewichtet und wie weit sie infolgedessen die Einstimmigkeitsnorm einschränkt.“ (Stemmer 2013, S. 87)

Jedoch würde sie laut Stemmer bei der Einschränkung des Unterdrückungsverbotes nicht allzu weit gehen, da das Risiko, unter Normen leben zu müssen, die gegen das eigene Interesse sind, mit jeder 186

Stemmers Kontraktualismus

weiteren Einschränkung höher wird. Dennoch ist er der Meinung, es gäbe hier keinen Fixpunkt, an dem sich die maximale Einschränkung der Einstimmigkeitsregel fest machen lässt. „Je mehr es der jeweiligen Mehrheit moralisch erlaubt ist, von ihr gewollte Normen auch gegen die Minderheit durchzusetzen, und je mehr es Normen dieser Art gibt, um so mehr wird jeder damit leben müssen, dass seine Freiheit durch Normen eingeschränkt ist, die er nicht will und von denen er wünscht, es gäbe sie nicht. Es gibt hier, wie ich meine, keinen fixen Punkt, an dem eine Gemeinschaft vernünftigerweise eine Grenze ziehen muss.“ (Stemmer 2013, S. 87–88)

Ohne einen solchen fixen Punkt scheint eine klare Abgrenzung zu erpresserischen Normen nicht mehr möglich, da auf diese Weise jede Norm, auch eine diskriminierende, von einer durchsetzungsfähigen Mehrheit etabliert werden könnte. Diese Möglichkeit will Stemmer jedoch, wie gesehen, explizit nicht einräumen. Daher scheint er m. E. an dieser Stelle gut beraten, diese zweite Möglichkeit, Normen ohne Bezug auf basale Interessen legitimieren zu können, zu verwerfen, oder zumindest ein Kriterium festzulegen, das bestimmt, wie weit der Maßstab für moralische Normen aufgeweicht werden kann, ohne dass er seine abgrenzende Funktion verliert. Dafür müsste es die Möglichkeit geben, einen solchen Fixpunkt des moralischen Maßstabes zu finden, der einer Gemeinschaft eine klare Grenzziehung ermöglicht, ab wann es einer Mehrheit nicht mehr moralisch erlaubt ist, eine Norm gegenüber einer Minderheit durchzusetzen. 2.3.3.4

Fixpunkte des moralischen Maßstabs

Warum ist eine klare Grenzziehung mittels eines fixen Punktes vernünftig für eine Gemeinschaft? Der Vorteil eines moralischen Maßstabes ohne eine klare Grenzziehung liegt auf der Hand: Normen, die von einer überwältigenden Mehrheit befürwortet werden und sich gegen das Interesse von bloß einer handvoll Querulanten richten, könnten Teil der Moral werden. Das scheint mir auch ein Beweggrund zu sein, weshalb Stemmer diese Möglichkeit in Betracht

187

Moral (Kontraktualismus)

zieht. Der Nachteil ist aber ebenso klar: Stemmers Argument gegen die mögliche Etablierung von diskriminierenden Normen verliert seine Überzeugungskraft, denn einer Mehrheit wird die Möglichkeit gegeben, theoretisch jede Norm, erpresserischer wie auch diskriminierender Natur, legitimerweise gegen eine Minderheit durchzusetzen. Doch wenn es nur an der Macht der Mehrheit liegt, was an moralischen Normen durchgesetzt wird, scheint der moralische Maßstab für Normen seine Bedeutung zu verlieren. An diesem Maßstab hängt aber wie gesehen die Unterscheidung zwischen erpresserischen und moralischen Normen und damit auch deren Legitimation. Die Legitimation der Normen ist aber wichtig dafür, dass die Menschen sich mit der Norm identifizieren und auf diesem Weg innere Sanktionen ausbilden. Die inneren Sanktionen erfüllen eine fundamentale Rolle in einer sanktionskonstituierten Moral. Das ganze Projekt der Moral und damit die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens hängt also zu einem gewissen Teil an der klaren Abgrenzung von moralischen und erpresserischen Normen. Die Gefahr, dass die Gemeinschaft das Unterdrückungsverbot so weit einschränkt, dass die Funktion der Moral untergraben wird, ist, wie bereits angesprochen, extrem gering. Doch wieso sollte die moralische Gemeinschaft sich selbst überhaupt die Möglichkeit einräumen, quasi-moralische oder gar erpresserische Normen zu moralischen Normen zu machen? Ist es nicht vernünftiger zu akzeptieren, dass manche Normen, auch wenn sie noch so wünschenswert sind und von einer Mehrheit getragen werden, lediglich den Status einer quasi-moralischen Norm haben? Es wird so oder so eine Fülle an quasi-moralischen Normen geben, die nicht Teil der Moral sein werden. Daher erscheint es mir unvernünftig, das Projekt der Moral aufs Spiel zu setzen, nur um einige wenige dieser quasi-moralischen Normen in die Minimalmoral hineinzuzwingen. Es ist an dieser Stelle sinnvoll, sich Gedanken über konkrete Fixpunkte zu machen, die moralische von quasi-moralischen Normen unterscheiden. Ich will zwei mögliche Fixpunkte besprechen, an der eine Gemeinschaft die Grenze der möglichen Einschränkung des Unterdrückungsverbots ziehen könnte. Die erste Grenzziehung, die vernünftig erscheint, ist die von Stemmer zuerst besprochene Essen188

Stemmers Kontraktualismus

tialität einer Norm, die auf basalen Interessen beruht. Das Unterdrückungsverbot könnte hier nur zugunsten von Normen eingeschränkt werden, die ebenfalls ein basales Interesse als Grundlage haben. Weshalb dies ein vernünftiger Fixpunkt für eine Gemeinschaft darstellt, liegt auf der Hand. Zum einen ist eine klare Abgrenzung zu quasi-moralischen und erpresserischen Normen möglich, weil keinerlei Gefahr besteht, dass das Unterdrückungsverbot weiter aufgeweicht wird, da die basalen Interessen, die jedem unterstellt werden können, eindeutig begrenzt sind. Zum anderen würde die Norm, die anhand eines solchen modifizierten Maßstabes einer Minderheit aufgezwungen wird, immer noch ein Interesse schützen, das die Minderheit besitzt, auch wenn es kein Interesse an der aus diesem Interesse generierten Norm hat. Es kann beispielsweise sein, dass eine Minderheit kein Interesse an einem Hilfsgebot hat, aber dennoch hat diese Minderheit ein Interesse daran, in einer Notsituation Hilfe zu erhalten. Sie haben lediglich ein größeres Interesse daran, nicht zu Hilfsleistungen gezwungen werden zu können. Man könnte daher sagen, dass das Hilfsgebot in einem schwachen Sinne immer noch im Interesse aller sei. Mit diesem Fixpunkt wären Tierschutz und andere weitreichendere Normen nicht Teil der Minimalmoral, aber die Normen der Minimalmoral wären gegenüber allen gerechtfertigt. Die zweite mögliche Grenzziehung, die vernünftig erscheint, wäre das Interesse aller in einem starken Sinne, wie es Stemmer in „Handeln zugunsten anderer“ vertreten hat. Dies beinhaltet die Begründbarkeit der Normen gegenüber allen. Damit wäre gar keine Einschränkung des Unterdrückungsverbotes möglich. Ich denke, dass dies dennoch ein vernünftiger Fixpunkt wäre. Dies würde zudem bedeuten, dass eine verabsolutierte Einstimmigkeitsforderung nicht zu einer Selbstblockade der Moral führt, wie Stemmer sie beschreibt. „(D)ie moralische Forderung der Einstimmigkeit […] wäre eine untaugliche Regel, an die man anfangs denken mag, von der sich aber schnell herausstellt, dass sie in eine Selbstblockade führte.“ (Stemmer 2013, S. 85)

189

Moral (Kontraktualismus)

Mitglied der moralischen Gemeinschaft wird jemand nur dann, wenn er den Naturzustand verlassen will. Er muss also ein Interesse an einem funktionierenden sozialen Zusammenleben haben, ansonsten ist es für ihn vernünftiger, im Naturzustand zu verharren. Zu akzeptieren, dass bestimmte Normen notwendig sind, um das Zusammenleben zu ermöglichen und zu sichern, ist eine notwendige Bedingung dafür, den Naturzustand zu verlassen. Das Tötungsverbot, das Verletzungsverbot und das Unterdrückungsverbot sind notwendig für ein solches Zusammenleben. Denn wenn mich die anderen Mitglieder der Gesellschaft ungestraft töten, verletzen, auf unbestimmte Zeit einsperren, oder anderweitig unterdrücken dürfen, befinde ich mich ihnen gegenüber in einer dauerhaften Gefahrensituation, die dem Naturzustand ähnelt. Ein friedliches Zusammenleben ist einfach ohne diese Normen nicht möglich. Diese drei Normen sind daher ausnahmslos gegenüber allen Mitgliedern der Gemeinschaft begründbar, da sie eine notwendige Bedingung für das Verlassen des Naturzustandes sind. 67 Sie würden auch unter einer absoluten Einstimmigkeitsregel bestehen. Die Begründbarkeit einer Norm gegenüber allen könnte somit als klare Grenze für moralische Normen dienen. Die Minimalmoral enthält aber noch zwei weitere Normen: das Hilfsgebot und das Diebstahlverbot. Beim Diebstahlverbot ist es nicht auf die gleiche Weise offensichtlich, ob es notwendig für ein friedliches Zusammenleben ist. Ohne diese Norm ist zwar die Institution des Eigentums nicht denkbar 68, aber eine Gemeinschaft, die kein Eigentum kennt, ist wenigstens denkbar. Wie aber soll ein gemeinschaftliches Zusammenleben funktionieren, das die Möglichkeit, sich Besitz zu erarbeiten, nicht kennt? Wenn jeder die Möglichkeit hat, sich unsanktioniert am vom Anderen erarbeiteten Produkt zu bedienen, oder es gar zu zerstören, wird es nicht lange friedlich

67

In diesem Punkt hat mir Stemmer in einer Diskussion zugestimmt. Vgl. Hoerster 2014, S. 47: „Wenn jedermann bei jeder Gelegenheit zur persönlichen Bereicherung einen Diebstahl beginge, so würde über kurz oder lang die soziale Institution des Privateigentums […] aufhören zu existieren.“ 68

190

Stemmers Kontraktualismus

bleiben. Der Schritt zurück in den Naturzustand ist dann nicht weit. Um zu zeigen, dass das Diebstahlverbot gegenüber allen begründbar ist, müsste man beweisen können, dass die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und exklusiv darüber zu verfügen, für ein friedliches Zusammenleben notwendig ist. Ein solchen Beweis kann ich im Rahmen dieser Arbeit nicht erbringen. Ob ein Diebstahlverbot letztlich notwendig und damit jedem gegenüber begründbar ist, bleibt daher an dieser Stelle offen. Die andere Norm der Minimalmoral jenseits der ersten drei ist aber zweifelsfrei nicht gegenüber allen begründbar: Das Hilfsgebot. Denn eine Gemeinschaft ohne diese Norm ist theoretisch ebenso denkbar wie eine ohne Eigentum. Jedoch scheint es überhaupt nicht unplausibel, dass eine Gesellschaft, in der man ungestraft anderen Leuten in Notsituationen nicht hilft, auch tatsächlich funktionieren könnte. 69 Das Zusammenleben wäre zwar weniger sozial und Notsituationen wären für den Betroffenen gefährlicher, da die Chance, Hilfe zu erhalten, geringer ist, jedoch ist der Frieden der Gemeinschaft dadurch nicht zwangsläufig gefährdet. Ohne ein Hilfsgebot ist man nicht ständig drohender Gefahr durch andere Menschen ausgesetzt und es kommt nicht zu einer naturzustandshaften Spirale der Gewalt, die ein friedliches Zusammenleben unmöglich macht. Ein Hilfsgebot ist also nicht notwendig für ein Zusammenleben und nicht jeder hat einen Grund, die Norm zu akzeptieren. Wie oben bei der zweiten Möglichkeit der Grenzziehung diskutiert, wäre ein Hilfsgebot nicht Teil der Moral. Das Diebstahlverbot wäre Teil der Moral nur unter der Annahme, dass die Institution des Eigentums notwendig 70 für das friedliche Zusammenleben ist. Der Inhalt der Moral würde sich demnach lediglich aus dem Verletzungs-, Tötungs- und Unterdrückungsverbot zusammensetzen.

