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German Pages 120 [121] Year 2022
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Wirtschaft und Moral – Ein Widerstreit?
Sozialtheorie
Mathias Lindenau (Dr. phil.) ist Professor an der Ostschweizer Fachhochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind angewandte Ethik und normative Fragestellungen der Sozialen Arbeit, politische Ideengeschichte, Entscheidungstheorie und Geschichte der Sozialen Arbeit. Marcel Meier Kressig (Dr. rer. soc.) ist Professor an der Ostschweizer Fachhochschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorien, politische Philosophie der Sozialen Arbeit sowie Handlungs- und Entscheidungstheorien.
Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.)
Wirtschaft und Moral – Ein Widerstreit? Denkanstöße zu Ökonomie und Ethik. Vadian Lectures Band 8
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Inhalt
Einleitung Mathias Lindenau/Marcel Meier Kressig ........................................7
Außer Betrieb und ohne Orientierung? Die lang- und mittelfristigen Folgen der Deindustrialisierung Westeuropas Lutz Raphael .............................................................. 25
Dient materieller Reichtum dem bonum commune? Sebastian Wörwag ......................................................... 47
Bedingungsloses Grundeinkommen vs. Sozialstaat – Was dient dem Menschen? Thomas Straubhaar ........................................................ 73
Über das Unmögliche: Nachhaltiger ethischer Konsum Ein Essay Birger P. Priddat ........................................................... 99
Autoren ................................................................. 117
Einleitung Mathias Lindenau/Marcel Meier Kressig
Ist die Wirtschaft amoralisch? Lässt sie sich ausschließlich von ihren Sonderinteressen und Selbstbildern leiten? Lehnt sie moralisch hergeleitete Normen grundsätzlich ab? Es sind nicht nur Themen wie etwa Verteilung und Leistung oder Wachstum und Nachhaltigkeit, über die kontrovers diskutiert wird. Vielmehr gilt die Wirtschaft in einem grundsätzlichen Sinn nicht als Inbegriff eines moralaffinen Bereiches. Im Gegenteil: In Bezug auf die Erfüllung ethischer Anforderungen und die Einhaltung von moralischen Pflichten besitzt die Wirtschaft ein schlechtes Image. Dabei wird zumeist auf folgende Gründe verwiesen: •
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Es ist nicht ohne Weiteres garantiert, dass tatsächlich alle Marktakteur*innen einen freien Zugang zum Markt besitzen und dort faire Tauschbedingungen vorfinden. Ebenso ist fraglich, inwiefern überhaupt von einem freien Wettbewerb gesprochen werden kann, wenn Monopole, Oligopole und Kartelle eine marktbeherrschende Stellung einnehmen (vgl. Rogall 2006). Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat ebenso wie jüngst die Corona-Krise offenbart, dass der Markt doch nicht in der Lage ist, als alleiniger Krisenbewältigungsmechanismus zu fungieren. Die neuen Herausforderungen haben die Vorstellungen von einer Selbstregulierung der Märkte oder der Schädlichkeit jeglicher staatlicher Interventionen nachhaltig in Frage gestellt. Ohne die Stützung durch den Staat, der ansonsten gern verteufelt wird, und der Erfüllung vielfältiger nicht-marktlicher Voraussetzungen wäre die Wirtschaft nicht überlebensfähig (vgl. Engels 2009; Stieglitz 2010).
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Die schonungslose Ausbeutung von Menschen, wie Kinderarbeit oder sklavenähnliche Arbeitsbedingungen, scheinen ebenso wirtschaftlichen Erwägungen untergeordnet zu werden wie der zügellose Raubbau an der Natur. Diese Praktiken zeigen, dass Unternehmen sich gerade nicht als moralische Akteure verstehen, sondern einer ausschließlich gewinnsüchtigen Kosten-NutzenRechnung verhaftet bleiben. Corporate Social Responsibility läuft Gefahr, zur Leerformel zu werden (vgl. Neuhäuser 2011). Ebenso werden die sich aus wirtschaftlichem Handeln ergebenden sozialen Verwerfungen wie auch die externen negativen Effekte nicht eingepreist und der Gesellschaft zur Bearbeitung überlassen. Die Rede von sozialer Verantwortung der Unternehmen ist folglich ein reines Lippenbekenntnis, wenn z.B. trotz hoher Renditen Arbeitsplätze abgebaut werden (vgl. Crane/Matten 2007; Raim 2021). Die Gier von Manager*innen in Form von Gehaltsexessen sowie der Einsatz von Korruption zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele und zur Erlangung von Aufträgen werden als unvermeidlich im wirtschaftlichen Handeln hingenommen (vgl. Leyendecker 2009). Die Konsument*innen werden bewusst betrogen und nur das zugegeben, was sich nicht mehr leugnen lässt; wie zuletzt im Skandal um die Abschalteinrichtungen in der Automobilindustrie. Zudem betreiben Unternehmen ›Greenwashing‹: Wie eine EU-Untersuchung von Onlinemärkten ergab, sind bei 42 Prozent der Unternehmen die Behauptungen ihres Nachhaltigkeitsengagements übertrieben, falsch oder irreführend (vgl. Preuss 2021); Unternehmen neigen dazu, »sich die Rosinen herauspicken« und die Betonung ihrer ökologischen Anstrengungen ist »zumeist billiges Gerede« (Bingler/Kraus/Leippold 2021). Für Demokratien besteht die Gefahr, aufgrund der hohen Abhängigkeit von wirtschaftlichen Prozessen ihren Geltungsbereich gegenüber Global Playern und einer global vernetzten Ökonomie zu verlieren und dass so deren Sonderinteressen über relevante gesellschaftliche Fragen gestellt werden (vgl. Streeck 2016; Dörre 2019).
Einleitung
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Wenn die Bürger*innen sich nur noch marktkonform verhalten und ausschließlich ihre egoistischen Eigeninteressen verfolgen, sie sich also nicht mehr gegenüber der demokratischen Praxis verpflichtet fühlen, dann kann die Demokratie nicht bestehen (vgl. Nida-Rümelin 2013).
So erstaunt nicht, dass die Kontroversen zwischen der Ökonomie und der Ethik oftmals von einem Schwarz-Weiß-Denken geprägt sind: Während die einen Ökonomie mit Profit und Gier gleichsetzen, sehen andere in der Ethik eine moralisierende Instanz, die jeden Bezug zur unternehmerischen Realität verloren hat. Derlei gegenseitige Überzeichnungen verhindern jedoch einen sachlichen Blick für eine kritische Auseinandersetzung mit den oben benannten Spannungsfeldern. Es kann weder darum gehen, das Hohelied des freien Marktes zu singen, noch den Markt in jeder Hinsicht zu verteufeln. Denn in seiner Funktion zur Ermöglichung von Tauschbeziehungen und als effizienter Mechanismus der Verhaltenskoordination ist der Markt unersetzlich (vgl. Satz 2013). Dennoch zeitigt wirtschaftliches Handeln Auswirkungen, die auch ethische Gesichtspunkte tangieren: »Wirtschaftliches Handeln findet [..] nie in einem ethisch luftleeren Raum statt und kann sich der Frage nach der Ethik nicht durch das Argument entziehen, Wirtschaft habe nun einmal mit Ethik nichts zu tun. Auch wirtschaftliches Handeln ist primär Handeln und unterliegt daher wie jedes Handeln der ethischen Bewertung.« (Heidenreich 2012: 12) Die Grundsatzfrage, in welchem Verhältnis Wirtschaft und Ethik zueinanderstehen, lässt sich bekanntlich bis in die Antike zurückverfolgen. Aristoteles (1996) hat in seinem Ersten Buch zur Politik bereits auf die Frage nach der Funktion der Wirtschaft gegenüber der Gesellschaft aufmerksam gemacht. Seither sind unzählige Antwortversuche auf diese Frage unternommen worden. Es ist hier nicht der Ort, diese geschichtlichen Entwicklungslinien ausführlich nachzuverfolgen (weiterführend hierzu u.a. Backhouse 2002; Priddat 2002; Sommer 2013; Kocka 2015; Oermann 2015). Gleichwohl ist im historischen Rückblick
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auf einen wesentlichen Punkt hinzuweisen: Im 18. und 19. Jahrhundert ließ insbesondere die Freiheitsidee die Vorstellung eines an Eigeninteresse und Effizienzkriterien orientierten Wirtschaftens reizvoll werden. Die Idee einer freien Marktwirtschaft als gesellschaftliches Instrument sollte entsprechend nicht nur mehr Wohlstand generieren, sondern zudem zu Freiheit und Gerechtigkeit führen. So konnte Albert O. Hirschman (1987) in seiner ideengeschichtlichen Untersuchung zeigen, dass gerade im Verfolgen von eigenen Interessen und in der Koordination von wirtschaftlichen Aktivitäten über den Markt auch die Hoffnung auf eine Emanzipation von den traditionellen Fesseln einer feudalen und aristokratischen Gesellschaft und auf eine Befriedung der kriegsgeprägten Verhältnisse gründete. Das Modell des neuen Wirtschaftssystems betonte den friedlichen Charakter, der Grund zur Hoffnung auf eine neue Gesellschaftsordnung gab. Denn nun könnten sich die Leidenschaften der Menschen am wenigsten schädlich in der Interessenverfolgung im wirtschaftlichen Handeln und in der Kapitalakkumulation entfalten. Dadurch, so die Vorstellung, könnten sich dauerhafte und beständige Beziehungen zwischen den Menschen über den Markt ausbilden. Diese wiederum würden innerhalb eines Landes für eine gefestigte Gemeinschaft sorgen, im Außenhandel könnten sie friedliche Beziehungen befördern, da an sich niemand darauf bedacht ist, Beziehungen zu gefährden, die den eigenen Interessen an der Wohlstandssteigerung dienen. Die emanzipatorische Hoffnung auf eine soziale Befriedung einer Gesellschaft durch den Marktliberalismus ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Vielmehr hat sich in der jüngeren Vergangenheit gezeigt, dass ein marktwirtschaftliches System nicht an die parlamentarische Demokratie gebunden sein muss, wie lange angenommen wurde, sondern mindestens ebenso gut unter autoritären Regimen, wie etwa China, funktionieren kann. Folglich kann die Emanzipation und Freiheit der Bürger*innen nicht auf der Marktfreiheit aufruhen und durch diese nicht geschützt werden: »Im demokratischen Verfassungsstaat – anders als in feudalen, absolutistischen oder totalitären Gesellschaftsstrukturen – wird die zivil-
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gesellschaftliche Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat nicht vornehmlich durch die Marktfreiheit, sondern vielmehr durch politische Grundrechte geschützt« (Beckert 2012: 257). Ebenso wird infrage gestellt, inwieweit die Versprechen auf Freiheit und Gerechtigkeit durch den Markt tatsächlich eingelöst werden können. Spätestens mit dem Einsetzen des sogenannten Manchesterkapitalismus im 19. Jahrhundert und die durch ihn verursachte massenhafte Verelendung der arbeitenden Bevölkerung wurde die Frage virulent, ob sich die Marktwirtschaft von gesellschaftlichen Werten leiten lässt und so als ein Mittel zur Gestaltung politisch definierter Zielvorgaben fungiert oder sie sich konsequent staatlicher Regulierung entzieht und die marktwirtschaftliche Logik zum ausschließlichen Gradmesser ihres Handelns erklärt. Besonders die neoklassische ökonomische Theorie hat in dieser Frage im letzten Jahrhundert eine hegemoniale Stellung errungen. Ihre Auffassung, dass allein der Markt und nicht die Politik geeignet sei, die Verteilung knapper Ressourcen vorzunehmen, und die soziale Verantwortung von Unternehmen in ihrer Gewinnmaximierung bestehe, um das Wohl einer Gesellschaft insgesamt zu fördern (vgl. Friedman 1970: 17), hat zu einer unreflektierten Omnipotenzzuschreibung an den Marktmechanismus geführt.1
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Freilich hat es immer wieder auch Positionen außerhalb des ökonomischen Mainstreams gegeben. Beispielhaft dafür steht der ungarisch-österreichische Ökonom Karl Polanyi. In seinem Hauptwerk The Great Transformation (2021) wendet er sich gegen die vermeintliche Naturwüchsigkeit marktliberaler Verhältnisse und stellt die These von den wiederkehrenden Gegenbewegungen auf. Für ihn zeigt sich die Geschichte des Kapitalismus als eine »Doppelbewegung«: Zum einen in der »Bewegung«, die zur »Herauslösung« und Verselbständigung der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft führt und als historisches Novum die Gesellschaft den Dynamiken der Marktökonomie unterwirft und in eine »Marktgesellschaft« transformiert. Mit der Konsequenz, dass die Idee der Marktwirtschaft mit der gesellschaftlichen »Einbettung« der Ökonomie bricht und die Menschen aus dem Schutz ihrer soziokulturellen Verwurzelung herauslöst. Das »freie Spiel der Kräfte« wiederum führt zu »Gegenbewegungen« (z.B. Sozialgesetzgebungen, Schutzzölle) und letztlich zur Entstehung von Nationalstaaten, mit denen sich die Gesellschaften vor den gravierenden Folgen für ihre
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Auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass die Marktwirtschaft eine wichtige Rolle bei der Hebung des allgemeinen Wohlstandsniveaus gespielt hat, so wurde sie angesichts der sozialen und ökologischen Folgen, die aus ihrem Handeln resultieren, immer wieder massiver Kritik ausgesetzt: Die marktradikale Doktrin ist aus sich heraus nicht überlebensfähig und von bestimmten Bedingungen abhängig, die der Staat gewährleisten soll (vgl. Biebricher 2021); der Marktmechanismus führt gerade nicht in jedem Fall zur optimalen Allokation und Distribution der vorhandenen Mittel, sondern vielmehr zu sozialen Verwerfungen mit Folgen für den Sozialstaat und die Demokratie (vgl. Butterwegge/Lösch/Ptak 2016), weshalb »der freie Markt nicht notwendig dazu führt, daß alle unter hinreichenden Bedingungen leben, sondern daß seine Auswirkungen dieses Grundrecht verletzen können« (Wolf 1997: 19); die marktwirtschaftliche Logik dringt unhinterfragt in immer mehr Lebensbereiche der Menschen ein, in denen sie nichts zu suchen hat (vgl. Walzer 1998; Sandel 2013); es bestehen Zweifel an der Fähigkeit des Marktes, die in Aussicht gestellten Freiheiten für alle Individuen tatsächlich zu gewährleisten (vgl. Sen 2000); schließlich führt das Setzen finanzieller Anreize nicht in jedem Fall zu dem erwünschten Verhalten und kann unbeabsichtigte Folgen, wie die Verdrängung der intrinsischen Motivation, nach sich ziehen (vgl. Bowles 2016). Problematisiert wird zudem das Paradigma eines permanenten und notwendigen Wirtschaftswachstums.2 Dabei lassen sich zwei Meinungslager ausweisen: Diejenigen, die davon überzeugt sind, dass
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natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen zu schützen suchten. Dieses dialektische Wechselspiel von Entfesselung und Regulierung der Wirtschaft führt laut Polanyi in eine Sackgasse. Die kapitalistische Wirtschaftsweise ist mit dem »Konsumationsproblem« konfrontiert: Während von der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges bis Ende der 1960er Jahre von einer erfolgreichen Kombination von Massenproduktion und Massenkonsum ausgegangen werden kann, erzeugte das vorherrschende Produktionsmodell danach nicht mehr aus sich heraus die notwendige Nachfrage für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Wachstumsraten. Daraus resultiert der Zwang, immer wieder neue Wege finden zu müssen, um die Nachfrage erneut in Schwung zu bringen. So auch im digitalen Kapitalismus,
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nicht einfach auf Wirtschaftswachstum verzichtet werden kann. Sie geben zu bedenken, dass ein Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum nicht nur der Wirtschaft schaden könnte, sondern in einer schrumpfenden Volkswirtschaft die Verteilungskämpfe zunehmen werden. Insbesondere aus einer globalen Perspektive würde der Verzicht auf weiteres Wirtschaftswachstum bei unbegrenztem weltweiten Bevölkerungswachstum nicht nur für die Menschen im globalen Norden zu massiven Einschränkungen in ihrem Lebensstandard führen, sondern die extreme Armut der Menschen im globalen Süden nicht verbessern (vgl. Milanović 2017). Was allerdings möglich sei, ist, das Wachstum an die gegenwärtigen Erfordernisse anzupassen: So wenig wie möglich Ressourcen zu verbrauchen, die Klimaschädigung zu bekämpfen und letztlich auf ein moderates statt maximales Wachstum zu setzen (vgl. Binswanger 2019). Demgegenüber wird im anderen Meinungslager darauf verwiesen, dass nicht von einem exponentiellen Wachstum ausgegangen werden könne, ohne dabei irreparable Schäden an der Umwelt zu hinterlassen: »Die Ressourcen auf unserer Erde sind limitiert, und es ist nicht möglich, unendlich zu wachsen. Zwei Überlegungen untermauern dies. Erstens: Jedes Wachstum, auch qualitatives, benötigt materielle Ressourcen und Energie. Zweitens: Jede Effizienzsteigerung gelangt an physikalische Grenzen, denn es gibt kein Perpetuum mobile. Die Konsequenz? Sind die Effizienzpotenziale ausgeschöpft, führt jedes Wachstum zu einem Mehrverbrauch von Ressourcen […] Wir stecken in einem Dilemma: Ohne Wachstum funktioniert das heutige Wirtschaftssystem nicht, mit Wachstum zerstören wir unsere Lebensgrundlagen.« (Karagounis 2019: 19) Es ist also fraglich, ob weiterhin die Suche nach neuen Optimierungsmöglichkeiten für die Wirtschaft ausreichend ist, oder nicht doch vielmehr die bestehenden Geschäfts- und Konsummodelle infrage gestellt werden müssen. Das hat zu einer neuen Attraktivität des Tauschens der über die Rationalisierung und Intensivierung des Konsums das Nachfrageproblem zu lösen versucht. (vgl. Staab 2017)
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und Teilens als Alternative zum herkömmlichen Wirtschaften geführt (vgl. Blaumer/Ebert/Lehmann/Ströhl 2017). Aber auch zu Überlegungen, woran sich das Wirtschaften zukünftig orientieren muss, um mit einer Welt begrenzter Ressourcen vereinbar zu sein oder um zu einer stationären Wirtschaft ohne weiteres Wachstum zu führen. Beispielhaft dafür sind etwa Kate Raworths Donut-Ökonomie (2018), die davon ausgeht, dass sich der wirtschaftliche Handlungsspielraum aus der Beachtung der planetaren Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, ebenso ergibt wie aus der Beachtung der sozialen Grenzen, in denen es kein Defizit geben darf. Die Beachtung dieser Grenzen wird anstelle des Bruttosozialprodukts als Zielvorgabe für Wirtschaftswachstum vorgegeben. Oder dem Ansatz von Riane Eisler und ihrer Caring Economy (2020), die dafür plädiert, dass die Wirtschaft »partnerschaftlich« geprägt sein müsse. D.h., der Schutz von Menschen und Umwelt muss eine viel größere Rolle spielen anstatt alles den ökonomischen Kennzahlen unterzuordnen. Entsprechend muss nicht nur dem Umweltschutz eine hohe Priorität eingeräumt werden, sondern ebenso der Angleichung der Lebensbedingungen von materiell armen und reichen Menschen sowie der Verringerung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Zudem müsse in die ökonomischen Kennzahlen auch einfließen, wie sehr das Wirtschaftssystem auf unbezahlter Sorge-Arbeit, vorrangig von Frauen, basiert. Zusammenfassend wird die Marktwirtschaft aus den hier skizzierten unterschiedlichen Perspektiven nicht als unveränderliches Naturgesetz, sondern als gestaltungsbedürftige politische Konstruktion verstanden, die vor allem in Bezug auf den normativen Wert des Marktes drei nach wie vor aktuelle Fragestellungen aufwirft: »die Frage nach der äußeren Eingrenzung, die verhindert, dass der Markt die gesamte Gesellschaft strukturiert; die Frage nach der Verteilung und der Möglichkeit, egalitäre Prinzipien in einer Marktgesellschaft hochzuhalten; und die Frage nach einer Moralisierung des Marktes durch inhärente Moralprinzipien und das Ethos der Marktteilnehmer.« (Herzog/Honneth 2014: 378)
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Herzog und Honneth verweisen also darauf, dass die Frage nach der Moralität des Wirtschaftens ebenso den Blick auf die Marktakteur*innen, auf ihr Handeln bzw. ihre Motivationen und Antriebe richten muss. Damit ist auch die Frage verbunden, worauf das Grundverständnis von wirtschaftlichen Akteur*innen beruht. Grundlage vieler wirtschaftswissenschaftlicher Modelle, wie z.B. der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie, ist das Homo-oeconomicusModell. Es handelt sich dabei um die Annahme eines ausschließlich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten denkenden und handelnden Menschen, der über vollkommene Information über alle Märkte sowie lückenlose Information über sämtliche Entscheidungsalternativen und deren Konsequenzen verfügt und die Fähigkeit zu uneingeschränktem rationalem Verhalten besitzt. Dadurch ist es dem Homo oeconomicus möglich, in der Rolle des Produzenten nach Gewinnmaximierung und in der Rolle des Konsumenten nach dem größtmöglichen Nutzen (Nutzenmaximierung) zu streben. Auch wenn dieses Modell nur eine methodische Abstraktion darstellt, um die mathematische Modellbildung zu erleichtern, so avancierte es dennoch immer mehr zu einem Ideal mit Absolutheitsanspruch und der rationale ökonomische Mensch wurde zum Inbegriff von Rationalität schlechthin. Diese Auffassung des ökonomischen Menschenbildes ist freilich nicht unwidersprochen geblieben. Sen (2020) hat darauf hingewiesen, dass das Homo-oeconomicus-Modell in der sozialen Wirklichkeit nicht trägt und eher eine Karikatur des Menschen darstellt: Menschen verhalten sich keineswegs so, dass sie in jeder sich bietenden Gelegenheit egoistisch und berechnend nach dem größtmöglichen Nutzen streben. Wäre das der Fall, dann wären Menschen nicht fähig, in privaten wie gesellschaftlichen Beziehungen zu leben, auf die sie jedoch notwendig angewiesen sind. Sie würden vielmehr als sozial wie ebenso emotional gestörte Individuen agieren und wären »rationale Dummköpfe«. Deshalb wurde vorgeschlagen, das Bild vom Menschen als ökonomischem Akteur neu zu zeichnen, um das Wesen des Menschen angemessener zu berücksichtigen:
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»Erstens: Wir sind nicht beschränkt auf Eigennutz, sondern sozial orientiert und auf Austausch mit anderen bedacht. Zweitens: Wir haben keine festgefügten Präferenzen, sondern veränderliche Wertvorstellungen. Drittens: Wir sind nicht isoliert, sondern voneinander abhängig. Viertens: Wir berechnen und kalkulieren nicht ständig, sondern bemühen uns um Annäherungswerte. Fünftens: Wir sind nicht die Herren über die Natur, sondern vielmehr eingebettet in das Netz des Lebens« (Raworth 2018: 127). Gleichwohl entbindet diese Korrektur nicht von der kritischen Auseinandersetzung mit dem moralischen Verhalten und Handeln von Menschen als Wirtschaftsakteuren, unabhängig davon, in welcher Rolle sie auf dem Markt agieren. Grundsätzlich scheint sich ökonomisch orientiertes Denken gegenüber der Moral gewandelt zu haben: »Als Grundlage des moralischen Handelns wird nicht mehr die Moralität […] gesehen, sondern eine der notwendigen Bedingungen moralischen Handelns besteht nunmehr darin, daß [es] zu keinen ökonomischen Nachteilen führt.« (Zimmerli/Aßländer 2005: 311) Das stellt insbesondere diejenigen, die Unternehmen führen, dann vor große Herausforderungen, wenn nicht mehr zwischen richtig und falsch, legitim oder illegitim unterschieden wird, sondern allein das Kriterium erfolgreich vs. nicht erfolgreich handlungsanleitend ist (vgl. Schneider 2016: 10). Der Hinweis, dass sich Unternehmen in ihrer ökonomischen Zielsetzung an geltende Verträge zu halten und sich innerhalb bestehender Gesetze zu bewegen haben (vgl. Aiolfi 2018: 12), ist sicher nicht falsch, aber in Bezug auf die Moral und Ethik auch nicht ausreichend. Denn damit ist noch nichts über die Einhaltung moralischer Pflichten und die Anerkennung ethischer Anforderungen ausgesagt, die nicht in jedem Fall deckungsgleich mit gesetzlichen Regelungen sind. Zumal wenn bestehende Gesetzeslücken, bis sie geschlossen werden, legal genutzt werden können, aber ethisch nicht zu legitimieren sind, wie etwa Steuerschlupflöcher. Damit soll nicht gesagt sein, dass Unternehmen an sich unlauter agieren oder keinen Gewinn mehr erzielen dürfen. Worum es vielmehr geht, ist, dass die alleinige Ausrichtung wirtschaftlichen Handelns auf die Gewinnorientierung
Einleitung
