Vernetzte Ethik: Zur Moral und Ethik von Lebensformen 9783495997529, 3495480471, 9783495480472


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German Pages [289] Year 2001

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Table of contents :
Cover
Vorbemerkung
1. Einleitung
2. Strebensethik und Sollensethik
3. Glück und Interesse
4. Lebensform
5. Phänomenologie der Lebensformen
5.1. Die ästhetische Lebensform
5.1.1. Sinnliche Lust
5.1.2. Erlebnis
5.1.3. Form oder Schönheit des eigenen Lebens
5.2. Die ökonomische Lebensform
5.3. Die politische Lebensform
5.4. Die theoretische Lebensform
6. Verabsolutierung
6.1. »Quasi-Objektivierung«
6.2. Verallgemeinerung
6.3. Schlussfolgerungen
7. Die Ethik der Typen
7.1. Das moralische Rhizom
7.2. »Das Prinzip der Konnexion und der Heterogenität«
7.3. »Das Prinzip der Mannigfaltigkeit«
7.4. »Das Prinzip des asignifikanten Bruchs«
7.5. »Das Prinzip der Kartographie und des Abziehbildes«
7.6. Die Kunst der Kartographie
8. Prä-Ethik
Epilog
Personenregister
Sachregister
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Vernetzte Ethik: Zur Moral und Ethik von Lebensformen
 9783495997529, 3495480471, 9783495480472

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Urs Thurnherr

Vernetzte Ethik Zur Moral und Ethik von Lebensformen

ALBE

BAND 70 IE

https://doi.org/10.5771/9783495997529

.

A

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997529 .

Zu diesem Buch: Im Rahmen einer Phänomenologie der Lebensformen zeigt der Autor auf, inwiefern jede Lebensform über ein eigenes Moralverständnis und ein betreffendes Ethikkonzept verfügt. Dabei erweisen sich die konkur­ rierenden philosophisch-ethischen Entwürfe primär als Verabsolutie­ rungsstrategien der jeweiligen Lebensformen. Mit Blick auf die Ein­ sicht, daß sich die diversen Ethiken aus philosophischer Sicht in keiner Weise mehr hierarchisch ordnen lassen, bemüht sich die »Vernetzte Ethik« darum, die mannigfaltigen ethischen Konzepte miteinander zu verbinden, d.h. zu vernetzen, um so das moralische Potential der Men­ schen insgesamt zu nutzen und eine Lebenswelt mit dem größtmög­ lichen moralischen Raum zu schaffen. Die Grundsätze einer entspre­ chenden »Ethik der Typen«, der es um die Grenzlinien, Übergänge und Verbindungen zwischen den Lebensformen bzw. ihren Moralen und Ethiken geht, entwickelt Thurnherr schließlich am Rhizom-Modell von Deleuze und Guattari. About this book: Within the framework of a phenomenology of forms of life, the author shows the extent to which each form possesses its own moral understanding and an associated ethical conception. ln the process, the various competing philosophical-ethical systems are shown to be strategies employed by the various forms of life in order to arrive at an absolute viewpoint. With reference to the insight that the various ethi­ cal systems can no longer in any way be hierarchically ordered according to a particular philosophical view, »Vernetzte Ethik« concerns itself with the attempt to connect the various ethical conceptions with each other, i. e. to network them in order to use the total moral potential of humam'ty and to create a life-world with the greatest possible moral space. Thurnherr ultimately, by means of Deleuze and Guattari’s rhi­ zome model, develops the fundamentals of a corresponding »ethics of types« which is concerned with the borders, transitions, and connec­ tions between forms of life as well as their moral and ethical systems. Der Autor: Dr. phil. Llrs Thurnherr, geb. 1956, ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte und Ver­ öffentlichungen finden sich im Bereich der Ethik, der Angewandten Ethik und der Philosophie Kants.

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Urs Thurnherr Vernetzte Ethik

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Alber- Reihe Praktische Philosophie Hnter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Deiner Hastedt, Ekkehard Martens, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep und Jean-Claude Wolf herausgegeben von Günther Bien, Karl-Heinz Musser und Annemarie Pieper Band 70

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Urs Thurnherr

Vernetzte Ethik Zur Moral und Ethik von Lebensformen

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des

Fonds zur Förderung der Geisteswissenschaften der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel.

Die Deutsche Bibliothek - CVP-Einheitsaufnahme Thumherr, Urs: Vernetzte Ethik : zur Moral und Ethik von Lebensformen / Urs Thurnherr. Ereiburg (Breisgau) ; München : Alber, 2001 (Alber-Reihe praktische Philosophie ; Bd. 70) Zugl.: Basel, Univ., Habil., 1998 ISBN 3-495-48047-1 Texterfassung: Autor Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Ereiburg/München 2001 Einbandgestaltung: Eberle H Kaiser, Ereiburg Einband gesetzt in derRotis SemiSerifvon Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Eöhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2001 ISBN 3-495-48047-1

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Für Seraina

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Inhalt

Vorbemerkung...........................................................................

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1.

Einleitung

...........................................................................

13

2.

Strebensethik und Sollensethik.........................................

32

3.

Glück und Interesse............................................................

53

4.

Lebensform........................................................................

71

5.

Phänomenologie der Lebensformen...............................

83

5.1. Die ästhetische Lebensform............................................... 5.1.1. Sinnliche Lust............................................................ 5.1.2. Erlebnis..................................................................... 5.1.3. Form oder Schönheit des eigenen Lebens ............ 5.2. Die ökonomische Lebensform............................................ 5.3. Die politische Lebensform.................................................. 5.4. Die theoretische Lebensform............................................

85 85 95 112 131 148 166

6.

...............................................................

202

6.1. »Quasi-Objektivierung« .................................................. 6.2. Verallgemeinerung ............................................................ 6.3. Schlussfolgerungen ............................................................

203 217 237

7.

Die Ethik der Typen............................................................

244

7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6.

Das moralische Rhizom..................................................... »Das Prinzip der Konnexion und der Heterogenität« . . . »Das Prinzip der Mannigfaltigkeit«................................... »Das Prinzip des asignifikanten Bruchs«......................... »Das Prinzip der Kartographie und des Abziehbildes« . . Die Kunst der Kartographie ...............................................

244 249 253 255 259 261

Verabsolutierung

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Inhalt

8.

10

Prä-Ethik

............................................................................

269

Epilog...........................................................................................

279

Personenregister........................................................................ Sachregister ..............................................................................

283 287

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Urs Thurnherr

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Vorbemerkung

Diese Arbeit wurde unter dem Titel Vernetzte Ethik. Entwurf einer »Ethik der Typen« und vorbereitende Gedanken zu einer Prä-Ethik der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel im November 1998 als Habilitationsschrift vorgelegt und von dieser an­ genommen. An dieser Stelle möchte ich allen danken, die mich in der Zeit der Arbeit an dieser Schrift mit Freundschaft und gelegentlich mit Geduld begleitet haben. Mein ganz besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Annemarie Pieper für die vielfältige Förderung und Unter­ stützung. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Emil Angehrn, Prof. Dr. Otfried Höffe und Prof. Dr. Alfred Schöpf für ihre wertvollen Hin­ weise. Schließlich danke ich auch dem Fonds zur Förderung der Geis­ teswissenschaften der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses.

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1. Einleitung

Die gegenwärtige Lage unserer Welt erscheint mehr als kritisch; man könnte sogar davon sprechen, dass der Erdhall in hellen Flammen steht. Diese metaphorische Redeweise gründet auf jenem Bild von dieser Welt, das uns die zahlreichen Presseherichte und die vielen Filmheiträge der Nachrichtensendungen täglich vor Augen führen. Uns sind solche Beschreihungen und Bildsequenzen allerdings schon in einer Weise vertraut, dass sie uns nur noch selten heeindrucken und uns vielmehr unmerklich zu langweilen heginnen. Um diesem verhängnisvollen Überdruss keinen Vorschuh zu leisten, möchte ich an dieser Stelle hloß eine kleine Skizze des Welthrandes gehen und mich dahei auf drei Haupthrandherde konzentrieren. Erstens: Die Feststellung, dass die Menschheit gerade daran ist, ihre eigenen Lehensgrundlagen zu vernichten, stellt mittlerweile hereits einen Gemeinplatz dar. Wir zerstören die uns vor den kos­ mischen Strahlen schützende Ozonschicht; wir verschwenden und verseuchen unser lehensnotwendiges Trinkwasser; wir sehen tatenlos zu, wie jene großen, Sauerstoff produzierenden Wälder in Nord- und Südamerika und anderswo, ohne die uns der Atem ausgehen wird, ahgeholzt oder durch Brandrodung auf der Erdkarte ausgelöscht wer­ den. Das nahrungspendende Ackerland wird durch Dünge- und so­ genannte Pflanzenschutzmittel ühersäuert und vergiftet und dadurch sowie durch die von Menschen auf mannigfache Weise verschuldete Erosion stetig dezimiert. Die Meere werden leergefischt; die Ausrot­ tung zahlreicher Tier- und Pflanzenarten, d. h., die drastische Reduk­ tion der Biodiversität insgesamt rührt uns kaum, weil wir uns deren Konsequenzen für unser Lehen aus einem Mangel an Phantasie gar nicht vorzustellen vermögen. Wir vergiften unseren Lehensraum durch den Müll und Schrott unseres sinnlosen Luxus sowie - in einem hochgradigen Maße und auf lange Zeiten - durch den Atom­ müll verpuffter Energie. Mit einer Mischung aus krankhafter Apa­ thie und ungedecktem Zweckoptimismus üherhören wir dahei all jene Stimmen, die davon künden, dass die Fortexistenz der Mensch­ heit oh alledem hedroht ist. Der Anstieg von Organschäden hei neu­ ^ 13

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Einleitung

geborenen Kindern, die rasante Verbreitung allergischer Leiden, die exponentielle Zunahme der Atemwegserkrankungen und vieles mehr sind lauter Indikatoren dafür, dass sich Mensch und Umwelt, dass sich die Natur mit Giften sättigt wie ein Schwamm, der in eine Pfütze geworfen wird. Nicht genug: Das in den Achtzigerjahren in Europa begonnene Experiment mit prionenverseuchtem Fleisch, bei dessen Verzehr sich die Menschen möglicherweise der Gefahr aus­ setzen, an einem BSE-analogen, tödlichen Leiden zu erkranken, so­ wie diverse Großversuche im Bereich der Gentechnologie scheinen ausreizen zu wollen, was wir und diese Erde noch vertragen können. So darf es einen auch nicht verwundern, dass sich kaum jemand da­ rüber aufregt und keine Weltmacht etwas dagegen unternimmt, wenn global operierende Verbrecherbanden atomwaffenfähiges Ma­ terial aus den Beständen der ehemaligen Sowjetunion inklusive das dazugehörige Wissen darüber, wie man Atombomben baut, meistbie­ tend an die Terrorregimes dieser Erde verschachern. Zweitens: Spätestens wo die zum guten Leben notwendigen Mittel ganzen Teilen der Erdbevölkerung vorenthalten werden, be­ ginnt der Kampf um die Verteilung. Flächendeckend entbrennen überall größere und kleinere Kriege, bei denen es um die Verteilung von Wasser, von Nahrung, von Energie, von Arbeit, von Rohstoffen, aber darüber hinaus auch nicht zuletzt um die Verteilung von Grund­ besitz, Entwicklungschancen, Wohlstand und medizinischer Versor­ gung geht. Diese Verteilungskriege entzünden sich in den globalen Spannungsfeldern zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost. Jedoch schon innerhalb einer wohlhabenden Staatengemeinschaft wie der Europäischen Union und innerhalb der Gesellschaft eines jeden Landes wird ein heimlicher Krieg geführt um die Verteilung der vorhandenen Güter. Drittens: Die gewaltsamen Auseinandersetzungen ranken sich indessen nicht nur um materielle Dinge. So werden daneben auch Überzeugungen und Meinungen kriegerisch vertreten, wobei es zu­ vorderst nicht um deren Verteidigung geht, sondern vor allem um deren Durchsetzung und Ausbreitung. Mit Terror, Mord und Tot­ schlag versuchen die Fundamentalisten und die Radikalen dieser Welt die Konkurrenz der Religionen und Weltanschauungen unter­ einander endgültig zugunsten ihrer je eigenen Auffassung zu ent­ scheiden. Totalitäre Sekten streben mehr oder weniger unverhohlen die Weltherrschaft an, wozu sie sich entweder durch ihre ausschließ­ liche »Wahrheit« oder durch den Impetus ihrer pathologisch-aggres­ 14

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Einleitung

siven Misanthropie legitimiert fühlen. Die Destruktionsenergie, die von den drei beschriebenen Brandherden ausgeht, verspricht ihr gan­ zes Potential erst richtig zu entfalten in Kombination mit jenem un­ aufhaltsam scheinenden Anstieg der Erdbevölkerungszahl. Wohl nicht ganz ohne Berechtigung erwartet der Common sen­ se nun grundsätzlich von den Ethikern einen Beitrag, der die Brände zu bekämpfen hilft. So stellt sich denn auch die vielleicht tatsächlich etwas naive Frage, ob die Ethiker mittlerweile nicht irgendeine Bot­ schaft für die brennende Welt bereithalten - eine Botschaft, die von den Ethikern gemeinsam getragen wird und die dem verbliebenen guten Willen in gewisser Hinsicht weiterhelfen könnte. Es soll damit in keiner Weise die These vertreten werden, die Rettung der Welt hänge von den Ethikern ab oder diese seien primär so etwas wie Brandbekämpfer von Beruf. Obschon die Ethiker nach einer länge­ ren Zeit der unerträglichen Zurückhaltung und Abstinenz wieder mit der Welt kommunizieren, was erst in den Siebzigerjahren mit den Beiträgen beispielsweise von John L. Mackie und John Rawls oder etwa von Hans Jonas und Robert Spaemann angefangen hat sowie gegenwärtig durch die zunehmenden Anstrengungen der An­ gewandten Ethik fortgesetzt wird, muss gerade das Verlangen nach einer gemeinsamen ethischen Hilfestellung enttäuscht werden. Die Ethiker haben vornehmlich mit sich selber zu tun: Ihre Auseinander­ setzungen und Dispute zeichnen das Bild großer Uneinigkeit, zum Teil auch unversöhnlicher Zerstrittenheit und sind geprägt von trot­ zigem Autismus und argwöhnischem Futterneid. Die Philosophen und Ethiker repräsentieren gar so wenig eine Forschergemeinschaft, sind gar so wenig zur Kooperation bereit und auch fähig, dass ein Philosophenkongress, der mit dem Ziele einberufen würde, gemein­ same Leitlinien menschlichen Verhaltens zur Eindämmung des Brandes auf der Welt auszuarbeiten, mit Garantie ein totales Fiasko werden würde. Die erste Ursache dafür, weshalb eine wirkliche Zusammen­ arbeit unter den Ethikern nicht zustande kommt, ist im Bereich des Menschlichen zu suchen. Wie alle anderen Menschen glauben auch die Philosophen noch allzu gerne, dass andere Dinge wichtiger sind als die Lösung der angeführten Probleme auf dieser Welt, und so leisten sie sich ein sorgloses Desinteresse, kultivieren sie weiterhin ihren Narzissmus, reagieren auf Kritik mit egozentrischem Rückzug und hochmütiger Feindseligkeit und zelebrieren die hybride Kon­ sensverweigerung. Diese Ichbezogenheit der Philosophen manifes­ ^ 15

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tiert sich wohl am deutlichsten in jener Vorstellung, die die Philoso­ phen von einer Diskussion haben. Ein Blick auf die Anmerkungen oder die weitgehend vergebliche Suche nach Querverweisen etwa in dem Sammelhand Kant in der Diskussion der Moderne1 verrät, dass zum Beispiel die Koryphäen der Kant-Exegese - von wenigen Aus­ nahmen abgesehen - die Kantliteratur der letzten zwei Jahrzehnte schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen haben und der Titel jenes Buches daher eher »Kant in der Nahelschau der Modernen« heißen müsste. Die Philosophen haben denn eine neue Form von »diskutie­ ren« in die Sprache eingeführt, die offenbar auf eine Tätigkeit ver­ weist, welche gänzlich ohne Partner auszukommen scheint. Die Gründe sind möglicherweise darin zu sehen, dass die Philosophie die einzige Disziplin repräsentiert, wo sich Primär- und Sekundär­ literatur nur sehr schwer voneinander abgrenzen lassen und fließend ineinander übergehen. Der Literaturwissenschaftler gerät kaum in Gefahr, sein wissenschaftliches Tun selber wiederum als Dichtung zu verstehen; der Philosoph jedoch verliert offenbar sogleich seine Selbstachtung, wenn er bloß auf das Kongeniale zielt. Als gleichwer­ tige Gesprächspartner werden da höchstens noch die »wehrlosen« Größen der Philosophiegeschichte akzeptiert und sicherlich keine Kollegen oder Kolleginnen. Demgemäß nährt sich das Gespräch an den Fachkongressen der Philosophen denn auch weniger von der sachlichen Auseinanderset­ zung, sondern ist gezeichnet von einem schamlos geführten Profilie­ rungskampf und einem hemmungslosen Konkurrenzgebaren, das sich jenseits aller Moral bewegt. Mit kundigem Blick und klaren Worten nahm Annemarie Pieper unlängst in der Zeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften unter dem Titel »Moralphilosophie kon­ trovers« die aktuelle Diskussionskultur im Fach Ethik eingehender unter die Lupe und konstatierte dabei eine »Diskrepanz zwischen den von führenden deutschsprachigen Moralphilosophen für das zwischenmenschliche Handeln erhobenen Geltungsansprüchen und der Form, wie sie mit ihren Kontrahenten umgehen«2. Pieper spricht in dem Kontext von »einem teils blindwütigen, teils gezielten Hauen 1 Vgl. G. Schönrich / Y. Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt a.M. 1996. 2 A. Pieper, Moralphilosophie kontrovers, in: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitfo­ rum für Erwägungskultur, hg. v. F. Benseler, B. Blanck, R. Greshoff u. W. Loh, 5. Jg. (1994), Heft 3, S. 364.

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Einleitung

und Stechen«3, das sie mit einer Reihe von Beispielen aus der neue­ ren Fachliteratur illustriert und an dem sie in Form einer Typologie die entsprechenden Argumentationsstrategien herausstellt. Die an­ schließende Diskussion hat sodann Piepers Feststellungen teilweise selbstredend bestätigt: »[W]as dabei auf der Strecke bleibt, ist eben das, was eigentlich Sache des ethischen Diskurses ist: die Moral.«4 Dagegen nimmt sich das Rezept für die Verbesserung der moralphi­ losophischen Diskussion, wie es auch Pieper in ihrem Fazit formu­ liert, im Grunde ganz simpel aus: »Alle Tugenden, die auf der Ebene der Moral dem zur Moralität aufgerufenen Individuum im Umgang mit anderen Individuen zugemutet werden - Dialogbereitschaft, To­ leranz, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit u. a. -, sollten auch im Diskurs der Moralphilosophen das Maß setzen.«5 Die zweite Ursache für eine gewisse Erfolglosigkeit der moral­ philosophischen Bemühungen steht in einem Zusammenhang mit dem Gegenstand der Ethik und den Möglichkeiten der Moralphiloso­ phie als Wissenschaft: mit dem menschlichen Wollen und Handeln bzw. den Spezifika einer praktisch-philosophischen Reflexion. Die Anstrengungen der Ethiker zielen oft in erster Linie darauf ab, so etwas wie den Stein der Weisen, den lapis philosophorum, zu finden. Mit dem Namen »Stein der Weisen« wird eine für magisch erachtete Substanz bezeichnet, nach der zu Zeiten eine Heerschar von Alche­ misten auf der Suche gewesen ist und mit deren Beimischung man einst glaubte, zum Beispiel aus einem weniger kostbaren Metall wie Kupfer begehrtes Gold herstellen zu können. Ähnlich suchen viele Ethiker noch heute nach einem Argument, das von einer solchen Überzeugungskraft wäre, dass man einen amoralischen Menschen bloß mit ihm konfrontieren müsste, damit er sich auf der Stelle in einen moralischen Menschen verwandeln würde. In den vergangenen Jahrzehnten litt die deutschsprachige Letzt­ begründungsdiskussion über weite Strecken an diesem Alchemisten­ syndrom. So ist zum Beispiel Karl-Otto Apel davon überzeugt, eine Argumentationsfigur gefunden zu haben, mit der die Diskursethik gegenüber einem ethischen Skeptiker insofern begründet und vertei­ digt werden kann, als dieser sich umgehend in Widersprüche ver­ wickelt. »Diese [»transzendentale« Argumentation] läuft darauf hi­ 3 Ebenda. 4 Ebenda, S. 369. 5 Ebenda, S. 369f.

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naus, denjenigen, der nach der Begründung eines argumentativ ge­ faßten Vernunftprinzips fragt, dessen zu überführen, daß er sich mit seiner Frageabsicht, recht begriffen, bereits auf den Boden eben die­ ses Prinzips gestellt hat.«6 Sobald ein Gesprächsteilnehmer auf das Angebot eines Vertreters der Diskursethik eingeht und sich auf eine vernünftige Diskussion einlässt, schenkt er laut der diskursethischen Alchemistenformel unmittelbar bestimmten moralischen Grundnormen7 seine Anerkennung, die er nachher mit keinem skeptischen Argument zurücknehmen kann. Während die heutigen Ethiker eine Fortsetzung der vergeb­ lichen alchemistischen Bemühungen gewiss belächeln würden, Kup­ fer durch Hinzufügung der bizarrsten Stoffe und Gegenstände in Gold verwandeln zu wollen, mögen sie offenbar nicht einsehen, dass sie selber bei ihrem analogen Vorgehen ebenfalls notwendig schei­ tern müssen. Dennoch bleibt es ein evidentes Faktum, dass Men­ schen durch kein noch so ausgeklügeltes Argument für die Sache der Moral geworben werden können. Der persönliche Eintritt in die Moral ist in einem ganz anderen Bereich anzusiedeln, wie bereits Aristoteles in dem Zusammenhang feststellt, wo er der Jugend die Kompetenz in moralischen Angelegenheiten abspricht: »Jeder beur­ teilt dasjenige richtig, was er kennt, und ist darin ein guter Richter. Über einen bestimmten Gegenstand vermag der darin Gebildete zu urteilen, über alle Gegenstände der in allem Gebildete. Darum ist ein junger Mensch kein geeigneter Hörer für die politische Wissen­ schaft. Denn er ist unerfahren in der Praxis des Lebens; die Unter­ suchung geht aber gerade von dieser aus und behandelt diese. Ferner ist er geneigt, den Leidenschaften zu folgen, und wird darum ohne Zweck und Nutzen zuhören, da ja das Ziel hier nicht die Erkenntnis, sondern das Handeln ist. Es macht allerdings keinen Unterschied, ob man an Jahren jung ist oder an Charakter unreif.«8 Nur derjenige, welcher im Zuge der Erziehung oder der Selbsterziehung die Prinzi­ pien und Regeln der Moral internalisiert hat, welcher folglich bereits 6 F. Kambartel, Wie ist praktische Philosophie konstruktiv möglich? Über einige Miß­ verständnisse eines methodischen Verständnisses praktischer Diskurse, in: F. Kambartel (Hg.), Theorie-Diskussion. Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheo­ rie, Frankfurt a.M. 1979, S. 11. 7 Vgl. J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, S. 86-125. 8 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094 b 27ff. [Zitiert nach der Übersetzung von O. Gigon, 6. Aufl., München 1986.]

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in moralisches Verhalten eingeüht ist und moralisch handelt, kann mit dem, was Ethik zu hieten vermag, erst wirklich etwas anfangen. In seiner exzellenten Aristoteles-Interpretation hat Otfried Höffe die damit verhundene Eigentümlichkeit der Ethik als wissenschaftlicher Disziplin auf den Punkt gehracht: »Ethische Reflexion macht nicht gut; ethische Reflexion macht hesser.«9 Bei dem ganzen Bemühen, neues Gold herzustellen, könnte der Umstand leicht ühersehen werden, dass hereits eine hestimmte Men­ ge alten Goldes vorhanden ist. Unter der Voraussetzung, dass wir Moral - was die Kostbarkeit anhelangt - überhaupt mit Gold verglei­ chen können, sollten die Moralphilosophen darum endlich von der alchemistischen Fragestellung ahrücken und in erster Linie die Aufgahe angehen, das hereits vorhandene moralische Gold zu inventari­ sieren und üher dessen sinnvollsten und effizientesten Gehrauch nachzudenken. Vielleicht reichen die irdischen Goldreserven ja am Ende gar, um jene drohende Apokalypse zu verhindern? Mit anderen Worten: Die Ethiker sollten ihre wissenschaftliche Blickrichtung än­ dern und das Projekt ins Auge fassen, die hereits hestehenden ethi­ schen Konzepte aufeinander zu heziehen und zu vernetzen: einen umfassenden moralphilosophischen Konsens anzusteuern. Ein sol­ cher Konsens, hei dem die disparatesten ethischen Ansichten inte­ griert würden, impliziert zuvorderst den Verzicht auf eine einzige, universalistische Begründung. Dementsprechend soll auch nicht mehr länger nach dem Stein der Weisen gesucht, sondern das alternative Unternehmen in Angriff genommen werden, sozusagen die unzähligen Steinchen der Ver­ nünftigen zu sammeln und zusammenzutragen. Die gesamte Man­ nigfaltigkeit der philosophisch-ethischen Anschauungen soll am Ende im Sinne einer Collage zu einer umfassenden, konsensfähigen Ethik verhunden werden. Wenn wir eine solche moralphilosophische Collage zustande hringen würden, dann hätten wir - nach meiner Überzeugung - unsere moralischen Fragen und ethischen Prohleme ein großes Stück näher an ihre Antworten hzw. ihre Lösungen heran­ geführt. Dazu müssen wir vorah versuchen, die zahlreichen divergie­ renden geistigen Kraftakte in einer Weise zu koordinieren, dass sie in eine einheitliche Richtung verlaufen. 9 O. Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München / Salzhurg 1971, S. 94. - Vgl. ders., Ethik und Politik. Grundmodelle und -prohleme der praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1979, S. 51.

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Einleitung

Die Ansicht nun, die Ethiker hätten sich schon viel zu lange hei der Letzthegründungsfrage aufgehalten und damit das eigentliche Prohlem der gegenseitigen Verständigung ühersehen, wird denn auch von Ernst Tugendhat in dessen fiktiven Vorlesungen zur Ethik geteilt: »Es ist ein Grundfehler der geläufigen Ethiken, daß sie als moralischen Grundkonflikt immer nur den zwischen demjenigen se­ hen, der sich moralisch verstehen will, und demjenigen, der sich nicht so verstehen will (dem >Egoistenintuitions< are simply opinions; our philosophical theories are the same. [...] a reasonahle goal for a philosopher is to bring them into equilibrium.«14 Die anzustrehende ethische Collage könnte letztlich vor allem auch das intendierte moralische Puzzle voranhringen und uns darüber hinaus von manchen unserer wissenschaftlichen Borniert­ heiten befreien: »Mag sein, daß wir so auch deutlicher sehen lernen, inwiefern Philosophen wie Kant und die Utilitaristen, obgleich oft für strikte Gegner gehalten, in Wirklichkeit jeweils im Besitz eines Teils der Wahrheit gewesen sind.«15 Nach Pieper kann es denn für die Defizite der aktuellen Ethikdiskussion zunächst auch nur eine The­ rapie geben: »Woran es fehlt, ist so etwas wie innerethische Interdisziplinarität, die anstatt eines Gegeneinandersprechens ein Miteinan­ dersprechen ermöglicht.«16 Ich stelle mir vor: Alle Ethiker werden zu einem Kongress einge­ laden. Und jeder von ihnen kommt. Sowohl die längst verstorbenen als auch die noch lebenden Denker. Platon und Aristoteles sitzen in der ersten Reihe. Dahinter Hegel. Auch Kant ist da. Ebenso Haber­ mas und Rorty. Und sie führen gemeinsam ein langes, konstruktives und vermittelndes Gespräch. Was werden sie uns danach zu sagen haben? Welchen Rat oder welche Botschaft werden sie der brennen­ den Welt zukommen lassen? Im Sinne eines solchen »Kongresses der Ethiker« versucht die vorliegende Arbeit eine »Zusammenschau« der ethischen Konzepte und Anschauungen - eine »Zusammenschau«, bei der die vermit­ telnde Interpretation und der Gedanke einer umfassenden, integrativen Diskussion im Zentrum stehen und die das Ziel verfolgt, die diversen Ethikmodelle miteinander zu vernetzen. Für dieses Unter­ nehmen einer Vernetzten Ethik bedarf es jedoch einiger Grundleit­ linien oder Maximen, wie sie sich etwa auch Rene Descartes in sei­ nem Discours de la Methode unter anderem im Rahmen seiner »provisorischen Moral«17 vorgegeben hat. Die folgenden methodi­ schen Richtsätze mögen denn so etwas wie eine vorläufige »Ange­ wandte Ethik der Ethik« umreissen. 14 D. Lewis, Philosophical Papers, Band I, New York / Oxford 1983, S. X. 15 R. M. Hare, Moralisches Denken. Seine Ebenen, seine Methoden, sein Witz, übers. v. Ch. Fehige u. G. Meggle, Frankfurt a.M. 1992, S. 11. 16 A. Pieper, a.a.O., S. 422. 17 Vgl. R. Descartes, Discours de la Methode - Von der Methode, übers. u. hg. v. L. Gä­ be, Nachdruck, Hamburg 1969, Dritter Teil.

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Einleitung

Erstens: Zunächst wird in dieser Arbeit die Vielzahl der ver­ wendeten Zitate auffallen. Dies gehört indessen zur Methode. An unserem »Kongress der Ethiker«, der im Übrigen an vergleichbare Ideen von Nikolaus von Kues oder von Pico della Mirandola denken lässt, sollen nicht nur möglichst viele Philosophen sprechen, sondern sie sollen dies auch mit ihren eigenen Worten tun. Es ist ein alter rhetorischer Kniff, die Niederlage des fiktiven »Diskussionspart­ ners« bei einer interpretativen Auseinandersetzung bereits bei der Paraphrase des Gedankengutes dieses Partners vorzubereiten. Wer seine eigenen Gedanken allerdings nur an einer Karikatur misst, darf sich nicht wundern, wenn diese das Niveau eines Witzes auch selber nicht verlassen können. Die Zitate führen am Anfang stets auch das Gewicht des Quellenargumentes bei sich; der Umstand, die Autoren mit ihren eigenen Worten am Gespräch teilnehmen zu lassen, erhält jedoch im zweitletzten Kapitel dieser Arbeit im Kontext des dort vorgestellten »Übersetzungsprinzips« erst seine wesentliche Dimen­ sion. Indem eine Mannigfaltigkeit von Philosophen aus den ver­ schiedensten Jahrhunderten ohne historische Erläuterungen aufein­ ander bezogen werden, dürften diese automatisch miteinander in ein Gespräch kommen, das vielleicht über den vorliegenden Text hinaus nachklingen wird. Gewiss wird die Vernetzte Ethik einige Leserinnen und Leser manchmal als historisch etwas unsauber anmuten, aber gemäß der aristotelischen Devise, dass die Genauigkeit jeweils in Relation zum Gegenstand festzulegen sei, kommt ein Gesamtver­ such dieser Art nicht umhin, auch etwas Holzschnittartiges an sich zu behalten. Zweitens: Gewisse Einsichten, wie zum Beispiel diejenige von Tugendhat, dass die Position der Kantianer und die der Utilitaristen möglicherweise gar nicht unbedingt als inkompatibel zu betrachten sind, können sich allein von einer ganz spezifischen Metaebene aus einstellen oder überprüfen lassen. Um die genauen Relationen und die möglichen Berührungspunkte der diversen moralphilosophischen Theorien rekonstruieren zu können, brauchen wir zunächst einen Bezugsrahmen, ein Raster, das uns hilft, die verschiedenen mögli­ chen Arbeitsgebiete und Problemkomplexe auseinanderzuhalten. Ein solches Schema innerdisziplinärer Zusammenhänge, das eine Art Systematik umfasst, ermöglicht es allererst, in den besonderen Fällen zu erkennen, ob sich bestimmte konzeptuelle Vorschläge tat­ sächlich widerstreiten oder ob sie sich allenfalls gar ergänzen. Die betreffende Systematik mag denn auch das Grundmodell abgeben 22

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für die Planung der Art und Weise, wie künftig unter den Ethikern die Arbeit aufzuteilen und vor allem wie sie zu koordinieren ist. Alle Ethiker arbeiten an ganz spezifischen Fragestellungen und verfolgen spezielle Erkenntnisinteressen. Die Ethik insgesamt reprä­ sentiert denn ein vielfältiges, disparates Gebiet, das über diverse Di­ mensionen verfügt. Um nun etwas Übersicht und Ordnung in diesen Forschungsbereich zu bringen und die verschiedenen Unterdiszipli­ nen und Reflexionsebenen voneinander abgrenzen zu können, möchte ich auf das Konzept von Hans Krämer zurückgreifen, das dieser seinem weithin unterschätzten Buch Integrative Ethik zu­ grunde legt. Auch Krämer setzt bei der »Mehrdimensionalität der Ethik«18 an, um am Ende die verschiedenen Anstrengungen besser aufeinander abstimmen zu können. »Erst wenn wir den unverkürz­ ten Bestand praktischer Phänomenfelder als Theoretiker anerkennen und in einer Integrativen Ethik zum Thema machen, werden wir in der Lage sein, die Konfliktpunkte, die Bruchstellen und Übergänge, aber auch die Möglichkeiten einer arbeitsteiligen Zuordnung und Rangordnung der Kompetenzen wenigstens konzeptuell klar zu er­ fassen.«19 In seiner »Ethischen Systematik«20 grenzt er dazu als erstes zwei Parallelbereiche voneinander ab: die »Strebensethik« und die »Sollensethik«, welche bis anhin der Sache nach meist mit den Be­ griffen der »Individualethik« in einer weiteren Bedeutung sowie der »Sozialethik« auseinandergehalten worden sind. Anschließend un­ terscheidet Krämer vier verschiedene Ebenen ethischer Reflexion: die metatheoretische Ebene, die präskriptive, die methodologische und die popularphilosophische Ebene. Die Ebene, auf der sich die Fachdiskussion in den letzten Jahr­ zehnten hauptsächlich bewegt hat, ist die metatheoretische Ebene. Das Arbeitsgebiet der Metatheorie, wie Krämer es bestimmt, bein­ haltet im Ganzen sieben Programmpunkte: Diese reichen von der Klärung der grundlegenden Begriffe der Ethik und der Aufarbeitung des Materials aus den zuliefernden Disziplinen der Anthropologie, der Erkenntnistheorie usw. bis zur Auseinandersetzung mit der Fra­ ge, inwiefern ethische Begründungen überhaupt möglich sind. Dabei ist die Metatheorie allerdings keinesfalls mit der herkömmlichen 18 H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1992, S. 75. 19 Ebenda, S. 76. 20 Vgl. ebenda, S. 366-392.

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Metaethik zu verwechseln, denn sie beschäftigt sich mit sämtlichen praktisch-theoretischen Aufgaben. Die Präskriptive Ethik bezieht sich ihrerseits auf jenes Arbeitsgebiet, bei dem es um die Bestim­ mung von praktischen Prinzipien und Regeln geht. Krämer unter­ scheidet hier einen allgemeinen und einen speziellen Teil. Die All­ gemeine Präskriptive Ethik repräsentiert teilweise das, was man gegenwärtig unter Normativer Ethik begreift, während die Spezielle Ethik mit der Angewandten Ethik gleichgesetzt werden kann. Das dritte ethische Feld macht die Methodologie aus, deren Überlegungen die Umsetzung der ethischen Normen vorbereiten möchten und so­ wohl die Theorie als auch die Praxis der Beratung betreffen. Schließ­ lich kümmert sich die Popularphilosophie um die Vermittlung ethi­ schen Gedankenguts an den eigentlichen Kundenkreis der Ethik, mithin an die Menschen allgemein, soweit sie ihre moralischen Kon­ flikte vernünftig lösen wollen und dabei den Rat der Philosophie su­ chen. Die vier ethischen Reflexions- oder Tätigkeitsebenen ergeben sich zugleich für beide erwähnten Parallelbereiche, sowohl für die Strebensethik als auch für die Sollensethik, wodurch insgesamt acht ethische Arbeitsgebiete auseinandergehalten werden können. Jedes dieser Gebiete macht gewissermaßsen eine Subdisziplin aus, weil es auf ganz eigentümlichen Fragestellungen gründet und auf einem je spezifischen Erkenntnisinteresse basiert. Gewiss kann man nun zwar einwenden, dass eine solche Systematik nicht viel Neues biete, da alle ausgeführten Differenzierungen verstreut schon immer getroffen worden seien: Krämers Systematik bildet aber immerhin einen ge­ glückten Versuch, das Arbeitsgebiet der Ethik als Ganzes in einer umgreifenden und konstruktiven Weise zu strukturieren und uns zu einem besseren Überblick zu verhelfen. Im Übrigen ist die Frage nach der Originalität auch sekundär, wenn uns diese Systematik da­ bei weiterhilft, unnötige Diskussionen unter den Ethikern zu verhin­ dern und das Gespräch insgesamt zusammenhängender zu gestalten. Es scheint ein altes Spiel unter Philosophen zu sein, einem Kon­ trahenten vorzuwerfen, er habe gewisse Fragen übersehen, um seine tatsächliche Leistung in Misskredit zu ziehen. Dieses Spiel basiert darauf, dass man philosophische Texte mit einem Erkenntnisinteres­ se konfrontiert, das diese Texte zu keiner Zeit verfolgt haben. Auf diese Weise ist es beispielsweise auch zu jenem verfehlten »Vorwurf« gegenüber Kant gekommen, er vertrete eine rein formalistische Ethik. Kant würde wohl sofort zugeben, dass die Kritik der prakti24

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sehen Vernunft kaum inhaltliche praktische Orientierungen bietet, aber dies war ja zum einen auch gar nicht seine Absicht und macht zum anderen seine Ethik als Ganze keineswegs von vornherein zu einem formalistischen Unternehmen. Vor einigen Jahren schon hat auch Annemarie Pieper auf die Müßigkeit solcher Diskussionen auf­ merksam gemacht: »Es ist ohne Zweifel sehr wichtig, das Erkennt­ nisinteresse, auf dem ein Ethik-Modell basiert ausdrücklich zu ma­ chen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Denn viele Kontroversen in der Ethik [...] haben ihren Hauptgrund darin, daß die Pluralität ethischer Erkenntnisinteressen nicht genügend durchschaut wird.«21 Der von Krämer vorgeschlagene Grobraster mag nun insofern als ein Organigramm für die Teilung und Kooperation der Arbeit dienen und damit ein Mittel gegen das Aneinandervorbeireden bilden, als er gewisse Planquadrate vorzeichnet und auf diese Weise die man­ nigfaltige ethische Diskussion sinnvoll in diverse Sektionen aufteilt, die bei der herzustellenden Collage berücksichtigt werden müssen. Denn eine Vielzahl von sinnlosen Kontroversen kommt eben nicht zuletzt dadurch zustande, dass übersehen wird, dass manche Philoso­ phen eben ganz unterschiedliche Fragen zu beantworten suchen. Vollkommen verschiedenartigen Fragestellungen kann man nicht ohne weiteres mit ein und derselben Antwort begegnen: Unter­ schiedliche Fragen verlangen in aller Regel auch unterschiedliche Antworten. Indem in der Reflexion die Systematik ethischer Frageund Problemstellungen stets eingeblendet bleibt, lässt sich in der Fol­ ge eine Vielzahl von unechten Kontroversen auflösen oder verhin­ dern. Die methodische Richtschnur für die zu leistende »Zusammen­ schau« der Ethikentwürfe muss mithin im Bemühen nach einer systematischen Integration der betreffenden Beiträge liegen. Bei al­ len ethischen Konzepten sollen (1) die ihnen zugrunde liegenden Er­ kenntnisinteressen und Fragestellungen nachvollzogen werden und (2) die einzelnen Beiträge sodann vor dem systematischen Hinter­ grund aufeinander bezogen und (3) in das ethische Gesamtbild inte­ griert werden. Die Systematik von Krämer liefert hierzu eine zweck­ mäßige Grundlage, sie braucht jedoch nicht das letzte Wort zu sein. Drittens: Obwohl das Prinzip der systematischen Integration mit Sicherheit die Verständigung unter den philosophischen Ethikern zu 21 A. Pieper, Pragmatische und ethische Normenbegründung. Zum Defizit an ethischer Letztbegründung in zeitgenössischen Beiträgen zur Moralphilosophie, Freiburg / Mün­ chen 1979, S. 12.

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fördern vermag, wird aber auch diese Richtlinie hei gewissen aporetisch scheinenden Grundkonflikten kaum weiterhelfen können. Wie soll etwa mit dem Streit zwischen den Positionen des Realismus und des Idealismus umgegangen werden? Wie kann die Kontroverse »Ego­ ismus versus Altruismus« entschieden werden? Oder die Meinungs­ verschiedenheit »Hedonismus versus Stoizismus«? Wer hat Recht hei der Auseinandersetzung »Teleologie versus Deontologie«? Alle diese Dispute lassen sich denn nicht von einem bloß systematischen Ge­ sichtspunkt aus auflösen. Um in dem Kontext das Gespräch am »Kon­ gress der Ethiker« auf einem integrativen Kurs zu halten, möchte ich jenes Denkmuster verwenden, das Thomas Nagel in seinem Werk Der Blick von nirgendwo vorlegt. Dieser Rückgriff soll allerdings aus­ drücklich nur als eine heuristische Vorgabe verstanden werden. Nagel hält als erstes zwei verschiedene Standpunkte auseinan­ der, die jemandem im Zusammenhang seiner Betrachtung der Welt zur Auswahl stehen: einen persönlichen oder subjektiven und einen unpersönlichen oder objektiven Standpunkt. Der persönlichen Per­ spektive sind dahei unsere sämtlichen unmittelbaren Regungen und Impulse sowie alle unsere Wünsche und Interessen zuzuordnen. Die unpersönliche Perspektive hingegen zeichnet sich durch eine gewisse Distanznahme aus, sie reduziert die Mannigfaltigkeit des Unmittel­ baren, strebt nach der Abstraktion von den Strebungen und Interes­ sen hin zu einem überpersonalen Standpunkt. Wer wie Nagel sol­ cherart zwischen Subjektivität und Objektivität differenziert, sagt nun soweit wiederum keineswegs irgendetwas Neues, sondern refe­ riert lediglich einen Gemeinplatz. Neu an dem Gedanken von Nagel ist allein die Art und Weise, wie er sich die Relation zwischen dem Bereich des Objektiven und dem Bereich des Subjektiven vorstellt. In aller Regel ist man bis anhin stillschweigend von dem Grundsatz ausgegangen, dass die Realität in dem besteht, was man objektiv aus­ sagen kann, wohingegen das rein Subjektive als das Private im Kon­ text der Realitätsbeschreibung zu vernachlässigen ist. Für Nagel hat nun aber die Objektivität nicht mehr länger das Monopol auf den Anspruch, die Wirklichkeit, die Realität auszumachen. Der entschei­ dende Punkt von Nagels Gedanken liegt in der Komplementarität beider Sichtweisen: Zur Wirklichkeit gehört nicht nur die Objektivi­ tät, sondern zugleich - und hier muss nun konsequenterweise der Plural verwendet werden - die vollständige Zahl aller Subjektivitä­ ten. In diesem Sinne verfügt jeder Mensch grundsätzlich über zwei Arten der Sicht auf die Welt, wobei seiner subjektiven Perspektive 26

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nicht weniger Authentizität als der objektiven zugesprochen werden darf, nur weil der Zugang zu ihr von außen versperrt ist: »[...] wir behaupten die Realität von Aspekten der Welt, die von keiner Welt­ beschreibung, über die ich verfügen kann, begriffen werden kön­ nen [,..].«22 Zur Illustration solcher gleichsam privaten Realitäts­ horizonte zieht Nagel ein auf den ersten Blick vielleicht etwas bizarr anmutendes Beispiel heran. »Wir werden auch dann nicht wissen, wie Rührei einer Küchenschabe eigentlich genau schmeckt, wenn wir eine detaillierte objektive Phänomenologie des Geschmackssin­ nes von Küchenschaben ausarbeiten.«23 Nach Nagel nun muss sich nicht zuletzt auch die Philosophie, die grundsätzlich auf das Intersub­ jektive, das Erkennbare bzw. das Objektive abzielt, mit der Irreduzibilität jener zwei Perspektiven auseinandersetzen. Denn: »Die objek­ tive Wirklichkeit ist nicht die gesamte Wirklichkeit.«24 Neben der gesuchten einen objektiven Realitätssicht existiert vielmehr eine Mannigfaltigkeit von subjektiven Perspektiven, die allesamt authen­ tische Sichtweisen und damit Realitäten vorstellen. Aufgrund des Wissens um die Vorhandenheit anderer Perspek­ tiven beinhaltet für den Einzelnen jede der beiden Perspektiven ein Moment, das die betreffende Perspektive selber relativiert. »Von einem rein objektiven Standpunkt aus erscheint mein Zusammen­ hang mit TN [Thomas Nagel] als kontingent. Zu diesem Gedanken gelange ich, indem ich zunächst die Welt als eine Ganzheit einfange gewissermaßen mit einem Blick von nirgendwo -, und in diesem Meer von Raum und Zeit ist TN nur eine Person unter zahllosen anderen.«25 Jeder Mensch verknüpft mit seiner persönlichen Sicht zwar einen ganz besonderen Gültigkeitsanspruch, weil diese ihm als seine unmittelbare Sichtweise eben zugleich auch als die evidenteste erscheint. Das hohe Maß an Bedeutung und Überzeugungskraft, das jeder seiner Perspektive beimisst, und das gleichzeitige Wissen um die Zufälligkeit, dass jemand gerade in diese Perspektive hineingebo­ ren worden ist und nicht in eine andere, gebietet aber schließlich gemäß Nagel eine ganz besondere Rücksicht gegenüber den anderen Menschen: »Die Wichtigkeit, die das eigene Leben für einen jeden 22 Th. Nagel, Der Blick von nirgendwo, übers. v. M. Gebauer, Frankfurt a. M. 1992, S. 49. 23 Ebenda, S. 47. 24 Ebenda, S. 51. 25 Ebenda, S. 108.

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dieser konkreten Menschen hat, sollte daher auch, wenn wir sie uns wirklich vergegenwärtigen, in der impersonalen Einstellung ihren Niederschlag finden: der üherpersönliche Standpunkt sollte eine die­ ser Wichtigkeit entsprechende Bedeutung ihres Lehens auch dann gewärtigen können, wenn er nicht auch allen Bestandteilen dieses Lehens einen unpersönlichen Wert heizumessen vermag, der dem persönlichen Wert entspräche, den sie für den Menschen hahen, um dessen Lehen es sich handelt [,..].«26 Wenn wir die angesprochenen ethischen Kontroversen vor dem Hintergrund des nagelschen Perspektivendualismus hetrachten, dann eröffnet sich uns die Möglichkeit, hei unseren Disputen auch nicht mehr länger unter allen Umständen eine Entscheidung zwi­ schen den divergierenden Ansichten herheiführen oder fällen zu müssen. Weit weniger als dem anderen Gesprächspartner einen Feh­ ler im Denken nachzuweisen, sollten wir zu sehen versuchen, dass dessen Betrachtungsweise für ihn ehenso authentisch und wirklich ist wie die meinige für mich, auch wenn mir der Zugang zu seinem Gesichtspunkt verwehrt hleiht. So vermögen wir in gewissen Diskus­ sionen am Ende Ansichten neheneinander stehen zu lassen und sie spezifischen Standpunkten zuzuordnen - und zwar nicht aus Resig­ nation oder Gleichgültigkeit. Die dritte Maxime, die ich für das Pro­ jekt einer Vernetzten Ethik formulieren möchte, lautet darum: Inner­ halb jenes ethischen Makrokonzeptes, das die »Zusammenschau« der diversen Ethiken anstreht, soll jeder philosophisch-ethischen Theorie - soweit dies auch immer einzuhalten ist - ein adäquater Ort einge­ räumt werden, und dahei soll stets der Versuch unternommen wer­ den, mit größtmöglicher Offenheit gegenüher den diversen Einstel­ lungen jede ethische Anschauung mit jeder anderen zu vernetzen. Die Maxime der systematischen Integration sowie die Maxime der Vernetzung, die sozusagen zum Portfolio einer ethischen Heuris­ tik gehören, scheinen mir ein passendes methodisches Instrumenta­ rium ahzugehen, um mit einiger Zuversicht der Frage nach einer ethischen Lehre oder Aussage nachzugehen, der eine Ethiker-Mehrheit zustimmen könnte. Während nämlich das Integrationsprinzip die verschiedenen Anschauungen und Diskussionsheiträge in kons­ truktiver Weise aufeinander hezieht, hält das Vernetzungsprinzip die 26 Ders., Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie, ühers. u. hg. v. M. Gehauer, Paderhorn / München / Wien / Zürich 1994, S. 22.

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Option offen, all jene Geltungsansprüche, die sich konkurrieren, als spezifische Realitätshorizonte nebeneinander bestehen zu lassen und -befreit vom Zwang, alle Sichtweisen dauernd auf eine Realitätsauf­ fassung reduzieren zu müssen - in einem ganz anderen Sinne mit­ einander zu einer »Einheit« zu verbinden. Die Unterscheidung zwi­ schen einer persönlichen und einer überpersönlichen Realitätssicht und die Vorstellung ihrer Komplementarität kommt im Übrigen auch dem Bemühen von Günther Patzig um eine Ethik ohne Meta­ physik27 entgegen. Nagels »Realitätenmobile« bietet als Denkmodell die Chance, alle essentialistisch inspirierten ethischen Lehren, inso­ fern sie auf Prämissen aufbauen, die sich rational nicht restlos ein­ sehen lassen, an erster Stelle als persönliche oder typische Sichtwei­ sen zu respektieren. »An der Begründungsfrage [...] sind [nämlich] alle diese Theorien gescheitert. Ihre metaphysischen Voraussetzun­ gen müssen ohne ausreichende Argumente akzeptiert werden.«28 Die »Zusammenschau« der ethischen Konzepte versucht denn selber weitestgehend ohne metaphysische Vorgaben auszukommen (weil diese in aller Regel einen umfassenden Konsens verhindern) und sucht mithin einen »Begründungsansatz« vorzulegen, der »mit mi­ nimalen Rückgriffen auf Thesen aus[kommt], deren Wahrheit nicht empirisch überprüft werden kann, [,..].«29 Damit steht die Vernetzte Ethik letztlich auch in einer gedanklichen Verbindungslinie mit Kant und der Intention der Kritik der reinen Vernunft, eine produktive Grenze zwischen den beiden wesentlichen Weisen des Fürwahrhal­ tens, dem Wissen und dem Glauben, zu ziehen. Viertens: In einem letzten Vorbereitungsschritt müssen wir uns noch prospektiv dem Erfordernis zuwenden, dass das Ergebnis des »Kongresses der Ethiker« am Ende der brennenden Welt vermittelt werden soll. Hier begegnen wir einem nicht zu unterschätzenden methodologischen und vor allem auch sprachlichen Problem. Der Sprache der Philosophen wird nachgesagt, ihr eigne - wie im Übrigen allen anderen Fachsprachen auch - gelegentlich etwas Kryptisches. Die von den Konnotationen der Alltagssprache gereinigte Fachspra­ che hat auf der anderen Seite in aller Regel den Vorteil, dass die fach­ interne Kommunikation zeitökonomisch und unanfälliger für Miss­ verständnisse vor sich gehen kann. Die Schwierigkeiten beginnen27 28 29 27 Vgl. auch Krämer, a. a. O., S. 127. 28 G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, 2. Aufl., Göttingen 1983, S. 40. 29 Ebenda, S. 134.

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aber sogleich dort, wo fachliche Dinge in verständlicher Art, d. h., in Anlehnung an die Alltagssprache Laien vermittelt werden sollen. Mit einer solchen Aufgabe sieht sich etwa die Medizin im Horizont des Konzeptes des mündigen Patienten konfrontiert. Der sogenannte »informed consent« einer Patientin oder eines Patienten setzt voraus, dass der Ärztin oder dem Arzt die Information, beispielsweise die Erläuterung spezifischer pathologischer Befunde und entsprechender Therapiemöglichkeiten, auch tatsächlich gelungen ist. Im Bereich der Ethik nun hängt das Ziel noch um vieles höher. Während die Infor­ mation durch die Medizinerin oder den Mediziner als geglückt gilt, wenn die Patientin oder der Patient einen Sachverhalt nachvollziehen können, ohne dass sie bzw. er ihn durch und durch zu begreifen braucht, verlangt das ethische Konzept der Mündigkeit, dass der ein­ zelne Mensch autonom entscheidet und die Verantwortung für sein Handeln durchgehend behält. So kann ein Ethiker gegebenenfalls einem Ratsuchenden gegenüber auch nur als Ideengeber oder als Be­ rater im Sinne eines Mitdenkers und nicht im Sinne eines Vorden­ kers auftreten. Mündigkeit und Autonomie bedeuten, dass ich meine jeweiligen ethischen Erwägungen am Ende selber vornehme. Analog zum Beispiel aus der Medizin heißt dies, dass der Patient nicht nur damit einverstanden sein muss, dass die Chirurgin an ihm die oder die Operation durchführt, sondern dass er sich im Bereich der Ethik qua Ratsuchender zuletzt auch selber operieren können muss. Von daher sind denn auch ganz andere Ansprüche an die Sprache der Ethiker zu stellen: Um die Menschen bei der Wahrnehmung ihrer moralischen Verantwortung zu unterstützen, muss sich die Sprache der Moralphilosophie von vornherein in die Nähe der mittleren Sprachebene begeben. Alles andere macht von der Sache der Moral und der Ethik her überhaupt keinen Sinn! Mit anderen Worten: Weil der Adressat der mündige Mensch ist und in wissenschaftlicher Hin­ sicht darum nur die Weitergabe von ethischem Gedankengut ein sinnvolles Ziel darstellt und nicht primär, dass die Fachleute als Fach­ leute über dieses Wissen verfügen, muss sich die Ethik der Sache der sprachlichen Verständlichkeit verschreiben. Aus diesem Gesichts­ punkt ist denn auch Gerd B. Achenbach, dem Begründer der Philoso­ phischen Praxis, beizupflichten, wenn er betont: »Philosophie muß verständlich werden, wenn sie praktiziert werden soll.«30 Ein ethi­ 30 G. B. Achenbach, Philosophische Praxis. Vorträge und Aufsätze. Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis, Band 1, 2. Aufl., Köln 1987, S. 11.

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sches Fachbuch sollte folglich von Anfang an die beiden Ebenen der Methodologie und der Popularphilosophie mit einblenden. Aus die­ sem Grunde formuliere ich als vierte Maxime der Vernetzten Ethik das Prinzip der größtmöglichen Verständlichkeit (selbstverständlich bei gleichzeitigem Bemühen, die Dinge nicht zu trivialisieren). (Im Übrigen sollten wir doch einmal über die Gründe nachdenken, wes­ halb zum Beispiel von Platon eigentlich nur noch die exoterischen Schriften überliefert sind.) Mit derselben Begründung möchte ich in der Folge auch auf sämtliche Anmerkungen verzichten, die in der Fachliteraur sowieso leider allzu oft nur dem eitlen Zwecke dienen, das eigene »Wissen« zu präsentieren: Der Anmerkungsteil wird da­ rum ausschließlich die Textstellennachweise für die Zitate beinhal­ ten. Die Teilnehmer am »Kongress der Ethiker« sollen stets daran erinnert werden, dass die notwendige Vermittlung von Philosophie nicht an die Philosophielehrer und die Popularschriftsteller delegiert werden kann, sondern in der Fachphilosophie selber beginnen muss. Nun wende ich mich meinem »Tagtraume« zu und erkläre den »Kongress der Ethiker« für eröffnet. Die vorliegende Abhandlung soll dabei nichts weniger vorstellen als sein Ergebnisprotokoll. (Mit dem Stichwort des Tagtraumes laufe ich natürlich Gefahr, die folgende Abhandlung zunächst in die Nähe eines Romans zu rücken, so dass sich unmittelbar die Frage ergeben wird, was eigentlich die spezifische Leistung des Verfassers sei, durch die das Ganze zu einer philosophischen Angelegenheit wird. Soweit hier von einem »Kon­ gress der Ethiker« gesprochen wird, soll damit jedoch bloß betont werden, dass diese Arbeit im Sinne Vernetzter Ethik nicht zuletzt einen Beitrag der reflektierenden Urteilskraft beinhalten will, die nun nicht den Aufstieg vom Besonderen der Praxis zum Allgemeinen der Theorie sucht, sondern vom Besonderen der praktischen Theo­ rien zu einer »praktischen Theorie der praktischen Theorien«. Mit­ hin ist eine spezifische Nähe zum Ästhetischen hier durch die Beto­ nung des Gewichtes der reflektierenden Urteilskraft auch tatsächlich gegeben - eines Gewichtes der reflektierenden Urteilskraft, durch welches die vorliegende Arbeit aber lediglich der philosophischen Denkkunst das Primat zurückzugeben versucht vor jener philosophi­ schen Wissenschaftlichkeit, wie ihr etwa im Bereich der analytischen Philosophie aufgrund blinder Bewunderung der Naturwissenschaf­ ten das Wort geredet wird.)