69

Dieser Punkt ist durchaus wichtig, da Libertäre eine Moral vertreten, die keine Hilfspflicht kennt. Auf diesen Punkt werde ich im weiteren Verlauf der Arbeit näher eingehen. 70 Ohne Beweis dafür, dass die Institution des Eigentums notwendig für ein friedliches Zusammenleben ist, werde ich davon ausgehen, dass ein Diebstahlverbot nicht gegenüber jedem begründbar ist.

191

Moral (Kontraktualismus)

Würde die Gemeinschaft denn die Einstimmigkeitsbedingung aufweichen, um ein Hilfsgebot und ein Diebstahlverbot durchzusetzen? Der Preis dieser beiden Normen ist die Begründbarkeit der Moral gegenüber allen, denn sie enthielte dann Normen, bei denen es denkbar ist, dass einige sie nicht wollen, selbst wenn sie ein passendes Interesse haben. Die Einschränkung der Einstimmigkeitsforderung birgt aber immerhin nicht die Gefahr, dass die Unterscheidung zwischen moralischen und erpresserischen Normen verschwimmt, da das basale Interesse immer noch einen fixen Punkt darstellt, an dem die Grenze gezogen werden kann. Die Grenze an den basalen Interessen ist nicht so robust wie die Grenze an der Begründbarkeit. Dieser Verlust an Zuverlässigkeit wird eine Mehrheit wahrscheinlich nicht davon abhalten, das Hilfsgebot und das Diebstahlverbot durchzusetzen. Entscheidet man sich für diese weniger strikte Variante, gibt es jetzt mindestens zwei Kategorien von moralischen Normen: Es gibt die moralischen Normen, die gegenüber allen begründbar sind und welche, die zwar nicht gegenüber allen begründbar, aber gegenüber allen rechtfertigbar sind. Das Verletzungs-, Tötungs- und Unterdrückungsverbot fallen in die erste Kategorie. Das Hilfsgebot und das Diebstahlverbot 71 in die zweite Kategorie. Es scheint also zwei Möglichkeiten zu geben, wie die inhaltliche Ausgestaltung einer kontraktualistischen Moral aussehen könnte. Nach der strikteren Variante, bei der die Einstimmigkeit aller Mitglieder der Gemeinschaft in Bezug auf jede Norm innerhalb der Moral gefordert ist und eine weniger strikte Variante, bei der die Einstimmigkeitsregel eingeschränkt wird, sodass moralische Normen auch gegen das Interesse einer Minderheit gerechtfertigterweise durchgesetzt werden kann – dies, solange die Norm essentiell für das Zusammenleben ist. Die weniger strikte Variante ist, wie gesehen, wesentlich plausibler und entspricht wohl eher den Vorstellungen Stemmers.

71

Ob das Diebstahlverbot in die erste oder zweite Kategorie fällt ist an dieser Stelle noch offen, hängt aber daran, ob Eigentum für ein friedliches Zusammenleben notwendig ist oder nicht.

192

Stemmers Kontraktualismus

Moral ist nach Stemmer weder egalitär noch universell gültig und begründbar, und sie enthält zudem viel weniger Pflichten und Rechte als andere Moralen. Es gibt weitere Einwände gegen den Kontraktualismus im Allgemeinen, wie auch Stemmers Theorie im Besonderen. Auf den Einwand, dass Sklaverei und diskriminierende Normen im Kontraktualismus möglich sind, hat Stemmer geantwortet, dass solche Normen weder begründet noch gerechtfertigt werden können, da solche Normen nicht essentiell für das Zusammenleben sind. Dem generelleren Einwand, dass die kontraktualistische Moral nicht weit genug gehe und viele moralische Phänomene, wie etwa den Tierschutz, nicht ausreichend erfassen könne, kann Stemmer gut mit seinen Ausführungen zur Quasi-Moral begegnen. Die Nähe zum Libertarismus besteht bei Stemmer vor allem in der Tatsache, dass seine Moral eine minimalistische Moral ist. Auf die für meine Untersuchung zentralen Einwände bin ich eingegangen. Den klassischen Einwand, dass ein kontraktualistischer Vertragsschluss nie stattgefunden hat und selbst hypothetisch nie stattfinden kann, weil ein Vertrag bereits einen moralischen Rahmen voraussetzt, kann Stemmer widerlegen. Eine wechselseitige Freiheitsbeschränkung durch die Etablierung von Normen liegt im Interesse aller und hat Vorteile für alle. Die Interessenkonfiguration entspricht also der eines Vertrages, der hypothetische Kontraktualismus kommt ohne tatsächlichen oder hypothetischen konkreten Vertrag aus. Ebenso ist die faktische Zustimmung der Mitglieder der Gemeinschaft nicht mehr erforderlich, allein deren Interesse liefert einen Grund, die Moral zu akzeptieren. Mit dem Kontraktualismus wäre demnach eine wollensabhängige subjektivistische Moralbegründung gefunden. Diese Lösung provoziert den Einwand, dass, wenn es nur um Interessen geht, es sich beim Kontraktualismus nur um ein bloß prudentielles, nicht verpflichtendes und damit auch nicht um ein genuin moralisches Müssen handelt. Dieser Einwand wiegt besonders schwer. Nach Wendt ist das der Haupteinwand, dem begegnet werden muss, ehe der Kontraktualismus als Begrünung libertärer Normen fungieren kann. Diesen Einwand kann Stemmer aber mit seiner Unterscheidung von moralischen und erpresserischen Normen mittels des Unterdrückungsverbots als Metanorm ebenso zu193

Moral (Kontraktualismus)

rückweisen. Sobald es eine Metanorm gibt, die es zulässt, erpresserische von moralischen Normen zu unterscheiden, und wenn diese Norm allein aus dem Interesse der Betroffen kommt, kann sinnvollerweise von einem verpflichtenden prudentiellen Müssen gesprochen werden. Somit wären „echte“ moralische Rechte und Pflichten durch den Kontraktualismus begründbar, ohne dass dieser auf objektive metaphysische Annahmen zurückzugreifen muss. Die daraus abgeleitete Minimalmoral unterscheidet sich inhaltlich, je nach Variante mehr oder weniger, von der libertären Moral. Daher ist die Frage, ob der Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung dienen kann, noch nicht abschließend beantwortet. Es gilt zu prüfen, ob die Unterschiede zwischen dem Katalog der Minimalmoral und der libertären Moralvorstellung ein Problem darstellen und ob sich die Begründungsfigur des Kontraktualismus letztlich auf den Libertarismus übertragen lässt.

194

3

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

In den vorangegangenen Kapiteln wurde besprochen, was unter einer libertären Moral zu verstehen ist, welche Rechte und Pflichten darin enthalten sind und welche Möglichkeiten es gibt, sie zu begründen. Stemmers Kontraktualismus hat sich als vielversprechender Kandidat für eine libertäre Moralbegründung hervorgetan. Kann man nun mit dem Kontraktualismus eine libertäre Moral begründen? Eine Antwort darauf gibt Narveson, der die Theorie vertritt, dass der Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung dienen kann. Narvesons Strategie beruht darauf, die kontraktualistische Bergründungsfigur von Gauthier für die libertäre Moral fruchtbar zu machen. Diese Rational-Choice-Variante des Kontraktualismus kann aber wie gesehen lediglich prudentielle Müssen, und damit keine moralischen Rechte und Pflichten begründen. Mit Stemmers Variante des Kontraktualismus lässt sich dieses Problem lösen. Es ist aber zu prüfen, ob Narvesons Strategie auch mit Stemmers Ansatz kompatibel ist.

3.1

Narvesons Strategie

Inspiriert von Gauthier und Nozick argumentiert Narveson in seinem Buch „The Libertarian Idea“ dafür, dass mit dem Kontraktualismus eine libertäre Moral begründet werden kann. Die Strategie Narvesons ist es zu zeigen, dass ein „at least a near-libertarian principle“ 1 im Interesse aller ist und dass es keine Gründe gibt, dieses Fundament zu verwerfen, oder durch ein anderes moralisches Prinzip zu ersetzen. „[…] I argue that if we accept that libertarianism does not have some of the more extravagant implications popularly attributed to it, then the prospect for getting from contractarianism to libertarianism 1

Vgl. Narveson 1988, 155 und Narveson 1996, 203

195

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

seems to be fairly promising. My strategy is a two-stage one: first, to show that we shall „prima facie“ want the libertarian principle. […] Then second, […] to show that any alleged reasons for overriding it can either be accommodated or don’t turn out to involve any overriding after all.“ (Narveson 1988, S. 175)

Für den ersten Schritt der Strategie ist zu klären, was das „libertarian principle“, beinhaltet. Wie bereits am Anfang des letzten Kapitels gezeigt, bringt das LP ein Unterdrückungsverbot als grundlegendes moralisches Prinzip zum Ausdruck. Die Gründe, ein solches moralisches Grundprinzip zu akzeptieren, soll laut Narveson nun Gauthiers Rational-Choice-Variante des Kontraktualismus liefern. „The question is whether I am motivated, by virtue of my possession of almost any set of values you can imagine, to acknowledge, when I deal with others […], any principles restricting my freedom of action in any way, and if so, which. The general form of the answer, as I have been arguing, is that we shall all adopt principles restricting the performance of actions by others that would make ourselves worse off than we would be if we didn’t have that restriction. We must, by definition, favor the nonperformance of such actions, since by hypothesis we are assessing worse-offness in terms of our own values, whatever they may be.“ (Narveson 1988, S. 175) „The solution is to forbid just those efforts on the part of any person that, as Gauthier puts it, „worsen the situation of others.“ Worsen relative to what? His (Gauthiers) answer is: relative to the way things would be if the agent weren’t around. […] Gauthier’s interpretation amounts to a prohibition on force and fraud.“ (Narveson 1988, S. 176–177)

Wie bereits gesehen scheitert Gauthiers Kontraktualismus aber an der Tatsache, dass mit ihm lediglich prudentielle und keine verpflichtenden Müssen begründen werden können. Wer sich nicht an die moralischen Normen hält, handelt zwar unklug, verletzt aber weder Rechte noch Pflichten. Der fehlende Pflichtcharakter moralischer Normen motiviert Narveson, in einem zweiten Schritt zu zeigen, dass es für alle stets von Vorteil ist, das LP zu akzeptieren und sich an die moralischen Normen zu halten. Ebenso argumen196