aufgegeben wird und neben den finanziellen Bewertungsmaßstäben auch nicht unmittelbar finanziell bestimmte Handlungsdimensionen berücksichtigt werden, wie z.B. das Soziale und die Umwelt. Denn von diesen sind letztlich auch Unternehmen abhängig. Der Klimawandel, aber auch immer wieder auftretende soziale Spannungen, führen das deutlich vor Augen (vgl. Henderson 2020; Stehr 2007). Aber auch auf Seiten derjenigen, die konsumieren, ist ein kritisches Sich-Hinterfragen notwendig, wenn es um das ökonomische Handeln geht. Es darf als evident gelten, dass der gegenwärtige Konsumstil in den Ländern des globalen Nordens im Hinblick auf ökologische Ziele und sozialverträgliche Wertschöpfungsketten dringend einer Korrektur bedarf. Der vorherrschende materiell orientierte Lebensstil hat zu einem Glauben an den Konsum geführt, der zugleich als Mittel gegen Frustration und Unzufriedenheit wie auch zur Erlangung von Glück und Wohlbefinden eingesetzt wird (vgl. Prinz/Pawelzik 2006). Das wiederum führt zu einem Sog der Konsumvermehrung, wodurch ökonomisches Wachstum blind forciert wird, anstatt sich mit einer Ökonomie des guten Lebens auseinanderzusetzen, die darauf hinweist, dass Konsum Bestandteil eines guten Lebens sein kann, aber nicht muss, und auch die Frage impliziert, wie viel genug ist (vgl. Skidelsky/Skidelsky 2013). Wie jedoch in einer liberalen Gesellschaft eine Kultur des Maßhaltens etabliert werden kann, ohne dabei auf staatliche Verordnungen zu setzen und den Menschen im Einzelnen vorzuschreiben, wie sie leben und konsumieren sollen, stellt eine der großen Herausforderungen dar. Vor dem skizzierten Hintergrund beleuchten die hier versammelten Beiträge unterschiedliche Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ethik. Einleitend lenkt Lutz Raphael den Blick auf den Strukturwandel im Zuge der Deindustrialisierung, der nicht allein von historischem Interesse ist, sondern aus dem Lehren für die gegenwärtigen Herausforderungen gezogen werden können. Raphael zeigt anhand einer luziden Analyse, wie der Strukturbruch nicht allein die ökonomische Sphäre massiv beeinflusste, sondern eben-
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so starke Effekte auf die Politik und die Gesellschaft nach sich zog. Die damit einhergehende Erschütterung scheinbar festgefügter Erfahrungswelten für große Teile der Bevölkerung hat nicht nur die Krise alltäglich werden lassen und für die komplexe Gemengelage von Kontinuität und Bruch sensibilisiert, sondern auch darauf aufmerksam gemacht, dass sozialethische Fragestellungen in Zukunft zunehmen werden. Daran knüpft Sebastian Wörwag mit seinem Beitrag zum bonum commune an. Wann immer Gesellschaften erschüttert werden, wie jüngst durch die Corona-Pandemie, zeigt sich, dass die Suchbewegungen danach zunehmen, was das Gemeinwohl auszeichnen soll. Anhand verschiedener ideengeschichtlicher Überlegungen zeigt Wörwag auf, dass die Frage nach einem bonum commune höchst unterschiedlich beantwortet werden kann. Insbesondere vor diesem Hintergrund ist ein gesellschaftlicher Diskurs unverzichtbar, der u.a. darüber debattiert, was das »Gute« für das Gemeinwohl auszeichnen soll und wer darüber befindet, welche Verantwortlichkeiten dem Staat und den Individuen zukommen, aber auch wie das Verhältnis von der Ökonomie zum Gemeinwohl beschaffen sein soll. Doch wie lässt sich das Gemeinwohl oder der Sozialstaat finanzieren? Wenn die gegenwärtigen Befunde nicht falsch sind, bedarf es einer fundamentalen Reform des Sozialstaates. Thomas Straubhaar bietet dazu mit dem bedingungslosen Grundeinkommen einen dezidiert ausgearbeiteten Vorschlag an. Trotz aller Kritik an diesem Modell ist Straubhaar davon überzeugt, dass aufgrund des digitalen Wandels der Arbeitswelt und der demografischen Lage keine Alternative zu diesem Modell denkbar ist, zu dessen Finanzierung zukünftig nicht nur die Arbeitseinkommen, sondern alle Einkünfte gleichermaßen in die Steuerpflicht genommen werden. Damit kann das bedingungslose Grundeinkommen auch einen Beitrag zur Gerechtigkeit leisten. Aber auch die Rolle der Konsument*innen ist im Spannungsfeld von Ökonomie und Ethik zentral, weshalb Birger Priddat in seinem Beitrag die Möglichkeit eines ethischen Konsums erörtert. Um von einem ethischen Konsum sprechen zu können, müsste zuallererst eine Änderung des Lebensstils erfolgen, der sich beim Kaufverhalten nicht mehr
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an einer »sofortness« und der Dynamik des Modischen, des Abwechslungsreichen und Aufmerksamkeitsheischenden orientiert. Priddat zeigt eindrücklich auf, dass von einem ethischen Konsum keine Rede sein kann, solange nicht mit eben jener Änderung des vorherrschenden Konsum- und Lebensstils ernst gemacht wird, weniger verbraucht und produziert wird und die kalmierende Rede vom ethischen Konsum im Grunde nur dazu dient, das Gewissen zu beruhigen. So kann abschließend festgehalten werden, dass Markthandeln immer auch geprägt ist von sozialen Kontexten, gesellschaftlichen Narrativen, Werten und Normen. Denn Märkte benötigen Vertrauen und für diese Vertrauensbildung sind gesellschaftliche Konventionen, Institutionen und moralische Faktoren unabdingbar. Folglich sind Märkte auch nicht als ethisch neutral einzustufen. Deshalb bedarf es der Emanzipation von einem Marktmodell, das den Fokus allein auf die »rein instrumentell-ökonomischen Funktionen und [die] einseitige [..] Zielstrebigkeit der Marktteilnehmer, individuelle Präferenzen zu befriedigen« (Stehr 2007: 25) richtet, hin zu wirtschaftlichen Modellen, die sich ethischen Orientierungen gegenüber öffnen. Es kann dabei nicht um eine vermeintlich klare Einteilung der Welt in arglistige Unternehmen auf der einen und verführte Konsument*innen und der anderen Seite gehen, denn beide sind aus ethischer Sicht für ihr jeweiliges Handeln verantwortlich: Ethisch verantwortbar zu produzieren ist ebenso geboten, wie ethisch vertretbar zu konsumieren. Was gelingen muss, ist, eine vernünftige Wirtschaftsweise mit einer guten Lebensweise zu verbinden. Wir benötigen deshalb »Märkte für Arbeit, die Platz lassen für soziales Leben, Märkte für Güter, die die Natur nicht zerstören, Märkte für Kredit, die nicht zur massenhaften Produktion uneinlösbarer Versprechen verführen« (Streeck 2015: 279). Im Zusammenhang damit gilt es darüber nachzudenken, in welchen Bereichen Wachstum noch ein sinnvolles Konzept sein kann; aber auch, wie systemrelevante Errungenschaften und Infrastrukturen moderner Gesellschaften auch bei einem stationären oder keinem Wachstum aufrechterhalten werden können. Letztlich müssen wir uns als Gesellschaft darüber verständigen, wie wir leben wollen, welche Funktionen und mit welcher Eingriffstiefe die
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Marktmodelle in unserem Leben übernehmen sollen und was wir an unserem Konsumverhalten und Lebensstil ändern müssen. Wiederum danken wir an dieser Stelle der Karl Zünd Stiftung, ohne deren großzügige Unterstützung die Realisierung dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Le Prese/Balgach im April 2022
Literatur Aiolfi, Sergio (2018): »Unternehmen sind keine Wohltätigkeitsvereine«, in: NZZ vom 23. November 2018, S. 12. Aristoteles (1996): Politik. Übersetzt u. eingeleitet v. Olof Gigon, München. Backhouse, Roger E. (2002): The Penguin History of Economics, London. Beckert, Jens (2012): »Die sittliche Einbettung der Wirtschaft. Von der Effizienz- und Differenzierungstheorie zu einer Theorie wirtschaftlicher Felder, in: Berliner Journal für Soziologie 22, Heft 2, S. 247266. Biebricher, Thomas (2021): Die politische Theorie des Neoliberalismus, Frankfurt a.M. Bingler, Anna/Kraus, Mathias/Leippold, Markus (2021): »Cheap Talk and Cherry Picking: What ClimateBert has to say on Corporate Climate Risk Disclosures«, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?a bstract_id=3796152. Binswanger, Mathias (2019): Der Wachstumszwang. Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben, Weinheim. Blaumer, Nikolai/Ebert, Johannes/Lehmann, Klaus-Dieter/Ströhl, Andreas (Hg.) (2017): Teilen und Tauschen, Frankfurt a.M. Bowles, Samuel (2016): The Moral Economy, New Heaven/London.
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Butterwegge, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (2016): Kritik des Neoliberalismus. 3. Aufl., Wiesbaden. Crane, Andrew/Matten Dirk (2007): Business Ethics. Managing Corporate Citizenship and Sustainability in the Age of Globalization, Oxford. Dörre, Klaus (2019): »Demokratie statt Kapitalismus oder Enteignet Zuckerberg!«, in: Hanna Ketterer/Karina Becker (Hg.), Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, Berlin, S. 21-51. Engels, Anita (2009): »Die soziale Konstitution von Märkten«, in: Sonderheft: Wirtschaftssoziologie der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49, S. 67-86. Eisler, Riane (2020): Die verkannten Grundlagen der Ökonomie. Wege zu einer Caring Economy, Marburg. Friedman, Milton (1970): »A Friedman doctrine – The social responsibility of business is to increase its profits«, in: New York Times vom 13. September 1970, S. 17. Heidenreich, Felix (2012): Wirtschaftsethik zur Einführung, Hamburg. Henderson, Rebecca (2020): Reimagining Capitalism in a World of Fire, New York. Herzog, Lisa/Honneth, Axel (2014): »Einleitung: Versuch einer moralischen Einhegung des Marktes vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart«, in: Diess. (Hg.), Der Wert des Marktes. Ein ökonomisch-philosophischer Diskurs vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin, S. 357-381. Hirschman, Albert O. (1987): Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a.M. Karagounis, Ion (2019): »Es ist an der Zeit, die Wachstumsfrage neu zu stellen«, in: NZZ vom 19. März 2019, S. 11. Kocka, Jürgen (2015): Geschichte des Kapitalismus, Bonn. Leyendecker, Hans (2009): Die große Gier. Korruption, Kartelle, Lustreisen: Warum unsere Wirtschaft eine neue Moral braucht, Hamburg. Milanović, Branko (2017): »The illusion of ›degrowth‹ in a poor and unequal world«, in: Global Inequality vom 18. November
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Außer Betrieb und ohne Orientierung? Die lang- und mittelfristigen Folgen der Deindustrialisierung Westeuropas Lutz Raphael
Der Rückbau der Industriewirtschaft in den Ländern Westeuropas Der Rückbau der Industriewirtschaft in den Ländern Westeuropas hat bis heute vielfältige Spuren in Gesellschaft und Politik hinterlassen hat. Die sogenannte Deindustrialisierung erschütterte spätestens seit den 1970er Jahren in unterschiedlichen Formen alle hochentwickelten Industrieländer im Nordwesten und in der Mitte Europas, bevor sie dann nach 1989 mit dem Ende der sozialistischen Regime auch das östliche Europa tiefgreifend veränderte. Noch heute stecken wir mitten in der Bewältigung der Folgen, die dieser Strukturbruch in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft unserer Länder bewirkt hat. Es bleibt eine Herausforderung aus den Erfahrungen mit diesem Strukturbruch auch etwas zu lernen für die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen, die ich hier mit den Stichworten Klimawandel, Industrie 4.0, globale Migrationsströme und internationale Arbeitsteilung aufrufen möchte. Es geht im Folgenden gerade nicht um die Musealisierung einer industriegesellschaftlichen Vergangenheit, von der die einen im Ton nostalgischer Verklärung, die anderen im Zeichen ökologischen Horrors, dritte wiederum als heroische Dramen berichten. Ich wähle dazu eine doppelte Perspektive: Zum einen geht es um einen grundlegenden Strukturwandel der Industriewirtschaft Westeuropas als Erschütterung schein-
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bar festgefügter Erfahrungswelten großer Teile der Bevölkerung, zum andern um die mit diesen Umbrüchen verwobenen Verschiebungen in den Zukunftserwartungen unserer Gesellschaften. Beide Dimensionen verdienen Beachtung, wenn man die Ordnungsmuster verstehen will, welche sich in dieser Umbruchphase langsam entwickelten und heute angesichts von Klimawandel und einer neuen Runde digitaler Technikinnovation auf dem Prüfstand stehen. Bevor wir uns diesen Dimensionen des Abschiedes von der Industriemoderne zuwenden, ist es hilfreich, in aller gebotenen Kürze die Grundzüge dieses Strukturwandels in Erinnerung zu rufen.1 Mit »Deindustrialisierung« bezeichnet man den Rückgang des industriellen Sektors (in Beschäftigung und/oder Wertschöpfung) der jeweiligen Volkswirtschaften bzw. Wirtschaftsräume. Dieser Rückgang kann sowohl relativ oder absolut sein. Er stellt einen langfristigen Trend dar, an den wir uns wie an ein Naturgeschehen gewöhnt haben. Industriearbeiterinnen und Industriebeschäftigte bildeten in den meisten Ländern Westeuropas Mitte der 1970er Jahre die größte Statuskategorie in der amtlichen Arbeitsstatistiken, heute beträgt ihr Anteil an der aktiven Bevölkerung in den meisten Ländern noch zwischen 18 und 25 Prozent. In der Schweiz schrumpfte der Anteil der gewerblich Beschäftigten von 48 Prozent 1970 auf 35 Prozent 1990 in der amtlichen Statistik (vgl. Tanner 2015: 484). Hinter diesen Zahlen verbergen sich tiefgreifende Veränderungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gefüge in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Vor allem die Fabriken der sogenannten »alten« Industrien: Stahlwerke, Kohlenzechen, Schiffswerften und Textilfabriken verschwanden im Zuge des krisenbeschleunigten Strukturwandels dieser Zeit. Die makro-ökonomischen und institutionellen Rahmenbedingungen der Deindustrialisierung waren zunächst in den von mir näher untersuchten Ländern Großbritannien, Frankreich und der alten 1
Die im Folgenden genutzten Statistiken und Trendanalysen sind meiner Studie Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom entnommen.
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Bundesrepublik weitgehend gleich. Die Konjunkturzyklen der Industrieproduktion in den drei Ländern verliefen zeitlich parallel, aber keineswegs gleichförmig. Die Konjunkturkrisen 1973–74, 1980–82, 1992–94 sowie 2000–2001 führten in den meisten Industriebranchen zu Produktionsrückgang, hatten Pleiten, Betriebsstilllegungen, Personalabbau und Rationalisierungsmaßnahmen zur Folge. Die westeuropäischen Industrien traten in eine neue Entwicklungsphase ein, in der sie unter starken strukturellen Anpassungsdruck gerieten. Das ergab sich zum einen aus der Entstehung des europäischen Binnenmarktes, aber zugleich auch aus der wachsenden Konkurrenz außereuropäischer, vor allem ostasiatischer Anbieter. Der Deindustrialisierung in Westeuropa entsprach spiegelbildlich der Aufstieg anderer industrieller Standorte mit vielfach höheren Wachstumsraten: Ich erinnere hier nur an Länder wie Taiwan, Singapur, Südkorea, ab den späten 1980er Jahren dann die Volksrepublik China. In diesen Ländern stieg die Zahl der Industriebeschäftigten kontinuierlich an, in Südkorea wuchs beispielsweise ihr Anteil an den Beschäftigten von gut 18 Prozent 1972 auf 27,5 Prozent 2001; in der Volksrepublik China waren es 17 Prozent 1978, 22,3 Prozent 2001 und mehr als 30 Prozent 2012. In absoluten Zahlen ist diese Zunahme noch eindrucksvoller, da die Bevölkerung der sich industrialisierenden Länder Asiens viel schneller wuchs als in Westeuropa. In Südkorea waren es 2001 5,9 Mio. Menschen in der Industrie beschäftigt gegenüber 1,9 Mio. knapp 30 Jahre vorher (vgl. Raphael 2018: 39). Aus einer globalgeschichtlichen Perspektive verschoben sich damit erstmals seit Beginn der Industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts wieder Wachstumsraten und Wohlstandsvermehrung insgesamt vom Westen nach Asien. Am Ende der hier untersuchten Jahrzehnte hatten sich in einem dynamischen und krisenhaften Anpassungsprozess neue weltweite Arbeitsteilungen zwischen den verschiedenen Industriestandorten etabliert. Deindustrialisierung in Europa ist adäquat nur zu verstehen, wenn man sie als Teil der neuen globalen Arbeitsteilungen industrieller Produktion erfasst. Dieser Prozess der Deindustrialisierung vollzog sich parallel zur Entstehung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums. Damit
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sind wir beim ersten genuin politischen Aspekt dieses Strukturwandels. Der EU-Beitritt und die Ölkrise 1973 markieren in Großbritannien beispielsweise zwei Großereignisse, welche Eckpunkte für die weitgehende Abwicklung der eigenen Industrieproduktion setzen sollten. Der Abbau von Barrieren im innereuropäischen Wirtschaftsaustausch setzte wichtige Rahmenbedingungen für die Gestaltung der wachsenden internationalen Verflechtungen, er begünstigte den grenzüberschreitenden Austausch von Waren, Dienstleistungen und Kapital. So führten beispielsweise die Vorbereitung und schließlich Einrichtung des einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums 1992 dazu, dass außereuropäische Industriekonzerne Niederlassungen in Ländern der EU errichteten bzw. strategische Partnerschaften mit europäischen Firmen eingingen, um so auf dem europäischen Binnenmarkt präsent zu sein. Dies betraf vor allem US-amerikanische, kanadische und japanische Firmen, in den 1990er Jahren dann aber auch Unternehmen aus Taiwan oder Südkorea. Schwerpunkte waren dabei die Branchen Automobil, Unterhaltungselektronik und die Computerindustrie. Die Zahl der Niederlassungen japanischer Firmen in den drei von mir untersuchten Ländern z.B. verdreifachte sich bis zum Jahr 2000. Gleichzeitig bauten viele westdeutsche, französische und britische Firmen ihre Präsenz in den jeweiligen Nachbarländern aus, gründeten dort ihrerseits Tochterfirmen oder kauften einheimische Unternehmen dazu. Im Ergebnis stieg der Anteil ausländischer Firmen bzw. mehrheitlich in ausländischem Besitz befindlicher Unternehmen in den Industrien kontinuierlich an. Auch die jüngste Industriegeschichte der Schweiz liefert ganz ähnliche Beispiele. Technologisch sind diese Jahrzehnte geprägt durch die Ausbreitung EDV basierter Datenspeicherung und Kommunikation. Beides ermöglichte wiederum numerische Steuerungssysteme in immer größerer Zahl und in immer kleinteiligerem Format. Die besondere Pointe der computergestützten technologischen Entwicklungen lag nun aber darin, auch in der Organisation der Industrieunternehmen, von der Produktion bis zum Kundenkontakt, weitreichende Strukturveränderungen anzuschieben. Flexible Qualitätsproduktion wurde zum
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Markenzeichen der Industrieproduktion, die in Europa verblieb und von hier aus globale Märkte belieferte. Drittens scheint mir aus politökonomischer Perspektive wichtig zu sein, dass die Entscheidungen von Industrieunternehmen durch den Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus beeinflusst wurden. Es entstanden neue Formen externer Kontrolle von Unternehmensleitungen durch die Seite der Kapitaleigner. Konkret verbreiteten Ratingagenturen und eine expandierende Unternehmensberatungsbranche eigene Standards für Renditeerwartungen, Geschäftsmodelle und unternehmerische Organisationsformate. Kreditbeziehungen und Standortentscheidungen großer Industriekonzerne gerieten seit den 1990er Jahren in den Sog dieser Veränderungen. Dabei erwies sich jedoch der Strukturwandel industriekapitalistischer Produktion als richtungsoffener, als erste zeitdiagnostische Analysten suggerierten. Dem lautstark propagierten marktradikalen Modell eines Finanzmarktkapitalismus und seiner Vorliebe für neue schlanke Technologie- und Medienunternehmen standen Beharrungskräfte und Gegentendenzen gegenüber, die jedoch in westeuropäischen Ländern sehr unterschiedlich stark waren und die Traditionen industrieller Unternehmungen fortsetzten. Die sozialen Verhältnisse in Westeuropa sind infolge dieses Basisprozesses vor allem in den 1980er und 1990er Jahren tiefgreifend verändert worden, dabei haben sich Unterschiede in den Wirtschaftsund Gesellschaftsstrukturen zwischen den verschiedenen Ländern beziehungsweise europäischen Großregionen eher noch vertieft. Großbritannien erlebte die Deindustrialisierung als schockartigen Zusammenbruch alter Industrien, mit dem Ende traditionsreicher Großunternehmen, der Verödung von Industrieregionen im Norden des Landes und dem Verschwinden ganzer Branchen. Aus deutscher Sicht ist der britische Fall am ehesten mit der Abwicklung der Industrien in der früheren DDR zwischen 1990 und 1996 zu vergleichen. In der alten Bundesrepublik und nach 1990 in den alten Bundesländern vollzog sich dieser Prozess ganz ähnlich wie in der Schweiz ebenfalls sektoral und regional sehr ungleich, aber viel weniger radikal und schnell. Insgesamt überlebten mehr Branchen und Unternehmen. Vor allem die Resilienz regional gut vernetzter mittelständischer Indus-
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trieunternehmen ist ein Phänomen, das keineswegs spezifisch deutsch war, aber in der alten BRD häufiger anzutreffen war als in britischen oder französischen Industrieregionen.
Außer Betrieb2 Überall stockte der bis Anfang der 1970er Jahre rundlaufende Motor industriebasierter Vollbeschäftigung. Deindustrialisierung bedeutete die Rückkehr von Massenarbeitslosigkeit, insbesondere von Jugendund Langzeitarbeitslosigkeit. Die »Fabrikgesellschaft«, um ein kritisch gemeintes Schlagwort der 1970er Jahre zu verwenden, wurde »außer Betrieb« gesetzt und der »Arbeitsgesellschaft«, um an ein weiteres zeitgenössisches Schlagwort zu erinnern, ging die Arbeit aus. Eine wachsende Zahl von Menschen sahen sich herausgefordert, ihr »Humankapital«, wie es nun hieß, also ihre Talente, ihr berufliches Wissen und ihre Arbeitserfahrung in ganz neuartigen Arbeitswelten zu erproben. »Flexibilität« war das zeitgenössische Schlüsselwort der neuen beruflichen Tugendlehre angesichts unübersichtlicher Arbeitsmärkte und Karriereaussichten. Flexibilität meinte dabei vieles: Anpassung an neue Anforderungen am Arbeitsplatz und Einarbeitung in neue technische Produktionsabläufe, Berufswechsel und räumliche Mobilität, Weiterbildung und Höherqualifikation. Hinter dem Wort sind also ganz unterschiedliche soziale Realitäten zu entdecken. Auch die sozialräumlichen Begleiterscheinungen und Folgen der Deindustrialisierung sind ausgesprochen vielfältig und reduzieren sich nicht auf die medial besonders sichtbaren Phänomene wachsender regionaler Disparitäten, von Massenabwanderung beziehungsweise von Verarmung und sozialer Verwahrlosung ganzer Stadtviertel oder Regionen. Näher an die sozialen Gemengelagen in alten wie neuen Industrieorten und -regionen führen zwei andere Phänomene heran. Das erste Phänomen ist das des Rückzugs industrieller Arbeits2
Ich nehme hier Titel und Thema auf von Brigitta Bernet/Jakob Tanner (Hg.) (2015): Ausser Betrieb. Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz.
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und Lebenswelten in »Randzonen« bzw. in die »Peripherie« unserer Länder. Dies betrifft sowohl den Auszug der Großindustrien aus den städtischen Zentren als auch die Verlagerung neuer Industrien in kleinstädtisch-ländlich geprägte Räume. Ihm entsprach die Verlagerung von Arbeiterquartieren in großstädtische Randlagen oder direkt in Klein-, Mittelstädte und »Dörfer«. Diese Peripherisierung hat ganz erheblich dazu beigetragen, die kollektive Neuerfindung europäischer Gesellschaften als »Dienstleistungsgesellschaften« voranzutreiben. Deren Zentren wurden nun großstädtische Kernräume, deren kulturelle und ökonomische Aufwertung via Gentifrizierung, urbanistische Imagepflege, architektonische Großprojekte und touristische Attraktionen seit den 1990er Jahren in vielen westeuropäischen Ländern zu beobachten war. Die Rückverlagerung industrieller Normalität in die »Provinz« knüpfte nahtlos an die sozialräumliche Ordnung des bürgerlichen 19. Jahrhunderts und deren symbolisch-kulturellen Bewertungen von Orten an. Die Verwahrlosung der öffentlichen Räume und der Rückzug staatlicher Autorität aus den »Zones urbaines sensibles«, wie die politisch korrekte Bezeichnung französischer Raumplanung lautete, begleiteten medienwirksam die Spotlights dieses viel breiteren sozialräumlichen Prozesses. Dies sorgte dafür, dass diese räumliche Verlagerung zugleich auch eine symbolische Rückstufung beinhaltete, welche von den Betroffenen durchaus sensibel als Exklusion registriert worden ist. Ein Teil der »working classes«, »classes populaires« sah sich erneut an den Rand gedrängt, quasi unsichtbar gemacht und zugleich um die soziale Anerkennung gebracht durch die sozialräumlichen Rearrangements der Deindustrialisierung.