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2. Strebensethik und Sollensethik

Die philosophische Disziplin der Ethik befasst sich mit der Frage nach dem Guten und setzt sich daher auf spezifische Weisen mit dem Verhalten bzw. dem Handeln der Menschen auseinander. In Korres­ pondenz mit einer möglichen Differenzierung zwischen zwei ver­ schiedenen philosophischen Erkenntnisinteressen, einem vorwiegend theoretischen und einem praktischen, kann man dabei die Metaethik und die normative Ethik unterscheiden.1 Von einer systematischen Perspektive aus werden diese beiden philosophischen Forschungs­ bereiche ergänzt durch die sogenannte deskriptive Ethik.2 Unter dem Titel einer deskriptiven Ethik werden sämtliche Un­ ternehmen der diversen Einzelwissenschaften zusammengefasst, be­ stehende Moralkodizes unter den unterschiedlichsten Gesichtspunk­ ten zu beschreiben und zu analysieren. So verständlich die Anliegen, die sich hinter diesen Unternehmen verbergen, auch immer sein mögen, so müssen solche deskriptiven Vorhaben allerdings, wo sie mehr sein wollen als eine bloße metamoralische Geschichtsschrei­ bung, wo sie beispielsweise die Legitimität moralischer Ansprüche beurteilen zu können beanspruchen, aus sachlichen Gründen von vornherein misslingen, wie Stefan Hübsch am Beispiel seiner phi­ losophischen Studien zum Gewissen vor Augen führt. »Die wissen­ schaftlichen Gewissenstheorien wollen etwas sein, was sie im speziel­ len Fall ihres Gegenstandes gar nicht sein können, nämlich neutral.«3 Was gerade in Bezug auf das Gewissen besonders einsichtig wird, hat im Übrigen bereits Aristoteles in seinen Ethiken theoretisch nach­ vollzogen - es ist weiter oben im Einleitungskapitel schon kurz the­ matisiert worden: Der Ethiker muss den Gegenstand, auf den sich seine Untersuchungen und Überlegungen beziehen, sozusagen selber in sich tragen. Nur wer selber moralisch handelt, kann überhaupt 1 Vgl. A. Pieper, Einführung in die Ethik, 4. Aufl., Tübingen / Basel 2000, 7. Kapitel. 2 Vgl. U. Thurnherr, Angewandte Ethik zur Einführung, Hamburg 2000, S. 7-11. 3 St. Hübsch, Philosophie und Gewissen. Beiträge zur Rehabilitierung des philosophi­ schen Gewissensbegriffs, Göttingen 1995, S. 38.

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wissen, worum es in den entsprechenden Zusammenhängen geht. Moral besitzt keine eigentliche Außenansicht - nicht einmal in der Sprache -, sondern nur eine metamoralische, vergleichsweise banale. In diesem Sinne hält Otfried Höffe fest: »[...] sittliche Reflexion ist nicht methodisch, sondern praktisch ein Zirkel.«4 Dieser Umstand darf nach Höffe indessen nicht unmittelbar als ein Defizit der Ethik ausgelegt werden: »Der Zirkel ist nicht in der Ethik, sondern die Ethik ist in einem Zirkel. Die Ethik steht zwischen vorausgesetztem und erstrebtem sittlichen Handeln.«5 Weil die Ethik-wie Kant sagen würde - beim eigenen guten Willen anhebt, muss der Versuch, den moralischen Gegenstand mit gleichsam »naturwissenschaftlichem« Blick von außen und unengagiert anzugehen, letztlich ins Leere grei­ fen. »Denkt man sich aber, wie es dem Selbstverständnis der Wissen­ schaft entsprechend möglich und immer wieder nötig ist, jede Form der Deutung vom Gewissen abgezogen, um es jenseits von ideologi­ schen Kontroversen in reiner Gegebenheit vor sich zu haben, so be­ hält man nicht ein noch nicht erkanntes, sondern gar kein Gewissen mehr übrig.«6 Ganz besonders gilt dies schließlich auch nach Hübsch für die Metaethik, welche die Sprache und die Logik der Moral sowie die Möglichkeiten und Grenzen ethischer Begründungen auf einer philosophischen Ebene ebenfalls aus nüchterner Distanz untersuchen möchte: »Ihr Credo ist die vorgebliche Neutralität ihrer Aussagen über das Ethos. Sie verneint so bewußt, was im Focus des philosophi­ schen Gewissensbegriffs als wesentliches Merkmal der traditionellen philosophischen Ethik erscheint: daß ihre Tätigkeit von den mora­ lischen Prinzipien mitbestimmt ist, die sie aufzudecken versucht.«7 Wenn die Metaethik einen Gegenstand betrachten möchte, sich aber aus methodischen Erwägungen zugleich weigert, dorthin zu schauen, wo sich dieser Gegenstand tatsächlich zeigt, darf es letztlich nicht verwundern, wenn die Metaehtik die Sache der Moral aus dem Blick verliert. Im Mittelpunkt der Vernetzten Ethik steht jedoch nicht das Un­ ternehmen einer vermeintlich »naturwissenschaftlichen« Analyse und Beschreibung von Moral, sondern die Suche - aus einem prakti4 O. Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München / Salzburg 1971, S. 92. 5 Ebenda, S. 93. 6 St. Hübsch, a. a. O., S. 38 f. 7 Ebenda, S. 38.

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sehen Interesse heraus - nach Kriterien, aufgrund derer sich Lehen als gutes oder gelungenes Lehen ausweisen lässt. Erklärtes Ziel einer solcherart normativen Ethik ist es, praktische Leitlinien und Grund­ sätze hereitzustellen und zu hegründen, die zu einem guten hzw. ge­ lungenen Lehen anleiten oder hinführen. »Für die Ethik sind nicht die hereits realisierten Ziele und Normen, sondern die noch ausste­ henden oder gefährdeten von Interesse, zu deren Realisierung oder Erhaltung sie präskriptiv heizutragen sucht.«8 Im Kontext dessen, was hier als gut hezeichnet wird, muss allerdings eine weitere Diffe­ renzierung vorgenommen werden zwischen demjenigen, was ledig­ lich für das Individuum gut ist, sowie dem, was von einer hetreffenden Gemeinschaft für ihre Belange als gut angeschaut wird. Denn weil das für das Individuum Gute und das für die Gemeinschaft Gute nicht unmittelhar identisch zu sein hrauchen und - wie die Erfahrung zeigt - oft auch nicht identisch sind, müssen an vorderster Stelle wenn man der herkömmlichen Terminologie folgt - die zwei Gehiete der Individualethik (in einer weiteren Bedeutung) und der Sozial­ ethik auseinandergehalten werden. Für die heiden genannten Gegenstandshereiche nun möchte Hans Krämer in seiner Integrativen Ethik die zwei Begriffe »Strehensethik« und »Sollensethik« einführen.9 Sowohl der Begriff einer Strehensethik als auch der einer Sollensethik heziehen sich gemäß Krämer jeweils hloß auf einen Idealtypus und keineswegs auf eine Ethikkonzeption, die etwa in reiner Gestalt im Verlaufe der Ethik­ geschichte realisiert worden wäre.10 Der Strukturtypus der Sollensethik repräsentiert dahei im weitesten Sinne das, was gemeinhin unter Moralphilosophie verstanden worden ist. Im Horizont der Strehensethik dagegen werden die systematische Glückssuche vor al­ lem des Einzelnen und eine entsprechende Kultur der Lehenskunst thematisiert. »Bezieht sich die Moralphilosophie auf die Moral als den Gesamthestand der moralischen Verhaltensregeln, so die Strehensethik auf die nichtmoralische richtige Lehensführung im ganzen.«11 Das von Krämer skizzierte Projekt einer integrativen Ethik hemüht sich auf diesen zwei Feldern in dreierlei Hinsicht. Erstens soll versucht werden, dem Spezifischen der Sollensethik und der Stre8 H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1992, S. 378. 9 Vgl. ehenda, S. 9-74. 10 Ehenda, S. 72. 11 Ehenda, S. 83.

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bensethik jeweils Rechnung zu tragen. Zweitens sollen die entspre­ chenden Bemühungen aufeinander abgestimmt und ihre Ergebnisse zuletzt in ein Verhältnis zueinander gebracht werden. Dadurch soll drittens die Vielschichtigkeit und Komplexität ethischer Überlegun­ gen vor allen Formen der Simplifizierung geschützt werden. »Wir sind um eine Mehrdimensionalität der Ethik bemüht, die wir für irreduzibel halten. Ebensowenig wie die Moralphilosophie auf die Strebensethik läßt sich die Strebensethik auf die Moralphilosophie zurückführen.«12 Diese Feststellung, wonach Sollensethik und Strebensethik sich in keiner Weise wechselseitig aufeinander reduzieren lassen, scheint mit Blick auf die Geschichte der Ethik unbestreitbar, auch wenn wir bei den Randgängen zwischen jenen Teildisziplinen möglicherweise gewisse Verbindungspfade oder Übergänge finden oder zu finden glauben. Deshalb drängt sich der Versuch geradezu auf, zumindest in einem ersten Schritt den Bereich der Strebensethik und den der Sollensethik auseinander zu halten. Ganz ähnlich hat dies im Übrigen etwa schon Wilhelm Kamlah in seinem heute vielleicht neu zu ent­ deckenden Buch Philosophische Anthropologie ungefähr zwei Jahr­ zehnte vor Krämer gesehen. Kamlah macht im Horizont seiner Ter­ minologie einen Unterschied zwischen der »normativen Ethik«, die von ihm ebenfalls mit der »Moralphilosophie« in eins gesetzt wird, und der »eudämonistischen Ethik«, die die so genannte »Philosophie als Lebenskunst«13 repräsentiert. Die Aufgabe der »normativen Ethik« besteht nach der Auffassung von Kamlah darin, darzulegen, »wie wir leben sollen«14, wohingegen das Forschungsziel der »eudä­ monistischen Ethik« in der Beantwortung der Frage liegt, »wie wir leben können«15. Kamlah fasst die »eudämonistische Ethik« ebenfalls als »eine notwendige Ergänzung der normativen Ethik«16 auf. In der vorliegenden Arbeit möchte ich im Folgenden aus Gründen, die ich am Ende dieses Kapitels kurz erläutern werde, die krämerschen Be­ griffe »Strebensethik« und »Sollensethik« verwenden. Nach Krämer bildet die Strebensethik dasjenige Modell einer Ethik, das während des ganzen Zeitraums von der Antike bis zum 12 Ebenda, S. 75. 13 Vgl. W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim / Wien / Zürich 1972, S. 93-192. 14 Ebenda, S. 94. 15 Ebenda. 16 Ebenda, S. 144.

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Beginn der Neuzeit die Vorherrschaft innehatte. Die strehensethischen Üherlegungen nehmen ihren Ausgang unmittelbar vom »Ich will« des Individuums; aus diesem Grunde wird die Strehensethik von Krämer gelegentlich als »Ethik der ersten Person«17 hezeichnet. Als Beratungsdisziplin kümmert sich die Strehensethik um die Ziel­ setzungen und das Wollen des Einzelnen. Die normative Struktur ihrer Ratschläge und Einsichten lässt sich als hypothetischer Impera­ tiv rekonstruieren, der einen autogenen Charakter hat: »Wenn ich das und das will, muss ich dies oder jenes tun.« Der Ausgangspunkt strehensethischer Reflexionen hefindet sich also heim Selhstinteresse, heim grundlegenden Interesse oder den fundamentalen Interessen des Individuums. Die Strehensethik hilft nicht nur, diese Interessen aufzuklären und vom Standpunkt der Vernünftigkeit genauer zu prüfen, sondern versucht auch, deren Realisierung anzuleiten. Das zentrale Thema der Strehensethik hildet das Verhältnis zu sich selher, d. h. das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Wollen. Ihr Beratungs­ modell entwickelt die von Krämer mitunter auch als »Selhstethik«18 hezeichnete Strehensethik am Vorhild der medizinischen Betreuung.19 Genauso wie der Arzt im Idealfall zunächst ausschließlich von den Interessen seiner Patienten ausgeht, versucht der reine Strehensethiker, hei seiner Beratung in erster Linie den Interessenstand­ punkt des Individuums zu vertreten und nicht die Position der Ge­ meinschaft und deren Forderungen. Der Anfang des 18. Jahrhunderts hildet nach Krämer sodann jenen Zeitahschnitt, wo allmählich die Sollensethik in reiner Form aufkommt und die Strehensethik heinahe restlos verdrängt. Die sollensethischen Reflexionen heginnen im Unterschied zu den strehensethischen Üherlegungen hei dem faktischen Sollen, das innerhalh einer hestimmten Gemeinschaft in der Art von allgemeinen Pflichten und Verhindlichkeiten vorgegehen ist, mithin hei der Vorrangstel­ lung des »Ich soll«. Die Sollensethik heschreiht jenes philosophische Unternehmen, das zum einen die logisch-genetische Entstehung von Sollensansprüchen nachzuvollziehen und zum anderen gleichzeitig die Legitimation dieser Sollensforderungen zu leisten sucht. Die spe­ zifische Form derjenigen Normen, die ein entsprechendes Sollen transportieren und um deren Rechtfertigung es dem sollensethischen 17 H. Krämer, a.a.O., S. 84. 18 Ehenda, S. 395. 19 Ehenda, S. 86.

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Unternehmen geht, ist der kategorische Imperativ. Eine sollensethische Beratung orientiert sich gemäß Krämer darüber hinaus am Mo­ dell der juristisch-richterlichen Beratung. Ähnlich wie im Bereich der Jurisprudenz wird im Falle eines Konfliktes zwischen dem Individu­ um und der Gemeinschaft auch von einem sollensethischen Stand­ punkt aus durchgehend der Gemeinschaft der Vorzug vor dem Indi­ viduum gegeben.20 Sollensethik, welche der Sache nach - wie bereits erwähnt - mit der Moralphilosophie gleichzusetzen ist, repräsentiert am Ende denjenigen Teil der Ethik, an den während der letzten Jahr­ zehnte beinahe ausschließlich gedacht wurde, wenn von »Ethik«21 die Rede war. Hinter diesem Umstand verbirgt sich ein eigentliches Problem, welches darin besteht, dass man die strebensethischen Bemühungen seit den philosophisch-ethischen Anfängen in der Antike zunehmend mit den Anstrengungen im Bereich der Sollensethik amalgamiert hat. Indem der Begriff des wahren Interesses in die Diskussion ein­ geführt wurde, versuchte man zu zeigen, dass dasjenige, was der Mensch soll, identisch ist mit dem, was er will, wenn er nur erst einmal die tiefer liegenden metaphysischen Verhältnisse erkannt, die letzten Wahrheiten eingesehen hat.22 So war die Ethik, insbeson­ dere im Zeitalter der Antike, stets auf den Beweis ausgerichtet, dass ein wahrhaft gutes Leben identisch ist mit einem gerechten Leben. Die Abgrenzung zwischen der Strebensethik und der Sollensethik, wie Krämer sie vorschlägt, steht von daher jenem Vorhaben beson­ ders gut an, das eine »Ethik ohne Metaphysik« zu schaffen sucht. Die Abkehr vom strebensethischen Konzept und die Hinwen­ dung zur Sollensethik, wie sie in der jüngeren Ethikgeschichte beob­ achtet werden kann, verbindet Krämer mit dem Namen von Imma­ nuel Kant: Gemäß Krämers Verständnis hat Kant in seiner Ethik einen expliziten Mischtypus geschaffen, wobei Krämer bei all seiner Kritik an Kant diesem immerhin zugesteht, dass er bei seiner Gleich­ setzung von Wollen und Sollen äußerst differenziert vorging. »Der Ethiker [...] muß sich zwischen dem Primat des Wollens oder des Sollens entscheiden. [.] Kant hat das Problem [.] durch einen me­ taphysischen Dualismus zu lösen versucht, demzufolge der Mensch Bürger zweier Welten sei und als Vernunftwesen das wolle, was er als 20 Ebenda. 21 Vgl. z.B. E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1993, S. 39. 22 H. Krämer, a. a. O., S. 9 f.

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Sinnenwesen nur solle.«23 Ein solches gesamtethisches Konzept ist aber nach der Auffassung Krämers von vornherein zum Scheitern verurteilt: Der Versuch, die Deckungsgleichheit des Wollen und des Sollens nachzuweisen, läuft darauf hinaus, die Quadratur des Kreises zu demonstrieren. »Die moralische Grundsituation [...] ist primär durch das Urteil der Anderen definiert, dem sich der potentielle Ak­ teur stellen muß [...]. Im strengen Sinne gibt es daher keine Privat­ moral. Moralisches Sollen kann darum nicht a priori mit dem Eigen­ wollen koinzidieren, sondern steht dazu in einem charakteristischen Spannungsverhältnis.«24 Unnachgiebig verteidigt das Sollen alles, was die Gemeinschaft als ihr Gut oder als ihre Werte anerkennt; während das Wollen unmittelbar allein das Gut des Individuums oder das für das jeweilige Individuum Wertvolle im Auge behält: Krämer spricht hier von einer Fundamentaldifferenz, die durch keine noch so intelligente und raffinierte Argumentationsstrategie überwunden werden kann. Eine vergleichbare Ansicht vertritt in dem Zusammen­ hang auch Robert Spaemann: »Der Wunsch nach Gelingen des eige­ nen Lebens kann der Ursprung der Idee der sittlichen Verantwortung nicht sein. Er kann allenfalls die Verwirklichung dieser Idee in sich aufnehmen. Aber die Evidenz beider Lebensimpulse scheint prinzi­ piell verschiedener Herkunft zu sein.«25 Etwas moderater bezeichnet Martin Seel schließlich dieses Phänomen als »Spannung zwischen Glück und Moral«26 und präzisiert dabei in relativer Übereinstim­ mung mit Krämer: »Glück und Moral, dieses seltsame Paar, können nur miteinander auskommen, solange sie in Scheidung voneinander leben.« 27 Weil aber sämtliche Versuche, die Kluft zwischen dem Wollen und dem Sollen zuzuschütten, notwendigerweise zum Scheitern ver­ urteilt sind, kann es nach Krämer auch keine monistische Ethik geben. »Der Hiat zwischen Gemeinwohl und Eigeninteresse ist prinzipiell nicht überbrückbar [.. ,].«28 Wenn das Individuum moralisch handelt, dann muss es immer etwas tun, was gegenüber dem eigenen Wollen ein Mehr, eine Zugabe ausmacht. »Moralisches Verhalten ist definiert 23 24 25 S. 26 27 28

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Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 28. R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, 3. Aufl., Stuttgart 1993, 94. M. Seel, Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt a. M. 1995, S. 13-48. Ebenda, S. 48. H. Krämer, a.a.O., S. 40.

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durch Leistungen, die vom Eigeninteresse nicht ahgedeckt werden und insofern überschießen.«29 Die spezifisch moralische Haltung be­ inhaltet die Einklammerung und Hintanstellung der eigennützigen Zielsetzungen. Soweit die moralischen Normen in Form von Geboten und Verboten als das Gesollte gegen dasjenige antreten, was der Ein­ zelne ursprünglich will, eignet ihnen der Beigeschmack des Fremden und des Nötigenden. »Die moralische Forderung [...] wird von Ande­ ren, Dritten und zuletzt der Sozietät an uns herangetragen. Moral ist daher wesentlich sozionom und für den Geforderten heteronom und in diesem Sinne als externalistisch verfaßt zu betrachten.«30 Aus die­ sem Grunde sieht sich der Einzelne nach Krämer unaufhörlich zu einer entsprechenden Grundentscheidung gezwungen. Obwohl ich Krämers These von der Fundamentaldifferenz zwischen Wollen und Sollen für zu absolut halte, möchte ich die strikte Abgrenzung zwi­ schen der Strebensethik und der Sollensethik im Sinne einer Arbeits­ hypothese verwenden. Diese soll zunächst bloß die beiden zu bearbei­ tenden Felder voneinander abgrenzen, ohne indessen voreilig zu entscheiden, wieweit sie auseinanderliegen mögen oder inwiefern es gleichwohl fließende Übergänge geben könnte. Bei der Prägung der Begriffe »Strebensethik« und »Sollensethik« scheint Krämer nun an die Art und Weise gedacht zu haben, wie den einzelnen Menschen die betreffenden Ziele entgegentreten. »[...] in der Strebensethik ist das Gute als Handlungsziel gut für den Akteur selbst und synonym mit dem Gewollten und Erstrebten, in der Sollensethik dagegen ist gut das primär für die Anderen Gute und daher synonym mit dem Gesollten.«31 Weil man nach Krämer nun aber weder die Strebensethik aus der Sollensethik noch die Sollensethik aus der Strebensethik heraus angehen und weil man auch kei­ ner der beiden Ethiken die Vorherrschaft über die andere einräumen kann, bleibt nur die Realisation eines Konzeptes, das von der »Äquidignität von Wollen und Sollen«32 ausgeht und dabei »Moralphiloso­ phie und Strebensethik als zwei heterogene und autonome Zweige der Ethik in einem teils konkurrierenden, teils kooperativen Nebeneinander«33 begreift. Nach Krämers Überzeugung kann die Disziplin 29 30 31 32 33

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. 42. S. 43. S. 79. S. 98. S. 120.

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der Ethik als Ganze nicht mehr von einem einzigen Prinzip her argu­ mentieren: »Ethik ist darum notwendig hizentrisch angelegt [,..].«34 Weil die Ethik im Zuge der »Rehabilitierung der praktischen Philo­ sophie« während der letzten Jahrzehnte vornehmlich als Moralphi­ losophie betrieben worden ist, sieht Krämer jetzt die Kernaufgabe der Ethiker im strebensethischen Bereich. Als weiteren Grund für diese Annahme führt er den Umstand an, dass sich die Mehrzahl der ethi­ schen Fragen für das Individuum sowieso im Horizont des eigenen Strebens stellt. »Funktionsanalytisch betrachtet ist die Moralphilo­ sophie streng genommen nur dort gefragt und bedeutungsvoll, wo Konflikte zwischen den eigenen und den fremden Interessen auftre­ ten, während die Strebensethik für alle Aporien in der Realisierung des Eigeninteresses zuständig ist.«35 Da das strebensethische Gebiet nach Krämers Ansicht von der Philosophie seit Beginn der Neuzeit weitgehend gemieden und bis heute den Popularpsychologen zur rein technischen Behandlung überlassen worden ist, zielt schließlich auch das Projekt der integrativen Ethik primär auf »eine [...] zeitgemäße [...] Neuthematisierung der Strebensethik«36 ab. Die Intentionen des krämerschen Projektes treffen sich im Übrigen an diesem Punkt mit dem ver­ gleichbaren Unternehmen von Julia Annas' Buch The Morality of Happiness37. Wie auch immer man nun die betreffenden thematischen Bereiche fassen möchte, über alledem stellt sich im Weiteren zunächst die Frage, was am Ende bei dem von der Moral verteidigten Guten ge­ genüber jenem für den Einzelnen Guten hinzukommt. Was mag hin­ ter dem Anspruch der Gemeinschaft stecken, das Individuum für ihre Zwecke in Pflicht nehmen zu dürfen? Und vor allem: Welche Gründe mag das Individuum haben, sich in Pflicht nehmen zu lassen? Aristoteles hat eine Antwort hierauf einst in der Formel vom zoon politikon zu begreifen versucht: Im Umfeld des eigenen Hauses, der eigenen Familie, auf der Ebene des Dorfes und auf der Ebene des Staates beschreibt Aristoteles den Menschen hierbei als ein Wesen, 34 Ebenda, S. 122. 35 Ebenda, S. 118. - Vgl. dazu etwa R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, übers. v. Ch. Krüger, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, S. 161. 36 H. Krämer, a.a.O., S. 79. 37 J. Annas, The Morality of Happiness, New York / Oxford 1993.

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das darauf angelegt ist, Gemeinschaften zu bilden.38 Am Ende seiner Ausführungen fasst Aristoteles diesen Gedanken zusammen: »Da­ raus ergibt sich, daß der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und daß der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist; derjenige, der auf Grund seiner Natur und nicht bloß aus Zufall außerhalb des Staates lebt, ist entweder schlecht oder höher als der Mensch [,..].«39 Wie im letzten Teilsatz anklingt, gründet die These vom zoon politikon auf der Beobachtung einer allgemeinen Bedürf­ tigkeit des Menschen. In seinem anthropologisch-ethischen Versuch bemüht sich Wilhelm Kamlah, diesen Umstand der menschlichen Bedürftigkeit produktiv als Argument bei der Begründung der Moral einzusetzen. »In der deskriptiven Anthropologie wurde der generelle Satz auf­ gestellt: Der Mensch ist bedürftig.«40 Das persönliche Erleben, dass ich als bedürftiger Mensch die anderen Menschen brauche, führt nach Kamlah über einen Analogieschluss zur Erkenntnis einer all­ gemeinen Bedürftigkeit. »>Wir Menschen alle sind bedürftig und sind aufeinander angewiesem [...]: Wer das einsieht - und auf Grund unserer Lebenserfahrung sind wir alle in der Lage, es ein­ zusehen - der erkennt damit an, daß nicht nur er selbst bedürftig und auf die anderen angewiesen ist, sondern daß ebenso die anderen bedürftig und auf ihn angewiesen sind.«41 Indem er daraufhin einen Begriff von »Einsicht« einführt, der von vornherein ein adäquates Tun mit einschließt, d. h., von vornherein praktisch ist, glaubt er in der Folge, der Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses ausgewi­ chen zu sein. So schreibt Kamlah: »Diese Einsicht ist aber eine wah­ re Einsicht nur für denjenigen, der sie nicht allein aufmerksam be­ denkt, sondern auch sein Verhalten und Handeln danach einrichtet. [...] Wer diese Einscht wirklich gewonnen hat, der erkennt damit eine Forderung an, die täglich an ihn ergeht und die sich etwa so ausdrücken läßt: Beachte, daß die Anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß!«42 Am Ende ist Kamlah davon überzeugt, auf diesem Wege das eigentliche Moralprinzip aufgefunden zu haben. »Es ist jedermann jederzeit geboten zu be­ 38 39 40 41 42

Vgl. Aristoteles, Politik, 1. Buch, 2. Kap. Ebenda, 1253 a 2ff. [Zitiert nach der Übersetzung von O. Gigon, 5. Aufl., München.] W. Kamlah, a. a. O., S. 95. Ebenda. Ebenda.

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achten, daß seine Mitmenschen bedürftig sind wie er, und demge­ mäß zu handeln.«43 In vergleichbarer Weise sucht auch Ernst Tugendhat die Grund­ intention zu begreifen, auf der die Moralvorstellungen aufbauen. Für ihn konkretisiert und transportiert die Moral nichts anderes als den Gedanken einer kooperierenden Gemeinschaft. »[...] ich möchte nun behaupten, daß die moralischen Normen einer Gesellschaft ebenjene sind, die [...] definieren, was es heißt, ein gutes kooperatives Wesen zu sein.«44 Aus diesem Gesichtspunkt bildet die Gemeinschaft mit ihrer Moral zunächst ein Angebot, das ergriffen oder zurückgewiesen werden kann. »Jemandem, der wirklich einen lack of moral sense hat oder der aus freien Stücken entschlossen ist auszusteigen und sich auf den Kontraktualismus zurückzuziehen [...] [,] können [wir] nur sa­ gen: take it or leave it.«45 Aus moralpsychologischen Erwägungen kommt Tugendhat sodann zu dem Schluss, dass die Moral in einem Zusammenhang stehen muss mit der Überwindung der eigenen Ein­ samkeit und damit natürlich in einem spezifischen Sinne ebenfalls mit der menschlichen Bedürftigkeit. Dabei denkt er an »[...] den em­ pirischen Tatbestand [...], daß offenbar diejenigen Kinder unter einem lack of moral sense leiden, die keine Intimbeziehungen aufbau­ en können. Dieser Gedankengang ließe sich so abschließen, daß das Motiv zum Moralischseinwollen das Nichtalleinseinwollen ist.«46 Tu­ gendhat bezieht sich in dem Kontext vor allem auf Erich Fromm, der den angesprochenen Bereich menschlicher Bedürftigkeit in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit auszuloten versucht hat. »Die phy­ siologisch bedingten Bedürfnisse sind nicht der einzige gebieterische Bestandteil der menschlichen Natur. Sie hat noch einen anderen ebenso zwingenden Aspekt, der nicht in körperlichen Prozessen wur­ zelt, sondern der im Wesen der menschlichen Lebensweise und Le­ benspraxis begründet liegt: das Bedürfnis, auf die Welt außerhalb sei­ ner selbst bezogen zu sein, und das Bedürfnis, Einsamkeit zu vermeiden. Wenn man sich völlig allein und isoliert fühlt, so führt das zur seelischen Desintegration, genau wie das Fehlen von Nahrung zum Tode führt.«47 Für Fromm scheint es auf dasselbe hinauszukom­ 43 44 45 46 47

42

Ebenda, S. 96. E. Tugendhat, a.a.O., S. 58. Ebenda, S. 89. Ebenda, S. 280. E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, 5. Aufl., München 1995, S. 20.

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men, ob jemand beispielsweise aus einem sexuellen oder aus einem moralischen Antrieb heraus die Gemeinschaft sucht, beide Antriebe nähren sich ex negativo aus dem Umstand, die bessere Alternative zu sein. »Die Bezogenheit auf die Welt kann von hohen Idealen getragen oder trivial sein, aber selbst wenn sie noch so trivialer Art ist, ist sie dennoch dem Alleinsein noch unendlich vorzuziehen.«48 So pflichtet denn auch Tugendhat mit Blick auf den Ursprung der Moral Fromm bei, wo dieser festhält: »[...] was der Mensch am meisten fürchtet: die Isolation.«49 Das Individuum hat mithin vor allem diesen einen guten Grund, nicht immer nur das zu tun, was es selber will, sondern auch das zu berücksichtigen, was es aus der Sicht der Sozietät tun soll: dass es nämlich aufgrund seiner sozialen Bedürftigkeit auf seine Zugehörig­ keit zu einer Gemeinschaft angewiesen ist, dass es einer Gemein­ schaft angehören möchte. Um mich nun nicht selber dem Verdacht eines Sein-Sollen-Fehlschlusses auszusetzen, soll hier die Gemein­ schaft soweit dezidiert lediglich als ein Angebot verstanden werden, die allenfalls mit meinem Bedürfnis nach Gesellschaft korrespondie­ ren mag. Es braucht aber - um es mit Kant auszudrücken - in Bezug auf den Menschen einstweilen gar nicht entschieden werden: »ob er von Natur ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschaft­ scheues Thier sei [,..].«50 Die Frage nach der Moral bleibt damit in­ sofern eine Frage des Sollens und der Freiheit, als ich mich allererst dazu entschließen muss, mit anderen Menschen in einer gewissen Art und Weise zusammenzuleben: Die Formel vom zoon politikon bildet hier demnach nicht mehr weiter eine anthropologische Kate­ gorie, sondern den Gegenstand eines möglichen Entschlusses. Der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, was durch die Moral zum Einzelgut hinzukommt, liegt also in der Verbindung der Moral mit dem Begriff der Gemeinschaft verborgen. Dies verlangt eine wei­ tere Begriffsklärung, um Missverständnisse zu vermeiden, denn »Gemeinschaft« wird im deutschen Sprachraum seit Ferdinand Tönnies Buch Gemeinschaft und Gesellschaft meist als Gegenbegriff zu Gesellschaft gehandelt.51 (Als ein Beispiel von vielen mag hier die 48 Ebenda. 49 Ebenda, S. 21. - Vgl. E. Tugendhat, a.a.O., 14. Kapitel, S. 263-281. 50 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Akademie-Ausgabe, Bd. VII, S. 322. 51 Vgl. M. Riedel, Artikel »Gemeinschaft«, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel / Stuttgart 1974, Sp. 242.

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Theorie des gegenwärtigen Zeitalters von Hans Freyer stehen.52) Nach Tönnies führt die Gemeinschaft das Epitheton des Tradierten und Authentischen mit sich, während die Gesellschaft ins Zwielicht gerät, eine billige Konstruktion darzustellen. »Gemeinschaft ist alt, Gesellschaft neu, als Sache und Namen.«53 Die Begriffsdifferenzie­ rung, wie Tönnies sie vornimmt, ist dabei von vornherein durch Wertungen belastet. »Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zu­ sammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinba­ res.«54 Diese Auffassung soll hier nicht geteilt werden, sondern es soll auf einen Begriff von Gemeinschaft zurückgegriffen werden, wie er ehedem verwendet worden ist. »In der Sprache der Rechts- und So­ zialphilosophie bedeutet >Gemeinschaft< in ursprünglicher synony­ mer Verwendung mit >Gemeinde< allgemein ein Verbandsverhältnis von Personen auf der Grundlage eines gemeinsamen Verhältnisses zu Sachen.«55 Während die Gemeinschaft als Ordnungsgebilde auf der Teilhabe ihrer Mitglieder an einem gemeinsamen »Besitz« ba­ siert, ergibt sich die Gesellschaft lediglich aus dem mehr oder weni­ ger zufälligen, gleichzeitigen Anwesendsein an einem Ort. In der vorgeschlagenen Bedeutung definiert Theodor Geiger den Begriff der Gesellschaft: »Gesellschaft bedeutet wörtlich den Inbegriff räum­ lich vereint lebender oder vorübergehend auf einem Raum vereinter Personen.«56 Als Ordnungsgebilde kristallisiert sich eine Gesellschaft letztlich nur innerhalb von begrenzten und begrenzbaren Räumen heraus, wo sich die Menschen als politische Lebewesen zu einer be­ schränkten Kooperation zusammenfinden. »Eine Gesellschaft ist eine organisierte Gesamtheit von Menschen, die in einem gemeinsamen Gebiet zusammenleben, zur Befriedigung ihrer sozialen Grundbe­ dürfnisse in Gruppen zusammenarbeiten, sich zu einer gemeinsamen Kultur bekennen und als eigenständige soziale Einheit funktionieren.«57 Schon im Kontext der Gesellschaft scheint das zoon politikon 52 Vgl. H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 79-93. 53 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 3. Aufl d. Nachdruckes der 8. Aufl v. 1935, Darmstadt 1991, S. 4. 54 Ebenda. 55 M. Riedel, a. a. O., Sp. 241. - Vgl. P. Kaupp, Artikel »Gesellschaft«, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel / Stuttgart 1974, Sp. 460. 56 Th. Geiger, Artikel »Gesellschaft«, in: A. Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der So­ ziologie, Stuttgart 1931, S. 202. 57 J. H. Fichter, Grundbegriffe der Soziologie, hg. v. E. Bodzenta, Wien / New York 1968, S. 85.

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keine reine Frage mehr einer Anlage, sondern zugleich der Entschei­ dung für einen bestimmten Ort in dieser Welt zu sein. Bei der Vorstellung einer moralischen Gemeinschaft nun geht man in aller Regel davon aus, dass die Gemeinschaft sich an einer bestimmten Moral ausrichtet, eine spezifische Moral hat. Entgegen einem landläufigen Vorurteil hat aber die Gemeinschaft nicht die genealogische Priorität vor der Moral. Das Vergleichsmodell, um die­ se Behauptung zu stützen, bilden die Kirche, die Universität, die po­ litische Partei oder der Verein. Die Kirche beispielsweise basiert auf einem gemeinsamen Glaubensbekenntnis, auf einer gemeinsamen Weltanschauung und auf den betreffenden Wertvorstellungen. Der Verein basiert auf entsprechenden statuarischen Regeln. Die Vorstel­ lung, eine bestehende Gemeinschaft entwerfe ihre Moral, dürfte ebenso unhaltbar sein, wie zum Beispiel die Auffassung, eine Glau­ bensgemeinschaft bestehe vor ihrem Glauben oder ein Verein beste­ he vor der Festsetzung seiner Statuten. Die Moral ist gewissermaßen das Fundament, auf dem allererst eine Gemeinschaft aufgebaut wer­ den kann. In diesem Sinne repräsentieren die moralischen Regeln stets Regeln der Gemeinschaftsbildungl Umgekehrt: Wo keine Mo­ ral mehr herrscht, ist keine Gemeinschaft mehr vorhanden. Der Vergleich mit dem Verein ist damit aber noch nicht aus­ geschöpft. Der Verein als Zusammenschluss politischer Lebewesen bildet eine Gemeinschaft zunächst konkret durch die gemeinsame Teilhabe am Vereinsbesitz und am Vereinslokal. Darüber hinaus aber ergibt sich die Gemeinschaft wesentlich durch ein gemeinsames In­ teresse. Der Kirche oder dem Verein kann man beitreten, sofern man ihr Interesse in irgendeiner Weise teilt, und man kann aus solchen Gemeinschaften auch wieder austreten, wenn man deren Interesse nicht mehr teilt. Analog hierzu ist die Gemeinschaft in einem wei­ teren Sinne zunächst ein Zusammenschluss von politischen Lebewe­ sen, die sich dafür entschieden haben, ihr soziales Bedürfnis in dieser Gemeinschaft zu stillen. Zugleich ist sie aber auch ein Zusammen­ schluss von Individuen, die innerhalb dieser Gemeinschaft einem spezifischen Interesse nachgehen wollen. Zu einer eigentlichen Ko­ operation kann es in einer auf gemeinsamen Besitz angelegten Ge­ meinschaft indessen nur kommen, wenn auch das Interesse ein ge­ meinsames ist, wenn sie zur Interessengemeinschaft geworden ist. Das Gemeinsame innerhalb der Gemeinschaft wird also stets die so­ ziale Bedürftigkeit der Mitglieder, der gemeinsame Ort und das ge­ meinsame Interesse sein. Die Gemeinschaft umfasst dabei ein Bezie­ ^ 45

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hungsgeflecht, in dem eine gewisse Reziprozität der Ansprüche gilt. Sie entscheidet, inwieweit sie in ihrem Bereich Interessenunterschie­ de toleriert. Der Begriff der Toleranz ist denn jederzeit an ein Herr­ schaftsgebiet gebunden, was allererst die Möglichkeit eröffnet gegen die Intoleranz zu argumentieren und vorzugehen. Gegen diejenigen, die gegen das gemeinsame Interesse verstossen, ergreift die Gemein­ schaft Sanktionen. Die Moral einer Gemeinschaft schreibt fest, wie im Raume eines gemeinsamen Ortes auf soziale Art und Weise dem gemeinsamen Interesse nachzugehen ist. Jede Reflexion auf die Mo­ ral einer Gemeinschaft impliziert deshalb von vornherein eine ei­ gentümliche Verschränkung strebensethischer und sollensethischer Gedanken. Während die Strebensethik - idealtypisch betrachtet nach dem unbedingt Guten für das Individuum im Sinne eines obers­ ten Lebenszieles fragt, konzentriert sich die Sollensethik auf das un­ bedingt Gute innerhalb einer Handlungsgemeinschaft im Sinne eines allgemein Verbindlichen. Der Einzelne sieht sich mithin mit zwei unterschiedlichen Unbedingtheitsansprüchen konfrontiert - was nicht nur eine konstante Überforderung bedeutet, sondern vor allem einen grundsätzlichen Konflikt mit einschließt, der am Ende auch lediglich mit einem spezifischen »Kunstgriff« aufgelöst werden kann! Die Gemeinschaft, welche auf dem sozialen Bedürfnis der Menschen gründet, verknüpft die beiden unbedingten Güter im Ho­ rizont ihrer Moral und spricht nur noch von dem einen gemein­ samen Interesse. Moralische Gemeinschaften geben nicht vor, irgendeinem belie­ bigen Interesse, sondern demjenigen Interesse nachzugehen, das sie mit dem eigentlich menschlichen Interesse identifizieren. Von daher enthält jede Moral zwei Momente der Unbedingtheit: das Kategori­ sche und die Universalität. Im Sinne von letzterem heißt es etwa bei Jürgen Habermas: »Erst der Anspruch auf allgemeine Geltung ver­ leiht einem Interesse, einem Willen oder einer Norm die Würde mo­ ralischer Autorität.«58 Obwohl hier lediglich von einem formalen Moment die Rede ist, schließt das Moment der allgemeinen Verbind­ lichkeit jede Gemeinschaft zu einer hermetischen Gemeinschaft ab. Die Moral hat zunächst unbedingte Gültigkeit innerhalb eines Ho­ heitsgebietes der Gemeinschaft. Da diese Gemeinschaft und ihre Mo­ ral allerdings nicht nur ein beliebiges Interesse portieren, sondern ein 58 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikaives Handeln, Frankfurt a.M. 1992, S. 59.

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Interesse, das mit dem Humanum identifiziert wird, bezieht sich die allgemeine Verbindlichkeit unmittelbar auf die ganze Menschheit. Dieser angesprochene Vorgang des Abschließens bei gleichzeitigem übergreifenden Anspruch soll im Kontext Vernetzter Ethik genauer betrachtet werden. Die multikulturelle Gesellschaft nun lässt sich als ein loser Zu­ sammenschluss von Gemeinschaften begreifen, der durch eine Über­ moral konstituiert werden soll. So zumindest kann das gegenwärtige Bestreben der geläufigen Moralphilosophie sowie der Sollensethik innerhalb der Integrativen Ethik beschrieben werden. Ihrer Grund­ intention nach versucht die aktuelle philosophische Ethik, das Her­ metische der Moralen zu durchbrechen und den Horizont auf die Qualität der Moralität bzw. eine Art Übermoral hin zu öffnen. Was dabei übersehen wird, sind indessen zwei Dinge. Erstens: Jede gesell­ schaftliche Moral oder Übermoral muss notwendigerweise mit den Moralen ihrer Gemeinschaften konfligieren - ausgenommen unter Umständen mit der einen Siegermoral. Zweitens: Die Gesellschaft ist selber schon lange zu einer Gemeinschaft geworden und kann sich diesen Konflikt in keiner Weise mehr leisten. Im Zuge einer Globa­ lisierung der Lebenswelt, durch die der begrenzte Ort zu einem Über­ all wird und kein Außerhalb mehr kennt, und angesichts der ökolo­ gischen Bedrohung dieses All-Ortes, ist die Gesellschaft unversehens zu einer Gemeinschaft geworden, die zumindest diesen einen Ort »Erde« teilt. Mit anderen Worten: Der erdachte »Kongress der Ethiker« muss sich der Frage stellen, wie eine Gemeinschaft der Men­ schen hergestellt werden kann, die sich ihres gemeinsamen Besitzes der Erde bewusst sind. Die Problemstellung im Hinblick auf eine Vernetzte Ethik bildet also von daher die Aufgabe: Gelingt es, eine Interessengemeinschaft »Blauer Planet« zu gründen? Gelingt es, eine »Gemeinschaft der Gemeinschaften« zu konstituieren? Es ist dies die Frage nach dem Modell einer offenen Gemeinschaft. Die diesbezüg­ liche Arbeit wird also insgesamt darin bestehen, die hier vorskiz­ zierte Entstehung der Gemeinschaften aus spezifischen Interessen heraus nachzuvollziehen und ein Konzept zu entwerfen, das die »Gemeinschaft der Gemeinschaften« möglich macht. Denn gemäß unserer in der Einleitung explizierten Maxime, das vorhandene mo­ ralische Gold zu nutzen, sollen die diversen moralischen Gemein­ schaften nicht gegeneinander ausgespielt und auf die eine wahre reduziert, sondern zu einer »Gemeinschaft von Gemeinschaften« an­ geleitet werden. ^ 47

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Zur solipsistischen Glückssuche kommt also auf Seiten der Mo­ ral entscheidend und wesentlich die Befriedigung des sozialen Bedürfnisses des Menschen hinzu. Die Sache der Moral steht mithin nicht prinzipiell in einem Widerspruch zu meinen Bedürfnissen, son­ dern korrespondiert mit einem ganz spezifischen Bedürfnis, das von Individuum zu Individuum unterschiedlich stark ausgeprägt scheint. Die Schwierigkeit ist hier lediglich, dass jenes soziale Bedürfnis nicht mein einziges bildet. Moral und Moralphilosophie haben als Bezugs­ punkt die Bildung von funktionierenden Gemeinschaften, in denen das zoon politikon auf seine Rechnung kommt. Um diese beiden Diskussionsbereiche des Wollens und des Sollens voneinander abzugrenzen, hat auch Hans Krämer in seinem pro­ grammatisch auf die »Integrative Ethik« vorausweisenden Plädoyer für eine Rehabilitierung der Individualethik59 noch die beiden Be­ griffe einer »Individualethik« und einer »Sozialethik« verwendet. Da er diese mittlerweile für inadäquat und missverständlich erachtet, hat er sie in der Zwischenzeit, wie bereits erwähnt, durch die Begriffe der Strebensethik und der Sollensethik ersetzt. Der Begriff einer Individualethik60 stammt aus dem 19. Jahr­ hundert und ist am Anfang fest mit dem Gedanken der Moralität verknüpft: Die Individualethik begründet diejenigen moralischen Sollensansprüche wie das Verbot zu stehlen oder zu töten, die das Individuum in seinem Leben berücksichtigen soll; demgegenüber geht es der Sozialethik um die Frage nach der moralischen Einrich­ tung von Institutionen der Gemeinschaft wie dem Recht oder der Fa­ milie. Da das persönliche Glücksstreben von sich aus grundsätzlich keinen Bezug zur Moralität hat und von daher durch den Begriff einer Individualethik Missverständnisse aufkommen könnten, spricht sich Krämer auch gegen eine Neuschöpfung dieses Begriffs aus. Daneben dürften die individuellen Momente nach Krämers Ein­ schätzung durch die begriffliche Akzentuierung in der »Individual­ ethik« zudem zu einer Überbetonung des Individuellen führen: Nach Krämer gibt es hier weit weniger Individuelles zu konstatieren als

59 Vgl. H. Krämer, Plädoyer für eine Rehabilitierung der Individualethik, Amsterdam 1983. 60 Vgl. R. Hauser, Artikel »Individualethik«, in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Histori­ sches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel / Stuttgart 1976, Sp. 287.

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Typisches61. Das Individuum ist auch im Bereich seiner Glückssuche durch vielfältige, untereinander mannigfach verschränkte Sozialisa­ tionsprozesse auf das Typische hin geprägt. Krämer gesteht aber ein, dass der Titel einer »Strebensethik« nichts anderes als eine Verkür­ zung dessen darstellt, was genau genommen »Strebens/Selbst/ Glücks/Güter/Klugheitsethik«62 heißen müsste. Während zwar die Begriffe »Individualethik« und »Sozialethik« die Blickwinkel der entsprechenden praktischen Auseinandersetzung nennen, verhindert ein terminologischer Neuanfang die assoziativ fortschreitende Gleichsetzung des Wollens mit dem Sollen zu einem Wollen-sollen. Dies ist auch der Hauptgrund, weshalb ich die krämersche Termino­ logie in der Folge übernehmen möchte. Zuvor möchte ich hier aber kurz darlegen, weshalb auch ich nicht auf eine der zahlreichen älteren Alternativen zurückgreife. Zur intendierten Unterscheidung würde sich als erstes das von Seiten der analytischen Philosophie herausgestellte Begriffspaar einer teleologischen und einer deontologischen Ethik anbieten. Wäh­ rend sich die Bezeichnung »teleologisch« nämlich von ihrer ur­ sprünglichen griechischen Wurzel her ja unmittelbar auf das Struk­ turmoment »Streben-Erstrebtes« bezieht, wird mit »deontologisch« das Moment einer unvermittelten Gesolltheit herausgestrichen. Wie das Beispiel des Utilitarismus alsdann zeigt, können allerdings auch solche Ethikkonzepte, die sich auf das Zusammenleben der Menschen innerhalb einer Gemeinschaft beziehen, d. h. sozialethische bzw. sollensethische Entwürfe, wesentlich teleologisch aufgebaut sein.63 Da­ ran ändert auch der Umstand nichts, dass - wie etwa Tugendhat be­ tont - der Utilitarismus bei seiner Begründung gezwungen ist, ebenfalls auf spezifische deontologische Philosopheme zu rekurrieren.64 Insgesamt wird am Beispiel der utilitaristischen Ethik deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Teleologie und Deontologie im vorliegenden Kontext nicht tragfähig ist. Als nächstes ist der Vorschlag von Kamlah zu prüfen, laut dem die Grenze zwischen der »normativen Ethik«, die mit der »Moralphi­ losophie« identisch ist, und der »eudämonistischen Ethik« gezogen werden soll, die ihrerseits das Unternehmen einer »Philosophie als 61 62 63 64

Vgl. H. Krämer, a. a. O., S. 82. Ebenda, S. 157. Vgl. ebenda, S. 82. Vgl. E. Tugendhat, a.a.O., S. 338.

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Lebenskunst« beschreibt.65 Auch in dem Zusammenhang kann man wiederum auf die utilitaristische Ethik verweisen, die als ein moral­ philosophisches Konzept eindeutig zu den eudämonistisch orientier­ ten Ethiken zu zählen wäre. Im Kontext der Diskursethik schließlich macht Jürgen Haber­ mas einen Unterschied zwischen strategischem und kommunikati­ vem Handeln.66 Das strategische Handeln beginnt beim persönlichen Interesse und zielt darauf ab, andere Menschen zu manipulieren, bzw. sein Ziel besteht in der »Einflußnahme«67. Demgegenüber möchte das kommunikative Handeln die diversen individuellen Handlungsstrategien aufeinander abstimmen und ein gewisses »Ein­ verständnis«68 erreichen. Am Leitfaden dieser Opposition »Verständigungs- vs. Erfolgsorientierung«69 lässt sich nach Habermas die Dif­ ferenzierung zwischen einer »kommunikativen Ethik« oder einer »Diskursethik« und einer »strategischen Ethik« gewinnen. Weil das strategische Handeln indessen keine substantielle Reflexion des eige­ nen Strebens, des eigenen »Ich will« beinhaltet, es ihm allein um die Durchsetzung seiner faktischen Interessen geht und weil sowohl das strategische wie auch das kommunikative Handeln die Beziehung des Individuums zu den anderen Menschen, zur Gemeinschaft, zur So­ zietät thematisieren: erweist sich die Habermas'sche Unterscheidung für unsere Zwecke als untauglich. Eine ganz andere Schwierigkeit bieten zuletzt die Bezeichnun­ gen auf der Ebene des allgemeinen Gegenstandes der Ethik: Im Ho­ rizont des Begriffspaares »Individualethik« und »Sozialethik« läge es hier nahe, von einer »Individualmoral« und einer »Sozialmoral« zu sprechen. Krämer sieht hinter diesen beiden Bezeichnungen indessen die Gefahr, dass durch sie die Trennungslinie zwischen den Bereichen des Gewollten und des Gesollten noch mehr verwischt wird. Vor al­ lem aber wehrt er sich gegen die Vorstellung, der Einzelne könne über eine Art Individualmoral verfügen im Sinne einer gewisser­

65 Vgl.W. Kamlah, a.a.O., S. 93-192. 66 Vgl. J. Habermas, a.a.O., S. 144(!)-148. 67 Ebenda, S. 144; vgl. ders., Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1984, S.572. 68 Ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, a.a.O., S. 144; vgl. ders., Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, a. a. O., S. 572. 69 Ebenda, S. 595.

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maßen internalistischen Moral. Einer entsprechenden Gefahr setzt sich hier auch John L. Mackie in seiner Ethik aus, wenn er die »Moral im weiteren Sinn«70 von der »Moral im engeren Sinn«71 ahgrenzt. Im Zusammenhang mit der Strebensethik und der Sollensethik scheint eine solche missverständliche Bildung von Begriffen wie »Strebensmoral« und »Sollensmoral« von vornherein ahgewehrt zu sein, was Krämer wiederum als Positivum für seinen terminologischen Vor­ schlag verbucht. Im Kraftfeld des Spannungsverhältnisses zwischen Individuum und Gemeinschaft scheint es mir daher vorteilhaft, den Begriff der Moral für die Anliegen der Sozietät zu reservieren und den Intentionen, Haltungen und Regeln des Individuums als eines solchen einen eigenen Sammelbegriff zuzuordnen. In der vorliegen­ den Arbeit werde ich auf der Gegenstandsehene meinerseits der Mo­ ral, auf die sich die Sollensethik bezieht, als Pendant den Begriff der Lehensform gegenüherstellen, welche sozusagen den allgemeinen Gegenstand der Strebensethik bildet. Somit bleibt gegen Schluss dieses Kapitels nur noch die Frage zu beantworten, ob der »Kongress der Ethiker« seine Arbeit bei der Strebensethik oder bei der Sollensethik anzufangen habe - ohne da­ bei jemals zu vergessen, dass beide Begriffe lediglich Idealtypen be­ zeichnen und dass diese Begriffsunterscheidung auch nur als ein me­ tatheoretisches Instrument zu verstehen ist, um den Unterschied zwischen dem Wollen und dem Sollen auf der ethischen Reflexions­ ebene deutlich zu markieren. Angesichts der beiden Möglichkeiten spricht sich Krämer dafür aus, mit den strebensethischen Fragestel­ lungen zu beginnen. Krämer begründet dies damit, dass die Sollensethik an vorderster Stelle mit die Gerechtigkeit thematisiert, dass bei der Gerechtigkeit die Verteilung von Gütern im Vordergrund steht und dass man demnach mit der Erörterung dessen den Anfang ma­ chen muss, was als Gut anzusehen ist. Was unter einem Gut zu ver­ stehen ist, hängt nun aber von den Vorlieben, Wünschen, Zielen und Interessen der Individuen ab, und mit diesen setzt sich die Strebensethik auseinander, welche für Krämer von daher die ethische Grund­ disziplin ausmacht. »Insofern steht die Strebensethik zur Moralphi­ losophie in einem Bedingungs- und Fundierungsverhältnis: Sie trifft

70 J. L. Mackie, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, übers. v. R. Ginters, Stuttgart 1983, S. 133f. 71 Ebenda.

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Vorentscheidungen für die daran anschließenden moralphilosophi­ schen Entscheidungen.«72 Aus analogen Gründen möchte auch ich mit der strehensethischen Thematik der menschlichen Glückssuche heginnen. Aus­ gehend von der These, dass innerhalb von Gemeinschaften immer schon eine gewisse Vermengung zwischen dem Wollen und dem Sol­ len stattgefunden hat, und im Hinblick auf die Klärung dieses Phä­ nomens soll hier hei den Individuen als den Atomen der Gemein­ schaften begonnen werden. Um also die Frage beantworten zu können: »Auf welchen Begründungswegen erhalten strehensethische Konzepte die Dignität von sollensethischen Entwürfen?«; setzt das nächste Kapitel heim Individuum und dessen Glückssuche hzw. des­ sen Interessen an.