Narvesons Strategie

tiert er dafür, dass kein konkurrierendes moralisches Prinzip besser dazu in der Lage ist, die Interessen der Betroffenen zu realisieren. Er widmet einen Großteil seiner Argumentation der Verteidigung der These, dass kein anderes moralisches Prinzip mehr Vorteile hat als das LP. Hier scheint der Gedanke im Hintergrund zu stehen, dass das moralische Prinzip bzw. die Moral ein Bündel von Normen ist, das man als Gesamtheit geliefert bekommt und es nur als Ganzes annehmen oder ablehnen kann. So wäre es für alle von Vorteil, ein moralisches Prinzip, bzw. ein Paket an Normen zu akzeptieren, auch wenn manche Normen nicht im eigenen Interesse sind. Da dieses Bündel an Normen für alle von Vorteil ist, hat auch jeder Grund, die so gelieferte Moral zu akzeptieren. Und die libertäre Moral sei ein besseres „Paket“ als andere Moralen wie z. B. der Utilitarismus. Ein solches Gesamtpaket-Argument ist jedoch bei Stemmer nicht angebracht. Stemmer kann mit seiner Variante des Kontraktualismus verpflichtende Normen begründen und muss somit nicht erst zeigen, dass es ohne eine Pflicht stets rational ist, sich an ein moralisches Grundprinzip zu halten. Er muss auch nicht zeigen, dass ein bestimmtes moralisches Prinzip besser ist als ein anderes. Die Gemeinschaft beschließt im Naturzustand kein Bündel an Normen, sondern sukzessive einzelne Normen. Entscheidet sich einer gegen eine Norm, wird diese einfach nicht etabliert. Stemmers Vorteil gegenüber Gauthier und Narveson ist, dass er erst gar kein moralisches Prinzip zugrunde legt, sondern direkt jede einzelne Norm separat durch das Interesse der Betroffenen legitimiert. 2 Dieser Ansatz erscheint wesentlich plausibler, denn warum sollten sich die Menschen im Naturzustand erst auf ein moralisches Prinzip einigen, aus dem 2

Narveson klingt an manchen Stellen so, als würde er ähnlich wie Stemmer eine Begründung direkt über das Interesse an den Normen für möglich halten: „We have rights against the other members of group G, when it is mutually advantageous for all G’s to assume enforceable obligations to us to refrain from interfering, or a1ternatively actually to assist, with our performance of what we are said to have a right to, and when there is recognition of this status.“ (Narveson 1984b, 172)

197

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

dann moralische Normen abgeleitet werden, anstatt direkt Normen zu etablieren? Erst ein allen anderen Normen zugrundeliegendes moralisches Prinzip zu beschließen scheint keinerlei Vorteile gegenüber Stemmers direkter Variante mit sich zu bringen. Um Narvesons Strategie auf Stemmers Konzept zu übertragen, müsste also gezeigt werden, dass nicht das LP, sondern die einzelnen libertären moralischen Normen jeweils im Interesse aller sind. Wenn also die Normen, die Stemmer direkt begründet, auch diejenigen sind, die sich aus dem LP ableiten lassen, wäre mit Stemmers Variante des Kontraktualismus eine libertäre Moralbegründung gefunden. Deshalb muss überprüft werden, ob die durch den Stemmerschen Kontraktualismus begründeten moralischen Normen den libertären entsprechen.

3.2

Libertäre Normen

Wie bereits erläutert, zeichnet sich die libertäre Moral durch ihre rein negativen Rechte und Pflichten aus. Sie beinhaltet basierend auf dem LP folgende moralische Normen: – – – –

Tötungsverbot Verbot körperlicher und psychischer Schädigung Unterdrückungsverbot Diebstahlverbot

Inhaltlich gibt es offensichtlich eine große Schnittmenge zwischen den Normen der libertären Moral und der Minimalmoral von Stemmer. Die Minimalmoral ist begründet durch die basalen Interessen nicht getötet, verletzt, bestohlen und unterdrückt zu werden, sowie in Notsituationen Hilfe zu erhalten. Mit Ausnahme des Hilfsgebots ist der Normenkatalog beider Moralen gleich. Einer der entscheidenden Unterschiede besteht also darin, dass aus dem libertären Freiheitsrecht, im Gegensatz zu den basalen Interessen Stemmers, keine Hilfspflicht abgeleitet werden kann.

198

Libertäre Normen

„Es ist jedenfalls auffallend, dass es bis auf das Recht auf Hilfe in Notsituationen nur negative Rechte sind, die sich kontraktualistisch rechtfertigen lassen. Auch die libertäre Moral besteht, wie gesehen, nur aus negativen Rechten […].“ (Wendt 2009, S. 226)

Wie oben gesehen lässt sich Stemmers Theorie in zwei Varianten lesen. In der strikten Variante ist ein Hilfsgebot nicht Teil der Minimalmoral. Ob das Diebstahlverbot in dieser Variante Teil der Moral sein kann, hängt davon ab, ob die Institution des Eigentums für ein Verlassen des Naturzustandes notwendig ist. Damit der Stemmersche Kontraktualismus in seiner strikten Variante als Begründung für eine libertäre Moral in Frage kommt, muss gezeigt werden, dass das Eigentum eine notwendige Bedingung für ein friedliches Zusammenleben ist. Im Gegenzug gilt: In der weniger strikten Variante ist ein Hilfsgebot enthalten. Wer diese Variante als Begründung vertreten will, muss zeigen, dass sich ein Hilfsgebot in die libertäre Moral integrieren lässt.

3.2.1

Das Diebstahlverbot

Ob die strikte Variante des Stemmerschen Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung dienen kann, ist abhängig vom Diebstahlverbot. Die Norm muss gegenüber jedem Mitglied der Gesellschaft begründet werden können und damit im Interesse aller sein. Mittellose haben aber kein Interesse an diesem Verbot und sind trotzdem Teil der moralischen Gemeinschaft. Deshalb wird ein anderes Argument für die Legitimation diser Norm benötigt. Ein Analogieargument zum Verletzungsverbot lässt sich hierfür anführen. Es könnte ein Mitglied der Gemeinschaft geben, das gerne die Möglichkeit hätte, andere Menschen zu verletzen. Deshalb will es das Verletzungsverbot nicht. Will diese Person aber nicht im Naturzustand leben, muss sie diese Norm akzeptieren, da ohne diese Norm ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist. Auf diese Weise ist ein Verletzungsverbot gegenüber allen Mitgliedern einer Gemeinschaft begründbar, auch wenn einzelne ein Interesse daran 199

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

haben, dass es diese Norm nicht gäbe. Analog dazu könnte man argumentieren, dass das Diebstahlverbot, genau wie das Verletzungsverbot, ebenso notwendig für ein friedliches Zusammenleben ist und daher trotz eines abweichenden Interesses einzelner, gegenüber allen begründet ist. Aber ist ein Diebstahlverbot notwendig für ein friedliches Zusammenleben? Ohne das Diebstahlverbot kann die Institution des Eigentums nicht bestehen. Wenn sich zeigen lässt, dass ohne diese Institution gewaltsame Auseinandersetzungen unausweichlich sind, dann wäre die Etablierung des Diebstahlverbotes notwendig für das friedliche Zusammenleben, und so wäre demnach auch das Diebstahlverbot gegenüber allen begründet. In „Handeln zugunsten anderer“ versucht Stemmer zu zeigen, wie aus dem Naturzustand heraus Eigentum entsteht. Er verwirft dabei Eigentumstheorien, wie z. B. Lockes, da sie auf Naturrechten basieren: „In der Geschichte des Denkens sind verschiedene Konzeptionen „natürlichen“ Eigentums entwickelt worden. So war es eine naheliegende Idee, die vor allem Locke wirksam entfaltet hat, daß einem das eigen ist, was man durch eigene Arbeit hervorgebracht hat. […] Doch gibt es tatsächlich im vormoralischen Raum keine Gerechtigkeitsnorm und deshalb auch keinen gerechten Lohn, auf den man ein exklusives Zugriffsrecht hat.“ (Stemmer 2000, S. 218)

Lockes natürliches Recht auf die Früchte der eigenen Arbeit wäre in einem vormoralischen Raum bedeutungslos, da es dort keinerlei Rechte gibt. Dennoch ist Stemmer der Meinung, dass sich Eigentum aufgrund basaler Interessen begründen lässt. „Die Realisierung praktisch aller Lebensformen setzt das VerfügenKönnen über materielle Güter und im besonderen die Möglichkeit eines planenden, disponierenden Umgangs mit ihnen voraus. Die natürliche Umwelt hält diese Güter bereit […]. Viele oder sogar die meisten Güter sind knapp, so daß man um sie konkurriert. […] Im vormoralischen Raum herrscht naturgemäß ein ständiger Konflikt um knappe Güter […]. (Stemmer 2000, S. 217–218)

An dieser Stelle klingt Stemmer so, als wäre die Konfliktsituation eine unumgängliche Folge des basalen Interesses an materiellen Gü200

Libertäre Normen

tern und deren Knappheit. Sobald man sich Güter angeeignet hat, muss man diese verteidigen, da es keine Regeln und Sanktionen gibt, die die anderen davon abhält, die angeeigneten Güter mit Gewalt an sich zu nehmen. Je nach dem, wie die Machtverhältnisse sind, lassen sich mehr oder weniger Güter verteidigen 3. „Sie (Stemmers Eigentumstheorie) betrachtet ein Agreement über Eigentumsrechte dann als rational, wenn die Aufteilung die Machtverhältnisse unter den Beteiligten spiegelt und insofern der natürlichen Aufteilung im vormoralischen Raum entspricht. Es gibt für den Stärkeren keine Gründe, im Vorfeld des Agreements Zugeständnisse zu machen und sich einem seine Möglichkeiten eingrenzenden „Muß“ zu unterwerfen. Das Agreement verbessert die Situation des Stärkeren wie des Schwächeren erheblich. Und es ist nicht zu sehen, welchen Grund der Schwächere haben könnte. das Agreement nicht vorbehaltlos zu akzeptieren. Ein solcher Grund könnte allenfalls moralischer Natur sein. Gründe dieser Art sind jedoch beiseite zu lassen, wenn es um Fragen geht, ob rationale Agreements, in die keine moralischen Prämissen eingehen, zu gerechten Regelungen kommen.“ (Stemmer 2000, S. 246)

Wenn sich die Verteilung der Güter so einstellt, dass sie die Machtverhältnisse wiederspiegelt, stellt sich jedoch die Frage, ob es überhaupt Mittellose in einer moralischen Gemeinschaft geben kann. Erfüllt jemand, der gar keine materiellen Güter für sich beanspruchen konnte, überhaupt die Machtbedingung, die ihn erst zu einem Teil der moralischen Gesellschaft macht? Wenn Mittellose gar keinen Teil der Gesellschaft darstellen, müsste man ihnen gegenüber auch kein Diebstahlverbot rechtfertigen. Aber ist dann nicht eine Person denkbar, die Teil der moralischen Gemeinschaft ist und damit auch die Machtbedingung erfüllt, aber gleichzeitig nicht mächtig genug ist, materielle Güter gegenüber anderen Personen zu verteidigen? Das ist unwahrscheinlich, da eine Person über die Macht verfügen muss, gegen die Interessen eines anderen zu handeln, damit überhaupt die Notwendigkeit besteht, eine Norm einzuführen, die diese Interessen schützt. Es genügt aber, wenn jemand zwar zu 3

Ähnlich argumentiert Buchanan. Vgl.Buchanan 1975, S. 23 ff.