Ohne Orientierung? Mit dem »Abschied vom Malocher« vollzogen die europäischen Gesellschaften zugleich auch einen tiefgreifenden Wandel in ihren Zukunftsorientierungen: Sie verabschiedeten sich von ihren industriellen Zukünften, die um 1970 noch die kollektiven Fantasien beflügelten, und entwarfen sich neu als »postindustrielle« oder »Dienstleistungsgesell-
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schaften«. Daran beteiligt waren viele, vorneweg Sozialwissenschaftler, Politikberater und Journalisten. Prompt setzte eine Selbsthistorisierung der Industriegesellschaft als eine abgeschlossene »Phase« der westeuropäischen »Moderne« ein: Die Einrichtung bzw. der Ausbau von Museen und Denkmälern der ersten Industrialisierung, die Musealisierung ganzer Regionen begleiteten den Strukturwandel. Großbritannien, das Mutterland der »Industriellen Revolution« verwandelte sich beispielsweise in der Zukunftsrhetorik seiner Eliten in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer »modernen Dienstleistungsgesellschaft« mit einem international führenden Finanzdienstleistungssektor. In den späten 1990er Jahren galten deshalb britische Verhältnisse, insbesondere die dortige Wirtschafts- und Sozialpolitik, liberalen Reformern in Kontinentaleuropa als Vorbild für die Zukunftsgestaltung im eigenen Land. Diese Umstellung der Zukünfte weg von der Industrie gelang gesellschaftlich und politisch in sehr unterschiedlichem Maße. Orientierung verloren zuallererst all jene, deren Arbeits- und Lebenswelt in den Strudel der Deindustrialisierung hineingerieten: Industriearbeiterinnen und Industriearbeiter, Techniker oder Ingenieure der sogenannten alten Industrien sahen sich mit dem vielfach abrupten Ende ihres Berufslebens, ihrer Karrierehoffnungen, aber auch ihrer generationsübergreifenden Zukunftserwartungen konfrontiert. Der »Abschied von der Maloche« vollzog sich vielerorts als Frühverrentung für die über 50jährigen, als Wechsel in schlechter bezahlte Jobs in der privaten Dienstleistungswirtschaft für die jüngeren Industriebeschäftigten und als kollektiv erfahrene Zukunftslosigkeit für die Alterskohorten der 16- bis 24jährigen. Die jugendkulturellen Begleiterscheinungen dieser Zukunftsverluste besetzten dann die Schlagzeilen der Medien: Punk mit der Parole No future, Züri brännt, Drogen und brennende Vorstädte in Frankreich und Großbritannien begleiteten seit den späten 1970er Jahren die sozial-ökonomischen Umbrüche. Weniger spektakulär, aber mittel- und langfristig bedeutsamer war zugleich auch der langsame Rückzug der Industriearbeiterschaft von der politischen Bühne. In vielen westeuropäischen Ländern hatte sie wegen ihres Gewichts in der Wählerschaft, aber auch wegen der Kon-
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fliktfähigkeit ihrer Gewerkschaften zentrale Bedeutung für die sozialdemokratischen bzw. linken Volksparteien besessen. Sie bildeten von Großbritannien bis nach Italien die Mitgliederbasis und vor allem aber die Stammwählerschaft dieser Parteien und prägten deren Politikstil und Programmatik. Das änderte sich dramatisch seit den 1980er Jahren. Während sich die Bindung der Arbeiterwähler an die Linksparteien eher langsam und schrittweise lockerte, lösten sich die Parteien ihrerseits in Programmatik, Auftreten und Zusammensetzung ihrer aktiven Mitgliederschaft viel schneller von ihrer alternden Stammwählerschaft, die zudem zahlenmäßig an Gewicht in der Wählerschaft verlor. Stimmenthaltung aus enttäuschter Hoffnung und generell wachsende Distanz oder gar Misstrauen gegenüber Politikern und Politik waren die Folge. Man kann von politischer Orientierungslosigkeit innerhalb der westeuropäischen working classes bzw. den classes populaires als Folge der Deindustrialisierung sprechen, wie dies etwa Line Rennwald (2015) in ihrer detaillierten Studie zur Beziehung zwischen Arbeiterklasse und Sozialdemokratie in sechs westeuropäischen Ländern zwischen 1970 und 2008 gezeigt hat. Neue politische Heimat fand ein kleinerer Teil der Arbeiterschaft in den nationalistischen und rechtspopulistischen Parteien. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Art der Orientierungskrise an konkrete sozio-ökonomische Bedingungen geknüpft war, andere Berufsgruppen erlebten die Jahrzehnte der Deindustrialisierung ganz anders. Vor allem die weiterwachsenden Berufsgruppen in Bildung, Wissenschaft und Verwaltung erlebten die Jahrzehnte der Massenarbeitslosigkeit meist aus relativ gesicherten Positionen im öffentlichen Sektor, ganz zu schweigen von den kleinen Minderheiten jener Berufsgruppen, welche die Jahrzehnte der Digitalisierung und der entstehenden Finanzmärkte als Chancen des schnellen Reichtums oder der beruflichen Selbstverwirklichung erlebten. In der Schweiz waren im Jahr 2000 beispielsweise 200.000 Personen im Finanzsektor beschäftigt und machten ganz andere Erfahrungen als die Beschäftigten im Gewerbe (vgl. Tanner 2015: 506). Aber sie alle redeten über Krisen. Der Krisenbegriff wurde allgegenwärtig und markiert eigentlich bis heute die Ambivalenzen unse-
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res Umgangs mit dem, was früher Fortschritt hieß. Die Rasanz der technologisch-wissenschaftlichen Entwicklung, aber zugleich auch die wachsenden Gefahren und Gefährdungen unseres wachstumsbasierten Wohlstandsmodells haben seit der Erfahrung der Deindustrialisierung zu einer Gemengelage von Ratlosigkeit, Skepsis und Euphorie geführt. Das Bedürfnis wie aber auch die Schwierigkeiten der Orientierung artikulierten sich in omnipräsenten Krisenreden. Sie wurden maßgeblich befeuert von Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Kultur. Sie knüpften an die ältere medizinische Bedeutungsschicht des Wortes an, gaben ihm neben den psychologischen Konnotationen eine Wende hin zum Spirituell-Religiösen und zum Ethischen: Krise wurde so auch ein Begriff für die persönliche Lebensführung und der Lebensbewältigung. »Krise als Normalität« wie ein anderer, trendsetzender zeitgenössischer Buchtitel lautete, ist zum Motto geworden und Ratgebertitel wie die »Krise des Tüchtigen« und »Lebensführung in Krisen« zeigten den Weg in unsere Gegenwart, in der wir zwar das Schlimmste thematisieren, aber Anlagerisiken kühl berechnen und unser Leben gern vor dem Ungewissen abschirmen und optimierend planen. Dieses Krisengerede reagierte auf die komplexen Gemengelagen von Kontinuität und Bruch, die sich in dieser Deindustrialisierungsphase einstellten und grundlegend die gesellschaftlichen Erfahrungen prägten. Auf Dauer gestellt erwiesen sich die Krisendiskurse auch immer weniger in der Lage, die alltäglichen Entscheidungen über die Zukunft zu politisieren und zu dramatisieren. Sie dienten zuweilen als Türöffner für neue Ideen, vor allem so scheint es mir im Bereich der Ökologie, und eröffnete Chancen, Änderungen auszuprobieren. Gehen wir einen Schritt weiter und schauen, welche konkreten Ordnungsmodelle sich denn in Auseinandersetzung mit der Deindustrialisierung entwickelten, also die alte Welt des europäischen Industriezeitalters gewissermaßen von innen heraus umformten, so dass am Ende Westeuropa anders als etwa die USA nicht einfach aus den Kontrastwelten eines rust- und eines sunbelts, von Detroit und Silikon Valley zusammengesetzt war, sondern viel komplexere Durchmischungen und Neubildungen zu beobachten sind. Ich möchte dies abschließend an-
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hand von zwei Beispielen tun: den Veränderungen in den Industrieunternehmen und in der Sozialpolitik. Seit den 1980er Jahren hat das »Unternehmen« als Ort dynamischer Wertschöpfung, innovativer Produktideen und als Zusammenballung kreativer Mitarbeiter enorm an Anerkennung und Wertschätzung gewonnen. Gleichzeitig war aber zu beobachten, dass sich das Kapital in Zeiten der Finanzmärkte und der shareholder value Ideologie von seinen betrieblichen Fesseln zu befreien suchte. Denn als solche Fesseln bewerteten nun die Leitungen der krisengeplagten großen Industrieunternehmen vielerorts jene Bindungen, die sie in den langen Jahrzehnten des industriellen Wachstums an ihren Betriebsstätten zu lokalen communities und zu ihren Mitarbeitern geknüpft hatten. Betriebliche Sozialpolitik und lokale beziehungsweise regionale Einbettung galten nun als Kostenfaktoren und gerieten in die Kritik von Modernisierern, welche den Unternehmen Verschlankung (also Kostenabbau) und Flexibilität (also Betriebsstillegungen und Auslagerungen) als Voraussetzung künftiger Wettbewerbsfähigkeit verordneten. Damit gerieten aber firmeneigene »Betriebsphilosophien« oder »Unternehmenskulturen« auf den Prüfstand, die bis dahin als Inbegriff guter Arbeit und harmonischer Beziehungen zwischen Management und Belegschaften galten. Alle westeuropäischen Länder kennen solche großen oder kleinen Leuchttürme integrativer Unternehmenskulturen wie etwa Cadbury und Rowntree in UK, AEG, Siemens oder Bosch in der Bundesrepublik, Renault in Frankreich. Oft verstanden die Unternehmensleitungen ihren Führungsstil und ihre betriebliche Sozialpolitik als Markenzeichen ihrer hervorgehobenen Stellung als Markt- oder Branchenführer. Ambivalent blieb in vielen dieser Unternehmen das Verhältnis des Managements zu gewerkschaftlicher Interessenvertretung und kollektiver Partizipation ihrer Mitarbeiter. Vor allem in Großunternehmen hatte sich aber spätestens in den 1970er Jahren ein Kooperationsmodell eingespielt, das auf gewerkschaftlicher Mitbestimmung und geregeltem Konflikt beruhte. Solche Kooperationsmodelle waren in Klein- und Mittelbetrieben auch während des Nachkriegsbooms noch Mangelware geblieben. Dort dominierten europaweit patriarchalisch-paternalistisch orientierte Betriebsmodelle.
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All diese Ordnungen der industriellen Fabrik gerieten im Zeichen der Deindustrialisierung durcheinander. Was dann in Zeiten von Personalabbau, Produktionsumstellungen und Stilllegungen an die Stelle der alten Ordnung trat, ergab sich häufig aus der Art und Weise, wie nun Belegschaften und Management die Konflikte verarbeiteten, die sich aus der Strukturkrise ergaben. Der Rückzug der Unternehmensleitungen aus paternalistischen Sozialleistungen und Sozialfürsorge führte in vielen Fällen dazu, dass nunmehr nur noch die Arbeitskraft und deren Leistung gefragt war, also beide Seiten sich auf das minimalistische Modell einer bloß instrumentellen Betriebsordnung einigten. Gewerkschaftliche Gegenmacht hatte in diesem Fall für die Einhaltung fairer Regeln und angemessener Entgelte zu sorgen. Oder aber es kam zu einem neuen anspruchsvollen Kooperationsmodell, das auf Mitbestimmung und geregeltem Konflikt beruhte. Es fällt auch heute noch schwer, die Neuorientierungen in den betrieblichen Sozialordnungen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Angesichts einer eher unbefriedigenden Datenlage habe ich Ausschau gehalten nach gut dokumentierten »Ausnahmefällen« und nach zugespitzten, aber typologisch aussagekräftigen Konflikten und Situationen. Drei solcher »außergewöhnlich normalen« Konstellationen scheinen mir für die spezifischen Problemlagen von Interesse, mit denen industrielle Arbeitsbeziehungen am Ende des 20. Jahrhunderts konfrontiert waren und welche durchaus auch heute noch angesichts der laufenden Umbrüche von Interesse sein dürften. Da sind zum einen die betrieblichen Beziehungsmuster zu nennen, die sich in der zugespitzten Notlage von Schließung bzw. Pleite als »Bündnisse für Arbeit« zu Produktionsgemeinschaften oder Zweckgemeinschaften von Industriebürgern entwickelt haben. Was ist damit gemeint? In den 1990er Jahren übernahmen Betriebsräte bzw. gewählte Belegschaftsvertreter meist mit direkter gewerkschaftlicher Beratung faktisch die Rolle des Ko-Managements und mobilisierten ihre Belegschaften für weitreichende Umstellungen in Produktion und Organisation ihres Betriebs, vielfach in enger Kooperation und vertraglicher Absprache mit der Unternehmensführung. In Reportagen über deutsche Betriebsräte und ihre Arbeit aus den 1990er Jahren werden solche Situationen
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anschaulich geschildert. Sie zeigen Betriebsräte, die in ihren Kleinund Mittelbetrieben jene Rolle übernahmen, die sonst Unternehmensberatungsfirmen zukam: Pläne zur Steigerung der Produktivität zu erstellen, neue Produkte zu finden, neue Arbeitsteilungen und Aufgabenverteilungen mit der Belegschaft zu entwickeln. Ziel war in jedem Fall, den Betrieb zu erhalten, Arbeitsplätze zu sichern bzw. notwendige Entlassungen sozialverträglich über Sozialpläne abzufedern. Dabei waren Lohnverzicht, Unterschreiten der tariflichen Grenzen in der flexiblen Gestaltung von Arbeitszeiten, Weiterqualifikation und Umschulung häufig Teil des Programms. Diese Produktionsgemeinschaften sind mehr als nur Ausnahmefälle, insofern sie auf den grundlegenden Strukturwandel industrieller Beruflichkeit hinweisen, der in vielen Arbeitsprozessen und Arbeitsbereichen zu beobachten war. Die erfahrungsgestützte Kompetenz von Facharbeitern, Technikern und Ingenieuren erwies sich als unersetzbar, als viele westeuropäische Industriebetriebe »sich neu erfinden« mussten, will sagen, neue Produkte mit neuen Maschinen in anderen Organisationsstrukturen an neue Kunden verkaufen mussten. »Vermarktlichung« beinhaltete, dass sich Belegschaften nunmehr auch um betriebswirtschaftliche Bewertungsverfahren, Kostenkalkulationen und Gewinnerwartungen kümmern mussten, wenn sie ihre Arbeitsplätze sichern wollten. Umgekehrt galt auch für die Unternehmensleitungen, dass sie ihre Aussichten auf Erfolg deutlich steigern konnten, wenn sie bereit und fähig waren, einen solche »Revolution« in ihren Betrieben zu initiieren. Der Typus »Produktions- bzw. Innovationsgemeinschaft« bzw. »integrative Bürgergesellschaften« (vgl. Kotthoff/Reindl 1990: 82–117) ist eine ganz spezifische Antwort auf diese Situation. Sie konnte sich erfolgreich letztlich nur in Betrieben etablieren, in denen mehrheitlich qualifizierte Arbeitskräfte beschäftigt waren, die Kompetenzen und Qualifikationen besaßen, die zu den Innovationsanforderungen der Umbruchsituation passten. Hier erweist sich die Neuverteilung bzw. Weiterentwicklung von Berufskompetenz als ein versteckter Schlüssel zum Erfolg dieses Typs.
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Der zweite Krisenfall betrifft die Etablierung pluralistischer Betriebsordnungen als »mühsamen Auszug aus dem kleinen Patriarchat«. An die Stelle autoritärer Unternehmensführung trat in solchen Betrieben oder Unternehmen eine auf Verhandlung und Kooperation gegründete Betriebsordnung, in der die Betriebsleitung die gewählten Belegschaftsvertreter als eigenständige Akteure akzeptierte. Immerhin hatten in einer westdeutschen Studie zur Umsetzung der betrieblichen Mitbestimmung Anfang der 1990er Jahre zwei Drittel der 1975 noch autoritär-patriarchalisch geführten Betriebe einen solchen Statuswechsel durchlaufen. In den meisten war dies mit dramatischen, emotional aufgeladenen Konflikten verbunden, bevor der neue modus vivendi gefunden worden war. Angeführt wurde dieser Kampf um soziale Anerkennung in diesen Betrieben oft von einer kleinen Gruppe von Protagonisten oder gar einem exponierten Wortführer, die sich auch dem persönlichen Konflikt mit dem oder den Chefs stellten und die erst die Solidargemeinschaft der Belegschaften gegen den status quo mobilisierten. Sie trugen die Ansprüche demokratischer Beteiligung, wie sie sich seit den 1970er Jahren artikulierten, in die bis dahin einvernehmlich fürsorglich-autoritär geführten Betriebe hinein und erzwangen die sozial-moralische Anerkennung der sozialen Bürgerrechte. Bei der dritten Konstellation geht es um die Verwerfungen, die entstanden, wenn Betriebe mit fest in der eigenen Firmentradition und der lokalen Arbeitskulturen verankerten Sozialbeziehungen in die Krisenphase der Deindustrialisierung eintraten und zugleich Absatzkrise, Rationalisierungsprogramme und Eigentümerwechsel erlebten. Ich wähle als Beispiel eines solchen Geschehens zwei traditionsreiche Betriebe in Willenhall, Lancastershire, dem Zentrum der britischen Schlüssel- und Schließanlagenproduktion seit dem frühen 19. Jahrhundert. Die beiden Großbetriebe hatten bis in die achtziger Jahre eine ausgeprägt paternalistische Betriebskultur weitergeführt, die aus einer langen Tradition der ursprünglich familiengeführten Unternehmen stammte. Betriebssportvereine, social clubs, Betriebszugehörigkeiten der Beschäftigten über mehrere Genrationen hinweg sowie innerbetriebliche Aufstiege ins Management waren typische Bestandteile von zwei Unternehmenskulturen, die aufs engste mit der lokalen Arbeit(er)kultur verbunden
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waren. Die Vertretung der Belegschaftsinteressen durch die lokale Berufs- bzw. Spartengewerkschaft gehörte ebenfalls zu dieser traditionsgeprägten Ordnung, die zugleich auch auf einer strikten Teilung der betrieblichen Arbeit zwischen Männern und Frauen beruhte. Vor den großen Umbrüchen waren zwei Drittel der Beschäftigten Frauen. Sie arbeiteten als ungelernte Arbeitskräfte am Montageband oder in der Verpackung, während den Männern die höher qualifizierten Jobs in Wartung, Reparatur und Entwicklung vorbehalten waren. Diese betrieblichen Sozialordnungen geriet seit 1988 unter Druck, als die gesamte britische Sicherheits- und Schlüsselindustrie zum begehrten Kaufobjekt anlagesuchender Kapitalmarktunternehmer wurden. Die Entsendung sanierungsbereiter »moderner« Management-Teams in die »alten« Betriebe war zentraler Bestandteil des finanzmarktorientierten Geschäftsmodells. Die angestrebte Umstellung der gesamten Produktion auf die Leitlinien der neuen Führungsphilosophie eines kooperativen Marktmodells erwies sich als ausgesprochen schwierig: Die auf ein Drittel reduzierte Restbelegschaft (von 1500 auf 450 Beschäftigte) begegnete der Einführung von Gruppenarbeit, der Umstellung des Lohnsystems auf Gruppenprämienlohn und den neuen Formen direkter Kommunikation zwischen Management und Arbeitern mit anhaltendem Misstrauen. Dem ortsfremden, distanziert auftretenden Management gelang es nicht, wie erhofft die in der etablierten tayloristischen Arbeitsorganisation brachliegenden Potenziale an Produktivität zu entfesseln. Ganz im Gegenteil funktionierte nun die Zusammenarbeit schlechter, das Betriebsklima verschlechterte sich. Nicht zuletzt der Rückzug aus den lokalen Einbindungen seitens des neuen Managements vertiefte zugleich die klassische Trennlinie »us and them« zwischen Management und Produktionsarbeitern, die in der traditionellen Arbeiterkultur zusammen mit der paternalistischen Betriebsordnung weitergeben worden war. Die soziale Krise, in der sich dieser Traditionsbetrieb beim Weiterverkauf an den gerade entstehenden schwedischen Multi 2000 befand, resultierte letztlich aus dem Zusammenstoß von zwei Welten, die beide ganz anderen Epochen anzugehören schienen: Die traditionsreiche, aber immer noch lebendige Arbeitskultur einer auch international erfolgreichen, lokal fest verankerten Branche traf unvermittelt auf Sa-
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nierungsmanager, die ihre eigene Zukunft im Lichte finanzmarktorientierter Unternehmensführung und Gewinnerwartungen sahen. Die soziologischen Berichte und Dokumente über das Zusammentreffen dieser beiden Deutungshorizonte und Weltsichten zeigen in aller Klarheit die Grenzen, die kurzfristig-voluntaristischen Umbauplänen betrieblicher Beziehungsmuster auch in Krisenzeiten gesetzt waren. Wir sehen: Soziale Anerkennung, Beziehungsgleichheit und industrielle Bürgerschaft ließen sich zwar problemlos in die Rhetorik einer schönen neuen Arbeitswelt integrieren, ihre konkrete Umsetzung in die historisch gewachsenen lokalen Firmenkulturen war dagegen ein ungleich schwierigeres Unterfangen. Die Beispiele stecken das Feld der Möglichkeiten ab, mit denen Beschäftigte wie Unternehmensleitungen auf die Herausforderungen der neuen Marktlagen reagieren konnten und sie sollten deutlich machen, dass die Zeit der Deindustrialisierung auch eine Zeit der Experimente war, in der neue Arbeits- und Produktionsformate entwickelt worden sind.
Die prekäre Sozialbürgerschaft als Folge der Deindustrialisierung Ich möchte zum Abschluss auf einen besonders klaren Fall langfristiger Folgen der Deindustrialisierung zu sprechen kommen, der uns die historische Pfadabhängigkeit unserer Gegenwart noch einmal vor Augen führen kann. Eine zentrale sozialpolitische Folge der Deindustrialisierung war und ist, dass in allen westeuropäischen Ländern die Sozialbürgerschaft prekär wurde. Damit nehme ich einen Begriff auf, der 1999 auf europäischer Ebene formuliert wurde, um die Sicherung sozialer Rechte von der direkten Verbindung mit Beschäftigung beziehungsweise Arbeit zu lösen, und die Leitideen sozialer Integration und Partizipation, die mit der Vorstellung der Staatsbürgerschaft verknüpft sind, geltend zu machen. Konkret gemeint ist mit dem Begriff der Sozialbürgerschaft das Bündel elementarer Absicherungen aus Arbeitsrecht, Sozialversicherung und Gesundheitsschutz, das allen Bürgerinnen und Bürgern
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beziehungsweise Bewohnern unserer europäischen Länder zu einem hohen Maß an individueller sozialer Sicherheit verhilft. Sie ist bis heute in Westeuropa die Grundlage für die Beziehungsgleichheit, auf der unsere Demokratien ungeachtet der wachsenden Einkommens- bzw. Vermögensunterschiede und Machtasymmetrien beruhen. Diese elementare Statusgleichheit beruht im Kern darauf, dass in Westeuropa ein industrielles Bürgerrecht (›industrial citizenship‹) in einer langen Serie sozialpolitischer Konflikte und Kompromisse durchgesetzt worden war, bevor die Deindustrialisierung begann.3 Die wichtigsten Bestandteile und große Teile der rechtlichen und versicherungstechnischen Details heutiger Regulierungen der Sozialbürgerschaft sind geprägt von diesem sozialpolitischen Erbe des Industriezeitalters. Es verknüpfte ganz eng individuelle Schutzrechte, welche der Gestaltungsfreiheit des Arbeitsvertrags vor allem seitens des Unternehmers Grenzen setzten, mit arbeitsbasierten Ansprüchen auf Sozialversicherungsleistungen wie Arbeitslosengeld, Invaliditäts- und Altersrenten, medizinischer Versorgung im Krankheitsfall und tariflichen oder gesetzlichen Regelungen von Mindestlöhnen. Dieses egalitäre Modell wurde aber durch die ungleichen Geschlechterordnungen in den industriegeprägten Arbeitswelten überlagert und beeinträchtigt. So stärkten arbeitsgebundene Sozialleistungen die geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen in den Berufs- und Familienordnungen Westeuropas: Das Rollenmodell des männlichen Hauptverdieners ist durch den Ausbau des Lohnarbeiterstatus und die Vermehrung industrieller, meist männlicher Arbeitsplätze im Nachkriegsboom erheblich gestärkt worden. Gleichzeitig galt diese Industriebürgerschaft nur in eingeschränktem Maße für Arbeitsmigranten, egal welchen Geschlechts. Deindustrialisierung wirkte in beiden Fällen als ein Katalysator weitreichender Veränderungen mit höchst ambivalenten Folgen. Die Beschäftigungskrise der Deindustrialisierung löste zunächst das Sozialpaket auf, das aus Lohnarbeit einen sichere Berufs- und 3
Der Begriff ist geprägt worden von Thomas H. Marshall 1963. Die Entwicklung zur statussichernden Sozialbürgerschaft für Arbeiterinnen und Arbeiter zeigt Robert Castel (1995) exemplarisch am französischen Beispiel.