72 H. Krämer, a.a.O., S. 90.

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3. Glück und Interesse

Bei der Gesamtschau der Ethikentwürfe, welche den größtmöglichen Zusammenhang der ethischen Anschauungen herstellen hzw. auf die »Gemeinschaft der Gemeinschaften« hinarheiten möchte, soll also mit dem strehensethischen Bereich hegonnen und daraufhin der Ühergang zur Sollensethik hin gesucht werden, um am Ende auf dem Felde dieses das Gemeinwohl, mithin das Schicksal der Erde hetreffenden Ethikhereichs die Möglichkeit einer großen ethischen Collage zu klären. Aus diesem Grunde geht es thematisch zunächst um das oherste Interesse des Einzelnen als dem zentralen Gegenstand einer Strehensethik, d.h., um das oherste Ziel und den ohersten Zweck, den als Ohjekt seines »Ich will« ein Individuum anerkennt. Der Anfang wird daher mit der Frage gemacht, worin denn das Ei­ geninteresse der Menschen hesteht. Zur Entwicklung einer dieshezüglichen Grundvorstellung möchte ich dahei die aristotelische Ethik heranziehen, welche gewissermaßen den strehensethischen Prototyp hildet, und daraufhin einige Gedanken von Immanuel Kant, Sigmund Freud und Viktor E. Frankl aufgreifen. In seiner Nikomachischen Ethik rekonstruiert Aristoteles menschliches Tätigsein insgesamt, d.h., handwerkliches oder künstlerisches Schaffen, wissenschaftliches Forschen und jedes ande­ re menschliche Tun und Handeln als ein Strehen nach einem Gut. Dieses Gut wird dahei rein formal als die »causa finalis«, als das Ziel oder der Zweck hegriffen, der das jeweilige Strehen im Sinne eines Auslangens nach diesem Ziel initiiert und hegründet. Zusammen heschreihen die Kategorien des Strehens und des Gutes hzw. des Zieles ein Strukturmodell des menschlichen Tuns, wie Otfried Höffe in sei­ ner Aristoteles-Studie festhält: »Das Gute ist eine Funktion des Stre­ hens wie umgekehrt das Strehen eine Funktion des Guten ist; heide Begriffe können nur im Verhältnis zu einander hestimmt werden.«1 Jeder Mensch verfolgt in seinem Lehen ganz unterschiedliche, kon­ 1 O. Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München / Salzhurg 1971, S. 37.

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krete Ziele resp. strebt nach verschiedenen Gütern. Gelegentlich kon­ kurrieren auch gewisse Bestrebungen miteinander. Der Einzelne muss sich dann für eines jener sich gegenseitig ausschließenden Ziele entscheiden. Ferner fällt in Bezug auf die meisten Güter oder Ziele auf, dass man sie nur anstrebt, um durch sie an andere, gleichsam höhere Güter heranzukommen. Nach Aristoteles stehen denn die einzelnen Güter bzw. Ziele nicht zusammenhanglos nebeneinander, sondern es können spezifische Relationen zwischen den diversen Zie­ len beschrieben werden. Das eine Ziel lässt sich als ein Mittel für das andere begreifen, welches selber wiederum bloß ein Mittel für ein weiteres, noch höheres Ziel darstellt, woraus insgesamt so etwas wie eine Ziele- bzw. Güterpyramide entsteht. So lassen sich letztlich auch Konflikte zwischen mehreren gleichrangigen Zielen dadurch lösen, dass möglicherweise eines von ihnen als bestes Mittel aufgefasst wer­ den kann, um ein höheres Ziel zu erreichen. Würde man nun aber bei der Begründung eines jeden Zieles immer auf ein noch höheres Ziel verweisen müssen, ohne je an ein Ende zu gelangen, dann müsste jede Begründungskette offenbleiben und sich somit als zufällig er­ weisen; dann gäbe es folglich gar keine eigentlichen Begründungen; dann wäre das menschliche Tun ohne einheitliche Ausrichtung und als Ganzes vollkommen ziel- und mithin sinnlos. Um den Menschen vom »regressus ad infinitum« seines Fragens und Begründens zu erlösen, muss also ein Letztziel aufgefunden werden, welches den Sinn allen Tätigseins garantiert. Gemäß dem teleologischen Modell des Aristoteles stellt sich somit die Frage: »[...] welches ist das obers­ te aller praktischen Güter? Im Namen stimmen wohl die meisten überein. Glückseligkeit nennen es die Leute ebenso wie die Gebilde­ ten, und sie setzen das Gut-Leben und das Sich-gut-Verhalten gleich mit dem Glückseligsein.«2 Durch diese Identifizierung von Letztziel und Glückseligkeit durch den Common sense hat Aristoteles bei sei­ ner Suche nach einer Beschreibung des obersten Zieles einen ersten begrifflichen Anhaltspunkt gefunden. Wenn man die Frage nach dem Letztziel bzw. nach dem Selbstinteresse der Menschen rein aus der Perspektive der Strebensethik betrachtet, dann lässt sich zunächst ganz allgemein festhalten, die Menschen wollen in erster Linie glücklich sein. Der Sache nach unterscheidet man zwei Formen von Glück, was 2 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 a 16-20. [Hier und im Folgenden zitiert nach der Übersetzung von O. Gigon, 6. Aufl., München 1986.]

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sich in den meisten Sprachen niedergeschlagen hat. Zum einen reden wir hei Gelegenheit davon, dass wir Glück gehabt haben. Es ist hier von sogenannten Glücksfällen die Rede, die uns ohne eigenes Zutun im wahrsten Sinne des Wortes zugefallen sind. Wenn wir indessen unser Glück suchen, nach Glück streben, uns ein glückliches Lehen wünschen, dann denken wir keineswegs an einen Zufall, sondern an die Erreichung eines Zustandes - und zwar aus eigener Kraft und durch Verdienst. Die deutsche Sprache mag hier einen Unterschied machen zwischen Glück und Glückseligkeit. Deutlicher zeigt sich diese Differenzierung im klassischen Griechisch, wo zwischen »eutychia« und »eudaimonia« unterschieden wird. Ähnlich macht dann das Latein einen Unterschied zwischen »fortuna« hzw. »felicitas« und »heatitudo«, das Englische zwischen »luck« und »happiness«, das Französische zwischen »felicite« oder »honne chance« und »honheur« und die italienische Sprache zwischen »felicita« und »heatitudine«.3 Aristoteles nun geht es um jene Form des Glücks, die der Mensch selhstständig erreichen kann, mithin um die eudaimonia. In den ersten Kapiteln seiner Nikomachischen Ethik entwickelt Aristo­ teles im Rahmen einer Analyse, wie ein Letztziel zu denken ist, die verschiedenen, rein formalen Elemente des Glückshegriffs. Dahei kommt die inhaltliche Seite der eudaimonia zunächst gar nicht in den Blick, wie Emil Angehrn in seiner Studie Der Begriff des Glücks und die Frage der Ethik hetont: »Glück und Glücklichsein, ohwohl es als höchstes telos auftritt, ist letztlich gar nicht zur Gegenstandsseite, zur Materialität unseres Wollens, sondern zur Formseite, zur Art des Tuns und Wollens zu zählen.«4 Angehrn macht dahei auf vier ver­ schiedene Begriffsmomente aufmerksam.5 Als Letztziel stellt die eudaimonia einen Selhstzweck dar. Aris­ toteles schreiht hierzu: »[...] allgemein ist das vollkommene Ziel das­ jenige, was stets nur an sich und niemals um eines anderen willen

3 Vgl. hierzu K. Hammacher, Artikel »Glück«, in: Handbuch philosophischer Grund­ begriffe, hg. v. H. Krings, H. M. Baumgartner u. C. Wild, Bd. 3, München 1973, S. 606­ 614; R. Spaemann, Artikel »Glück«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 3, Basel / Stuttgart 1974, Sp. 679-707. 4 E. Angehrn, Der Begriff des Glücks und die Frage der Ethik, in: Philosophisches Jahr­ buch, 92. Jg., 1985, S. 39. - Vgl. auch O. Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -prohleme der praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1979, S. 30 u. 52. 5 Vgl. E. Angehrn, a.a.O., S. 36-45.

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gesucht wird. Derart dürfte in erster Linie die Glückseligkeit sein.«6 Dieses Moment des Glücks als eines Letztzieles versteht sich von selbst, denn liesse es sich zur Erreichung eines anderen Zieles in ir­ gendeiner Weise instrumentalisieren, wäre es gar kein Letztziel. Die Glückseligkeit wird aber nicht nur um ihrer selbst willen angestrebt, sondern sie ist darüber hinaus sogar das einzige Ziel, das um seiner selbst willen angestrebt wird, wie Friedo Ricken schließlich heraus­ streicht: »Der Begriff des letzten Zieles impliziert, daß es nur ein letztes Ziel geben kann.«7 Wenn es zwei oder mehrere letzte Ziele geben würde, dann müsste man sich noch ein allerletztes Ziel hin­ zudenken, welches sozusagen in der Vermittlung all jener Ziele bestünde. Aristoteles fasst diese beiden Momente des Selbstzweckes und der Einzigkeit im Begriff der autarkeia, der Selbstgenügsamkeit, zusammen.8 »Für etwas Derartiges halten wir die Glückseligkeit, und zwar so, daß sie das Wünschenswerteste ist, ohne daß irgend etwas anderes addiert werden könnte.«9 Ferner eignet dem Letztziel bzw. der eudaimonia eine gewisse Selbstbezüglichkeit. Dieses Begriffsmoment verdeutlicht Aristoteles durch folgenden Gedanken. Grundsätzlich kann man zwei Formen menschlichen Strebens und zwei Arten von Gütern unterscheiden: Zum einen ein Tun, dem es um die Herstellung eines Werkes geht, wofür Aristoteles die Handwerkstätigkeit als Beispiel anführt; zum anderen ein Tun, das nicht auf ein vom Tätigsein ablösbares Werk hinzielt, sondern sich in seinem Tätigsein selber zum Ziel hat. Da man letztlich bei jedem Werk danach fragen kann, wozu dieses denn seinerseits zu gebrauchen ist, und damit in die Situation gerät, ein höherrangiges Ziel resp. einen weiterführenden Zweck angeben zu müssen, lässt sich die Grundstruktur eines Letztzieles nicht aus dem Modell des Herstellens abstrahieren. Das oberste Gut, das letzte Ziel mit seiner Unbedingtheit kann daher nur als ein Handeln gedacht werden, welches auf nichts anderes als auf seine eigene Betätigung abzielt. »Das Handeln ist ein Tätigsein, das sich in seinem Gutsein zum Ziel hat; es ist seinem Begriff nach reflexiv strukturiert. [...] Nicht mit dem Begriff eines linearen Strebens, sondern allein 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097 a 33 f.; vgl. 1097 b 1 ff. 7 F. Ricken, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, Göttingen 1976, S. 22. 8 Vgl. O. Höffe, a. a. O., S. 30f. 9 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1097 b 15-17.

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mit einem reflexiven Begriff kann man das Unbedingte denken.«10 Nachdem Aristoteles die Frage nach der Strebensstruktur in Bezug auf das Letztziel mit dem Modell eines reflexiv auf sich selber bezo­ genen Tätigseins beantwortet hat, geht es ihm darum, die entspre­ chende Tätigkeit im Bereich der Menschen genauer zu bezeichnen. »[...] dann ist das Gute für den Menschen die Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besondern Befähigung, und wenn es mehrere solche Be­ fähigungen gibt, nach der besten und vollkommensten; und dies außerdem noch ein volles Leben hindurch.«11 Das unüberbietbare Letztziel des Menschen und mithin die Glückseligkeit lässt sich somit formal als eine Tätigkeit bestimmen, welche der Mensch aufgrund seines besten, ihm eigentümlichen Talentes in bester Weise vollführt - und im Idealfall für die Dauer seines ganzen Lebens.12 Mit dem letzten Hinweis auf die ideale Dauer des Glücks scheint eine gewisse utopische Dimension des Glücksbegriffes angesprochen zu sein. Glück als Selbstzweck ist nun aber nicht so zu verstehen, als ginge es einfach darum, dass Glück oder die mit ihm korrespondie­ rende Tätigkeit in dieser Welt stattfindet, wie Angehrn in diesem Zusammenhang herausarbeitet. »Als das Weswegen, das um seiner selbst willen gilt, fungiert nicht mehr der Gegenstand oder das Tun, sondern das Subjekt selber. [...] Es ist, aristotelisch gesprochen, der Wechsel vom »hou heneka tinos« zum »hou heneka tini«, vom Weswegen-von zum Weswegen-für (Met. 1072b 2; vgl. De Anima, 415b 2, 20); [,..].«13 Der Genitiv der Selbstzweckformel »um seiner selbst willen« bezieht sich demnach nur mittelbar auf das Glück als obers­ ten Zweck, unmittelbar aber auf den Strebenden als das in der betref­ fenden Weise tätige Subjekt. Es ist somit der strebende, tätige Mensch, der sich im Vollzug jener der eudaimonia gemäßen Tätig­ keit allererst realisiert, und nicht die eudaimonia als Tätigkeit, wel­ che den eigentlichen Selbstzweck ausmacht. »Weder was wir tun noch der Akt des Tuns sind das eigentlich um ihrer selbst willen Ge­ wollte, sondern der Mensch, der sich in diesem Tun verwirklicht. Erst dadurch wird der unendliche Regreß wirklich aufgehoben, der jedes 10 O. Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, München / Salzburg 1971, S. 45. 11 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1098 a 16-18. 12 Vgl. O. Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Phi­ losophie, Frankfurt a.M. 1979, S. 30f. 13 E. Angehrn, a.a.O., S. 40. - Vgl. R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989, S. 35 f. u. 123 ff.

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Ziel in einem weiteren begründet: nicht durch Abbruch oder Anlan­ gen bei einem Letzten, sondern durch die reflexive Rückwendung auf das Umwillen der Zwecke selber.«14 Mit anderen Worten: Das oberste telos des strebenden Menschen bildet er selber als unbedingt streben­ der Mensch. Damit ist auch zugleich das vierte Begriffsmoment der Glückse­ ligkeit angesprochen: Über Glück lässt sich deshalb nur Formales sa­ gen, weil sich Glück weder auf der Ebene der Möglichkeit noch auf der Ebene der Notwendigkeit bewegt, sondern allein auf der Ebene der Wirklichkeit. »Sich-wollen heißt seine Wirklichkeit oder seine Verwirklichung wollen. [...] Am-Werk-Sein - >energeia< - ist zu­ gleich Gegenbegriff zur dynamis, zur bloßen Potentialität.«15 Was hiermit insgesamt gemeint ist, wird vor allem deutlich, wenn man nach dem Verhältnis von Glück bzw. dem damit verbundenen Erleb­ nis einer spezifischen Lust, d. h., dem »Zustand« der Glückseligkeit und einem möglichen inhaltlichen Letztziel fragt. Friedo Ricken hat in diesem Kontext darauf aufmerksam gemacht, dass sich in der Nikomachischen Ethik zwei völlig unterschiedliche Theorien der Lust finden, welche sich indessen in keiner Weise widersprechen.16 An der ersten Stelle geht es Aristoteles um die ursprüngliche Lust, welche »die Tätigkeit des naturgemäßen Verhaltens« meint - und zwar so­ weit dieses Verhalten sich »ungehindert«17 realisieren kann. Im zehnten Buch spricht Aristoteles dann von jenem Glücksgefühl, das sich beim Menschen einstellt, wenn er durch sein Tätigsein sich sel­ ber verwirklicht. »Die Lust vollendet die Tätigkeit aber nicht wie ein in ihr vorhandener Zustand, sondern als eine dazukommende Voll­ endung, wie die Schönheit beim Wachsenden.«18 Als eine »dazukom­ mende Vollendung« stellt sich das Gefühl des Glücks jeweils nur dann ein, wenn der Einzelne bei einer seinen höchsten Talenten ent­ sprechenden Tätigkeit auf beste Weise aktiv ist. Von daher ist die eudaimonia in eminenter Weise an die Aktualisierung gebunden. Der Mensch kann nicht nach Glück streben, Glück ist keine Möglich­ keit für den Menschen, schon gar nicht eine Notwendigkeit, sondern

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E. Angehrn, a. a. O., S. 40. Ebenda, S. 40f. Vgl. F. Ricken, a. a. O. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1153 a 12-15. Ebenda, 1174 b 31-33. - Vgl. E. Angehrn, a. a. O., S. 42.

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das mit der Schönheit vergleichbare Geschenk, welches der Mensch allenfalls als Lohn für die Vollendung der Wirklichkeit zu begreifen vermag. Auf dem Hintergrund der formalen Bestimmung des Glückshe­ griffes können nun in Bezug auf das Phänomen des Glücks zwei psychologische Grundgesetze festgestellt werden. Das erste lautet: Der Mensch kann sein Glück niemals unmittelbar anstrehen. Wie der Psycho- und Logotherapeut Viktor E. Frankl »am Modell der Sexualneurose«19 herausgearheitet hat, muss hier geradezu von einer »Paradoxie des Glücks« gesprochen werden. »Es entzieht sich uns genau und gerade in dem Maße, in dem wir es intendieren.«20 Bereits Aristoteles erkennt dieses Grundgesetz,21 welches schon Henry Sidgwick »das Grundparadoxon des Hedonismus«22 nennt.23 Die irrige Annahme, der Mensch könne Glück direkt anstrehen, möchte ich denn darum mit Anton Friedrich Koch als einen »hedo­ nistischen Fehlschluß«24 bezeichnen. Koch erzählt in diesem Zusam­ menhang von einem empirischen Experiment, welches an Ratten durchgeführt wurde. Den armen Tieren wurden Elektroden ans Lustzentrum im Gehirn angeschlossen, und man lehrte sie, wie sie durch das Herunterdrücken einer Taste selber Lust auslösen können. Das Ergebnis war, dass die Tiere in regelmäßigen Abständen die Lusttaste drückten - bis zur völligen Erschöpfung und bis an die Grenze zum Hungertod. In diesem Zusammenhang stellt sich Koch in seinem Aufsatz Wieviel Erfolg braucht der Mensch, um glücklich zu sein? sodann die Frage, ob der Mensch tatsächlich auch bereit wäre, ein Leben des Glücks durchgehend auf diese »synthetische« Art und Weise zu erlangen.25 Und er kommt zu einem ähnlichen Schluss wie Frankl bei seiner Interpretation des Paradoxons des Glücks: »[...] was der Mensch wirklich will, ist, einen Grund zum Glücklichsein zu haben.«26 Der Mensch scheint in aller Regel gar 19 V. E. Frankl, Paradoxien des Glücks, in: Was ist Glück? Ein Symposion, 3. Aufl., München 1980, S. 108. 20 Ebenda, S. 107. 21 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1111 b 28 f. 22 H. Sidgwick, Die Methoden der Ethik, übers. v. C. Bauer, Bd. 1, Leipzig 1909, S. 57. 23 Vgl. Ebenda, S. 56-59 u. 154-156. - Vgl. ferner N. Hartmann, Ethik, Berlin / Leipzig 1926, S. 86-88; H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1992, S. 135. 24 A. F. Koch, Wieviel Erfolg braucht der Mensch, um glücklich zu sein?, in: Zeitschrift für Philosophische Praxis, 1. Jg., 1994, Heft 1, S. 24. 25 Vgl. Ebenda, S. 23. 26 V. E. Frankl, a.a.O., S. 108.

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nicht darauf aus zu sein, Glücksgefühle auf einem unmittelbaren Weg zu erlangen, sondern er möchte das Glück als Ergebnis eigener Anstrengung, als Lohn des Erfolges erleben. Eine Strebensethik, welche sich der Förderung des Glücks als dem menschlichen Selbst­ interesse verschreibt, muss also von daher die konkreten, glücks­ verheißenden Tätigkeiten, die inhaltlichen Ziele der Menschen the­ matisieren, welche die formalen Bedingungen des Glücks erfüllen mögen. Oder um es mit Epikurs Worten zu sagen: »Wir müssen uns also kümmern um das, was die Glückseligkeit schafft: wenn sie da ist, so besitzen wir alles, wenn sie aber nicht da ist, dann tun wir alles, um sie zu besitzen.«27 Bevor ich mich dieser Frage zuwenden möchte, soll uns indessen das zweite Grundgesetz des Glücks noch beschäftigen. Für einen Moment möchte ich noch im Bereich der Psychologie des Glücks verweilen: Auch Sigmund Freud anerkennt in Einhellig­ keit mit den großen Philosophen, dass der Mensch von sich aus prin­ zipiell nach Glück strebt. Auch ihm geht es zunächst um die Frage: »[...] was die Menschen selbst durch ihr Verhalten als Zweck und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, was sie vom Leben fordern, in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen; sie streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben.«28 Freud differenziert dabei zwischen dem Glück im engeren Sinne, welches wir als Hochgefühl erleben, und dem Glück in einem weiteren Sinne, wozu auch das Vermeiden von Unlust gehört. »Dies Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einerseits die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, anderseits das Erleben starker Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird >Glück< nur auf das letztere bezogen. [.] Es ist, wie man merkt, einfach das Pro­ gramm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt.«29 Zum Leben nach dem Lustprinzip gehört sodann im Weiteren eine wesentliche, seltsame Erfahrung, die darin besteht, dass Glück stets von relativer Dauer bleibt bzw. dass mit dem Glückserleben der Kontrast der Nie­ dergeschlagenheit oder des »Unglücks« notwendig verknüpft ist. So scheint es etwa, dass auch nur derjenige Sportler oder Künstler, der 27 Epikur, Brief an Menoikeus, in: Von der Überwindung der Furcht, übers. v. O. Gigon, 3. Aufl., Zürich / Mannheim 1983, S. 122. 28 S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M. 1983, S. 74. 29 Ebenda.

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über längere Zeit große Entbehrungen und Anstrengungen auf sich genommen und dabei gelitten hat, zu den höchsten Glücksgefühlen über seinen Sieg oder seinen Erfolg fähig ist: Glücksgefühle, die wie­ derum bloß von kurzer Dauer sind. Aufgrund solcher empirischen Beobachtungen kommt Freud in Bezug auf jenes Lebensprogramm der Lust zum Schluss: »Es ist überhaupt nicht durchführbar, alle Ein­ richtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen: die Ab­ sicht, daß der Mensch >glücklich< sei, ist im Plan der >Schöpfung< nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, [...] ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fort­ dauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Ge­ fühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig.«30 Glück als jener Zustand, der zum vollkommenen Tätigsein hinzu­ kommt, scheint für den Menschen allein über einen anstrengenden und unaufhörlich zu wiederholenden Anlauf aus dem Unglück he­ raus erreichbar zu sein. Die aristotelische Bestimmung »ein volles Leben hindurch«31 rückt den von der Absicht her assertorischen Be­ griff unter diesem Gesichtspunkt allerdings in den Bereich der Uto­ pie. (Zum »Trost« sei jedoch daran erinnert, dass dieses zweite psy­ chologische Gesetz in gleicher Weise ebenso für das Unglück gilt: Es kann auch niemand ununterbrochen unglücklich sein.) Mithin macht das Glück kein Ist aus, sondern repräsentiert ein aus der vereinzelten Sicht des Menschen »festgestelltes« Wollen. Die Strebensethik hat hier die Aufgabe, den Menschen bei seinem steten Versuch anzulei­ ten und zu beraten, dieses Wollen für sich zu realisieren. - Spätestens in diesem Kontext drängt es sich indessen auf, eine genauere Diffe­ renzierung zwischen den Begriffen des Glücks, der Freude und der Lust vorzunehmen. Kant stimmt mit Aristoteles und Freud darin überein, dass der Mensch quasi im Sinne eines von der Natur vorgegebenen Telos zu­ nächst sein eigenes Glück verfolgt. »Es ist [...] ein Zweck, den man bei allen vernünftigen Wesen als wirklich voraussetzen kann, und also eine Absicht, die sie nicht bloß haben können, sondern von der man sicher voraussetzen kann, daß sie solche insgesammt nach einer Naturnotwendigkeit haben, und das ist die Absicht auf Glückselig­

30 Ebenda, S. 74f. - Vgl. auch Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1175 a 3-10. 31 Ebenda, 1098 a 16-20.

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keit.«32 Aber auch für Kant sind der Bestimmung des Glücksbegriffes von der Sache her enge Grenzen gesetzt, denn die Glücksintention kann zwar jedem Menschen unterstellt werden, aber selbst der Ein­ zelne vermag nur vage Angaben über die Materie des Glücks zu ma­ chen. »Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.«33 Die inhaltliche Bestimmung des Glücks ergibt sich für den Einzelnen in der Folge lediglich aufgrund von subjektiven Erfahrungen. »Die Ur­ sache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesammt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein ab­ solutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindes, in meinem gegen­ wärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist.«34 Mit dieser Definition, die sich mit der aristotelischen Aussage bezüglich der idealen Dauer des Glücks trifft, spricht Kant auch schon an, dass Glück als formale Idee ein utopisches Prinzip beschreibt. »Glückse­ ligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht [.. .].«35 Was wir im Felde unserer Glücksintention wirklich erreichen können, erweist sich am Ende stets als eine relative Quantität von Glück, als einzelne Momente der Lust oder der Freude oder der blo­ ßen Zufriedenheit. Lust, Freude und Zufriedenheit, die dem Grade der Intensität nach unterschieden sind, bilden in gewisser Weise Bau­ steine des utopischen Glücks. Nach Kant ergeben sich diese Augen­ blicke der Lust immer dann, wenn unser Tun und unser Wollen miteinander koinzidieren. »Lust ist die Vorstellung der Übereinstim­ mung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Be­ dingungen des Lebens, d. h. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubrin­ gen).«36 Das Begehrungsvermögen bzw. die Willkür, welche nach 32 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Ber­ lin 1968, S. 415. 33 Ebenda, S. 418. 34 Ebenda. 35 Ebenda. 36 Ders., Kritik der praktischen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 9 (Anm.).

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Gütern strebt, die als Vorstellungen gegeben sind, gelangt zum Erle­ ben von Lust oder Freude, soweit jene Vorstellungen sich verwirk­ lichen. Auch bei dieser kantischen Auffassung wird schließlich deut­ lich, dass andauerndes Glück nicht im einmaligen Erreichen eines Zieles entsprechend dem Modell des Herstellens bestehen kann, son­ dern nur in einer Art selbstbezüglichen Handelns. Anders aus­ gedrückt: Für den Menschen ergibt sich jedes Mal dann ein Gefühl der Lust, wenn er ein Ziel erreicht hat; ein Gefühl, das als anhalten­ des vorgestellt, nur aufgrund einer selbstzweckhaften Tätigkeit ge­ dacht werden kann. »Die Erreichung jeder Absicht ist mit dem Gefühle der Lust verbunden; [.. .].«37 Von der Sache der Lust her bzw. des Glücks ist die Materialität der Absichten somit vollkommen gleichgültig. Auch Aristoteles führt Menschen an, die ihr Glück durch das Streben nach Lust, solche, die es durch das Streben nach Ehre, nach Tugend, andere, die es durch das Streben nach Geld oder nach Weisheit suchen. Die Ausgerichtetheit auf ein utopisches Glück, das Auslangen nach der eudaimonia, konkretisiert sich beim Menschen als Intention nach einem inhaltlichen Ziel. Anstelle von Intentionen oder Absich­ ten möchte ich in diesem Zusammenhang von spezifischen Interes­ sen sprechen und in Anlehnung an Pierre Thiery d'Holbach bis hier­ hin feststellen, dass jeder Mensch in dem Bereich sein ständiges Glück sucht, wo er für sich seine Interessen entwickelt. »Als Interesse bezeichnet man den Gegenstand, an den jeder Mensch, seinem Tem­ perament und den ihm eigentümlichen Ideen entsprechend, sein Wohlergehen knüpft; man sieht daraus, daß das Interesse stets nur das sein kann, was jeder von uns für seine Glückseligkeit als notwen­ dig erachtet.«38 Mit dem Begriff des Interesses ist die inhaltliche Aus­ richtung, in welche die Glückssuche eines Individuums geht, oder die subjektive, materiale Glücksvorstellung bezeichnet, ohne damit den Interessenbegriff schon genauer definiert zu haben. »Wenn wir also behaupten, das Interesse sei die einzige Triebfeder der menschlichen Handlungen, so wollen wir damit sagen, daß jeder Mensch auf eigene Art das Glück, das er in irgendeinem sichtbaren oder verborgenen, wirklichen oder imaginären Gegenstand zu finden glaubt, erstrebt und daß er seine gesamte Verhaltensweise darauf ausrichtet, es zu 37 Ebenda, S. 124. 38 P. Th. d'Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, übers. v. F.-G. Voigt, Frankfurt a.M. 1978, S. 252.

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erlangen.«39 Das Interesse steckt den Horizont ab, in dessen Sphäre das Individuum gemäß den formalen Glücksbedingungen das eigene Glück sucht und entsprechend den psychologischen Gesetzen des Glücks seine Glücksmomente findet. Der Begriff des Interesses stammt ursprünglich aus dem Römischen Recht und ist dort gebräuchlich als die »Bezeichnung der frei ermit­ telten Wertdifferenz, die der Kläger vom Beklagten als Schadenersatz verlangen kann«40. Im Verlaufe seiner Geschichte hat der Interessen­ begriff vor allem im 16. Jahrhundert in Italien einen entscheidenden Bedeutungswandel durchgemacht. Von da an bekam er den Inhalt »Nutzen« resp. »Vorteil« und nahm das Bedeutungselement der te­ leologischen Gerichtetheit auf.41 An dieser Stelle möchte ich im Rückgriff auf die verschiedenen Prägungen in der Neuzeit einen In­ teressenbegriff einführen, der für die Ausrichtung auf materiale Güter steht und dabei mit der gewonnenen formalen Definition des Glücksbegriffes korrespondiert. Da Glück den Gedanken eines spezi­ fischen Letztzieles impliziert, geht es mir vor allem um den Begriff eines obersten Interesses (oder eines Verbundes von obersten Inte­ ressen). Ganz allgemein beschreibt das Interesse eine Relation zwi­ schen einem Subjekt und einem Objekt, womit in Bezug auf den Begriff eines obersten Interesses drei Begriffsmomente genauer zu erörtern sind, die hier unter den Rubra »Reflektiertheit«, »Sinnaus­ richtung« und »Identität« behandelt werden. Erstens: Bei der Festlegung des ersten Momentes möchte ich auf den Interessenbegriff bei Kant zurückgreifen. Im Rahmen seiner psychologischen Darlegungen unterscheidet Kant ganz verschiedene Formen des Strebens, je nachdem welche Arten von Vorstellungen das Begehrungsvermögen bestimmen. Jede dieser Vorstellungen oder Zielursachen lässt sich dabei als antizipierte Lust bestimmen, die praktisch wird - wie etwa die augenblickhafte Begierde. Die Disposi­ tion zu einer bestimmten Art von Begierde nennt Kant Neigung: Auch sie kann als eine Vorstellung des Begehrungsvermögens auf39 Ebenda, S. 253. 40 H. J. Fuchs, Artikel »Interesse«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 4, Basel / Stuttgart 1979, Sp. 479. 41 Vgl. Ebenda, Sp. 479-485 u. V. Gerhardt, Artikel »Interesse«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 4, Basel / Stuttgart 1979, Sp. 485-494 -Vgl. fernerA. Esser, Artikel »Interesse«, in: Handbuchphilosophischer Grundbegriffe, hg. v. H. Krings, H. M. Baumgartner u. C. Wild, Bd. 3, München 1973, S. 738-747.

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gefasst werden - eine Vorstellung, in der mit dem Erreichen einer gewissen Absicht Lust verknüpft wird. »Was aber die praktische Lust betrifft, so wird die Bestimmung des Begehrungsvermögens, vor welcher diese Lust als Ursache nothwendig vorhergehen muß, im engen Verstande Begierde, die habituelle Begierde aber Neigung hei­ ßen, und weil die Verbindung der Lust mit dem Begehrungsvermö­ gen, sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer all­ gemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subject) gültig zu sein geurtheilt wird, Interesse heißt, so wird die praktische Lust in diesem Falle ein Interesse der Neigung, dagegen wenn die Lust nur auf eine vorhergehende Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen kann, so wird diese eine intellectuelle Lust und das Interesse an dem Ge­ genstande ein Vernunftinteresse genannt werden müssen [,..].«42 Während also unmittelbare Begierde und Neigung die Motive der Sinnlichkeit bezeichnen, gehört das Interesse zum vernünftigen Vermögen des Menschen. »Aus dem Begriffe einer Triebfeder ent­ springt der eines Interesse, welches niemals einem Wesen, als was Vernunft hat, beigelegt wird und eine Triebfeder des Willens bedeu­ tet, so fern sie durch Vernunft vorgestellt wird.«43 Das erste Begriffs­ moment, das im vorliegenden Zusammenhang herausgestellt werden soll, besteht in der Reflektiertheit des Interesses. »Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ur­ sache, wird.«44 Das Interesse bildet keinen unbewussten, sondern einen von der praktischen Vernunft vorgegebenen Beweggrund, wo­ bei Kant zwei Formen auseinanderhält: Zum einen gibt es gewisse Triebfedern, welche die Vernunft von der Sinnlichkeit übernimmt und zu ihrem eigenen Anliegen resp. Interesse macht; und zum an­ deren kümmert sich die praktische Vernunft ihrerseits um ein spezi­ fisches, eigenes Interesse. »In der That hat die Vernunft nur ein ei­ niges Interesse [,..].«45 Die Vernunft insgesamt erkennt als ihr oberstes Interesse (sowohl bei ihrer theoretischen als auch bei ihrer praktischen Betätigung) das Streben nach Einheit. Als ihr eigenes Interesse verfolgt die praktische Vernunft letztlich die Idee der reinen Vernünftigkeit bzw. der vernünftigen Einheit aller Beweggründe, 42 I. Kant, Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Ausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, S. 212. 43 Ders., Kritik der praktischen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 79. 44 Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Ausgabe, Bd. IV, Ber­ lin 1968, S. 459 (Anm.). 45 Ders., Kritik der reinen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. III, Berlin 1968, S. 440.

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welche im Prinzip der Autonomie als Selhstgesetzgehung gedacht wird. Dieses Interesse der reinen Vernünftigkeit liegt dem Sittenge­ setz zugrunde, welches gegenüber dem menschlichen Willen in der Form des kategorischen Imperativs die Verwirklichung des reinen Vernunftinteresses fordert. Als Beweggründe der Vernunft setzen sowohl das Interesse der Neigungen als auch das Interesse der reinen Vernünftigkeit wesentlich eine gewisse Distanz zu den unmittel­ baren sinnlichen Triebfedern oder deren Suspendierung voraus. Dem Interesse eignet prinzipiell eine bestimmte Freiwilligkeit, oder - mit Kants Worten - es hat die negative Freiheit der Spontaneität zu seiner Bedingung. Durch das Moment der Reflektiertheit oder Vernünftigkeit, welches zum Begriff des Interesses gehört, wird die Bewusstheit der materialen Ausrichtung erfasst, gemäß welcher der Mensch sein Glück zu finden versucht. Ohne diese Bewusstheit einer wie auch immer gearteten resp. einer woran auch immer interessier­ ten praktischen Vernunft könnte eine Koordination von konkreten Handlungszielen nicht stattfinden. Auf Vernunft in einem weiten Sinne gründet das Interesse als spezifische Ausrichtung der uto­ pischen Glückssuche außerdem, sofern es seine Glückssuche mit der Realität abstimmen muss, weshalb sich in Übereinstimmung mit John Rawls insgesamt konstatieren lässt: »Mit gewissen Einschrän­ kungen [...] kann man einen Menschen als glücklich ansehen, wenn er in der (mehr oder weniger) erfolgreichen Ausführung eines ver­ nünftigen Lebensplanes begriffen ist, den er unter (mehr oder weni­ ger) günstigen Bedingungen aufgestellt hat, und wenn er einiger­ maßen sicher ist, daß er sich ausführen läßt.«46 Zweitens: Das begrifflich definierte Ziel, auf welches das Inte­ resse fixiert ist, beschreibt Friedrich Nietzsche als »einen commandirenden Gedanken«47. Im vorliegenden Kontext geht es demzufolge insbesondere um jenen einen Gedanken, welchem der Mensch sich bei seiner Glückssuche gewissermaßen unterwirft, mithin um das materiale Letztziel. Die Gerichtetheit auf ein bestimmtes Letztziel, an dem sich das individuelle Handeln im Ganzen orientiert bzw. das diesem eine Gesamtrichtung verleiht, kann demnach als das oberste Interesse eines Menschen bezeichnet werden. Da jener eine prakti46 J. Rawls, A Theory of Justice, New Haven (Massachusetts) 1971; dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. v. H. Vetter, Frankfurt a.M. 1979, S. 447. 47 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus­ gabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 5, München / New York 1980, § 19, S. 32. 66

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sehe Gedanke des Letztzieles im Kontext sodann das ganze übrige Denken bestimmt und dabei aufgrund des »Affekt[s] des Commando's«48 wesentlieh zur Leidensehaft wird, lässt sieh das oberste In­ teresse im Hinbliek auf die obige Formel von Nietzsehe mit dem Behaupten eines Lebenssinnes gleiehsetzen: was - etymologiseh betraehtet - dureh den ursprügliehen Wortinhalt von Sinn nahegelegt wird. Im Althoehdeutsehen »[...] steht das Substantiv neben dem starken Verb ahd. sinnan >reisen, sieh begeben, traehten naeh< [...]«49. Der Begriff des Sinns gehört zu den Begriffen der Relation: Dureh den Sinn wird ein teleologiseher Fixpunkt markiert, von dem aus der Menseh die Welt zu ordnen vermag und in dieser Ordnung sehließlieh ein Verhältnis zu sieh selber gewinnt. Wie Volker Ger­ hardt in seinem Aufsatz Über den Sinn des Lebens ausführt, ist Sinn jene Kategorie, auf der jede Form der Aneignung von Welt und Selbst gründet. »Sinn ist die aktive Form der Ersehließung unserer inneren Welt, ohne die kein Ereignis der äußeren Welt jemals sinn­ voll oder sinnlos erseheinen könnte. Dureh, mit und im Sinn sehaffen wir uns die jedem mögliehen Verstehen vorausliegenden Einheiten unserer Welt. Und nur sofern es uns gelingt, unser Erleben in solehen Einheiten zu fassen, sind wir selbst in der Lage, uns ihnen ge­ genüber als Einheit zu verstehen.«50 Der Sinn erhellt gleiehsam wie das Seheinwerferlieht perspektivisehe Kegelräume, in deren Lieht wir Aussehnitte der Welt wahrnehmen und in deren Reflex wir uns sel­ ber erkennen. »Folglieh ist der Sinn die basale Grundeinheit unseres Selbst- und Weltverständnisses überhaupt.«51 Ohne Sinn als leidensehaftlieh behaupteten Endzweek gibt es kein Verstehen, versehwin­ det die Welt für uns in einem Dunkel. Und wo das blinde Tappen die einzige Form der Selbsterkenntnis bleiben muss, werden wir uns sel­ ber zu einer rätselhaften, bloßen Kontur, die sieh selbst nieht mehr verstehen kann und letztlieh zum Handeln unfähig wird. Denn »[...] de[r] begrifflieh erfaßte [...] Sinn [...] ist das Medium, in dem wir uns selbst auf bewußte Ziele konzentrieren [,..].«52 Dabei ergibt 48 Ebenda. 49 F. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., Berlin /New York 1989, S. 673. 50 V. Gerhardt, Über den Sinn des Lebens, in: Zeitschrift für Philosophische Praxis, 1. Jg., 1994, Heft 2, S. 26. 51 Ebenda. 52 Ebenda, S. 27.

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sich für den Menschen sein Sinn oder sein letztes Ziel als jener lei­ denschaftlich verfolgte eine Lehensgedanke nicht im bloßen Hin­ schauen auf die Welt, sondern umgekehrt: Jeder Einzelne muss den Sinn selber in die Welt hineinprojizieren. »Ein Sinn kommt immer erst durch den Menschen hinein.«53 Gleichwohl beruht Sinn nicht auf Beliebigkeit, resultiert nicht als Produkt des Spiels eines psy­ chischen Zufallsgenerators. Welchen Sinn der Mensch auch immer in die Welt bringt, dieser Sinn oder Endzweck gründet auf den Möglichkeiten menschlicher Natur und beantwortet die Frage nach dem Wozu mit Blick auf die ganze Geschichte der menschlichen Kul­ tur. »Da wir Menschen [...] stets in menschliche Gemeinschaften hineingeboren und in ihnen erzogen werden, übernehmen wir in Sprechen, Denken und Handeln den darin seit Jahrtausenden inves­ tierten Sinn. [...] Dieser Sinn trägt uns bis in unser individuelles Selbstverständnis hinein, und er ruht auf einem unausdenkbaren Fundament natürlicher und geschichtlicher Bedingungen.«54 In der Bedeutung des Lebenssinns soll in der Folge jener Orientierungs­ punkt verstanden werden, an dem sich das oberste Interesse festhält. Sinn als Letztziel bildet den inhaltlichen Fluchtpunkt des obersten Interesses, mit Blick auf den der Mensch sein Glück sucht. Das zweite Moment des Interessenbegriffes, den ich hier verwenden möchte, bildet diese Letztaustrichtung verstanden als ein Trachten nach dem Sinn des Lebens. Die Interessen eines Menschen sind keine Nebensächlichkeiten, welche beispielsweise bei Prominenten die biographischen Angaben in den Illustriertenkolumnen ergänzen mögen, man hat nicht Inte­ ressen in der Weise, wie man gegebenenfalls Hobbys betreibt. Viel­ mehr bin ich selber wesentlich mein Interesse oder meine Interessen, seines Werkes wie auch Georg Herbert Mead im »Teil III Identität«55 56 Geist, Identität und Gesellschaft herausstreicht: »Wir sind ganz ent­ scheidend mit unseren eigenen Interessen identifiziert. Man besteht aus seinen eigenen Interessen; [...].«“ Entsprechend jenen Prozes­ sen, durch welche man zum Erfassen seines individuellen Lebens­ 53 Ebenda. 54 Ebenda, S. 29. 55 G. H. Mead, Mind, Self and Society (from the Standpoint of a Social Behaviorist), hg. v. C. W. Morris, Chicago / London 1963; dt.: Geist, Identität und Gesellschaft (aus der Sicht des Sozialbehaviorismus), hg. v. C. W. Morris, Frankfurt a.M. 1975, S. 177— 271. 56 Ebenda, S. 437. 68

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sinns kommt, gelangt man zur Setzung seiner eigenen Identität. In der Begegnung mit der Gesellschaft und der Kultur entwickelt und bestimmt der einzelne Mensch zunächst seine eigenen Interessen. (Diese Herausbildung der eigenen Interessen umfasst vielfältige, komplexe Prozesse, deren Klärung nicht nur ein Gegenstand psycho­ logischer und soziologischer Studien darstellt, sondern auch einen Streitpunkt der aktuellen Auseinandersetzung zwischen den An­ schauungen des Liberalismus und des Kommunitarismus bildet: was an dieser Stelle nicht näher erörtert werden soll.) In einem weiteren Schritt wird der Mensch sich daraufhin der Spezifität und Eigen­ tümlichkeit der individuellen Interessen gewahr und schafft sich da­ mit allererst eine Identität. »Somit können wir uns eine absolut so­ litäre Identität vorstellen, nicht aber eine Identität, die außerhalb der gesellschaftlichen Erfahrung erwächst.«57 Die Bewegung des Auslan­ gens nach einem Gut nun definiert das Interesse, das ich bin, wo­ durch die reflexive Struktur der Identität verdeutlicht wird. »Bei Identität kann es sich sowohl um ein Subjekt als auch um ein Objekt handeln.«58 Oberstes Interesse bedeutet demnach insgesamt das Aus­ langen nach einem durch die Vernunft erkannten Lebenssinn, mit dem wir uns wesentlich identifizieren: Der Radius dieses Auslangens beschreibt den Horizont, innerhalb dessen wir unser Glück suchen. Mit den hier dargelegten Begriffsmomenten der Vernünftigkeit, des Lebenssinns und der Identität ist das oberste Interesse näher de­ finiert. Eine Typologie der Menschen nach ihren obersten Interessen mag von daher eine Art Charakterologie ergeben. Auf dem Feld einer derartigen deskriptiven Bestandsaufnahme fungiert die praktische Philosophie einstweilen lediglich als eine Topographie des seelisch­ geistigen »Geschehens«. Als eine solche Typologie erscheint bei Aristoteles die Beschrei­ bung der Lebensformen59, die - je nach dem in ihnen angestrebten Letztziel oder je nach dem verfolgten Interesse - eine unterschiedli­ che Auffassung der eudaimonia beinhalten. Die Lebensformen können schließlich vom Standpunkt der Strebensethik zwar auf­ geklärt und innerhalb ihrer Grenzen optimiert, aber zunächst nicht moralisch bewertet und überschritten werden. Die Frage nach der moralischen Legitimation einer Lebensform gehört zum Aufgaben­ 57 Ebenda, S. 182. 58 Ebenda, S. 178. 59 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch, 3. Kapitel.

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bereich der Sollensethik. Indem die strebensethische Reflexion das Interesse eines Menschen zu erhellen, das Handeln innerhalb einer Lebensform zu optimieren vermag, kommt ein vergleichbarer An­ spruch auf Qualität, auf »Ethizität« in den Blickpunkt, wie er mit dem sollensethischen Begriff der Moralität verbunden wird. Im Folgenden möchte ich nun versuchen, den Zusammenhang zwischen Interesse und Lebensform darzulegen, um dabei einen brauchbaren Begriff der Lebensform zu gewinnen.

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4. Lebensform

Im Anschluss an eine erste Analyse des Glückshegriffes kommt Aris­ toteles im dritten Kapitel des ersten Buches seiner Nikomachischen Ethik auf die Füllung des his dahin rein formalen Glückshegriffes mit inhaltlichen Glückskonzepten zu sprechen. Aristoteles unterscheidet dahei hekannterweise vier hioi hzw. Lehensformen. Entsprechend dem jeweiligen höchsten Gut, das die Menschen als Glücksgaranten sehen, strehen sie nach Lust, nach Ehre, nach Geld oder nach Wissen. Diese unterschiedlichen Letztziele formen das Lehen eines Menschen auf je eigentümliche Weise. Nach Aristoteles hahen die Menschen schließlich die Wahl, auf welche dieser Lehensformen sie hei ihrer Suche nach dem Glück setzen möchten. Während eine jede Lehens­ form zunächst im Rahmen der Strehensethik den Sinnhorizont des individuellen Lehens heschreiht, geht es Aristoteles daraufhin darum, den einen sittlichen hios resp. die sittlichen Lehensformen aus­ zuzeichnen oder unter den faktischen Letztzielen der Menschen das­ jenige zu eruieren, welches die Bestimmung des Menschen ausmacht. In diesem Kapitel möchte ich einen Begriff der Lehensform entfalten, der als Folie für eine vergleichende »Zusammenschau« der ethischen Konzepte dienen kann. Lehensform steht dahei zunächst ganz neutral für das inhaltliche Glücks- oder Sinnkonzept einer speziellen Strehensethik. Dieser Begriff der Lehensform verhält sich zunächst zur Strehensethik wie der Begriff der Moral zur Sollensethik. Die jewei­ ligen Lehensformen werden dahei durch die Interessen der Menschen hegründet. In seinem Beitrag zu einem Ethik-»Grundkurs« hestimmt Ekke­ hard Martens den Begriff der Lehensform zunächst allgemein als »die Art und Weise, wie jemand leht«1. Um die verschiedenen Be­ griffsprägungen, wie sie in der Geschichte der Philosophie getätigt worden sind, klar voneinander unterscheiden zu können, führt er daraufhin die differenzierenden Bedeutungsmerkmale »deskriptiv­ 1 E. Martens, Lehensformen, in: H. Hastedt / E. Martens (Hg.), Ethik. Ein Grundkurs, Reinhek 1994, S. 215.

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normativ« sowie »singularisch-pluralistisch« ein. »Kombiniert man die beiden Bedeutungspaare deskriptiv-normativ und eine-viele bzw. partikularistisch-universalistisch miteinander, ergeben sich insge­ samt vier Lebensformtypen.«2 »Lebensform«, verstanden als ein Be­ griff der Beschreibung, welcher nur im Singular verwendet werden kann, bezieht sich auf eine »deskriptive Phänomenologie der einen menschlichen Natur oder Kultur«3. Der im Plural gebrauchte, de­ skriptive Terminus der Lebensform findet seine Anwendung im Be­ reich der Bestandsaufnahme und »typologisierende[n] Analyse der vielen Kulturen«4. Der singularisch aufgefasste, normative Begriff hingegen unterstellt, dass es eine gewisse Lebensform gebe, die der Mensch als seine Bestimmung anstreben solle.5 Das Paradigma für diesen nach Martens vormodernen Lebensformtypus bildet die Auf­ fassung vom einen guten Leben bei Sokrates. Charakteristisch für die Moderne ist gemäß Martens der partikularistische, normative Le­ bensformbegriff, wie er bereits der Philosophie von Montaigne zu­ grunde liegt. Das Anliegen dieses Typus besteht in einer »Rechtfer­ tigung der vielen Traditionen oder Kulturen«6. Im Weiteren hält Martens das Konzept einer »Philosophie über Lebensform[en]« und dasjenige einer »Philosophie als Lebensfor­ men]«7 auseinander. Aufgrund dieser dritten Unterscheidung ge­ winnt er sodann ein Raster von insgesamt acht terminologischen Le­ bensformtypen. Mit den Bedeutungsmerkmalen einer »Philosophie als Lebensform« bzw. einer Lebensform, die wesentlich von philoso­ phischer Reflexion geprägt ist, und einer »Philosophie über Lebens­ form« oder einer Lebensform, die von der Philosophie gewisserma­ ßen von außen betrachtet und analysiert wird, spielt Martens auf eine Differenz im Selbstverständnis der verschiedenen Philosophen an, die den antiken Denkern noch fremd ist. Antike Philosophie ist durchgehend eine »Philosophie als Lebensform«, wie etwa Werner Jaeger konstatiert: »[D]ie griechischen Denker [...] begriffen Phi­ losophie nicht nur als ein Ganzes abstrakter Lehren und Ideen, son­ dern als ßtoc;, wie es im Griechischen heißt, d. h. als eine Form des

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Ebenda, S. 217. Ebenda. Ebenda. Vgl. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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Lebens.«8 In neuester Zeit hat vor allem Pierre Hadot das Konzept einer »Philosophie als Lebensform« wieder fruchtbar zu machen ver­ sucht: »Die antike Philosophie schlägt dem Menschen eine Lebens­ form vor, die moderne Philosophie dagegen stellt sich vor allem als Konstruktion einer technischen Sprache dar, die Spezialisten Vor­ behalten bleibt.«9 Da es in diesem Zusammenhang vornehmlich um einen Unterschied im Philosophieverständnis und weniger um einen Unterschied in Bezug auf den Begriff der Lebensform geht, werde ich im Folgenden diese zuletzt genannte Unterscheidung bei Martens vernachlässigen und allein die für meine Zwecke äußerst brauch­ baren Bedeutungsmerkmale von Lebensformen »singularisch-pluralistisch« sowie »deskriptiv-normativ« aufgreifen. Der Begriff der Lebensform in einer singularischen, deskripti­ ven Bedeutung bezieht sich auf die Lebensweise des Menschen als eines Menschen. Die so aufgefasste »Lebensform« wird im Bereich der Anthropologie gelegentlich als ein Grundbegriff verwendet - sei es einer vor allem biologisch orientierten Anthropologie oder der philosophischen Anthropologie. Einen entsprechenden biologisti­ schen Lebensformbegriff findet man etwa bei Paul Häberlin.10 Dem­ gegenüber verwendet zum Beispiel Martha C. Nussbaum den Begriff der Lebensform in einer philosophisch-anthropologischen Weise. Sie möchte unter »Lebensform« all diejenigen »Eigenschaften [...] [zu­ sammenfassen], von denen man annimmt, daß sie an jedem beliebi­ gen Ort ein Leben zu einem menschlichen Leben machen«11. Unter dem pluralistischen, deskriptiven Lebensformbegriff fasst Martens einen Typus, der im Zusammenhang der Kulturphilosophie gewissermaßen die Vielzahl der menschlichen Kulturen als unter­ schiedliche Formen des Lebens und Zusammenlebens erschließt. In dieser Weise wird der Begriff etwa von Johan Huizinga in dessen Studie Herbst des Mittelalters12 oder von Arthur Erwin Imhof in8 9 10 11 12 8 W. Jaeger, Die Griechen und das philosophische Lebensideal, in: Zeitschrift für phi­ losophische Forschung, 11. Jg., 1957, S. 481. 9 P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991, S. 173. 10 Vgl. P. Häberlin, Leben und Lebensform. Prolegomena zu einer universalen Biologie, Basel / Stuttgart 1957. 11 M. Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus, in: M. Brumlik u. H. Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993, S. 333. 12 Vgl. J. Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, München 1931.

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dessen kulturgeschichtlichen Arbeit Die verlorenen Welten13 ge­ braucht. In einer ebenfalls pluralistischen und deskriptiven Weise verwendet ferner Arno Borst den Begriff in seinem Werk Lebensfor­ men im Mittelalter, allerdings begreift Borst unter Lebensformen spezifischere Formungen des Lebens. Nach Borst bezeichnen Lebens­ formen »geschichtlich eingeübte soziale Verhaltensweisen«14, welche »weder von der Natur oder Gott noch von menschlichem Bewußtsein oder Willen geschaffen sind und trotzdem das Zusammenleben von Menschen gestalten«15; als Beispiele führt er an: »Freundschaft, Ehe, Familie, [...] Stadtstaat, Volk, [...] Gefälligkeit, Erinnerung; Hinter­ list, Rechtsstreit, Krieg; Weinen, Sprechen, Bücherschreiben«16. Ähnlich geht es schon Wilhelm Wundt bei der Prägung seines Be­ griffs der Lebensform nicht um die jeweilige Gesamtform eines Le­ bens, sondern um die vielen nach Wundt willkürlichen Formgebun­ gen der Menschen, worunter er erstens die Gewohnheiten, zweitens die Bräuche als soziale Gewohnheiten und drittens die Sitten als nor­ mative Bräuche zählt.17 In einem gleichfalls pluralistischen und de­ skriptiven, obzwar eigentümlichen Sinne bestimmt schließlich Al­ fred Schütz den Begriff der Lebensform: »Unter Lebensform ist [...] die Einstellung des Ichbewußtseins zur Welt gemeint.«18 Schütz be­ schreibt fünf solcher Weltverhältnisse des Ich: »das gedächtnisbegab­ te Ich«19, »das handelnde Ich«20, »das dubezogene Ich«21, »das spre­ chende Ich«22 sowie »das denkende Ich«23. Im Gegensatz zu den Definitionen bei Borst, Wundt und Schütz werde ich im Folgenden einen Lebensformbegriff entwickeln und verwenden, der sich zwar auf eine Pluralität von Lebensformen abstützt, sich indessen im Sin­ ne von Martens jedoch jeweils auf die Gestaltung eines Lebens als 13 Vgl. A. E. Imhof, Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren - und weshalb wir uns heute so schwer damit tun München 1984. 14 A. Borst, Lebensformen im Mittelalter, 13. Aufl., Frankfurt a. M. / Berlin 1993, S. 14. 15 Ebenda. 16 Ebenda. 17 Vgl. W. Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Bd. 1, 4. Aufl., Stuttgart 1912, S. 138. 18 A. Schütz, Theorie der Lebensformen. (Frühe Manuskripte aus der Bergson-Periode), hg. v. I. Srubar, Frankfurt a.M. 1981, S. 110. 19 Ebenda. 20 Ebenda, S. 111. 21 Ebenda. 22 Ebenda. 23 Ebenda.

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Ganzen und nicht auf partikulare Formgebungen bezieht. Das Ziel im Kontext einer »Zusammenschau« der ethischen Konzepte ist da­ bei letztlich die Beschreibung und Analyse von als moralisch behaup­ teten Lebensformen. Nach Friedrich Kambartel besteht eine Lebensform primär in einer Art »Orientierung [...], welche alle unsere Lebenssituationen und Lebensverhältnisse durchzieht; welche immer zur Anwendung kommt oder doch immer zur Anwendung kommen kann«24. Entspre­ chende angewandte Orientierungen haben den Charakter von ganz bestimmten »Einstellungen zum Leben«25. Das Wesentliche an die­ sen Einstellungen ist dabei, dass sie »sich im Ganzen der Lebenspra­ xis ausdrücken«26. Die Lebensform als angewandte Orientierung spiegelt sich in sämtlichen gestalteten Lebensumständen wider: Sie ermöglicht eine abgestimmte Antwort auf die disparate Fülle von Eindrücken, Gegebenheiten und Anforderungen im Leben des Ein­ zelnen; sie schafft Ordnung und Übersicht und strukturiert und ver­ einheitlicht das gesamte Denken und Handeln des Subjekts. Von da­ her repräsentiert eine spezifische Lebensform genauer - wie Lutz Wingert es formuliert - »ein Ensemble von Praktiken und Orientie­ rungen«27, eine Ganzheit von Künsten, Techniken und Verstehens­ vorgaben. Einige dieser »Praktiken und Orientierungen«, deren Ge­ meinsamkeit die eine Grundeinstellung bildet, auf der sie aufbauen und die sie realisieren, leiten das Subjekt bei der Tätigkeit des Wahr­ nehmens, des Erkennens und des Sich-über-die-Welt-verständigens an, andere beim Handeln und beim Zusammenleben mit anderen Menschen. Kambartels Begriffsauffassung und Wingerts Anschau­ ung decken sich dabei weitgehend auch mit jener von Ludger Honnefelder: »Was ich unter >Lebensform< verstehen möchte, [.] sind [.] jene konkreten inhaltlichen Deutungs- und Orientierungsmuster, in denen sich eine gegebene gesellschaftliche Gruppe bewegt und inner­ halb deren diese Gruppe wie das einzelne Mitglied seine primäre Welt- und Daseinsauslegung wie seine Handlungsorientierung ge­

24 F. Kambartel, Begründungen und Lebensformen. Zur Kritik des ethischen Pluralis­ mus, in: ders., Philosophie der humanen Welt. Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1989, S. 47. 25 Ebenda. 26 Ebenda, S. 53. 27 L. Wingert, Gemeinsinn und Moral. Grundzüge einer intersubjektivistischen Moral­ konzeption, Frankfurt a.M. 1993, S. 174.