201

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

schwach ist, langfristig materielle Güter gegenüber Mächtigeren zu verteidigen, jedoch in der Lage ist, gelegentlich den Mächtigen einen winzigen Teil kurzfristig zu entwenden. Eine solche Person wäre zwar mittellos, erfüllt aber dennoch die Machtbedingung, da sie gegen das Interesse der Mächtigen handeln kann, wenn auch nur in einem geringen Ausmaß. So lässt sich plausibel machen, wie einzelne Personen bei dem Konflikt um knappe Güter leer ausgehen. Trotzdem könnte man bezweifeln, dass eine solche Konfliktsituation – so unangenehm sie auch sein mag – zwangsläufig ein friedliches Zusammenleben ausschließt. Können wir uns nicht einen friedlichen Zustand vorstellen, in dem Tötungs- Verletzungs- und Unterdrückungsverbot gelten und in dem Menschen ständig um materielle Güter konkurrieren, sich aber an die genannten Normen halten? Dann wäre ein Diebstahlverbot nicht notwendig und damit auch nicht gegenüber allen begründbar. Ein gutes Beispiel dafür sind indigene Völker, die als Jäger und Sammler ohne die Institution des Eigentums friedlich zusammenleben. Es ist unerheblich, ob es wirklich solche Völker gibt. Die Tatsache, dass diese Situation vorstellbar ist, ist ein Grund, um die Notwendigkeit eines Diebstahlverbots abzulehnen. Es spricht zwar einiges dafür, dass die allermeisten ein Diebstahlverbot befürworten, da Eigentum Fortschritt und Wohlstand ermöglicht, jedoch kann nicht ohne weiteres gezeigt werden, dass die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben eine notwendige Bedingung für friedliches Zusammenleben ist. Damit ist ein Mitglied der Gesellschaft vorstellbar, das unter dem Strich ein Diebstahlverbot nicht will. Das bedeutet, dass diese Norm nicht die Bedingung erfüllt, gegenüber allen Mitgliedern begründbar zu sein. Zusätzlich wurde bereits gezeigt, dass die Gemeinschaft keinen Grund hat, die strikte Variante der weniger strikten vorzuziehen, denn mit der weniger strikten Variante können mehr basale Interessen befriedigt werden. Damit scheitert diese Möglichkeit der Begründung einer libertären Moral. Das bedeutet, dass die Begründbarkeit libertärer Moral von ihrem Verhältnis zur Hilfspflicht abhängt.

202

Libertäre Normen

3.2.2

Das Hilfsgebot

Die weniger strikte Variante des Kontraktualismus kann zwar problemlos ein Diebstahlverbot begründen, aber damit ist ein Hilfsgebot Teil der Moral. Wenn nicht alle, sondern bloß die meisten ein Interesse an einem Diebstahlverbot haben, kann diese Norm immer noch gegenüber den restlichen gerechtfertigt werden, da sie der modifizierten Einstimmigkeitsforderung genügt. Analog zum Diebstahlverbot wird auch das Hilfsgebot gegenüber einer Minderheit durchgesetzt. Sie ist nicht gegenüber allen begründbar, aber gegenüber allen rechtfertigbar. Die dem Hilfsgebot zugrundeliegende Hilfspflicht ist jedoch eine positive Pflicht, welche Libertäre ablehnen. Hier gehen libertäre Moral und Kontraktualismus auseinander. Ohne weiteres kann also der Kontraktualismus nicht als Begründung der libertären Moral dienen. Wendt ist der Meinung, dass dies kein echtes Problem darstellt: „Das Recht auf Hilfe in Notsituationen ist als positives Recht ein Recht, das in der libertären Moral nicht enthalten sein wird. Hier gibt es also eine Abweichung, die allerdings nicht überbewertet werden sollte. Schließlich wird dieses positive Recht nur bedingt Anlass für umverteilende Staatsaktivitäten bietet. Das Recht auf Hilfe in Notsituationen meint ein Recht auf erste Hilfeleistung nach einem Unfall etc., kein Recht auf Subsistenz (das man auch ein „positives Recht auf Leben“ nennen könnte).“ (Wendt 2009, S. 227)

Jedoch ist das Problem nicht so unbedeutend, wie Wendt es erscheinen lässt. Er betont die geringe Reichweite der positiven Pflicht und denkt, dass das Recht auf Hilfe in Notsituationen keine massiven Umverteilungen zur Folge hätte. Zum einen ist aber fraglich, ob ein positives Recht in der libertären Moralvorstellung überhaupt Platz hat. Zum anderen ist nicht klar, ob die Reichweite der Pflicht, in Notsituationen helfen zu müssen, nicht doch bereits so hoch ist, dass ein extremes Maß an Umverteilung die Folge wäre. Wir müssen zuerst sehen, wie weitreichend eine Hilfspflicht im Kontraktualismus sein kann und dann kann erörtert werden, ob eine solche Pflicht in einer libertären Moral vorstellbar ist. 203

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

3.2.2.1

Reichweite des Hilfsgebots

Peter Singer argumentiert in seinem Aufsatz „Famine, Affluence, and Morality“ 4 dafür, dass selbst ein Hilfsgebot in Notsituationen ein extremes Ausmaß annehmen kann. Er führt dafür folgendes Beispiel einer Notsituation an: „[…] (I)f I am walking past a shallow pond and see a child drowning in it, I ought to wade in and pull the child out. This will mean getting my clothes muddy, but this is insignificant, while the death of the child would presumably be a very bad thing.“ (Singer 1972, S. 231)

Dies ist ein klassisches Beispiel für eine Situation, in der man seiner Hilfspflicht nachkommen muss. In einem nächsten Schritt versucht Singer zu zeigen, dass es unter der Hilfspflicht keinen Unterschied macht, ob das Kind im unmittelbaren Umfeld ertrinkt oder ob es in Afrika verhungert, weil es keine Nahrungsmittel hat. Er geht davon aus, dass Geldspenden Menschenleben retten können 5 und somit auch aus weiter Entfernung jederzeit lebensrettende Maßnahmen ergriffen werden können, wenn das benötigte Geld dafür vorhanden ist. Genauso wie ich die Möglichkeit habe, ein ertrinkendes Kind durch meinen Einsatz am Teich das Leben zu retten, kann ich also auch einem verhungernden Kind in Afrika durch eine Spende das 4

Singer 1972 Der Einwand, dass mit einer Spende kein Leben gerettet werden kann, sondern die Lebensbedrohung nur kurzfristig abgewendet wird, spielt hier keine Rolle. Es ist eine andere Frage, ob Geldspenden und Entwicklungshilfe langfristig zur Behebung der Weltarmut beitragen. Jedoch scheint es durchaus plausibel, dass jemandem der akkut vom Hungertod bedroht ist, durch eine Geldspende an eine entsprechende Hilfsorganisation, zumindest temporär gerettet werden kann. Wer ein ertrinkendes Kind aus einem Teich zieht löst damit ebensowenig das Problem der Weltarmut, jedoch rettet er zu diesem Zeitpunkt das Leben dieses Menschen. Dass die gerettete Person danach wieder in eine lebensbedrohliche Situation geraten kann, wirkt sich nicht unbedingt auf die Pflicht aus, der Person in diesem Moment in dieser Notsituation helfen zu müssen. Die Frage inwieweit Entwicklungshilfe langfristig erfolgsversprechend ist und damit wie welche Hilfestellung am sinnvollsten ist, muss daher von der Frage ob eine Hilfspflicht in Notsituationen besteht, unterschieden werden. 5

204

Libertäre Normen

Leben retten. Singer versucht zu zeigen, dass beide Fälle unter die Hilfspflicht fallen, indem er dafür argumentiert, dass es keine moralisch relevanten Unterschiede zwischen den Fällen gibt. Er bestreitet, dass die Distanz zum notleidenden Kind keinen moralischen Unterschied macht. Gleichsam ist die Anzahl potentieller Helfer für das moralische Urteil bedeutungslos. Dass Distanz keinerlei moralische Relevanz besitzt, ist für Singer offensichtlich: „I do not think I need to say much in defense of the refusal to take proximity and distance into account. […] If we accept any principle of impartiality, universalizability, equality, or whatever, we cannot discriminate against someone merely because he is far away from us (or we are far away from him).“ (Singer 1972, S. 232)

Wer sich davon nicht überzeugen lässt, muss zugestehen, dass es im Fall eines aktiven Tuns, z. B. eines Mordes, klarerweise moralisch unbedeutend ist, ob dieser aus großer Entfernung, oder aus unmittelbarer Nähe begangen wurde. Und weshalb sollte es bei der Unterlassung der Hilfeleistung anders sein? Die moralische Relevanz des Sterbenlassens scheint sich analog zum Töten aufgrund der Distanz nicht zu ändern. Ein Kind, welches vor meinen Augen zu ertrinken droht, hat doch, vorausgesetzt es hat ein Recht auf Hilfe in Notsituationen, den gleichen Anspruch, gerettet zu werden, wie ein Kind, das weit entfernt einer ähnlich großen Gefahr ausgesetzt ist. Die Beweislast trägt, wer zeigen will, dass die Hilfspflicht mit größer werdender Distanz an bindender Kraft verliert. Ebenso ist laut Singer das Vorhandensein mehrerer potentieller Helfer unbedeutend für das Ausmaß der Hilfspflicht. Es gäbe lediglich einen psychologischen Unterschied zu dem Fall mit nur einem potentiellen Helfer. Wer untätig bleibt, fühlt sich oft weniger schuldig, wenn mehrere potentielle Helfer dasselbe tun. Dieser psychologische Unterschied hat für Singer aber ebenso wenig moralische Relevanz, wie die oben diskutierte Distanz. Auch hier hat das Kind in Lebensgefahr immer noch das Recht auf Hilfe. Die Anzahl der Helfer scheint nichts an diesem Recht zu ändern. Man kann höchstens dafür argumentieren, dass sich das Ausmaß der Pflicht für jeden einzelnen Helfer durch die Anzahl der potentiellen Helfer verändert. 205

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

Ein solches Argument könnte z. B. lauten, dass jeder gleich viel helfen muss und dementsprechend jeder nur gemäß seines Anteils zur Hilfe verpflichtet ist. Angenommen, der Welthunger bei Kindern könnte gestillt werden, wenn jeder wohlhabende Mensch 10 % seines Besitzes spendet. Wenn also jemand 10 % seines Besitzes spendet, hat er seinen Anteil dazu beigetragen, dass jedes hungernde Kind der Welt gerettet wird. Damit wäre nach dem Argument jeder nur dazu verpflichtet, 10 % seines Besitzes zu spenden. Wenn jedoch nicht alle ihren Anteil beitragen, verhungern weiterhin Menschen und derjenige, der nur 10 % seines Einkommens spendet, rettet weniger Menschen, als er hätte retten können, wenn er mehr gespendet hätte. Er lässt also Menschen sterben. Übertragen auf das Teichbeispiel wären dann nicht ein Kind, sondern z. B. zehn Kinder am ertrinken und zehn potentielle Helfer stehen am Teich. Angenommen, nur einer springt ins Wasser. Nachdem ein Kind gerettet wurde, wäre der Anteil desjenigen an der moralisch geforderten Hilfsleistung erbracht und er hätte keine weitere Verpflichtung, noch ein Kind zu retten. Es wäre demnach für ihn moralisch in Ordnung, die anderen neun Kinder ertrinken zu lassen, da er seinen Teil erfüllt hat. Dies scheint kein besonders gutes Argument zu sein, denn weder das Recht auf Hilfe der anderen neun Kinder noch die Pflicht, zu helfen erlischt mit der Rettung des einen Kindes. Nur in der hypothetischen Situation, in der die anderen auch je ein Kind gerettet hätten, gäbe es keine Hilfspflicht mehr. Aber das liegt daran, dass es auch keinen Bedarf mehr gäbe. Wenn nun aber die anderen nicht helfen, scheint ein Verweis auf eine kontrafaktische Welt, in der alle geholfen hätten, kein gutes Argument zu sein. Eine kontrafaktische Welt, in der jemand anders mir mit einem Mord zuvorgekommen ist, ist zwar vorstellbar, aber es ändert nichts an der moralischen Verwerflichkeit meines Mordes in der realen Welt. In dieser Hinsicht scheinen potentielle Helfer keinen Unterschied zu machen. Die Reichweite der Hilfspflicht lässt sich also damit nicht einschränken. Es ist zwar richtig, dass der Aufwand, die anderen Kinder auch noch zu retten sehr groß ist, jedoch ist die Frage, wie viel eine Hilfspflicht fordern kann und ob der Aufwand zu groß ist, unabhängig von der Anzahl anderer potentieller Helfer. 206