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Lebensperspektive gemacht hatte. Dieses sozial- und arbeitsrechtliche Ordnungsmuster des Industriebürgers war nie unumstritten, es geriet in den politischen Deutungskämpfen seit Mitte der 1970er Jahre jedoch unter immer stärkeren Legitimationsdruck, bis Ende der 1990er Jahre selbst die sozialdemokratischen Parteien sich davon mehr oder weniger verabschiedeten. Die radikalste Kritik an der Verfestigung sozialer Ansprüche und Rechte aus Lohnarbeit und insbesondere an der konkreten Verhandlungsmacht der Gewerkschaften artikulierten Neoliberale. Sie meldeten sich seit Mitte der 1970er Jahre vehement in den politischen Debatten zurück und sie drangen mit ihrer Kritik an den etablierten Arrangements der europäischen Wohlfahrtsstaaten immer mehr durch. Ihren Reformvorschlägen war gemeinsam, dass sie die Verbindungen lösen wollten, die den Arbeitsvertrag mit sozial- und arbeitsrechtlichen Besitzstands- und Statusgarantien verknüpften. Die Arbeitsmarktpolitik der europäischen Regierungen eröffnete in unterschiedlichem Maße, aber letztlich wirksam die arbeits- und sozialrechtlichen Optionen für eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse. Am entschiedensten und frühesten geschah dies in Großbritannien, die Bundesrepublik und Frankreich folgten eher zögernd und in beiden Ländern blieben die rechtlichen Grundlagen des Modells intakt. Am Ende dieses Prozesses arbeitspolitischer Anpassungen standen langsam sinkende Zahlen der Arbeitslosenstatistik, aber auch steigende Zahlen von Beschäftigten in befristeten Verträgen, in Teilzeit oder Leiharbeit. Das Modell der aus dem Industriesektor stammenden Sozialbürgerschaft galt nun als nicht mehr zeitgemäß für die neuen Dienstleistungssektoren und geriet selbst in den Kernsektoren unter Druck. Spätestens seit der Jahrtausendwende waren mit Blick auf die Sozialbürgerschaft ganz unterschiedliche Lebens- und Arbeitswelten in Europa entstanden. Mit Wolfgang Schroeder möchte ich idealtypisch drei Welten unterscheiden (vgl. hierzu: Schroeder/Greef 2016: 265). In der ersten Welt bestimmte das Modell der Sozialbürgerschaft die arbeits-, tarif- und sozialrechtlichen Bedingungen, unter denen die allermeisten Beschäftigten arbeiteten. Vor allem industrielle Großunternehmen, aber auch exportorientierte mittelständische Industrieunternehmen gehörten weiterhin zu diesem Bereich. In ihm war der Ein-
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fluss von Gewerkschaften und von Betriebsräten/shop stewards oder comités d’entreprise nach wie vor wirksam und spürbar. Dieser Kernbereich dominierte in fast allen Industriebranchen der alten Bundesrepublik, war in Frankreich aber bereits viel stärker auf den Bereich der Großunternehmen beschränkt und von ihm waren in Großbritannien nur noch Inseln übriggeblieben. Die zweite Welt stellt eine Zone dar, in der einzelne Komponenten dieses Modells nach wie vor gelten, aber vor allem die kollektive Interessenvertretung zurückgedrängt worden ist. In solchen Unternehmen nahmen typischerweise auch die Arbeitsverträge zu, die nicht mehr die vollen Schutzrechte enthielten. Vor allem Klein- und Mittelbetriebe, aber auch Neugründungen US-amerikanischer oder japanischer Unternehmen in Frankreich oder in Großbritannien gehörten zu dieser Übergangszone. Die dritte Welt bildeten jene Unternehmen bzw. Betriebe, in denen alle Aspekte des Modells de jure oder de facto aufgekündigt wurden bzw. unbekannt blieben. Marginale Kleinbetriebe in der Industrie gehörten dazu, aber zahlenmäßig viel wichtiger wurden die Beschäftigungsverhältnisse des privaten Dienstleistungssektors. Diese dritte Welt war weit entfernt von den Standards der Sozialbürgerschaft, in sich aber wiederum sehr heterogen, was Arbeitsverträge, Lohnformen und Arbeitsbedingungen betrifft. Aber wie im Fall der betrieblichen Sozialordnungen sind wir auch im Fall der Sozialbürgerschaft mit einem Erbe aus dem Industriezeitalter konfrontiert, das Entwicklungspotenzial für Weiterentwicklung und Transformation enthält. Kooperative Arbeitsbeziehungen und hohe Sozialstandards sind jedenfalls Errungenschaften und Ordnungsmodelle, welche auch die Turbulenzen der Deindustrialisierung überstanden haben und Anknüpfungspunkte für die politische Ausgestaltung unserer nächsten Zukünfte bieten.
Literatur Bach, Olaf (2013): Die Erfindung der Globalisierung. Entstehung und Wandel eines zeitgeschichtlichen Grundbegriffs, Frankfurt a.M.
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Bernet, Brigitta/Tanner, Jakob (Hg.) (2015): Ausser Betrieb: Metamorphosen der Arbeit in der Schweiz, Zürich. Castel, Robert (1995): Die Metamorphosen der sozialen Frage: eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz. Doering-Manteuffel, Anselm u.a. (Hg.) (2016): Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen. Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz (2011): Nach dem Boom. Westeuropäische Zeitgeschichte seit 1970, 3. Aufl., Göttingen. Hindrichs, Wolfgang (2000): Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen. Kotthoff, Herrmann (1994): Betriebsräte und Bürgerstatus: Wandel und Kontinuität betrieblicher Mitbestimmung, München. Kotthoff, Herrmann/Reindl, Josef (1990): Die soziale Welt kleiner Betriebe. Wirtschaften, Arbeiten und Leben in mittelständischen Industriebetrieb, Göttingen. Marshall, Thomas H. (1963): Sociology at the Crossroads and other Essays, London. Plumpe, Werner/Steiner, André (Hg.) (2016): Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960–1990, Göttingen. Raphael, Lutz (2018): Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin. Rennwald, Line (2015) : Partis socialistes et classe ouvrière. Ruptures et continuités du lien électoral en Suisse, en Autriche, en Allemagne, en Grande-Bretagne et en France (1970–2008), Neuchâtel (englische Ausgabe 2020 unter dem Titel : »Social Democratic Parties and the Working Class. New voting Patterns« erschienen). Schroeder Wolfgang/Greef, Samuel (2016): »Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom«, in: Anselm Doering-Manteuffel u.a. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom. Göttingen, S. 245-270. Streeck, Wolfgang (2014): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, 5. Aufl., Berlin.
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Tanner, Jakob (2015): Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, München. Ther, Philipp (2014): Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, 3. Aufl., Berlin. Windolf, Paul (Hg.) (2005): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden.
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Warum wir heute vermehrt über das bonum commune nachdenken sollten Die jüngsten globalen Erfahrungen im Umgang mit der Corona-Pandemie haben international Staaten, Gesellschaften und Individuen in einen kollektiven Suchprozess mit einem bislang ungekannten Krisenmodus versetzt. Anders als bei bisher bekannten, lokalen und vorübergehenden Krisen war über Nacht die globale Weltgemeinschaft einer Krise von unbekanntem Ausmaß und nicht absehbarer Dauer ausgesetzt. Die Logik der Krisenbewältigung war primär darauf ausgerichtet, die Krise möglichst rasch zu überwinden. Maßstäbe hierfür waren primär der Gesundheitsschutz und der Schutz des Gesundheitssystems bei gleichzeitiger Vermeidung irreparabler wirtschaftlicher Schäden. Es zeigte sich aber, dass Zielkonflikte Dilemmas auslösten und eine Güterabwägung zwischen Schutzmaßnahmen und Einschränkung des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens vorzunehmen war. Die Abwägung und der Trade-Off zwischen oft nicht zu vereinbarenden Gesellschaftszielen forderte die politischen Entscheidungsträger in ihrer Verantwortung für das bonum commune. Ohne gesellschaftlichen Diskurs darüber, was im Zweifelsfall das bonum commune sein solle, wurde im Verlauf der Krisenbewältigung
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die Uneindeutigkeit des Gemeinwohls1 sichtbar. Kaum eine mit dem Gemeinwohl argumentierende Entscheidung zeigte sich ohne nachteilige Auswirkungen auf einen anderen Aspekt des Gemeinwohls. Der Lockdown ganzer Wirtschaftsbereiche als kollektive Schutzmaßnahme konnte zwar die Infektionsraten zeitweise eindämmen, gleichzeitig wurden dadurch aber reale wirtschaftliche Nöte und Existenzsorgen geschaffen. Das Social-Distancing konnte zwar Spreading-Phänomene reduzieren, gleichzeitig führte es aber zu neuer sozialer Distanz und Vereinsamung mit psychischen und sozialen Gefährdungen. Das Gleichsetzen von Kulturangeboten mit Freizeitbeschäftigungen mochte zwar aus Sicht der Begegnungsminderung nachvollziehbar sein, doch löste dies ein berechtigtes Unwohlsein über das Verhältnis von Kultur und Freizeit aus, welches bis heute einer gesamtgesellschaftlichen Verständigung harrt. Statt Zeit für differenzierte Diskurse zu finden, verkürzte sich das gesellschaftliche Gerede rund um die Krise auf verkürzende Begriffe wie »systemrelevant«, »Maskensünder« und »stoßlüften« (vgl. Deutschschweizer Wort des Jahres 2020 in SDA 2020). Deren Beitrag zur Verständigung über ein übergreifendes Gemeinwohl war dementsprechend wenig erhellend. Zudem wurde mit fortschreitender Dauer der Pandemie ein zunehmendes Unwohlsein über das Verhältnis kollektiver Schutzmaßnahmen und individueller Freiheitsrechte spürbar. Bei alldem wurde vor Augen geführt, dass das bonum commune zwar ein politischer Imperativ ist, dessen Ausgestaltung aber zu Güterabwägungen führte, die bis heute nicht einem öffentlichen Diskurs zugeführt wurden. Eine explizite Verständigung, was das bonum commune sei, ob es angesichts der 1
Gemeinwohl und bonum commune werden hier synonym verwendet. Unter Gemeinwohl kann das Gemein- und Gesamtinteresse einer Gesellschaft verstanden werden. Das Gemeinwohl wird nach klassischer Definition verstanden als »Inbegriff der Mittel und Chancen, die in sozialer Kooperation und Organisation bereitzustellen sind, damit der einzelne, die Familien und die Gruppierungen im Gemeinwesen ihre eigenen Werte und Ziele angemessen verwirklichen können. Das Gemeinwohl beinhaltet demnach die Summe all jener Werte, die Voraussetzung dafür sind, dass alle ihre Werte verwirklichen können.« (Becker/ Buchstag 2002: 546)
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vielfältigen kollektiven und individuellen Wertvorstellungen und Interessenlagen überhaupt ein solches geben könne, war dem kurzfristigen Krisenmodus zum Opfer gefallen. Ein wesentlicher Aspekt, welcher sich in der globalen Pandemie immer wieder zeigte, war das Verhältnis zwischen Wünschbarkeit und Finanzierbarkeit der gemeinwohlorientierten Maßnahmen. Wer soll das alles bezahlen, war eine wiederholt gestellte Frage in der nationalen, aber auch globalen Debatte. Und unwillkürlich war man an den Schlager aus dem Jahr 1949 erinnert, in dem es heißt: »Wer soll das bezahlen? Wer hat das bestellt? Wer hat so viel Pinkepinke? Wer hat so viel Geld?« Auch in der damaligen durch Währungsreform und Inflation geprägten Nachkriegszeit wurde die Frage nach dem Verhältnis von Vermögen und Gemeinwohl gestellt. Die Unsicherheit in der heutigen Zeit ist nicht viel geringer.2 Die Frage ist also relevant und aktuell, ob und inwieweit materieller Reichtum eine vielleicht notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für das bonum commune darstellt. Das Thema ist komplex und bedarf einiger Spezifikationen, denn sowohl die Bedeutung des bonum commune hat sich über die Zeit verändert als auch jene des Reichtums. Ich will deshalb zuerst anhand ausgewählter Modelle von der Antike bis zur Neuzeit dem Wechselspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft sowie der Rolle des Staates in der (Um)-Verteilung von Reichtum zur Sicherstellung des bonum commune nachgehen.
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Gemäß Statista Research hat die Coronakrise in der Schweiz im Jahr 2020 zu einer Wirtschaftsschrumpfung von -2,9 % (BIP) geführt. Über 400.000 Arbeitnehmende waren Ende Februar 2021 von Kurzarbeit betroffen, 41 % der Erwerbstätigen waren zum gleichen Zeitpunkt im Homeoffice, 32 % der Schweizer*innen hatten in der Coronakrise Geld verloren, der Staat hat bis April 2021 23,04 Mrd. Schweizerfranken in staatliche Unterstützungsmaßnahmen investiert (vgl. Statista 2021).
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Ein Blick in die Geschichte der Finanzierung des Gemeinwohls Platon: Das Gemeinwohl als Aufgabe der Magistraten Die Diskussion rund um die Verantwortung des Staates für das Gemeinwohl lässt sich bis zu Platon (428 – 348 v. Chr.) zurückverfolgen. Im Gespräch zwischen Sokrates und Thrasymachos in Platons Politeia nutzen beide das Bild des Staates als Hirte seiner Bürger. Während Thrasymachos davon ausgeht, dass Hirten ihre Schafe deshalb pflegen und fett machen, um sie gut verkaufen zu können oder ihrem Herrn einen Vorteil zu bescheren, nimmt Sokrates eine andere Position ein. Nach ihm haben Hirten nur die eine Aufgabe, nämlich für das ihnen anvertraute Gut aufs Beste zu sorgen (vgl. Platon 1855: 343). Dies bedeute auch für Regierungen, dass sie »auf kein anderes Bestes sehen müssen als auf das jener, der Regierten und ihrer Sorge Anvertrauten.« (ebd.: 345) Hierin sehen wir bereits den Anspruch, Macht und Reichtum nicht zur Mehrung derselben, sondern für die Gemeinschaft um ihrer selbst willen einzusetzen. Gleichwohl muss bedacht werden, dass das von Sokrates skizzierte Gemeinwohl sich an ein Volk von Regierten und Anvertrauten richtet, damit durchaus autoritäre Züge annimmt. Die Metapher des guten Hirten und seiner ihm anvertrauten Schafe beschreibt ein fürsorgliches Bild des bonum commune. Für Platon basierte das Gemeinwohl auf der gerechten Ordnung der Polis, zu der jedermann nach seinem Können beizutragen habe (vgl. Böckenförde 2002). Regierende sollten nach den Prinzipien von Vernunft und Einsicht die Kräfte der Polis in eine gerechte Ordnung zum Wohle aller bringen. Zum Kampfe sollten die hierzu Starken beordert werden, für Wirtschaft und Kultur sollten die dafür Begabten und Befähigten besorgt sein. Damit ist das Gemeinwohl in der platonischen Polis ein Gemeinschaftswerk der Polisgemeinschaft, von der jene profitieren können, welche ihrer teilhaben. Eine nach Aufgaben, Befähigungen und Talenten strukturierte Ordnung der Gemeinschaft stellt eine spezifische Herstellung des Gemeinwohls dar, in welcher jeder Bürger einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Beitrag zum bonum commune leistet und dabei diesen Beitrag vor der individuellen Freiheit priorisiert.
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Aristoteles: Gabenökonomie – Das Gemeinwohl als Aufgabe des tugendhaften Menschen Im Denken eines Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) hatte sich der Einzelne tugendhaft in der Gemeinschaft der Polis zu bewähren. Die Polis als Gemeinschaft nahm damit einen ethisch-sittlichen Charakter ein. Für Aristoteles diente die Polis zu mehr als zur Lebenssicherung und Bedürfnisbefriedigung, sie sollte eine vollkommene und sich selbst genügende Lebensweise fördern. Das gemeinsame Leben sollte sich als vollendetes Leben entfalten, die Gemeinschaft zu tugendhaftem und edlem Handeln befähigen. Damit verbunden war auch eine individuelle Verpflichtung, ein tugendhaftes Sichhervortun der Bürger im Sinne der Gemeinschaft. Welche Bedeutung hatte aber der materielle Wohlstand zur Erlangung eines tugendhaften Lebens? Das antike Athen kannte für die eigenen Bürger keine Steuern, nur die Gastbürger, die Metöken, hatten diese zu entrichten. Damit gab es keine automatische Umverteilung von individuellem Reichtum hin zur Gemeinschaft. Die Vermögenden hatten keine allgemeine staatliche Abgabe zu entrichten, dafür spendeten sie der Polis spezifische öffentliche Güter wie Tempel, Straßen, Wehranlagen und Amtsgebäude. Reichtum zu geben, war ein Geschenk an die Gemeinschaft, keine Abgabe. Im Gegenzug ehrte die Polis ihre Stifter (vgl. Priddat 2014). Bereits in der griechischen Antike war Reichtum deshalb nicht verpönt, sondern legitimierte sich durch seinen Nutzen für die Gemeinschaft. Gestiftete Güter mehrten Reichtum, Schönheit und Ansehen der Polis und damit auch das Ansehen der Stiftenden, oder wie es Aristoteles ausdrückte: »Macht und Reichtum sind nämlich wegen der Ehre erstrebenswert. Wer sie besitzt, will wenigstens durch sie Ehre erlangen.« (Aristoteles 2017: 102) Dies war in einem sonst politisch egalitären Politsystem eine Möglichkeit, sich aus der Masse hervorzutun. Spenden war ein Anreiz für Vermögende, eine frühe Form der Gabenökonomie. In dieser wächst der Reichtum einer Gemeinschaft mit dem Reichtum und der Ehre ihrer Bürger. Die Ehrung der vermögenden Stifter hat sich bis in die Gegenwart hin bewahrt. Damit verbunden ist auch die Einflussnahme durch Reichtum auf die Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhält-
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nisse: Eine Wohlstandselite ist grundsätzlich an der Gestaltung der Gesellschaftsbedingungen stärker beteiligt als jene, die über nur wenige materielle Mittel verfügen (vgl. Göring-Eckhardt 2007). Gesellschaftliche Ausstrahlung und Einflussnahme waren und sind u.a. der Gegenwert eines ins Gemeinwohl eingesetzten Vermögens und sichern das damit zusammenhängende Sozialkapital an Beziehungen, Netzwerken etc. Die finanzielle Elite bleibt damit oft unter ihresgleichen. Materieller Wohlstand ist ein Privileg, welches innerhalb gewisser Kreise gepflegt, geschützt und vererbt wird.
Cicero: Die Res publica – Das Gemeinwohl als Sache des Volkes In der römischen Res publica war das Gemeinwohl Sache des Volkes. Dessen Durchsetzung wurde jedoch Magistraten übertragen, die das Richtige, das Nützliche und das mit dem Gesetz Übereinstimmende vorzuschreiben hatten. Cicero (106 – 43 v. Chr.) verband das bonum commune mit der utilitas communis, also der Nützlichkeit für die Gemeinschaft, für die Res publica. Gemeinwohl wurde in starkem Maße mit dem Nutzen für das Volk und für öffentliche Güter, wie beispielsweise der Gerechtigkeit bzw. der Anerkennung des Rechts (consensus iuris), verknüpft (vgl. Böckenförde 2002). Die Sicherstellung des Gemeinwohls wurde zu einer institutionellen Aufgabe. Das Prinzip dieser Sicherstellung basierte auf einer gerechten Verteilung von Rechten, Pflichten und Leistungen im politischen Gemeinwesen. Teilhabe und gegenseitiges Nutzenspenden wurde zu einer Pflicht, welche die individuelle Leistungs- und Opferbereitschaft aber auch das Geben von (finanziellen) Mitteln beinhaltete. Individueller Reichtum wurde so mit einer Pflicht an der Gemeinschaft verbunden. Diese Gemeinschaft wurde über die Grenzen des eigenen Territorialstaates hinaus gedacht: Für Cicero galten die Prinzipien der Res publica auch und gleichermaßen für die Weltgemeinschaft, die societas generis humanis, und damit – in Abweichung zu Aristoteles und Platon – auch für Ausländer. Sich nur den Mitbürgern und nicht auch den Ausländern (externorum) anzunehmen, beeinträchtige die gemeinschaftlichen Bindungen des menschli-
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chen Geschlechts zueinander, welche nach Maßgabe von Vernunft und Sprachvermögen bestehen. Das bonum commune war damit nicht zuerst ein Akt der Großzügigkeit, sondern ein Gebot der Vernunft. Bezogen auf die heutige Zeit stellt sich die Frage erneut, inwieweit bei globalen Herausforderungen, wie der aktuellen Pandemie oder der Klimakrise, territorialstaatliche Lösungen das nationale Gemeinwohl überhaupt noch sichern oder steigern können, wenn sie nicht die societas generis humanis in einem globalen Sinne in den Fokus nehmen.
Das frühe Christentum: Gerechter und ungerechter Reichtum Bereits die frühe christliche Lehre gab dem Menschen einen neuen Orientierungsrahmen: Statt gesellschaftlichem Ansehen zählte das Ansehen vor Gott. Ein Streben nach dem Reiche Gottes war jenem nach dem irdischen Reichtum überlegen, wie es Lukas illustriert: »Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen sollt, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen sollt. Das Leben ist mehr denn die Speise, und der Leib mehr denn die Kleidung. Nehmet wahr der Raben: die sähen nicht, sie ernten auch nicht, sie haben auch keinen Keller noch Scheune; und Gott nährt sie doch. Wie viel aber seid ihr besser denn die Vögel.« (Lukas 12, 22–29). Die Sorglosigkeit im Vertrauen auf Gott basierte darauf, dass das Notwendige von Gott gegeben würde. So heißt es bei den Predigern, »welchem Menschen Gott Reichtum und Güter gibt und die Gewalt, dass er davon isst und trinkt für sein Teil und fröhlich ist in seiner Arbeit, das ist eine Gottesgabe«. (Prediger, 5,19) Reichtum als Gabe, »seinen Teil« davon zu nehmen und ein frohes Leben zu führen, gilt als gerechter Reichtum. Wo es gerechten Reichtum gibt, da gibt es auch ungerechten Reichtum oder jenen, dessen Versuchung die Seele des Menschen zu schädigen vermag: »Und welchen Nutzen hätte der Mensch, ob er die ganze Welt gewönne, und verlöre sich selbst oder beschädigte sich selbst?« (Lukas, 9, 25) Gemeint ist dabei das Erlangen von Reichtum durch Macht, Zwangsarbeit und Ausbeutung. Das war bei den Despoten der Antike, von Xerxes, Krösus bis Midas so, zeigt sich aber auch heute
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mitunter in der unglücklichen Verquickung von politischer Macht und persönlichen Reichtum (vgl. Priddat 2014). Im frühen Christentum erhielt Reichtum eine ethische Bewertung in guten und schlechten Reichtum, je nach seiner Entstehung und seiner Verwendung. Doch auch bei dieser Unterscheidung öffnen sich bis heute schwierige Fragen im Verhältnis zwischen Reichtum und Gemeinwohl: Ist beispielsweise unrecht erworbener Reichtum, der zum Wohl der Gemeinschaft eingesetzt wird, besser oder schlechter als rechtmäßig erworbener Reichtum, der niemandem nützt? Bekommt ein moderner Robin Hood Strafminderung, wenn er einen unrechten Staat bestiehlt, um Armen zu geben? Gibt es auch für jene, die ihren Reichtum rechtmäßig erworben haben, einen moralischen Imperativ, diesen zum Zwecke des Gemeinwohls zu verwenden? So oder so: Reichtum wird zu einem je nach Entstehung und Verwendung für das Gemeinwohl gesellschaftlich bewerteten Gut.
Thomas von Aquin: Gnadenakt und Barmherzigkeit Einen Bezug zwischen Vernunft und bonum commune stellte Thomas von Aquin (1225 – 1274) über das gerechte Gesetz her. Gemeint waren das göttliche, das natürliche wie das menschliche Gesetz, deren Ziel es sei Gerechtigkeit herzustellen. Gerechtigkeit war die Grundlage des Gemeinwohls und damit Grundlage der Beziehungen der politischen Gemeinschaft und der Individuen. Hergestellt werden sollte sie schöpferisch-gestaltend (architectonice) durch die Regierenden und ausführend und gehorchend durch die Bürger (vgl. Böckenförde 2002). Mit diesen Gesetzen war also eine gewisse Gehorsamspflicht verbunden, insbesondere, wenn die Gesetze göttlicher Natur oder gerecht im Sinne des Gemeinwohls waren. Umgekehrt hörte die Gehorsamspflicht dort auf, wo menschliche Gesetze nicht gerecht beurteilt wurden. Gleichfalls war auch nicht auf die Durchsetzung eines Gesetzes zu pochen, wenn dieses zum Nachteil der Gemeinschaft war. Gemeinschaft wurde dabei nicht lediglich abstrakt begriffen, sondern als das gemeinsame Gut aller Einzelnen, insbesondere zur Verwirklichung ihres in ihrer Natur angelegten Ziels, ein vollendetes Leben und die ewige Glückseligkeit
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als assimilatio dei zu erlangen. Das bonum commune wurde dabei zu einer Intention, den Menschen in seiner irdischen Beschränktheit auf ein tugendhaftes Leben vorzubereiten. Dieses von Thomas von Aquin durchaus theologisch verstandene Lebensziel war in der Gemeinschaft zu verwirklichen und baute darauf auf, dass das individuelle Lebensziel und -glück nur in der Gemeinschaft zu erlangen sei. Damit formulierte er eine Bestandsbedingung für die menschliche Gemeinschaft, bei der das Gemeinwohl über dem Einzelwohl zu stehen hatte. Bezogen auf die Frage, wie viel persönlicher Reichtum der Gemeinschaft zustehe, kam Thomas von Aquin zum Schluss, dass das Notwendige (necessitas) dem Einzelnen zustünde, hingegen sei das darüber hinausgehende Einkommen und Vermögen (superfluum) den Armen zu geben (vgl. Priddat 2014). Mit dem Geben war nun nicht mehr eine irdische Ehre verbunden, wie in der Polis, sondern eine Barmherzigkeit und Caritas, vermittelt durch ein theologisches Heilsversprechen: Die Reichen geben, um in den Himmel zu kommen. Nicht mehr die Bürger oder die Gemeinschaft als Ganzes sind Adressaten der Gaben, sondern spezifisch die Armen. Diese Gaben sind eigentliche Gnadenakte (Caritas): Gespendet wurden Armenhäuser, Speisungen, Kirchen und Hospitäler. Aus dem gemeinschaftlichen Motiv wurde ein Motiv des Sozialen. Und anders als bei der allgemeinen Tugendverpflichtung eines Aristoteles stammten die christlichen Gaben nun aus der Bußfertigkeit des Menschen. Statt einer Ehrung im Diesseits wurde das Heil der Gabe im Jenseits gesucht; statt einen Verdienst in der Welt zu suchen wurde das Nichtnotwendige als superfluum gegeben, um einen Verdienst im Geistigen zu erringen.