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winnt.«28 Die so aufgefasste Lebensform stellt mithin zum einen in praktischer Hinsicht - wie Thomas Nagel schreibt - den Boden dar, »in welche[m] Werte und Rechtfertigungen verwurzelt sind«29: die Grundlage für jedes sinnvolle Handeln. In theoretischer Hinsicht gibt sie »einen Horizont und einen Ermöglichungs- und Hinderungs­ grund für«30 jeden Prozess des Begreifens und der Interpretation, für jedes Selbst- und Weltverhältnis eines Subjekts, für jede Möglichkeit der Kommunikation. Die jeweilige Grundeinstellung einer Lebens­ form schließlich verweist auf ein spezifisches Lebensziel, welches als ein nicht mehr weiter hinterfragbares Letztziel im Interesse des In­ dividuums geborgen liegt. Die Interessen der Menschen bestimmen die Inhalte der Lebensformen. »Die Inhalte [der] Lebensformen sind dabei selbstverständlich verschieden. Sie sind abhängig von räumli­ chen, zeitlichen und sozialen Lebensbedingungen, abhängig auch von dem, was Menschen bei der Ausbildung und Sicherung ihrer per­ sonalen und sozialen Identität für notwendig und wünschenswert halten.«31 Wenngleich der hier dargelegte Lebensformbegriff - von einer Metaebene aus gesehen - lediglich in einem deskriptiven Sinne verwendet wird - zur Vergleichung von faktisch vorfindbaren und von philosophisch vertretenen Lebensfomen -, beinhaltet die jewei­ lige Lebensform von ihrem eigenen Standpunkt aus vor allem auch normative Positionen und Geltungsansprüche. Der Gebrauch des Lebensformbegriffs bei Kambartel, Wingert und Honnefelder scheint von Ludwig Wittgenstein inspiriert zu sein. In Wittgensteins Werk nimmt der Lebensformbegriff einen ganz be­ sonderen Stellenwert ein; gleichwohl erörtert Wittgenstein an keiner einzigen Stelle genauer, wie er denn diesen Begriff verstanden wissen will, dessen Verwendung unter den Wittgenstein-Interpreten auch nach wie vor zu diversen Diskussionen Anlass gibt.32 Eine überzeu­ 28 L. Honnefelder, Die Krise der sittlichen Lebensform als Problem der philosophischen Ethik. Eine Einführung, in: ders., Sittliche Lebensform und praktische Vernunft, Pader­ born / München / Wien / Zürich 1992, S. 16. 29 Th. Nagel, Der Blick von nirgendwo, übers. v. M. Gebauer, Frankfurt a.M. 1992, S. 321f. 30 L. Wingert, a.a.O., S. 175. 31 W. Oelmüller / R. Dölle / R. Piepmeier (Hg.), Diskurs: Sittliche Lebensformen. Phi­ losophische Arbeitsbücher 2, 2. Aufl., Paderborn 1980, S. 30. 32 Vgl. J. F. M. Hunter, »Forms of Life« in Wittgenstein's Philosophical Investigations, in: Essays on Wittgenstein, hg. v. E. D. Klemke, Urbana / Chicago / London 1971, S. 273-297 u. R. Fischer, Sprache und Lebensform. Wittgenstein über Freud und die Geisteskrankheit, 2. Aufl., Heidelberg 1991, S. 38-60.

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gende Deutung der wittgensteinschen Begriffsauffassung legt Hans Rudi Fischer in seiner Arbeit Sprache und Lebensform vor. Entgegen der inzwischen allgemein verbreiteten Ansicht von Allan S. Janik und Stephen Toulmin, dass Wittgenstein den Lebens­ formbegriff ursprünglich von Eduard Spranger übernommen habe, versucht Fischer zunächst zu zeigen, dass Wittgensteins Begriffs­ quelle eher bei Wilhelm Wundt, allenfalls bei Oswald Spengler oder gar bei Otto Neurath zu suchen ist. Unbehindert durch die Tatsache, dass Wittgenstein seinen Lebensformbegriff vielleicht - wie zum Beispiel Wundt - in einem partikularistischeren Sinne gemeint hat, gelten seine Schlussfolgerungen jedoch auch für die Lebensformen in einer umfassenderen, d. h., der hier intendierten Bedeutung. In Bezug auf die Begriffsbestimmung bei Wittgenstein nun dreht sich die oben angesprochene Fachdiskussion vor allem um eine der insgesamt etwa fünf Textstellen33, welche sich in den Philosophi­ schen Untersuchungen finden. Im Paragraphen 19 kommt Wittgen­ stein auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Lebensform zu sprechen: »Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.«34 Im Kontext dieses Paragraphen identifizieren einige der Interpreten die Lebensform in einer singularischen Bedeutung mit der Sprache überhaupt oder dann in einem pluralistischen Sinne die Lebensformen mit den Einzelsprachen; andere Wittgenstein-Exegeten setzen die Lebensformen mit den Sprachspielen gleich. Fischer macht zuerst deutlich, dass mittels solcher Identifika­ tionen kein konsistentes Verständnis der Begriffsverwendung bei Wittgenstein zu gewinnen ist, und betont seinerseits das, was er den »Horizontcharakter der Lebensform«35 nennt. »Die Rede von Le­ bensformen fungiert als Verweis auf ein außersprachliches, nichthintergehbares Fundament von Sprache, das als formaler Horizont von Kommunikation eine transzendentale Funktion erfüllt.«36 Bei seinen Ausführungen bezieht sich Fischer u. a. auch auf die zweite vieldiskutierte Stelle aus den Philosophischen Untersuchungen, wo Wittgenstein im Paragraphen 241 schreibt: »>So sagst du also, daß die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was 33 Vgl. J. F. M. Hunter, a.a.O., S. 273. 34 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus; Tagebücher 1914-1916; Philosophi­ sche Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984, S. 246. 35 R. Fischer, a.a.O., S. 45. 36 Ebenda, S. 50.

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falsch ist?< — Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstim­ mung der Meinungen, sondern der Lebensform.«37 Nach Fischer be­ zeichnen die Lebensformen im Rahmen des wittgensteinschen Kon­ zeptes allein »das pragmatische Fundament von Sprache«38, d. h., »das theoretisch uneinholbare und deshalb nicht erklärbare Fundament der Sprache«39. Mit Bezug auf das Bild vom Gesicht und vom Ge­ sichtsausdruck, welches Wittgenstein gebraucht: »(Wie es keinen Gesichtsausdruck gibt ohne Gesicht.)«40, versucht Fischer schließlich, den Voraussetzungscharakter der Lebensformen zu veranschauli­ chen. »Das Gesicht (Lebensform) ist Fundament und Horizont aller möglichen Gesichtsausdrücke (Sprache/Sprachspiele), und insofern macht die Analogie auf eine apriorische Bedingung von Sprache auf­ merksam.«41 Als »apriorische Bedingung« der Möglichkeit jeder Sprache und jedes Sprachspieles bilden die Lebensformen den ledig­ lich pragmatisch verfügbaren, dem Blickwinkel der Theorie verstell­ ten Letztgrund aller Weisen menschlicher »Übereinstimmung«. Der Voraussetzungscharakter der Lebensform in Wittgensteins Philosophie bezieht sich nach Fischer indessen nicht allein unmittel­ bar auf die »Übereinstimmung in der Sprache«: Jeder Vorgang des Verstehens zwischen zwei Menschen basiert auf der Grundlage einer gemeinsamen Lebensform. »Verstehen ist kein Gefühl, sondern die Fähigkeit und Möglichkeit der Partizipation an einer Lebensform.«42 Nur Menschen, die eine Lebensform teilen, können im Horizont die­ ser Lebensform gegenseitig ihre Gefühle und Gedanken nachvollzie­ hen, denn auch lediglich aufgrund der geteilten Lebensform konsti­ tuiert sich ferner für sie etwa eine »Übereinstimmung« in der Logik. »Die Übereinstimmung der Menschen, die eine Voraussetzung des Phänomens der Logik ist, ist nicht eine Übereinstimmung der Mei­ nungen, geschweige denn von Meinungen über die Fragen der Logik.«43 Der Voraussetzungscharakter der Lebensform erweist sich 37 L. Wittgenstein, a.a.O., S. 356. 38 R. Fischer, a.a.O., S. 50. 39 Ebenda. 40 L. Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: Werkaus­ gabe, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1984, S. 414. 41 R. Fischer, a.a.O., S. 55. 42 Ebenda, S. 58. 43 L. Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: Werkaus­ gabe, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1984, S. 353.

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bei Wittgenstein als absolut: Selbst die Divergenz der verschiedenen Theorien innerhalb der einzelnen philosophischen Disziplinen lässt sich auf die Vielfalt der Lebensformen zurückführen! »Um zur Klar­ heit über ästhetische Ausdrücke zu kommen, muß man Lebens­ formen beschreiben.«44 In der Fortführung des Wittgensteinschen Gedankens und in der Konsequenz der Begriffsauffassungen von Kambartel, Wingert und Honnefelder kann soweit festgehalten wer­ den, dass sich - entsprechend der jeweiligen »Grundeinstellung zum Leben« bzw. entsprechend der im theoretischen und im praktischen Bereich zum Tragen kommenden Orientierung - im Raume jeder Lebensform gewissermaßen eine eigene Erkenntnistheorie, eine ei­ gene Kunsttheorie, eine eigene Weise der Religion und ein eigenes ethisches Konzept etc. entfalten lässt, was im nächsten Kapitel im Rahmen einer Phänomenologie der Lebensformen vor allem in Be­ zug auf die Ethik noch verdeutlicht werden soll. Das Charakteristi­ kum, dass nämlich die unterschiedlichen Lebensformen differierende Suppositionen zu verschiedenen philosophischen Theorien und Kon­ zepten bilden, macht schließlich ein wesentliches Moment des hier vorgeschlagenen Begriffs der Lebensform aus. Im Hinblick auf die »Zusammenschau« der Ethiken ist dabei zunächst von Bedeutung, dass jede Lebensform als »Grundeinstel­ lung zum Leben« ein strebensethisches Konzept beinhaltet, wie etwa auch Martin Seel klarstellt. »Was die Angehörigen einer Lebensform teilen, ist immer ein Ethos im klassischen Sinn des Worts - ein Ha­ bitus der Lebensführung [,..].«45 Dadurch, dass sich jede Lebensform grundsätzlich stets auch auf eine Handlungsgemeinschaft von Gleichgesinnten beziehen lässt, eignet diesem Ethos aber zugleich auch der sollensethische Beigeschmack einer spezifischen Verbind­ lichkeit an. »Lebensformen sind Gebilde, die eine Moral haben.«46 Bedenkt man nun den Umstand, dass die Lebensformen kulturüber­ schreitend sind, wie Wolfgang Welsch in seinem Aufsatz Transkulturalität hervorhebt: »Gleichartige Lebensformen durchziehen die Kulturen und Nationen quasi unmodifiziert«47, dann erkennt man 44 Ders., Vorlesungen und Gespräche überÄsthetik, Psychologie und Religion, 2. Aufl., Göttingen 1971, S. 32. 45 M. Seel, Ethik und Lebensformen, in: M. Brumlik u. H. Brunkhorst (Hg.): Gemein­ schaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1993, S. 246. 46 Ebenda, S. 244. 47 W. Welsch, Transkulturalität. Lebensformen nach Auflösung der Kulturen, in: Infor­ mation Philosophie, 1992, Heft 2, S. 11.

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sogleich ein ganzes Feld vorprogrammierter Konflikte innerhalb der Kulturen und Gesellschaften. Die teilweise divergierenden mora­ lischen Geltungsansprüche der verschiedenen Lebensformen in einer Kultur oder in einer Gesellschaft tragen für gewöhnlich einen immer wieder von neuem aufflammenden Streit über die richtige Moral aus. Das Bewusstsein der Teilhaber an einer Lebensform, nur eine unter vielen anderen gleichwertigen Lebensformen zu realisieren, erachtet nun zwar Seel - ähnlich wie schon Martens - als ein Signum der modernen Lebensformen: »Menschliche Lebensformen stehen alter­ nativ zueinander [...]. [...] Moderne Lebensformen sind durch eine kontinuierliche Koexistenz und Konfrontation mit anderen Lebens­ formen gekennzeichnet. [...] Dezidiert modern sind erst diejenigen Lebensformen, in denen die Erfahrung der Nicht-Alternativlosigkeit ihrer eigenen Existenzform zur alltäglichen Erfahrung prinzipiell al­ ler ihrer Mitglieder gehört [,..].«48 Als »Gemeinsamkeiten] des Ver­ haltens und sittlichen Urteils«49 oder als »Kulturen gemeinschaftli­ chen Handelns«50 laufen die modernen Lebensformen indessen gleichwohl Gefahr, ihre eigene Moral für die einzig richtige Moral auszugeben. Vergleichbar damit sehen auch die Ethiker in der Folge die auf ihrer eigenen Grundeinstellung basierende Ethik als die ein­ zig richtige Ethik an. Die leitenden Fragen bei einer kritischen »Zu­ sammenschau« der Ethikentwürfe werden von daher lauten müssen, wie eine Lebensform - zunächst als eine Konkretisation eines strebensethischen Konzeptes - erstens den Schritt hin zu sollensethischen Geltungsansprüchen vollzieht und begründet und inwiefern die betreffende Lebensform zweitens die Existenz anderer Lebensfor­ men als gleichwertige Alternativen mitberücksichtigt. Wie bereits angedeutet, sollen die einzelnen ethischen Konzepte im Rahmen einer Phänomenologie der als moralisch behaupteten Lebensformen dargestellt und erörtert werden. Dieses Unternehmen, welches die jeweiligen Übergänge von den strebensethischen Emp­ fehlungen zu den sollensethischen Forderungen betrachten möchte, sieht sich allerdings mit der Schwierigkeit konfrontiert, welche sich aus einer weitgehenden strebensethischen Abstinenz der neuzeitli­ chen Philosophie ergibt: Die Frage nach der Manifestation einer Le­ 48 M. Seel, a.a.O., S. 247. 49 W. Flitner, Die Geschichte der abendländischen Lebensformen, Paderborn / München / Wien / Zürich 1990, S. 81. 50 M. Seel, a.a.O., S. 245.

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bensform als eines strebensethischen Konzeptes kann nicht mehr durchgehend rein aufgrund von philosophischen Quellen beantwor­ tet werden. Einen erweiterten Zugang zur strebensethischen »Frage, >wie wir leben könnem«51, findet die Phänomenologie der Lebensfor­ men allerdings - worauf auch Wilhelm Kamlah hinweist - im Be­ reich der Literatur: »Erstens durchherrscht die Problematik des Le­ ben-könnens weithin die moderne Literatur, den Roman, das Drama, das Fernsehspiel. [...] Die Literatur ist heute [...] vielfach philosophi­ scher als die Zunftphilosophie, und der Schriftsteller wird mehr be­ achtet als der Philosophieprofessor [,..].«52 Ein zusätzliches Feld, auf dem sich die Phänomenologie der Lebensformen gelegentlich unter­ richten mag, ist neben - was die Philosophie anbelangt: traditions­ gemäß - der Alltagssprache in unserer Zeit neuerdings die Werbung und ganz allgemein das, was uns die Medien darbieten: »Nun werden uns von allen Seiten, wenn auch nicht von der Philosophie, Mittel angeboten, die uns dem gelingenden Leben näher bringen sollen. Die Reklame läßt durchblicken, welchen Zuwachs an Lebensfreude uns diese Zahnpasta, jene Zigarette, diese Touropareise, jenes Pud­ dingpulver einbringen werden.«53 Die Beschreibung und Analyse einer Lebensform lässt sich dabei zunächst von deren Grundeinstellung, d. h., von dem ihr zugrun­ deliegenden Interesse her angehen. Auf der empirisch-praktischen Ebene kommt die Lebensform sodann vor allem darin zum Ausdruck, »daß sie sich in selbstverständlichen Handlungen zeigt und durch wiederholtes Handeln internalisiert und institutionalisiert ist«54. Für eine betreffende Phänomenologie der Lebensformen, welche sich auf den ethischen Aspekt konzentriert, muss es hier um die Deskrip­ tion gehen von »eingelebten Handlungsmustern, wie der Sitte und der Tugend, aber auch [von] Institutionen, Traditionen, Gebräuchen und Riten ebenso wie [von] Regeln, Gesetzen und Normen«55. Eine wesentliche Frage in diesem Zusammenhang wird nicht nur sein, in welcher Weise die Normen einer Lebensform für deren Teilhaber präsent sind, sondern auch, welches der strebensethische Grund eines Individuums sein mag, sich die betreffende Lebensform anzueignen. 51 W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim / Wien / Zürich 1972, S. 145. 52 Ebenda, S. 146 f. 53 Ebenda, S. 147. 54 W. Oelmüller, a.a.O., S. 30. 55 L. Honnefelder, a.a.O., S. 17.

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Die Begründung von sollensethischen Geltungsansprüchen einer Le­ bensform schließlich wird jeweils unter Rekurs auf unterschiedliche philosophische Vertreter der Lebensform nachvollzogen werden müssen, um einer gewissen Vielfalt innerhalb der Lebensformen ge­ recht zu werden.

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5. Phänomenologie der Lebensformen

»Theorien sind Kurzgeschichten, die man lang erzählt.« (George Steiner)

Herakleides, ein Schüler Platons, überliefert von Pythagoras, dieser habe aufgrund spezifischer Beobachtungen drei Lebensformen oder bioi unterschieden: An den regelmäßig stattfindenden pangriechischen Spielen treffen sich drei verschiedene Typen von Menschen. Erstens kommen die Kämpfer dorthin, um Ehre und Ruhm zu erlan­ gen. Zweitens findet sich an den Spielen eine große Zahl von Händ­ lern ein, welche die Zusammenkunft so vieler Leute dazu nutzen wollen, Geld zu verdienen. Und drittens gibt es dort die Zuschauer, die kein anderes Ziel in ihrem Leben verfolgen als das bloße Schauen: Diesen Zuschauern, welche Pythagoras mit den Philosophen gleich­ setzt, geht es um die Wahrheit.1 Eine ähnliche Dreiteilung der Lebensformen wie jene angebliche bei Pythagoras nimmt auch Platon vor.2 Nach ihm gibt es wiederum drei verschiedene Arten von Menschen: Die einen suchen in ihrem Leben nach Lust und Geld. Andere jagen nach Ruhm und Ehre. Die dritten schließlich versuchen die Wahrheit zu erkennen und Weisheit zu erlangen. Die betreffenden Unterschiede liegen gemäß Platon in den ungleichen Interessen begründet, welche aufgrund einer vor­ geburtlichen Wahl der Menschen selber in deren Seele gelegt wur­ den. Des Weiteren unterscheidet sodann Aristoteles - wie bereits er­ wähnt - ebenfalls ein Leben der sinnlichen Lust, ein Leben, das auf Ehre und Tugend ausgeht, sowie ein Leben des Schauens und der Wahrheit. Eigenartigerweise hält sich die Dreiteilung der Lebensfor­ men beinahe durch die ganze Antike hindurch, obwohl die Ziele der Lust, des Geldes, der Ehre und der Wahrheit offensichtlich vier Le­ 1 Vgl. Cicero, Gespräche in Tusculum, 5. Buch, 9. Kap.; Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Bd. 2, 8. Buch, 8. Kap.; lamblichos, Pythagoras, 12. Buch, 58. Kap. 2 Vgl. Platon, Politeia, 9. Buch, 7. Kapitel.

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Phänomenologie der Lebensformen

bensformen definieren. Während nun nach Herakleides hei Pythago­ ras das Lehen der Lust in der Aufreihung gefehlt haben soll, erkennt Aristoteles seinerseits das Lehen des Gelderwerbs nicht als eine ei­ gentliche Lebensform an. Für Philip Merlan ist im Kontext mit die­ sem kleinen Vergleich zwischen Pythagoras hzw. Herakleides, Platon und Aristoteles vor allem auffallend, dass Platon die beiden Lebens­ ziele der Lust und des Geldverdienens in eine Lebensform zusam­ menfasst. »Es springt wohl in die Augen, daß die Platonische Eintei­ lung die künstlichste ist. Plato zwängt das Genußleben und das Erwerbsleben in eine Kategorie, was er durch die Annahme rechfer­ tigt, daß man Geld nur erwerbe, um sich Genuß zu verschaffen.«3 Was Platon betrifft, so hängt die entsprechende Reduktion auf drei Lebensformen, die sich an der Dreiteilung der Seele orientiert, mei­ ner Vermutung nach nicht zuletzt auch mit der Verdrängung einer spezifischen Form des Ästhetischen zusammen, mit der Verdrängung der Gefühle und des Poetischen - augenfällig an der Verbannung der Dichter aus dem platonischen Idealstaat. Im Hinblick etwa auf Empedokles von Akragas und dessen Lehre von den vier Elementen leuch­ tet die Vierzahl der Lebensformen indessen auch historisch eher ein. Empedokles ordnet den vier Elementen, aus denen nach ihm alle Din­ ge dieser Welt zusammengesetzt sind, zunächst vier Gottheiten zu: Zeus steht für das Feuer, Hera repräsentiert die Erde, Aidoneus die Luft und zuletzt Nestis das Wasser.4 Entsprechend lässt sich in gewis­ ser Weise das tätige Leben, welches nach Ruhm und Ehre trachtet, dem Feuer zuordnen; das Leben des Erwerbs, des Besitzes und des Geldes der Erde; die Luft hingegen hängt mit dem nach Weisheit strebenden Leben zusammen und das Wasser mit dem Leben des Gefühls, des Genusses und der Kunst. Der Bezug der vier Elemente auf vier verschiedene Lebensformen wird bei Empedokles vor allem deutlich im Zusammenhang mit dem »Zyklus der Inkarnation«5, wo von einer »sukzessive[n] Vorherrschaft verschiedener Elemente«6 die Rede ist. Nicht zufällig deutet denn im Übrigen auch Platon an einer Stelle die verschiedenen Stände bzw. Lebensformen zwar nicht mit der Vorherrschaft eines jener Elemente, aber mit dem Übergewicht 3 Ph. Merlan, Zum Problem der drei Lebensarten, in: Philosophisches Jahrbuch, 74. Jg., 1966, S. 218. 4 Vgl. G. S. Kirk / J. E. Raven / M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen. Ein­ führung, Texte und Kommentare, übers. v. K. Hülser, Stuttgart / Weimar 1994, S. 316. 5 Ebenda, S. 346f. 6 Ebenda, S. 347.

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Die ästhetische Lebensform

von unterschiedlichen Metallen.7 Aufgrund der Plausibilität einer Aufteilung in vier Lebensformen in der Antike möchte ich zunächst an der Vierzahl der Lebensformen festhalten und damit einer gewis­ sen Tradition folgen, die über die Philosophie hinaus Gültigkeit er­ langt hat. Die Aufteilung scheint indessen zugegebenermaßen - von der Gegenwart aus gesehen - noch immer reichlich willkürlich. Ins­ gesamt möchte ich folgende Lebensformen genauer betrachten: die ästhetische, die ökonomische, die politische und die theoretische, wo­ bei die ästhetische Lebensform, mit welcher ich beginne, ihrerseits drei unterschiedliche Ausprägungen kennt.

5.1. Die ästhetische Lebensform 5.1.1. Sinnliche Lust Die ursprünglichste ästhetische Lebensform baut auf der Befriedi­ gung der menschlichen Grundbedürfnisse auf und meint ein Leben, welches die sinnliche Lust als sein oberstes Ziel betrachtet und das sinnliche Begehren zum Programm erhebt: »Das Begehrliche näm­ lich nannten wir es wegen der Heftigkeit der auf Speise und Trank und Liebessachen und was hiermit sonst noch zusammenhängt bezüglichen Begierden [.. .].«8 Obwohl alle Menschen aufgrund ihrer Lebensbedingungen einen gewissen Zugang oder gar eine bestimmte Grundneigung zu dieser Lebensform haben, bildet das Leben der Sin­ nenlust seltsamerweise die von den Philosophen insgesamt am meis­ ten kritisierte und diffamierte Lebensform. Im Mittelpunkt der Diffamierungsstrategien steht nicht erst bei Platon der Vergleich mit dem Leben der Tiere: »[...] nach Art des Viehes immer auf den Boden sehend und zur Erde und den Tischen gebückt nähren sie sich und bespringen sich einander auf der Wei­ de [,..].«9 Die an dieser Stelle in Platons Politeia angedeutete Ab­ wärtsbewegung erhält ihren Sinn aus dem Gesamtzusammenhang der platonischen Philosophie. Wie allem anderen rein Irdischen hängt der sinnlichen Lust das Stigma der Vergänglichkeit an, und 7 Vgl. Platon, Politeia, 415 a ff. 8 Ebenda, 580e. [Zitiert nach der Übers. v. F Schleiermacher, in: Sämtliche Werke, hg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plomböck, Bd. 3, Reinbeckb. Hamburg 1982.] 9 Ebenda, 586a.

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Phänomenologie der Lebensformen

darum ist auch die Lust auf der Wertskala ganz unten, im Bereich des Niederen anzusiedeln. »Die [...] in Schmausereien [...] sich immer pflegen, bewegen sich [.] nach unten hin [.. .].«10 Das wahrhaft Sei­ ende ist indessen allein durch eine Abwärtsbewegung in Richtung auf die ätherische Sphäre hin zu erreichen und als das ewig Währen­ de der vergänglichen Lust des Menschen wesentlich entgegengesetzt. Eine ähnliche Strategie bei der Verurteilung einer vornehmlich der Lust zugewandten Lebensform verfolgt auch Aristoteles: »Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust.«11 Menschen, welche die sinnliche Lust suchen, verraten nach Aristoteles durch die von ihnen gewählte Weise zu leben das eigentliche Humanum: Da fällt auch nicht ins Gewicht, dass es sich immerhin um die Mehrheit der Menschen handelt. »Die große Menge erweist sich als völlig skla­ venartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht.«12 Das Leben des Sin­ nengenusses bedeutet die Negation der eigenen Menschheit, wie Aristoteles im Rahmen eines Gedankenexperimentes noch zu ver­ deutlichen versucht. »Aber selbstverständlich würde auch nicht we­ gen der bloßen Lust des Essens und Trinkens oder des Geschlecht­ lichen, wenn alle andere Lust weg wäre, [...], auch nur ein Mensch dem Leben (vor dem Nichtleben) den Vorzug geben, außer er wäre durch und durch ein Sklave. Denn wer eine solche Wahl träfe, für den wäre es offenbar gleichgültig, ob er ein Tier ist oder ein Mensch.«13 Immerhin ließe sich soweit gegen Aristoteles zumindest einwenden, dass das Bewusstsein des Genießens bereits eine erhebliche Differenz zwischen der Lust des diese als solche wählenden Menschen und je­ ner des Tieres setzt, wie beispielsweise Michel Onfray hervorhebt: »Wissen, daß man genießt - das ist das Merkmal der menschlichen Gattung in ihrem Verhältnis zur Lust.«14 Etwas Bedrohliches scheint für die Menschen und insbesondere für die Philosophen von der sinnlichen Lust auszugehen, wie etwa im Zusammenhang einer Beschreibung der Atmosphäre des Genusses in Lucius Annaeus Senecas Abhandlung De vita beata besonders ein­ 10 Ebenda. 11 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 b 16. [Zitiert nach der Übersetzung von O. Gigon, 6. Aufl., Hamburg 1986.] 12 Ebenda, 1095 b 19-20. 13 Aristoteles, Endemische Ethik, 1215 b 30-36. [Zitiert nach der Übersetzung von F Dirlmeier, Berlin 1984.] 14 M. Onfray, Der sinnliche Philosoph. Über die Kunst des Genießens, übers. v. E. Mol­ denhauer, Frankfurt a.M. / New York 1992, S. 153. 86

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dringlich zum Ausdruck kommt: »Genuß [ist] etwas Niedriges, Knechtisches, Schwaches, Hinfälliges, dessen Platz und Heimstatt Bordelle und Garküchen sind. [...] den Genuß [wirst du finden] sich verborgen haltend des öfteren und den Schatten suchend in der Nähe von Bädern und Saunen und Gegenden, die die Polizei fürchten, weichlich, entnervt, von Wein und Parfüm triefend, bleich oder ge­ schminkt und wie Leichen mit Medikamenten einbalsamiert.«15 Die Verknüpfung der Lust mit dem Epitheton des Niederen, Gefähr­ lichen und Unwerten bildet denn beinahe einen durchgehenden Topos in der Geschichte der Philosophie, so dass sich die Vermutung aufdrängt, die Vertreter eines Lebens der sinnlichen Lust hätten sich bis auf wenige Ausnahmen des Philosophierens enthalten und aus­ schließlich auf ein solches Leben konzentriert. Eine diesbezügliche Ausnahme macht Aristipp von Cyrene, der ein Schüler von Sokrates gewesen ist und das Leben der Lust bzw. den Hedonismus philosophisch vertreten hat. Eine Auseinandersetzung mit den Gedanken von Aristipp wird jedoch durch den Umstand er­ schwert, dass nur wenige einzelne Aussagen von ihm überliefert sind und dass ferner auch die betreffenden Quellen nur bedingt als ver­ lässlich angesehen werden können. Im Gegensatz zu Platon und Aristoteles, die sich offenbar bei ihrer Kritik in gewisser Weise am Lust-Leben auf eine unmittelbar oder unreflektiert ästhetische Lebensform beziehen, gründet der He­ donismus bei Aristipp auf den eingehenden Reflexionen einer skep­ tischen Vernunft.16 »Die Lustlehre Aristipps ist [...] aus ontologi­ schen und erkenntnistheoretischen Wurzeln erwachsen. Die Lust wird einfach darum der Gegenstand unseres ethischen Bemühens, weil sie das einzige ist, was wir mit Sicherheit zu erkennen vermögen.«17 Was Aristipps Hedonismus anbelangt, lässt sich demnach von einer bewussten Wahl der ästhetischen Lebensform sprechen, wel­ cher damit eine spezifische Qualität der Freiheit eignet. 15 Seneca, De vita beata, VII. Kap. [Zitiert nach der Übersetzung von M. Rosenbach, in: Philosophische Schriften, Lateinisch-Deutsch, hg. v. dems., Bd. 2, 3. Aufl., Darmstadt 1989, S. 18f.] 16 Vgl. zum Folgenden etwa auch W. Röd, Der Weg der Philosophie, Bd. 1, München 1994, S. 93-95. 17 O. Gigon, Sokrates. Sein Bild in Dichtung und Geschichte, 2. Aufl., Bern / München 1979, S. 304. - Vgl. auch K. Döring, Der Sokratesschüler Aristipp und die Kyrenaiker, Stuttgart 1988.

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In Übereinstimmung mit den entsprechenden Charakterisie­ rungen eines Lebens der sinnlichen Lust durch Platon und Aristoteles geht es auch Aristipp um »den einzelnen isolierten Augenblick der Lust«18. Das Leben der Sinnenlust zielt auf eine Aneinanderreihung von möglichst vielen Momenten des Genusses, die untereinander durch keine den vergänglichen Augenblick transzendierende Meta­ physik mehr sinnhaft verbunden werden. Das Leben stellt bestenfalls ein von der Vernunft inszeniertes Feuerwerk der Lüste dar, und wenn es abgebrannt ist, hat es seinen Sinn erfüllt. (Diese ästhetische Le­ bensform offenbart sich heute etwa im Rahmen der Redeweise einer ganzen Generation, welche die Welt vermittels zweier Kategorien wahrnimmt: Dinge und Menschen, die »geil« sind, sowie Dinge und Menschen, die dies nicht sind.) Der Maßstab für die Feststellung und Beurteilung der Lust liegt für Aristipp in der von ihm dafür als einzig kompetente Instanz anerkannten subjektiven Empfindung.19 Die Entscheidung, ob ein bestimmter Genuss anzustreben ist oder nicht, bleibt indessen der Vernunft vorbehalten, denn ihr obliegt es, »die möglichen Quantitäten von Lust und Schmerz richtig abzuwägen«20. Indem die Vernunft die gegebenenfalls mit einer Lust verknüpfte Unlust mit der betreffenden Lust verrechnet, die Vermengungen von Lust und Unlust insgesamt analysiert und dabei auch die zeitli­ che Komponente berücksichtigt, mithin jeweils ein entsprechendes Kalkül erstellt, tritt sie des Weiteren als instrumentelle Vernunft in Erscheinung. Im Hinblick nun darauf, dass sowohl bei der Begründung als auch bei der Umsetzung der ästhetischen Lebensform, wie Aristipp sie begreift, Vernunft im Spiele ist, kann also in keiner Weise die Rede davon sein, dass sich der Mensch in einer solcherart reflektier­ ten Lebensform der sinnlichen Lust selber zu einem der Vernunft abschwörenden Sklaven degradiert, wie Aristoteles unterstellt. Im Gegenteil: Es liegt laut Andreas Graeser gar die Vermutung nahe, »daß Aristipp offenbar stets dann bereits von Gefühlen der Unlust und des Verdrusses sprach, wo der Mensch zum Sklaven seiner Be­ gierden wird [,..].«21 Es ist nicht der dumpfe Genuss des Tieres, den 18 O. Gigon, a.a.O., S. 305. 19 Vgl. A. Graeser, Philosophie der Antike 2. Sophistik und Sokratik, Plato und Aristo­ teles, in: W. Röd (Hg.), Geschichte der Philosophie, München 1983, S. 120f. 20 O. Gigon, a.a.O., S. 306. 21 A. Graeser, a.a.O., S. 121f. 88

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Aristipp anstrebt, sondern der von der Vernunft aus Mangel an plau­ siblen Alternativen zum Lebensziel erhobene reflektierte Genuss, auf den hin die Vernunft zudem auch den Weg festlegt, wobei sie sich der subjektiven Empfindung als Kompass bedient. Da sich die Lebensform des sinnlichen Genusses fast ausschließlich auf die subjektiven Empfindungen des Individuums abstützt, ist sie zunächst vornehmlich als ein strebensethisches Konzept aufzufassen; sie beinhaltet allein eine Strategie für das Individuum zur Erlangung seiner eigenen Glückseligkeit und verfügt von ihrem Ansatz her nur über fragmentarische sollensethische Theoreme. Deutlich wird dies etwa auch im Horizont der Philosophie des Epikur, welcher wie Aristipp die Lust zum Letztziel, sozusagen zum eigentlichen Inhalt der Glückseligkeit erklärt.22 Epikur definiert da­ bei die Glückseligkeit als »die Gesundheit des Leibes und die Beruhigtheit der Seele; denn dies ist die Erfüllung des seligen Lebens«23. Nach Epikur lässt sich die Lust als die inhaltliche Komponente der Glückseligkeit folglich primär negativ bestimmen als eine Abwesen­ heit von Schmerz und von Beunruhigung auf Seiten des Individuums bzw. als Gleichmütigkeit, als ataraxia - ein Verständnis der Lust, das unmittelbar auf Platon zurückgeht: »Aber doch, sagte ich, sind we­ nigstens die durch den Leib zur Seele gelangenden und vorzüglich so genannten Lüste, die meisten beinahe und größten, von dieser Art, Erledigungen von Schmerzen.«24 Mithin geht es Epikur nicht um die unmittelbar erlebte, die bewusstlos-rauschhafte Lust, sondern um eine Lebensform der Lust, um ein in der Reflexion genießbares Wohlbefinden. »Wenn wir also sagen, daß die Lust das Lebensziel sei, so meinen wir nicht die Lüste der Wüstlinge und das bloße Genießen, [...] sondern wir verstehen darunter, weder Schmerz im Körper noch Beunruhigung in der Seele zu empfinden.«25 Bereits Seneca verwies in diesem Zusammenhang in seiner Schrift De otio auf den wesent­ lichen Unterschied zwischen der Philosophie des Epikur und jener der vermeintlichen Epikureer und betonte in Bezug auf Epikur die wesentliche Verbindung zwischen dem Genussleben und einer stre22 Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, in: Von der Überwindung der Furcht, übers. v. O. Gigon, 3. Aufl., Zürich / München 1983, S. 100. 23 Ebenda, S. 102. 24 Platon, Politeia, 584c. 25 Epikur, a.a.O., S. 104.

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bensethischen Vernunft. In Epikurs strebensethischem Konzept wird die Lust begrifflich wie schon bei Aristipp von der Vernunft als der Inhalt des Glücks erkannt bzw. als das oberste Ziel installiert und erfüllt auf der Ebene der Empfindung weitgehend eine gewisse Kom­ passfunktion26. Im Weiteren übernimmt die Vernunft die permanen­ te Kontrolle der konkret begegnenden möglichen Ziele und prüft de­ ren Zusammenstimmung mit dem Letztziel, indem sie jeweils den Gewinn an Lust im Sinne der ataraxia überschlägt und ein entspre­ chendes Kalkül erstellt.27 Insgesamt kann man diese epikureische Strebensethik, welche im Übrigen einen bedeutenden Einfluss auf Schopenhauers28 Gedankenwelt ausgeübt hat, heute gewissermaßen auch als eine Art »Ethik der Psychotherapie« auffassen: als ein Glückskonzept ohne spezifische Moral. Im Rahmen einer Lebensform der Lust wird der Hedonismus indessen in aller Regel nicht als eine Theorie über die Bestimmung des Menschen begriffen, sondern er ergibt sich vielmehr lediglich aus dem jeweiligen Menschenbild, wie zum Beispiel anhand von Max Stirners Der Einzige und sein Eigentum gezeigt werden kann. Auch für Stirner steht am Anfang einer strebensethischen Problem­ stellung zunächst die Frage nach dem Wesen des Menschen: »>Was bin Ich?< so fragt sich Jeder von Euch. Ein Abgrund von regel- und gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften, ein Chaos ohne Licht und Leitstern!«29 Für ein in seinem Kern irrationa­ les Sinnenwesen, wie es der Mensch nach Stirners Auffassung dar­ stellt, ist das Letztziel konsequenterweise allein in der Sinnenlust resp. im bloßen Selbstgenuss zu sehen, welcher seinerseits in der Begegnung mit der Welt empfunden wird: »Mein Verkehr mit der Welt besteht darin, daß Ich sie genieße und so sie zu meinem Selbst­ genuß verbrauche.«30 Der Selbstgenuss bildet dabei Stirners Antwort auf jene Herausforderung, die sich für den Menschen aus dem Be­ wusstsein des eigenen Todes ergibt. Einige Menschen sparen sich das Beste im Leben stets für später auf und erleben dann den Zeitpunkt, da sie dieses Beste genießen könnten, vielleicht gar nicht mehr. An­ 26 Vgl. ebenda, S. 103. 27 Vgl. ebenda. 28 Vgl. z. B. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke, hg. v. A. Hübscher, Bd. 1, S. 231. 29 M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, S. 178. 30 Ebenda, S. 358.

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dere erwarten das Beste erst im Jenseits. Aufgrund der Unerkennbar­ keit irgendwelcher transzendenter Zusammenhänge macht dies für Stirner beides keinen Sinn, weshalb er sozusagen dem Betrug am Leben ein Ende zu setzen versucht. Im Gegensatz zu den religiösen Heilsstrategien, das eigene irdische und das nach Stirner vermeint­ lich himmlische Leben zu hegen, zu schonen und möglichst auf­ zusparen, sieht Stirner das Verzehren des Lebens als das einzig rich­ tige Verhältnis zum Leben angesichts des Wissens um den eigenen Tod an: »Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens.«31 Im Zuge ver­ gleichbarer Überlegungen schreibt Michel Onfray: »Jedes Dasein ist auf Sand gebaut, der Tod ist die einzige Gewißheit, die wir haben. Es kommt weniger darauf an, ihn zu zähmen, als ihn zu verachten. Der Hedonismus ist die Kunst dieser Verachtung.«32 Wie bereits angedeutet, begründet sich die hedonistische Le­ bensform nach Stirner nun aber nicht dadurch, dass die sinnliche Lust als eine Art Bestimmung des Menschen erkannt wird. »Ein Mensch ist zu nichts >berufen< und hat keine >AufgabeBestimmungBeruf< hat.«33 Mithin gibt es auch keinen Unterschied zwischen dem realen Menschen und dem so genannt wahren Menschen. »[...] so bin Ich nicht erst wahrer Mensch, wenn Ich meinen Beruf erfülle, meiner Bestimmung nach­ lebe, sondern Ich bin von Haus >wahrer Mensch««34 Die Conditio humana beschreibt nicht den Ort zwischen einem Bereich des Menschen-Möglichen und einem Bereich des Wirklichen. »Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zusammen.«35 Was ein Mensch letzt­ lich in seinem Leben verwirklicht, erweist sich als eine Wirkung sei­ ner individuellen Willkür. Der Mensch täuscht sich, wenn er glaubt, irgendwelche übergeordneten Ziele zu verfolgen; er strebt immer bloß nach seinen individuellen Zielen - wie Stirner zum Beispiel auch in Bezug auf den theoretischen Menschen bzw. die Lebensform der Vernunft feststellt: »So hat also, wer denken will, allerdings eine Auf­ gabe, die er sich mit jenem Willen bewußt oder unbewußt setzt; aber die Aufgabe zu denken oder zu glauben hat Keiner.«36 Ursprung und

31 32 33 34 35 36

Ebenda, S. 359. M. Onfray, a.a.O., S. 18. Stirner, a.a.O., S. 366. Ebenda, S. 367. Ebenda, S. 369. Ebenda, S. 392.

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Anfang jeder Lebensanschauung sowie jeder Handlung ist der indivi­ duelle Wille des Menschen, der als ein sinnlicher Wille von sich aus festlegt, wie er die Dinge sehen will und worin er seinen Genuss fin­ det. »Was ein Mensch ist, das macht er aus den Dingen; >Wie Du die Welt anschaust, so schaut sie Dich wieder anabsoluten< Wert beizulegen, son­ dern ihren Wert in Mir zu suchen.«39 Im Zuge einer entsprechenden realistischen Subjektivierung des Zugriffes auf die Welt besinnt sich Stirner vor allem auf dasjenige, dem er tatsächlich seinen Stempel aufzudrücken vermag; nicht die Freiheit von irgendwelchen Dingen, sondern die Verfügungsgewalt über die Dinge interessiert den Ego­ isten. »Frei bin ich von Dem, was ich los bin, Eigner von dem, was Ich in meiner Macht habe, oder dessen Ich mächtig bin.«40 Weil das Ego dabei von Stirner - wie zuvor erläutert - allein mit dem unteren 37 Ebenda, S. 378. 38 M. Scheler, Wesen und Form der Sympathie, hg. v. M. S. Frings, 6. Aufl., Bern / München 1973, S. 71. 39 M. Stirner, a.a.O., S. 186. 40 Ebenda, S. 173.

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Begehrungsvermögen identifiziert wird, repräsentiert der Egoismus gewissermaßen eine Philosophie der Freude: »Die >Freiheit< weckt euren Grimm gegen Alles, was Ihr nicht seid; der >Egoismus< ruft Euch zur Freude über Euch selbst, zum Selbstgenuss [,..].«41 Indem der Egoismus jedoch insgesamt als die unhintergehbare Vorausset­ zung jeder realistischen Theorie und jeder Praxis behauptet wird so­ wie indem jedes individuelle Glückskonzept als ein Genusskonzept von vornherein als eine ästhetische Lebensform begriffen wird und sich damit auf die zufällige Prägung eines chaotisch strukturierten Begehrens abstützt, sind bereits sämtliche anderen Lebensfomen als echte Alternativen ausgeschlossen oder ihres Kernes beraubt, weil sie eben gemäß ihrem Selbstverständnis nicht auf dem Egoismus basie­ ren können. Die auf diese Weise im Bereich der Strebensethik voll­ zogene Verabsolutierung der ästhetischen Lebensform fördert jedoch keine eigene Moralvorstellung, kein eigenes sollensethisches Kon­ zept, sondern richtet sich prinzipiell gegen die Möglichkeit von Sollensethik überhaupt. Der Egoist scheut denn auch nichts mehr als jede Gleichschal­ tung und Nivellierung, wie sie dem Anliegen der Sollensethik einem gängigen Vorurteil nach unterstellt wird; er will in keiner Weise die Regel, sondern stets die Ausnahme sein. Da sein Ich das einzige ist, woran der Egoist sich halten bzw. dem er einen gewissen, wenngleich bloß irdischen und vergänglichen Sinn abgewinnen mag, ist sein Ego für ihn das Besondere in der wahrsten Bedeutung des Wortes, wird er sich zu einem Einzigen, was von Stirner in seinem prägnant formu­ lierten Schluss-Credo ausgesprochen wird. »Ich bin aber nicht ein Ich neben andern Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig. Daher sind auch meine Bedürfnisse einzig, meine Taten, kurz alles an Mir ist einzig. Und nur als dieses einzige Ich nehme Ich Mir Alles zu eigen, wie Ich nur als dieses Mich betätige und entwickle: Nicht als Mensch und nicht den Menschen entwickle ich, sondern als Ich ent­ wickle Ich - Mich. Dies ist der Sinn des - Einzigen.«42 Für den Aus­ druck »Einziger« gibt es im Rahmen des Stirnerschen Sprachver­ ständnisses keine sinnvolle Mehrzahl. Nach der Auffassung eines Egoisten stellt das Leben als solches schließlich keinen besonderen Wert dar, es ist lediglich da, um auf­ 41 Ebenda, S. 180. 42 Ebenda, S. 406.

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gebraucht zu werden - sei dies das Leben eines anderen Menschen, den der Egoist zu seinem Selbstgenuss instrumentalisiert, oder sein eigenes Leben: »Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendi­ gen, indem man es und sich verzehrt.«43 Die Haltung der ästheti­ schen Lebensform gegenüber allem Lebendigen - mit dem ihr ei­ gentümlich zugrunde liegenden Egoismus - lässt sich leicht anhand dessen, was man gemeinhin als Umweltzerstörung bezeichnet, über­ all in der Welt vor Augen führen. Der ästhetischen Lebensform eignet vor allem ein theoretisch fun­ dierter »lack of moral sense«. Entsprechend steht Max Stirner auch für die Anarchie als der dem Egoismus und der Lust adäquaten Form des Zusammenlebens von Menschen ein, wobei er keinen Gedanken an mögliche Probleme, welche durch das Fehlen einer ordnenden Moral entstehen könnten, zu verschwenden scheint. »Ohnehin sehen Betrug, Heuchelei, Lüge schlimmer aus als sie sind.«44 Die Frage, wie eine Gemeinschaft von Hedonisten zusammenzuleben vermag, kommt nirgends in den Blick. So bleibt denn die Lebensform der Lust ausschließlich ein strebensethisches Konzept. Vom Standpunkt der Sollensethik aus lässt sich indessen feststellen, dass der Egoismus überhaupt nicht zu einem moralphilosophischen Konzept taugt, weil er sich in keiner Weise als verallgemeinerbar erweist. Aus strebensethischen Klugheitserwägungen wird der Egoist - vor die Aufgabe gestellt, praktische Ratschläge zu erteilen - sogar gut daran tun, selbst seinen Egoismus für sich zu behalten und den eigenen Vorteil in dem strategischen Gewinn zu suchen, dass er der einzige Egoist bzw. der Einzige bleibt, der von keinerlei moralischen Skrupeln ge­ hemmt ist, und sich deshalb auch nicht der Willenskraft anderer Ego­ isten erwehren muss.45 Die einzige gemeinschaftsbildende Kraft, die den zur Anarchie nei­ genden Egoismus gelegentlich transzendiert, bleibt am Ende die Lie­ be. Besonders eindrücklich wird dies in der Autobiographie von Bertha Thompson vor Augen geführt, die in der ersten Hälfte des 43 Ebenda, S. 359. 44 Ebenda, S. 182. 45 Vgl. W. K. Frankena, Analytische Ethik. Eine Einführung, 5. Aufl., München 1994, S. 37-40; in Bezug auf Stirner: vgl. A. Pieper, Einführung in die Ethik, 4. Aufl., Tübin­ gen 2000, S. 268f.

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20. Jahrhunderts in den USA unter Hohos aufgewachsen und später selber ein Lehen als Tramp geführt hat: Die einzigen Momente, welche ihrem Lehen eine gewisse Struktur gegeben haben, sind die Gefühle ihrer nicht mehr rein egoistisch zu verstehenden Liehe zu ihren ver­ schiedenen Männern. Mit Bertha Thompson ist allerdings bereits die zweite Ausprägung der ästhetischen Lehensform angesprochen. Erwähnt werden soll an dieser Stelle zuletzt noch der Umstand, dass im Bereich der ästhetischen Lehensform mit ihrem Hang zum Anarchischen nicht von strehensethischen Normen oder Regeln, folglich weder von Grundsätzen oder Tugenden in einer eigentlichen Bedeutung die Rede sein kann. Die Lehensform der Lust lässt sich vorzugsweise nur auf dem ästhetischen Wege von Beispielen vermit­ teln. So veranschaulicht etwa hereits Aristoteles den hios apolaustikos durch die Erwähnung von Sardanapal46 und von Smindyrides Ähnlich führt Seneca dazu Nomentanus und Apicius aus Syharis47. 48

5.1.2. Erlebnis Eine zweite Ausprägung der ästhetischen Lehensform hat das Erlehnis oder die Erfahrung als solche zu ihrem ohersten Ziel erkoren. Diese Lehensform wird heispielsweise in der hereits erwähnten Autohiographie von Bertha Thompson hesonders eindrücklich dar­ gestellt. Der als einer der wenigen weihlichen Tramps durch die USA ziehenden »Boxcar Bertha« geht es in ihrem Lehen um den unaufhörlichen »Versuch, etwas üher die Menschen zu erfahren!«49 50 Die Grundhaltung einer solchen auf Erfahrung hzw. auf Erlehnis aus­ gehenden Lehensform hildet gleichsam diejenige eines »Chamäleon[s], das sich den Verhältnissen jeder neuen Umgehung anpaßt [...]«5°. Die verschiedenen hegegnenden Existenzweisen sollen aus der Innensicht erkundet werden, wie Bertha Thompson für sich das Interesse eines solchen Lehens hegründet. »[...] alles, was ich mir in meinem Lehen vorgenommen hatte, hatte ich auch getan. Ich hatte wissen wollen, was für ein Lehen ein Hoho führt, ein Radikaler, eine 46 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 h 17; Endemische Ethik, 1216 a 16. 47 Vgl. ehenda, 1216 a 17. 48 Vgl. Seneca, De vita heata, XI. Kap. 49 B. Thompson, Boxcar Bertha. Eine Autohiographie, aufgezeichnet v. B. L. Reitman u. ühers. v. M. Allie, Zürich 1994, S. 150. 50 Ehenda, S. 178.

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Prostituierte, ein Dieb, ein Reformer, ein Sozialarbeiter und ein Re­ volutionär.«51 Am Ende jener Autobiographie beschließt Bertha Thompson, sich nun eingehend um ihre eigene Tochter zu kümmern, zu der sie bis dahin kaum eine emotionale Bindung hat entwickeln können oder herstellen mögen. Die Bewertung der das Erlebnis suchenden Lebensform scheint im Verlaufe der Geschichte der Philosophie zunehmend positiver auszufallen. Noch etwa bei Seneca wird sie als eine Krankheit ange­ sehen und unter Bezugnahme auf ein Wort von Lukrez als eine Art Verfehlung taxiert. »Dies verrät einen kranken Menschen: keinen Zustand lange ertragen zu können, sondern Änderungen wie Heil­ mittel anzuwenden. Infolgedessen unternimmt man Reisen ohne Ziel, eilt unstet von Küste zu Küste, und eine immer mit der Gegen­ wart unzufriedene Leichtfertigkeit versucht sich bald auf dem Meer, bald auf dem Land. [...] Eine Reise löst die andere ab und ein Schau­ spiel folgt dem anderen. So sagt Lukrez: Stets flieht so ein jeder vor sich selber.«52 Eine neutralere Begründung des Interesses an Erleb­ nissen findet sich hingegen bei Eduard Spranger, welcher in der Le­ bensform des Erlebens eine spezifische psychologische Disposition, eine besondere Art der Gerichtetheit auf die Außenwelt verwirklicht sieht. Spranger bezeichnet den Erlebnismenschen als einen »Impres­ sionisten des Daseins, der von Eindruck zu Eindruck eilt und von allem gleichsam nur den Duft einatmet.«53 Im Rahmen seiner Dar­ stellung der ästhetischen Lebensform entwirft Spranger in diesem Zusammenhang das Bild von »Menschen, die sich den äußeren >Eindrückem des Lebens mit genießender Intensität hingeben. Sie sind hungrig nach >ErlebnissenWechselwirtschaft< bildete das Zentrum der Daseinsweise des A, sondern die in den >Diapsalmata< manifeste Schwermut; und das Genußstreben ergab sich als Reak­ tion. B kehrt also das Kausalverhältnis zwischen Schwermut und Ge­ nuß um und erklärt zur Ursache, was bei A nur Folge ist. So kann er die Wurzel der Schwermut nicht mehr in den Blick bekommen, die Erfahrung des Sinnverlustes.«56 55 S. Kierkegaard, Entweder - Oder, hg. v. H. Diem u. W. Rest u. übers. v. H. Fauteck, Bd. 1, Stuttgart 1988, S. 336. 56 W. Greve, Künstler versus Bürger. Kierkegaards Schrift »Entweder/Oder«, in: »Ent­ weder/Oder«. Herausgefordert durch Kierkegaard, hg. v. J. Splett u. H. Frohnhofen, Frankfurt a.M. 1988, S. 60.

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Der Ästhetiker A, wie er sich im Spiegel der »Diapsalmata« prä­ sentiert, leidet zunächst darunter, dass er in keiner Weise mehr - wie einst noch als Schüler - über ein unverbrüchliches, der Vernunft standhaltendes metaphysisches Weltbild verfügt und deshalb die Be­ stimmung des Menschen nicht zu erkennen vermag. »[...] weiß Gott, was der Herrgott eigentlich mit mir gewollt hat [...].«57 Eine Vielzahl von verstreuten Bemerkungen lassen auf eine umfassende Lebenskrise schließen, die letztlich zur Folge hat, dass ihm offenbar jeder Glaube an einen Sinn im Leben verloren geht: »Mein Leben ist völlig sinnlos.«58 Der Sinnverlust erweist sich dabei als unumkehrbar, weshalb die Aufzeichnungen des A auch eine beklemmende Atmo­ sphäre der völligen Hoffnungslosigkeit verströmen: »Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.«59 Für den Ästheti­ ker A versinkt jeder mögliche Orientierungspunkt im absoluten Dunkel: »Mein Leben gleicht der ewigen Nacht; [...]«60 Und A schickt sich daran, die »Nachtwache meines Daseyns«61 zu halten. Aus der Erkenntnis der »Jämmerlichkeit des Daseins«62 resultiert schließlich auf der Empfindungsebene das Gefühl der Schwermut. »Meine Seele ist so schwer, daß kein Gedanke mehr sie tragen [...] kann.«63 Gelegentlich erwägt A auch den Selbstmord.64 Entgegen der Meinung von B zeigt sich die Schwermut von A mithin nicht als eine Konsequenz des Genussstrebens, sondern als eine Folge des wie auch immer entstandenen Bewusstseins der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz. Angesichts dieser Grundsituation, wie A sie sieht, bietet sich im Leben lediglich eine einzige Alternative an - nämlich das eigene Be­ wusstsein der Sinnlosigkeit im Rausch des Genusses zum Schweigen zu bringen. Nach diesem Ausweg scheint A zunächst - geleitet von der Sehnsucht nach der dem Menschen endgültig verloren gegange­ nen Unmittelbarkeit - im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Mo­ zarts Oper Don Giovanni und der Figur des »Don Juan« zu suchen. Am Ende verschiedener Versuche kommt A ferner zur Einsicht, dass 57 58 59 60 61 62 63 64

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S. Kierkegaard, a.a.O., S. 36. Ebenda, S. 46. - Vgl. ferner z.B. S. 33, S. 39 u. S. 41. Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 46. Ebenda. Ebenda, S. 38. Ebenda, S. 39. Vgl. ebenda, S. 48.