Libertäre Normen

Singer legt für die Bestimmung der Reichweite der Hilfspflicht eine utilitaristisch geprägte Überlegung zugrunde: „(I)f it is in our power to prevent something bad from happening, without thereby sacrificing anything of comparable moral importance, we ought, morally, to do it.“ (Singer 1972, S. 231)

Wer diese These akzeptiert und ebenso akzeptiert, dass Distanz und potentielle andere Helfer keine Rolle spielen, muss so lange Hilfe leisten, bis keine Hilfe mehr benötigt wird, oder bis man an einem Punkt angekommen ist, an dem man selbst nicht mehr in der Lage ist zu helfen. Angesichts der Weltarmut und der wenigen Menschen, die bereit sind, Hilfe zu leisten, würde das Hilfsgebot ein riesiges Ausmaß annehmen 6. „Given the present conditions in many parts of the world, however, it does follow from my argument that we ought, morally, to be working full time to relieve great suffering of the sort that occurs as a result of famine or other disasters.“ (Singer 1972, S. 238) „[…] it follows that I and everyone else in similar circumstances ought to give as much as possible, that is, at least up to the point at which by giving more one would begin to cause serious suffering for oneself and one’s dependents […].“ (Singer 1972, S. 234)

Wenn Distanz und andere potentielle Helfer die Reichweite einer Hilfspflicht nicht einschränken können und eine Pflicht zur Hilfe besteht, sobald man in der Lage ist, jemanden aus einer Notsituation zu retten, dann hätte bereits die Durchsetzung einer solchen Hilfspflicht in Notsituationen eine massive Umverteilung zur Folge. Singers Argumente sind auf der Grundlage einer utilitaristischen Moralvorstellung stichhaltig. Aber trifft dies auch für eine kontrak6

Garrett Cullity nennt die Forderung daher den „Severe Demand“: „The Severe Demand: I should contribute to aid agencies increments of time and money each of which is large enough to allow those agencies to save a life, until either (a) there are no longer any lives to be easily saved by those agencies, or (b) contributing another increment would itself harm me enough to excuse my failing to save any single life directly at that cost.“ Cullity 2004, S. 403

207

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

tualistische Konzeption zu? Genau dies bestreitet Narveson in seinem Aufsatz: „We don’t owe them a thing!“ 7, in dem er aufzeigen will, dass die Kosten einer Handlung und damit Faktoren wie Distanz und potentielle andere Helfer moralisch relevant sind. Dadurch würde die Reichweite einer Hilfspflicht keine extremen Ausmaße annehmen. Eine kontraktualistisch begründete moralische Norm muss im Interesse aller Betroffenen liegen, daher gilt es zu zeigen, das dies auch beim Hilfsgebot der Fall ist. Daher spielt das Ausmaß einer Hilfspflicht und ihre erwarteten Kosten und Nutzen eine bedeutende Rolle. „Each time we have an opportunity to help, it would be at some cost on that occasion. If we actually do the helping on that occasion, and thus bear the cost at that time, does this have any relevance to further occasions? Yes, generally. First, paying this cost leaves a little less in my budget for future occasions. It needn’t be financial: frequent helping makes the soul weary, and leaves less time for writing one’s next treatise. […] Meanwhile, given a budget, and assuming that there are marginal-cost functions of the type we have been discussing, we can then say, roughly, that we morally ought to render help whenever the marginal benefit as we see it exceeds the marginal cost on that occasion.“ (Narveson 2003b, S. 425)

Hilfeleistungen kosten Ressourcen wie Zeit oder materielle Güter, und wenn die Menge dieser Ressourcen distanzabhängig sind, spielt das eine Rolle bei der Reichweite der Hilfspflicht. „Distance makes a difference only because and therefore if greater distance increases the cost of our doing things at that distance. […] So although distance usually makes a difference in cost, when it doesn’t, distance has no differential effect on our duties.“ (Narveson 2003b, S. 429–430)

Distanz kann also einen Unterschied machen, wenn sie sich in den Kosten niederschlägt. Das ist in der Regel der Fall. Bereits der Transfer von Hilfeleistungen über eine größere Distanz kann den Nutzen 7

Narveson 2003b

208

Libertäre Normen

mindern und die Kosten erhöhen. Die Reichweite der Norm bemisst sich also an dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. In der spieltheoretischen Variante des Kontraktualismus, die Narveson vertritt, liegt die Bedeutung von Kosten-Nutzen-Überlegungen auf der Hand. Jedoch lässt sich die Argumentation auch sehr gut auf die Stemmersche Variante übertragen.Wenn Person A Person B helfen muss, schränkt dies die Freiheit von A in dem Maße ein, dass er die zur Hilfe benötigten Ressourcen nicht nach seinem Willen verwenden kann. Nun hat A, wie auch alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft, ein basales Interesse an diesen Ressourcen, wie auch an einer potentiellen Hilfeleistung. Wie gesehen müssen die Mitglieder der Gemeinschaft bei der Etablierung des Unterdrückungsverbots abwägen, wie sehr sie die Einstimmigkeitsforderung zugunsten der anderen basalen Interessen einschränken. Die Mitglieder müssen nun abwägen, wie wichtig es ihnen ist, in Notsituationen Hilfe zu erhalten, und wie wichtig ihnen die anderen basalen Interessen sind, die durch ein Hilfsgebot eingeschränkt werden würden. „The moral understanding requires mutual interest. In the case of aiding others, then, we look for expected benefits and expected costs, and assess duties where it would be, on the whole, beneficial to everyone to accept a duty to aid, reinforceable by some amount of social pressure. The question is, then: When is that?“ (Narveson 2003b, S. 426)

Je kleiner die Kosten für eine Hilfeleistung sind und je größer der zu erwartende Nutzen ist, desto wahrscheinlicher werden sich die Mitglieder im Naturzustand auf eine solche Hilfeleistung verpflichten lassen. Denn je höher der Kosten-Nutzen-Faktor ist, desto mehr basale Interessen können befriedigt werden. Narveson ist der Meinung, dass eine bestimmte Formel zur Kosten-Nutzen-Rechnung Aufschluss darüber gibt, wann eine Hilfspflicht 8 zu akzeptieren ra8

Narveson geht davon aus, dass eine solche Hilfspflicht nicht erzwingbar ist. Seine Vorstellung einer nicht erzwingbaren Pflicht ist wohl nur vor dem Hintergrund einer libertären Ablehnung positiver Pflichten zu verstehen. Denn eigentlich kann gar nicht von einer Pflicht die Rede sein, da sie ohne den zwingenden Charakter eine Norm auch ihren verpflichtenden Charak-

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Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

tional ist. Auf der Suche nach einer passenden Formel für eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung bespricht Narveson verschiedene Prinzipien, an denen man die Hilfspflicht ausrichten könnte. Angelehnt an das Prinzip der Goldenen Regel, würde die Hilfspflicht lauten: „Hilf anderen im selben Maße, wie du wollen würdest, dass sie dir helfen!“. Eine solche Hilfspflicht geht laut Narveson aber zu weit, da es nicht rational wäre, anderen in einem solchen Ausmaß zu helfen. Denn ich kann wollen, dass andere sehr viel für mich tun müssen, ohne dabei etwas für andere tun zu wollen. Die wenigsten würden eine so gestaltete Hilfspflicht akzeptieren. Ein weiteres Prinzip nennt Narveson die „Leaden Rule“. Jeder muss in dem Maße helfen, wie ihm selbst geholfen wird. Die Reichweite dieses Prinzips sei aber zu gering, da kaum Hilfeleistungen zustande kommen würden, da niemand in Vorleistung gehen würde und praktisch nie jemand Hilfe erhalten würde. Deshalb schlägt Narveson das Prinzip der „Silver Rule“ vor: „The Silver Rule […] asks us to consider the likelihood that we will be in situations where others could help us, as well as the likelihood that we will be in situations where we could help. In the former situation, where others „could“ help, the question is whether I should ask for it, and even whether I should accept it if rendered. I can’t reasonably ask for it unless I am prepared to do likewise, along some measure of likewisehood. I should try to make it worth other people’s while to help me, and I do this by being willing to help them – up to some point.“ (Narveson 2003b, S. 426)

Die Silver Rule strengt also die Überlegung an, wie wahrscheinlich es ist, dass man selbst einmal Hilfe benötigt und wie wahrscheinlich es ist, in einer Situation zu sein, in der man Hilfe leisten kann. Narve-

ter verliert. Dieser Punkt kann jedoch vernachlässigt werden, da es für die Argumentation innerhalb des Stemmerschen Modells keine Rolle spielt. Wenn sich zeigen lässt, dass ein bestimmtes Ausmaß an Hilfspflicht für alle rational ist, wird dieses Ausmaß, jenes sein, auf das sich die Menschen im Naturzustand einigen würden, was dann zu einer verpflichtenden Norm führt.

210

Libertäre Normen

son vertritt die These, dass jeder, egal wie reich oder mächtig, in eine Situation kommen kann, in der er Hilfe benötigt. „The cliché says „You never know“- but like so many clichés, it has truth. We are all vulnerable to accident, disease, and what-have-you, and there’s a fair chance that we will need somebody’s help, without room for commercial arrangement.“ (Narveson 2003b, S. 427)

Die Unberechenbarkeit des Lebens ist für Narveson ein Grund dafür, die Wahrscheinlichkeit, Hilfe in Not zu bekommen, zu erhöhen, indem man selbst hilft. Geleistete Hilfe erhöht die Chance, selbst in Zukunft Hilfeleistungen zu erhalten und wirkt daher wie eine Art Versicherung. Wer Hilfe leistet, kann sich der Dankbarkeit der Geholfenen recht sicher sein. Auf diese Weise erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, von diesen Personen Hilfe zu erhalten. Daher ist es rational, vor allem denjenigen zu helfen, die in der Lage sind, einem selbst bei Bedarf zu helfen. Aber auch denjenigen zu helfen, die nicht in der Lage sind, einem zu helfen, kann sinnvoll sein. Zum einen können so Beziehungen entstehen, die sich in Zukunft vielleicht als nützlich erweisen. Zum anderen wäre es möglich, dass eine Kette von Hilfsleistungen in Gang gesetzt wird, bei dem derjenige, der die Hilfe bekommen hat, zwar nicht demjenigen im Gegenzug hilft, aber anderen, die wiederum anderen helfen usw. bis der ursprüngliche Helfer davon profitiert. Die Hilfspflicht funktioniert also wie eine Art Versicherung, bei der durch vermehrte Hilfeleistungen die Chance erhöht wird, einmal selbst Hilfe zu bekommen. „The Silver Rule calls upon us to be ready to help those nearby who need our help a lot, because You Never Know; and it calls upon us to be ready to help those farther away, somewhat, partly on the same general principle but more especially in anticipation of general good relations in future. The Silver Rule also stipulates, of course, that the people we help be ready to help others in their turn – perhaps even us if the situation arises. We should help the helpful. The unhelpful we should be rather less forthcoming with, though in the end there is a fair case for helping them too, provided nonmalevolence can be expected in response. The Silver Rule does this via a broad informal social insurance scheme.“ (Narveson 2003b, S. 428)