Tetzel und Luther: Gnadenversprechen und Seelenheil Das altgriechische Spenden von öffentlichen Gütern wurde als »leitourgia« bezeichnet. In der frühchristlichen Lehre umfasste die »leitourgia« (zu Deutsch Liturgie bzw. Gottesdienst) die Armenspeisung, später dann die religiösen Riten und Zeremonien des christlichen Gottesdienstes. Die enge Verknüpfung der Gabe an die Kirche verbunden mit einem Gnadenversprechen hatte besonders im 15. Jahrhundert zum so-
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genannten Ablasshandel geführt. Materieller Reichtum, sofern dieser angesichts einer Epoche ausgesprochener Armut überhaupt vorhanden war, wurde in das Seelenheil investiert. Dies führte zu einer Vielzahl von Spenden für Kirchen, Kapellen und Pretiosen: »Das Münster zu Bern besaß 70 goldene und 50 silberne Kelche sowie ungefähr 450 juwelenverzierte Messgewänder. […] Auch das Bußsakrament verfiel dieser Verdinglichung: Ich gebe der Kirche soundso viel Geld, dafür erspare ich mir soundso viele Jahre im Fegefeuer – so das populäre Verständnis des ›Ablasses‹.« (Gotthard 2017: 2) Stellvertretend für die Blüte des Ablasshandels ist Johann Tetzel (1465 – 1519) zu nennen. Das von ihm überlieferte Werben für den Ablasshandel zeigt die alles andere als uneigennützigen Bestrebungen einiger damaliger Kirchenvertreter, aus der Angst vor dem Fegefeuer Kapital zu schlagen: »Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel im Himmel springt.« Der Ablass der Sünden und das damit verbundene Gnadenversprechen war eines der zentralen Spendenmotive jener Zeit. Luther hingegen bekämpfte mit seinen 95 Thesen den Ablasshandel, als er vertrat, dass das Seelenheil nicht durch angestrengte Caritas, nicht durch Stiftungen oder durch Ablasshandel zu gewinnen sei, sondern »sola gratia, sola fide, sola scriptura«, also allein durch die Gnade, den Glauben und die Schriften (vgl. Kaufmann 2017).
Thomas Hobbes: Der Staatsvertrag zur Sicherung einer Vita Beata Anders als Thomas von Aquin argumentierte Thomas Hobbes (1588 – 1679) nicht mehr von einer naturgegebenen Schöpfungsordnung her, sondern aus einer vernunftmäßigen Ordnung des Zusammenlebens zwischen den Menschen. Vernunft, Verlangen und Furcht waren nach Hobbes die Triebfedern eines Menschenbilds, welches im Naturzustand zu einem egoistischen »bellum omnium contra omnes«, eines »Krieges jeder gegen jeden« zu je eigenem Vorteil führe. Dieses Menschenbild widerspricht dem kooperativen Gemeinschaftstrieb des »zoon politikon« und unterstellt dem Menschen, alles für die Durch-
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setzung seines Rechts auf Selbsterhaltung und die Mehrung eigener Vorteile zu unternehmen. Das Aufstellen von Gesetzen sei nach Hobbes zu wenig wirksam, um den triebhaften Naturzustand des Menschen zu überwinden. Was es brauche, sei eine übergeordnete, allmächtige Instanz (die Idee des Staats als furchteinflößender Leviathan), welche mittels Strafen die Einhaltung der Gesetze wirksam durchzusetzen im Stande sei. Die umfassende Staatsgewalt sollte an eine Entscheidungsinstanz – ein Monarch oder ein Parlament – delegiert werden, welche selbst keiner rechtlichen Bindung mehr unterliege. Staatlicher Schutz und Gehorsam der Bürger gingen hier eng miteinander einher (vgl. Böckenförde 2002). Diese Staatsgewalt wurde mit einem Gesellschaftsvertrag legitimiert, dem sich alle Bürgerinnen und Bürger freiwillig, aber unwiderruflich zu unterstellen hatten und in welchem der Wille aller zu einem gemeinsamen Willen geeint werden sollte. Der Staat übernahm die Funktion eines Rechtsgaranten, welcher die Autonomie des Einzelnen als positives Recht sicherte und damit von lediglich ererbten Rechten oder Gottesgnadentum befreite. Die so auf Rechtsstaatlichkeit gründende Autonomie sollte Frieden stiften und dem Einzelnen sein Recht auf jene Güter sichern, die dem Erhalt seines Lebens und der Ermöglichung eines glücklichen Lebens (vita beata) dienen. Diese vita beata war, anders als bei Aristoteles, nicht auf ein tugendhaft vollendetes Leben und, anders als bei Thomas von Aquin, nicht auf einen geistigen Verdienst ausgerichtet, sondern durchaus an einem diesseitigen, angenehmen Leben orientiert. Der Schutz der Bürger vor inneren und äußeren Kriegen sollte dazu dienen, das durch Fleiß erworbene Vermögen in Ruhe und Sicherheit zu genießen. Durch Frieden und Sicherheit sollte der Staat die Wohlfahrt seiner Bürger sichern.
John Locke: Recht auf Eigentum Locke verband Eigentum mit Aneignung durch Arbeit durch freie Menschen: Nach der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies sei dem Menschen nach dem Willen Gottes die Pflicht zur Arbeit auferlegt worden. Damit sei auch das Eigentum an den Ergebnissen
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dieser Arbeit die Folge dieses göttlichen Willens. Die Mehrung von Eigentum durch Arbeit begründe Reichtum, über das der arbeitende Mensch verfügen könne. Locke legitimierte dadurch das Modell einer arbeitsteiligen Eigentümergesellschaft. Wenn er auch das Aneignen von Gütern, die selbst nicht verbraucht werden können und verderben, als Handeln gegen das natürliche Recht verstand, so legitimierte er das Anhäufen von nicht verderblichen Gütern wie Geld und Gold. Damit war die vernünftige Begrenzung des Eigentumserwerbs aufgehoben: Geld stillt nach Locke das menschliche Verlangen, mehr besitzen zu wollen als man tatsächlich benötigt (vgl. Weingessel 2012). Der Begriff des Reichtums wandelte sich damit von der Güterakkumulation zur Kapitalakkumulation, und lediglich Fleiß und Können entschieden nunmehr über das Ausmaß an Eigentum. Damit begründete Locke nun auch den Gedanken der Besitzungleichheit, überhaupt der Ungleichheiten in der Gesellschaft: »Die gute Ordnung, das Gemeinwohl des Staates besteht somit darin, Schutzorganisation einer selbstnützigen Eigentümererwerbsgesellschaft zu sein. Ein Zugriff auf die Güterzuordnung und Güterverteilung hat er nicht. Es gibt keine Gründe des Gemeinwohls, die ihm einen solchen Zugriff verschaffen können, weil das Gemeinwohl ja eben darin besteht, die naturrechtlich legitimierte Eigentümererwerbsgesellschaft und ihre Ordnung zu erhalten, auch wenn das eine Klassenherrschaft aus sich heraussetzt«. (Böckenförde 2002: 60) Damit verfolgte Locke das Ziel, Eigentum und Freiheit der Bürger als Grundlage des Gemeinwohls zu sichern und den Staat von der Aufgabe der Güterzu- und -umverteilung zu entbinden. Für Locke bemaß sich das bonum commune am Glück einer größtmöglichen Zahl von Menschen. Nach dem Selbsterhaltungstrieb kam unmittelbar das individuelle Streben nach Glück und der Versuch der Vermeidung von Unglück, das den Menschen antreibe. Um das eigene Glück3 verfolgen zu können, benötige der Mensch Freiheit, insbesonde3
Das Denken John Lockes prägte auch die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, wenn es in deren Präambel heißt: »We hold these truths to
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re von der Abhängigkeit des Willens anderer Menschen. Hierzu diene unter anderem das Privateigentum, welches wesentlich zur Selbsterhaltung und Freiheit beitrage. Eigennutz und Gemeinwohl schlossen sich damit nicht mehr aus. Auch in einem Gesellschaftsvertrag gehe es darum, die Freiheitsrechte durch Schutz des Eigentums sichern zu können: »Das für die Selbsterhaltung und dem Streben nach Glück so zentrale Recht auf Eigentum bleibt auch nach dem Gesellschaftsvertrag völlig erhalten. Diese Rechte können im Rahmen seiner Theorie als unveräußerliche Grundrechte angesehen werden, die auch in der politischen Gesellschaft weiter gelten. Letztlich kann sogar gesagt werden, dass der verbesserte Schutz des Eigentums die wesentlichste Motivation und in weiterer Folge das Ziel für den staatlichen Zusammenschluss darstellt.« (Weingessel 2012: 34) Das Verhältnis von Armut und Reichtum in einem freiheitssichernden Staat machte John Locke an Fleiß und Können fest. Die einzige Möglichkeit aber auch Verpflichtung, der Armut zu entgehen, lag nach Locke in der Arbeit. Damit war der Armutsbetroffene – nach Locke »the idle poor« – selbst für sein Schicksal verantwortlich. Der Besitzende wurde seiner Verpflichtung gegenüber dem Armen entbunden. Eine karitative Armenfürsorge war nur noch für jene vorgesehen, welche unverschuldet, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen, von der Arbeit ausgeschlossen waren (vgl. Held 2006). Locke wandte sich deshalb auch gegen das Elisabethanische Armengesetz, welches die Gemeinden zur Armenhilfe (Arbeit und Lebensunterhalt) und zur Erhebung einer Armensteuer verpflichtete. Locke kämpfte für den Schutz des Eigentums und gegen jede Form der Steuerbelastung der Besitzenden, was sich später im Manchesterkapitalismus niederschlug. Statt Armenunterstützung schlug Locke für besitzlose Volljährige Umerziehungsmaßnahmen (Arbeitslager) vor und Kinder wurden in sogenannte working be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness«. (Jefferson 1776)
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schools (Wollspinnereien) verdingt. Die Armenthematik sah Locke insofern als gesellschaftliche Herausforderung, als dadurch der Schutz des Privateigentums der Besitzenden durch drohende Steuererhöhungen gefährdet sei. An diese Überzeugungen Lockes knüpfte auch Adam Smith (1723 – 1790) an. Smith legitimierte den Reichtum dadurch, dass dieser dazu diene, Menschen gegen Lohn zu beschäftigen und damit deren Wohlstand wie auch den eigenen Profit zu mehren. Für ihn gab es keine karitative Pflicht gegenüber Armen. Diese sei durch die Beschäftigung und Lohnzahlung substituiert. Für ihn entwickelte sich das bonum commune von selbst in einem »natürlichen« Streben nach Reichtum, das nicht von individuellem Tugendstreben geleitet sei, sondern durch die automatischen Allokationen von Reichtum und Arbeit eine »Benevolence« als gesamtwirtschaftliches Resultat produziere (vgl. Priddat 2014). Die Wohlfahrt vieler solle nicht über Einkommensumverteilungen erfolgen, sondern über Investitionen und die Schaffung von Arbeit und Profit. Das superfluum solle, anders als bei Thomas von Aquin, nicht gespendet, sondern als Kapital reinvestiert werden. Die Mehrung des bonum commune als allgemeine Wohlfahrt wurde damit mit einem stetigen ökonomischen Wachstumsstreben verbunden.
Vilfredo Pareto: Gewinnwirtschaft Mit dem auf Vilfredo Pareto (1848 – 1923) zurückgehenden Paretoprinzip wurde schließlich das Investitionsprinzip von Kapital zur Mehrung der Wohlfahrt insofern aufgeweicht, als ab jetzt jeder Reichtum legitimiert wird, sofern er nicht auf Kosten der Armen erzielt wurde. Gewinnwirtschaft war nicht mehr an Beschäftigung und allgemeine Wohlfahrt gekoppelt, sondern bot einen umfassenden Schutz individueller Eigentumsrechte, sofern sie nicht durch Ausbeutung entstanden waren (vgl. Priddat 2014). Der Reiche wurde von der sozialen Pflicht des Gebens oder des Investierens entbunden. Umgekehrt kam dem Staat – seit 1891 in Preußen, seit 1887 in der Schweiz – mittels Steuern (z.B. auf gebrannte Wasser) die Rolle des Ausgleichs zwischen arm und reich und der Zurverfügungstellung öffentlicher Güter zu. Die Umverteilung
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von Kapital zur Finanzierung öffentlicher Güter ist seitdem eine primär hoheitliche Aufgabe. Im Gegenzug können Reiche, nach Abgabe der Pflichtsteuer, über ihren Reichtum uneingeschränkt verfügen, gänzlich befreit von einer expliziten oder impliziten sozialen Wohlfahrtsverpflichtung.
Der Wohlfahrtsstaat Vergleicht man aktuell die Aussagen zur Wohlfahrt in den einzelnen Verfassungen, so lesen wir in der Schweizer Verfassung in Artikel 54 Abs. 2: »Der Bund setzt sich ein für die Wahrung der Unabhängigkeit der Schweiz und für ihre Wohlfahrt; er trägt namentlich bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt«. Nationale Wohlfahrt und internationale Armutsbekämpfung werden hier zur Staatsaufgabe erkoren. Im Deutschen Grundgesetz steht darüber hinaus ein Zusatz, den man in der Schweizer Verfassung vergeblich sucht: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« (Grundgesetz BRD 1949) Hier wird dem Eigentum, also auch dem materiellen Reichtum, eine klare Zweckbestimmung zugewiesen, nämlich jene, dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen. Der Wohlfahrtsstaat modernen Zuschnitts kennt verschiedene Ausprägungen (vgl. Ullrich 2005): Die USA, Kanada, Großbritannien, Australien und die Schweiz sind einem liberalen Modell des Wohlfahrtsstaats zuzurechnen, in welchem Vermögensumverteilungen weitgehend vermieden werden sollen, staatliche Leistungen von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig gemacht werden und Sozialversicherungsleistungen eine geringe Bedeutung einnehmen. Der konservative Wohlfahrtsstaatstyp (z.B. in Deutschland, Österreich und Frankreich) zeichnet sich durch eher etatistische und paternalistische Strukturen aus, welche ein hohes Maß an sozialer Sicherheit garantieren, aber gleichzeitig soziale Ungleichheiten akzeptieren. Im Unterschied zum liberalen Modell ist hier die Bedeutung privater Absicherung gering. Im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstyp (Beispiel Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland) soll die soziale Sicherheit der gesamten Bevölkerung gewährleistet werden. Dies baut auf einer starken
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Umverteilung auf und soll in hohem Maße ein (arbeits-)marktunabhängiges Leben ermöglichen.
Philanthropie und Vermögenskultur Eine neue, gleichwohl an die altgriechische Tradition anklingende Form der individuellen Gemeinwohlorientierung finden wir aktuell unter den Bezeichnungen Philanthropie4 , Zivilengagement und Vermögenskultur. Mit der Erstveröffentlichung der Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt im Jahr 1986 wurde millionenschwerer Vermögensbesitz in die öffentliche Sichtbarkeit geführt. Gleichzeitig erlangte gemeinnütziges Engagement als Zeichen der Zivilgesellschaft zunehmende Aufmerksamkeit, insbesondere in Bereichen, welche weder durch den Staat noch durch die Familie oder den Markt befriedigend gelöst werden konnten. Beides zusammen setzte das Verhältnis von Reichtum und gemeinnützigem Engagement in ein neues Licht. Und genau im Lichte einer größeren gesellschaftlichen Aufmerksamkeit beobachten wir ein sprunghaftes Ansteigen von gemeinnützigen Initiativen.5 Darin ist durchaus eine legitimatorische Funktion zu sehen, wenn Reichtum insbesondere dann gesellschaftlich akzeptiert wird, wenn hiervon ein gutes Stück der Gesellschaft zurückgegeben wird (vgl. Ströing/Lauterbach 2014). Die Philanthropie dient durchaus auch der Rechtfertigung des Vermögens in einer ungleichheitssensiblen Gesellschaft. Umgekehrt erhält der Anspruch, mit dem eigenen Vermögen gesellschaftlich etwas Gutes zu tun, die positive Konnotation der »Vermögenskultur«. Eine gute Vermögenskultur beinhaltet die 4
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Unter Philanthropie wird landläufig das meist finanzielle gemeinwohlorientierte Engagement vermögender Persönlichkeiten verstanden. Die Philanthropie grenzt sich vom Mäzenatentum durch die Motivlage und das Förderobjekt ab. Während sich die Philanthropie meist von ethischen Grundmotiven leiten lässt, fördert der Mäzen oft Personen in ihrem Schaffen (vgl. Anschütz 2014). Zu denken ist an den sprunghaften Anstieg von Stiftungsgründungen aber auch Online-Spendenportalen, deren wohl bekanntestes Beispiel das von Bill und Melinda Gate sowie Warren Buffet gegründete Portal »The Giving Pledge« (vgl. https://givingpledge.org/) ist.
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freiwillige und großzügige Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung, meist durch gemeinwohlorientierte finanzielle Zuwendungen. Sekundärgewinne liegen dabei im Prestigezuwachs, der Vermögenslegitimation und dem gesellschaftlichen Einfluss, insbesondere dann, wenn das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit und Effizienz staatlicher Institutionen nur unzureichend ist.
Solidarität als gesellschaftlicher Imperativ? Schwierig abzugrenzen ist das allgemeine Gemeinwohl, das sich auf ein Kollektiv einer definierten Gemeinschaft bezieht, vom Begriff der Solidarität, welche sich vom ehemals auf ein spezifisches Gegenüber zu einem kollektiven Wert entwickelt hat. Gemäß Offe (2019a: 191) wird damit kein abstraktes »Sollen«, aber eine konkrete »politisch-moralische oder rechtliche Pflicht zur tätigen Anteilnahme und Hilfeleistung« verstanden. Eine solche Solidaritätspflicht ist unter anderem mit der allgemeinen Steuerpflicht bekannt, derer sich im Grundsatz niemand entziehen kann. Diese auf alle Bürger gleichermaßen angewandte Solidaritätspflicht (analog zur Wehrpflicht) findet ihre Legitimation in einem »contingent consent«, insofern das Individuum auf die relative Gleichbehandlung mit allen anderen Individuen vertrauen können will. Eine Verletzung dieser Solidaritätspflicht, beispielsweise bei der Nutzung von Steuerschlupflöchern, tangiert nicht nur den allgemeinen Solidaritätsbegriff, sondern stellt die eigene Betroffenheit als Ungleichheitsund Ungerechtigkeitserfahrung ins Zentrum: Was man selbst nicht hat, sollen auch andere nicht haben; was andere erlangen, hierzu will man selbst auch Zugangschancen erhalten. Umgekehrt sind aber auch die Empfänger*innen von Solidaritätsbeiträgen gleichwohl einer normativen Beobachtung unterworfen. In der Geschichte des Armenwesens erkennt man unter anderem, dass Arme »(orts-)ansässig, würdig und bescheiden sein (sollen), um sich zu legitimen Empfängern von Solidarleistungen erst zu qualifizieren. Wenn sie nicht zu ›unserer‹ politischen Gemeinschaft gehören und/oder durch ihr vergangenes Verhalten ihre Angewiesenheit auf die Soli-
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darität anderer selbst in vorwerfbarer Weise herbeigeführt haben und/oder es an der erwartbaren Anstrengung und ›Eigenverantwortung‹ fehlen lassen und Solidarleistungen (der Höhe oder der Dauer nach) über das Maß des ›Notwendigen‹ hinaus in Anspruch nehmen, dann dispensieren entsprechende Anhaltspunkte die Nettozahler subjektiv von ihren Solidarpflichten.« (Offe 2019a: 197) Mit diesen »Verhaltensnormen« zur Legitimation von Solidaritätsleistungen sind Armutsbetroffene unter einen Generalverdacht gestellt. Gleichzeitig laufen Solidaritätsleistungen Gefahr, von allgemein anerkannten Solidaritätsverpflichtungen zu gesellschaftlichen Freigiebigkeitsleistungen uminterpretiert zu werden. Mit dieser Konnotation ist der Diskussion Vorschub geleistet, wieviel Solidarität eine Gesellschaft sich angesichts der Wirtschaftskraft der einen und der Bedürftigkeit der anderen leisten will und welche Erwartungen damit verbunden sind. Solidaritätsbeiträge erhalten damit den Beigeschmack einer verhaltenskonditionierenden Wirkung: Gerade ein unter dem Deckmantel der Solidarität kaschiertes, paternalistisches Gemeinwohlverständnis birgt die Gefahr einer doppelten Moralisierung und Ermahnung in sich. Einerseits wird mit dem finanziellen Gemeinwohlengagement eine Erwartung an die Empfangenden verbunden, andererseits besteht eine implizite gesellschaftliche Erwartungshaltung an die Vermögenden, sich im Sinne des Gemeinwohls zu engagieren. Wer sich dem entzieht, läuft Gefahr, als eigennutzorientiert, rücksichtslos und egoistisch beurteilt zu werden. Dies führt zur Frage, ob umgekehrt ein solidarisches Handeln von Spendenden und Empfangenden explizit oder implizit eingefordert werden kann. Gemeinwohlengagement ist keine Erfüllungspflicht, wohl aber ein gemeinhin erwarteter Dienst an der Gemeinschaft. Dies entspricht einer gesellschaftlichen Normierung, welche von Kindesbeinen erlernt, belohnt und dessen Nichteinhaltung moralisch diskreditiert wird. Offe spricht hier gar von der Gefahr des »Tugendterrors« (Offe 2019b: 352).
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Gemeinwohl im Zusammenspiel von Individuen, Staat und Gesellschaft Die Beschäftigung mit dem bonum commune zeigt entlang der geschichtlichen Betrachtung ein uneinheitliches Bild dessen, was einerseits als »bonum«, andererseits als »commune« verstanden werden kann. Das Bild der Gesellschaft, und darin die Rolle des Individuums als auch jene des Staates, unterlag unterschiedlichen Deutungsformen. Mit Blick auf die Geschichte wie auch auf die aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen zum Eingang dieses Textes lässt sich fragen, ob es überhaupt das commune, das Gemeinsame, ja sogar eine einzige Gesellschaft gibt, oder ob nicht vielmehr eine Vielzahl von Gesellschaftsbildern innerhalb einer Gesellschaft koexistieren. Geht man davon aus, dass Pluralität und Fragmentierung heute die Gesellschaften mindestens so sehr prägen wie ihre inneren Kohäsionskräfte, dann würde auch der Begriff der Gemeinschaft und Solidarität diese überstrapazieren. Insofern ist es wohl eher eine gedankliche Verkürzung von einem einzigen Gemeinwohl, von einem für alle gültigen bonum commune zu sprechen oder dieses als überdauernden Wert zu postulieren. So sehr wohl die eine Gesellschaft und damit das eine Gemeinwohl eine Utopie darstellt, so sehr stellt eine Bindung derselben an nationalstaatliche Gebilde eine Verkürzung des Blickwinkels dar. Gerade aktuell, bei der Bewältigung globaler Herausforderungen wie Pandemien oder dem Klimaschutz, zeigt sich, dass eine regionale oder nationale Gemeinwohlorientierung qua ihrer Interdependenz mit anderen Staaten wirkungslos bleibt. Hier ist man an Ciceros societas generis humanis in einem globalen Sinne erinnert. Wie am Beispiel der Pandemie-Diskussion aktuell zu sehen ist, ist eine eindeutige Bestimmung eines für alle Menschen einer Gesellschaft (geschweige denn einer Weltgemeinschaft) gültigen bonum commune so wenig leistbar, wie eine nationalstaatliche Gemeinwohlorientierung wirkungsvoll ist. Von dem einen, für alle gültigen Gemeinwohl zu sprechen, suggeriert nach Offe (2019b) eine Eindeutigkeit mit einer entsprechend moralischen Aufladung und Eigenwertigkeit, die sich jeder weiteren Differenzierung aber auch fast jedem Widerspruch entzieht.