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ein entsprechender Genuss vom durch und durch reflektierten Men­ schen nicht direkt angestreht werden kann65 und dass, wo der Genuss sich einstellt, er zudem dem Verdikt der Endlichkeit untersteht66. »Ach, die Tür des Glücks, sie geht nicht nach innen auf, so daß man, indem man auf sie losstürmt, sie aufdrücken kann (...).«67 Die Aus­ gangslage vor der »Wechselwirtschaft« scheint definitiv aporetisch zu sein: »Der Genuß enttäuscht [...].«68 Die einzige Gewissheit, an die A sich halten kann, ist eine Art Urteilsspruch des Schicksals: »Ich scheine dazu hestimmt [...], Erfah­ rungen in allen Richtungen zu machen.«69 Mit dieser kargen Ahnung geht A nun daran, eine Art Perpetuum mohile des Glücks für Ent­ täuschte zu erfinden - ein hedonistisches Perpetuum mohile, das A als eine spezifische Weise der »Wechselwirtschaft« vorstellt und das ein Unterhaltungskonzept gegen die gähnende Langeweile in einer sinnlosen Welt umfasst. Wenn man nun den von den »Diapsalmata« anhehenden Weg zu der in der »Wechselwirtschaft« propagierten Lehensform des Erlehens und des Erfahrens gesamthaft hetrachtet, dann zeigt sich, dass dieser Lehensform eine spezifische Wahl zugrunde liegt: Es ist die verzweifelte Wahl einer sinnsuchenden Vernunft, die sich damit ein­ zurichten versucht, was ihr die Conditio humana an Optionen ühriglässt. Der sinnsuchenden Vernunft eignet hier die Freiheit der Hal­ tung gegenüher dem Unahänderlichen, gegenüher dem Ahsurden. Im Bereich dieser ästhetischen Lehensform kann die Vernunft also nicht als ein hloßes Instrument, eine Lieferantin für den selhstvergessenen Glücksuchenden hegriffen werden, sondern sie manifestiert sich in erster Linie vielmehr auf einer grundlegenderen Ehene im ernsten Ringen, dieses Lehen der Sinnlosigkeit auszuhalten, ihm ein Konzept des Trotzdem-Lehens entgegenzusetzen. Wie ich später zeigen möchte, knüpft das praktisch-philosophische Konzept von Alhert Ca­ mus hier unmittelhar an die »Wechselwirtschaft« an. Die ästhetische Lehensform des Erlehens ist die Lehensform von Menschen, die unaufhörlich nach dem Sinn des Lehens suchen. Diese 65 66 67 68 69

Vgl. ehenda, S. 29. Vgl. ehenda, S. 28. Ehenda, S. 32. Ehenda, S. 53. Ehenda, S. 41.

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Suche kann sich in der Atmosphäre von verschiedenen Stimmungen ereignen. Der Tramp etwa ist hei seiner aktiven Suche nach dem Sinn des Lehens, nach der eigenen Bestimmung von einem gewissen Op­ timismus getragen. Eine äußerst passive Figur des Sinnsuchenden stellt dagegen der moderne Fernsehzuschauer dar, der sich mit seiner Fernsteuerung zum Zwecke, von fern her etwas mitzuerlehen, in die verschiedensten Lehenswelten einzuschalten vermag. Wo der Tramp noch selher Lehensmöglichkeiten ausprohiert, lässt sich der Fernseh­ zuschauer vertreten. Er hraucht sich nicht selhst in ein Ahenteuer zu stürzen, sich nicht Wind und Wetter und Gefahr auszusetzen. Den­ noch ist er überall dahei, glauht er das Lehen aus der Perspektive aller möglichen Lagen zu kennen. Wenn ihm danach steht, das soziale Lehen in einer Familie auszuprohieren, ihm aher die eigene Familie oder die Gründung einer eigenen Familie zu anstrengend erscheint, kann er sich stundenweise in das Familienlehen einer Fernseh-soapopera-Familie einschalten. Das Fernsehen, inshesondere mit ange­ schlossenem Videorecorder hietet so gleichsam Lehen hzw. Erlehen aus der Dose. Vor Jahren war im Zeit-magazin ein Bericht üher einen Jungen aus Brooklyn zu lesen, der seit fünf Jahren seine Wohnung nicht mehr verlassen hatte und seine Tage vermutlich noch heute auf dem Bett liegend vor einem kleinen Fernseher verhringt. Das heigefügte Bild vermittelte die ganze Lethargie und Depressivität dieser Variante der Lehensform des Erlehens. Zur Lehensform des Erlehens gehört einerseits, dass die Sinn­ suche nie zu einem Ziel gelangt. Wo indessen die Sinnsuche anderer­ seits üherhaupt gar keine Hoffnung mehr heinhaltet, jemals Sinn zu finden, kann sie in Zynismus umschlagen, wie heispielsweise ehen heim Ästhetiker A der »Wechselwirtschaft«. Der Ästhetiker A hat die Hoffnung aufgegehen, in seinem Lehen irgendeinen Sinn zu ent­ decken, gleichwohl zelehriert er die Suche weiter. Da er aher kein eigentliches Ziel mehr vor Augen hat, für dessen Erreichung es sich zu engagieren lohnte, hildet die Langeweile sein größtes Prohlem. »[...] ich gehe von dem Grundsatz aus, daß alle Menschen langweilig sind.«70 Dahei steht für A fest, dass »Langeweile eine Wurzel alles Ühels«71 ausmacht. Gegen die Langeweile hilft lediglich die Unter­ haltung. »Langeweile ist der dämonische Pantheismus. [...] sie wird

70 Ehenda, S. 331. 71 Ehenda, S. 338.

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[...] nur dadurch aufgehoben, daß man sich unterhält.«72 Die bloße Unterhaltung in einem sinnlosen Leben und nicht mehr die Erfah­ rung möglicher Sinnhorizonte bildet folglich für A das Ziel seiner Lebensform des Erlebens. »Ich nehme an, daß des Menschen Bestim­ mung ist, sich zu unterhalten.«73 Dazu hat er - wie bereits angedeu­ tet - eine Unterhaltungsstrategie, ein Perpetuum mobile des Genus­ ses entworfen. Wenn es dem Menschen also schon nicht gegönnt ist, einen Sinn in seinem Leben zu finden, dann sollte es ihm wenigstens gelingen, nicht auch noch darunter zu leiden, sondern die mensch­ lichen Möglichkeiten des Glücks auszukosten. Auf Dauer können Erlebnisse nur in der Reflexion genossen werden - und dies zudem bloß unter der Voraussetzung, dass zwei Prinzipien beachtet werden. »Jedes Lebensmoment darf nur so viel Bedeutung für einen haben, daß man es in jedem beliebigen Augen­ blick vergessen kann; jedes einzelne Lebensmoment muß aber ande­ rerseits so viel Bedeutung für einen haben, daß man sich jeden Au­ genblick seiner erinnern kann.«74 Das willkürliche oder poetische Erinnern und Vergessen sind jene beiden Geistesbewegungen, wel­ che den Genuss a la longue zu sichern vermögen. »Wenn ich mich poetisch erinnere, so ist mit dem Erlebten schon eine Veränderung vorgegangen, durch die es alles Schmerzliche verloren hat.«75 Das Vergessen dient daneben dazu, kein Reflexionserlebnis so lange an­ dauern zu lassen, dass dessen Genuss schal werden könnte. »Wenn man sich dergestalt in der Kunst des Vergessens und der Kunst des Erinnerns perfektioniert hat, so ist man imstande, mit dem ganzen Dasein Federball zu spielen.«76 Die angestrebte Umgehung des weiter oben dargelegten, zweiten psychologischen Grundgesetzes des Glücks gilt es auch in der Realität zu verwirklichen. »Die Kunst des Erinnerns und des Vergessens wird denn auch verhüten, daß man sich in einem einzelnen Lebensverhältnis festrennt [...].«77 Der Äs­ thetiker A nennt vor allem drei Lebensbereiche, innerhalb derer man sich nicht festlegen sollte, damit der Erlebnisgenuss nicht an ein Ende kommt: Freundschaft, Ehe und Berufsarbeit. Im Hinblick auf sein Eheverständnis kann A gar als ein Protagonist des heutigen Sing72 73 74 75 76 77

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda. Ebenda,

S. S. S. S.

336f. 336. 340f. 341.

S. 343.

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letums angesehen werden. Was A schließlich hei seiner absurden und zynischen Sinnsuche vor allem vermeiden möchte, ist: niemals »ein Dutzendmensch«78 zu werden. Die Menschen der erörterten ästhetischen Lebensform haben grund­ sätzlich die Neigung, sich anderen Menschen gegenüber in spezi­ fischer Weise geistig vollkommen überlegen zu fühlen. Dem pessi­ mistischen Erlebnis-Ästhetiker zum Beispiel, wie A ihn vorstellt, eignet ein zynischer Überlegenheitsgestus; er versteht sich als ein absoluter Individualist. Der Zyniker weiß mehr als der gewöhnliche Mensch, wie er ihn sieht; er hat dessen sinngläubige Stufe durchlebt und aufgrund seines häretischen Vernunftpotentials schon lange hin­ ter sich gelassen, wie dies Peter Sloterdijk in seiner Studie Kritik der zynischen Vernunft in Bezug auf den modernen Zyniker darlegt.79 Auch der moderne Zyniker kann nach Sloterdijk seinen Stamm­ vater Diogenes noch immer nicht verleugnen, welcher das Bild des Zynikers bis heute geprägt hat als eines »bissige[n] und böse[n] Indi­ vidualismen], der niemanden zu brauchen vorgibt und von nieman­ dem geliebt wird, weil er keinen unverletzt unter seinen kraß entlar­ venden Blick kommen läßt«80. Zum einen ist der Zyniker schon immer ein urbaner Mensch gewesen81; zum anderen repräsentiert er gemäß Sloterdijk heute einen »Massentyp«82. Der Zyniker hat in sei­ nem Leben die Rechnung abgeschlossen und für sich definitiv er­ kannt, dass das Leben keinen Sinn beinhaltet: Und nun richtet er sich in der Realität so behaglich wie möglich ein. »Der moderne Zyniker ist ein integrierter Asozialer, der es an unterschwelliger Illusionslosigkeit mit jedem Hippie aufnimmt. Ihm selber erscheint sein bös­ kalter Blick nicht als persönlicher Defekt oder als privat zu verantwor­ tende amoralische Marotte. Instinktiv versteht er seine Daseinsweise nicht mehr als etwas, das mit Bösesein zu tun hat, sondern als Teilha­ be an einer kollektiven realistisch herabgestimmten Sehweise. Es ist die bei aufgeklärten Leuten allgemein verbreitete Form, darauf zu sehen, daß sie nicht die Dummen bleiben.«83 Das behauptete Gespür 78 Ebenda, S. 346. 79 Vgl. P. Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 33­ 43. 80 Ebenda, S. 34. 81 Vgl. ebenda. 82 Ebenda, S. 35 f. 83 Ebenda, S. 36.

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für die Realität ist Teil einer zynischen Üherlehensstrategie. »Um zu überleben, muß man in die Schule der Realität gehen.«84 Im Bereich der Lebensform des Erlebens bildet der Zynismus schließlich lediglich eine Weise, sich als Individualist von den anderen Menschen abzu­ grenzen. Die Lebensform des Erlebens ist indessen vor allem ein Le­ ben des Genusses und des Individualismus, wie Walter Benjamin in Bezug auf den Flaneur feststellt. Auch der Flaneur sucht das Erlebnis oder die neue Erfahrung, wobei er den ganzen Tag damit zu verbringen vermag, diesbezügliche Pläne zu machen.85 Da er beim Pläneschmieden das eigentliche Erleb­ nis bereits genießend antizipiert, braucht er die Mühe sodann oft­ mals gar nicht mehr auf sich zu nehmen, seine Pläne auch in der Wirklichkeit auszuführen. Zudem würde die engagierte Konzentra­ tion auf eine einzelne Sache dieser einen Sinn unterstellen, was der Einsicht des Flaneurs bzw. des Ästheikers in die vorläufige oder fun­ damentale Sinnlosigkeit der Welt widersprechen würde. »Der Müßiggang des Flaneurs ist eine Demonstration gegen die Arbeitsteilung.«86 Gleichwohl gehört laut Benjamin zum Flaneur als ein Charakteristikum das grundlegende Bedürfnis, seine Lebensform zu rechtfertigen. Dabei versucht der klassische Flaneur entweder seinen Müßiggang gegenüber der Gesellschaft durch einen vorgeblichen Be­ ruf zu tarnen, oder er macht seine Lebensform des Erlebens zum Beruf. Im letzteren Falle wird der Flaneur Journalist; im ersten De­ tektiv. »In der Figur des Flaneurs hat die des Detektivs sich präformiert. Dem Flaneur mußte an einer gesellschaftlichen Legitimierung seines Habitus liegen. Es paßte ihm ausgezeichnet, seine Indolenz als eine scheinbare präsentiert zu sehen, hinter der in Wirklichkeit die angespannte Aufmerksamkeit eines Beobachters sich verbirgt, der den ahnungslosen Missetäter nicht aus den Augen läßt.«87 Der Jour­ nalismus hingegen bietet in unserer Zeit die eigentliche Gelegenheit, die Lebensform des Erlebens bzw. des Flanierens tatsächlich leben zu können. »Die gesellschaftliche Grundlage der flanerie ist der Journa­ lismus. Als flaneur begibt der Literat sich auf den Markt, um sich zu verkaufen.«88 84 Ebenda, S. 40. 85 Vgl. W. Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Gesammelte Schriften, hg. v. T. Rexroth, Bd. V/l, Frankfurt a.M. 1991, S. 533. 86 Ebenda, S. 538. 87 Ebenda, S. 554. 88 Ebenda, S. 559.

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Die Überlegenheit auch des Flaneurs gründet darauf, dass er sich mit keinem eigentlichen Lebensziel identifizieren mag außer mit der bloßen, mehr oder weniger zynischen Sinnsuche als solcher. Gegenü­ ber den Anhängern anderer Lebensformen grenzt auch er sich durch die vermeintliche Einsicht ab, dass jene die Eitelkeit ihres Tuns noch nicht eingesehen haben. Der tatsächlich oder bloß zynisch auf der Suche nach dem Lebenssinn befindliche Flaneur hat die verschie­ densten Lebensformen seiner Meinung nach ernsthaft studiert und bis dahin als menschliche Täuschungen durchschaut. »Der flanerie liegt neben anderm die Vorstellung zu Grunde, daß der Ertrag des Müßigganges wertvoller (?) sei als der der Arbeit. Der flaneur macht bekanntlich >StudienUmwelt< für die >Welt< selber zu halten, d. h. die illusionäre Gegebenheit der eigenen Umwelt als >die< Welt. Egozentrismus ist in bezug auf die Realitätserfassung von Gegenständen >SolipsismusEgoismusAutoerotismusErlebe dein Leben!< entsteht eine sich perpetuierende Handlungsdynamik, organisiert im Rahmen eines rasant wachsenden Erlebnismarktes, der kollektive Erlebnismuster beein­ flußt und soziale Milieus als Erlebnisgemeinschaften prägt.«104 Mit der Wandlung zur Erlebnisgesellschaft ist auf Seiten der Subjekte eine absolute Konzentration auf die Innensicht verbunden: »Innen­ orientierung ist Erlebnisorientierung.«105 Entgegen der Ansicht, wie sie die Gleichsetzung von »Erlebnis« mit »Eindruck« durch die Um­ gangssprache unterstellt,106 hat das zunehmende Streben nach Erleb­ nissen etwas mit einem Rückzug auf die eigene Subjektivität zu tun. »Erlebnisse werden nicht vom Subjekt empfangen, sondern von ihm gemacht. Was von außen kommt, wird erst durch Verarbeitung zum Erlebnis. Die Vorstellung der Aufnahme von Eindrücken muß ersetzt werden durch die Vorstellung von Assimilation, Metamorphose, ge­ staltender Aneignung.«107 Schulze sieht insgesamt »drei Elemente einer Erlebnistheorie der Verarbeitung [...]: Subjektbestimmtheit, Reflexion, Unwillkürlichkeit«108. Erlebnisse sind erstens nicht austauschbar; zwei Menschen, die das gleiche tun oder denen das gleiche widerfährt, erleben dabei nie­ mals dasselbe. Das Erlebnis hängt prinzipiell von den vorgängigen Inhalten, Vorstellungsgewohnheiten und Strukturen des individuel­ len Bewusstseins ab. »Erlebnisse entstehen in einem singulären in­ neren Universum. [.] das Ereignis wird erst durch seine Integration in einen schon vorhandenen subjektiven Kontext zum Erlebnis.«109 Dabei muss zweitens ein Unterschied gemacht werden zwischen dem spontanen Erlebnis und dem Erlebnis in der Reflexion: »Ein Er­ lebnis kann seinerseits erlebt werden. Reflexion ist die Selbstver­ 104 G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 2. Aufl., Frankfurt a. M. / New York 1992, S. 33. 105 Ebenda, S. 38. 106 Vgl. ebenda, S. 42. 107 Ebenda, S. 44. 108 Ebenda. 109 Ebenda.

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arbeitung des Subjekts. [...] Reflexion ist der Versuch des Subjekts, seiner selbst habhaft zu werden. Durch Erinnern, Erzählen, Interpre­ tieren, Bewerten gewinnen Ursprungserlebnisse festere Formen. Al­ lerdings verändern sie sich dabei auch [,..].«110 Das Reflexionserleb­ nis basiert schließlich drittens immer auf einem vorangegangenen Erlebnis, dem seinerseits eine gewisse Spontaneiät eignen muss. »In dem Ausdruck >Reflexionserlebnis< verbirgt sich die These, daß durch Reflexion etwas Neues entsteht. Das Ursprungserlebnis wird einer Nachbehandlung unterzogen. [...] Für das Ursprungserlebnis selbst gilt dagegen Unwillkürlichkeit.«111 Zwischen dem Erlebnis in der Reflexion und dem originalen Er­ lebnis besteht mithin zum einen eine Fundamentaldifferenz: Das spontane Erlebnis an sich erweist sich von der Reflexionsebene her als vollkommen unzugänglich. »Reflexion kann Ursprungserlebnisse nicht wiederholen; vielmehr besteht sie gerade darin, Ursprungser­ lebnisse auf eine Weise zu betrachten, die etwas Neues entstehen läßt.«112 Zum anderen können aber auch die Reflexionserlebnisse nicht ohne weiteres wiederholt werden, da sie sehr stark stimmungs­ und kontextabhängig bleiben. »Ein und dasselbe Erlebnis wird in ent­ gegengesetzter Weise reflektiert, als angenehm oder unerfreulich, je nachdem, mit welchen Augen man es betrachtet.«113 Letztlich müs­ sen nach Schulze drei Dinge auseinandergehalten werden: das objek­ tive Ereignis, die Aneignung dieses Ereignisses durch die subjektive, perspektivistische Wahrnehmung und die Zuordnung einer Empfin­ dung zu dieser Wahrnehmung: Wahrnehmung und Empfindung ma­ chen hierbei die eigentlichen Ingredienzien des Erlebnisses aus. So konstatiert denn Schulze, »[...] daß streng zu trennen ist zwischen dem Gegenstand des Erlebnisses als objektivem Sachverhalt und der Wahrnehmung dieses Gegenstandes. Erst muß der Erlebende den ob­ jektiven Sachverhalt in sein subjektives Zeichensystem übersetzen, bevor er darauf ästhetisch reagieren kann. Seine Empfindung läßt sich auffassen als Bedeutung, die einer Wahrnehmung zugewiesen wird und sich mit dieser Wahrnehmung ändert, auch wenn der ob­ jektive Sachverhalt gleichbleibt.«114 Am Schluss versucht Schulze 110 111 112 113 114

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Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. 45. S. 33. S. 52. S. 53. S. 97.

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dann ferner noch verschiedene Stile des Erlebens zu unterscheiden.115 Aufgrund der starken Prägung des Erlebnisses durch die eigene Subjektivität geht für den Erlebenden nun nicht nur der unmittel­ bare Bezug auf die Objektivität verloren, sondern zudem wird auch der Wille abgeschwächt, sich über diese Objektivität mit anderen Menschen zu verständigen. »Wissen, was man will, bedeutet wissen, was einem gefällt. >Erlebe dein Leben!< ist der kategorische Imperativ unserer Zeit.«116 Von besonderer Bedeutung scheint mir in diesem Zusammenhang Schulzes Feststellung, dass die Diskurse innerhalb der Erlebnisgesellschaft kaum mehr etwas mit Kommunikation zu tun haben. »Das Gespräch über den Film hat zwar den Anschein eines Meinungsaustausches, ist aber oft nur Gleichzeitigkeit ver­ schiedener Reflexionsvorgänge.«117 Die Gründe für das Fehlen u. a. einer sollensethischen Diskussion werden hier äußerst evident: Die Menschen erzählen sich gegenseitig nur noch, wie sie die Dinge sel­ ber erleben, und sie erleben die Dinge dabei in ihrer Reflexion von neuem, ohne dass gleichzeitig eine eigentliche Verständigung über das gemeinsame Objekt ihrer parallelen Erlebnisse angestrebt würde. Was dabei in der Folge vor allem verloren geht, sind sowohl das In­ teresse an der Erlebniswelt des anderen als auch das Interesse sowie die Arbeit an einem geordneten Aufeinanderzugehen und an der Möglichkeit von Begegnung aus den unterschiedlichen Erlebniswel­ ten heraus. Die Lebensform des Erlebens kennt demzufolge auch keine in­ tersubjektiven Normen, sondern nur das Credo der subjektiven Er­ fahrungen, die allenfalls im Rahmen von Biographien vermittelt werden können. Weil die Vermittlung der Erfahrung über die Erzäh­ lung des Lebenslaufes auf der Ebene des Reflexionserlebnisses statt­ findet, hat sie jedoch von daher nicht nur einen bloß relativen Bezug zu den ursprünglichen Erlebnissen des Lebens, sondern entfernt sich auch immer mehr von den objektiv konstatierbaren Begebenheiten eines Lebens. Die Lebensform des Erlebens läuft damit insgesamt Gefahr, ihren subjektiven Horizont jeweils zu verabsolutieren und ihn im Geiste des Egozentrismus selber für die einzige objektive Welt zu halten.

115 Vgl. ebenda, S. 93-123. 116 Ebenda, S. 59. 117 Ebenda, S. 46.

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5.1.3. Form oder Schönheit des eigenen Lebens In seinem umfassenden Werk über die Lebensformen unterscheidet Eduard Spranger im Zusammenhang mit dem von ihm als ästhetisch bezeichneten Typus drei verschiedene Arten von Menschen - ent­ sprechend ihrem Verhalten im Bereich des Ästhetischen. Spranger differenziert zwischen den »Impressionisten des Daseins«118, die von der Fülle der von außen auf sie einströmenden Eindrücke förmlich überwältigt werden und dabei einer gewissen Selbsvergessenheit an­ heimfallen; den »Expressionisten des Daseins«119, welche vollkom­ men auf das Erleben ihrer eigenen Innenwelt konzentriert bleiben, sowie den eigentlichen Ästhetikern, die den objektiven und den sub­ jektiven Wahrnehmungshorizont gestaltend zu einer Einheit brin­ gen möchten. »Erst wenn beide Momente des Daseins: Eindruck und eigene Innenwelt, zu einem konkreten Gleichgewicht kommen, haben wir die Menschen von innerer Form, die wahrhaft plastischen Naturen. Wir können sie auch die klassischen Menschen nennen. In ihnen ist die innere Entfaltung zugleich ein Assimilieren der Lebens­ eindrücke, also ein Sichbilden. [...] Sie machen, wie man unter Rück­ übertragung des abgeleiteten Phänomens sagt, aus ihrem Leben ein Kunstwerk.«120 Einen solchen Ästhetiker, der aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen sucht, nennt Spranger einen »Selbstbildner«121. Der »Selbstbildner« hat ein unbedingtes Interesse an der Form: Was ihn antreibt und auszeichnet, ist sein »Wille zur Form«122. Die­ ser Formgebungswille richtet sich indessen nicht unmittelbar auf ir­ gendwelche Gegenstände der Außenwelt, sondern auf jenen »Stoff«, der unter dem Namen des Selbst begriffen wird. »Selbstverwirk­ lichung, Selbstvollendung, Selbstgenuß ist das Ziel des Menschen von ästhetischer Struktur. >Sei du selbst< ist das letzte Evangelium von Ibsen wie von Oskar Wilde. Eine solche innere Formgebung er­ folgt aber nicht in rationalen Erwägungen; sie ist Sache einer unbe­ wußten Genialität. Die Stümper dieser Lebensform verwechseln sie mit dem Sichausleben.«123 Nach Spranger darf ein solcher »Künstler 118 119 120 121 122 123

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E. Spranger, a.a.O., S. 168. Ebenda. Ebenda. Ebenda, S. 169. Ebenda, S. 184. Ebenda.

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seiner selbst«124 deshalb keinesfalls mit dem bloß sinnlichen Genuss­ menschen verwechselt werden, weil es dem »Menschen von innerer ästhetischer Struktur«125 darum geht, sich allen Möglichkeiten der Selbstbegegnung schöpferisch zu stellen. Der »Wille zur Form« ver­ sucht sowohl die sinnlichen Anlagen als auch die geistigen Talente auszuschöpfen und zu durchdringen. »[D]as eigentümliche Ethos dieses Typus« beschreibt Spranger aus diesem Grunde als »innere Form, d. h. die an dem individuellen Seelenwesen verwirklichte, auf Rhythmik, Maß und Harmonie der inneren Bewegung ruhende Ge­ stalt des Selbst«126. Mit dem Begriff der inneren Form schließlich lässt sich das oberste Ziel des Lebensästhetikers wohl am prägnantes­ ten wiedergeben. Den Typus des Künstlers des eigenen Lebens gibt es bereits in der Antike; im 20. Jahrhundert erlangte er beispielsweise im Span­ nungsfeld der Ethik eines Albert Camus bis zu jener eines Michel Foucault eine ganz besondere Aktualität, davor tauchte er in der Ge­ schichte der Philosophie als Virtuose bei Anthony Earl of Shaftesbury auf oder erschien in Friedrich Nietzsches strebensethischem Ideal. »[...] wir [...] wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleins­ ten und Alltäglichsten zuerst.«127 Auch in diesem Ideal des Lebens­ dichters bei Nietzsche wird in gewisser Weise vor allem die ästhetisch geschaffene Synthese von Sinnlichkeit und Vernunft angestrebt. »Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immer­ fort Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenlei­ tern, Bejahungen und Verneinungen.«128 Was Volker Gerhardt als Nietzsches Philosophem zusammenfasst, gilt insgesamt für den Künstler des eigenen Lebens: »Kunst als Leben und Leben als Kunst - das ist Nietzsches Botschaft.«129 Der Selbstformungswille manifestiert sich entsprechend den vielfäligen menschlichen Fähigkeiten in den verschiedensten Weisen: Gegenwärtig zeigt er sich vorwiegend in oberflächlicher Form nicht zuletzt in den Trends zur selbstgemachten Mode sowie zum in einem 124 Ebenda, S. 187. 125 Ebenda. 126 Ebenda, S. 185 f. 127 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, Bd. 3, München 1988, S. 538. 128 Ebenda, S. 540. 129 V. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992, S. 87.

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Body-building-Center »gestylten« Körper, wobei letzteres - und da­ ran sei hier erinnert - keineswegs eine Erfindung erst des 20. Jahr­ hunderts darstellt.130 Im dritten Band seines Werkes Sexualität und Wahrheit - »Die Sor­ ge um sich« - entwirft Michel Foucault mit Blick auf die Antike die Skizze eines strebensethischen Konzeptes, das er als die »Kultur sei­ ner selbst« oder die »Ästhetik der Existenz« bezeichnet. »Charakte­ ristisch für diese >Kultur seiner selbst< ist die Tatsache, daß hier die Kunst der Existenz [...] von dem Prinzip beherrscht wird, wonach man >für sich selbst sorgen< muß; dieses Prinzip der Sorge um sich begründet ihre Notwendigkeit, lenkt ihre Entwicklung und organi­ siert ihre Praxis.«131 Bei seinem Ethik-Entwurf, den Foucault vor al­ lem in einigen späteren Interviews und in ein paar kleineren Beiträ­ gen präzisiert, hat er indessen keine bestimmte Gestalt der antiken Philosophie als Leitbild vor Augen, vielmehr sieht er den Grund­ gedanken einer »Kultur seiner selbst« in den meisten antiken Ethi­ ken verwirklicht. »[...] die Vorschrift, man solle sich um sich selbst kümmern, ist jedenfalls ein Imperativ, der durch alle möglichen Leh­ ren wande rt [.. .].«132 Konkret beinhaltet das Konzept einer »Kultur seiner selbst« eine Vielzahl von Strategien, wobei die künstlerische Selbstsorge als erstes verlangt, »[...] sich durch Lektüre mit den Vorschriften und den Beispielen vertraut zu machen, an die man sich halten will [...]«133. Die Grundsätze und Regeln, welche im Zuge der ästheti­ schen Selbstsorge aufgegriffen werden, betreffen dabei sowohl das Fortkommen und die Kultur des Geistes sowie die Vervollkommnung der zweiten Natur, d. h. des moralischen Charakters, wie auch die Aufmerksamkeit gegenüber dem körperlichen Wohl und einen mög­ lichen Zugewinn an physischen Kräften. Der Gedanke der Selbstsor­ ge strukturiert und organisiert den ganzen Tagesablauf: »Diese Zeit ist nicht leer, sie ist erfüllt von Übungen, praktischen Aufgaben, ver­ schiedenen Tätigkeiten. [...] Da sind die Körperpflegen, die Gesund­ heitsregeln, die ausgewogenen körperlichen Übungen, die maßvolle 130 Vgl. Seneca, De tranquillitate animi, 3. Kap. 131 M. Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, übers. v. U. Raulff u. W. Seitter, Frankfurt a.M. 1989, S. 60. 132 Ebenda, S. 62. 133 Ebenda, S. 70.

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Befriedigung der Bedürfnisse. Da sind die Meditationen, die Lektü­ ren, die Aufzeichnungen über Gelesenes oder im Gespräch Vernom­ menes, auf die man später zurückgreift, das Überdenken von Wahr­ heiten, die man bereits kennt, aber sich noch besser zu eigen machen muß.«134 Als Beispiel für eine entsprechende Lebensführung gibt Foucault etwa den Römer Spurinna an,135 der sich nach seinem Rückzug aus seinen öffentlichen Ämtern vollständig der Selbstsorge gewidmet hat.136 Nach der Auffassung von Foucault ging es den Römern bei die­ ser Form des Lebens allein darum, ein im engeren Sinne schönes und nicht bloß ein angenehmes Leben zu führen; jedenfalls steht - wie Foucault in einem Interview betont - seiner Meinung nach fest, »daß das Hauptziel jener Art von Ethik ein ästhetisches war. Erstens war diese Art von Ethik allein ein Problem der persönlichen Entschei­ dung. Zweitens war sie einem kleinen Teil der Bevölkerung vorbe­ halten; es ging nicht darum, ein Verhaltensmodell für jedermann vorzuschreiben. Schließlich gehorchte diese Entscheidung dem Wil­ len, ein schönes Leben zu führen und den anderen die Erinnerung eines ehrenhaften Lebens zu hinterlassen.«137 Obwohl Pierre Hadot - wie er an einer Stelle selber bekennt - weitgehend mit Foucault übereinstimmt, bezweifelt er, dass es den Griechen um eine Ästhetisierung ihres Lebens gegangen sei. »Die Philosophie stellt eine Le­ benskunst dar, einen Lebensstil, der die ganze Existenz als Einsatz fordert. Nichtsdestoweniger würde ich zögern, mit Foucault von einer >Ästhetik der Existenz< zu sprechen, sowohl was die Antike als auch was die Aufgabe des Philosophen im allgemeinen anbe­ langt.«138 Demgegenüber versucht Foucault jedoch, seine Ansicht im Zusammenhang mit den griechischen Ethikkonzepten zu unter­ mauern. Die hauptsächlichen Fragen der Griechen hätten niemals religiöse oder metaphysische Gegenstände betroffen, sondern es sei ihnen stets primär um die diesseitigen Fragen des direkt zu vollzie­ henden Lebens gegangen. »Mir fällt auf, daß sich in der griechischen Ethik die Leute mehr um ihre moralische Lebensführung, ihre Ethik 134 Ebenda, S. 70f. 135 Vgl. ebenda, S. 70. 136 Vgl. Plinius, Epistulae, 3. Buch, 1. 137 M. Foucault, Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch, übers. v. M. Kar­ be, Berlin o. J., S. 70. 138 P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, übers. v. I. Hadot u. Ch. Marsch, Berlin 1991, S. 179.

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und ihr Verhältnis zu sich und zum anderen sorgen als um religiöse Probleme. Was wird aus uns nach dem Tod? Was sind die Götter? [...] Diese Fragen waren kaum wichtig, denn sie waren nicht unmit­ telbar an die Ethik gebunden [...]. Was die Griechen interessierte, was ihr Thema war, das war die Konstitution einer Ethik als eine Ästhetik der Existenz.«139 Nach Foucault könnte nun gerade ein sol­ ches Konzept einer Ethik als einer Ästhetik der Existenz in unserer wesentlich agnostischen Zeit wiederum von einer besonderen At­ traktivität sein, wo die Religion die Funktion nicht mehr zu erfüllen vermag, die Moral allgemein zu fundieren. »Nun frage ich mich also, ob unser heutiges Problem gewissermaßen nicht ähnlich ist, angenommen daß die meisten von uns nicht mehr glauben, daß die Ethik auf die Religion gegründet ist [...].«140 Die »Ästhetik der Exis­ tenz« bildet daher für Foucault den Idealfall einer »Ethik ohne Me­ taphysik«. Mit dem Prinzip der »Sorge um sich« ist insofern nichts anderes gemeint, als dass der Einzelne sich in ein ästhetisches Verhältnis zu sich selber setzt. »Die Vorstellung des bios als Stoff eines Kunstwerks erscheint mir sehr faszinierend.«141 Indem das Leben wiederum zum Gegenstand künstlerischen Schaffens wird, gewinnt die Ästhetik den ihr gelegentlich abhanden gekommenen Ernst zurück. »Vor allem fällt mir auf, daß Kunst in unserer Gesellschaft etwas geworden ist, was nur die Gegenstände, nicht aber die Individuen und das Leben betrifft. Daß Kunst etwas besonderes ist, was allein von Spezialisten, nämlich den Künstlern gemacht wird. Doch warum sollte nicht jeder einzelne aus seinem Leben ein Kunstwerk machen können?«142 Durch das ästhetische Selbstverhältnis, welches auf dem Prinzip der Selbstsorge gründet, gelingt es dem agnostischen Menschen schließ­ lich überhaupt erst, so etwas wie ein Selbst zu konstituieren. »Aus dem Gedanken, daß uns das Selbst nicht gegeben ist, kann m. E. nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müssen uns wie ein Kunstwerk begründen, herstellen und anordnen.«143 Spätestens an dieser Stelle offenbart sich denn auch eine weitere Inspirationsquelle von Foucault: die Existenzphilosophie. 139 140 141 142 143

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M. Foucault, Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch, a. a. O., S. 70 f. Ebenda, S. 71. Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 80. Ebenda, S. 81.

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In seiner Foucault-Interpretation Auf der Suche nach einer neu­ en Lebenskunst hält Wilhelm Schmid drei Gesichtspunkte der »Äs­ thetik der Existenz« auseinander. Die ästhetische »Sorge um sich« hat erstens eine spezifische »Ästhetik als Wissensform«144 zur Vo­ raussetzung: »Ästhetik der Existenz meint die Beweglichkeit des Denkens, ein >mohiles Denkern, unaufhörlich verknüpft mit den Fra­ gen der Aktualität.«145 Zweitens beinhaltet das Konzept einer ethi­ schen Lehenskunst eine »Ästhetik als Begründungsform«146. Die Le­ bensform des Foucaultschen Ästhetikers erhält ihre Struktur durch eine »Normativität [...], die das Individuum sich selbst auferlegt«147; mithin gründet sie auf dem Gedanken einer spezifischen Freiheit.148 »Die Ethik einer Ästhetik der Existenz ist [.] eine Sache der persön­ lichen Entscheidung.«149 Schmid verweist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Differenz zwischen der künstlerischen Existenz­ weise bei Foucault und der ästhetischen Lebensform in Kierkegaards Entweder-Oder: »Foucault geht es mit der Ästhetik der Existenz um die Wahl der eigenen Form der Existenz und die individuelle Füh­ rung des Lebens, um all das also, was bei Kierkegaard gerade nicht die ästhetische, sondern die ethische Existenz charakterisiert.«150 Foucaults Lehenskünstler begnügt sich denn im Unterschied zum kierkegaardschen Ästhetiker nicht mit der Rolle eines zynischen Zu­ schauers, sondern er entscheidet sich, sich als ein Schaffender in ein ästhetisches Verhältnis zum Stoff seines Lehens zu setzen und seine Existenz zu einem Kunstwerk zu gestalten: Dieses Sich-ins-Verhältnis-Setzen macht seine Freiheit aus. Das Prinzip der Selhstsorge, wel­ ches die ästhetische Lebensform hei Foucault begründet, wird als Ge­ genstand einer fundamentalen strebensethischen Wahl vorgestellt. »Ästhetik der Existenz heißt, im Selbst eine Instanz zu installieren, die in ständiger Unruhe über den Weg ist, den die Existenz nimmt, und die den einzigen Punkt ihrer Ruhe in der Beständigkeit dieser Unruhe hat, semper in actu. Es handelt sich bei der Ästhetik der

144 W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt a.M. 1991, S. 280. 145 Ebenda, S. 285. 146 Ebenda, S. 280. 147 Ebenda, S. 288. 148 Vgl. ebenda. 149 Ebenda. 150 Ebenda, S. 293.

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Existenz um eine bewußte Form von Existenz.«151 Mit dem Begriff der Kunst ist gewissermaßen auch das Programm des Konzeptes von Foucaults Ethik genannt, welche folglich drittens eine »Ästhetik als Lebensform«152 darstellt: »[...] die Ästhetik der Existenz ist ein Wille zur Form, um aus sich selbst und seinem Leben ein Kunstwerk zu machen [...].«153 Das eigentliche Kunstwerk, welches dabei geschaf­ fen werden soll, besteht am Ende in dem vom Lebenskünstler für sich entworfenen Selbst. »Es geht in diesem Kunstwerk um die Lini­ en der Selbstkonstituierung [,..].«154 Der Lebensästhetiker versucht also nicht, wie ein Archäologe der Transzendenz ein bereits präformiertes, verborgenes Selbst ans Licht zu führen, vielmehr bestreitet er gar, dass dieses Selbst vor seiner eigenen Schöpfung bereits vor­ handen ist. »Das Subjekt, das sich als Kunstwerk versteht, will nicht mehr >sich selbst< in aller Wahrheit und Reinheit entdecken, nicht den Menschen in seinem eigentlichen Sein< befreien, sondern sich selbst erfinden und erarbeiten.«155 Ähnlich einem Künstler, der in eingehend reflektierter Weise versucht, sich mögliche Techniken und Regeln seiner Kunst anzueignen sowie diesbezügliche Erfahrun­ gen zu sammeln, ist der »Ästhetiker der Existenz« auf der Suche nach Technologien des Selbst156, nach seinem persönlichen Lebens­ stil. »Die Ästhetik der Existenz hat ihr Paradigma in der Existenz des Künstlers, daher ist sie auch als artistische Seinsweise zu bezeich­ nen. Analog zum Artisten konstituiert sich das ästhetische Selbst, das die Verfahrensweisen der Kunst auf sich wendet, um eine be­ stimmte Arbeit an sich selbst zu leisten, sich zu formen und zu transformieren.«157 Als Vorlage zu Foucaults »Ästhetik der Existenz« lässt sich meiner Ansicht nach - auch wenn der Name in jenem Zusammenhang mei­ nes Wissens nirgends bei Foucault erwähnt wird - unschwer Albert Camus' Philosophie der Revolte erkennen, welche ebenfalls auf das strebensethische Ziel hinausläuft, das »Leben als Kunstwerk« zu ge­ 151 Ebenda, S. 294. 152 Ebenda, S. 280. 153 Ebenda, S. 298. 154 Ebenda. 155 Ebenda. 156 Vgl. M. Foucault u.a., Technologien des Selbst, hg. v. L. H. Martin, H. Gutman u. P. H. Hutton u. übers. v. M. Bischoff, Frankfurt a.M. 1993. 157 W. Schmid, a.a.O., S. 302.

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stalten.158 Der weithin als Denker unterschätzte Camus interessiert sich in seinem Essay Der Mythos von Sisyphos ausschließlich für die eine praktische Frage nach dem Sinn des Lebens: »Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.«159 Schon am Anfang seiner Suche nach einer Antwort auf die Sinnfrage jedoch beschreibt Camus die zwingende Erfahrung, dass der Mensch in dieser Welt prinzipiell keinen Sinn zu erkennen vermag, dass sich sein Leben von daher grundsätzlich als absurd er­ weist. »Für Camus ist die Erfahrung des Absurden somit die Prämis­ se, von der er ausgeht, und nicht eine Konklusion, zu der er am Ende seiner Untersuchung gelangt.«160 Das Absurde besteht für Camus dabei in einer Beziehung - in der Relation zwischen der vernünftigen Sehnsucht des Menschen, einen Sinn zu erkennen, und der natürli­ chen Welt, die diese Sehnsucht nicht zu befriedigen vermag. »Absurd [...] ist die Gegenüberstellung des Irrationalen und des glühenden Verlangens nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird. Das Absurde hängt ebensosehr vom Menschen ab wie von der Welt.«161 Von ganz entscheidender Bedeutung für das Verständnis des Camus'schen Begriffs des Absurden ist folglich die Einsicht, »daß das Absurde nicht im Menschen [.] und auch nicht in der Welt liegt, sondern in ihrem gemeinsamen und gleichzeitigen Vorhanden­ sein.«162 Dennoch entsteht das Absurde als eine Art Inkompatibilität zwischen Mensch und Welt allererst durch das Eintreten des Men­ schen mit dessen Vernunft in diese an sich nicht-vernünftige Welt: Es ist die Vernunft, in deren Horizont dem Menschen die Existenz fragwürdig wird. »Wenn ich Baum unter Bäumen wäre, Katze unter den Tieren, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder vielmehr: dieses Problem bestünde überhaupt nicht, denn dann wäre ich ein Teil die­ ser Welt. Ich wäre diese Welt, zu der ich mich jetzt mit meinem ganzen Bewußtsein und mit meinem ganzen Anspruch auf Vertraut­ heit in Gegensatz befinde. Eben diese so höhnische Vernunft setzt

158 Vgl. zum Folgenden A. Pieper, Albert Camus, München 1984; G. Tesak-Gutmannsbauer, Der »Wile zum Sinn«. Das Wahre, Gute und Schöne bei Albert Camus, Hamburg 1993. 159 A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, übers. v. H. G. Brenner u. W. Rasch, Reinbekb. Hamburg 1959, S. 9. 160 A. Pieper, a.a.O., S. 88. 161 A. Camus, a.a.O., S. 23. 162 Ebenda, S. 31.

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mich in Widerspruch zur ganzen Schöpfung.«163 Wie Annemarie Pie­ per darlegt, erfasst Camus im Begriff des Absurden die Entfremdung des Menschen von seiner ursprünglichen, natürlichen Einheit mit der Welt hin zur Entzweiung von Vernunft und Welt: »Einerseits kann er nicht mehr oder allenfalls momentan in die Einheit seines natür­ lichen Ursprungs zurückkehren, da sich der Geist nicht in die Sinn­ lichkeit reintegrieren läßt. Andererseits vermag der Geist kein quali­ tatives Äquivalent für die verlorene Einheit hervorzuhringen; alle Begriffe und Prinzipien scheitern an der Unverfügharkeit der Welt.«164 Der Ausgangspunkt von Camus' Überlegungen deckt sich in et­ wa mit jenem Punkt, an welchem sowohl der zynische Ästhetiker hei Kierkegaard sowie der Erlehnisästhetiker und auch Foucault hei sei­ ner »Ästhetik der Existenz« stehen: Alle können sie in dieser Welt keinen Sinn mehr entdecken, wenngleich der Erlehnisästhetiker dies­ bezüglich noch immer von Hoffnung getragen ist. Im Unterschied zum Ästhetiker A versucht Camus jedoch, dem Zynismus als einem Weiterlehen ohne Grund zu entkommen und am Ende gar gewisser­ maßen eine Ethik des Ästhetikers zu entwerfen, ohne hei deren Be­ gründung durch einen ästhetisch-tödlichen Sprung im Sinne des Ethikers B aus Kierkegaards Entweder-Oder auf die kantische Ethik zurückzugreifen.165 Camus' Mythos vom Sisyphos lässt sich denn insgesamt wie ein kritischer Kommentar zu Entweder-Oder lesen. Im Gegensatz zum Ethiker B weiß Camus um den wahren Ernst der Situation des A in den »Diapsalmata«; er teilt dessen Erfahrung der Sinnlosigkeit und der Hoffnungslosigkeit. So stellt Camus sich lediglich die Frage, mit welchem guten Grund man unter der solcher­ art erkannten Conditio humana als Mensch noch weiterlehen kann. »[...] mich interessiert nicht so sehr die Entdeckung des Absurden wie deren Konsequenzen.«166 Camus greift die Selbstmordgedanken des A auf und üherlegt sich aus der Perspektive des ahsurden Stand­ punktes: »[...] gibt es eine Logik bis zum Tode?«167 Mit der Frage nach einer Logik ist damit gleichzeitig auch das Entscheidungskrite­ rium für oder gegen den Selbstmord genannt: die Vernunft. »Man 163 Ebenda, S. 47. 164 A. Pieper, a.a.O., S. 91. 165 Vgl. H. Fahrenbach, Existenzdialektische Ethik, in: A. Pieper (Hg.), Geschichte der neueren Ethik, Bd. 1, Tübingen / Basel 1992, S. 274. 166 A. Camus, a.a.O., S. 19. 167 Ebenda, S. 14.

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kann den Grundsatz aufstellen: die Handlungsweise eines aufrichti­ gen Menschen müsse von dem bestimmt werden, was er für wahr hält.«168 Zwei Arten des Selbstmordes müssen des Weiteren nach Camus unterschieden werden, welche er schließlich beide als unlo­ gisch verwirft: den physischen und den philosophischen Selbstmord. Während der physische Selbstmord das eine der Relata des Absur­ den, den Menschen, vernichtet und damit das absurde Verhältnis zerstört, hebt der philosophische Selbstmord, der im Abschwören von der nach Klarheit strebenden Vernunft besteht, das andere der Relata des Absurden und somit ebenfalls das Absurde selber auf. »Wenn ich etwas als wahr erkenne, muß ich daran festhalten. Wenn ich ein Problem lösen will, dann darf ich zumindest durch diese Lösung nicht einen Bestandteil dieses Problems verschwinden lassen. Das einzig Gegebene ist für mich das Absurde.«169 Die Frage nach dem Selbstmord wird damit zur Frage nach dessen Zusammenstim­ men mit der absurden Voraussetzung. »Zwar weist das Absurde an sich selber keinerlei Folgerichtigkeit auf, wohl aber läßt sich zeigen, welche den Menschen und sein Handeln betreffenden Schlußfolge­ rungen mit der Voraussetzung des Absurden verträglich sind und welche nicht.«170 Das sich aus dem vernünftigen Prinzip der Aufrich­ tigkeit ergebende Gebot, das Absurde bestehen zu lassen, verpflichtet denn zugleich dazu, selber am Leben zu bleiben. »Der letzte Schluß der absurden Argumentation ist in der Tat die Verwerfung des Selbstmordes und die Erhaltung jener hoffnungslosen Kluft zwi­ schen der Frage des Menschen und dem Schweigen der Welt.«171 Vom Standpunkt der Philosophie ist der Mensch damit zum Leben verurteilt. Im Rahmen seiner »absurde[n] Logik«172 geht Camus so­ dann der Form dieses Lebens nach. Im Unterschied zum Ästhetiker A vermag Camus mit dem Ab­ surden folglich tatsächlich eine feste Grundlage der Existenz bzw. einen archimedischen Punkt zu bezeichnen, von dem aus sich der Sinnsuchende in den Horizont einer Existenz hinuntergleiten lassen kann. »Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Kon­ sequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, 168 Ebenda, S. 11. 169 Ebenda, S. 31. 170 A. Pieper, a. a. O., S. 94. 171 A. Camus, Der Mensch in derRevolte, übers. v. J. Streller, Reinbekb. Hamburg 1969, S. 9. 172 Ders., Der Mythos von Sisyphos, a. a. O., S. 32.

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in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreiht, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt.«173 Diesem letzten Satz, den Kierkegaards A an einer Stelle notiert, würde Camus' Ästhetiker so­ gar in einem positiven Verständnis zustimmen, denn hei allem, was er denkt oder unternimmt, hleiht er zunächst in gewisser Weise im­ mer durch einen selher gesponnenen Bewusstseinsfaden an das ahsurde Verhältnis als seine Existenzhedingung gehunden. »Der Mensch setzt sich ins Verhältnis zum Verhältnis seines Menschseins und ist jetzt nicht mehr nur der in diesem Verhältnis Befangene, sondern derjenige, der sich zu sich selhst verhält hzw. verhalten kann. Die einzige Möglichkeit aher, sich zum Verhältnis seines Mensch­ seins ins Verhältnis zu setzen, ohne dieses Verhältnis zu zerstören, ist die Revolte!«174 Wie Gerhild Tesak-Gutmannshauer herausarheitet, umfasst die Revolte als ein spezifisches Selhstverhältnis zum einen die Selhstwahl des Menschen als eines definitiv vergehlich nach einem ahsoluten Sinn Auslangenden und zum anderen das gleichzeitige Beharren auf einem Lehenssinn, was Tesak-Gutmanns­ hauer auf die treffende Formel hringt, »daß Camus' Philosophie eine Philosophie des >Willens zum Sinn< ist«175. Angesichts des Faktums des Ahsurden versucht der »Wille zum Sinn«, sich seinen Sinn selher zu erschaffen, wodurch sich schließlich die Revolte des ahsurden Äs­ thetikers auf der Ehene der ganz konkreten Handlungen realisiert. Der Kunst kommt damit nach Annemarie Pieper eine gewisse Kor­ rektur-Funktion176 zu: Was die Schöpfung dem Ästhetiker nicht vergönnt, das hewerkstelligt er aus eigener Kraft. Das hetreffende Lehenskonzept fasst Pieper mit diversen Hinweisen auf Camus' Ta­ gebücher 1935-1951177 unter dem Titel »Die korrigierte Schöp­ fung«178 zusammen: »Durch schöpferische Produktion findet der Mensch seine Identität in der Vereinigung mit der veränderten, er­ gänzten, korrigierten Welt. Auf diese Weise wird jeder Mensch zum Künstler, insofern er sein Lehen als Kunstwerk hervorhringt.«179 173 S. Kierkegaard, Entweder - Oder, a. a. O., S. 32. 174 G. Tesak-Gutmannshauer, a. a. O., S. 30. 175 Ehenda, S. 7. 176 Vgl. A. Pieper, a. a. O., S. 165-174. 177 Vgl. A. Camus, Tagebücher 1935-1951, ühers. v. G. G. Meister, Reinhekh. Hamhurg 1972, S. 103 u. 253. 178 A. Pieper, a.a.O., S. 165. 179 Ehenda, S. 172.

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Durch »die schöpferische Hervorhringung von Sinn im Medium der Revolte«180 erlangt der ahsurde Lehenskünstler am Ende auch sein Glück: »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.«181 Die Lehensform des ahsurden Ästhetikers, der sich unermüdlich re­ voltierend seinen Sinn und sein Glück selher schafft, stellt nach Ca­ mus eine heroische Lehensform dar. Vom Standpunkt des ahsurden Bewusstseins giht es danehen üherhaupt nur zwei weitere Lehensfor­ men, welche indessen heide durch eine gewisse Mutlosigkeit gekenn­ zeichnet sind. Vom Faktum des Ahsurden herührt, hleihen dem durch diese Berührung aus der selbstverständlichen »Kette« der alltäglichen Ver­ richtungen und Gewohnheiten geworfenen Menschen zunächst zwei Möglichkeiten: »die unhewußte Umkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen«182. Die Verdrängung des Ahsurden als ein er­ neutes Aufgehen in den oherflächlichen Selhstverständlichkeiten des Alltags erscheint im Vergleich mit den geistigen und seelischen An­ strengungen, welche das ahsurde Bewusstsein ahverlangt, wie ein Akt der Feigheit. Die zweite nicht-ahsurde Lehensform gründet - wie Camus es formuliert - auf dem philosophischen Selhstmord. »Nun, wenn ich mich an die Lehren der Existenzphilosophie halte, so sehe ich, daß ausnahmslos alle mir ein Ausweichen vorgeschlagen hahen. Sie ge­ hen vom Ahsurden aus, auf den Trümmern der Vernunft in eine ge­ schlossene, auf das Menschliche hegrenzte Welt, und durch eine sonderhare Überlegung vergöttlichen sie das, was sie zerschmettert, und sie finden einen Grund zur Hoffnung in dem, was sie hilflos macht.«183 Wie hereits dargelegt, wird heim philosophischen Selhst­ mord das Ahsurde resp. das ahsurde Verhältnis zwischen dem menschlichen Anspruch auf Klarheit und Rationalität sowie dem Schweigen hzw. der Irrationalität der Welt dadurch aufgelöst, dass jene Unvernünftigkeit der Welt zunächst zu einem religiösen Ge­ heimnis umgedeutet und dieses Geheimnis sodann als ein metaphy­ sischer Appell an den Menschen verstanden wird, auf den eigenen 180 181 182 183

Ehenda. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos, a.a.O., S. 101. Ehenda, S. 16. Ehenda, S. 32.

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Rationalitätsanspruch zu verzichten - ein Appell, dem laut Camus zuletzt die Philosophen von Kierkegaard his Jaspers willig Folge leis­ ten. Die Lehensform des philosophischen Selhstmordes hedeutet nach Camus eine Selbstverleugnung des Menschen. »Wenn aher das Ahsurde einmal als prinzipiell nicht zu Üherwindendes eingesehen ist, dann ist die einzige logische Konsequenz, die aus dieser Evidenz ge­ zogen werden muß, die, daß das Ahsurde um des Selhstseinkönnens des Menschen willen aufrechterhalten, der Widerspruch ausgehalten werden muß.«184 Die ahsurd-ästhetische Lehensform versteht sich deshalh als einzige Lehensform, welche vor der menschlichen Ver­ nunft zu hestehen vermag und die Sache der Menschen nicht verrät. Aus seinem Lehen ein Kunstwerk zu machen, sein Lehen künstle­ risch zu gestalten, hedeutet nach Camus, in einer eminenten und aufrichtigen Weise als Mensch zu lehen. Analog hierzu hestimmte schon Kant in seiner Kritik der Urteilskraft die Schönheit als ein spezifisch humanes oder dem Menschen vorhehaltenes Strehensziel. »Annehmlichkeit gilt auch für vernunftlose Thiere; Schönheit nur für Menschen, d. i. thierische, aher doch vernünftige Wesen, aher auch nicht hlos als solche (z. B. Geister), sondern zugleich als thieri­ sche; das Gute aher für jedes vernünftige Wesen üherhaupt; ein Satz, der nur in der Folge seine vollständige Rechtfertigung und Erklärung hekommen kann.«185 Entgegen seiner Ankündigung nimmt zwar Kant an keiner Stelle seiner Schrift üher die Urteilskraft mehr Bezug auf diese Differenzierung; dafür hat Friedrich Schiller jenen Gedan­ ken Kants zum Programm seiner eigenen Philosophie erhohen, wohei es ihm scheinhar gelingt, einige seiner eigenen Missverständnisse der kantischen Philosophie fruchthar zu machen. Was sich hei Kant wie eine hierarchische Ahfolge von Stufen liest: das Angenehme als Zielpunkt der Neigungen und - darüher das Schöne und - zuoherst - das Gute als die durch das moralische Gefühl vermittelte Pflicht; wird für Schiller zum Signum des Inhu­ manen.186 Der kantischen Freiheit, das Gute als das Vernünftige zu wollen, d. h. der Autonomie oder Selhstgesetzgehung, stellt Schiller 184 A. Pieper, Camus' Verständnis des Ahsurden in Der Mythos von Sisyphos, in: dies. (Hg.), Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Alhert Camus, Tühingen / Basel 1994, S. 7. 185 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 210. 186 Vgl. zum Folgenden A. Pieper, Idealistische Ethik, in: dies. (Hg.), Geschichte der neueren Ethik, Bd. 1, Tühingen / Basel 1992, S. 191-202.