211

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

Um möglichst wenig andere Interessen einschränken zu müssen, ist es vorteilhaft, möglichst wenig in eine solche Versicherung „einzahlen“ zu müssen. Daher sind Hilfeleistungen, die wenig Ressourcen kosten, möglichst viel Nutzen bringen und möglichst viel Reziprozität bewirken, diejenigen, die am einfachsten Zustimmung für eine Verpflichtung erhalten. Ein Kind aus einem Tümpel zu ziehen z. B. kostet jemanden, der sich gerade an diesem Tümpel aufhält, wenig Ressourcen. Der Nutzen hingegen ist immens, da ein Menschenleben gerettet werden kann, zusätzlich ist durch die Nähe ein reziprokes Verhältnis gegeben, dass durch den Dank und die Anerkennung von Familie und Gesellschaft zu Hilfeleistungen in der Zukunft führen kann. Gemäß der Silver Rule ist klar, dass hier eine Pflicht zur Hilfe besteht. Die Reichweite der Hilfspflicht bemisst sich laut der Silver Rule also daran, wie wahrscheinlich es ist, dass man Hilfe benötigt und wie wahrscheinlich es ist, Hilfe zu erhalten. Je mehr geholfen wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, Hilfe zu bekommen. Es gilt dann zu helfen, wenn die persönlichen Kosten für eine Hilfsleistung niedrig und der persönliche Nutzen einer potentiellen Hilfestellung in Zukunft hoch ist. Distanz ist in der Regel ein Kostenfaktor, deshalb ist es effizienter, Menschen im nahen Umfeld zu helfen, zudem ist die Wahrscheinlichkeit, Hilfe von Menschen aus dem nahen Umfeld zu erhalten, größer als von weit entfernten Menschen. Bei höherer Distanz zwischen den Akteuren nimmt der Grad der Reziprozität – und damit der wechselseitige Nutzen – ab. Wenn Person A einem Kind B in Afrika Geld spendet, damit es nicht verhungert, kann sie wohl kaum darauf hoffen, dass B ihr irgendwann in einer Notsituation hilft. Narveson ist der Ansicht, dass die hilfsbedürftigen Menschen in weiter Ferne auf den ersten Blick nicht in einer reziproken Relation zum Helfer stünden, aber im Hinblick auf eine immer besser vernetzte Weltgemeinschaft könnte es trotzdem sinnvoll sein, diesen zu helfen. Die verpflichtende Hilfeleistung fällt aber entsprechend gering aus. Eine extreme Hilfsplicht, bei der man sein ganzes Leben auf das Helfen auszurichten hat, steht in keiner Relation zu der Gefahr, selbst einmal Hilfe zu benötigen. Dementsprechend führt die Akzeptanz eines Hilfsgebots nach der „Silver Rule“ nicht 212

Libertäre Normen

zu Überforderung, wie es etwa bei Singer der Fall ist. Narveson kann also zeigen, dass Distanz einen moralisch bedeutsamen Unterschied macht und sich die Reichweite der Hilfspflicht dadurch einschränken lässt. „[…] (W)e are all vulnerable to assorted misfortunes, and when those do befall us, assistance from others is going to be our only recourse. But the size of the commitment this imposes is limited and variable, and the higher the cost to the agent, other things being equal, the less stringent is that duty. Distance is normally a cost factor, and so it matters. Very distant people are unlikely ever to be in a strictly reciprocal relation to us.“ (Narveson 2003b, S. 432)

Wenn wir uns jetzt eine Gesellschaft im Naturzustand vorstellen, bei der jeder ein Interesse daran hat, Hilfe in Notsituationen zu erhalten, muss nun die Frage lauten, ob gegenüber jedem ein Hilfsgebot begründet werden könnte. Wie bereits besprochen muss diese Frage verneint werden, jedoch genügt es nach der weniger strikten Variante, dass die Norm gegenüber allen gerechtfertigt sein muss. Es muss also wieder abgewogen werden, wie weit ein Hilfsgebot reichen soll und inwieweit das Unterdrückungsverbot dafür eingeschränkt werden soll. Je weiter das Hilfsgebot reicht, desto weniger Mitglieder der Gesellschaft werden es akzeptieren, denn sie würden zu einer Norm genötigt, die sie nicht wollen. Dies müssen die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft im Auge behalten, bevor sie eine Hilfsgebot etablieren und sich darauf einigen, wie weit eine Hilfspflicht reichen muss. Bezüglich der Reichweite müssten sich also die Mitglieder gemäß der Silver Rule überlegen, welche Vorteile sie durch die Norm haben und wie viel das ihnen wert ist. Sie werden wohl kaum eine genaue Zahl festlegen können, wie viele Ressourcen jeder für Hilfsleistungen zur Verfügung stellen sollte, jedoch ist durchaus vorstellbar, dass man sich auf ein Prinzip wie die Silver Rule einigen kann. Die Reichweite des Hilfsgebots lässt sich anhand der Silver Rule zwar nicht exakt festlegen, jedoch ist eine solche Vagheit kein Hindernis. Es wird auf der einen Seite Fälle geben, bei denen die Reichweite des Hilfsgebots klarerweise überschritten ist, da die Kosten der Hilfeleistung in keinem Verhältnis zum erwarteten Nutzen steht. Auf der 213

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

anderen Seite wird es Fälle geben, bei denen es unstrittig sein wird, dass sie von der Hilfspflicht erfasst werden, da vernachlässigbare Kosten einem immensen erwartbaren Nutzen gegenüber stehen. Wenn der Passant das ertrinkende Kind nicht rettet, obwohl es ihn nahezu nichts kostet, würde er von den anderen getadelt und man würde ihm vorwerfen, dass er seiner Pflicht nicht nachgekommen ist. Wenn jedoch Mark Zuckerberg nur 50 % anstatt 99 % seines Besitzes an Menschen in Notsituationen spendet, würde man ihn trotzdem dafür loben, dass er 50 % seines Besitzes gespendet hat und ihm keinen Vorwurf machen, dass er 49 % weniger gespendet hat, als er hätte spenden können. Beide Extremfälle lassen sich sehr gut mit der Silver Rule erklären, da die Gemeinschaft mit Sicherheit die Reichweite der Hilfspflicht so gestalten würde, dass der erste Fall durch die Hilfspflicht abgedeckt ist und der zweite Fall weit über das hinaus geht, was gefordert werden kann. Der zweite Fall illustriert jedoch sehr gut, dass man einer Hilfspflicht auch graduell nachkommen kann. An einem gewissen Punkt werden sich Kosten und Nutzen decken und dies wäre dann der Punkt, an dem die Hilfspflicht endet und jede weitere Hilfeleistung über das Einforderbare hinausgeht. Jemand, der nur marginal weniger hilft, als er müsste, tut kaum etwas moralisch Verwerfliches. Da es um diesen Punkt herum kaum zu Sanktionen kommen wird, ist es auch nicht weiter tragisch, dass der Punkt nicht klar definiert ist. Jemand, der gar nicht hilft, tut hingegen etwas moralisch sehr Verwerfliches. Es ist wichtiger, die Fälle bestimmen zu können, in denen klarerweise eine Hilfspflicht auch im Rahmen der Silver Rule verletzt wurde. Die Reichweite einer Hilfspflicht kann also innerhalb des Kontraktualismus zwar nicht genau bestimmt werden, aber es ist klar, dass sie nicht besonders weitreichend sein kann. Man wird Menschen im näheren Umfeld in Notsituationen helfen müssen, jedoch auch nur dann, wenn man dafür nicht unmäßig viele Ressourcen aufbringen muss. Es kann zwar auch dafür argumentiert werden, dass man entfernteren Personen helfen muss, aber durch den geringeren zu erwartenden Nutzen müssen hier grundsätzlich weniger Ressourcen aufgebracht werden. An dieser Stelle und mit einer solchen Ausgestaltung des Hilfsgebots behält Wendt Recht, wenn er 214

Kontraktualistisches und Libertäres Selbstverständnis

behauptet, dass ein Hilfsgebot kaum zu umverteilenden Staatsaktivitäten führen wird. Dennoch ist damit die Frage, ob sich ein Hilfsgebot mit der libertären Moral vereinbaren lässt, noch nicht beantwortet. Nicht die weitreichenden Umverteilungsmaßnahmen, sondern die generelle Ablehnung positiver Pflichten ist der Grund für die Ablehnung der Hilfspflicht. Diese Ablehnung resultiert aus dem im Libertarismus zugrundegelegten Freiheitsverständnis und dem daraus abgeleiteten Freiheitsrecht. Wenn also das Hilfsgebot Teil der libertären Moral sein soll, muss ein Weg gefunden werden, diese Norm mit dem libertären Freiheitsverständnis bzw. Freiheitsrecht zu vereinbaren.

3.3

Kontraktualistisches und Libertäres Selbstverständnis

In Stemmers Kontraktualismus ist das Hilfsgebot ein unausweichlicher Bestandteil, dem aber nicht übermäßig viel Gewicht zugeschrieben werden sollte. Die Reichweite eines Hilfsgebots ist in der weniger strikten Variante des Kontraktualismus sehr gering. Aufgrund des nicht absolut verstandenen Unterdrückungsverbots lassen sich das Hilfsgebot und die Einstimmigkeitsforderung vereinbaren. In der libertären Moral gilt aufgrund des LP eine vergleichbare absolute Einstimmigkeitsforderung. Wenn niemand gegen seinen Willen zu etwas gezwungen werden darf, muss auch eine Norm in seinem Interesse sein. Wenn sich zeigen ließe, dass eine vergleichbare Modifikation des LP möglich ist und das Unterdrückungsverbot dementsprechend nicht absolut gelten sollte, könnte man eine Hilfspflicht in die libertäre Moral integrieren. Doch wieso sollten Libertäre eine solche Modifikation ihres moralischen Grundprinzips vornehmen? Eine verabsolutierte Einstimmigkeitsforderung bedeutet, dass auch moralische Normen nicht gegen das Interesse der Betroffenen etabliert werden dürfen und stellt daher einen Prüfstandard, einen Maßstab für moralische Normen dar. Für Stemmer ist klar, dass ein

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Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

solcher Maßstab für moralische Normen auf den Interessen der moralischen Gemeinschaft beruht. „Sie [die moralische Gemeinschaft] muss hier einen moralischen Maßstab festlegen, und solange ihre Mitglieder die Freiheit auch nur einigermaßen schätzen, werden sie […] von der Einstimmigkeitsregel ausgehen und sie dann, je nach ihren Interessen, stärker oder schwächer einschränken. Man darf nicht übersehen, dass eine Moral zu einem großen Teil ein Projekt der Freiheitssicherung ist. Es gibt Moralen unter anderem deswegen, weil die Menschen frei sein wollen.“ (Stemmer 2013, S. 91)

Libertarismus und Kontraktualismus platzieren den Wunsch, frei zu sein, in ihrer Mitte. Stemmer konkretisiert diesen Wunsch in dem basalen Interesse, nicht unterdrückt zu werden, und spricht dabei von einem Freiheitsrecht und einem korrespondierenden Unterdrückungsverbot. „Denn eine Norm, die in meinem eigenen Interesse liegt, die meinem eigenen Wollen entspricht, kann mich, wie schon gesagt, nicht unterdrücken. Sie kann mir nicht gegen meinen Willen einen Teil meiner Freiheit nehmen. Wenn alle im Blick auf ihre Interessen einen Grund haben, zuzustimmen, kann man also sicher sein, dass niemand unterdrückt und niemandes Freiheitsrecht verletzt wird. […] Zentral ist das Freiheitsrecht und das ihm korrespondierende Unterdrückungsverbot.“ (Stemmer 2013, S. 179)

Stemmer bezeichnet das Freiheitsrecht als „Kernelement“ der kontraktualistischen Idee. Es ist maßgebend für das Selbstverständnis des Kontraktualismus. Jedoch darf die Rolle des Freiheitsrechts nicht missverstanden werden. „Es wäre ein Missverständnis, auch ein Selbstmissverständnis, würde man annehmen, die fundamentale Rolle des Freiheitsrechts im Kontraktualismus entspringe einer besonderen Wertschätzung der Freiheit bei den Vertretern dieser Konzeption. […] Tatsächlich gründet die zentrale Rolle des Freiheitsrechts darin, dass die Menschen selbst frei sein wollen, sie wollen das tun, was sie wollen, nicht was andere wollen. Es scheint, als sei dieser Freiheitswunsch sehr tief in der condition humaine verankert. Menschen sind Lebewesen, die etwas wol-