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Zur Uneindeutigkeit eines einzigen Gemeinwohlverständnisses hinzu kommt der Umstand, dass Gemeinwohlengagements aus einem variablen Zusammenspiel von Rollen und Beweggründen des Individuums, der Gesellschaft wie auch des Staates resultiert. Die mit der Gabe bzw. der (Um)-verteilung von Reichtum verbundenen Zwecke aller Akteure sind nicht nur vielfältig, zeit- und kulturabhängig, sie sind auch mitunter divergierend bis widersprüchlich. Bei den individuellen und gesellschaftlichen Beweggründen können mit materiellen Zuwendungen an das bonum commune verschiedene Erwartungen verbunden sein, zum Beispiel die Erwartung eines weltlichen Gegenwerts in Form von Ansehen, Ehrung, Privilegien und Einfluss (Gabenökonomie), die Aussicht auf gesellschaftliche Legitimation des eigenen Reichtums, auf geistige Heilsversprechen (Gnadenökonomie) oder auf die individuelle Entwicklung eines tugendhaften Lebens (assimilatio dei). All diesen Motiven gemeinsam ist die Idee, dass wer gibt, dem wird gegeben. Damit steht bei den allermeisten der diskutierten Modelle ein klar transaktionaler und zweckgebundener Charakter der Gabe im Vordergrund – mehr als die gute Tat, die nur um ihrer selbst willen getan werden will. In diesem rationalistisch-zweckgerichteten Verständnis agieren die Akteure nach Maßgabe der eigenen Wirkungserwartung. Dieses transaktionale Verständnis birgt jedoch seine Tücken dahingehend, als es eine Bewertung des Wohls anderer und durch andere impliziert. Damit rückt die Gemeinwohlorientierung von der Selbstlosigkeit in die Verzwecklichung. Ausnahmen bestehen dort, wo das Engagement in das Gemeinwohl keiner Verpflichtung oder einer Aussicht auf Ertrag folgt, sondern einzig seiner selbst willen erfolgt bzw. keine Aussicht auf einen Zukunftsertrag aufweist. Das ist der Fall beispielsweise bei Gaben aus Dankbarkeit, Güte und bedingungsloser Liebe. Diesen Motiven fehlt der transaktionale Zweck, da im Falle der Dankbarkeit ihr Grund in der Vergangenheit liegt und damit keine Erwartung an einen zukünftigen Vorteil beinhaltet oder aber, im Falle der bedingungslosen Liebe und Güte, die Gaben frei von Voraussetzungen und Erwartungen einem inneren Antrieb folgen. Vermögen zu geben, ohne die Erwartung, dafür etwas zu nehmen, zeichnet die Freigiebigkeit aus und wird um ihrer selbst willen geadelt. So schreibt bereits
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Aristoteles (2017: 89) in seiner Nikomachischen Ethik: »Unter denen, die wegen ihrer Tugend geliebt werden, werden die Freigiebigen am meisten geliebt.« Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus eigenem Vermögen – bewusst ist hier das Wort in seiner Doppeldeutigkeit gemeint – zu geben und zu schenken bereit sind und damit ihrem eigenen Vermögen gerecht werden. Individuellem Gemeinwohlengagement steht die staatliche Gemeinwohlverantwortung komplementär gegenüber. Der Staat übernimmt Gemeinwohlaufgaben jeweils dort, wo es kein ausreichend großes Zivilengagement gibt oder wo staatliche Interessen vorgehen. Zivilengagement entsteht umgekehrt dort, wo dem Staat die effiziente oder gerechte Verantwortung für das Gemeinwohl nicht zugetraut wird. Auch staatliches Engagement ist meist transaktional mit Zwecken verbunden, welche dem Staatswesen zugutekommen sollen. Zu denken sind hier an die gesellschaftliche Aufgaben- und Lastenverteilung, die Erstellung einer vernunftmäßigen Ordnung des Zusammenlebens, die Sicherung von Frieden und Zusammenhalt, die Generierung von Staatseinnahmen oder den Erhalt staatlicher Machtstrukturen etc. Diesen Verständnissen gemeinsam ist der Umstand, dass staatliche Gemeinwohlübernahme das Individuum weitgehend von der Sorge um das Gemeinwohl entbindet, es aber gleichzeitig mit dem Gebot von Solidarität wieder einbindet. Das Individuum wird mit seiner solidarischen Verpflichtung zu noblen Bürgerpflichten (zum Beispiel als »acte citoyen«) zum staatstragenden Element. Heute wird mitunter gefordert, dass eine implizite und allgemeine Gemeinwohlfestlegung durch den Staat erfolgen solle und diese den Einzelinteressenlagen als übergeordnetes Ziel vorangestellt wird (vgl. Becker/Buchstag 2002). Dies wird durch eine Position unterstützt, welche Offe damit begründet, dass ansonsten »etwas fehlt, abhandengekommen ist oder normativ wie funktional unzulänglich bleibt, wenn moderne Gesellschaften – ohne einen Rückbezug auf Kategorien einer verpflichtenden ›Sittlichkeit‹ – bloß als freiheitliche und demokratische Rechtsstaaten verfasst sind.« (Offe 2019b: 344)
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Das ist ein Plädoyer für gemeinsame (ex ante) Diskurse über die Frage einer normativen Sittlichkeit des bonum commune. Die Gegenposition argumentiert dagegen so, dass sich das Gemeinwohl am besten dann einstellt, wenn es allen Einzelnen ihrem Interesse nach gut geht. Das Gemeinwohl wäre dann die Summe der individuellen Interessenbefriedigungen, egal welchen Normen diese Interessen folgen. Das Gemeinwohl wäre damit erst rückblickend (ex post) festzustellen (vgl. Schubert/ Klein 2020). Damit stellt sich die Frage, welche Aufgabe das Individuum einerseits und der Staat andererseits bei der Bestimmung des bonum commune haben. Ist es Aufgabe des Staates, mittels Regeln, Anreizen und Sanktionen eine auf das Gemeinwohl verpflichtende Sittlichkeit zu fördern, oder ist es eine individuelle Aufgabe und Verantwortung für sich und andere das »Gute« anzustreben? Die Lösung wird in einem »Sowohl-als-auch« liegen, denn »erfolgreiches Regierungshandeln ist tatsächlich auf ›entgegenkommende‹ sozialethische Dispositionen »einer ›Bürgergesellschaft‹ angewiesen, die der staatlichen Politik nicht alles zutraut oder alles abverlangt, was an problemlösenden Bewältigungen des aktuellen sozialen, politischen und ökonomischen Wandels und seiner Konfliktfolgen ansteht.« (Offe 2019b: 345). Das führt zu dem bekannten Diktum des Deutschen Verfassungsrichters ErnstWolfgang Böckenförde (2016), wonach der Rechtsstaat von Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann. Gemeint ist eine Gemeinwohlorientierung, welche auf einem Zivilengagement basiert und durch einen Staat zwar gefördert aber nicht garantiert werden kann. Der »Dienst des Reichtums am bonum commune« – um auf den Titel des Textes zurückzukommen – entsteht also aus einem variablen, mehr oder weniger bewussten, oft aber transaktionalen Zusammenspiel von staatlichen und individuellen Engagements in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext. Die Frage, welche Maßnahmen dem bonum commune dienen, lässt sich damit nur relativ zu dem Verständnis des »bonum« und den oben beschriebenen intendierten Zwecken beantworten. Diese bleiben aber im gesellschaftlichen Diskurs oftmals verdeckt und intransparent. Um auf die eingangs
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beschriebenen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie zurückzukommen, erschienen auch hier die konkreten Motive und Ziele staatlicher Eingriffe, vor allem angesichts der bestehenden Dilemmas – z.B. zwischen wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Zielen oder auch zwischen individueller Autonomie und Solidarität –, diffus und damit schwer nachvollziehbar. Die Folge war ein kollektiver Suchprozess mit einer Kaskade von staatlichen Maßnahmen, deren Durchsetzung mit dem Gebot der Solidarität verbunden wurde. Gebotene Solidarität bei gleichzeitig fehlender Einbettung in einen breiten Verständigungsprozess über das Gemeinwohl ließ viele Menschen mit einem Gefühl der Beklemmung und der Unsicherheit zurück. Insbesondere der Verdacht, dass bestehende Zieldilemmas lediglich durch neue Dilemmas gelöst würden, weckte den Eindruck eines kurzfristig angelegten Experiments mit unbekanntem Ausgang. Forderungen nach einer grundlegenderen ex ante Bestimmung des Gemeinwohls mit klaren und verbindlichen Entscheidungskriterien für staatliches Handeln sind vor diesem Hintergrund und dem Bedürfnis nach Orientierung und Transparenz zwar verständlich, doch würde ein solcher Diskurs Gefahr laufen, lediglich abstrakt und ideologisch zu verlaufen. Zu fragen wäre demnach eher nach einer bewussten Rollenklärung zwischen staatlichen und individuellen Verantwortungen, nach einer Einbettung dieser Rollen in einen diskutierbaren gesellschaftstheoretischen Kontext, nach transparenten Begründungen staatlicher Maßnahmen anhand ihrer intendierten Zwecke, im Falle von Dilemmas nach einer fallweisen und nachvollziehbaren Güterabwägung mit lediglich temporären Priorisierungen. Und über alledem sollte ein offener Diskurs stehen, der die Gesellschaft einbezieht und in der Bewältigung der sozialen, politischen und ökonomischen Herausforderungen ermächtigt. Darüber braucht es Verständigung. Heute, vielleicht mehr denn je.
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Bedingungsloses Grundeinkommen vs. Sozialstaat – Was dient dem Menschen? Thomas Straubhaar
»Grundeinkommen jetzt!« lautet der Titel meines neuen Buchs. Überzeugung und Frustration lieferten die Motivation: Ich bin überzeugt, dass so viel zu tun ist und frustriert, dass so wenig getan wird. Dabei müssten auch beim Sozialstaat die langfristigen Erwartungen der Kindeskinder die kurzsichtigen Eigeninteressen von heute ersetzen – so, wie es nach endloser Verdrängung für die ökologische Nachhaltigkeit endlich selbstverständlich geworden ist. Nur wer die Möglichkeiten künftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, nicht gefährdet, betreibt eine nachhaltige Sozialpolitik. Diese Einsicht muss Pflicht und Absicht heutigen Tuns werden – und lieber früher als später wegleitend für alles Handeln sein. Wissenschaft beginnt mit Beobachtungen. Phänomene der Realität werden zunächst wahrgenommen und erfasst, dann beschrieben, hinterfragt und danach erklärt. Logisch konsistente Theorien dienen schließlich dazu, weitere Zusammenhänge zu erkennen und aufzudecken, die sich in der Praxis überprüfen lassen. Bestätigt die Empirie die Theorie, kommt man einen Schritt weiter. Widerspricht die Wirklichkeit den theoretischen Erwartungen, sollte man nach neuen Theorien suchen, die der Realität besser gerecht werden. So wird Wissen geschaffen und mehrt sich Schritt für Schritt Verständnis von Sein und Werden. Wer vor diesem Hintergrund die sozialen Sicherungssysteme der Gegenwart betrachtet, wird einiges nicht verstehen und anderes vermissen. Denn was mit der sozialstaatlichen Ideologie verfolgt wird,
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entspricht in keiner Weise der Lebenserfahrung und Alltagswirklichkeit heutiger und schon gar nicht kommender Generationen. Vieles widerspricht alltäglichen Beobachtungen. Manches bleibt in der Realität unerfüllt. Die praktischen Erfahrungen decken sich in keiner Weise mit den theoretischen Erwartungen. Für diese Diskrepanzen gibt es überzeugende Erklärungen. Die heutigen Sozialstaaten fußen auf Ideologien und Denkmodellen, Lebensläufen und Weltbildern des 19. Jahrhunderts. Entsprechend wird ihr Verständnis geprägt: • •
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demografisch von einer Bevölkerungspyramide mit vielen Jungen und wenigen Alten (die vergleichsweise früh sterben), gesellschaftlich von traditionellen Familienrollen mit einem – meist männlichen – Alleinverdiener und einer Mutter, die sich zu Hause um die Erziehung der gemeinsamen Kinder kümmert, bis die Ehe durch den Tod getrennt wird, ökonomisch von einer stark wachsenden Industriewirtschaft, die für einen stetig größeren Verteilungsspielraum sorgt und ideologisch von einem christlichen (und in weiten Teilen der Schweiz calvinistischen) Arbeitsethos, aus dem sich eine lebenslange Erwerbstätigkeit als Regelfall ableitet, die erst einen Anspruch auf sozialstaatliche Unterstützung in unverschuldeten Notfällen rechtfertigt.
Keiner der einstmals tragenden Pfeiler des ursprünglichen Sozialstaates entspricht in Europa und der Schweiz im 21. Jahrhundert noch der tatsächlichen Alltagssituation von heute und noch weniger jener von morgen: •
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demografisch hat sich die Bevölkerungspyramide auf den Kopf gestellt. Immer weniger Junge werden immer mehr Älteren gegenüberstehen (die – glücklicherweise – immer älter werden); gesellschaftlich sind private wie berufliche Brüche von Beziehungen zur Regel geworden und ist das traditionelle Familienverständnis durch neue Formen des Zusammenlebens und einem anderen Rol-
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lenverhalten im Zusammenleben von Vätern und Müttern abgelöst worden; ökonomisch wächst die Wirtschaft langsamer (viele sprechen gar von einem Trend der »säkularen Stagnation«), sind die Staatsschulden angestiegen und verändern Globalisierung und Digitalisierung die Wertschöpfungsprozesse, so dass Verteilungsspielräume enger und der Generationenvertrag zwischen Jungen, die in die Sozialkassen einzahlen, und Älteren, die so ihre Renten finanziert erhalten, brüchiger wird; ideologisch verändern neue Technologien und ein Wertewandel die Arbeitswelt, sodass nachrückende Generationen von einer lebenslang ungebrochenen Erwerbstätigkeit weder ausgehen können noch daran festhalten wollen.
Wenn in der Vergangenheit zutreffende Überzeugungen und lange bewährte Verhaltensmuster durch Gegenwart und Zukunft derart in Frage gestellt werden, wie es in den 2020er Jahren bereits der Fall ist und in den kommenden Dekaden der Fall sein wird, gibt es zwei sich in ihrer Perspektive fundamental unterschiedliche Sichtweisen, wie Theorie und Praxis, Erwartungen und Erfahrungen wieder zur Deckung gebracht werden können: Die einen streben danach, die neue Welt so zurecht zu hobeln, dass sie zu den alten Sozialstaaten und deren Ideologien passt. Die anderen jedoch akzeptieren die neue Welt wie sie ist und sich weiter entwickeln wird. Dafür wollen sie einen neuen Sozialstaat schaffen und anstelle überholter Strukturen setzen. Fundament dieser Neuorientierung für neue Zeiten und neue Umstände ist ein bedingungsloses Grundeinkommen. Es soll nun im Folgenden zunächst kurz in vergleichsweise abstrakter Form vorgestellt werden. Danach wird es in sehr konkreter Weise am Schweizer Beispiel weiter erläutert. Schließlich wird gezeigt, wieso ein Grundeinkommen »dem Menschen dient«.
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Wie funktioniert das begingungslose Grundeinkommen? »Grundeinkommen jetzt!« (2021) beschreibt ausführlich die Funktionsweise eines bedingungslosen Grundeinkommens. Insbesondere geht es auf eine Vielzahl immer wieder gestellter Fragen ein, etwa, wie Kinder oder Menschen mit Migrationshintergrund oder besonderen Bedürfnissen einbezogen werden sollen. Die nachfolgenden Darlegungen fassen ein paar der wichtigsten Argumente zusammen. Um den Gedankenfluss nicht unnötig zu behindern, wird dabei auf viele Einzelheiten genauso verzichtet, wie (mit wenigen Ausnahmen) auf die Angabe der Quellen, die den vorgetragenen Argumenten natürlich zugrunde liegen. Sowohl weiterführende Begründungen wie alle Referenzen werden ausführlich in »Grundeinkommen jetzt!« wiedergegeben. Ein wichtiger Aspekt soll jedoch kurz erwähnt werden: Je nach politischer Ideologie oder ökonomischen Restriktionen oder gesellschaftlichen Wünschen unterscheiden sich die Vorstellungen darüber, was beim Grundeinkommen unverzichtbar, was weniger wichtig oder gar zu weit führend sei. Ebenso strittig ist die Höhe eines Grundeinkommens, welche persönlichen Betroffenheiten eine Abweichung davon im Einzelfall unverzichtbar erscheinen lassen und ob das Grundeinkommen den heutigen Sozialstaat ergänzen oder ersetzen soll.
Zentrale Bausteine eines Grundeinkommens •
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Der Staat überweist allen Staatsangehörigen vom Säugling bis zum Greis lebenslang Monat für Monat einen Geldbetrag, der für alle gleich hoch ist – für Professorinnen genauso wie für Hilfskräfte oder nicht erwerbstätige Personen. Weder spielen Alter, Familienstand, Ausbildung oder Qualifikation eine Rolle, noch ob jemand in Lohn und Brot ist, arbeiten will oder nicht. Das Grundeinkommen bleibt für alle steuerfrei. Alle persönlichen Einkünfte jenseits des Grundeinkommens werden besteuert. Es gilt also weiterhin: Wer Geld verdient, muss es versteuern.
Bedingungsloses Grundeinkommen vs. Sozialstaat – Was dient dem Menschen?
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Es gibt keine Steuerfreibeträge für persönliche Einkommen jenseits des Grundeinkommens. Denn das Grundeinkommen ist bereits ein Freibetrag, den – und das ist der Unterschied zu heute – alle in vollem Umfang geltend machen können. Bis anhin profitiert von Steuerfreibeträgen nur, wer steuerpflichtig ist (also wer arbeitet oder sonst wie Geld verdient), und nicht, wer kein Einkommen erwirtschaftet und deshalb auch keine Steuern zahlt.
Ein so gestalteter Kern eines Grundeinkommens folgt dem Prinzip einer negativen Einkommenssteuer. »Negativ« ist kein Werturteil, sondern – ganz nüchtern – ein Saldo, der aus der Sicht der Staatskasse bilanziert, ob jemand vom Staat mehr oder weniger Geld erhält, als er oder sie Steuern bezahlen. Beim Grundeinkommen fließt zunächst einmal Geld vom Staat an Personen. Aus staatlicher Sicht entspricht dies einem »negativen« Abfluss und damit dem Gegenteil eines Steuerzuflusses. Gleichzeitig aber zahlen alle, die Einkommen erwirtschaften, auf alle Einkünfte Steuern. Somit zeigt sich erst am Ende als Saldo, ob Personen »netto« mehr oder weniger Steuern zurückbezahlt haben, als sie ursprünglich an Grundeinkommen erhalten haben. Da wird noch zu zeigen sein, dass trotz negativer Einkommenssteuer, die meisten Menschen netto »positive« Steuerzahlende bleiben!
Wie hoch soll das bedingungslose Grundeinkommens sein? Die Höhe des Grundeinkommens ist politisch festzulegen. So wie heute mit den Sozialhilferegelungen verfahren wird. Der entscheidende Unterschied zum Grundeinkommen liegt in der Beweislast: Im heutigen Sozialstaat muss erst ein Problem entstehen, das dann mit der Sozialhilfe überbrückt wird. Das Grundeinkommen hingegen wird im Voraus ausbezahlt, gerade um das Entstehen eines Problems zu verhindern. Es will präventiv vorbeugen und nicht nachträglich reparieren. Und: Es vertraut darauf, dass Menschen selbst besser wissen, was für sie das Richtige ist. Deshalb werden sie ermächtigt und die Sozialbürokratie entmachtet.
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Nimmt man den Begriff »Grundeinkommen« wörtlich, müsste seine Höhe dem Existenzminimum entsprechen. Dabei zeigt sich sogleich die Problematik, nämlich festzulegen, was das genau bedeutet. Geht es darum, wenigstens den grundlegenden Lebensunterhalt bestreiten zu können – also um die Befriedigung materieller Bedürfnisse, etwa durch Nahrung, Kleidung und einer Wohnung? Oder ist ein soziokultureller Maßstab anzuwenden, um eine gesellschaftliche Ausgrenzung zu verhindern? So, dass auch immaterielle Güter und Dienstleistungen selbstverständlich dazugehören, um am politischen, sozialen und kulturellen Leben teilhaben und ein menschenwürdiges Dasein finanzieren zu können. Die Schwierigkeit, das Existenzminimum festzulegen, hat jedoch nicht nur das Grundeinkommen zu meistern. Sie ist heute bereits zu bewältigen. In der Schweiz legt jeder Kanton das Existenzminimum eigenständig fest. Auf Bundesebene gibt es keine allgemeingültigen Beträge. Zwar erlässt die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) Richtlinien dazu, was ein soziales Existenzminimum abdecken sollte. Aber Richtlinien sind für die Kantone lediglich Empfehlungen zur Ausgestaltung und Berechnung der Sozialhilfe. Juristisch sind sie nicht verbindlich. Die Richtlinien der SKOS könnten den Maßstab für das Grundeinkommen liefern. Darauf basierend, hätte danach das Parlament die Höhe des Grundeinkommens verbindlich zu bestimmen. Wird so vorgegangen, wird auch gleich die Sorge entkräftet, dass sich Parteien in populistischer Art vor Wahlen mit Versprechungen zur Anhebung des Grundeinkommens gegenseitig überbieten könnten, um sich damit die Unterstützung der Massen zu erkaufen. Genauso wenig, wie die Festlegung des Existenzminimums heute große politische Wellen oder gar in der Öffentlichkeit hochwogende Diskussionen oder stürmische Proteste erzeugt, würde die Festlegung des Grundeinkommens zum großen Politikum werden. Und selbst wenn: Dann gehört genau diese Debatte ins Zentrum demokratischer Verfahren. Parteien können und sollen sich mit Versprechungen überbieten. Es liegt an der Bevölkerung, deren Einhaltung zu überprüfen und die daraus folgenden Schlüsse zu ziehen!
Bedingungsloses Grundeinkommen vs. Sozialstaat – Was dient dem Menschen?
In einer direkten Demokratie wie der Schweiz ist es selbstverständlich, das Volk entscheiden zu lassen, welches Paket es vorzieht: hohes Grundeinkommen und hohe Steuersätze oder geringes Grundeinkommen und geringe Steuersätze. Dass Parteien dabei mit allen Mitteln und Tricks für die ihnen am besten passende Option werben, ist weder außergewöhnlich noch anrüchig. Ein derartiger Wettbewerb um die Gunst der Bevölkerung gehört fundamental zu demokratischen Willensbildungsprozessen.
Ergänzt oder ersetzt das Grundeinkommen alles Bisherige? Bei der Frage, ob und wie weit ein Grundeinkommen den bisherigen Sozialstaat ergänzt oder ersetzt, gibt es ein breites Spektrum von Antworten. Keine davon ist die einzig richtige. Denn denkbar ist nahezu alles. Entscheiden jedoch wird der Praxistest. Wie teuer wird es, wenn ein Grundeinkommen auf das bestehende System aufgepfropft wird, und welche Steuersätze müssten zu seiner Finanzierung aufgerufen werden? Da zeigt bereits ein rascher Blick in die öffentlichen Kassen, dass ein »Sowohl-als-auch« zu Bruttosteuersätzen führen würde, die jenseits dessen liegen, was die Bevölkerung zu akzeptieren gewillt wäre. Der Anreiz, Einkommen selbst zu erwirtschaften, würde derart abgewürgt, dass dem gesamten sozialstaatlichen System die Luft ausginge. Bereits einfache, holzschnittartige Überschlagsrechnungen veranschaulichen zweifelsfrei, dass nur ein »Entweder-oder« die Akzeptanz von Wirtschaft und Gesellschaft finden kann. Das Neue muss das Alte ablösen – und das am besten kostenneutral. Ein Grundeinkommen würde den heutigen Sozialstaat zu ersetzen haben –, und zwar eher vollständig als nur in Teilen. Sollen einzelne Säulen stehen bleiben, müsste das in jedem Einzelfall überzeugend begründet und von der Bevölkerung insgesamt über Wahlen und Abstimmungen gutgeheißen werden. So verstanden, entpuppt sich das Grundeinkommen als Universaltransfer. Es bündelt in einem einzigen Instrument alle personenbezogenen staatlichen Transfers und direkten steuerlichen Belastungen. Das bedeutet konkret, dass alle steuer- und abgabenfinanzierten So-
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zialleistungen durch das Grundeinkommen ersetzt werden müssten. AHV/IV/EO, Arbeitslosenversicherung, Kinderzulage, Sozialhilfe und Wohnbeihilfen entfallen komplett, und an ihre Stelle tritt die alleinige Absicherung über das Grundeinkommen. Kranken- und Unfallversicherung könnten den heute in der Schweiz bereits bekannten und geltenden Grundprinzipien auch mit einem Grundeinkommen folgen. Es gibt nur noch private Krankenversicherungen und keine staatlichen Krankenkassen. Dabei gelten eine Grundversicherungspflicht, ein Diskriminierungsverbot (niemand darf von einem Vertrag ausgeschlossen werden) und ein Kontrahierungszwang (alle haben Anrecht auf einen Vertrag). Bei einer derart konsequenten Neuorientierung des Krankenversicherungswesens gehört zwangsläufig der notwendige Beitrag für eine Grundversicherung zum Existenzminimum. Entsprechend müssen Grundversicherungskosten bei der Festlegung der Höhe des Grundeinkommens mitberücksichtigt werden. Bei der Frage nach Teilhabe an Gesundheitsleistungen zeichnen sich viele Konflikte ab zwischen dem, was theoretisch möglich, ökonomisch machbar und moralischethisch vertretbar ist. Das gilt insbesondere bei Entscheidungen, wieweit die immensen technologischen Fortschritte der Medizin(technik) und Pharmazie allen zugutekommen sollen. Die Coronapandemie hat drastisch vor Augen geführt, wie schwierig Abwägungen werden, wenn Intensivbetten in Krankenhäuser knapp werden. Zu beantworten, wer welche Anrechte auf begrenzte medizinische Ressourcen haben soll, hat wenig bis nichts mit dem Grundeinkommen an sich zu tun. Das Grundeinkommen macht lediglich Herausforderungen transparent, die so oder so künftig zu bewältigen sein werden. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsgeld und ähnliche durch die Tarifpartner oder vertragliche Regeln zwischen Arbeitgebern und -nehmern vereinbarte Zusagen werden durch das Grundeinkommen nicht berührt. Sie bleiben weiterhin bestehen.