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deshalb - entsprechend seiner Annahme einer zusätzlichen, spezi­ fisch menschlichen Wahlmöglichkeit - eine noch grundlegendere Freiheit voran. »Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei zwischen Pflicht und Neigung [.. .].«187 Sowohl ein Leben gemäß den bloßen Begierden wie auch die versuchte Nachahmung der Götter bzw. ein Leben allein nach den reinen Vernunftgesetzen beschreiben denn nach Schiller zwei mögliche menschliche Selbstverfehlungen. »Der Mensch kann sich aber auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zer­ stören. [...] Wenn die Vernunft in die physische Gesellschaft ihre moralische Einheit bringt, so darf sie die Mannigfaltigkeit der Natur nicht verletzen. Wenn die Natur in dem moralischen Bau der Gesell­ schaft ihre Mannigfaltigkeit zu behaupten strebt, so darf der mora­ lischen Einheit kein Abbruch geschehen [,..].«188 Das menschliche Handlungsideal, welches von Schiller propagiert wird, reduziert den Menschen schließlich nicht auf irgendeines seiner Wesensmomente, sondern berücksichtigt in integrierender Form sozusagen die Ganz­ heit oder die »Totalität des Charakters«189. In schillerschen Begriffen ausgedrückt, lässt sich die innere Grundsituation des Menschen als ein Widerstreit zwischen »Stoff­ trieb« und »Formtrieb« charakterisieren. »Der erste dieser Triebe, den ich den sinnlichen nennen will, geht aus von dem physischen Dasein des Menschen oder von seiner sinnlichen Natur und ist be­ schäftigt, ihn in die Schranken der Zeit zu setzen und zur Materie zu machen [,..].«190 Während demzufolge der Stofftrieb den Menschen dazu anhält, seine sinnliche Wesenskomponente zu verwirklichen, drängt der Formtrieb den Menschen dazu, dass er sich als ein Ver­ nunftwesen zu realisieren sucht. »Der zweite jener Triebe, den man den Formtrieb nennen kann, geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Er­ scheinens zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Per­ son zu behaupten.«191 187 in: 188 189 190 191

F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Sämtliche Werke, hg. v. G. Fricke u. H. G. Göpfert, Bd. 5, Darmstadt 1989, S. 576. Ebenda, S. 579. Ebenda. Ebenda, S. 604. Ebenda, S. 605.

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Den Statthalter des schillerschen Ideals im Bereich des mensch­ lichen Gemütes nun bildet der Spieltrieh, welcher nichts anderes als eine Art harmonischer Zusammenarbeit zwischen dem Stofftrieh und dem Formtrieh meint. »Der Spieltrieh also, als in welchem beide verbunden wirken, wird das Gemüt zugleich moralisch und physisch nötigen; er wird also, weil er alle Zufälligkeit aufheht, auch alle Nöti­ gung aufhehen und den Menschen sowohl physisch als moralisch in Freiheit setzen.«192 Durch den Spieltrieh gelingt es dem Menschen, den Ansprüchen des Stofftriehes und jenen des Formtriehes gleich­ zeitig gerecht zu werden. »Der Gegenstand des sinnlichen Triehes [...] heißt Lehen [...]. Der Gegenstand des Formtriehes [...] heißt Gestalt [...]. Der Gegenstand des Spieltriehes [...] wird also lehende Gestalt heißen können [,..].«193 Der Spieltrieh stellt mithin ein ahgeleitetes Vermögen dar, wel­ ches letztlich auf eine hestimmte Vernunftforderung zurückgeht: In dem Moment, da nämlich die menschliche Vernunft am Menschsein festhält und sich dessen Vollendung denkt, hat sie zugleich den Spieltrieh hegründet, welcher die Aussöhnung der menschlichen Wesens­ komponenten anstreht. »Die Vernunft stellt aus transzendentalen Gründen die Foderung auf: es soll eine Gemeinschaft zwischen Formtrieh und Stofftrieh, d. h. ein Spieltrieh sein, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit den Begriff der Menschheit vollendet. [...] sohald sie demnach den Ausspruch tut: es soll eine Menschheit existieren, so hat sie ehen dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit sein.«194 Die Schönheit als das Proprium des Menschen stellt somit das eigentliche Produkt des Spieltriehes dar und hasiert als solches auf einer hesonderen Weise der Freiheit. »Sohald nämlich zwei ent­ gegengesetzte Grundtriehe in ihm tätig sind, so verlieren heide ihre Nötigung, und die Entgegensetzung zweier Notwendigkeiten giht der Freiheit den Ursprung.«195 Als Ästhetiker stößt der Mensch hier in den Horizont einer Freiheit vor, die allein ihm als Menschen vorhehalten hleiht - einer »Freiheit [...], welche sich auf seine gemischte

192 193 194 195

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Ehenda, Ehenda, Ehenda, Ehenda,

S. 613. S. 614. S. 615. S. 631.

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Natur gründet«196. In einem als Kunstwerk gestalteten Leben oder überhaupt im Schaffen und Schauen von Schönheit erlangt der Mensch einen Zustand der Gleichmütigkeit, in welchem er zugleich von der Aufdringlichkeit der Sinnlichkeit und vom moralischen Ver­ nunftanspruch befreit ist und welcher darum die dem Menschen ei­ gentümliche Form des Glücks ausmacht. »Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf beide Art tätig ist, verdient vorzugsweise eine freie Stim­ mung zu heißen [...].«197 In dieser Gemütslage bzw. in der entspre­ chenden Lebensform erlangt und behauptet der Mensch schließlich seine Ganzheit, während er sich in den Lebensformen der bloßen Sinnlichkeit oder der reinen Vernünftigkeit als menschliches Wesen teilamputiert fühlen muss: In diesem Sinne wird Schönheit gar zum Vorzug des Menschen gegenüber den Göttern, worauf insgesamt die ästhetische Lebensform ihre Haltung der moralischen Überlegenheit gegenüber allen anderen Lebensformen gründet. Schon bei Schiller scheint mir damit etwas von jenem Camus'schen Geist der Revolte spürbar zu sein - einer Revolte, die sich hier allerdings noch weniger gegen die elende Conditio humana als vielmehr gegen Kant richtet, den Schiller indessen gründlich missversteht. Wie weiter oben dargelegt, erweist sich nach Camus »das Leben als das einzig notwendige Gut«198. Denn der Besitz von Leben ist die Realbedingung dafür, dass das Absurde im Sinne der Revolte über­ haupt aufrecht erhalten und ihm Ausdruck verliehen werden kann. »Um sagen zu können, daß das Leben absurd ist, muß das Bewußt­ sein Leben haben.«199 Camus' Philosophie der Revolte begreift mit­ hin das Leben in einer herausragenden Bedeutung als eine Art Grundwert. »Leben ist somit der einzige Wert, den das Absurde nicht negieren kann, ohne sich dabei selbst aufzuheben.«200 Der sinn­ suchende Ästhetiker, welcher angesichts des Faktums des Absurden bei Kierkegaard noch Selbstmordgedanken hegt, findet folglich bei Camus gerade im Absurden selber den entscheidenden Grund zum Weiterleben. »Durch das bloße Spiel des Bewußtseins verwandle ich 196 Ebenda. 197 Ebenda, S. 633. - Vgl. U. Thurnherr, Die Ästhetik der Existenz. Über den Begriff der Maxime und die Bildung von Maximen bei Kant, Tübingen / Basel 1994, S. 154-159. 198 A. Camus, Der Mensch in der Revolte, a.a.O., S. 9. 199 Ebenda, S. 10. 200 G. Tesak-Gutmannsbauer, a.a.O., S. 23.

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in eine Lebensregel, was eine Aufforderung zum Tode war - und ich lehne den Selbstmord ab.«201 Die Werthaftigkeit des Lebens betrifft indessen nicht bloß das Leben des einzelnen Individuums, sondern vor allem auch das Leben des anderen, d. h. alles Leben, das zu einem Bewusstsein des Absur­ den fähig ist. Aus diesem Grunde stehen sowohl der Selbstmord als auch der Mord im Widerspruch mit der Logik des Absurden. »Wenn man dem Selbstmord seine Gründe abspricht, ist es gleicherweise unmöglich, dem Mord solche zuzusprechen. Die absurde Überlegung kann nicht das Leben dessen bewahren, der spricht, und zugleich die Opferung der andern dulden.«202 Genau betrachtet erkennt die ab­ surd-ästhetische Lebensform demnach eigentlich einzig den Wert des menschlichen Lebens an. Die Menschen der absurden Lebensform erkennen, dass ihre Mit­ menschen in keiner Lebenssituation wirkliche Feinde sein können: Der wahre Feind des Menschen müsste schon eher in jener verborge­ nen Instanz - wenn es eine solche gäbe - gesehen werden, welche für die unmenschliche Conditio humana die Letztverantwortung trägt. Im Hinblick darauf, dass das Absurde dem Leben sämtlicher Men­ schen eigentümlich ist, kann sich die Revolte bzw. das Festhalten am Absurden schließlich auch nicht im Akt eines einzelnen, isolierten Menschen erschöpfen, sondern muss zu einem solidarischen Akt der Gesamtheit der Menschen werden. »Das Individuum stellt demnach nicht an sich den Wert dar, den es verteidigen will. Um ihn zu bilden, bedarf es mindestens aller Menschen. In der Revolte übersteigert sich der Mensch im andern, von diesem Gesichtspunkt aus ist die mensch­ liche Solidarität eine metaphysische.«203 Das durch die eigene Ver­ nunft verordnete Gebot des revoltierenden Menschen, das Feuer des Absurden als der einzigen Gewissheit zu hüten, verpflichtet den Menschen zugleich dazu, das menschliche Leben insgesamt als die Grundlage des absurden Bewusstseins zu schützen, d. h., sich in der Revolte mit allen anderen Menschen zu solidarisieren. »Die Solidari­ tät der Menschen gründet in der Bewegung der Revolte, und sie findet ihrerseits die Rechtfertigung nur in dieser Komplicenschaft.«204 Die 201 202 203 204

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A. Camus, Der Mythos von Sisyphos, a. a. O., S. 57. Ders., Der Mensch in der Revolte, a. a. O., S. 11. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 21.

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Die ästhetische Lebensform

absurde Besinnung auf die Gemeinsamkeit der eigenen Daseins­ bedingung verbindet die Menschen mithin allererst zu einer Einheit im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft, zur Menschheit in einer mo­ ralischen Bedeutung. »Die menschliche Natur jedoch ist letztlich nichts anderes als die Freiheit, die [...] sich um anderer Freiheit willen auf das allen Menschen Gemeinsame beschränkt und entsprechend ihre Aufgabe in der Verteidigung dieses allen Gemeinsamen sieht.«205 In jeder einzelnen Handlung steht sodann die Würde der Menschheit immer wieder von neuem auf dem Spiel gegenüber jener skandalösen Mächtigkeit des Absurden. »Als sie der Unterdrückung eine Grenze steckte, jenseits welcher die allen Menschen gemeinsame Würde be­ ginnt, bestimmte die Revolte einen ersten Wert. Sie setzte an die erste Stelle eine durchsichtige Komplicenschaft der Menschen untereinan­ der, ein gemeinsames Band, die Solidarität der Kette, die die Men­ schen einander ähnlich macht und verbündet.«206 Jene »durchsichtige Komplicenschaft der Menschen untereinander« bildet dabei die Mo­ ral der Solidarität oder der Nächstenliebe als die Moral des absurden Ästhetikers. »Diese Form der Nächstenliebe im Sinne einer Näch­ stenliebe ohne Gott, die die Menschen über alle durch das Absurde entstandenen Trennungen und Widersprüche hinweg geschichtlich miteinander vereinigt, ist [.] der Grundwert, ohne den nichts ande­ res für den Menschen einen Wert haben kann.«207 Die Moral der Solidarität findet bei Camus ihre Grundlage in einer »Ethik der Quantität«208. Da Sinn oder Einheit in einer qualitativen Form nicht zu erreichen bzw. herzustellen sind, bleibt dem absurden Menschen lediglich der quantitative Weg offen: Entsprechend dem Geist der Revolte muss der sinnsuchende Ästhetiker letztlich ver­ suchen, das absurde Verhältnis ohne Unterlass hervorzubringen. »[...] der Wunsch nach Einheit verlangt nicht nur, daß alles rational sei. Er will obendrein, daß das Irrationale nicht geopfert werde.«209 Die Revolte wird vom absurden Menschen mithin realisiert, indem er nicht mehr aufhört, der irrationalen Welt seine Forderung nach Klarheit entgegenzuhalten; seine rationalen und seine irrationalen 205 206 207 208 209

A. Pieper, Albert Camus, München 1984, S. 143f. A. Camus, Der Mensch in der Revolte, a.a.O., S. 227. A. Pieper, a. a. O., S. 144. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos, a.a.O., S. 63. Ders., Der Mensch in der Revolte, a. a. O., S. 239.

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Wesensanteile nebeneinanderzuhalten. »Zu gleicher Zeit, da sie eine den Menschen gemeinsame Natur nahelegt, bringt die Revolte das Maß und die Grenze ans Licht, die das Prinzip dieser Natur sind.«210 Im Rahmen dessen, was Camus als »Das mittelmeerische Denken«211 bezeichnet, kommt damit im Weiteren jenes Strukturmoment in den Blick, das bei einer jeden absurden Handlung verwirklicht werden soll: das Maß. »Das Maß ist nicht das Gegenteil der Revolte. Die Revolte ist das Maß [...]. [...] Das Maß, der Revolte entstammend, kann nur durch die Revolte erlebt werden. Es ist ein ständiger Kon­ flikt, den der Geist ohne Ende hervorruft und meistert. Es siegt weder über das Unmögliche noch über den Abgrund, es hält ihnen die Waa­ ge.«212 Im verwirklichten Maß hat der absurde Ästhetiker sein vernünftiges Verlangen nach Sinn und die Zurückweisung dieses Verlangens durch die irrationale Natur zu einer Einheit gestaltet. »Das Maß [.] ist eine reine Spannung.«213 Zwar vermag der absurde Mensch nach wie vor keinen unbedingten Sinn zu verwirklichen, dadurch aber, dass er durch die Realisierung des absurden Maßes das Absurde als schreienden Skandal in seinem Bewusstsein am Leben erhält und gleichzeitig seine absurde Situation bedingungslos selber wählt, gelangt sein »Wille zum Sinn« aufgrund einer unbedingten Selbstwahl doch noch an das Ziel, eines Sinnes teilhaftig zu werden bzw. eine Einheit herzustellen. »Im Hinblick auf das Konzept des >Willens zum Sinn< könnte man nun gewissermaßen von einer Wil­ lenshandlung auf einer Metaebene sprechen, d.h. von einem trans­ zendentalen Willensakt, der menschliches Handeln aus einem Unbe­ dingten, d. i. der Autonomie in einer erweiterten Bedeutung zu begründen und rechtfertigen vermag.«214 Woran sich der absurde Ästhetiker konkret zu halten hat, um das Maß zu realisieren, kann allerdings im Einzelnen nicht mehr spezifiziert werden. »Das Maß als Verhältnis bzw. als Term einer Art Proportion kann [...] inhaltlich nur exemplarisch, d.h. in Form von Beispielen weitergegeben werden.«215 Den absurden Lebensvoll­ zug veranschaulicht Camus daher anhand von vier Gestalten der ab­

210 211 212 213 214 215

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Ebenda, S. 238. Ebenda, S. 226-248. Ebenda, S. 244. Ebenda. G. Tesak-Gutmannsbauer, a.a.O., S. 43. Ebenda, S. 64.

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Die ökonomische Lebensform

surden Lebensform: Unter den Titeln »Der Don-Juanismus«216, »Das Theater«217, »Die Eroberung«218 und »Das absurde Kunstwerk«219 werden typologisch der absurde Don Juan, der Schauspieler, der Er­ oberer sowie der absurde Künstler als absurd-ästhetische Heroen vor­ gestellt, deren mythisches Vorbild in Sisyphos zu sehen ist. Alles, was dabei von der Lebenskunst dieser absurden Lebenskünstler ver­ mittelt werden kann, ist schließlich die Form ihres Lebens selbst. In vergleichbarem Sinne antwortet laut Tacitus schon Seneca in der Stunde seines Todes auf die Frage, was er denn seinen Jüngern als philosophisches Erbe hinterlasse: »das nunmehr einzige, jedoch auch das Schönste, das erbesitze, das Bild seines Lebens«220.

5.2. Die ökonomische Lebensform Während Platon - wie bereits erwähnt - die ökonomische Lebens­ form nicht als eine eigenständige Lebensform betrachtet und ledig­ lich als einen Aspekt der ästhetischen Lebensform behandelt, erach­ tet Aristoteles den chrematistes bios zwar als eine besondere Lebensform, verliert aber nur wenige Sätze über sie. »Die kaufmän­ nische Lebensform hat etwas Gewaltsames an sich, und offensichtlich ist der Reichtum nicht das gesuchte Gute. Denn er ist nur als Mittel zu anderen Zwecken zu gebrauchen.«1 Unter Hinweis auf den Kom­ mentar von Obertus Giffanius interpretiert Philip Merlan das betref­ fende Epitheton der ökonomischen Lebensform, welches hier mit »etwas Gewaltsames« übersetzt worden ist, als eine Weise der Per­ versität.2 »ßimoc; heißt hier wie sonst so oft bei Aristoteles un­ natürlich. Unnatürlich ist aber ein dem Gelderwerb gewidmetes Le­ ben, weil Geld nur Mittel zum Zweck ist, während es im Leben des Geldmenschen zum Zweck erhoben wird.«3 Möglicherweise macht 216 Vgl. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos, a. a. O., 61-67. 217 Vgl. ebenda, S. 67-72. 218 Vgl. ebenda, S. 72-78. 219 Vgl. ebenda, S. 79-97. 220 Tacitus, Ab excessu divi Augusti, XV, 62, in: Annalen Xl-XVl, übers. v. W. Sontheimer, Stuttgart 1967. 1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1096 a 5-7. [Zitiert nach der Übersetzung v. O. Gigon, 6. Aufl., München 1986.] 2 Vgl. P. Merlan, Zum Problem der drei Lebensarten, in: Philosophisches Jahrbuch, 74, 1966, S. 217-219 3 Ebenda S. 217.

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sich indessen eine solche tatsächlich bereits von Aristoteles intendier­ te Kritik an der ökonomischen Lebensform die Sache etwas zu ein­ fach. Das Spezifische an der ökonomischen Lebensform besteht nach Eduard Spranger in dem Versuch, sich einen gewissen Freiraum ge­ genüber den Ansprüchen der eigenen Sinnlichkeit zu verschaffen. »[...] auch bei [ihr] steht doch im Hintergrund des ganzen Verhal­ tens das Streben nach Befreiung vom unablässigen Druck der Be­ dürfnisse. Die ganze Psychologie der Wirtschaft wird verkannt, wenn man nicht diese Sehnsucht nach freiem Ellbogenraum als ihre trei­ bende Kraft einsieht, und wenn man nicht weiß, daß die Bedürfnisse des Menschen, sofern man ihn seiner freien wirtschaftlichen Trieb­ feder überläßt, nicht an einem bestimmten Durchschnittspunkte auf­ hören, sondern über den gegebenen Befriedigungsstand noch weiter hinauswachsen. Es liegt also in dem wirtschaftlichen Streben, obwohl es in den Umkreis der Natur gebannt ist, doch etwas Unendliches, sich immer wieder neu Erzeugendes.«4 Ein Grundirrtum des »Öko­ nomen« liegt soweit darin, dass er die Natur des Menschen verkennt, indem er eine definitive Stillung der Bedürfnisse für möglich hält. Das Geld stellt aber nicht nur den Garanten der Bedürfnisbefrie­ digung dar, sondern darüber hinaus bietet es eine bestimmte Sicher­ heit im Überlebenskampf. Einsehbar wird dies in unserer Zeit zum Beispiel im Kontext der Krankenversicherungen: Je mehr Geld je­ mand zur Verfügung hat, desto besser vermag er sich für den Fall einer Krankheit zu versichern; und je besser er versichert ist, desto mehr Aufwand wird im Krankheitsfalle für die Wiederherstellung seiner Gesundheit betrieben: Mein Geld wird so zum Index für die Menge all jener Mittel, welche am Ende meinem Überleben nützen. »Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist [.] derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung.«5 Das Interesse der ökonomischen Lebensform zielt demzufolge auf ein Glück primär der Sicherheit, wie es exemplarisch in der Novelle Bri­ gitta von Adalbert Stifter veranschaulicht wird (in der es u. a. um die Kultivierung und Bewirtschaftung von Ländereien geht), wobei darin 4 E. Spranger, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 9. Aufl., Tübingen 1966, S. 147. 5 Ebenda, S. 148.

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vor allem auch deutlich wird, dass das oberste Ziel der ökonomischen Lebensform nicht allein im Gelderwerb, sondern in der Aneignung jeder Form von Besitz zu sehen ist: Sowohl Geld als auch Besitz - der sich ja fast jederzeit zu Geld machen lässt - bilden die Garanten der Lebenssicherung und der Bedürfnisbefriedigung. Indem ich Geld be­ sitze, weiß ich, dass ich gegenüber meinen Bedürfnissen und gegenü­ ber den möglichen Widerfahrnissen des Lebens eine gewisse Reserve habe. In diesem Sinne ist schließlich auch Aristoteles beizupflichten, nach welchem in der ökonomischen Lebensform das Geld nur ver­ meintlich den obersten Zweck ausmacht: Der eigentliche Zweck müsste man hier ergänzend hinzufügen - ist eine gewisse Sicherheit. Auf einer psychologischen Ebene könnte man deshalb vielleicht von einem ökonomistischen Fehlschluss sprechen. Georg Simmel sieht dementsprechend in der »Bedeutung des Geldes, das größte und voll­ endetste Beispiel für die psychologische Steigerung der Mittel zu Zwecken«6. Hierzu schreibt Simmel des Weiteren: »Indem sein Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so hoch, daß es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewußtsein an ihm definitiv Halt macht. Die innere Polarität im Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Men­ schen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zu einem Sinnbild, in dem die großen Regulative des prakti­ schen Lebens gleichsam erstarrt sind.«7 Die dem Geld unterstellte Letztzweckfunktion verbaut am Ende vollständig die Sicht auf jene Objekte, welche allenfalls tatsächlich als oberste Zwecke in Frage kommen. »Das Wesentliche aber ist die allgemeine [...] Tatsache, daß das Geld allenthalben als Zweck empfunden wird und damit au­ ßerordentlich viele Dinge, die eigentlich den Charakter des Selbst­ zwecks haben, zu bloßen Mitteln herabdrückt.«8 Die Degradierung aller möglichen Gegenstände und Zwecke zu untergeordneten Mit­ teln beim ernsten Streben nach Geld und Besitz manifestiert sich et­ wa in jenen Zusammenhängen, wo sich der ökonomistische Jargon über außerhalb der Finanzwelt liegende Sachen und Angelegenheiten ausspricht. So überschreibt zum Beispiel die Schweizerische Wirt­ 6 G. Simmel, Philosophie des Geldes, in: Gesamtausgabe, Bd. 6, hg. v. O. Rammstedt, Frankfurt a.M. 1989, S. 302. 7 Ebenda, S. 298f. 8 Ebenda, S. 593.

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schaftszeitung cash ihren feuilletonistischen Teil mit »Schöne Sei­ ten« - gleichsam, als obliege der Kultur grundsätzlich bloß eine Mit­ tel- hzw. eine Unterhaltungs- oder Erholungsfunktion resp. bilde die Kultur ein dekoratives Anhängsel. Entsprechend definiert auch eine ökonomische Ästhetik beispielsweise Kunst als das, was Geld kostet. Die Selbsttäuschung der ökonomischen Lebensform - welche unmit­ telbar auf Geld, mittelbar aber auf Lebenssicherung zielt - über ihren wirklichen obersten Zweck hängt gemäß Max Horkheimer mit einer Reduktion der ökonomischen Vernunft auf »das abstrakte Funktio­ nieren des Denkmechanismus«9 zusammen. Die ökonomische Ver­ nunft enthält sich denn weitgehend aller Aussagen, in denen es nicht um instrumentelle Überlegungen geht. »Diese Art von Vernunft kann subjektive Vernunft genannt werden. Sie hat es wesentlich mit Mitteln und Zwecken zu tun, mit der Angemessenheit von Verfah­ rensweisen an Ziele, die mehr oder minder hingenommen werden und sich vermeintlich von selbst verstehen. Sie legt der Frage wenig Bedeutung bei, ob die Ziele als solche vernünftig sind. Befaßt sie sich überhaupt mit Zwecken, dann hält sie es für ausgemacht, daß sie dem Interesse des Subjekts im Hinblick auf seine Selbsterhaltung dienen [.. .].«10 Zwei miteinander zusammenhängende Momente kennzeich­ nen demnach insgesamt die ökonomische Vernunft: ihre Selbst­ beschränkung auf die Reflexion des Mittel-Ziel-Verhältnisses und ihre stillschweigende, irrtümliche Voraussetzung der Lebenssiche­ rung resp. der »Selbsterhaltung« als einzigen, durch die Natur vor­ gegebenen Zweck menschlichen Tuns. Im Unterschied zur subjektiv-ökonomischen Vernunft enthält der Begriff einer objektiven Vernunft - wie Horkheimer ihn auffasst - dagegen die Vorstellung, dass die Vernunft bei der inhaltlichen Be­ stimmung und der Begründung der Ziele wesentlich beteiligt ist. »Große philosophische Systeme, wie die von Platon und Aristoteles, die Scholastik und der deutsche Idealismus, waren auf einer objekti­ ven Theorie der Vernunft begründet. Sie zielte darauf ab, ein umfas­ sendes System oder eine Hierarchie alles Seienden einschließlich des Menschen und seiner Zwecke zu entfalten.«11 Zum Konzept einer

9 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft, Frankfurt a. M. 1967, S. 27. 10 Ebenda. 11 Ebenda, S. 28.

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objektiven Vernunft gehört die Leitidee, einen für alle Menschen gültigen und zugleich vor der Vernunft bestehenden Lebenssinn zu eruieren. »Im Brennpunkt der Theorie der objektiven Vernunft stand nicht die Zuordnung von Verhalten und Ziel, sondern die Begriffe [...], die sich mit der Idee des höchsten Gutes beschäftigten, mit dem Problem der menschlichen Bestimmung und mit der Weise, wie höchste Ziele zu verwirklichen seien.«12 Während die objektive Vernunft am Begriff eines umfassenden, auf der Vernunft gründen­ den obersten Gutes festhält und sich als praktische Kraft versteht, orientiert sich die subjektive Vernunft bloß an den realen Zielen, denen die Menschen faktisch nachstreben. Die subjektiv-öko­ nomische Vernunft repräsentiert somit eine Form lediglich der in­ strumentellen und nicht der praktischen Vernunft. »Letzten Endes erweist sich subjektive Vernunft als die Fähigkeit, Wahrscheinlich­ keiten zu berechnen und dadurch einem gegebenen Zweck die richti­ gen Mittel zuzuordnen.«13 Die Festsetzung der konkreten Zwecke wird in der auf Geld­ erwerb ausgerichteten Lebensform dem Individuum überlassen: Da­ bei erweist sich jeder Zweck als gleich gültig, und kein Zweck braucht zunächst für alle Menschen zu gelten. »Die Formalisierung der Ver­ nunft hat weitreichende theoretische und praktische Konsequenzen. Wenn die subjektivistische Ansicht stichhaltig ist, kann das Denken nicht helfen zu bestimmen, ob irgendein Ziel an sich wünschenswert ist. [.] alle unsere letzten Entscheidungen werden von anderen Fak­ toren als der Vernunft abhängig gemacht.«14 Die menschlichen Zwe­ cke oder Ziele sind damit nur noch bedingt diskussionswürdig oder rechtfertigbar: Eine der daraus resultierenden Folgen ist die allgemei­ ne Funktionalisierung aller menschlichen Tätigkeiten und Verrich­ tungen. »Immer weniger wird etwas um seiner selbst willen getan. [...] Nach Ansicht der formalisierten Vernunft ist eine Tätigkeit nur dann vernünftig, wenn sie einem anderen Zweck dient, zum Beispiel der Gesundheit oder der Entspannung [,..].«15 Soweit die Vernunft hier ganz allgemein mit der ökonomischen Vernunft identifiziert wird, kommt deren Abstinenz im Bereich der Zieldiskussion nach Horkheimer einer Kapitulationserklärung der Vernunft auf dem 12 13 14 15

Ebenda. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 56.

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praktischen Felde gleich: Denn eine substantielle Erörterung der Zwecke durch eine sich als praktisch verstehende Vernunft bleibt in­ nerhalb der ökonomischen Lebensform ausgeschlossen. »Als die Idee der Vernunft konzipiert wurde, sollte sie mehr zustande bringen als bloß das Verhältnis von Mitteln und Zwecken zu regeln; sie wurde als das Instrument betrachtet, die Zwecke zu verstehen, sie zu bestimmen.«16 Der einzige, faktische Zweck, der im Horizont der öko­ nomischen Vernunft dennoch allen Menschen gemeinsam unterstellt werden kann, besteht am Ende in der Sicherung des eigenen Über­ lebens, wobei dieser Zweck die Menschen in der ökonomischen Le­ bensform mehr voneinander trennt als miteinander verbindet. »Im Industriezeitalter gewann die Idee des Selbstinteresses allmählich die Oberhand und unterdrückte schließlich die anderen Motive [...].«17 Mit ihrem obersten Zweck der Überlebenssicherung erweist sich die ökonomische Lebensform als eine Wurzel der menschlichen Angst: Aus Furcht, das Leben zu verlieren, soll es aufgespart werden, und niemand weiß letztlich, wozu. Die Aufgabe einer ökonomischen Vernunft wird auch zu keiner Zeit als eine theoretische im antiken Sinne aufgefasst, sondern als eine rein pragmatische. »Die Vernunft ist gänzlich in den gesell­ schaftlichen Prozeß eingespannt. Ihr operativer Wert, ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur ist zum einzigen Kriterium gemacht worden.«18 Das Vorgehen der Vernunft bei der Bemächtigung der anderen Menschen und der Natur prägt selbst den Prozess des Begreifens. »Das Schubfach, in das ein Mensch ge­ schoben wird, umschreibt sein Schicksal. Sobald ein Gedanke oder ein Wort zu einem Werkzeug wird, kann man darauf verzichten, sich dabei tatsächlich etwas zu >denkentechnischDas Interesse der Gemeinschaft ist [...] [d]ie Summe der Interes­ sen der verschiedenen Glieder, aus denen sie sich zusammensetzt.«48 Gemäß Benthams Vorschlag soll nun die moralisch richtige Hand­ lung durch ein Kalkül eruiert werden, dessen Verfahren er aus­ führlich beschreibt, was ich ganz bewusst in voller Länge zitieren möchte: »Wenn man also die allgemeine Tendenz einer Handlung, durch die die Interessen einer Gemeinschaft betroffen sind, genau bestimmen will, verfahre man folgendermaßen. Man beginne mit einer der Personen, deren Interessen am unmittelbarsten durch eine derartige Handlung betroffen zu sein scheinen, und bestimme: a) den Wert jeder erkennbaren Freude, die von der Handlung in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint; b) den Wert jeden Leids, das von ihr in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint; c) den Wert jeder Freude, die von ihr in zweiter Linie hervorgebracht zu sein scheint.«49 Sodann: »[...] d) den Wert jeden Leids, das von ihr in zweiter Linie anscheinend hervorgebracht wird. [...] e) Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen und die aller Leiden auf der 45 E. Spranger, a.a.O., S. 289. 46 J. Bentham, Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung, in: O. Höffe (Hg.), Einführung in die utilitaristische Ethik, 2. Aufl., Tübingen 1992, S. 56. 47 Ebenda. 48 Ebenda, S. 56f. 49 Ebenda, S. 80.

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anderen Seite. Wenn die Seite der Freude überwiegt, ist die Tendenz der Handlung im Hinblick auf die Interessen dieser einzelnen Person insgesamt gut; überwiegt die Seite des Leids, ist ihre Tendenz insge­ samt schlecht. f) Man bestimme die Anzahl der Personen, deren In­ teressen anscheinend betroffen sind, und wiederhole das oben ge­ nannte Verfahren im Hinblick auf jede von ihnen. Man addiere die Zahlen, die den Grad der guten Tendenz ausdrücken, die die Hand­ lung hat - und zwar in Bezug auf jedes Individuum, für das die Ten­ denz insgesamt gut ist; das gleiche tue man in Bezug auf jedes Indi­ viduum, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist. Man ziehe die Bilanz; befindet sich das Übergewicht auf der Seite der Freude, so ergibt sich daraus für die betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von Individuen eine allgemein gute Tendenz der Handlung; befindet es sich auf der Seite des Leids, ergibt sich daraus für die gleiche Ge­ meinschaft eine allgemein schlechte Tendenz.«50 Die Bezeichnung des Utilitarismus als einer Geldethik meint nicht, dass der Utilitaris­ mus etwa den Umgang mit dem Geld normieren würde, sondern dass er das Modell der Geldwirtschaft auf das Feld der Moral überträgt. Im weitesten Sinne stellt Bentham sich vor, dass jede Handlung für jede der von ihr betroffenen Personen einen ganz spezifischen Wert besitzt - entsprechend dem Gewinn an Freude und dem Verlust durch das Leid, welche jene Handlung mit sich bringt: Dieser Wert einer Handlung scheint sich nach Bentham - analog zum Tauschwert eines Gegenstandes - in einer Art Bilanz, durch das Aufrechnen der Vor- und Nachteile relativ genau ermitteln zu lassen. Diejenige Handlung, welche nun demgemäß in Bezug auf eine Gesamtzahl von betroffenen Menschen den größten Gewinn abzuwerfen, mithin den Profit zu maximieren verspricht, bildet schließlich die moralisch gesollte Handlung. Entgegen der gängigen Etikettierung des Utilita­ rismus als eines eudämonistischen Ethikmodells geht es denn dem Utilitarismus nicht so sehr um das Glück, wie auch Bentham selber betont: Der Utilitarismus bildet nicht notwendig eine mit dem Hedo­ nismus koalierende Ethik. »Das gleiche Verfahren läßt sich ebenso auf Freude und Leid anwenden, ganz gleich in welcher Gestalt sie auftreten und durch welche Namen man sie voneinander unterschei­ det: auf Freude, ob sie nun Gutes genannt wird (das eigentlich die Ursache oder das Instrument der Freude ist), Gewinn (der entfernte Freude oder die Ursache oder das Instrument entfernter Freude ist), 50 Ebenda, S. 81.

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Annehmlichkeit oder Vorteil, Wohltat, Vergütung, Glück uns so fort [...].«51 Das entscheidende Kriterium für die Ermittlung des »Tauschwertes« einer Handlung bildet am Ende die Frage, wie sehr die Handlung der Selbsterhaltung und der Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen bzw. einer bestimmten Anzahl von Menschen nützt. Ent­ sprechend hat jede Handlung ihren Gratifikationswert oder Gesamt­ profit, wobei die profitabelste bzw. günstigste Handlung für den öko­ nomischen Menschen die moralisch beste Handlung bildet. Das Kalkül ist die der ökonomischen Lebensform adäquate Form, wie die gesollten Handlungen oder Normen ermittelt und ver­ gegenwärtigt werden können. Im Kalkül werden die Werte der diver­ sen Folgen einer geplanten Handlung wie in einer Bilanz aufgerech­ net. Die nach Bentham in Zahlen angebbaren Werte haben dabei die Funktion des Geldes. »Geld ist das >Geltende< schlechthin, und wirt­ schaftliches Gelten bedeutet etwas gelten, d. h. gegen etwas anderes vertauschbar zu sein.«52 Der utilitaristische Ökonom nimmt dabei gewisse Folgen bewusst in Kauf, um andere intendierte Folgen zu bezahlen: Ziel ist es, insgesamt das bestmögliche Geschäft abzu­ schließen. Der Utilitarismus repräsentiert so die Verlängerung des wirtschaflichen Verhaltens in der Sphäre der Moral. Eine Schwierig­ keit des Utilitarismus - neben manchen anderen Schwierigkeiten besteht jedoch in dem Umstand, dass die Preise der Handlungen im moralischen Bereich meist von einer einzigen Person berechnet bzw. diktiert werden und nicht aus einem objektiveren Tauschgeschäft hervorgehen. Entsprechend der gegenwärtigen Vorherrschaft der ökonomischen Lebensform stellt schließlich eine Art Vulgärutilita­ rismus die Ethik unserer Zeit dar.

5.3. Die politische Lebensform Wie bereits ganz zu Beginn des fünften Kapitels ausgeführt, unter­ scheidet Platon in seinem Staatsentwurf Politeia drei verschiedene Lebensformen - analog zu den von ihm auseinandergehaltenen drei Seelenteilen,1 nämlich: analog zu dem Bezirk des Triebes und der

51 Ebenda. 52 G. Simmel, a.a.O., S. 124. 1 Vgl. Platon, Politeia, 9. Buch. 7. Kapitel.

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Begierde2, demjenigen des Affektes und der Emotion sowie dem der Vernunft3. Das Letztziel jener Lebensform, welche mit der emotio­ nalen Seelensphäre oder - gemäß der Schleiermacher-Übersetzung dem Mut oder dem »Zornartigen« korrespondiert, bestimmt Platon schließlich als Macht und als Ehre oder Ruhm. »Wie aber das Zorn­ artige? Sagen wir nicht, daß dieses auf das Machthaben und Siegen und Berühmtsein ganz und gar ausgehe? - Allerdings. - Wenn wir dies also als das Ehrliebende und Streitlustige überschrieben, würde das wohl angemessen sein?«4 Was dabei das Streben nach Macht und das Streben nach Ehre bzw. nach Ruhm miteinander verbindet, dürfte zunächst ganz allgemein der Wille eines Menschen sein, die anderen zu überragen. Auch von dieser Lebensform scheint in unserer Zeit eine ganz besondere Anziehungskraft auszugehen, wie sie sich etwa an den weit verbreiteten Tagträumen von einer ruhmreichen Karriere als Schauspieler, als Sänger, als Schriftsteller, als Kunstmaler, als Wis­ senschaftler, als Philosoph, als Spitzensportler oder als Politiker ma­ nifestiert. Sofern bei diesen Karrierewünschen die Erlangung von Ruhm im Vordergrund steht, geht es dabei weniger darum, jene Tä­ tigkeiten aus einer innersten Berufung heraus anzustreben, als viel­ mehr darum, dereinst die Anerkennung, die Macht, den Flair und den Lebensstil zu geniessen, welche in den öffentlichen Cliches mit jenen Betätigungen verknüpft werden. Im Horizont des Starkultes, welcher im Verbund der diversen Medien getrieben wird, entsteht zum einen das Bild, dass nur die VIPs und die Stars mit der ihnen eigentümlichen Erotik der Macht einen Zugang zu den wirklichen Möglichkeiten des Lebensgenusses und zu den vielfältigen Annehm­ lichkeiten der modernen Lebenswelt besitzen. Leicht mag dabei der Eindruck erweckt werden, dass der einmal erlangte Ruhm und die damit verknüpfte Macht nie mehr durch eine entsprechende Leistung gerechtfertigt werden müssen, ansonsten der Legion von Fernseh­ Talkshows schon lange die Gäste ausgegangen wären. Zum anderen korrespondiert das Lebensziel, berühmt zu wer­ den, darüber hinaus mit dem grundlegenden Bedürfnis des Einzel­ nen, als ein besonderer Mensch wahrgenommen zu werden und da­ 2 Vgl. ebenda. 3 Vgl. ebenda. 4 Ebenda, 581 a-b. [Zitiert nach der Übersetzung von F. Schleiermacher, in: Sämtliche Werke, hg. v. W. F. Otto, E. Grassi u. G. Plamböck, Bd. 3, Hamburg 1982.]

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durch im Spiegel des Bewusstseins der anderen sich der eigenen Iden­ tität zu vergewisssern. Im Hinblick auf die horrende, noch immer exponential wachsende Erdbevölkerungszahl antwortet jene Lebens­ form, die unmittelbar auf das Berühmt- und Starsein zielt, heute nicht zuletzt auf die Problematik, dass die Menschen in unserer Le­ benswelt, wo alles schon einmal da gewesen zu sein scheint, kaum mehr etwas Originelles machen können, mithin immer schwerer eine spezifisch eigene Identität zu finden vermögen. Für Aristoteles kann die Ehre resp. der Ruhm bloß das uneigent­ liche Ziel der angesprochenen Lebensform bilden - sofern diese ein Konzept beschreiben soll, die dem Menschen mögliche Glückselig­ keit zu erlangen. Das eigentliche Ziel der betreffenden, von Aristote­ les als politisch bezeichneten Lebensform macht sodann jenen Grund aus, um dessen willen jemand von seinen Mitmenschen geehrt wer­ den möchte, und diesen Grund setzt Aristoteles mit der Tüchtigkeit oder Tugend gleich. Während die Erreichung der Tugend allein in der Macht des Einzelnen liegt, begibt sich der Mensch dagegen mit der Zielsetzung, Ehre und Ruhm zu erlangen, in die Abhängigkeit der anderen Menschen. »Die gebildeten und energischen Menschen wählen die Ehre. Denn dies kann man als das Ziel des politischen Lebens bezeichnen. Aber es scheint doch oberflächlicher zu sein als das, was wir suchen. Denn die Ehre liegt wohl eher in den Ehrenden als in dem Geehrten, vom Guten aber vermuten wir, daß es dem Menschen eigen ist und nicht leicht verlorengehen kann. Ferner scheint man die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, daß man gut sei. Man wünscht ja geehrt zu werden durch die Verständi­ gen und durch jene, die einen kennen, und dies wegen der eigenen Tüchtigkeit. So ist eigentlich für diese die Tüchtigkeit das höhere Ziel. Also könnte man vielleicht die Tüchtigkeit als das letzte Ziel der politischen Lebensform auffassen.«5 Der aristotelische Gedan­ kengang unterstellt damit insgesamt, dass Ehre nur soweit ein Gut ausmacht oder zur Glückseligkeit beiträgt, als die Ehre auf einer ei­ genen Leistung gründet und sich direkt auf eine spezifische Identität bezieht. Anders verhält es sich damit allerdings, wo das Streben nach Ruhm unmittelbar mit dem Verlangen nach Macht verknüpft ist. Spezifische Machtverhältnisse sieht auch Aristoteles als ein Charakteristikum jedes Staats bzw. jeder Sozietät an, wie er im be­ 5 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095 b 22-31. [Zitiert nach der Übersetzung von O. Gigon, 6. Aufl., München 1986.]

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treffenden Kontext anhand einer Analogie zu seinem Modell der Seele ausführt. »Allgemein: wo immer Eines aus Mehrerem zusam­ mengesetzt ist und ein Gemeinsames entsteht, entweder aus kon­ tinuierlichen oder aus getrennten Teilen, da zeigt sich ein Herrschen­ des und ein Beherrschtes, und zwar findet sich dies hei den beseelten Lebewesen auf Grund ihrer gesamten Natur.«6 Entsprechend be­ schreibt auch Eduard Spranger die Frage nach der Macht als eine anthropologische Konstante und knüpft daran eine Begründung an, weshalb die auf Ehre und Macht ausgehende Lebensform sinnvoller­ weise eine politische zu nennen ist. »Das ganze menschliche Leben ist von Macht- und Rivalitätsverhältnissen durchzogen. [...] Am sicht­ barsten wird diese Seite des Lebens in der organisierten Kollektiv­ macht des Staates. Da er (der Idee nach) in einer Menschengruppe und innerhalb eines Gebietes die höchste (souveräne) Macht dar­ stellt, so sind auch alle einzelnen und untergeordneten Machtäuße­ rungen irgendwie auf ihn bezogen, durch ihn ermöglicht, durch ihn eingeengt oder gegen ihn gerichtet. Deshalb tragen alle Erscheinun­ gen der Machtbeziehung einen Stil an sich, den man im erweiterten Sinne als politisch bezeichnen könnte. Wir werden deshalb den Machtmenschen gelegentlich geradezu den politischen Menschen nennen, mag er auch in Verhältnissen leben, die man noch nicht als politisch im engeren Sinne bezeichnen kann.«7 Für Max Weber stellt das Machtstreben sodann das eigentliche Kennzeichen des Politischen überhaupt dar. »Wenn man von einer Frage sagt: sie sei eine >politische< Frage, von einem Minister oder Beamten: er sei ein >politischer< Beamter [...], so ist damit immer gemeint: Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschie­ bungsinteressen sind maßgebend für die Antwort auf jene Frage [...] oder bestimmen die Tätigkeitssphäre des betreffenden Beamten. Wer Politik treibt, erstrebt Macht, - Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele - idealer oder egoistischer - oder Macht >um ihrer selbst willen< : um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.«8 Zwar identifiziert Weber den politischen Menschen prinzi­ piell mit dem Machtmenschen, für die Antwort auf die Frage nach 6 Aristoteles, Politik, 1254 a 29-32. [Zitiert nach der Übersetzung von O. Gigon, 5. Aufl., München 1984.] 7 E. Spranger, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 9. Aufl., Tübingen 1966, S. 213f. 8 M. Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, S. 7.

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dessen Motiven aber lässt er schließlich zwei Möglichkeiten offen. »[...] wer für die Politik lebt, macht im innerlichen Sinne >sein Leben darausSache< seinem Leben einen Sinn zu verleihen.«9 Da das Streben nach Macht - soweit diese dabei als ein Selbstzweck angesehen wird - und das Auslangen nach Ruhm nur innerhalb einer Sozietät sinnvolle Zielpunkte eines Glückskonzeptes abgeben, bei dem es insgesamt um das Aus-derMenge-Herausragen geht, soll in der Folge die beschriebene Lebens­ form auch durchgehend als politische Lebensform bezeichnet wer­ den. Mit dieser Begriffsauffassung ist zugleich eine entsprechende Akzentverschiebung verknüpf: Die sittlich-politische Lebensform, wie sie Aristoteles als eine für den Menschen zu erreichende Weise des Glücks beschreibt, tritt dabei etwas in den Hintergrund. Das Interesse, welches der politischen Lebensform zugrunde liegt, nährt sich nach Spranger von einem Überschwang der natürlichen Lebenskraft, von einem ursprünglichen Verlangen des Einzelnen, vor allen anderen Menschen etwas zu gelten. »Hier ist [...] ein tota­ les Lebensgefühl von religiöser Grundfärbung vorhanden: Selbst­ bejahung des eigenen Wesens, vor aller Einzelleistung, Vitalität, Da­ seinsenergie.«10 Im Horizont der politischen Lebensform, welche auf der willentlichen Verfolgung des Zieles »Macht« oder »Ehre« basiert, geht es für die Vernunft darum, Regeln und Strategien der Erlan­ gung, der Erhaltung und der Erweiterung von Macht und Ruhm zu entwickeln. Die spezifisch politische Vernunft bildet demnach eine weitere Form der instrumentellen Vernunft. In seinem Werk U Prin­ cipe hat Machiavelli für den Fürsten Lorenzo de' Medici die Prinzi­ pien und Regeln einer solchen politischen Art der Klugheit zusam­ menzustellen versucht. Im Bereich der politischen Lebensform steht nach Machiavelli das Machtprinzip über dem traditionellen Moralprinzip. Der Vertre­ ter der politischen Lebensform, der sich stets wie ein Machthaber gebärdet, darf sich durch keine gewöhnlichen moralischen Skrupel einschränken lassen, will er bei seinem Streben nach Ruhm und Macht erfolgreich sein. »Daher muß sich ein Herrscher, wenn er sich 9 Ebenda, S. 16. 10 E. Spranger, a.a.O., S. 213.

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behaupten will, zu der Fähigkeit erziehen, nicht allein nach mora­ lischen Gesetzen zu handeln sowie von diesen Gebrauch oder nicht Gebrauch zu machen, je nachdem es die Notwendigkeit erfordert.«11 Der nach Macht strebende oder Macht innehabende Mensch muss in jeder Situation von neuem entscheiden können, ob es seinem Macht­ interesse förderlich ist, sich der gewöhnlichen Moral unterzuordnen, oder nicht. »Ein kluger Machthaber kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereichen würde und wenn die Gründe weggefallen sind, die ihn zu seinem Versprechen ver­ anlaßt haben. Wären die Menschen alle gut, so wäre dieser Vorschlag nicht gut; da sie aber schlecht sind und das gegebene Wort auch nicht halten würden, hast auch du keinen Anlaß, es ihnen gegenüber zu halten.«12 Die bedingungslose Anerkennung der moralischen Gebote wäre vom Standpunkt der politischen Klugheit aus einerseits nur sinnvoll, wenn der politische Mensch sich auf das moralische Verhal­ ten sämtlicher anderer Menschen absolut verlassen und jenes als feste Größe in die eigenen Machtkalkulationen einbeziehen könnte. Ande­ rerseits müsste sich die Erfüllung der Moral in dieser Welt auch kon­ kret in Form von Machtgewinn auszahlen, wovon nach Machiavelli keine Rede sein kann: »[...] denn wenn man alles genau betrachtet, so wird man finden, daß manches, was als Tugend gilt, zum Untergang führt, und daß manches andere, das als Laster gilt, Sicherheit und Wohlstand bringt.«13 Die Suspendierung der Moral und damit eine spezifische Form der Freiheit, welche der Machtmensch für sich je nach Bedarf in Anspruch nimmt, gesteht dieser indessen den gewöhn­ lichen Menschen selbstverständlich in keiner Weise zu. Das Interesse der politischen Lebensform setzt immer eine gewisse Selbstüberhe­ bung voraus; die Grundtendenz der politischen Lebensform ist daher antidemokratisch, sie läuft auf die Konstitution von Monarchie und Diktatur hinaus. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich auch ein Wider­ spruch und eine Gefahr in den modernen Demokratien, an deren Spit­ ze in aller Regel Vertreter der politischen Lebensform stehen. Innerhalb der politischen Lebensform gilt es nach Machiavelli vor allem eine Grundregel zu befolgen: »Vor nichts muß sich ein Herrscher mehr in acht nehmen als vor Verachtung und Haß [.. .].«14 11 12 13 14

Machiavelli, Der Fürst, übers. u. hg. v. R. Zorn, Stuttgart 1978, S. 63. Ebenda, S. 72. Ebenda, S. 64. Ebenda, S. 67.

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Aufgrund des Menschenbildes, das Machiavelli zeichnet, darf der Machtmensch die anderen Menschen sich in emotionaler Hinsicht weder zu weit von ihm entfernen noch ihm zu nahe kommen lassen: Er muss darauf hinwirken, einen idealen Abstand der Furcht zwi­ schen sich und den anderen aufrechtzuerhalten. »Auch haben die Menschen weniger Scheu, gegen einen beliebten Herrscher vorzuge­ hen als gegen einen gefürchteten; denn Liebe wird nur durch das Band der Dankbarkeit erhalten, das die Menschen infolge ihrer Schlechtigkeit bei jeder Gelegenheit aus Eigennutz zerreißen. Furcht dagegen beruht auf der Angst vor Strafe, die den Menschen nie ver­ läßt. Trotzdem soll ein Herrscher nur insoweit gefürchtet sein, daß er, falls er schon keine Liebe erwirbt, doch nicht verhaßt ist [,..].«15 Die Kunst der machterlangenden und machterhaltenden Klugheit be­ steht mithin darin, sowohl zum richtigen Zeitpunkt vernünftig, di­ plomatisch und gesittet aufzutreten wie auch zum richtigen Zeit­ punkt aus kaltblütiger Berechnung unvernünftig und unmoralisch zu erscheinen, gleichwohl aber nie den Boden der politischen Ver­ nunft zu verlassen. »Deshalb muß ein Herrscher gut verstehen, die Natur des Tiers und des Menschen anzunehmen.«16 Nur durch den raffinierten Einsatz beider Möglichkeiten wird er sich vor jeder Form der Vereinnahmung schützen und sich insgesamt seine Macht be­ wahren können. »Daß ein Herrscher ein Wesen halb Tier, halb Mensch zum Lehrer erhält, soll nichts anderes bedeuten, als daß es ein Herrscher verstehen muß, beide Naturen in sich zu vereinigen; denn die eine ohne die andere ist nicht von Bestand.«17 In ähnlicher Weise redet Spranger in diesem Zusammenhang davon, dass die po­ litische Vernunft dem Machtmenschen eine gewisse Unberechenbar­ keit gebietet. »Umgekehrt kommt für den Mächtigen, wenn er es mit der Canaille zu tun hat, alles darauf an, nicht gekannt zu werden: >Das ist die Kunst, sich nicht auslernen lassen, ewig ein Geheimnis zu bleibem, sagt Holofernes in Hebbels >JudithPathos der Distanzohen< zu hleihen und das Übergewicht zu behal­ ten.«22 Dahei erweist sich jedoch das Glück der politischen Lebens­ form auch von innen als fortwährend gefährdet: durch den allzu ver­ führerischen Leichtsinn der Selbstüberschätzung - gerade für denjenigen, der endlich zu Macht und Ruhm gekommen ist. »[...] die Hybris ferner ist die innere Gefahr, die mit der Psychologie des Machtstrebens selber gesetzt ist. So wird es begreiflich, daß der stoische Weise (und noch mehr sein kynischer Vorläufer) eigentlich darin sein höchstes Machtbewußtsein erlebt, daß er von allen Men­ schen unabhängig ist und von keinem etwas bedarf.«23 Einmal an der Spitze sein und dann über längere Zeit an der Spitze bleiben bzw die Erlangung und die Erhaltung von Macht oder Ruhm verlangen zwei unterschiedliche Strategien. Vordergründig scheint sich die politische Lebensform äußerst gut mit der ökonomischen Lebensform zu vertragen; dieser Anschein ent­ steht indessen lediglich dadurch, dass der nach Macht und Ruhm strebende Mensch den Umstand ausnützt, dass eine Vielzahl anderer Menschen ihrerseits der ökonomischen Lebensform anhängt. In die­ sem Sinne schreibt auch Spranger: »Die Beziehungen des politischen Menschen zum ökonomischen Gebiet sind sehr eindeutig. Reichtum an nützlichen Gütern ist immer ein politisches Mittel, nicht nur we­ gen der Freiheit vom Druck und Zwang der Natur, den er gewährt, sondern weil damit zugleich Motivkräfte für die Beeinflussung ande­ rer gegeben sind. Denn die Rechnung, daß die Mehrzahl der Men­ schen dem ökonomischen Typus angehöre oder doch starke Züge von ihm in sich trage, ist in der Regel richtig.«24 Aus besagtem Grunde möchte der Machtmensch auch niemanden wirklich zu seiner eige­ nen Lebensform bekehren. Denn ähnlich wie der Egoist und der Schmarotzer jeweils kein Interesse daran haben, dass auch alle ande­ ren Menschen Egoisten oder Schmarotzer werden, kann es dem Machtmenschen nicht um eine Verallgemeinerung der politischen 22 Ebenda, S.225f. 23 Ebenda, S. 233. 24 Ebenda, S. 219.