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Kontraktualistisches und Libertäres Selbstverständnis

len. Und wer etwas will, will auch das tun können, was zur Erlangung des Gewollten nötig ist. Darin liegt, dass man all das nicht will, was einen daran hindert, und im Speziellen, dass man nicht will, dass andere einen daran hindern. Überhaupt etwas zu wollen scheint also das Frei-sein-Wollen bereits zu implizieren.“ (Stemmer 2013, S. 180)

Der Wunsch, frei zu sein, und damit auch nicht unterdrückt zu werden, ist Anlass, sich in eine moralische Gemeinschaft zu begeben. Er führt also erst in die Moral. Dieser Wunsch ist zentral für die Moralbegründung. Sich in eine moralische Gemeinschaft zu begeben, bedeutet zwar die Unterordnung unter Normen und die Einschränkung der eigenen Freiheit, aber dafür bekommt jedes Mitglied ein Freiheitsrecht, das die Erfüllung des Wunsches, nicht unterdrückt zu werden, erst ermöglicht. Das daraus resultierende Unterdrückungsverbot korrespondiert so mit dem Freiheitsrecht und dient als Maßstab für moralische Normen. Freiheitsrecht und Unterdrückungsverbot sind damit zentrale Teile des Kontraktualismus, aber nicht der einzige Inhalt der Moral. Diese Beschreibung der kontraktualistischen Kernelemente der Moral von Stemmer lässt sich auch sehr gut als eine Beschreibung der moralischen Grundlagen des Libertarismus lesen. Das Freiheitsrecht und das Unterdrückungsverbot bei Stemmer entsprechen, so meine These, dem, was auch Libertäre eigentlich mit dem Freiheitsrecht und dem LP meinen. „Die moralische Norm, die erpresserische moralische Normen verbietet, ist wie bereits gesagt, eine Teilnorm des allgemeinen Verbots, andere zu unterdrücken. Und dieses Verbot existiert in der einen oder anderen Weise in jeder Moral. Man kann zentrale Moralnormen, das Tötungs- und Verletzungsverbot etwa, als Konkretisierungen dieses Verbots verstehen. Denn, jemanden zu verletzen, bedeutet natürlich, ihm den eigenen Willen aufzuzwingen.“ (Stemmer 2013, S. 91)

Auch die libertäre Moral kennt das Verbot, andere zu unterdrücken, und sieht es als zentral an. Sie versteht das Tötungs- und Verletzungsverbot als Konkretisierungen dieses Verbots, nennt es aber – wie bereits erörtert – non-aggression principle, oder Verbot von Zwang. Das Verbot basiert auch hier auf dem Interesse, sein eigener 217

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

Herr zu sein, und sich nicht dem Willen anderer unterwerfen zu müssen; das Interesse, tun zu können, was man will, ohne dass andere Personen einen mit Drohungen, Zwang und anderen Hindernissen, davon abhalten. Dieser Wunsch lässt sich für beide Theorien als essentiell für die Moralbegründung beschreiben. Der entscheidende Unterschied ist, dass Stemmer erkannt hat, dass ein verabsolutiertes Freiheitsrecht zur Blockade essentieller moralischer Normen führen würde. Lediglich die in der strikten Variante dargestellten Normen wären mit einem verabsolutierten Freiheitsrecht legitim. Jedoch haben die Menschen noch weitere basale Interessen, und damit ein Interesse an über diesen Katalog hinausgehende Normen. Diese essentiellen Normen werden auf Kosten einer Einschränkung des Freiheitsrechts etabliert. Damit ergibt sich, dass ein Hilfsgebot (aber auch ein Diebstahlverbot), trotz des Wunsches, frei sein zu wollen, Teil der Moral ist. Der Inhalt der Moral lässt sich also nicht exklusiv aus dem Wunsch, frei zu ein, bestimmen, da andere basale Interessen eine ebenso entscheidende Rolle spielen. Aus dem Freiheitsrecht und dem damit korrelierenden Unterdrückungsverbot lassen sich demnach, entgegen des Selbstverständnisses vieler Libertärer, nicht alle moralischen Normen ableiten. Stemmer hingegen sieht, dass dieses Freiheitsrecht kein Ausdruck besonderer Wertschätzung der Freiheit als Wert an sich ist. Einem so verstandenen Freiheitsrecht muss nicht zwangsweise ein negativer Freiheitsbegriff zugrunde gelegt werden, dennoch kann es der Ausdruck eines „libertarian principle“ sein. Angelehnt an Stemmers Analyse bezüglich des Selbstverständnisses des Kontraktualismus vertrete ich die These, dass der Libertarismus eben diesem Missverständnis erliegt. Das Unterdrückungsverbot ist zwar zentral, aber es fungiert als Metanorm, an dem sich die anderen moralischen Normen messen lassen müssen. Das Freiheitsrecht und das daraus resultierende Unterdrückungsverbot ist also kein moralisches Grundprinzip, aus dem sich moralische Normen ableiten lassen, sondern es ist ein Maßstab für moralische Normen. Auch Normen, die auf anderen basalen Interessen beruhen, z. B. das Hilfsgebot, werden diesem Maßstab gerecht. Der Maßstab beruht darauf, frei sein zu wollen, erhebt aber nicht den Anspruch, einem Gattungsbegriff der Freiheit gerecht zu 218

Kontraktualistisches und Libertäres Selbstverständnis

werden, sondern bringt ein basales Interesse der Menschen zum Ausdruck, das zwar für die Moral von höchster Bedeutung, aber kein Wert an sich ist. Wer den Libertarismus so versteht, kann eine Hilfspflicht in die libertäre Moral integrieren und den Kontraktualismus als dessen Begründung ansehen. Der Libertarismus kann den Kontraktualismus als seine moralische Grundlage begreifen, wenn er bereit ist, bestimmte Einsichten zu akzeptieren. Das libertäre Selbstverständnis bedarf einer grundlegenden Veränderung dahingehend, dass es nicht um eine besondere Wertschätzung der negativen Freiheit, sondern um den Wunsch frei zu sein, der sich in dem basalen Interesse niederschlägt, nicht unterdrückt zu werden. Diesem Interesse wird der Stemmersche Kontraktualismus gerecht. Das bedeutet, dass eine strikte Ablehnung von positiven Pflichten keine Bedingung für die Umsetzung dieses Interesses ist, sondern diesem entgegen steht. Eine Hilfspflicht mit geringer Reichweite ist Teil dieser Moral. Damit hat Stemmer eine alternative Antwort auf die Frage gegeben, wie das Freiheitsrecht und die libertären Normen begründet werden können. Seine Theorie bietet ein alternatives Verständnis von Moral. Anfangs wurde Seebaß’ Antwort auf die Frage, wie Freiheit überhaupt verstanden werden soll, gegeben. Beide Theorien lassen sich gut mit dem Libertarismus in Einklang bringen, wenn sich dessen Selbstverständnis ändert. Seebaß und Stemmer widersprechen sich zwar in relevanten Fragen der Normativität und der Freiheit 9, jedoch könnten das Freiheitsverständnis von Seebaß und Stemmers Moralkonzeption Kandidaten für ein neues Selbstverständnis des Libertarismus sein, die eine Begründung und folglich auch eine neue Konzeption libertärer Moral ermöglichen. Hier stellt sich die Frage, ob eine solche Konzeption nicht besser einfach als liberal und gar nicht mehr als libertär bezeichnet werden sollte. Jedoch wird nicht wie im Liberalismus die Freiheit als grundlegender 9

Vgl.Seebaß 2003, S. 155–196 und Stemmer 2016, S. 259 ff. Seebaß kritisiert Stemmers Auffassung von Normativität. Stemmer hingegen propagiert in seinem aktuellen Buch eine von Seebaß’ Idee abweichende Auffassung von Freiheit.

219

Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

Wert durch andere Werte, wie z. B. egalitäre Fairnessvorstellungen relativiert, sondern die Freiheit bzw. der Wunsch, frei zu sein, bleibt die Grundlage, auf der die Moral aufbaut. Daher handelt es sich nach wie vor um eine libertäre Konzeption. Zudem ergeben sich durch das neue Selbstverständnis eine Reihe von Vorteilen und einige Punkte externer Kritik verlieren an Bedeutung. Neben dem Vorwurf der fehlenden Begründung ist dem Libertarismus stets ein verkürztes Verständnis von Moral, wie auch ein verzerrtes Verständnis von Freiheit vorgehalten worden. Wenn der Libertarismus aber gar nicht mehr ein rein negatives Freiheitsverständnis vertritt, geht diese Kritik ins Leere. Der Kritik der Verkürzung kann mit dem kontraktualistischen Fundament und der gleichzeitigen inhaltlichen Erweiterung um die Hilfspflicht nun auch etwas entgegengebracht werden. Eine so verstandene kontraktualistisch begründete libertäre Moral weicht inhaltlich nicht stark von der klassischen 10 libertären Moral ab, lässt sich nun aber in drei Kategorien einteilen. Die erste Kategorie enthält das Tötungs-, Verletzungs- und Unterdrückungsverbot. Diese Normen sind gegenüber allen begründbar. Die zweite Kategorie enthält das Diebstahlverbot und das Hilfsgebot, die gegenüber allen rechtfertigbar sind. Die dritte Kategorie sind quasi-moralische Normen, die nur gegenüber denjenigen begründbar und rechtfertigbar sind, die ein entsprechendes altruistisches Ideal teilen. Also gelten die Normen der ersten beiden Kategorien für alle. Der Normenkatalog der Minimalmoral ist die Grundlage für das Zusammenleben aller Menschen. Dennoch können in einzelnen Gruppen Quasi-Moralen entstehen, die sich von (Quasi-)Moralen anderer Gruppen unterscheiden. Diesen quasi-moralischen Normen könnten unter dem neuen Selbstverständnis des Libertarismus eine wichtige Rolle zukommen. Wenn quasi-moralische Normen nicht

10

Angesichts der Bandbreite der anfangs vorgestellten libertären Positionen von einer klassischen libertären Moral zu sprechen, mag simplifizierend wirken, aber gemeint ist damit die Ablehnung positiver Pflichten und der zugrundeliegende negative Freiheitsbegriff, den diese Positionen klassischerweise teilen.

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Auswirkungen auf den politischen Libertarismus – ein Ausblick

unterdrückend wirken, da sich z. B. eine homogene Gruppe freiwillig einem altruistischen Ideal verpflichtet, können verpflichtende Normen etabliert werden, die vom Inhalt einer klassischen libertären Moral abweichen. Zwar handelt es sich bei diesen Normen nicht um moralische Normen, aber dennoch um Normen, die für das Zusammenleben der Gruppe von Bedeutung sind. Diese Normen können auf der politischen Ebene eine große Reichweite haben, daher gilt es abschließend zu klären, wie sich solche Normen und das neue libertäre Selbstverständnis auf der politischen Ebene des Libertarismus auswirken.