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Was passiert mit bisherigen Ansprüchen? Natürlich stellen viele zu Recht sogleich die Frage, was mit alten Ansprüchen ans bisherige Sozialsystem passieren soll. Um ganz klar zu antworten: Alle bisherigen Ansprüche müssten rundum respektiert und garantiert werden. Ein Rechtsstaat hat ohne Abstriche zugesagte Verbindlichkeiten vollständig zu erfüllen. Das gilt auch bei einer Abschaffung des bisherigen Sozialsystems und dem Übergang zu einem Grundeinkommen. Eine Doppelspurigkeit von altem System (das noch alte Zusagen zu erfüllen hat) und Grundeinkommen scheint schwierig und teuer zu werden. Das muss es aber nicht. Die einfachste und billigste Transformation gelingt mit einer Wahlmöglichkeit. Sie wird allen angeboten, die bereits Ansprüche gegenüber dem heutigen Sozialstaat erworben haben, also alle, die bisher schon Lohnabgaben in die Sozialversicherungen einbezahlt haben. Ihnen wird angeboten, entweder bis ans Lebensende im alten System zu bleiben und die ihnen zugesagten Ansprüche geltend zu machen. Dafür verzichten sie auf ein Grundeinkommen. Oder aber sie wechseln ins neue System. Dann verzichten sie auf eine Geltendmachung ihrer bisher erworbenen Ansprüche. Hingegen erhalten sie im Gegenzug ab sofort ein Grundeinkommen. Für wen welche Option finanziell attraktiver ist, lässt sich für jeden Einzelfall einfach feststellen. Auf der einen Seite stehen die zu erwartenden monatlichen Rentenzahlungen ab Eintritt ins Rentenalter aus dem heutigen System. Auf der anderen Seite wäre das sogleich beanspruchbare Grundeinkommen gegenzurechnen. Wer rein ökonomisch kalkuliert, müsste wählen, was mehr verspricht. Die Option des Grundeinkommens wird gezogen, wenn die sogleich bis ans Lebensende fließenden Monatszahlungen in der Summe höher ausfallen als die bisher erworbenen Rentenansprüche. Das dürfte für alle jüngeren Personen der Fall sein. Für Ältere und Alte hingegen wird das kaum zutreffen. Sie würden dann also wohl im bisherigen System verbleiben. Somit ändert sich nichts für sie. Es bleibt alles, wie es ist. Sie erhalten, wie versprochen, bis ans Lebensrente ihre Rente und kein Grundeinkommen.
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Für einige Personen in einem Übergangsalter gilt es, abzuwägen: Wollen sie lieber ab sofort ein Grundeinkommen, selbst wenn sie deswegen auf einen an sich höheren, aber erst später ausbezahlten Rentenanspruch verzichten müssten? Es sind hier ähnliche Überlegungen anzustellen, wie sie bei Lebensversicherungen gang und gäbe sind. Soll man sich für eine Einmalauszahlung oder für regelmäßige Monatsbeträge bis ans Lebensende entscheiden? Einigen kann der Spatz in der Hand lieber sein als die Taube auf dem Dach. Sie ziehen ein sogleich bis zum Lebensende zufließendes Grundeinkommen einer an sich höheren Rente vor, die sie aber erst (viel) später erhalten werden. Wer in einem fortgeschrittenen Erwachsenenalter ist, aber noch etwas Neues anfangen möchte, kann möglicherweise dank des Grundeinkommens jetzt schon und heute noch eine Veränderung finanzieren, die morgen zu einem höheren Einkommen führt. So steht im Alter insgesamt mehr Geld zur Verfügung, als allein durch die heutigen Rentenansprüche garantiert ist.
Ist das Grundeinkommen finanzierbar? Es war einer der Fehler der Volksinitiative »Für ein bedingungsloses Grundeinkommen«, die von den Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern im Juni 2016 mit einer Dreiviertelmehrheit abgelehnt wurde, die Finanzierungsseite eines Grundeinkommens nicht offensiv in der politischen Arena zur Diskussion zu stellen. Damit überließen sie den Kritikern und Gegnern das Feld. Die hatten dann einfaches Spiel, das Grundeinkommen als unfinanzierbar zu beurteilen. Die Sankt Galler Ökonomen Florian Habermacher und Gebhard Kirchgässner errechneten, dass die Finanzierung eines monatlichen Grundeinkommens von 2500 Schweizer Franken für alle Erwachsenen und 625 Schweizer Franken für alle Kinder und Jugendliche die Einkommenssteuersätze auf 41 Prozent hochschnellen ließen. Folglich kamen sie zum Schluss: »Eine Finanzierung des garantierten Grundeinkommens (ausschließlich) über die Einkommensteuer ist offensichtlich unmöglich.«
Bedingungsloses Grundeinkommen vs. Sozialstaat – Was dient dem Menschen?
Finanzierung des Grundeinkommens ist Nullsummenspiel So richtig die Berechnungen der Sankt Galler Ökonomen waren, so einseitig blieben die Folgerungen. Denn Habermacher und Kirchgässner konzentrieren sich auf die Bruttosteuersätze. Entscheidend jedoch ist die Nettobelastung. Sie ergibt sich, wenn dem Bruttosteuerbetrag das Grundeinkommen gegengerechnet wird. Und da zeigt sich ein Nullsummenspiel: Was die Bevölkerung mit der einen Hand an Steuern zahlt, erhält sie mit der anderen an Grundeinkommen zurück. Weder die Gesamt- noch die Durchschnittssteuerbelastung pro Kopf steigen jedoch. Das wissen auch Florian Habermacher und Gebhard Kirchgässner: »Dabei ist wichtig zu sehen, dass die Gesamt- bzw. Durchschnittsbelastung der Einkommen dadurch zunächst nicht steigen würde, da die Bürgerinnen und Bürger ja 2500 CHF pro Kopf vom Staat steuerfrei erhalten würden«, schreiben sie – leider etwas versteckt nur in einer Fußnote (mit der Nummer 37). Das Grundeinkommen muss nicht zwangsläufig zu einer insgesamt höheren Steuerbelastung einer Gesellschaft führen. Und deshalb sind auch immer wieder geäußerte Inflationsängste als Folge eines Grundeinkommens unbegründet. Es wird in Summe nicht mehr Staatsgeld ins System gepumpt. Lediglich die Art der Zuteilung der Kaufkraft, nicht aber die Höhe der Zuflüsse insgesamt wandelt sich. Ein einfaches Gedankenexperiment hilft, die fundamentalen Unterschiede bei der Beurteilung der Finanzierung offenzulegen. Angenommen werde, dass Sie morgens 2.000 Franken Steuern an den Fiskus zahlen. Abends erhalten Sie vom Staat 2.000 Franken auf Ihr Konto zurücküberwiesen. Wie hoch ist Ihre Steuerlast am Ende des Tages? Richtig: Null. Die morgendliche Zahlung wird durch die abendliche Rückzahlung vollständig neutralisiert. In Stufe zwei des Experiments geht es nicht allein um Sie, sondern um alle. Da soll der Staat allen in der Schweiz lebenden Personen Monat für Monat ein Grundeinkommen von 2.000 Franken ausbezahlen, was sich im Jahr auf 24.000 Franken aufaddiert. Dazu bedarf es bei einem Bevölkerungsstand von acht Millionen Personen 192 Milliarden Franken aus der Steuerkasse. Um diese Summe ausschütten zu kön-
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nen, würde nun der Fiskus im Laufe des Jahres eine Sondersteuer erheben, so dass er insgesamt 192 Milliarden Franken einzusammeln in der Lage ist. Wie hoch fällt damit die Steuerlast für die Bevölkerung insgesamt aus? Richtig: Null. Die durch die Sondersteuer (deren Sinn und Zweck ja war, damit das Grundeinkommen finanzieren zu können) um 192 Milliarden Franken gestiegene Steuerlast wird in voller Höhe als Grundeinkommen an die Bevölkerung zurückzugeben. Die gesamtwirtschaftliche Steuerbelastung wird durch ein Grundeinkommen in keiner Weise verändert. Oder anders ausgedrückt: Das Grundeinkommen ist gesamtwirtschaftlich steuerneutral und lässt sich vollumfänglich ohne Steuererhöhung finanzieren. Das Gedankenexperiment lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Finanzierung des Grundeinkommens folgt einem Nullsummenspiel. Was die Bevölkerung mit der einen Hand an Steuern zur Finanzierung des Grundeinkommens zu zahlen hat, erhält sie direkt und unmittelbar mit der anderen Hand in Form des Grundeinkommens in vollem Umfang zurück. Der Nettoeffekt für die Gesellschaft insgesamt ist ein Saldo von Null – deshalb auch der Begriff Nullsummenspiel. Weder steigen die Steuerbelastung für die Gesellschaft insgesamt noch die Durchschnittssteuerbelastung pro Kopf. Die gesamtwirtschaftliche Steuerquote bleibt netto mit oder ohne Grundeinkommen auf exakt dem gleichen Niveau. So einfach ist es, das immer wieder so provokativ vorgetragene Argument der Nicht-Finanzierbarkeit zu widerlegen.
Grundeinkommen führt zu massiver Umverteilung Was gegenüber der heutigen Situation allerdings fundamental anders aussehen würde, sind die Nettosteuerbelastungen für unterschiedliche Einkommenshöhen. Denn die Bruttosteuersätze würden je nach Ausgestaltung der Finanzierungsgrundsätze mehr oder weniger dramatisch ansteigen. Für die Besserverdienenden dürften auch die Nettosteuersätze (bei denen das Grundeinkommen dagegen gerechnet wurde) deutlich höher als heute liegen. Geringverdienende hingegen dürften netto weniger stark als bis anhin zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen müssen. Denn die meisten müssen ja nicht nur Steuern zah-
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len, sondern auf ihren Gehältern als Unselbständige auch noch Beiträge an die Sozialversicherungen entrichten. Für die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), Invalidenversicherung (IV) und Erwerbsersatzordnung (EO) sowie die Arbeitslosenversicherung (ALV) summieren sich diese Abgaben auf insgesamt 12,8 Prozent des Bruttoeinkommens. Damit zeigt sich eines ganz deutlich: Ein Großteil des Streits für oder gegen ein Grundeinkommen dreht sich um die (Um-)Verteilungseffekte. Es geht gar nicht darum, ob ein Grundeinkommen finanzierbar ist, das ist es in jedem Falle immer – und zwar ohne höhere Steuerlasten für die Bevölkerung. Viel mehr dreht sich alles um die Frage, wer finanziert was und wen? Viele Kritiker des Grundeinkommens verfolgen mit dem Argument der Unbezahlbarkeit sehr oft gar nicht das große Ganze, sondern verteidigen die Besitzstände jener, die von der bisherigen Situation profitieren.
Was bewirkt eine steigende Staatsquote? Richtig ist, dass das Grundeinkommen zu einem – gerade für die Schweiz beträchtlichen – Anstieg der Staatsquote (also den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte im Verhältnis zum BIP) führt. Nur zur Erinnerung: Die gemeinhin als wichtiger Maßstab für die Steuerbelastung der Bevölkerung herbeigezogene Fiskalquote (als Summe aller Steuern und öffentlichen Abgaben von Bund, Kantonen, Gemeinden sowie für öffentlichen Sozialversicherungen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt) wird durch das Grundeinkommen nicht verändert – das war Ergebnis des mithilfe eines Gedankenexperiments nachgewiesenen Nullsummenspiels. Es trifft zu, dass beim Grundeinkommen die Bruttosteuersätze auf Einkünfte steigen, was nach gängiger ökonomischer Lehrmeinung individuelle Leistungsanreize verringert. Beim heutigen Sozialstaat mit seinen Sozialversicherungen gilt das Prinzip »fordern bevor fördern«. Erst muss man aktiv sein und hat durch eigene Leistung Einkommen zu erwirtschaften, das dann besteuert wird und erst danach darf man unter bestimmten Bedingungen auf staatliche Unterstützung hoffen.
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Bei einem Grundeinkommen hingegen kommt »fördern bevor fordern«. Das Grundeinkommen deckt das Existenzminimum ab – einfach so. Ein ökonomisches Überleben ohne eigene Anstrengung wird möglich. Damit könnte in der Tat der Anreiz zu arbeiten so gering werden, dass in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr alles erledigt wird, was so zu tun bleibt. Oder aber, dass Arbeit so teuer wird, dass sie für manche Unternehmen und viele Kunden unbezahlbar wird. Das mag in der Tat die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft vorerst schmälern. Steigende Lohnkosten jedoch machen es attraktiver, Arbeit durch Kapital – also Menschen durch Maschinen oder Roboter – zu ersetzen. Damit steigt die Kapitalintensität und die Arbeitsproduktivität (für jene, die noch einen Job haben). Das wiederum wird in der Makroökonomik gemeinhin als unabdingbare Voraussetzung für mehr Wohlstand und höhere Löhne erkannt. Der Lohndruck nach oben müsste nämlich einen Technologieschub provozieren, der die Leistungsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft stimuliert. Dadurch dürfte längerfristig das Grundeinkommen eher positive als negative Auswirkungen auf Lohnentwicklung und auch Attraktivität der schweizerischen Volkswirtschaft ausüben. Nicht für die Schweiz aber für Deutschland wurden Simulationsrechnungen durchgeführt, die versuchten, die Effekte eines Grundeinkommens auf Arbeitsanreize und Leistungsbereitschaft abzuschätzen. Als Ergebnis zeigt sich, dass »das Arbeitsvolumen durch die Umstellung auf ein Grundeinkommen um rund fünf Prozent fällt« – so Robin Jessen, Davud Rostam-Afschar und Viktor Steiner von der Freien Universität Berlin. Interessanterweise jedoch sinkt gemäß der Studie die Bereitschaft zu arbeiten gerade nicht bei den Geringqualifizierten im untersten Einkommensbereich. Ganz im Gegenteil: Insbesondere bei Personen, die etwas dazu verdienen wollen (»Aufstockern«) steigt die Bereitschaft zu arbeiten an. Das Arbeitsangebot fällt hingegen bei allen Haushalten, die nicht von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe abhängig sind – so die Bilanz der Autoren. Offenbar ist somit – zumindest nach dem bisherigen Erkenntnisstand für Deutschland – die Angst nicht wirklich begründet, dass mit
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einem Grundeinkommen als Grundabsicherung niemand mehr arbeiten geht. Vielmehr lautet die Schlussfolgerung der Forscher von der Freien Universität Berlin: »Es ist schwierig, das deutsche Steuer- und Transfersystem so zu reformieren, dass die Arbeitsanreize für einkommensschwache Haushalte verbessert werden, ohne das Gesamtarbeitsangebot zu verringern und die Haushaltsneutralität zu verletzen. Allerdings sind aggregierte Wohlfahrtsverbesserungen möglich durch eine stärkere Umverteilung an Haushalte mit niedrigem Einkommen und mit Kindern. Eine Flat-Tax mit bedingungslosem Grundeinkommen kann diese Ziele für Deutschland erreichen.« Diesem finalen Urteil ist wenig bis nichts hinzuzufügen. Auch wenn selbstverständlich höchst spekulativ bleibt, wieweit Erkenntnisse aus Deutschland auch für die Schweiz Gültigkeit haben, sprechen bisherige Einsichten eher für und nicht gegen ein Grundeinkommen.
Grundeinkommen als Steuerreform Der irrige Vorwurf der Nicht-Finanzierbarkeit offenbart, dass das Grundeinkommen im Wesentlichen eine große Steuerreform darstellt. Deshalb genügt es eben nicht, nur ein Grundeinkommen zu fordern, oder zu kritisieren, ohne gleichzeitig nicht auch aufzuzeigen, durch welche Quellen es finanziert werden soll. Denn nur wenn beide Seiten, das Grundeinkommen UND seine Finanzierung offengelegt wird, wird transparent gemacht, wer wen und was finanziert und wie sich am Ende und in Summe für Einzelne die Nettosteuerbelastung mit oder ohne Grundeinkommen darstellt. Genau aus dem Grund muss mit einem Grundeinkommen auch das Steuersystem ganz grundsätzlich geändert werden. Wechselt man diametral den Fokus der Besteuerung und Abgabenbelastung von den Löhnen auf die gesamte Wertschöpfung, wird die Finanzierbarkeit eines Grundeinkommens realistischer. Anstelle einer langen theoretischen Vorstellung des Prinzips einer Wertschöpfungssteuer soll nun deren Funktionsweise konkret am Schweizer Beispiel erläutert werden.
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Ein konkretes Grundeinkommensmodell für die Schweiz Ausgehend von den bisherigen eher abstrakten Überlegungen, soll nun ein ganz konkretes Grundeinkommensmodell für die Schweiz vorgestellt werden. Dabei bilden die angeführten Frankenbeträge grobe Überschlagsrechnungen ab. Sie sollen Größenordnungen darstellen, um die grundsätzlichen Kosten, Finanzierungsaspekte und Wirkungsweisen eines Grundeinkommens zu veranschaulichen, das über eine Wertschöpfungssteuer finanziert wird. Angenommen wird, •
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dass an alle – also Kinder genauso wie Erwachsene – ein Grundeinkommen von monatlich 2.000 Franken und somit jährlich 24.000 Franken überwiesen wird; dass von den 8,67 Millionen Menschen, die Anfang der 2020er Jahre in der Schweiz leben, die Hälfte der Ausländerinnen und Ausländer bereits lange genug in der Schweiz arbeiten und wohnen, um auch in den Genuss des Grundeinkommens zu kommen (was bei einer Gesamtanzahl von 2,21 Millionen Ausländerinnen und Ausländern bedeutet, dass 1,1 Millionen davon anspruchsberechtigt sind); dass somit jährlich für das Grundeinkommen ein Betrag von 181,6 Milliarden Franken aus der Staatskasse zu finanzieren ist (nämlich 24.000 Franken für 7,56 Millionen Personen); dass das Grundeinkommen den heutigen Schweizer Sozialstaat komplett ersetzt. Gemäß den Angaben des Bundesamts für Statistik zu den Staatsausgaben nach Aufgabenbereichen ließen sich damit Staatsausgaben von jährlich 94 Milliarden Franken einsparen (nämlich 47 Milliarden beim Alter, 21 Milliarden bei Krankheit und Invalidität, sieben Milliarden bei der Arbeitslosigkeit, vier Milliarden bei Familie und Kinder, zwei Milliarden bei den Hinterlassenen und zwölf Milliarden für alle übrigen sozialen Hilfen und das soziale Wohnungswesen); dass alle übrigen Staatsaktivitäten wie bis anhin auch bestehen bleiben. Dafür gaben die öffentlichen Haushalte von Bund, Kantonen, Gemeinden im Jahr 2019 konsolidiert 144,1 Milliarden Franken aus (der Betrag errechnet sich aus den Angaben des Bundesamts für
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Statistik zu den Ausgaben der öffentlichen Haushalte, 2019, die insgesamt 237,8 Milliarden Franken betrugen, von denen die Ausgaben für den Sozialstaat von 93,7 Milliarden abgezogen wurden); dass somit ein Grundeinkommen die Staatsausgaben insgesamt von heute 237,8 Milliarden Franken auf 325,7 Milliarden Franken ansteigen ließen (nämlich 144,1 Milliarden Franken für die Staatsaufgaben ohne den Sozialstaat plus die 181,6 Milliarden Franken für das Grundeinkommen als Ersatz für die bisherigen sozialstaatlichen Ausgaben der öffentlichen Haushalte).
Wäre der durch die Gewährung eines Grundeinkommens verursachte Anstieg der Staatsausgaben um 87,8 Milliarden Franken (von heute 237,8 Milliarden Franken auf neu 325,7 Milliarden Franken) finanzierbar? Nein, wenn man am heutigen Steuersystem festhält, aber ja, wenn man den Fokus der Besteuerung ändert und anstatt so wie heute vor allem Arbeitseinkommen künftig alle Einkünfte gleichermaßen in die Steuerpflicht nimmt.
Wertschöpfungssteuer als Finanzierungsquelle Als Beleg »pro Finanzierung« eines Grundeinkommens mag erneut eine holzschnittartige Überschlagsrechnung dienen: •
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Die gesamte in der Schweiz geschaffene Bruttowertschöpfung erreichte im Jahr 2019 727,2 Milliarden Franken (dieser Betrag entspricht den Angaben des Bundesamts für Statistik zum Produktionskonto, aus dem sich ein Bruttoinlandprodukt ergibt, das im Wesentlichen den Bruttoproduktionswert von 1,5 Billionen Schweizer Franken um Vorleistungen von 800 Milliarden Franken bereinigt); Um die durch die Gewährung eines Grundeinkommens benötigten Staatsausgeben von insgesamt 325,7 Milliarden Franken finanzieren zu können, müsste die Bruttowertschöpfung mit einem Steuersatz von rund 45 Prozent belastet werden (325,7 Milliarden Franken Staatseinnahmen lassen sich dann erzielen, wenn die Bruttowert-
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schöpfung von 727,2 Milliarden Franken mit 44,8 Prozent besteuert werden). Damit stellt sich als Erstes die Frage, ob ein Steuersatz von 45 Prozent von der Bevölkerung mitgetragen wird. Hier nun wird ein fundamentaler Punkt wesentlich: beim Steuersatz von 45 Prozent handelt es sich um einen Bruttosteuersatz. Um zur tatsächlichen Nettobesteuerung zu kommen, muss das Grundeinkommen gegengerechnet (also von den Bruttosteuern abgezogen) werden. Was das in der Praxis nun tatsächlich bedeutet, sollen nun für verschiedene Bruttoeinkommen die Nettoeinkommenssteuersätze dargestellt werden. Ausgegangen sei davon, • •
dass das Grundeinkommen jährlich 24.000 Franken betrage und der Bruttosteuersatz auf alle Einkünfte 50 Prozent sei (das ist sogar etwas höher als es die Überschlagsrechnungen für die Schweiz vermuten lassen; aber er macht die Berechnungen einfacher und damit transparenter nachvollziehbar).
Für unterschiedliche Einkommenshöhen ergeben sich aus den Annahmen die in Tabelle 1 wiedergegebenen Nettosteuersätze: Es zeigt sich, dass der Nettosteuersatz gerade für Personen mit einem geringen Bruttoeinkommen deutlich niedriger ausfällt als die für alle gleich hohen Bruttosteuersätze von fünfzig Prozent. Für Menschen, die nichts oder nur wenig verdienen, wird er sogar (stark) negativ. Das bedeutet, dass in diesen Fällen das vom Staat überwiesene Grundeinkommen höher liegt als die an den Staat abgeführten Steuerzahlungen. Ab einer Bruttoeinkommenshöhe von 48.000 Franken liegen die Nettosteuersätze im positiven Bereich. Und mit weiter steigendem Bruttoeinkommen steigen die Nettosteuersätze auch weiter an – bis sie rund ein Viertel ab einem Bruttoeinkommen von 100.000 Franken, ein Drittel ab einem Bruttoeinkommen von 150.000 und zwei Fünftel ab einem Bruttoeinkommen von 250.000 Franken erreichen. Für ganz hohe Einkommen nähern sich die Netto- den Bruttosteuersätze an (was sich dadurch erklären lässt, das für ganz hohe Bruttoeinkommen die Korrektur des Grundeinkommens relativ immer weniger ins Gewicht fällt).
0
0
24.000
24.000
-24.000
stark negativ
Bruttoeinkommen in Franken
minus 50 % Bruttosteuern in Franken
plus Grundeinkommen in Franken
= Nettoeinkommen in Franken
Nettosteuerlast in Franken
Nettosteuersatz
-50 %
-12.000
36.000
24.000
12.000
24.000
0 %
0
48.000
24.000
24.000
48.000
Tabelle 1: Nettosteuersätze bei ansteigender Einkommenshöhe
26 %
26.000
74.000
24.000
50.000
10.0000
34 %
51.000
99.000
24.000
75.000
150.000
38 %
76.000
124.000
24.000
100.000
200.000
40 %
101.000
149.000
24.000
125.000
250.000
45 %
226.000
274.000
24.000
250.000
500.000
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Erkennbar wird auch, dass wer brutto besser verdient netto auch mehr Steuern bezahlt. Zudem steigt der Nettosteuersatz mit zunehmendem Bruttoeinkommen – der Nettosteuersatz ist mithin progressiv. Damit wird eine Gerechtigkeitsforderung erfüllt: breite Schultern tragen in absoluten Beträgen und auch relativ (in Prozentsätzen ausgedrückt) schwerere Lasten als die schmaleren Schultern der weniger gut Gestellten.