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Lebensform, des Machtstrebens als solchen gehen, sondern vielmehr bloß um eine Verabsolutierung der eigenen Person, der eigenen Selbstwerteinschätzung, der eigenen Mächtigkeit. Bei seinem Machtanspruch darf der Machtmensch aus politischer Klugheit das ökonomische Streben der Mehrheit nicht übermäßig tangieren. »Die meisten Menschen sind zufrieden, wenn man ihnen weder Vermögen noch Ehre nimmt [,..].«25 Auf welche Weise und zu welchem Preis die anderen dabei zu ihrem Besitz und Reichtum gelangen, ist dem politischen Menschen letztlich weitgehend gleichgültig: Die Haupt­ sache ist, er bleibt an der Spitze. (Von daher sind etwa die Anliegen einer vorausschauenden Ökologie bei den Politikern auch nicht unbe­ dingt in den besten Händen, denn die politischen Menschen neigen im Konfliktfall dazu, sich für die Mehrheit und deren ökonomische Interessen einzusetzen auf Kosten der ökologischen Interessen.) Der angesprochene Ausschließlichkeitsanspruch, der im Bereich der politischen Lebensform verteidigt wird, bezieht sich mithin allein auf die nackte Macht des politischen Menschen. Das Medium, in welchem dieser Anspruch auf Ausschließlichkeit behauptet wird, bil­ det die von allen Inhalten entleerte Rhetorik: was sich im Übrigen bereits an den Zeugnissen der politischen Lebensform der Antike ablesen lässt. »Für den tiefer blickenden Psychologen zeigt sich zu­ letzt das eigenartige Phänomen, daß auf dem Boden der rein politi­ schen Seelenstruktur das Organ für Objektivität und Wahrheit über­ haupt abstirbt. Die bezeichnende Wirkung dieser konstitutionellen Entartung des Wahrheitssinnes äußert sich darin, daß das >Rhetorische< gleichsam die ganze Persönlichkeit zu durchwuchern scheint. Es kommt zuletzt nur noch auf Überredung, nicht mehr auf Überzeu­ gung an. Nicht also Wissenschaft, sondern Rhetorik gehört zum Stil des Machtmenschen.«26 Der Aspirant auf einen politischen Posten besucht heute zur Vorbereitung auf seinen Wahlkampf wohl kaum einen Philosophenkongress, auch holt er sich nicht Rat bei den Wis­ senschaftlern, um ein möglichst konsistentes, zukunftsträchtiges Konzept zu entwickeln; viel eher unterzieht er sich einem Kommunikationstraining, um rhetorisch das Optimum an Schein er­ zeugen zu können, oder übt er sich - wie in den USA - in den soge­ nannten »Campaign War Games«. Einführungskurse in die »Cam­ paign War Games« umfassen zum einen das »Targeting«, d. h., das 25 Machiavelli, a.a.O., S. 75. 26 E. Spranger, a.a.O., S. 218.

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genaue Erfassen spezifischer Wählergruppen - mit dem Ziel, diesen Wählergruppen genau das sagen zu können, was sie hören wollen sowie zum anderen das Einstudieren von Strategien der Negativkam­ pagne, hei der es darum geht, seine Gegner unter der Gürtellinie anzugreifen und fertigzumachen. Bei alledem können eigene Über­ zeugungen nur hinderlich sein. Der Machtanspruch sowie die Verahsolutierung der eigenen Person müssen indessen auch strukturell verankert und auf Dauer gesichert werden. Das heste Mittel dazu hesteht - wie Max Weher hereits fest­ gestellt hat - im Bilden von verlässlichen Seilschaften hzw. von Par­ teien. »Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage.«27 Wie hei einer echten Seilschaft in den Bergen profitieren auch hier nicht zuletzt die hin­ teren Leute. »Die Parteigefolgschaft, vor allem der Parteiheamte und -unternehmen erwarten vom Siege ihres Führers selbstverständlich persönlichen Entgelt: Ämter oder andere Vorteile.«28 So stellt auch in den westlichen Demokratien »die Zuwendung aller Bundesämter an die Gefolgschaft des siegreichen Kandidaten«29 noch immer ein un­ ausgesprochen herrschendes Prinzip dar: In den USA scheint sogar jedes Mal, wenn ein Demokrat einen Repuhlikaner als Präsidenten ahlöst oder umgekehrt, heinahe die halhe Bevölkerung der Haupt­ stadt ausgetauscht zu werden. Zur politischen Lehensform gehört folglich unmittelhar die Filzokratie, und keine politische Macht­ instanz kann sich dem Prozess einer stetigen Zunahme der eigenen Verfilzung entziehen. Selhst Wissenschaftshetriehe sind entspre­ chend filzokratisch organisiert. So lässt sich das geisteswissenschaft­ liche Phänomen der Postmoderne zum Teil auch als ein einstmals geschlossener Männerhund interpretieren, der hinter seiner krypti­ schen Rhetorik das politische Ziel verfolgt, seine Mitglieder auf die namhaften europäischen Lehrstühle zu hieven. Während die ökonomische Vernunft den Wert des Lehens entweder ignoriert oder auf eine Frage des Preises reduziert, gehört zur politi­ schen Klugheit dessen hewusste Unterordnung unter das Machtinte­ resse. In der »Politik, die ganz andere Aufgahen hat: solche, die nur 27 M. Weher, a.a.O., S. 20. 28 Ehenda, S.44. 29 Ehenda, S. 51.

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mit Gewalt zu lösen sind«30, wird die Bedrohung des Lehens der an­ deren zu einem Mittel der Machterlangung und -erhaltung. Sieht der Machtmensch seine Macht hedroht, kann er zur Ahwendung dieser Gefahr auch den Tod anderer Menschen in Kauf nehmen - hinter welchen politischen Rationalisierungen er dies auch immer vor sich und den anderen kaschiert. Die Bandhreite liegt hier zwischen dem Auslösen eines Krieges, Massenmord und Mord sowie fahrlässiger Tötung oder der Vernichtung der Existenz des anderen. Die Vorgän­ ge heispielsweise, welche seinerzeit als Watergate-Affäre des Prä­ sidenten Nixon in die Geschichte der USA eingegangen sind, reprä­ sentieren lediglich die äußerste Konsequenz der Logik der politischen Lehensform. Wer die Machtposition eines politischen Menschen an­ greift, muss mit vielem und gelegentlich mit allem rechnen. Ähnli­ ches kann schon für einen nach Ehre und Ruhm strehenden Men­ schen gelten. So war kürzlich in der Zeit in einer Reportage üher Karachi zu lesen, dass die Menschen aus den gehohenen Schichten im Strassenverkehr die Vorfahrt der anderen grundsätzlich nicht res­ pektieren, weil dies der eigenen Ehre und dem eigenen Rang Ahhruch täte: was schließlich zu vielen tödlichen Verkehrsunfällen führt. In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit unterscheidet Arthur Schopenhauer »[...] drei Grundhestimmungen [...]. Sie sind: 1) Was Einer ist: also die Persönlichkeit, im weitesten Sinne. Sonach ist hie­ runter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Aushildung derselben hegriffen. 2) Was Einer hat: also Eigenthum und Besitz in jeglichem Sinne. 3) Was Ei­ ner vorstellt: unter diesem Ausdruck wird hekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung Anderer ist, also eigentlich wie er von ih­ nen vorgestellt wird. Es hesteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.«31 Wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch seine spezifischen Prioritäten in einem dieser drei Bereiche setzt, dann erhält man unversehens eine Typologie, welche mit der vorliegenden »Phänomenologie der Lehensformen« in gewis­ ser Weise vergleichhar ist. Was dahei nun den nach Macht und Ruhm strehenden Menschen hetrifft, so könnte man mit Schopenhauer sa­ gen, dass dasjenige, was jenen mit anderen Menschen und deren mo­ 30 Ehenda, S. 79. 31 A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lehensweisheit, in: Sämtliche Werke, hg. v. A. Hühscher, Bd. 2, 4. Aufl., Mannheim 1988, S. 335.

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ralischen Vorstellungen verbindet, gewissermaßen die mehr oder weniger gemeinsame »Vorstellung« oder »Meinung von ihm« selber oder schließlich - ganz allgemein - die mehr oder weniger öffentliche Meinung bzw. das öffentliche Bewusstsein als eine Art Schnittmenge sämtlichen Fremdbewusstseins ausmacht. Entsprechend hält Scho­ penhauer fest: »Hingegen ist der Ort Dessen, was wir für Andere sind, das fremde Bewußtseyn [,..].«32 Die Moral der politischen Le­ bensform ist folglich auf einer sozusagen virtuellen Ebene zu lokali­ sieren, im Bereich des Scheinens: Als moralisch geboten erweist sich dabei das, was dem Ansehen und der Macht des Einzelnen im öffent­ lichen Bewusstsein förderlich ist; als moralisch erlaubt das, was dem Ansehen und der Autorität nicht schadet; amoralisch bleibt allein das, was für den Einzelnen im öffentlichen Bewusstsein ehrenrührig ist. »[...] die Ehre ist, objektiv, die Meinung Anderer von unserm Werth, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung.«33 Der politische Mensch muss also in erster Linie den moralischen Schein pflegen: Wer zu hohem Ansehen und zu Macht gelangen will, muss in der heutigen Lebenswelt vor allem die Tonleiter des Umgangs mit den meinungsbildenden Medien beherrschen lernen. Imagepflege und subtile Formen der Manipulation stellen daher im Bereich der politi­ schen Lebensform die Grundmittel dar, den eigenen moralischen Wert zu konstituieren, ins rechte Licht zu rücken und - wie eine Aktie an der Börse - ohne notwendigen Zusammenhang mit wirk­ lichen Ereignissen aufzuwerten. Von daher erklärt sich auch jene of­ fensichtlich politische Regel, deren Einhaltung im Zusammenhang mit jedem neuen politischen Enthüllungsskandal wieder zu beobach­ ten ist: zu jedem Zeitpunkt immer nur gerade das zuzugeben, was einem nachgewiesen werden kann. Das betreffende ethische Konzept, welches der Moral der Macht und der Ehre entspricht, bildet schließlich die Verantwortungsethik, die auf der von Schopenhauer angesprochenen »Furcht« aufbaut, die anderen könnten schlecht von einem denken. Wer im Bewusstsein der anderen etwas gelten oder hoch angesehen sein will, der muss grundsätzlich in eminenter Weise bereit sein, das eigene Handeln zu erklären, zu erläutern: sich gegenüber den anderen für seine Hand­ lungen zu verantworten. Der Begriff der Verantwortungsethik geht 32 Ebenda, S. 376. 33 Ebenda, S. 385.

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auf eine Unterscheidung von Max Weher zurück, der in seiner Ab­ handlung Politik als Beruf34 zwischen »Gesinnungsethik« und »Ver­ antwortungsethik« differenziert. »Wir müssen uns klar machen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundver­ schiedenen, unaustraghar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann >gesinnungsethisch< oder >verantwortungsethisch< orientiert sein.«35 Während im Rahmen einer verantwortungsethischen Be­ trachtungsweise der Mensch im Grossen und Ganzen nach den Kon­ sequenzen beurteilt wird, welche sein Handeln nach sich zieht, zählt vom gesinnungsethischen Standpunkt aus weniger das mögliche Er­ gebnis einer Handlung, als vielmehr die ihr zugrunde liegende Inten­ tion oder Denkungsart. »[...] es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, oh man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt - religiös gere­ det -: >der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheimHaltung< oder genauer einer sittlichen Grundhaltung des Menschen sprechen, um das eigentümlich stetige Moment daran auszudrücken.«58 Tugenden sind auch nicht über irgendwelche Handbücher, sondern allein durch Nachahmung anzueignen, wie die betreffenden aristotelischen Tau­ tologien nahelegen möchten: »Die Handlungen heißen also gerecht und besonnen, wenn sie so sind, wie sie ein Gerechter und Besonne­ ner ausführt. Gerecht und besonnen ist aber nicht derjenige, der sol­ che Handlungen ausführt, sondern der so handelt, wie es der Gerech­ te und der Besonnene tun.«59 Soweit nun die Verantwortungsethik als die Ethik der politischen Lebensform auf das Vorhandensein spe­ zifischer Eigenschaften rekurriert, sozusagen auf einer »Moral der Tugenden« aufbaut, bildet die Tugend schließlich jene positive Art, wie die moralischen Sollensansprüche, die moralischen Normen in­ nerhalb der politischen Lebensform präsent sind. Der politische Mensch, den man als einen Menschen der Tat charakterisieren kann, orientiert sich mithin in positiver Richtung an einer Art »Tugendmoral«. Das Prinzip der Verantwortung nimmt zwar auch unmittelbar Bezug auf Einzelhandlungen, die es entspre­ chend zu verantworten gilt; dies aber lediglich in einer negativen Richtung. Denn der Einzelne muss die Verantwortung vor allem für ein eigenes Fehlverhalten oder für ein Versagen übernehmen. Nach gewissen Fehlhandlungen wird - im Bereich demokratischer Struk­ turen - daraufhin diskutiert, ob diejenigen Eigenschaften auf Seiten des Verantwortlichen fehlen, die das weitere Vertrauen bzw. das Belassen der Verantwortung rechtfertigen würden. Bestimmte Ein­ zelhandlungen lassen nämlich darauf schließen, dass einem Verant­ wortlichen jene Eigenschaften abgehen, die allein begründen könn­ ten, dass er länger in Amt und Würden bleibt. Wer sich einmal korrumpieren lässt, scheint für immer korrupt. Die eigentliche Stel­ le, vor der sich jemand in einem solchen Zusammenhang zu verant­ worten hat, ist - was die politische Lebensform anbelangt - letztlich immer eine Weise des vielfältig beeinflussbaren, durch Schein täuschbaren und betrügbaren fremden Bewusstseins.

58 Ebenda, S. 23. - Vgl. Aristoteles, a. a. O., 1103 b 21-25. 59 Ebenda, 1105 b 5-9.

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5.4. Die theoretische Lebensform In seinem Discours de la Methode unterscheidet Rene Descartes zwei verschiedene Typen von Menschen: solche, die sich in Bezug auf ihre intellektuellen Fähigkeiten und Kompetenzen maßlos überschätzen, und solche, die sich in Bescheidenheit üben, gewissen Vordenkern oder religiösen Lehrern vertrauen und dabei - negativ formuliert in der Unmündigkeit verharren.1 Descartes' ganze Erziehung und Persönlichkeit würden es ihm - nach der eigenen, expliziten Selbst­ einschätzung - gebieten, selber dem zweiten Typus des bescheidenen Schülers nachzueifern; sein Wissen um die unüberschaubare Man­ nigfaltigkeit der disparatesten Meinungen und um die Vielzahl gleichwertiger Kulturen versperren ihm indessen diese Möglichkeit.2 »[...] deshalb konnte ich mir niemanden wählen, dessen Überzeu­ gungen mir einen Vorzug vor anderen zu verdienen schienen, und fand mich gleichsam gezwungen, es selbst zu übernehmen, mich zu leiten.«3 Der Discours de la Methode als eine Art philosophischer Autobiographie4 liest sich denn anfänglich wie ein Rechenschafts­ bericht über den Prozeß der eigenen Mündigwerdung. Drei Träume, die Descartes in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1619 geträumt hat, markieren in seiner Biographie einen deutlichen Wendepunkt in einer Zeit der persönlichen Krise.5 Der Inhalt und Descartes' eigene Analyse dieser Träume zeigen auf, dass das prinzipielle Erkenntnisinteresse, welches Descartes' Philoso­ phieren fortan als Ganzes motiviert, die strebensethische Grundfrage nach der eigenen Lebensgestaltung darstellt - explizit formuliert im dritten jener Träume, in dem Descartes in einer Gedichtsammlung auf den Titel stößt: »Quod vitae sectabor iter?«6 Im Vordergrund steht für Descartes sodann die Frage nach der Bestimmung des Men­ schen, mithin nach der nicht nur für ihn, sondern nach der für den Menschen allgemein richtigen Lebensform und damit nach der Mo­ ral. In seiner hervorragenden Descartes-Monographie, auf die ich 1 Vgl. R. Descartes, Discours de la Methode, Französisch-Deutsch, übers. u. hg. v. L. Gä­ be, Hamburg 1969, S. 24-27. 2 Vgl. ebenda. 3 Ebenda, S. 27. 4 Vgl. W. Röd, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, 3. Aufl., München 1995, S. 26. 5 Vgl. R. Specht, Descartes, Reinbekb. Hamburg 1989, S. 14-20. 6 Vgl. ebenda, S. 17f. u. W. Röd, a.a.O., S. 20.

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mich in der Folge mehrfach beziehe, stellt Wolfgang Röd fest: »[...] es läßt sich zeigen, daß in seinen wissenschaftlichen und vor allem in seinen metaphysischen Bemühungen ein Motiv wirksam ist, das seinen Grund im praktischen Bereich hat, ein Motiv, das als Stre­ ben nach allseitiger und endgültiger Sicherheit des Handelns und Verhaltens, nach Beherrschung der materiellen Welt und unser selbst zu beschreiben ist.«7 Die von Descartes ersehnte Absicherung auf dem Felde der Praxis vermag indessen nur die Vernunft zu bieten.8 Descartes' bisherige Anschauungen sowie seine eigene Interpretation jenes für ihn eminent wichtigen Traumerlebnisses legen es ihm am Ende auch nahe, sich für den Standpunkt des Rationalismus zu ent­ scheiden.9 Entsprechend konstatiert Röd: »Descartes war demgemäß nicht Rationalist, weil er sich durch Gründe von der Richtigkeit die­ ser Position überzeugt hätte, sondern weil er aus bestimmten Moti­ ven für den Rationalismus optierte.«10 Wer Rationalist ist, setzt ausdrücklich auf die Vernunft, sieht in der Ratio ein Prinzip: Dieses Abstützen auf die Rationalität kann in zweierlei Hinsicht geschehen, wie Herbert Schnädelbach hervorhebt. »Etwas zum Prinzip machen heißt, es zum faktischen Grund und (/oder) zum normativen Maß alles dessen zu machen, was ist und geschieht.«11 Die Anschauung, wonach die Vernunft das der Seins­ ordnung zugrunde liegende Prinzip ist, macht hierbei den theoreti­ schen Rationalismus aus; im Unterschied dazu besteht der praktische Rationalismus im Wesentlichen in der Ansicht, dass die Vernünftig­ keit das normative Kriterium für menschliches Handeln vorstellen soll. Den theoretischen Rationalisten bezeichnet Schnädelbach sei­ nerseits als einen metaphysischen Rationalisten, wohingegen der methodische Rationalist - wie Schnädelbach den rein praktischen Ra­ tionalisten nennt - im theoretischen Bereich gewissermaßen dem Irrationalismus anhängt und lediglich für die Vernunftorientierung menschlichen Handelns einsteht.12 Der losgelöste methodische Ra­ tionalismus sozusagen als ein atheistischer oder agnostischer Stand­ 7 Ebenda, S. 31. 8 Vgl. ebenda, S. 32. 9 Vgl. ebenda, S. 22. 10 Ebenda, S. 14. 11 H. Schnädelbach, Vernunft und Geschichte, Frankfurt a.M. 1987, S. 67. 12 Vgl. ebenda, S. 64-73. - Vgl. ferner ders., Zur Kritik der funktionalen Vernunft, in: P. Kolmer / H. Korten (Hg.), Grenzbestimmungen der Vernunft. Zum 60. Geburtstag von H. M. Baumgartner, Freiburg / München 1994, S. 105.

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punkt bietet für einen Denker des 17. Jahrhunderts jedoch noch kei­ nen gangbaren praktisch-philosophischen Weg, wie er zum Beispiel von einem Albert Camus - übrigens einem erklärten DescartesSchüler - im 20. Jahrhundert beschritten wurde. Camus versteht den praktischen Rationalismus als eine Form des Protestes gegen die Unmöglichkeit des theoretischen Rationalismus. Von der Antike bis in die Neuzeit bildet hingegen die gegenseitige Verschränkung von theoretischem und praktischem Rationalismus die Generalsupposition der Mehrzahl der ethischen Entwürfe. Wenn sich nun das Konzept des praktischen Rationalismus auf den theoretischen Rationalismus abstützt, beschreibt es die so genannt theoretische Lebensform; wäh­ rend der rein praktische Rationalismus eher zur ästhetischen Lebens­ form zu zählen ist. Die theoretische Lebensform kennt prinzipiell zwei Ausprägungen: das Leben gemäß der Vernunft und das Leben der substantiellen Erkenntnis. Diese zweite Weise der theoretischen Lebensform meint Aristoteles mit seinem bios theoretikos, dessen Interesse auf die Wahrheitserkenntnis, den Nachvollzug des gött­ lichen Denkens als solchen ausgeht.13 Descartes dagegen hängt der ersten Weise der theoretischen Lebensform an, die auf ein vernunft­ gemäßes Leben zielt. Obwohl Descartes in seinem Denken von vornherein die Rich­ tigkeit seiner praktisch-rationalistischen Überzeugung voraussetzt, stellt seine Entscheidung für den praktischen Rationalismus zunächst bloß so etwas wie einen großzügig ausgestellten Check dar, von dem es allererst noch zu prüfen gilt, inwieweit er durch den theoretischen Rationalismus auch tatsächlich gedeckt ist.14 Auch aus Descartes' Sicht gilt: »Der praktische Rationalismus ist nur unter Voraussetzung des theoretischen Rationalismus legitim [,..].«15 Von daher ergibt sich für den Forscher Descartes die Aufgabe, zuerst das theoretische Feld zu bestellen. Die diesbezüglichen Reflexionen im Discours und in den Meditationes fördern insofern für Descartes auch das erhoffte Ergebnis zutage.16 Zunächst macht Descartes das Selbstbewusstsein als jenen Angelpunkt aus, der sich gegen den systematischen Zweifel als resistent erweist. Von da aus führt ihn der Weg über den Gottes­ beweis und den Gedanken der Wahrhaftigkeit Gottes zur Erkenntnis 13 14 15 16

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Vgl. zum Beispiel Aristoteles, Eudemische Ethik, 1. Buch, 4. Kapitel. Vgl. W. Röd, a. a. O., S. 46. Ebenda. Vgl. ebenda, S. 156.

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Die theoretische Lebensform

des theoretischen Rationalismus: Die Idee Gottes als eines unend­ lichen Wesens kann ihren Ursprung nämlich nicht in einem end­ lichen Wesen wie dem Menschen haben, sie muss von Gott selber stammen, wodurch dessen Existenz bewiesen scheint. Der Gedanke der göttlichen Vollkommenheit impliziert ferner, dass Gott den Men­ schen in keiner Weise täuschen will und dass damit die menschliche Vernunft ein Vermögen darstellt, das die Welt zu erkennen vermag, wie sie an sich ist. Die durch Gott garantierte Entsprechung zwischen der rationalen Struktur des Kosmos und der menschlichen Ratio be­ gründet nach Descartes mithin - ähnlich wie bei den Stoikern - den theoretischen Rationalismus, der es allein sinnvoll erscheinen lässt, sich in seinem Leben nach der Vernunft zu orientieren. Der sich durch den theoretischen Rationalismus abgedeckt wissende prakti­ sche Rationalismus, d. h. das theoretische Leben, bietet dem Men­ schen damit eine Art metaphysischer Geborgenheit und Sicherheit. Die Angleichung des eigenen Wollens und Handelns an die in der Natur sich offenbarende Vernunft beschreibt die Aufgabe der Selbstvervollkommnung, wie sie u. a. auch in der deutschen Aufklä­ rungsphilosophie als menschliche Bestimmung begriffen worden ist. Aber auch die zweite Ausprägung der theoretischen Lebensform, die nach der Erkenntnis der Wahrheit strebt, lässt sich als eine Weise der Selbstvervollkommnung auffassen, wie Heinrich von Kleist in einem Brief vom 22. März 1801 an seine langjährige Verlobte Wilhelmine von Zenge besonders eindringlich darlegt.17 Kleist spricht im Kontext der Selbstvervollkommnung von seinem Glauben, dass es auf Erden Wahrheiten zu sammeln gelte, welche dereinst in einem künftigen Leben gebraucht würden. Hinter diesem Sammeln als einer Art der Selbstvervollkommnung steckt schließlich das Verlangen, sich die Welt durch Erkenntnis anzueignen.18 Inwiefern die Weltaneignung eine Art der Selbstvervollkommnung darstellt, wird im Rahmen von Norbert Hinskes Philosophie des Sammelns noch deutlicher. »Die Weltaneigung möchte die Dinge außer sich in das eigene Ich hinein­ holen. Sie zielt auf Erweiterung und Bereicherung der eigenen Da­ seinssphäre. Erst in ihr ist der ßtoc; ganz, was er ist.«19 17 Vgl. H. Kleist, Briefe, in: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. H. Sembdner, München /Wien 1982, Bd. 4, S. 633. 18 Vgl. N. Hinske, Lebenserfahrung und Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 99. 19 Ebenda.

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Phänomenologie der Lebensformen

Das Unterfangen der theoretischen Weltaneignung bildet letztlich ein hybrides Unternehmen; der Wunsch, die Welt als Ganze erken­ nen oder zumindest gewisse Bereiche total erfassen oder sich theo­ retisch aneignen zu können, muss enttäuscht werden. Das Verlangen nach Totalität kann das Sammeln auch als eine eigenständige Lebens­ form im Sinne eines Substitutes der theoretischen Lebensform be­ gründen. In Werner Muensterbergers psychologischen Studien zur Sammelleidenschaft steht für diesen Gedanken etwa der Sammler Sir Thomas Phillipps, der eine unvorstellbare Bibliothek mit Hand­ schriften, Manuskripten und Büchern zusammengetragen hat. »So schrieb er [...] seinem Sammlerkollegen Robert Curzon [...] drei Jahre vor seinem Tod [...]: >Ich kaufe gedruckte Bücher, weil ich ein Exemplar von jedem Buch auf der Welt haben möchte!!!Discours de la methodeKritik< in der Vorrede einen >Traktat von der Methode< [,..].«158 Es sei im Kontext dieser Verbindungslinie auch daran erinnert, dass Kant den Begriff der Maxime zuerst in seiner Kritik der reinen Vernunft verwendet. Des Weiteren hat Michael Albrecht vor einiger Zeit plausibel aufgezeigt, dass auch die Nouvelle Heloise (1764) von Jean-Jacques Rousseau als Begriffsquelle in Frage

155 Vgl. U. Thurnherr, a.a.O., S. 150f. 156 Vgl. I. Kant, Reflexionen zur Moralphilosophie, in: AA, Bd. XIX, Berlin / Leipzig 1934, S. 177 (6843). 157 Vgl. O. Höffe, Eine republikanische Vernunft. Zur Kritik des Solipsismus-Vorwurfs, in: G. Schönrich / Y. Kato, Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 397-400. 158 Ebenda, S. 397.

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kommt.159 Alhrecht wendet sich dahei gegen die his dahin favorisierte Annahme, dass Kant sich hei seinem Maximenhegriff von Alexander Gottlieh Baumgarten inspirieren ließ.160 Da Albrecht jedoch bloß eine von ihm zudem verkürzte Textstelle zum Beweis anführt, wäre ich, was die Behauptung hezüglich Baumgarten anhelangt, etwas vorsich­ tiger.161 Zwar spricht für Alhrechts Rousseau-These, dass Rousseaus Begriffsverwendung relativ schnell Schule gemacht zu hahen scheint, wie etwa das Beispiel des Rousseau-Anhängers Johann Georg Zim­ mermann zeigt,162 meiner Meinung nach erklärt nun aher gerade die Vielzahl der greifharen Quellen - Rousseau, Baumgarten, aher auch Locke und Leihniz sowie vielleicht sogar Zimmermann und ehen nicht zuletzt Descartes - Kants erstaunlich selhstverständliche Ver­ wendung seines neu geprägten Maximenhegriffs. Was seltsamerweise in der Literatur his heute ehenfalls fast voll­ ständig ignoriert worden ist, ist die Tatsache, dass Kant sowohl theo­ retische als auch praktische Maximen kennt. Unter Berücksichtigung von sämtlichen relevanten, von Kant vorgelegten Definitionen163 der Maxime sowie Beispiele164 für Maximen lassen sich dahei in unserem Kontext vier Dinge festhalten. Erstens: Maximen stellen Prinzipien 159 Vgl. M. Alhrecht, Kants Maximenethik und ihre Begründung, in: Kant-Studien, 85. Jg., 1994, Heft 2, S. 134. 160 Vgl. ehenda, S. 135 f. - Vgl. auch R. Buhner, Handlung, Sprache und Vernunft. Grundhegriffe praktischer Philosophie, Frankfurt a.M. 1982, S. 200. 161 Vgl. A. G. Baumgarten, Metaphysica, Hildesheim 1963, S. 270 (§ 699). - Vgl. R. Buhner / U. Dierse, Artikel »Maxime«, in: J. Ritter / K. Gründer, Historisches Wör­ terbuch der Philosophie, Bd. 5, Basel / Stuttgart 1980, Sp. 943. 162 Vgl. J. G. Zimmermann, Vom Nationalstolze, 4. Aufl., Zürich 1768, S. 42, 145, 199 u. 375. - Vgl. mit der 1. Aufl. von 1758! 163 Vgl. 1. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.), in: AA, Bd. 111, Berlin 1968, S. 440 u. 527; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., Bd. 1V, S. 400 (Anm.) u. 420f. (Anm.); Kritik der praktischen Vernunft, a.a.O., Bd. V, S. 19; Die Metaphysik der Sit­ ten, a. a. O., Bd. V1, S. 225; Logik, a. a. O., Bd. 1X, S. 24; Pädagogik, a. a. O., Bd. 1X, S. 481; Reflexionen zur Logik, a.a.O., Bd. XV1, S. 70 (1663) u. 458 (2664); Reflexionen zur Metaphysik, a. a. O., Bd. XV111, S. 96 (5117) u. 128 (5237); Reflexionen zur Rechtsphi­ losophie, a.a.O., Bd. X1X, S. 526 (7821). - Vgl. insgesamt U. Thurnherr, a.a.O., S. 32­ 34. 164 Vgl. 1. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., Bd. 1V, S. 403 u. 422; Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., Bd. V, S. 19, 27 u. 106; Kritik der Urteilskraft, a.a.O., Bd. V, S. 294, 387 u. 403; Die Religion innerhalh der Grenzen der hloßen Ver­ nunft, a. a. O., Bd. V1, S. 189; Die Metaphysik der Sitten, a. a. O., Bd. V1, S. 453; Zum ewigen Frieden, a.a.O., Bd. V111, S. 374; Reflexionen zur Anthropologie, a.a.O., Bd. XV/1, S. 184 (445); Reflexionen zur Moralphilosophie, a. a. O., Bd. X1X, S. 195 (6891) u. 285 (7208); Reflexionen zur Rechtsphilosophie, a. a. O., Bd. X1X, S. 516 (7786);

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dar. Zweitens: Jedes der oberen Gemütsvermögen: der Verstand, die Urteilskraft, die Vernunft, die Willkür, hat nach Kant seine eigenen Maximen, die indessen ohne Ausnahme durch die Vernunft als das »Vermögen der Principien«165 vorgegeben werden.166 Drittens: In einer Maxime schreibt die Vernunft dem entsprechenden Vermögen vor, auf welche Art und Weise und in welchen Grenzen es seine Fä­ higkeiten einzusetzen hat, damit am Ende jenes Interesse realisiert werden kann, das die Vernunft verfolgt.167 Was den praktischen Ma­ ximenbegriff anbelangt, bedeutet dies viertens: Die praktische Maxi­ me bei Kant stellt einen von der Vernunft zuhanden der Willkür für die Ausübung ihres Vermögens entwickelten Grundsatz dar, welcher für die Willkür selber ein Gesetz bildet. Durch die Anerkennung die­ ses Grundsatzes gibt die Willkür resp. das betreffende Subjekt sich selbstbindend die Regel vor, beim Eintreten eines umrisshaft fest­ gelegten Lebensumstandes einen bestimmten Typos von Handlung zu verwirklichen, damit durch ein solches Handeln ein spezifisches Vernunftinteresse befördert werden kann.168 In der Maxime, die als ein Handlungskonzept vom gesunden Menschenverstand entworfen und von der Vernunft - als ein Gesetz für die Willkür - vorgeschrie­ ben wird, sind - wie bereits gesagt - von vornherein Neigung, Erfah­ rung und Vernunftinteresse miteinander vermittelt. Das an Maxi­ men orientierte Handeln erweist sich von daher als der ideale Weg, um Vernunft in das menschliche Leben hineinzubringen. Das Repertoire an Maximen, das sich ein theoretischer Mensch für sich anlegt, stellt so etwas wie ein kleines Kursbuch für das Leben dieses Menschen dar. Um das Vernunftinteresse zu realisieren, reicht es aber nicht, sich gelegentlich an die Maximen zu erinnern, viel­ mehr müssen diese das Handeln des Menschen in vollkommener Art prägen. Dies wird konkret dadurch zu erzielen gesucht, dass die Maximen unaufhörlich wiederholt werden. Die Wirkung einer sol­ chen Wiederholung mag man erahnen, indem man sich etwa ver­ gegenwärtigt, wieviele durch Rundfunk und Fernsehen verbreitete Werbesprüche und -melodien man beim beiläufigen Anhören der ersten Worte oder Takte zu Ende sprechen oder singen könnte. Die Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten, a.a.O., Bd. XXIII, S. 402. - Vgl. insgesamt U. Thurnherr 1994, S. 34-36. 165 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl.), in: AA, Bd. III, Berlin 1968, S. 238. 166 Vgl. U. Thurnherr, a.a.O., S. 58f. u. 65. 167 Vgl. ebenda, S. 65 f. 168 Vgl. ebenda, S. 66 f.

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Technik der Wiederholung, um dem Vernunftinteresse Eingang in das Lehen zu verschaffen, stammt von den Stoikern. Der stoische Theoretiker hat zunächst genau getrennt zwischen dem, was er selher verändern kann, und dem, dessen Veränderung nicht in seiner Macht steht. »Üher das eine gehieten wir, üher das andere nicht. Wir gehieten üher unser Begreifen, unsern Antrieh zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, üher alles, was von uns ausgeht; nicht gehieten wir üher unsern Kör­ per, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, üher alles, was nicht von uns ausgeht.«169 Dieser stoische Grundgedanke muss im Sinne eines praktischen Prinzips vollkommen internalisiert werden, damit er »mit der Sicherheit und Beständigkeit eines Reflexes angewandt werden kann«170. Im Bereich des Unveränderlichen gilt es dahei, keine üherflüssigen hzw. törich­ ten Anstrengungen auf sich zu nehmen und sich ins Unahwendhare zu schicken. »Dann prüfe und hegutachte den Eindruck [...] vor al­ lem nach der ersten Regel, oh der Eindruck zu tun hat mit den Din­ gen, üher die wir gehieten oder nicht gehieten, und wenn er mit etwas zu tun hat, üher das wir nicht gehieten, dann hahe die Antwort zur Hand: >Es geht mich nichts an.berufen< und hat keine >AufgabeBestimmungBeruf< hat.«6 Dabei vergleicht Stirner das Leben mit einem Kampf und kommt zu dem Schluss, wo immer ein Mensch von einem Gegner oder vom Schicksal besiegt zu Boden geht und die Kraft zum Aufstehen nicht mehr findet, macht es überhaupt keinen Sinn zu sagen, er hätte sich mehr anstrengen müssen. Denn er ist ja nicht freiwillig zu Boden gegangen: Hätte er nämlich über ein Mehr an Kraft und Willen verfügt, hätte er den Kampf mit Sicherheit fortgesetzt und gewonnen.7 »Wie nun diese Rose von vornherein wahre Rose, diese Nachtigall stets wahre Nachtigall ist, so bin Ich nicht erst wahrer Mensch, wenn Ich meinen Beruf erfülle, meiner Bestimmung nachlebe, sondern Ich bin von Haus >wahrer Menschnatürlich< alles menschliche Verhalten natürlich ist. Wenn also die Rede von der Natur eine bestimmte Möglichkeit des menschlichen Verhal­ tens als in einem eminenten Sinn natürlich auszeichnet, so liegt darin eine versteckte normative Entscheidung, die dann ihrerseits nicht be­ gründet ist. Jeder Rekurs auf eine angebliche Natur des Menschen ist daher versteckt zirkulär: es wird etwas implizit normativ gesetzt, woraus dann das Normative abgeleitet wird.«16 Unter Hinweis auf die natürliche Notwendigkeit der Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse des Menschen wird jede Form der Bedürfnisbefriedigung als Lebensziel gerechtfertigt. Dabei wird verdrängt, dass es sich hier um eine Entscheidung handelt, bzw. die betreffende Entscheidung und der in ihr zum Ausdruck kommende Egoismus wird hinter einem Geflecht von vermeintlichen Sachzwängen vor sich selber und den anderen kaschiert. Die ökonomische Lebensform kennt mit­ hin zwei zusammenhängende »Objektivierungsstrategien«: auf einer reflexiven Ebene die Bezugnahme auf die Natur des Menschen - eine »Pseudo-Objektivierung«, welche einen naturalistischen Fehlschluss begeht; sowie auf einer pragmatischen Ebene die »Quasi-Objektivie­ rung« des vermeintlichen Zieles des Gelderwerbs und der Profitma­ ximierung durch die rechtliche, politische und wirtschaftliche Kon­ stitution von Sachzwängen. Der Gelderwerb erweist sich so in gewisser Weise tatsächlich als der objektive oberste Zweck - im Spie­ gel einer Welt, in der alles auf den Gelderwerb ausgerichtet ist und zum Gelderwerb zwingt: Die »Quasi-Ohjektivierung« durch die Sachzwänge kommt schließlich einer faktischen Verabsolutierung der ökonomischen Maßstäbe gleich. Die politische Lebensform, welche nach Ehre, Ruhm oder Macht strebt, korrespondiert - dies hat die betreffende Untersuchung in der »Phänomenologie der Lebensformen« aufgezeigt - mit dem menschlichen Verlangen nach Aufmerksamkeit, nach Liebe, ja, mit 15 E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 2. Aufl, Frankfurt a.M. 1993, S. 70f. 16 Ebenda, S. 71.

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dem Grundbedürfnis des Menschen, etwas zu gelten oder anerkannt und beliebt zu sein. Die Bandbreite dieser Lebensform reicht vom Ruhmsüchtigen, der auf dem Feld der Politik oder der Kunst auf eine Art Unsterblichkeit abzielt, über den so genannten Profilierungs­ neurotiker bis zu demjenigen, der um seine Ehre besorgt ist oder modern ausgedrückt - sein Image pflegt. Wie bereits ausgeführt, bewegt sich die politische Lebensform primär auf der Ebene des Scheinens, es geht ihr um die Selbstüberhebung, um die Verabsolu­ tierung der eigenen Person, der eigenen Selbstwerteinschätzung: Das Ziel dabei ist es, Macht zu gewinnen. Das Medium, in welchem dieses Unternehmen stattfindet, ist die Rhetorik bzw. die Kunst der Überredung. Bei der Rechtfertigung des politischen Lebenszieles oder Inte­ resses wird wiederum Bezug genommen auf die menschliche Natur. Gelegentlich wird hierbei auf die Philosophie von Friedrich Nietzsche verwiesen und entweder in einer durch Missverständnisse geprägten Interpretation oder durch eine Banalisierung des »Willens zur Macht« das Streben nach Macht als die einzig wirkliche Motivation des Menschen behauptet.17 Die Ausweisung der Macht als obersten Lebenssinn wendet allerdings eine doppelte »Objektivierungsstrate­ gie« an: Sie bedient sich nämlich beim Rekurs auf die Natur des Menschen gleichzeitig auch des Mittels der Reduktion, wie zum Bei­ spiel Otto Friedrich Bollnow in seinem Buch Das Wesen der Stim­ mungen nachzeichnet. Für Bollnow sind alle bisherigen philosophi­ schen »Ansätze [...] zur Bestimmung des Menschen [...] dadurch gekennzeichnet, daß sie die gesamten Erscheinungen des mensch­ lichen Lebens auf jeweils eine einzige zurückzuführen versuchten, die selber vor aller Untersuchung schon dogmatisch vorausgesetzt werden mußte. So entstanden die in ihrer Form typisch gleichen An­ sätze: Alle Leistungen des menschlichen Lebens sind nichts anderes als umgesetzter Machttrieb oder weiter nichts als verwandelter Ge­ schlechtstrieb, oder welche Seite man immer - in willkürlicher Set­ zung - zur Grundlage nahm. Alle diese Versuche nahmen die ur­ sprüngliche Vielheit der menschlichen Lebenserscheinungen zu leicht, indem sie sie mit Hilfe der Zauberformel des >nichts anderes 17 Vgl. W. Müller-Lauter, »Der Wille zur Macht« als Buch der »Krisis« philosophischer Nietzsche-Interpretation, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für Nietz­ sche-Forschung, Band 25, Berlin / New York 1995, S. 223 u. V. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992, S. 178-189.

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Verabsolutierung

als< auf eine einzige, zufällig herausgegriffene zurückzuführen ver­ suchten.«18 Aufgrund ähnlicher Überlegungen macht die Verabsolu­ tierungsstrategie der Reduktion nach Max Picard das Charakteristi­ kum eines allgegenwärtigen Faschismus aus. Wie Picard in seiner Studie »Hitler in uns selbst« auszuführten sucht, beschreiben sowohl die dinghafte »Außenwelt« als auch die seelisch-geistige »Innenwelt« für die Menschen des 20. Jahrhunderts »ein zusammenhangloses Durcheinander«19. Als bloßes Partikel in einem komplexen Raum der Zusammenhanglosigkeit verliert jeder Gegenstand seinen besonderen Stellenwert: Alles wird »gleichgül­ tig«20. »In dieser Welt der Diskontinuität wird immer irgendein Teil­ chen oder irgendeine Vorstellung, irgendein Ding oder irgendein Mensch verabsolutiert. Nach ihm, dem Verabsolutierten, strebt dann alles Denken, Wünschen und Handeln kurze Zeit hin, dann wird die­ ses Fragmentarische weggeworfen und ein anderes ist das Ziel aller Bewegung und so fort, - aber für jedes Teilchen wird jedesmal der Absolutheitsanspruch gestellt. Jedes ist für sich allein da, es ist nichts neben ihm, mit dem es verglichen werden kann, und so kann es als groß erklärt werden. Jedes Teilchen hier ist nichts, wenn es nicht beachtet wird, und jedes ist alles, wenn es verabsolutiert wird.«21 In der Verabsolutierung des Partikularen manifestiert sich nach Picard schließlich »das Dämonische«22, das mit der Loslösung von einem die Kontinuität garantierenden Gottesglauben begonnen hat. »Irgend­ eine Vorstellung also wird in dieser zusammenhanglosen Welt ver­ absolutiert. In dieser zusammenhanglosen Welt, in der man nichts sicher hat als die Vorstellung, die gerade in einem ist, wird diese Vor­ stellung dann Anfang, Mitte und auch Ende des Lebens. Hier ist auch die Ursache des hitlerischen nationalen Radikalismus [,..].«23 Die Verabsolutierungsstrategie der Reduktion läuft letztlich immer auf Totalitarismus hinaus. In der Reduktion kommt das Bedürfnis des Menschen zum Ausdruck, die Welt überschaubar zu machen, die Angst einflössende Komplexität zu vereinfachen. Schließlich mani­ festiert sich in der Reduktion ein pervertiertes Einheitsstreben, das Einheit nicht durch die Verknüpfung der Elemente einer komplexen 18 19 20 21 22 23

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O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a.M. 1943, S. 3. M. Picard, Hitler in uns selbst, Erlenbach / Zürich 1946, S. 13 f. Vgl. ebenda, S. 15. Ebenda, S. 95 f. Vgl. ebenda, S. 96. Ebenda, S. 97.

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Objektivierung

Vielheit herzustellen sucht, sondern diese mit der Machete oder der Panzerkette auf eines reduziert. Die politische Lebensform gründet also auf dem Verbund zweier »Ohjektivierungsstrategien«: dem Bezug auf die menschliche Natur und der Reduktion, was insgesamt zu einer Fokussierung auf das Geltungs- und Machtbedürfnis des Menschen führt. Das mensch­ liche Geltungsbedürfnis wird aber nicht einfach deskriptiv fest­ gestellt, sondern im Kontext der Reduktion, d. h., mangels einer als solcher anerkannten Alternative normativ zum Sinn und Ziel des Lebens erklärt, womit auch im Zuge dieser Verabsolutierungsstrate­ gie (in aller Regel) ein naturalistischer Fehlschluss begangen wird. In der Wahrheitssuche oder der Weltaneignung, in der Selbstvervoll­ kommnung oder der Ausbildung von Vernünftigkeit, in der Auto­ nomie oder dem Einheitsstreben sehen die Anhänger der theore­ tischen Lebensform - wie oben ausgeführt - die Bestimmung des Menschen. Durch die Realisation dieser menschlichen Bestimmung stehen sie gemäß ihrer Anschauung im Einklang mit dem Kosmos, nehmen sie am Leben der Götter teil. Auch die »Quasi-Objektivie­ rung« der theoretischen Lebensform beginnt dabei mit einer Reduk­ tion: Reduziert wird nämlich die Gruppe derjenigen Menschen, die bezüglich der Frage nach der Bestimmung des Menschen für kom­ petent erachtet werden. Es gilt die Expertenmeinung, und Experte ist nach Platon oder nach Mill derjenige, der sowohl das Leben des Ge­ nusses als auch das Leben der Vernunft kennt. Stillschweigend sind indessen von vornherein nur die zur Beurteilung zugelassen, die das Leben des Genusses überwunden und sich bereits für das Leben ge­ mäß der Vernunft entschieden haben: Die »Objektivierungsstrate­ gie« besteht hier mithin in einer Art Selbstauszeichnung der Ver­ nunft. Die Entscheidung der Experten für die Vernunft vollzieht sich ihrerseits - ähnlich wie bei den Ästhetikern - auf dem Hintergrund des Bildes, das von den Göttern und deren Leben entworfen wird: Im Unterschied zu den Ästhetikern konstruieren die Theoretiker ihre Lebensanschauung aber nicht in der Revolte gegen die Götter, son­ dern im Einklang mit diesen. Die Theoretiker werfen gewissermaßen einen Anker in die Transzendenz, um Halt und Sicherheit bei der Beantwortung der Frage nach dem objektiven Lebenssinn zu erhal­ ten. Die betreffende Argumentation bzw. die vermeintliche Objekti­ vierung verläuft dabei über vier Verfahrensschritte. (I) Das Göttliche ^ 211

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ist vernünftig, und das Göttliche ist höher als das Menschliche. (II) Die Erfüllung der menschlichen Bestimmung erschöpft sich im Streben nach etwas Höherem. (III) Dieses Höhere ist das Göttliche und damit das Vernünftige. (IV) Ergo: Die Bestimmung des Men­ schen ist das Auslangen nach der Vernunft, die Teilhahe am Leben der Götter. Die Verwirklichung der Vernunft besteht schließlich im Realisieren von Einheit als der Grundfunktion der Vernunft. Das Nebenprodukt einer solchen »Ohjektivierungsstrategie« und damit der theoretischen Lebensform insgesamt ist eine gewisse Abschottung gegen die eigene Gefühlswelt, gegen die eigene Sinn­ lichkeit - eine Abschottung, die dem Menschen als Ganzem jedoch nicht gerecht wird. Das Vernünftige wird auf Kosten des Sinnlichen ausgezeichnet als das Wahre, das Echte oder das Eigentliche im Men­ schen. Der Common sense wird von den Experten entmündigt, wie Günther Patzig hervorhebt: »Die wahren Interessen des einzelnen Menschen sind dem Einzelnen vielleicht unklar, erst Philosophie bringt sie ans Licht. Platons Ethik ist der Prototyp dieser Auffassung [,..].«24 Gegen den Einwand, gelegentlich sei es gerade die Vernunft, welche die Interessen der Menschen tangiert, hält der Theoretiker mit einer Art Selbstimmunisierungsstrategie dagegen. »Das Parado­ xon, daß Menschen sich zu Handlungen verpflichtet fühlen können, die ihren eigenen Interessen abträglich sind, ja sie in ihrer Existenz bedrohen müssen, wird bei Platon aufgelöst durch die These, daß unsere eigentlichen Interessen, die der Seele in uns, durch sittlich richtiges Handeln nie gefährdet werden können.«25 Damit soll natürlich - wie Karl Jaspers in einem anderen Zusammenhang her­ vorhebt - nicht behauptet werden, dass das Unwahre, Unechte und Uneigentliche (gemeint ist im vorliegenden Kontext der gesamte Be­ reich des Sinnlich-Emotionalen) nicht zur Wirklichkeit des Men­ schen gehöre, sondern nur, dass es aus einem Gesichtswinkel, der das Augenblickhafte transzendiert, nichts zählt. »Das Echte ist das Tiefere im Gegensatz zum Oberflächlichen, d. h. das alle seelische Existenz Durchdringende gegenüber dem Angeflogenen, es ist das Nachwirkende gegenüber dem Momentanen, das Gewachsene, Ent­ wickelte gegenüber dem Angenommenen, Nachgeahmten.«26 Mit der Differenzierung zwischen dem Höheren oder Tieferen sowie 24 G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, 2. Aufl., Göttingen 1983, S. 37. 25 Ebenda. 26 K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 3. Aufl., Berlin 1925, S. 35.

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dem Oberflächlichen ist schließlich eine eigentliche Topographie des Moralischen entstanden: Die Bestimmung des Menschen liegt nach den Theoretikern in der Höhe resp. der Tiefe der Vernunft, wo die Götter wohnen; dem Allzumenschlichen an der Erdoberfläche, wo die Sinnlichkeit dominiert, wird dagegen nicht mehr Bedeutung zuge­ messen als irgendwelchen vorbeistreichenden Winden. Nach Hans Jonas bringt eine solche Zielvorgabe den Menschen gerade um seine Eigentümlichkeit, um seine Menschlichkeit. Genau besehen beschreibt die theoretische Lebensform denn eine Utopie im wahrsten Sinne des Wortes: einen Ort nirgendwo - zumindest nirgendwo auf der Landkarte der auf Dauer realisierbaren mensch­ lichen Möglichkeiten. Gegen ein solches utopisches Denken und ge­ gen einen entsprechenden moralischen Fortschrittsgedanken wendet Hans Jonas in seinem Prinzip Verantwortung ein, dass der Mensch immer echt sei, ja, dass eine gewisse Bedrohung des Höheren durch das Oberflächliche und Vorüberziehende vielleicht gerade die Echt­ heit des Menschen ausmache. »Die schlichte und weder erhebende noch niederdrückende, aber allerdings in ehrfürchtige Pflicht neh­ mende Wahrheit ist, daß der eigentliche Mensch< seit je da war - in seinen Höhen und Tiefen, in seiner Größe und seiner Erbärmlichkeit, seinem Glück und seiner Qual, seiner Rechtfertigung und seiner Schuld - kurz, in aller von ihm unzertrennlichen Zweideutigkeit. Diese selbst beheben wollen heißt den Menschen in der Unergründlichkeit seiner Freiheit aufheben wollen. Kraft dieser und der Ein­ maligkeit jeder ihrer Situationen wird er immer neu sein und ver­ schieden von dem der war, aber niemals eigentlichere Niemals auch der inneren Gefährdung des Menschseins enthoben, die eben zu sei­ ner >Eigentlichkeit< gehört.«27 Nach Max Horkheimer darf man bei der ganzen Suche nach dem objektiven Lebenssinn vor allem das fak­ tische Ziel der Menschen nicht vollständig aus den Augen verlieren: »[...] sie [die Menschen] wollen weit weniger >echt< und >eigentlich< als glücklich sein, auch wenn sie schon vergessen haben, was das heißt.«28 Darin, dass die Theoretiker die faktischen Bedürfnisse, die wirkliche Erkenntnislage und die Geschichte der Menschen vollstän­ dig von dem abtrennen, was die menschliche Eigentlichkeit aus­ 27 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1984, S. 382. 28 M. Horkheimer, Zum Begriff des Menschen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frank­ furt a.M. 1985, S. 80.

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macht, erweist sich ihre »Objektivierung« der menschlichen Bestim­ mung einstweilen als eine bloße Verabsolutierung. Wie an einem Seil versucht sich der Theoretiker am Stolz seiner Vernunft aus dem vermeintlichen Sumpf des Allzumenschlichen in die Welt der Götter zu ziehen: Die Frage bleibt lediglich, woher er weiß, wo und wie die Götter leben. Alle Anstrengungen, ein inhaltliches Ziel als Bestimmung des Men­ schen, als objektiven Lebenssinn auszuweisen, haben sich soweit als Versuche der Verabsolutierung eines spezifischen Interesses heraus­ gestellt. Aus ähnlichen Überlegungen stellt denn auch John Leslie Mackie in seiner Ethik fest: »Es gibt keine objektiven Werte.«29 Zwar leugnet auch Mackie keineswegs das Vorhandensein praktischer Werte, die sogar intersubjektiv gültig sein können; für ihn steht aber fest, dass diese Werte unmittelbar abhängig sind von bestimmten Bedürfnissen und Wünschen, welche die Werte allererst sinnvoll erscheinen lassen. Mackie führt hierzu aus: »Ich bestreite also die Existenz objektiver Werte in dem Sinn, daß sie unbedingt, d. h. un­ abhängig von den Wünschen und Neigungen des Handelnden, handlungsanleitend sein könnten.«30 Wo immer Menschen - so möchte ich es formulieren - eine spezifische Lebensform »teilen«, sind sie und dies ist auch das Ergebnis der vorangegangenen Erörterungen in einer bestimmten Grundsatzentscheidung übereingekommen. In Bezug auf das vermeintlich objektive Letztziel einer Lebensform heißt dies mit den Worten von Mackie: »daß sich irgendwo in den Ausgangspunkten der Überlegung [...] wenigstens ein Element fin­ det, das sich nicht als objektiv gültig erweisen läßt, d. h. daß wenigs­ tens eine der Prämissen nicht wahrheitsfähig ist [...]. Die Autorität oder Beweiskraft dieses Elements ist in nichts Objektivem begründet, sondern in der Tatsache, daß eine bestimmte Wahl getroffen, d. h. so und nicht anders entschieden wurde.«31 So hat der moralische Rela­ tivismus sehr viel mehr mit der Abstammung der divergierenden Moralen aus den Horizonten unterschiedlicher Lebensformen zu tun als mit dem allfälligen Versagen u. a. einer umfassenden wissen­ schaftlichen Ethik. »[...] das Argument aus der Relativität gewinnt 29 J. L. Mackie, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, übers. v. R. Ginters, Stuttgart 1981, S. 11. 30 Ebenda, S. 31. 31 Ebenda, S. 31f.

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Objektivierung

eine gewisse Plausibilität einfach aus der Tatsache, daß sich die unbe­ streitbaren Unterschiede in den moralischen Regelsystemen leichter mit Hilfe der Hypothese, in ihnen spiegelten sich die unterschiedli­ chen moralischen Lebensweisen, erklären lassen als mit Hilfe der Hypothese, in ihnen drückten sich die verschiedenen, meist unzu­ länglichen oder mißlungenen Versuche, objektive Werte zu erfassen, aus.«32 Was die ethische Argumentation innerhalb der Lebensformen anbelangt, sieht Mackie seinerseits vor allem ein Schema der »Ob­ jektivierung« in Anwendung, welches in der Verkehrung des Ver­ hältnisses zwischen dem begründenden Interesse und dem begrün­ deten Wert oder Sinn besteht.33 »Man gewinnt den Begriff eines objektiven Wertes oder von etwas in sich Gutem, indem man die Abhängigkeitsbeziehung umkehrt, indem man den Wunsch vom Wert abhängig sein läßt statt den Wert vom Wunsch. Eine solche Umkehrung wird durch die Tatsache begünstigt, daß das Gewünschte tatsächlich Merkmale aufweist, weswegen man es wünscht, die den Wunsch danach in uns wecken oder die es geeignet erscheinen lassen, einen bereits vorhandenen Wunsch zu befriedigen. Man verwechselt demnach sehr leicht die objektive Tatsache, daß etwas gewünscht werden kann, mit der Auffassung, daß es sich dabei um etwas objek­ tiv Wünschenswertes handelt.«34 Mit dem Nachweis einer solchen omnipräsenten Verabsolutierungstechnik ist aber auch zugleich die Berechtigung des Anspruchs jeder Moral auf unbedingte Gültigkeit in gewisser Hinsicht in Frage gestellt: Die Moral der ästhetischen, der ökonomischen, der politischen und der theoretischen Lebensform gilt nur unter der Bedingung, dass man das ihr zugrunde liegende Inte­ resse teilt. So eröffnet zum Beispiel im Bereich der theoretischen Lebensform nicht der vermeintlich objektiv nachgewiesene Wert der Vernünftigkeit den Zugang zur betreffenden Moral, sondern die auf einem spezifischen Interesse aufbauende Entscheidung, dass Ver­ nunft oder Selbstvervollkommnung sein soll. Auf diesen Sachverhalt scheint auch Mackie anzuspielen, wenn er schreibt: »Die Entstehung eines kategorischen Imperativs [...] läßt sich nun als das Ergebnis der Unterdrückung des bedingenden Elements in einem hypothetischen Imperativ erklären, ohne daß dieses Element durch irgendeine Be­ zugnahme auf die Wünsche des Auffordernden ersetzt worden wäre. 32 Ebenda, S. 41f. 33 Vgl. ebenda, S. 49-54. 34 Ebenda, S. 51.