3.4

Auswirkungen auf den politischen Libertarismus – ein Ausblick

Für den Libertarismus als politische Theorie ist die Festlegung von Ausmaß und Reichweite staatlicher Eingriffe in das Freiheitsrecht der Bürger zentral. Nicht nur die Legitimation staatlicher Eingriffe, sondern der Staat als solcher stehen zur Debatte. Das Hauptaugenmerk der libertären politischen Diskussion richtet sich darauf, inwieweit ein Staat gerechtfertigt sein kann. Die Vertreter der verschiedenen libertären Denkrichtungen sind sich zwar uneinig 11 darüber, wie weit die Befugnisse des Staates gehen sollten, jedoch eint sie die Meinung, dass diese Befugnisse nicht weitreichend sein dürfen, da sie schnell an die Grenzen des Freiheitsrechts der Bürger stoßen. Alle beziehen sich dabei auf ihre Interpretation von dem, was Freiheit, ein Recht auf Freiheit und libertäre Moral bedeuten soll und was deshalb gerechtfertigt werden kann. Jedoch stützten sich diese Interpretationen mehr oder weniger auf das traditionelle Selbstverständnis. Wenn dieses durch das vorgestellte neue Selbstverständnis

11

Wie bereits anfangs erwähnt, argumentieren die meisten Libertären dafür, dass lediglich ein Minimal- bzw. Nachtwächterstaat gerechtfertigt ist, Anarchokapitalisten dafür, dass kein Staat gerechtfertigt ist und Links-Libertäre dafür, dass ein Staat auch gerechtfertigterweise Umverteilungen vornehmen darf.

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Freiheit und Moral (Kontraktualismus als libertäre Moralbegründung)

ersetzt wird, hat dies auf den ersten Blick keine großen Auswirkungen auf die Moral. Zwischen einer klassischen libertären Moral mit ihren wenigen grundlegenden Normen und Stemmers Minimalmoral besteht mit Ausnahme der Hilfspflicht kein besonders großer Unterschied. Aber das neue zugrunde gelegte Freiheitsverständnis, das über einen rein negativen Freiheitsbegriff hinausgeht, könnte legitime, staatlich festgelegte, positive Rechte und Pflichten, wie z. B. eine mit Steuern finanzierte Sozialhilfe, zulassen. Das alte Selbstverständnis sah in staatlicher Umverteilung von privatem Eigentum einen Widerspruch zum Freiheitsrecht. Die prinzipielle Idee hinter der Ablehnung staatlicher Umverteilungen ist folgende: Ein Recht auf Sozialhilfe ist ein positives Recht. Um es umzusetzen, zieht der Staat gegen den Willen der Bürger Steuern ein und nutzt diese für die Sozialhilfe. Die Bürger haben aber ein negatives Recht auf ihr Eigentum. Steuern sind eine Zwangsabgabe, die dieses negative Recht verletzt. Da nur negative Rechte moralisch von Bedeutung sind und ein positives Recht auf Sozialhilfe gar nicht Teil der Moral ist, ist eine steuerfinanzierte Sozialhilfe eine Rechtsverletzung und damit moralisch verwerflich. Wenn jedoch eine Hilfspflicht Teil der Moral ist, ist es nicht mehr klar, ob staatliche Sozialhilfe unmoralisch ist. Es ist vorstellbar, dass die Sozialhilfe mit dem Recht auf Hilfe in Notsituationen begründet werden kann. Das neue Selbstverständnis des Libertarismus kann also, obwohl es für die Moral nur geringfügige Änderungen bedeutet, auf der politische Ebene weitreichende Veränderungen beinhalten. Weitere Staatsaktivitäten, wie z. B. Regelungen bezüglich des Umweltschutzes, die klassischerweise von Libertären abgelehnt werden, könnten mit der neuen libertären Konzeption moralisch erlaubt oder sogar moralisch gefordert sein. Darüber hinaus ist es auch vorstellbar, dass Gruppen, die ein altruistischen Ideal teilen, sich politisch organisieren, um quasi-moralische Normen zu institutionalisieren. So ließe sich z. B. ein veganischer Staat denken, dessen Bürger alle das altruistische Ideal teilen, dass Tiere nicht gequält, getötet oder anderweitig instrumentalisiert werden dürfen und dieses Ideal wird dort nicht nur als quasi-moralische Norm, sondern auch als juridische Norm umgesetzt. Auf diese 222

Auswirkungen auf den politischen Libertarismus – ein Ausblick

Weise könnten sich verschiedene Gruppen, Gesellschaften oder Staaten bilden, die jeweils verschiedene lokale Quasi-Moralen haben und deren politisches System sich nach diesen Normen richtet. Solange diese Quasi-Moralen nicht den Kernbereich moralischer Rechte verletzen, wären sie kontraktualistisch legitimiert und daher auch mit der „neuen“ libertären Moral vereinbar. Damit wäre auch ein Staat rechtfertigbar, der mehr Kompetenzen hat als der Minimalstaat. Die von mir vorgestellte neue Konzeption libertärer Moral kann also u. U. weit vom klassischen Verständnis des Libertarismus abweichen, steht dafür aber hinsichtlich der Begründbarkeit auf einem sehr viel festeren Boden. Wenn der Libertarismus seine zugrunde liegende moralische Überzeugung begründen will, muss er an seinem Selbstverständnis arbeiten und akzeptieren, dass die Moral, wenn auch nur geringfügig, reichhaltiger ist. Politisch ist damit auch ein über den Minimalstaat hinausgehender Staat rechtfertigbar, und möglicherweise auch eine durch den Staat regulierte Wirtschaft. Die klassischen Kernelemente des politischen Libertarismus stehen damit zu Disposition und bedürfen einer eigenen Begründung, oder müssen eventuell sogar verworfen werden. Das kann an dieser Stelle nicht geleistet werden, und mit diesem Ausblick in die politische Philosophie soll die Fruchtbarkeit der Idee nur angedeutet sein.

223

IV

Fazit

Die Ausgangsfrage dieser Dissertation war, ob eine Begründung libertärer Moral möglich sei. Sie kann jetzt bejaht werden. Hierfür wurde das libertäre Verständnis von Freiheit, Moral und deren Zusammenhang untersucht. Im ersten Teil wurde der Libertarismus und der zugrundeliegende Freiheitsbegriff dargestellt. Das negative Verständnis von Freiheit und die daraus folgende negative Auffassung von Rechten und Pflichten zeichnen den moralischen Libertarismus aus, haben sich aber als defizitär herausgestellt. Auch wenn hier nicht in ausreichender Länge das Freiheitsthema besprochen werden konnte, reichte bereits der Blick auf eine alternative Konzeption, um die Verkürzung des libertären Freiheitsbegriffs darzulegen. Das zu enge libertäre Verständnis von Freiheit spiegelt sich konsequent im Verständnis von Rechten und Pflichten wieder. Dieses Verständnis erklärt die strikte Ablehnung positiver Pflichten. Das libertäre Verständnis von Freiheit, Rechten und Pflichten lässt sich damit nicht als adäquate Repräsentation dieser Begriffe beschreiben, aber als Ausdruck eines moralischen Grundprinzips. Im zweiten Teil, der sich dem Verständnis der libertären Moral widmet, konnte gezeigt werden, dass das grundlegende moralische Prinzip, das auch als non-aggression principle bezeichnet wird, auf ein Verbot von Zwang und Gewalt herausläuft. Aus dieser Grundlage der Moral lassen sich aus libertärer Sicht das Tötungs- und Verletzungsverbot wie auch das Diebstahl- und Unterdrückungsverbot ableiten. Diese Normen bilden den inhaltlichen Rahmen der libertären Moral. Die Ableitung aus dem LP und dem damit korrespondierenden Freiheitsrecht bleiben aber begründungsbedürftig. Die fehlende plausible Begründung der moralischen Grundlage ist einen Hauptkritikpunkt am Libertarismus. Verschiedene mögliche Kandidaten für eine libertäre Moralbegründung wurden vorgestellt und kritisch betrachtet. Letztlich konnten die Kandidaten alle zurückgewiesen werden. Die Kritik an Stemmers kontraktualistischer Moralbegründung erwies sich als unzureichend. Der Vorwurf, dass kontraktualistische 225

Fazit

Theorien den Pflichtcharakter moralischer Normen theoretisch nicht abbilden können, weist Stemmer von sich. Eine nähere Betrachtung seiner Normativitätstheorie zusammen mit seiner Auffassung des Kontraktualismus ergaben, dass Stemmer ein verpflichtendes Müssen allein auf Basis egoistischer Interessen entgegen der vorgebrachten Kritik begründen kann. Die daraus resultierende Minimalmoral ist inhaltlich fast deckungsgleich mit der libertären Moral. Im letzten Teil wurde die Frage beantwortet, ob sich die kontraktualistische Begründungsfigur auch auf die libertäre Moral übertragen lässt. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Stemmers Minimalmoral und der klassischen libertären Moral besteht im Hilfsgebot. Dieses ist fester Bestandteil der Minimalmoral, jedoch konnte gezeigt werden, dass die Reichweite der Norm hier eher gering ausfällt und nicht überbewertet werden sollte. Die positive Pflicht, die mit einem Hilfsgebot zum Ausdruck kommt, widerstrebt jedoch dem libertären Verständnis von Freiheit und Moral. Daher musste abschließend gezeigt werden, dass das libertäre Verständnis in dieser Hinsicht falsch ist. In Anlehnung an Stemmer und mit den Erkenntnissen der Analyse im ersten Kapitel wurde den Libertären ein Missverständnis der eigenen Position attestiert. Ihre moralische Grundüberzeugung lässt sich essentiell als der Wunsch, frei zu sein, verstehen – Dieser Grundüberzeugung muss aber kein negatives Verständnis von Freiheit und auch kein anderes moralisches Grundprinzip, aus dem alle moralischen Normen abgeleitet werden, vorausgehen. Der Wunsch, frei zu sein, ist ein basales Interesse neben anderen und findet sich deshalb verkörpert in einer Norm in der Moral wieder. Jedoch werden von der Moral auch andere basale Interessen, wie das Interesse, in Notsituationen Hilfe zu erhalten, mit einer Norm zum Ausdruck gebracht. Dennoch besitzt der Freiheitswunsch, das daraus resultierende Unterdrückungsverbot, wie auch das darin enthaltene Freiheitsrecht einen besonderen Stellenwert. An ihm werden alle Normen und damit auch das Unterdrückungsverbot selbst gemessen. Dies ist der Kern des Missverständnisses. Die besondere Rolle des Freiheitsrechts besteht nicht darin, dass alle Normen aus ihm abgeleitet werden, sondern es ist ein Maßstab für 226

Fazit

moralische Normen. Dies führt zu der Einsicht, dass ein verabsolutiertes Freiheitsrecht dieser Rolle nicht gerecht wird, da auf diese Weise andere basale Interessen außer Acht gelassen würden. Stemmer hat diese Besonderheit erkannt und seine Theorie darauf angepasst und damit aber auch unfreiwillig dem Libertarismus gezeigt, dass sein Selbstverständnis korrigiert werden muss. Eine solche Korrektur birgt aber auch die Möglichkeit, den Kontraktualismus in der Variante von Stemmer als Begründung für die libertäre Moral zu begreifen. Es lässt sich also dafür argumentieren, dass der Wunsch, frei zu sein, als moralische Grundlage dienen kann. Diese Überzeugung kann durchaus libertär genannt werden. Das bedeutet: bestimmte moralische wie auch politische Schlussfolgerungen lassen sich nicht mehr ziehen, die bisher als libertär galten. Eine positive Pflicht ist nun Teil der Moral, sodass es in gewissen Fällen moralisch erlaubt, oder sogar gefordert sein kann, jemanden dazu zu zwingen, anderen in Not zu helfen. Ebenso können über die Minimalmoral hinaus quasi-moralische verpflichtende Normen etabliert werden. Dies wirft ein neues Licht auf die strikten Forderungen der Libertären bezüglich eines Minimalismus des Staates und der Möglichkeiten, die diesem zugestanden werden. Positive moralische Rechte können sich auch in positiven politischen Rechten widerspiegeln und zu einem weitaus reichhaltigeren Staat führen, als Libertäre bisher für moralisch akzeptabel hielten. Es besteht also aufgrund der betrachteten Möglichkeit libertärer Moralbegründung viel Raum für die Diskussion und Ausgestaltung einer neuen libertären Ethik und einer neuen libertären politischen Theorie.

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V

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