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Verabsolutierung

Man fordert zu der betreffenden Handlungsweise auf, als ob die For­ derung noch in bestimmten Wünschen angemessen begründet wäre, doch bestreitet man, daß es überhaupt irgendwelche sie bedingenden Wünsche gibt.«35 Wenn man dagegen diese Abhängigkeit aller Mo­ ralen und ihrer Sollensansprüche vom sie begründenden Grundsatz­ entscheid übersieht, dann mag es tatsächlich so scheinen, als ob das »Wort >sollte< [...] zu einem Wort von bloß hypnotischer Kraft ge­ worden ist«36. Jeder Moral eignet also ein in gewisser Hinsicht irra­ tionales Moment, insofern das ihr vorausliegende Grundinteresse in keiner Weise objektiv begründet werden kann, sondern jeweils bloß normativ gesetzt und die mit ihm verknüpfte Entscheidung kaschiert wird: Besonders eindrücklich manifestiert sich dieses Phänomen in der ökonomischen Lebensform und ihrer Redeweise von Sachzwän­ gen. Das entsprechende Vorgehen der vermeintlichen Objektivie­ rung auf der ethischen Ebene könnte man in Anlehnung an eine De­ finition von Richard M. Hare schließlich als Fanatismus37 bezeichnen: Der Fanatiker »löst den Konflikt zwischen Prinzipien; aber nicht durch kritisches Denken, sondern indem er, völlig irratio­ nal, ein Prinzip über alle anderen stellt.«38 Die einzige sinnvolle Auf­ gabe einer jeweiligen Ethik kann somit am Ende höchstens darin be­ stehen, die Moral innerhalb ihrer Lebensform zu begründen, wobei sie stets der Versuchung widerstehen muss, mehr zu beweisen, als sie zu beweisen vermag, d. h., die von ihr vertretene Lebensform zu ver­ absolutieren. Für Ludwig Wittgenstein begehen die Menschen mit ihren ethischen Verabsolutierungs- bzw. Objektivierungsversuchen allerdings Grenzüberschreitungen, die nur allzu leicht verständlich sind und deren Intention er aufgrund eigener früherer Bemühungen selber nur allzu gut nachempfinden kann: »Es drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb aller Menschen, die je versucht haben, über die Ethik oder Re­ ligion zu schreiben oder zu reden. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aussichtslos. Soweit die Ethik aus dem Wunsch hervorgeht, etwas über den letztlichen Sinn des 35 Ebenda, S. 51f. 36 G. E. M. Anscombe, Moderne Moralphilosophie, in: G. Grewendorf / G. Meggle (Hg.), Seminar - Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M. 1974, S. 226. 37 Vgl. R. M. Hare, Moralisches Denken. Seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, übers. v. Ch. Fehige u. G. Meggle, Frankfurt a.M. 1992,10. Kapitel. 38 Ebenda, S. 242.

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Verallgemeinerung

Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann sie keine Wissenschaft sein. Durch das, was sie sagt, wird unser Wissen in keinem Sinne vermehrt. Doch es ist ein Zeugnis eines Dranges im menschlichen Bewußtsein, das ich für mein Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde.«39 In einem vergleichbaren Sinne hat schon Kant zu Beginn seiner kri­ tischen Arbeit festgestellt, dass es Fragen gibt - und dazu gehört auch die Frage nach einem objektiven Lebenssinn -, die sich der Mensch nicht aus bloßer Langeweile ausdenkt, d. h., denen er als ein zur Ver­ nunft fähiges Wesen nicht ausweichen kann, die ihn aber gleichzeitig auch überfordern. »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beant­ worten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.«40 Bevor ich zu resümieren versuche, was die in diesem Kapitel gewonnenen Einsichten für die Sache der Moral und der Ethik insgesamt bedeuten, möchte ich zuvor die zweite Form der Ver­ absolutierung, die Verallgemeinerung, noch genauer betrachten.

6.2. Verallgemeinerung Die beiden Verabsolutierungsstrategien der »Objektivierung« und der Verallgemeinerung verhalten sich zueinander wie die Begriffe der Intension und der Extension. Während die »Quasi-Objektivie­ rung« sozusagen das intensionale Moment einer Verabsolutierung ausmacht, geht es bei der Verallgemeinerung oder Universalisierung um das extensionale Moment der Verabsolutierung. Wie zuvor ein­ gehend erläutert, versucht die Denkbewegung der »Objektivierung« nämlich ein ganz spezifisches inhaltliches Ziel als den objektiven Le­ benssinn zu verankern. Die Denkbewegung der Verallgemeinerung hingegen zielt anschließend darauf ab, den so verankerten Lebens­ sinn unter den Menschen zu verbreiten, ihm Eingang in die Gemüter aller Menschen zu verschaffen. Für einen Vertreter der ersten ästhetischen Lebensform, des Ge­ 39 L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik, hg. u. übers. v. J. Schulte, Frankfurt a.M. 1989, S. 18f. 40 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Akademie-Ausgabe, Bd. III, Berlin 1968, S. 7.

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Verabsolutierung

nuss-Lebens, bildet konsequenterweise - wie zu Beginn dieses 6. Ka­ pitels dargelegt - die »Objektivierung« nicht nur gewissermaßen eine Privatangelegenheit, sondern seine Lebensanschauung ist auch da­ durch charakterisiert, dass ihr jede Bemühung fehlt, die eigene Le­ bensform auszubreiten bzw. zu verallgemeinern. Alle Menschen und Dinge haben aus der Sicht des Genuss-Menschen ihren bestimmten Wert nur soweit, wie sie zum Mittel taugen für ihn, den Genießer: Der Wert von jedem und allem bestimmt sich allein durch den Wert für das genießende Ich, das Ego. Der Genuss-Mensch führt ein Leben, als wäre er der Einzige auf der Welt. Diese erklärtermaßen egoistische Lebensform kann weitgehend nur funktionieren, wenn der Egoist auch der Einzige bleibt. Der Egoist hat aus Prinzip kein Interesse da­ ran, dass es noch andere Egoisten neben ihm gibt, dass sich noch an­ dere Menschen seine Lebensform zu eigen machen. Außerdem fehlt ihm jeder Sinn für Gemeinschaft - sofern mit Gemeinschaft mehr gemeint ist als die Symbiose zwischen einem Schmarotzer und dessen Wirt. Der Genuss-Mensch ist von daher durch einen »lack of moral sense« gekennzeichnet. So verfügt er eigentlich bloß über ein strebensethisches Konzept, ansonsten ist er bekennender Anti-Ethiker. Wie durch Bezugnahme auf Ausführungen von Max Scheler bereits im 5. Kapitel deutlich gemacht worden ist, bildet der Egozentrismus gewissermaßen die Moral des Erlebnis-Ästhetikers. Der Egozentriker lässt sich dadurch charakterisieren, dass er den ihm zugänglichen Horizont, d. h. seine nähere Umwelt, für das Ganze der Welt ansieht. So ist er auch fest davon überzeugt, dass seine ganz persönlichen Werte nicht nur die einzig möglichen Werte der Umwelt, sondern zugleich die wahren Werte der Welt überhaupt repräsentieren. Man kann hier von einem eigentlichen Werteimperialismus sprechen. Diese kommunikativ einspurige Lebensform unternimmt - ähnlich wie die erste ästhetische Lebensform - gar nicht erst den Versuch, ihre Anschauungen zu verallgemeinern, d. h. extensional zu verabso­ lutieren, denn der Erlebnis-Ästhetiker ist der Beste und als solcher singulär und unnachahmlich. Es findet lediglich eine Verabsolutie­ rung des ganz persönlichen Weltverhältnisses statt: Ein solcher Ver­ absolutierungsversuch geht allein dahin, dass die anderen Menschen seine Einzigartigkeit anerkennen sollen, und nicht dahin, dass sie den Unnachahmlichen kopieren sollen. Eine paritätische Gemeinschaft mit anderen Menschen ist für den genialen sinnsuchenden Ästheti­ ker prinzipiell nicht vorstellbar. 218

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Gemäß den Repräsentanten der dritten ästhetischen Lebensform gilt es einzusehen, dass nicht der Mensch des Menschen Feind ist, son­ dern dass der Feind des Menschen in der Transzendenz sitzt. Der Mensch, der eines erkennbaren Lebenssinnes bedarf, scheitert darin, diesen zu erkennen, und bleibt von dieser für ihn lebensnotwendigen Erkenntnis auf ewig ausgeschlossen: Er ist dem Absurden überant­ wortet. Gegenüber dem Schöpfergott, der für diese unsägliche Con­ ditio humana verantwortlich ist, werden alle Menschen zu Zeugen der Anklage gemacht. Im Sinne des Protestes und der Revolte ver­ suchen die Ästhetiker jedoch das Absurde als das spezifisch Mensch­ liche hochzuhalten, weil es zunächst die einzige Gewissheit für den Menschen ausmacht. Das menschliche Leben, von dessen Fortexis­ tenz auch der Fortbestand des Absurden abhängt, muss darum unter allen Umständen erhalten und geschützt werden. Weil das Absurde bzw. das Menschliche dabei nicht eine bloße Angelegenheit des Indi­ viduums darstellt, bezieht sich dieser Schutz auf alle Menschen. Das Absurde verbindet die Menschen zu einer Schicksalsgemeinschaft. Die Moral des Absurden - in der Bedeutung eines Genitivus subiectivus - gebietet aus diesem Grunde Solidarität und Nächstenliebe und besteht nach Albert Camus in der »Komplicenschaft der Menschen untereinander«41. Mit ihrem Sinnkonzept verknüpft die dritte ästhe­ tische Lebensform folglich einen universalistischen Anspruch. Die betreffende Verallgemeinerung holt alle Menschen bei der Empö­ rung über die Conditio humana ab und schließt sie unter der Schirm­ herrschaft der ästhetischen Lebensform zu einer Schicksals- und Pro­ testgemeinschaft zusammen, wodurch die Menschen ihre Würde, ihre Selbstachtung und ihren Stolz zurückgewinnen sollen. Wer im­ mer in der Stellung des Menschen im Kosmos, in der Unerkennbar­ keit dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, einen Skandal sieht, scheint bereits als Mitglied angeworben. Die ökonomische Lebensform steht für eine gewisse Entmensch­ lichung der Lebenswelt, denn der Ökonomist hängt quasi einem »au­ ßermenschlichen« Letztziel an und betrachtet jeden anderen Men­ schen als ein bloßes, jederzeit austauschbares Instrument bei seinem eigenen Bemühen um Profitmaximierung. Während der Wert des einzelnen Menschen immer weiter sinkt, steigt der Wert des Geldes. 41 A. Camus, Der Mensch in der Revolte, übers. v. J. Streller, Reinbekb. Hamburg 1969, S. 227.

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Durch diese Ausrichtung am Wert des Geldes werden sämtliche Menschen, Handlungen, Künste und Gegenstände quantifizierhar und damit seihst die fernsten und wesensfremdesten Dinge noch mit­ einander verrechenhar. Demgemäß ist in einem von der ökonomi­ schen Lehensform neu dazugewonnenen Einflussgehiet jeweils ein eigentlicher Paradigmenwechsel zu heohachten, der sich von der Qualität hin zur Quantität vollzieht: Alles wird zu einer reinen Frage des quantitativen Unterschieds. Um ein aktuelles Beispiel aus dem momentan stattfindenden ökonomischen Eroherungsfeldzug zu ge­ hen: Das heutige hetriehswirtschaftliche Ideal sieht im Dienstleis­ tungssektor vor, dass hei einem quantitativen Aushau der Dienstleis­ tungen jeweils vor allem die Gesamtlohnsumme innerhalh einer Ahteilung auf demselhen Niveau gehalten werden muss, die Qualität der Dienstleistung selher indessen keineswegs mehr eine Hauptrolle zu spielen hraucht. In der Konsequenz verlieren solche Dinge wie die Erfahrung und das Know-how der Mitarheiter an Bedeutung. So geht heispielsweise der »Trend« gegenwärtig dahin, lieher eine Arheitskraft neu anzulernen, als einer erfahrenen - ihrem Dienstalter ent­ sprechend - mehr zu hezahlen. Das Angehot steht: »Take it, or leave us! Es warten Hunderte auf den freigewordenen Platz.« Es ist die definitive Realisation jener Benthamschen Vision: »Everyhody to count for one, nohody for more than one.«42 Entsprechend unterliegt auch die Moral dem Gewicht des Numerischen. Der Utilitarismus als Geldethik43 macht den Menschen zu einer Variahlen innerhalh von Kalkülen, zu einer Ziffer innerhalh von großen, glohalen Rechnun­ gen. Menschliches Handeln wird nach seinem Gratifikationswert hemessen; das Einzelschicksal zählt dahei nichts. Der vermeintliche volkswirtschaftliche Profit durch ein höheres Geschwindigkeitslimit im Strassenverkehr wiegt zum Beispiel mehr als die verlorenen Le­ hen der statistischen Verkehrstoten. Die Universalisierung im Rah­ men des utilitaristischen Kalküls kommt einer Zwangsanwerhung der Menschen für die ökonomische Lehensform gleich. Niemand wird gefragt, oh er der mondialen, von den Ökonomisten aufoktroy­ ierten Risikogesellschaft heitreten möchte: Schon ist er Bestandteil einer Zahl in einer Statistik - an der dritten Stelle hinter dem Kom­ ma. Und er gehört dazu, oh er selher will oder nicht. Ein Austritt ist 42 J. Bentham, Plan of Parliamentary Reform in the Form of a Catechism, in: Works, hg. v. J. Bowring, Bd. 3, Edinhurgh / London, 1843, S. 459. 43 Vgl. E. Spranger, a.a.O., S. 288.

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ausgeschlossen. Die ökonomische Lebensform mit ihrer suggestiven Kraft, die von der Allgegenwärtigkeit des ökonomisch-utilitaristi­ schen Kalküls zwischen der so genannten Umweltverträglichkeits­ prüfung und der versicherungstechnischen Risikoberechnung aus­ geht, erobert gleichzeitig zunehmend das Denken einer großen Mehrheit der Menschen. Den Ort, wo die Ziele der nach Ehre, Ruhm oder Macht strebenden Lebensform erreicht werden, bildet das öffentliche Bewusstsein, das seinerseits durch die meinungsbildenden Medien repräsentiert wird. Sind Ruhm oder Macht erst einmal erlangt, können sie leicht durch die Einrichtung »filzokratischer Strukturen« gesichert werden. Wie bereits mehrfach angesprochen, geht es im Bereich dieser politischen Lebensform nicht primär um das Sein, sondern um die Kunst des Scheinens und der Manipulation. Wer nach Ehre und Macht strebt, muss sich durch einen ausgesprochenen Hang zur Selbstdarstellung und zu entsprechenden autoerotischen Fiktionen auszeichnen. Die politische Selbstdarstellung beinhaltet aber auch stets das Moment, dass der Selbstdarsteller für sein eigenes Handeln einsteht und es zu erklären versucht, worauf schließlich die Verantwortungsethik auf­ baut. Wer dabei im Sinne der politischen Lebensform eine spezi­ fische Verantwortung trägt, muss erfolgsorientiert vorgehen und sein Tun am Maßstab der Prozessoptimierung oder der Schadens­ abwendung messen lassen. Das Kriterium, nach dem jene Menschen ausgewählt werden, denen im Zuge eines mehr oder weniger kom­ plexen Prozesses am Ende Verantwortung übertragen und damit die Möglichkeit zu Ruhm oder Macht gegeben wird, ist das Vorhanden­ sein bestimmter Eigenschaften oder seltener Talente, worauf ihrer­ seits die Moral der Tugenden als Moral der politischen Lebensform gründet. Je hermetischer, kompakter und überblickbarer sich eine Ge­ meinschaft herausbildet, desto besser lässt sich das öffentliche Be­ wusstsein dieser Gemeinschaft erfassen und manipulieren, und desto besser funktioniert die politische Lebensform: Deren Ideal - für das schon Aristoteles geworben hat - ist von daher die Polis bzw. der Stadtstaat, d. h. die überschaubare Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und damit alle vor den anderen ein Bild von sich zu pflegen haben. Dieses Ideal nun wird in unseren Tagen von den Kommunita­ riern neu propagiert. Die Theorie des Kommunitarismus, welcher mit seinen Programmen übrigens - was den sozialen Aspekt anbe­ ^ 221

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Verabsolutierung

langt - ganz in der Tradition der Utopisten steht, kann denn auch als eine Strategie der Verabsolutierung hzw. der Universalisierung der politischen Lebensform gelesen werden.44 Als Bewegung ist der Kommunitarismus aus der kritischen Aus­ einandersetzung mit John Rawls' A Theory of Justice45 hervorgegan­ gen. Der Kommunitarismus versteht sich dabei zum Teil46 explizit als Gegenposition zum Liberalismus,47 der seinerseits die politische Ethik der theoretischen Lebensform repräsentiert. Unter den Be­ gründern des Kommunitarismus sind zuvorderst Michael Sandel mit Liberalism and the Limits of Justice48 zu nennen, Alasdair MacIntyre mit After Virtue49 sowie Michael Taylor mit Community, Anarchy, and Liberty50. Andere wichtige Beiträge am Anfang dieser Diskussion stammen von Michael Walzer51, Benjamin R. Barber52 und Charles Taylor53. Insgesamt geht es zunächst um das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, was ich bereits im zweiten Kapitel kurz erörtert habe. Zum einen definiert der Liberalismus den einzelnen Menschen als ein »ungebundene[s], d. h. gegenüber Zwecken und Zielen als pri-44 45 4

44 Vgl. B. R. Barber, Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age, Berkeley / Los Angeles / London 1984; dt. : Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, übers. v. Ch. Goldmann u. Ch. Erbacher-von Grumbkow, Hamburg 1994, S. 100. 45 Vgl. J. Rawls, A Theory of Justice. New Haven (Massachusetts) 1971. 46 Vgl. G. Schick / A. Renner, Liberalismus versus Kommunitarismus - ein falsches Gegensatzpaar?, in: K. Beckmann / Th. Mohrs / M. Wending (Hg.), Individuum versus Kollektiv. Der Kommunitarismus als »Zauberformel«?, Frankfurt a.M. 2000, S. 204. 47 Vgl. hierzu W. Kersting, Die Liberalismus-Kommunitarismus-Kontroverse in der amerikanischen politischen Philosophie, in: Politisches Denken - Jahrbuch 1991, hg. v. V. Gerhardt, H. Ottmann u. M. P. Thompson, Stuttgart 1991; Ch. Zahlmann (Hg.), Kommunitarismus in der Diskussion. Eine streitbare Einführung, Hamburg 1994; A. Honneth (Hg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M. / New York 1995; W. Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus? Frankfurt a.M. / New York 1995 u. O. Höffe, Der Kommunitarismus als Alternative? Nachbemerkungen zur Kritik am moralisch-politischen Liberalis­ mus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 50, 1996, Heft 1/2, S. 92-112. 48 Vgl. M. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982. 49 Vgl. A. Maclntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, 2. Aufl, London 1984. 50 Vgl. M. Taylor, Community, Anarchy, and Liberty, Cambridge 1982. 51 Vgl. M. Walzer, Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality, Oxford 1983. 52 Vgl. B. Barber, a.a.O. 53 Vgl. Ch. Taylor, Philosophical Papers, Bd. 1: Human Agency and Language; Bd. 2: Philosophy and the Human Sciences, Cambridge 1985.

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mär und unabhängig verstandene[s] Selbst«54, und zum anderen schreibt er der Gemeinschaft lediglich die Funktion einer Wächterin über die Gerechtigkeit und Freiheit aller zu. Dabei stehen diese bei­ den Theoreme unmittelbar in einer Relation der wechselseitigen Be­ dingung zueinander. Was genau unter Gerechtigkeit zu verstehen ist, definiert John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit unter der Kapitelüberschrift »Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit«. Das zweite jener Gerechtigkeitsprinzipien lautet gemäß Rawls: »Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) ver­ nünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.«55 Die Hauptkritik von Sandel, mit der dieser die Dis­ kussion eröffnet hat, richtet sich gegen den Teilgrundsatz »(a)«, das so genannte Differenzprinzip, das Sandel auch als Teilungsprinzip bezeichnet. Sandel ist der Meinung, dass dieses Prinzip, wodurch bestimmte Vorteile Einzelner dem Gemeinwohl unterstellt werden sollen, der Ungebundenheit des Subjektes widerspreche: Das unge­ bundene Selbst habe nämlich soweit gar keinen Grund mit anderen Subjekten zu teilen, so dass das Differenz- resp. Teilungsprinzip eine spezifische Art von Gemeinschaft als Voraussetzung mit einschlie­ ße.56 Im Unterschied zur liberalistischen Auffassung entwickelt sich der Mensch nach dem Verständnis der Kommunitarier allererst auf dem Boden der Gemeinschaft zur Person. Demgemäß hält etwa Beate Rössler in ihrem kritischen Beitrag »Zum problematischen Ver­ hältnis von Feminismus und Kommunitarismus« fest: »Die Identi­ tätstheorie besagt, daß sich eine gelungene Identität nur in einer Ge­ meinschaft im >konstitutiven Sinne< (so der Kommunitarist Sandel) bilden kann.«57 Für den Kommunitarier ergibt sich in der Folge als ein oberstes Gebot die Forderung, sich um die moralisch-inhaltliche Ausrichtung der Sozietät zu bemühen, damit sich die Menschen ent­ sprechend überhaupt zu Personen entwickeln können. Wie Rössler 54 M. Sandel, Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, übers. v. A. Burri, in: A. Honneth (Hg.), a.a.O., S. 24. 55 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. v. H. Vetter, Frankfurt a.M. 1979, S. 81. 56 Vgl. M. Sandel, Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst, a. a. O., S. 29. 57 B. Rössler, Gemeinschaft und Freiheit. Zum problematischen Verhältnis von Femi­ nismus und Kommunitarismus, in: Ch. Zahlmann (Hg.), a.a.O., S. 74.

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ferner zu Recht herausstreicht, leiten die Kommunitarier mithin aus der bloßen Beschreibung, auf welche Art und Weise Menschen zu ihrer Identität gelangen bzw. auf welche Weise sie zu Personen wer­ den, eine normative Lehre in Bezug auf die Gemeinschaft ab.58 Den Unterschied zwischen der liberalistischen und der kommunitaristischen politischen Ethik bringt Sandel auf eine entspre­ chende Formel: Gegen den Liberalismus mit seiner Anschauung, »daß das Rechte gegenüber dem Guten den Vorrang hat«59, behaup­ ten die Kommunitarier den Primat des Guten. Axel Honneth führt dazu aus: »Der Begriff der >Gemeinschaft< steht hier zunächst nur für die allgemeine und vage Idee, daß sich die soziale Integration von Gesellschaften allein dann angemessen oder >richtig< vollzieht, wenn deren Mitglieder statt bloß über Rechtsbeziehungen über die gemein­ same Orientierung an ethischen Werten aufeinander bezogen sind.«60 Auf die Teilhabe an einer gemeinsamen Werteordnung legen die Kommunitarier deshalb soviel Gewicht, weil einer der Ausgangs­ punkte der kommunitaristischen Überlegungen nicht zuletzt die Be­ obachtung sittlicher und sozialer Zerfallserscheinungen ist. So sieht etwa Alasdair Maclntyre seine Position des Neoaristotelismus vor allem als ein Rezept gegen jene Flurschäden im sozialen Bereich an, die der fortgeschrittene Individualismus angerichtet hat. »Was in diesem Stadium zählt, ist die Schaffung lokaler Formen von Gemein­ schaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten wer­ den können, das bereits über uns gekommen ist.«61 Vorrangig geht es den Kommunitariern also darum, durch die Restauration und Refor­ mation der sozialen Welt, durch deren Parzellierung in kleine und mittlere Gemeinschaften die sozialen und humanitären Probleme zu lösen. Bei diesem »Rekurs auf die Idee sinnstiftender Gemeinschaf­ ten«62 darf man aber nicht übersehen, dass hier - obwohl sich die Kommunitarier in Bezug auf die konkreten Normen als anti-univer­ salistisch verstehen63 - in erster Linie einer spezifischen Universali58 Vgl. ebenda. 59 M. Sandel, a.a.O., S. 19. 60 A. Honneth, Individualisiserung und Gemeinschaft, in: Ch. Zahlmann (Hg.), a.a.O., S. 17 f. 61 A. Maclntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. v. W. Rhiel, Frankfurt a.M. / New York 1987, S. 350. 62 B. Rössler, a.a.O., S. 74. 63 Vgl. beispielsweise W. Kersting, a.a.O., S. 83 u. O. Höffe, a.a.O., S. 96.

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sierung Vorschub geleistet werden soll: Es soll nämlich die politische Lebensform universalisiert werden. Ein Blick auf das Programm der Kommunitarier mag dies verdeutlichen.64 Die Verankerung der Mitglieder innerhalb der Gemeinschaft basiert nämlich auf der gegenseitigen Kontrolle aller Mitglieder die­ ser Gemeinschaft untereinander; jeder soll schauen, dass der andere die Regeln einhält, und ihn im Falle eines Verstosses bei der Ehre packen. Entsprechend formuliert Amitai Etzioni seinen kommunitaristischen Appell: Wir sollen »unserer Brüder und Schwestern Hüter [...] sein«65. Vergehen sollen öffentlich kundgemacht werden, damit sie Teil werden von dem Bild des Menschen, der sie begangen hat. Allein unter diesem Aspekt ist denn auch der gegenwärtige Rückgriff auf die Pranger-Strafen in den USA zu interpretieren. In ihrem eige­ nen Interesse müssen sich demnach alle bemühen, die Vorstellung, die sich die anderen von ihnen machen, möglichst positiv zu gestal­ ten. Unter der Bedingung, dass die betreffende Gemeinschaft ihrer Größe nach überschaubar bleibt, werden auf diese Weise nach kommunitaristischer Auffassung alle Mitglieder in die Gemeinschaft mo­ ralisch eingebunden. Von daher bedeutet aber die kommunitaristische Zielvorstellung, ganze Staaten und Kontinente flächendeckend mit solchen Gemeinschaften zu überziehen, nichts anderes als ein Programm der Universalisierung bzw. der Verabsolutierung der poli­ tischen Lebensform. Der kommunitaristische Versuch, die politische Lebensform zu verallgemeinern, führt schließlich gewichtige Konsequenzen mit sich, wie der Einwand zeigt, den Beate Rössler formuliert: »Zunächst zum ersten Aspekt, der These, daß gemeinsame Werte gegenüber individuellen Rechten vorrangig seien. Diese Idee läßt sich in einem starken Sinne interpretieren (wie etwa von Autoren wie Maclntyre und Sandel nahegelegt wird), so daß gemeinschaftskonstituierende Wertbindungen an die Stelle von Rechtsbeziehungen treten: Und eben hier wird bei genauerem Hinsehen die Sache aus feministischer Sicht problematisch.«66 Die Herstellung von Gemeinschaften ge­ 64 Vgl. A. Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens. Ansprüche, Verantwortlichkei­ ten und das Programm des Kommunitarismus, übers. v. W. F. Müller, Stuttgart 1995, S. 281-299 u. D. Budäus / G. Grüning, Kommunitarismus - eine Reformperspektive? Eine kritische Analyse kommunitaristischer Vorstellungen zur Gesellschafts- und Ver­ waltungsreform, Berlin 1997, S. 27-44. 65 A. Etzioni, a.a.O., S. 290. 66 B. Rössler, a.a.O., S. 78.

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schieht nämlich nach den Kommunitariern nicht als eine Creatio ex nihilo, sondern basiert zunächst auf der Restauration der traditionel­ len Werte und Tugenden innerhalb der Mikrogemeinschaften. So steht zum Beispiel in Etzionis Programm geschrieben: »Wer Kinder in die Welt setzt, hat die moralische Verpflichtung, nicht nur ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch für ihre mora­ lische Erziehung und Charakterbildung zu sorgen. Die moralische Erziehung kann man nicht an Babysitter und auch nicht an Kin­ dertagesstätten delegieren.«67 Das konservative Verhältnis zu den überkommenen Tugenden, wie es schon Aristoteles vertritt und die Kommunitarier nun von neuem pflegen, lässt bei solchen Formu­ lierungen - trotz gegenteiliger Beteuerungen - für die Gleichbe­ rechtigung von Frauen und Männern nicht viel Gutes erwarten. Aus entsprechenden Überlegungen kommt Rössler zu dem Schluss: »[...] nur ein Insistieren auf der gegenüber gemeinsamen Werten überlegenen Autonomie und insbesondere der Sicherung dieser Idee durch ein entsprechendes Recht kann garantieren, daß nicht im Inte­ resse der Gemeinschaft über das Leben einer Frau bestimmt werden kann.«68 Durch das kommunitaristisch-fundamentalistische Verspre­ chen bzw. durch die Verallgemeinerung der politischen Lebensform scheinen die Menschen zwar eine Art sozialer Sicherheit und Gebor­ genheit zurückzuerhalten, würden dadurch jedoch gleichzeitig zu­ mindest ein gutes Stück ihrer Freiheit verlieren, das der Liberalismus seinerseits unter allen Umständen zu schützen sucht. Im Anschluss an die nachcartesische Erkenntnis, dass die definitive Moral der theoretischen Lebensform prinzipiell nicht zu leisten ist, verlegen die Theoretiker ihre Bemühungen auf das Unternehmen einer Ethik der provisorischen Moral: als deren Begründer Kant mit seiner Maximenethik gelten mag. Der von Kant entwickelte katego­ rische Imperativ soll die Funktion eines Kompasses übernehmen, mit dem Kurs auf eine umfassende Realisation der Vernunft zu halten ist. Das Kursbuch macht dabei die Gesamtheit der Maximen aus, die ein Vertreter der theoretischen Lebensform nicht zuletzt aufgrund seiner Lebenserfahrung selber entworfen und die er als Willensgrundsätze anerkannt hat. Wie nun an der entsprechenden Stelle schon ausführ­ lich dargelegt, ist es die Teilhabe an einer gemeinsamen Vernunft, 67 A. Etzioni, a.a.O., S. 286. 68 B. Rössler, a.a.O., S. 79.

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durch die die Menschen der theoretischen Lebensform untereinander verbunden sind. Diese Verbindung manifestiert sich in der Kom­ munikation und im Argumentieren, weshalb die Diskursethiker hier den Angelpunkt für die Bildung einer moralischen Gemeinschaft se­ hen: In der gemeinsamen argumentativen Auseinandersetzung und im abschließenden Konsens liegt für sie der Ort der Auffindung und Begründung moralischer Normen. In Korrespondenz mit dem Prinzip der Einheit, an dem sich ge­ mäß Kant die Vernunft bei ihren Tätigkeiten letztlich orientiert,69 scheinen die Diskursethiker von dem Optimismus getragen zu sein, dass sich sämtliche moralischen Probleme auf dem Hintergrund der Vernunft einvernehmlich und vollständig lösen lassen: Der Konsens wird damit als die gemeinschaftsbildende Kraft propagiert. Da die moralischen Normen allein von wirklichen Diskursen abhängen, die­ se Diskurse aber nicht nur die Grenzen des Durchführbaren sprengen, sondern auf Seiten der Teilnehmer vor allem die Möglichkeit voraus­ setzen, die eigenen Interessen artikulieren zu können, ergibt sich im Hinblick auf jene Menschen, denen es - beispielsweise aufgrund einer Behinderung - an entsprechender Vernünftigkeit zum mangeln scheint, ein spezifisches Problem, das auch von Karl-Otto Apel an­ scheinend nicht übersehen wird, wenn er schreibt: »Ich möchte hier­ mit übrigens nicht sagen, daß die noch Unmündigen oder diejenigen, die durch nicht mehr legitimierbare Verhältnisse der gesellschaftli­ chen Institutionen an der argumentativen Vertretung ihrer Interes­ sen gehindert sind, für die mögliche Konsensbildung im praktischen Diskurs< nicht zählen. Die Pointe einer transzendentalpragmatischen Begründung der ethischen Normen liegt vielmehr darin, daß alle In­ teressen - und d. h. die >Ansprüche< aller potentiellen Diskurs-Partner - nur im Diskurs rational wahrgenommen werden können,- nur im Diskurs deshalb, weil er - im Unterschied zu beliebigen anderen Sprachspielen - seiner Idee nach die Institutionalisierung der rationa­ len Selbstreflexion des transzendentalen Sprachspiels der unbegrenz­ ten Kommunikationsgemeinschaft darstellt.«70 Eine Lösung des an­ gesprochenen Problems, wie die Interessen der Unvernünftigen und 69 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft [2. Aufl.], in: Akademie-Ausgabe, Bd. III, Berlin 1968, S. 440 u. Reflexionen zur Metaphysik, in: Akademie-Ausgabe, Bd. XVII, S. 714, (4761). 70 K.-O. Apel, Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethi­ scher Normen, in: ders., Sprachpragmatik und Philosophie, Frnkfurt a.M. 1982, S. 126.

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Verabsolutierung

der Noch-nicht-Geborenen im Diskurs berücksichtigt werden kön­ nen, deutet Apel dann erst später an, wo er einen Unterschied macht zwischen der Gruppe der eigentlichen Diskurspartner und der Grup­ pe all derjenigen, für die der einmal aufgefundene Konsens Gültig­ keit haben soll: Vernünftigkeit »[...] sollte [...] im Wege der diskur­ siven Konsensbildung kommunikativ realisiert werden - wobei freilich der Konsens der am Diskurs Beteiligten niemals mit dem Konsens aller Betroffenen gleichgesetzt werden kann bzw. darf; denn zumindest die Interessen der Kinder und der nächsten Generationen werden ja stets advokatorisch vertreten werden müssen.«71 In ähnli­ chem Sinne heißt es schon bei Jürgen Habermas: »Alle Inhalte, auch wenn sie noch so fundamentale Handlungsnormen berühren, müs­ sen von realen (oder ersatzweise vorgenommenen, advokatorisch durchgeführten) Diskursen abhängig gemacht werden.«72 Gegen die Intentionen, welche Apel und Habermas mit der Einführung einer advokatorischen Interessenvertretung verfolgen, scheint zunächst nichts einzuwenden zu sein, wie zum Beispiel auch Hans-Joachim Höhn in seinem kritischen Beitrag zur Diskursethik a la Habermas deutlich macht: »Es ist allemal vernünftiger und humaner, die Be­ lange Vernunftloser vor dem Gerichtshof einer Argumentationsge­ meinschaft zu verhandeln, als sie unberücksichtigt zu lassen. Unter dieser Rücksicht erhält die Diskursethik den Charakter einer advokatorischen Ethik. Sie spricht bestimmten Vernunftsubjekten das Recht zu, kraft ihrer rationalen Einsicht, aber ohne das Wissen und Wollen einer Artikulation unfähiger Lebewesen, deren Rechte für sie wahr­ zunehmen und entsprechend zu handeln - ein Problem, das auch dort akut wird, wo es um die Berechtigung zur Suizidvereitelung oder zur Sterbehilfe geht [.. .].«73 Genau betrachtet bedeutet das entsprechen­ 71 Ders., Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventio­ nellen Moral, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, S. 272. 72 J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 104. 73 H.-J. Höhn, Sozialethik im Diskurs. Skizzen zum Gespräch zwischen Diskursethik und Katholischer Soziallehre, in: E. Arens (Hg.), Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Han­ delns, Düsseldorf 1989, S. 195. - Vgl. M. Brumlik, Vom Leiden der Tiere und vom Zwang zur Personwerdung. Zwei Kapitel advokatorischer Ethik, in: H.-U. v. Bachel u. N. Mette (Hg.), Kommunikation und Solidarität, Fribourg 1985, S. 300 u. 307 sowie ders., Über die Ansprüche Ungeborener und Unmündiger. Wie advokatorisch ist die diskursive Ethik?, in: W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Problem He­ gels und die Diskursethik, Frankfurt a.M. 1986, S. 267.

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Verallgemeinerung

de Theorem der advokatorischen Interessenvertretung, wie es von Apel und Habermas in die Diskursethik eingeführt wird, nun aber wiederum nichts anderes als eine spezifische Strategie der Verall­ gemeinerung - in diesem Fall der Universalisierung der theoreti­ schen Lebensform, was ich jetzt zeigen möchte. Nach Apel sollen also bei einem moralischen Interessenkonflikt zwar die Interessen aller von diesem Konflikt betroffenen Menschen berücksichtigt werden, am Diskurs selber sollen aber nur diejenigen teilnehmen können, welche die Fähigkeit besitzen, ihre Interessen in vernünftiger Weise darzulegen und mit Argumenten zu stützen.74 Diese Teilnahmebedingung klingt tatsächlich völlig plausibel und harmlos, wenn man dabei wie Apel zum Beispiel die Kinder im Blick hat. Es entsteht nämlich soweit der Eindruck, als sehe die Diskurs­ ethik gänzlich vom Inhalt der jeweiligen Interessen ab und als ginge es ihr lediglich um die vernünftige Art und Weise, in der jene Inte­ ressen geltend gemacht werden sollen, damit sämtliche Interessen aller Menschen in einem umfassenden Konsens rational miteinander vermittelt werden können. Wie indessen Benezet Bujo in seinem Aufsatz Gibt es eine spezifisch afrikanische Ethik? herauszustreichen sucht, bleibt die angesprochene Teilnahmebedingung aber nicht not­ wendigerweise so unverfänglich. »Um zu einem Konsens zu kom­ men, muß zwar das Interesse aller Beteiligten am >runden Tisch< mit­ berücksichtigt werden, aber letzten Endes diskutiert man immer nur mit Gleichrangigen, die das Vernunftargument verstehen und selber vernünftig argumentieren können.«75 Deshalb kommt man nicht umhin zu fragen, wie es denn den Vernünftigen gelingt, sich soweit in die Unvernünftigen einzufühlen, dass sie schließlich auch deren Interessen Rechnung tragen können. Oder wird aufgrund der Bedin­ gungen für die Auswahl der Diskursteilnehmer etwa doch mehr als bloß die Diskursprozedur und -atmosphäre vorgegeben? Entsprechend den oben genannten Voraussetzungen für die Teilnahme am Diskurs soll sich die betreffende Handlungsgemein­ schaft oder die reale Kommunikationsgemeinschaft gemäß Apel im­ mer mehr einer idealen Kommunikationsgemeinschaft annähern. Die ideale Kommunikationsgemeinschaft soll - freilich in einem uto­ pischen Sinne - dereinst gar die Vorherrschaft gegenüber der realen 74 Vgl. H.-J. Höhn, a.a.O., S. 194. 75 B. Bujo, Gibt es eine spezifisch afrikanische Ethik? Eine Anfrage an westliches Den­ ken, in: W. Kerber (Hg.), Das Absolute in der Ethik, München 1991, S. 198.

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Verabsolutierung

Kommunikationsgemeinschaft gewinnen, was Apel als eines von »zwei grundlegende[n] regulative[n] Prinzipien für die langfristige moralische Handlungsstrategie jedes Menschen« festschreiht: Dem­ gemäß »muß es [...] darum gehen [...], in der realen die ideale Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen.«76 Der angestrehte moralische Konsens gilt mithin zwar für die gesamte reale Kom­ munikationsgemeinschaft, hergestellt wird er indessen hloß von einer Gruppe, die als Ganze der idealen Kommunikationsgemein­ schaft am nächsten kommt. Für welche Interessen aher steht die idea­ le Kommunikationsgemeinschaft tatsächlich ein? Die ideale Kommunikationsgemeinschaft zeichnet sich nach Apel dadurch aus, dass sie »prinzipiell imstande sein würde, den Sinn (aller) Argumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit definitiv zu heurteilen«77. Im diskursethischen Konsens werden daher unter den heschriehenen Bedingungen überhaupt nur die wahren und ech­ ten, d. h., die gänzlich vernünftigen Interessen als moralisch ausge­ zeichnet, und damit werden sehr wohl inhaltliche Vorgahen gemacht. Anders ausgedrückt: Die leitende Vorstellung hei der Herstellung eines diskursethischen Konsenses hildet somit eine Gemeinschaft von durchweg Vernünftigen und von ausschließlich an der Vernunft Interessierten: mithin eine Gemeinschaft von Theoretikern. Aus die­ sem Grunde wendet Bujo mit Recht ein: »Die entscheidende Frage lautet: Sollte der Nichtargumentierende nicht zählen und der Un­ vernünftige eliminiert werden, wie könnte sich dann die Diskurs­ ethik gegen den Vorwurf der Inhumanität und des Vernunftimperia­ lismus verteidigen?«78 In einem anderen Zusammenhang, wo auch tierethische Aspekte mitdiskutiert werden, attestiert deshalh Micha Brumlik der Diskursethik, soweit sie als advokatorische Ethik auf­ tritt, einen ausgesprochenen Hang zum Paternalismus. »Wenn sich die Diskursethik der Belange nicht sprachfähiger Lehewesen an­ nimmt, dann durchhricht sie ihr prozeduralistisches Prinzip, darauf zu heharren, daß nur jene Normen Geltung heanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen eines praktischen Diskurses fin­ den oder finden könnten. Damit aher wird sie paternalistisch.«79 Un­ 76 K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikati­ onsgemeinschaft, Frnkfurt a.M. 1973, S. 431. 77 Ehenda, S. 429. 78 B. Bujo, a.a.O., S. 199.-Vgl. S. 200 u. H.-J. Höhn, a.a.O., S. 196. 79 M. Brumlik, Vom Leiden der Tiere und vom Zwang zur Personwerdung. Zwei Kapitel

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Verallgemeinerung

ter dem Deckmantel eines solchen Paternalismus, welcher der Dis­ kursethik als advokatorischer Ethik eignet, hzw. durch die Eroherungshewegung des diskursethischen »Vernunftimperialismus«, der auschließlich die Interessen der Vernünftigen als wahre Interessen stehen lässt, findet eine stillschweigende Verallgemeinerung der Interessen der Theoretiker, d. h., die Extension der theoretischen Le­ hensform statt. Als Angelpunkt der idealen Kommunikationsge­ meinschaft wird demzufolge offensichtlich, dass die Diskursethik moralische Gemeinschaft mit Gemeinschaft von Theoretikern gleich­ setzt, wie auch Alhrecht Wellmer in einem anderen Kontext klarstellt. »Rationalitäts-Verpflichtungen heziehen sich auf Argumente ohne Ansehen der Person; moralische Verpflichtungen heziehen sich auf Personen ohne Ansehen ihrer Argumente. Daß Rationalitätsforde­ rungen und moralische Verpflichtungen vielfach und auf komplexe Weise miteinander verschränkt sind, ist natürlich gar nicht zu leug­ nen, aher nur vom imaginären >höchsten (Blick-)Punkt< einer idealen Kommunikationsgemeinschaft kann es so scheinen, als oh heide letzt­ lich zusammenfallen würden.«80 Im Ganzen hat sich also gezeigt, dass die Diskursethik hloß eine Universalisierungs- hzw. eine Verahsolutierungsstrategie repräsentiert - im vorliegenden Falle eine Verahsolutierungsstrategie der Anhänger der theoretischen Lehensform. Die Erfüllung des eigenen Programmes einerseits und das Auf­ treten als advokatorische Ethik andererseits werden für die Dis­ kursethik schließlich zu einem unlösharen Prohlem. »Unter diesen Umständen können wir das Berufen auf interne Gründe für die Gültigkeit einer advokatorischen Beratung, die ja impliziert, daß die mündigen Berater die Interessen der unmündigen Betroffenen hesser kennen als diese selhst, als dem Diskursprinzip widersprechend aus­ scheiden. Wer sowohl die Gültigkeit des Diskursprinzips als auch die Kenntnis der Interessen anderer hehauptet, verwickelt sich in einen performativen Widerspruch zweiter Ordnung.«81

advokatorischer Ethik, in: H.-U. v. Bachel u. N. Mette (Hg.), Kommunikation und Soli­ darität, Frihourg 1985, S. 310. 80 A. Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils hei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a.M. 1986, S. 108. 81 M. Brumlik Üher die Ansprüche Ungehorener und Unmündiger. Wie advokatorisch ist die diskursive Ethik?, in: W. Kuhlmann (Hg.), Moralität und Sittlichkeit. Das Pro­ hlem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 274.

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Verabsolutierung

Mit Blick auf die hier besprochenen Ethikkonzepte lässt sich zusam­ menfassend festhalten, dass sich hinter der moralphilosophischen Denkbewegung der Universalisierung soweit nichts anderes als eine Verabsolutierungsstrategie der jeweils eigenen Lebensform verbirgt. Um diesen Vorgang der Verabsolutierung noch etwas zu erhellen, möchte ich an dieser Stelle auf jene Unterscheidung dreier idealtypi­ scher Stufen der Universalisierung zurückgreifen, welche John Leslie Mackie im 4. Kapitel seiner Ethik vorlegt. Die erste Universalisierungsstufe, wie Mackie sie begreift, hat erreicht, wer »[d]ie Irrelevanz rein numerischer Unterschiede«82 an­ erkennt; die gemeinte Form der Verallgemeinerung korrespondiert nach Mackie mit dem moralischen Elementargedanken: Rein quanti­ tative Unterschiede können im Raum der Moral, wo die Konstitution und der Zusammenhalt einer Gemeinschaft zur Diskussion stehen, keine qualitative Differenz rechtfertigen. »Moralische Urteile sind universalisierbar. Jeder, der ernsthaft behauptet, irgendeine Hand­ lung (Person, Sachverhalt usw.) sei sittlich richtig oder falsch, gut oder schlecht, geboten oder verboten, ist damit gehalten, dieselbe Ansicht hinsichtlich jeder in den relevanten Gesichtspunkten ähnli­ chen Handlung (usw.) zu vertreten.«83 Dies bedeutet keineswegs, dass wir unter spezifischen Umständen alle dieselben Handlungen ausführen müssen. »Etwas, was für dich falsch ist, kann für mich richtig sein; doch sollte dies der Fall sein, so muß irgendein qualitati­ ver, irgendein Unterschied der Art nach zwischen dir und mir, zwi­ schen deiner Situation und meiner Situation bestehen, der unter den gegebenen Umständen als sittlich relevant anzusehen wäre.«84 Nach dem Verständnis dieser Universalisierungsstufe kann eine Hand­ lungsweise nur dann moralisch sein, wenn sie der Einzelne nicht bloß rein egoistisch für sich als adäquate Handlungsmöglichkeit in Be­ tracht zieht, sondern wenn er diese Handlung jederzeit auch jedem anderen als passende Handlungsweise empfiehlt und zugesteht. »Be­ hauptet wird demnach, jede ernsthaft universalisierte oder universalisierbare Forderung, deren Verfechter bereit sei, sie in gleicher Weise auf sich selbst wie auf andere anzuwenden, und zu der er auch noch stehen würde, wenn in zwischenmenschlichen Beziehungen die Rollen vertauscht wären, sei eine moralische Regel. Nach dieser Auf­ 82 Vgl. J. L. Mackie, a.a.O., S. 104-113. 83 Ebenda, S. 104. 84 Ebenda, S. 105.

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Verallgemeinerung

fassung gibt es nur formale, jedoch keine materialen Beschränkun­ gen für das, was als moralisch gelten kann.«85 Es ist dies die Art und Weise der Universalisierung, wie sie beispielsweise in der Goldenen Regel86 aus der Bergpredigt nach dem Matthäus-Evangelium ihren Ausdruck findet. Obwohl die Goldene Regel in etwa dasjenige umreisst, was wir auf den ersten Blick als fair ansehen würden, beinhaltet diese Universalisierungsstufe - wie Mackie ausführt - noch immer zwei Formen von »Unfairness«. Die erste Art solcher Unfairness meint die still­ schweigende Verallgemeinerung der individuellen Lebensvorausset­ zungen und -umstände. »Diese Art von Unfairneß ergibt sich gewöhnlich dann, wenn Menschen universal präskriptive Prinzipien übernehmen, die all jene bevorzugen, die ihnen in irgendwelcher Hinsicht ähnlich sind. [...] Wer sich in einer starken Position glaubt, d. h. fähig, im Wettkampf zu bestehen, könnte moralische Regeln gutheißen, die harte Auseinandersetzungen zulassen. Ein guter Fech­ ter oder treffsicherer Schütze könnte die Institution des Duells für eine angemessene Form zur Wahrung der eigenen Ehre ansehen, während jemand, der im Umgang mit Worten geschickter ist als im Umgang mit Waffen, eher dazu neigt, diese Aufgabe den Gerichten zu überlassen.«87 Die Unfairness besteht also darin, dass jemand bei der Universalisierung seiner Sichtweisen und Urteile völlig ignoriert, dass nicht alle anderen Menschen über dieselben Fähigkeiten und Talente, über dasselbe Temperament, dieselben Charakteranlagen und positiven Lebensumstände verfügen wie er: was am Ende dazu führt, dass all jene Menschen, die ihm in Bezug auf Charakter und Lebenssituation nicht ähnlich sind, von ihm überfordert und in der Konsequenz benachteiligt werden. Die zweite Form von Unfairness besteht darin, dass die eigenen Neigungen und Interessen sowie die ganze eigene Wertewelt universalisiert werden. »Der Abstinenzler könnte voller Freude universal vorschreiben, niemand solle Wein oder Bier trinken, der Spießbürger, die Erhaltung alter Gebäude sollte niemals der Neuanlage oder der Erweiterung der Straßen vorgezogen werden, der eingefleischte In­ dividualist, öffentliche Hilfen sollten auf ein Minimum beschränkt werden. [.] Die Durchsetzung solcher Vorlieben könnte aber durch­ 85 Ebenda, S. 108. 86 Vgl. ebenda, S. 111. 87 Ebenda, S. 112f.

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Verabsolutierung

aus als unfair betrachtet werden.«88 Die Art von Gemeinschaft, die im Horizont der ersten Universalisierungsstufe mit Blick auf die bei­ den Weisen der Unfairness insgesamt resultieren würde, wäre eine »Gemeinschaft« der allgegenwärtigen Maßlosigkeit sowie der gegen­ seitigen Überforderung und Kolonialisierung: wo kein Raum bleibt für Einfühlung und Empathie, sondern in gewisser Hinsicht noch immer das Vorrecht des Rücksichtsloseren, des Unempfindlicheren und des Gewaltvolleren, des Aggressiveren herrscht. Auf der zweiten Universalisierungsstufe, auf der man »sich selbst in die Lage des anderen [zu] versetzen«89 versucht, wird die erste Art der Unfairness vermieden. Denn: »Die Frage, ob eine Ma­ xime, der man zuneigt, tatsächlich universalisierbar ist, wird dadurch entschieden, daß man sich in die Lage des anderen versetzt und sich fragt, ob man auch in diesem Fall, auch im Fall, daß man selbst der Betroffene ist, zu der Handlungsanweisung stehen würde.«90 Auf dieser Stufe wird bei der Universalisierung der eigenen moralischen Urteile im Sinne eines spezifischen »Rollentausch[es]«91 dem Um­ stand Rechnung getragen, dass andere Menschen vielleicht nicht die­ selben Talente und Möglichkeiten haben, über die man selber ver­ fügt: weil es eben nicht gerecht, nicht fair wäre, die moralischen Normen auf entsprechende besondere Anlagen und individuelle Vor­ teile oder spezielle Umstände und Gegebenheiten aufzubauen. Eine solche Form der Universalisierung vermeidet indessen nicht die an­ dere Weise der Unfairness. »Bei dieser zweiten Stufe der Universali­ sierung versetzt man sich in die Lage des anderen, jedoch mit den eigenen gegenwärtigen Vorlieben, Wertvorstellungen und Idea­ len.«92 Das Resultat der durchgängigen Universalisierung dieser zweiten Form wäre am Ende noch immer eine Gemeinschaft, in der jeder Mensch den anderen durch seine Wunschvorstellungen und Präferenzen kolonialisiert. Wie indessen ausführlich dargelegt wor­ den ist, bildet nun genau diese Form der kolonialisierenden Universalisierung das Fundament von sämtlichen weiter oben diskutierten Ethikkonzepten. Was im vorliegenden Kapitel bisher mit dem Begriff der »Universalisierung« bezeichnet worden ist, spielt sich mithin 88 89 90 91 92

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Ebenda, S. 113. Vgl. ebenda, S. 114-117. Ebenda, S. 114. Ebenda. Ebenda, S. 116.

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Verallgemeinerung

durchgehend auf dieser zweiten Ebene der Verallgemeinerung ah die heimliche Universalisierung des eigenen obersten Interesses im Sinne einer Verabsolutierung der eigenen Lebensform. Die Kolonialisierung der andern durch die eigenen Interessen wird erst auf der dritten Universalisierungsstufe überwunden, wo es schließlich darum geht, auch »[d]ie unterschiedlichen Vorlieben und konkurrierenden Ideale [zu] berücksichtigen«93. Hier steht der Versuch im Vordergrund, sich nicht nur in die Situation des anderen hineinzudenken, sondern sich auch in dessen Wertewelt einzufühlen: »Ganz offensichtlich versetzt die dritte Stufe der Universalisierung einen noch ernsthafter in die Lage des anderen, so daß seine Wünsche, sein Geschmack, seine Vorlieben, Ideale und Wertvorstel­ lungen genauso wie seine anderen Qualitäten, Fähigkeiten und seine äußere Lage wie zu etwas Eigenem werden.«94 Die drei Universalisierungsstufen scheinen zunächst - vom Stand der dritten Stufe aus gesehen - wie drei immer feiner werdende Raster aufeinander auf­ zubauen: Was durch die dritte Form der Universalisierung als mora­ lisch ausgezeichnet wird, scheint zuvor schon die Prüfungen durch die erste und die zweite Form bestanden zu haben. Am Ende »[...] versucht man, die Sachlage zugleich aus der eigenen wie aus der Sicht des anderen zu betrachten und nach handlungsanleitenden Prinzipien (selbstverständlich schon in universalisierter bzw. universalisierbarer Form der ersten Stufe) zu suchen, die aus beiden Blick­ winkeln annehmbar erscheinen oder, besser: da es nicht nur einen anderen, sondern unendlich viele andere Menschen gibt, aus allen Blickwinkeln [.. .].«95 Aus diesem Grunde ergeben sich aber auch mo­ ralische Handlungsvorschriften, die sich mit unseren eigenen Inte­ ressen in keiner Weise vertragen. »Auf dieser dritten Stufe berück­ sichtigen wir in irgendeiner Hinsicht alle tatsächlichen Wünsche, Geschmäcker, Vorlieben, Ideale und Wertvorstellungen, einschließ­ lich derjenigen, die von den unsrigen grundverschieden sind oder zu ihnen sogar in Widerspruch stehen, und folglich berücksichtigen wir in irgendeiner Weise alle tatsächlichen Interessen jedes beliebigen Menschen, einschließlich der Interessen, die aus Vorlieben und Wertvorstellungen herrühren, die wir selbst nicht teilen.«96 Die Ziel93 94 95 96

Vgl. ebenda, S. 117-123. Ebenda, S. 117. Ebenda. Ebenda, S. 118.

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Verabsolutierung

Vorstellung auf dieser letzten Ebene der Universalisierung ist eine integrative Gemeinschaft, wo sämtliche Mitglieder die größtmögli­ chen Freiräume für ihre fundamentalen Interessen finden können. Nach Mackie spielt sich das moralische Denken und Urteilen der meisten Menschen auf der ersten Verallgemeinerungsstufe ab: »Cha­ rakteristisch für moralisches Denken im allgemeinen ist höchstens die erste Stufe der Universalisierung [...].«97 Gleichwohl entspricht eigentlich einzig die dritte Universalisierungsstufe voll und ganz dem Grundgedanken der Moral. Denn: »Nur auf der dritten Stufe gesteht man allen tatsächlichen Interessen annähernd gleiches Ge­ wicht zu; doch ist diese für moralisches Denken im allgemeinen durchaus nicht charakteristisch.«98 Entgegen Mackies eigener An­ sicht, der die dritte Universalisierungsstufe in erster Linie mit dem Präferenzen-Utilitarismus in Verbindung bringt,99 vermag aber und dies ist zuvor aufgezeigt worden - auch der Utilitarismus nicht, den Gedanken der dritten Unversalisierungsstufe einzuholen: Seine Verabsolutierung der eigenen Lebensform widerspricht geradezu dieser Art der Verallgemeinerung. Von daher wird sich die Frage auf­ drängen, ob die dritte Form der Universalisierung vielleicht grund­ sätzlich undurchführbar bleibt, ob also diese Weise der Verallgemei­ nerung überhaupt nicht neutral durchführbar ist. Keines der konkurrierenden Ethikkonzepte vermag - um es mit den Worten von Max Weber zu sagen - die »Würde«100 der anderen Lebensformen zu wahren; bei jedem handelt es sich um die »Benut­ zung der >Ethik< als Mittel des >RechthabensAber warum sollte ich so leben?PlateauPlateauund ... und ... und .. .Egoisten