Wie ändert sich der Nettosteuersatz durch ein Grundeinkommen? Für viele Personen dürften die Nettosteuersätze, wenn überhaupt, so nur unwesentlich höher liegen als es heutzutage der Fall ist. Nimmt man die von der Eidgenössischen Steuerverwaltung zur Verfügung gestellte Berechnungsgrundlage zum Vergleich zeigt sich, dass (gemäß Angaben der Eidgenössischen Steuerverwaltung) die Steuerpflicht bei einem Bruttoeinkommen zwischen 8.470 Franken im Kanton Appenzell Innerrhoden und 27.010 Franken im Kanton Basel-Stadt (und dass die direkte Bundessteuer ab 23.255 Franken) einsetzt. Bis zu einem Bruttojahreseinkommen von 50.000 Franken liegen die zur Finanzierung eines Grundeinkommens notwendig werdenden Nettosteuersätze in allen Kantonen unterhalb der aktuell geltenden Einkommenssteuersätzen. Danach divergiert das Bild je nach Kanton. Tabelle 2 stellt die heutzutage jeweilig steuergünstigsten und steuerungünstigen Kantone zu den Nettosteuersätzen mit einem Grundeinkommen gegenüber (alle Berechnungen der nachfolgenden Steuersätze wurden mit der von der Eidgenössische Steuerverwaltung online zur Verfügung gestellten Steuerbelastungsstatistik vorgenommen). Wer in der Schweiz Vollzeit arbeitet und durchschnittlich verdient, erreichte 2018 ein Bruttoeinkommen von rund achtzigtausend Franken (nach Angaben des Bundesamts für Statistik zu Löhnen, Erwerbseinkommen und Arbeitskosten beträgt der genaue Medianwert 78.500 Franken). Dafür würde im steuergünstigsten Kanton ein Nettosteuersatz von fünf Prozent fällig, im schlechtesten Fall wären es achtzehn Prozent. Würden anstatt Einkommenssteuern eine Wertschöpfungssteuer zur Finanzierung eines Grundeinkommens erhoben,
50.000
3 %
13 %
2 %
Bruttoeinkommen ledig, ohne Kinder
Nettosteuersatz minimal ledig, ohne Kinder
Nettosteuersatz maximal ledig, ohne Kinder
Nettosteuersatz mit Grundeinkommen
10 %
15 %
4 %
60.000
20 %
18 %
5 %
80.000
26 %
20 %
7 %
100.000
Tabelle 2: Nettosteuersätze mit Grundeinkommen im Vergleich zu heutigen Nettosteuersätzen ohne Grundeinkommen
34 %
25 %
10 %
150.000
38 %
29 %
12 %
200.000
40 %
31 %
14 %
250.000
45 %
36 %
18 %
500.000
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käme für ein Bruttoeinkommen von 80.000 Franken in der ganzen Schweiz und für alle Einkünfte gleichermaßen ein Nettosteuersatz von zwanzig Prozent zur Anwendung. Das heißt, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer mit höheren Nettoeinkommenssteuern als heute belastet würden. Allerdings muss dieser flüchtige Blick auf die Nettosteuerbelastungen noch um die Beiträge an die Sozialversicherungen korrigiert werden. So werden für die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) 8,7 Prozent, für die Arbeitslosenversicherung 2,2 Prozent (für Einkommensteile bis 148.200 Franken und von einem Prozent für Einkommensteile über 148.200 Franken), für die Invalidenversicherung 1,4 Prozent, für die Erwerbsersatzordnung 0,5 Prozent fällig. Insgesamt ergibt sich dadurch eine zusätzliche Abgabenbelastung für Bruttolöhne in Höhe von 12,8 Prozent. Sie würde mit einem Grundeinkommen komplett entfallen. Denn das Grundeinkommen tritt anstelle der bisherigen Sozialversicherungen und macht deren Finanzierung hinfällig. Dabei ist eines wichtig: Was als paritätische Finanzierung hoch gehandelt wird, ist im Endeffekt immer eine einseitige Sache. Ob der Arbeitgeber seinen Teil der Sozialversicherungsbeiträge auf ein Konto der Sozialkassen oder direkt auf das Konto von Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmern ausbezahlt, ändert rein gar nichts daran, dass es für ihn Kosten sind, die durch Ansprüche der Beschäftigten entstehen. Oder kurz gesagt: es ist immer das Geld der Beschäftigten – selbst, wenn es auf die Konten der Sozialversicherung fließt. Es sind immer die Arbeitgeber, die 100 Prozent zahlen und sind immer die Beschäftigten, die die Sozialversicherungen zu 100 Prozent finanzieren. Nun offenbart Tabelle 3, dass für die meisten Erwerbstätigen die heutige Gesamtbelastung von Steuern und Beiträgen zu den Beitragsversicherungen gegenüber einem System mit einem Grundeinkommen relativ ähnlich wird. Bis zu einem Bruttojahreseinkommen von deutlich jenseits von 100.000 Franken dürften die Nettoeinkommen durch die Einführung eines Grundeinkommens in den meisten Kantonen gegenüber der heutigen Situation nicht geschmälert werden.
50.000
15 %
25 %
2 %
Bruttoeinkommen ledig, ohne Kinder
Nettosteuersatz minimal plus Beiträge zu Sozialversicherungen
Nettosteuersatz maximal plus Beiträge zu Sozialversicherungen
Nettosteuersatz mit Grundeinkommen
10 %
27 %
16 %
60.000
20 %
30 %
17 %
80.000
26 %
32 %
19 %
100.000
Tabelle 3: Nettosteuersätze mit Grundeinkommen im Vergleich zu heutigen Nettosteuerbelastungssätze (Steuern plus Beiträge zu Sozialversicherungen) ohne Grundeinkommen
34 %
37 %
22 %
150.000
38 %
40 %
23 %
200.000
40 %
42 %
25 %
250000
45 %
47 %
29 %
500.000
Bedingungsloses Grundeinkommen vs. Sozialstaat – Was dient dem Menschen? 95
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Nur wer deutlich besser verdient und Einkünfte von über 150.000 Franken erzielt, wird durch die Einführung eines Grundeinkommens wesentlich mehr Steuern bezahlen müssen und durch spürbar höhere Nettosteuersätze belastet werden. Vor allem jedoch würden jene Einkünfte in besonderem Maße höhere Steuern als heute den Fiskus speisen müssen, die jenseits des Arbeitseinkommens entstehen. Eine Vielzahl von Steuerprivilegien und Steuerschlupflöchern für die Einkünfte aus Vermögen würde steuerlich genauso belastet, wie Löhne und Gehälter. Das entspricht nicht nur einer Forderung nach Steuergerechtigkeit. Es passt auch in eine Zeit eines »Kapitalismus ohne Kapital« (so ein provokanter Buchtitel), in der Humankapital wichtiger wird und Sachkapital an Bedeutung verliert. Richtig ist und Knackpunkt bleibt, dass durch ein Grundeinkommen die Staatsquote in die Höhe schießen würde. Bei Staatsausgaben von heute 237,8 Milliarden Franken und einem Bruttoinlandprodukt von 727,2 Milliarden errechnet sich für 2019 eine Staatsquote von einem Drittel (nämlich 32,7 Prozent) – was im europäischen Vergleich mit Ausnahme Irlands deutlich weniger ist als anderswo in Europa. Mit einem Grundeinkommen würde die Staatsquote auf 45 Prozent hochschießen. Das würde in der Tat die Frage aufwerfen, wie weit die Bevölkerung bereit wäre, diesen Anstieg mitzutragen.
Fazit Die Zeit ist reif für eine fundamentale Reform des Sozialstaates: Weg von einem System, das einseitig auf die Interessen der heutigen Generation ausgerichtet ist, hin zu einem Modell, das dem Menschen und insbesondere den Kindeskindern dient. Der demografische Wandel einer – erfreulicherweise – immer älter werdenden Bevölkerung, der nicht im genügenden Ausmaß junge Generationen nachfolgen, um alle zu ersetzen, die aus dem Erwerbsleben ausscheiden, schreit nach Änderungen, um kommende Generationen nicht durch stetig weitersteigene Rentenbeiträge über Gebühr zu belasten. Der gesellschaftliche Wandel wird dazu führen, dass zu viele alleinerziehende Frauen von
Bedingungsloses Grundeinkommen vs. Sozialstaat – Was dient dem Menschen?
heute zur Altersarmut von morgen werden. Und der durch die Digitalisierung ausgelöste strukturelle Wandel erzwingt eine Abkehr von einer Finanzierung der Sozialversicherungen über Arbeitslöhne hin zu einer Steuerfinanzierung, die auch die Wertschöpfung der Automaten, Roboter, Algorithmen und der künstlichen Intelligenz in die Solidarpflicht miteinbezieht. Mit Digitalisierung, demografischem und strukturellem Wandel schlägt die Stunde eines Sozialstaatsmodells, das Menschen immer wieder von Neuem ermächtigt, sich anzupassen und neu anzufangen, um mit den vielfältigen Veränderungen mithalten und neuen Anforderungen gerecht werden zu können. Gebrochene Lebensläufe sollten nicht als Ausnahme, sondern als Regel und berufliche Neuorientierung nicht als Bedrohung, sondern als Notwendigkeit behandelt werden. Anpassungen sollten nicht gebremst, sondern gefördert werden, genauso wie es bei sozialpolitischen Maßnahmen eher um die stete Beschäftigungsfähigkeit und weniger um das Bewahren der aktuellen Beschäftigung an sich gehen sollte. Es ist phantasielos zu argumentieren, dass man im Zeitalter der Digitalisierung und Automatisierung, der Roboter, dem Internet der Dinge und der künstlichen Intelligenz ein Sozialsystem benötigt, das Menschen zum Arbeiten zwingt. Die Digitalisierung macht es möglich, oder muss es möglich machen, Menschen in ihrer unantastbaren Würde vor physischer und psychischer Versehrtheit zu schonen, und sie in der frei gewordenen Zeit für bessere und weniger strapaziöse Jobs weiter auszubilden. Es muss alles, was möglich ist, getan werden, damit Menschen bei allem, was sie tun, körperlich und auch geistig gesund und unversehrt bleiben und nicht durch ihre Erwerbstätigkeit krank, ausgebrannt oder sogar nachhaltig geschädigt werden. Der Mensch ist ökonomisch zu wertvoll, um ihn gefährliche, riskante und gesundheitsschädigende Arbeiten machen zu lassen und ihn dann Jahrzehnte bis zum Lebensende krank durch den Sozialstaat durchzuschleppen. Das ist in der Tat eine Privatisierung der Arbeitserträge und eine Sozialisierung der Folgekosten. Das kann weder ökonomisch effizient noch gesellschaftlich akzeptabel sein.
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Das Grundeinkommen folgt einem positiven Menschenbild. Es setzt auf Leute, die motiviert sind, etwas zu leisten. Denn die Zukunft der Schweiz hängt von den Leistungswilligen und -fähigen ab. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Firmen und damit das gesamtwirtschaftliche Wohlstandsniveau werden durch die Kreativen, die Innovativen und die Leistungsträger bestimmt. Sie müssen genauso gefördert werden, wie die Schwächeren gegen Not und Elend abzusichern sind. Nicht alle werden die sich bietenden Möglichkeiten eines bedingungslosen Grundeinkommens nutzen. Aber wenigstens sollten die neuen Chancen, allen offenstehen. Genau deswegen dient das Grundeinkommen dem Menschen – und zwar allen, immer wieder von Neuem.
Quellenverzeichnis Nachfolgend werden einzig die beiden im Text explizit zitierten Quellen aufgeführt: Habermacher, Florian/Kirchgässner, Gebhard (2016): »Das bedingungslose Grundeinkommen: Eine (leider) nicht bezahlbare Idee«, Discussion Paper No. 2016–07, April 2016, Universität St. Gallen, h ttps://www.researchgate.net/publication/301788563_Das_bedingu ngslose_Grundeinkommen_Eine_leider_nicht_bezahlbare_Idee. Jessen, Robin/Rostam-Afschar, David/Steiner, Viktor (2015): »Getting the Poor to Work: Three Welfare Increasing Reforms for a Busy Germany«. Discussion Paper No. 2015/22, 20. Juli 2015, Freie Universität Berlin, https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fu b188/19582/discpaper2015_22.pdf?sequence=1&isAllowed=y. Alle weiteren den Überlegungen zugrunde liegenden Quellen werden genannt in: Straubhaar, Thomas (2021): Grundeinkommen jetzt! – Nur so ist die Marktwirtschaft zu retten, Basel.
Über das Unmögliche: Nachhaltiger ethischer Konsum Ein Essay Birger P. Priddat
Ethischer Konsum – ein Selbstbetrug? »Ich kaufe keine billigen T-Shirts, weil ich die Ausbeutung von unterbezahlten Frauen in Bangladesh nicht unterstützen möchte.« Aussagen dieser Art sind Aussagen über ›moralischen Konsum‹; es gibt dafür zahlreiche Beispiele, z.B. »Ich kaufe keine Orangen von israelischen Siedler-Kibbuzim, die auf palästinensischem Boden unrechtmäßig angebaut werden«. Es gibt viele Beispiele, auch positiv klingendere: »Ich kaufe ›fairen‹ Kaffee, weil die Kleinbauern daran mehr verdienen und nicht durch Großhändler um ihren Gewinn betrogen werden.« Moralischer Konsum heißt: Man verzichtet auf seine gewöhnlichen Kaufneigungen, weil man nicht ›mitschuldig‹ werden will an den menschenrechtsverletzenden, unökologischen etc. Handlungen der Produzenten. Man opfert seine Kaufneigungen. Ökonomisch relevant wird der ›moralische Konsum‹ für die Hersteller, wenn der Boykott tatsächlich die Nachfrage senkt. Im dafür berühmt gewordenen ›Brent Spar‹-Fall von Shell sank die Nachfrage nach Benzin tatsächlich für ein paar Wochen. Im AEG-Elekrolux-Fall brach 2006 die Nachfrage um ein Fünftel ein (Solidaritäts-Boykott wegen Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Osteuropa. Ähnlich im Nokia-Fall 2008). Im Diesel-VW-Fall (2015) weiß man nur für die USA von Nachfrageeinbrüchen. Man weiß noch nicht, ob dabei das öko-morali-
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sche Moment überwiegt, oder eher die Enttäuschung über die technische Minderwertigkeit (die den Wiederverkaufswert senkt). Wir haben zwischen einer effektiven Moral und einem symbolischmoralischen Gestus zu unterscheiden. Der effektive moralische Konsum kann tatsächlich Nachfrageänderungen herbeiführen, die die Konzernleitung um ihren Marktanteil fürchten lassen. Tatsächlich aber verzichtet kein VW-Kunde auf den Konsum von Autos, sondern gibt nur seine Markentreue auf. Was für den Anbieter schwerwiegende Konsequenzen haben kann, ist für den Nachfrager ein relativ unproblematischer Schwenk auf ein Substitut ähnlicher Qualität, z.B. auf das Auto der Marke Toyota. Das Konsum-Opfer ist nicht erheblich (low cost moral). Dafür aber hat man seinen Mitmenschen gezeigt, dass man selbst ein moralischer Mensch ist. Wir handeln gar nicht effektiv moralisch, sondern markieren uns als moralisch (wenn auch lediglich deklamatorisch).
Moralische Zyklen Es gibt keine Garantie, dass jemand, der gestern israelische Produkte zu kaufen verweigerte, weil er moralisch gegen die Palästinenser- bzw. Siedlungspolitik Israels ist, diese Position wertstabilisiert über die Zeit durchhält; heute fokussiert er seinen moralischen Konsum schon auf das Problem holländischen, molekulargenetisch hergestellten Salates, morgen auf türkische Pistazien, weil er das Land in eine Diktatur sich verwandeln sieht etc. Wir haben es mit rotierenden moralischen Gründen zu tun, die nur bedingt stabil bleiben. Ein gehöriger Teil des moralischen Konsums folgt Medienereignissen. Schweigen die Medien, gibt es für den moralischen Konsumenten keinen Grund mehr, auf dem Boykott israelischer Waren zu beharren. Das hat folgenden Grund: Das eigene moralische Handeln lohnt dann nicht mehr, wenn andere es nicht mehr beobachten, weil die Aufmerksamkeit auf ein neues mediales Ereignis gelenkt wurde. Moralischer Konsum hält gewöhnlich für maximal ein paar Wochen, Monate an. Danach wendet er sich anderen Objekten zu.
Über das Unmögliche: Nachhaltiger ethischer Konsum
Die Einstellung zum ›moralischen Konsum‹ entspringt ja keiner grundlegenden persönlichen Wertehaltung, sondern ist ein medial erzeugtes Aufmerksamkeitsereignis, das die moralische Energie auf bestimmte Objekte lenkt, die bald vergessen werden, weil anderes interessanter bzw. skandalöser werden. Es ist eine flottierende AlarmMoral von begrenzter Intensität. Wenn man dann nichts mehr von ›dem Fall‹ hört, handelt man so, als ob die Sache behoben wurde (und kauft wieder diese Produkte). Moralischer Konsum hat in vielen Fällen keine Nachhaltigkeit. Moralische Einstellungen bleiben so lange inaktiviert, solange sie sich nicht in irgendwelchen spezifischen moralischen Konsumkommunikationen niederschlagen. Moralisch sind wir häufig durchaus opportunistisch. Unsere moralischen Einstellungen bleiben im Alltagsgeschehen latent, werden nur ab und an aktiviert. Weil wir gewöhnlich moralisch inaktiv sind, ›explodiert‹ unsere Moralität bei sozial gerechtfertigten Anlässen. Gleichsam als Ausgleich für die sonst vorherrschende moralische Inaktivität: Wir treten dann moralischer auf, als es vielleicht angemessen ist, um unsere moralische Bilanz auszugleichen (um uns selbst und anderen zu zeigen, dass wir im Grunde moralisch sind, auch wenn wir es alltäglich kaum zeigen). Der moralische Anspruch bestimmt nicht notwendig das eigene Verhalten (wenn wir die T-Shirts, die in Bangladesch angefertigt werden, dennoch kaufen, weil sie ›billig‹ sind). Moralischer Konsum ist meistens Konsum von Moral, wie Wolfgang Ullrich (2013) es auf eine Formel bringt. Das ist die Einflugschneise für moralisch temperierte Marktangebote, die in letzter Zeit zunehmen. Denn wenn moralischer Konsum meistens Konsum von Moral ist, sind die als moralisch einwandfrei deklarierten Produkte – ob ›Bio‹, ›fair‹, ›Öko‹ etc. – die einfachste Lösung, die individuelle moralische Bilanz wieder auszugleichen. Moralischer Konsum beruht dann nicht auf eigenen Konsumurteilen, sondern wird geliefert: moral delivery. Die meiste Moral in der Wirtschaft wird inzwischen moralisch bedient: durch moralisch markierte Produkte (bis hin in green finance).
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Der oft beschworene moralische Konsum ist längst durch Formen der ästhetischen Verpackung, des product designs und der kollektiv bewerbenden Instanzen der social media überlagert. Die Einsichten in die ethische Tierhaltung z.B. aber senken die Fleischproduktion nicht. Da wir keine beständigen Moralen haben, ist die Bezeichnung ›moralisches Produkt‹ nur eine Verführung, an die (Anbieter-)Moral zu glauben, weil wir keine eigene haben. Sonst würden wir ja selbst bereits – unabhängig von den moralia der Werbung – anders konsumieren. Die Behauptung, moralische Güter anzubieten, ist für den Konsumenten nicht wirklich überprüfbar, aber hilft, sein Begehren durch moralische Zertifizierung zu legitimieren. Das labeling ›moral good‹ reicht, um Produkte zu kaufen, deren moralische Qualität letztlich nicht interessiert, da man das ›gute Gewissen‹ bereits mitgekauft hat (z.B. ›green washing‹). Das Ethische, wo es sich so vielfältig gerade im Marketing zeigt, nährt sich von den schwachen moral conditions des Alltagslebens, und suggeriert ethische Bedeutung, wo wir es nur mit einer ethisch leeren Nomologie zu tun haben. Die Behauptung von moral conduct reicht aus, weil die Durchsetzung desselben vielerlei Interessen berührt: so konsequent war das nun doch nicht gemeint. Das Ethische ist heute vielfältig ein Kommunikationsereignis; gerade viele Firmen fühlen sich genötigt, dergleichen zu kommunizieren. Und für die Konsumenten dient es dazu, sich ein gutes Gewissen zu machen. Die Wirksamkeit von moralischen Ereignissen wird kaum überprüft. Es ist eher kalmierende Rede als tatsächliches ethisches Handeln, aber die ethischen Assertationen signalisieren den Kunden ein gewisses mentales Milieu. Im Konsum hat sich die industrielle Massenproduktion längst diversifiziert, bis hinein in die neue Dimension der individuellen Zumessung von Angeboten und Gütern durch rekursive Big-Data-Ökonomie. Die persönliche Adressierung – aus statistischen Daten gewonnen – wirkt als positive Ansprache, d.h. der Markt nutzt das, was sonst nur die Gesellschaft geben kann, Anerkennung: Der Konsument wird als besonderes Wesen identifiziert, das es wert ist, individuell, d.h. spezifisch bedient zu werden. Es mischen sich die klassischen Transaktionen, in der Ware gegen Geld geliefert wird, mit sozialen Anerkennungsriten.
Über das Unmögliche: Nachhaltiger ethischer Konsum
Denn individuell angesprochen zu werden simuliert eine persönliche Relation, die die allgemeine Werbung nicht erreicht. Hier ändert sich das Verhältnis von Kunde und Markt signifikant. Wenn die Werbung gezielt persönliche Habitus und Präferenzen anspielt, wird die Neigung zunehmen, dankbar zu sein für Angebote, die so fokussiert auftreten, dass man den Eindruck hat, die Anbieter kennen einen besser als man sich selbst. Das klingt nach einer impliziten Ethik. Das Ethische wird wiederum strategisch aufgegriffen, wenn Firmen der netzaffinen Jugend mit ultraprogressiver Werbung suggerieren wollen, dass sie auf der richtigen Seite stehen: sie geben sich eine »fortschrittliche Benutzeroberfläche« (so der Soziologie Tom Jurvich, zit. in: Pfister 2021). Wir befinden uns längst in Prozessen der moralischen Prädikation von Gütern. Damit meine ich nicht nur solche Phänomene wie ›moralischer Konsum‹, sondern die Tatsache, dass Güter auf Märkten angeboten werden, die in der Werbung und in der allgemeinen Kommunikation als moralisch qualifiziert ausgewiesen werden. Ob es durch Verweise auf Ökostandards, Gesundheitswerte, faire trade, Nachhaltigkeit etc. geschieht oder direkt als moral commodity beworben wird, ist erst einmal sekundär. Natürlich geschieht diese moralische Prädikation nicht selbstlos, sondern um Umsatz und Absatz zu erhöhen. Aber faktisch werden Konsumenten für ihre moralischen Einstellungen bedient, indem sie Güter offeriert bekommen, die ihnen moralische Zweifel an Produkten (und Produktionsweisen [z.B. Kinderarbeit, Ausbeutung etc.]) nehmen sollen. Es geht nur z.T. um eindeutige moralische Positionierungen, sondern mehrstenteils um moralische Einbettungen von Konkurrenzprodukten, die darüber höhere Aufmerksamkeit und Akzeptanz gewinnen sollen. Für die moralischen Menschen ergibt sich eine neue soziale Dimension: Sie werden nicht mehr als moral actors im klassischen Sinne angesprochen, nämlich individuell oder en collectif moralische Entscheidungen zu treffen, sondern die Moral wird als marktliches Angebot geliefert. Diese moral delivery enthebt sie vieler moralischer Entscheidungen, indem sie sich durch den Kauf in moralische Semantiken einklinken können, ohne selbst eigene (auch moralische) Urteilssemantiken ausprägen zu müssen. Man mindert, mit der gelieferten moralischen Be-
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deutung der Produkte, den moral stress. Nur dass sich die Bedeutung des moral behaviour ändert: Es sind keine Anforderungen an individuelle moralische Entscheidungen mehr, sondern Ausleihen woanders ›gefertigter‹ moralischer Bedeutungen oder genauer: von moral patterns. ›Moral patterns‹ deshalb, weil sie so ›gefertigt‹ sein müssen, dass möglichst viele Konsumenten sie akzeptieren (auch gerade solche, die nicht als moral men in Erscheinung treten, aber punktuell moralischen Konsum für angemessen halten). Im Grunde befinden wir uns hier in contagionProzessen: In sozialer Ansteckung, die es sozial erlaubt, sich auf bestimmte moralische Diskurse einzulassen, weil sie gesellschaftlich sowieso im Trend sind (ökologische, gesundheitsbewusste, körpervitalisierende, nahrungsmittel-selektive, fair pricing, Kinderarbeit mindernde, tierschützende, nachhaltige, humane etc.). Moral wird in diesem Nexus weder vernünftig noch ethisch gefasst, sondern als fait social, dem sich die Akteure anschließen, weil sie es als passenden Ausdruck ihres beobachtbaren Verhaltens empfinden. Sie passen sich der Moral an, die diskursiv vorherrscht – eine Form des moral opportunism (aus ethischer Sicht). Aber zugleich eine Form von Moral, die wirtschaftlich wirksam wird, oft als komplexe Kombination verschiedener Werte und Einstellungen: Das Kaufverhalten von Nahrungsmitteln beeinflusst die Werte: nachhaltig, gesellig, gesund, Genuss, bequem, preisbewusst, korreliert mit den Einstellungen: bio, fair trade, günstig, Frische (convenience), Fertigerichte, light – als Beispiele eines Kriterien-Nexus. Die Moral ist in verschiedene Werte/Einstellungen eingebaut. D.h. heterogen fraktioniert und in der Kombination latent instabil. Kommunikativ neu eingespielte Topoi: regional, religiöse Tabus, Phobien (Zucker, Fett etc.) ändern den Nexus (des Werte- und Einstellungshybrids).
Über das Unmögliche: Nachhaltiger moralischer Konsum »Ich geh’ mal schnell einkaufen«. So ungefähr leben wir. Das klingt harmlos, aber etwas schnell erledigen zu wollen heißt ›eigentlich keine Zeit dafür zu haben‹. Das Einkaufen wird zum Durchlauf für etwas, was wir stattdessen noch gar nicht wissen, wofür. Wir
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›sparen Zeit‹ für Etwas, von dem wir erwarten, dass es lustvoller sein könnte als das je Notwendige? ›Zeit sparen‹ heißt: ›mehr Zeit zu haben‹ für etwas, was wir noch nicht kennen. Und auch noch nicht wissen, ob es sich lohnt. Vieles von dem, was wir gerade tun, wollen wir schnell hinter uns bringen, weil es uns ›nichts bringt‹. Aber von der Zukunft erwarten wir ›Besseres‹. Wieso wird sie besser sein? Was bilden wir uns ein erwarten zu dürfen, wogegen das, was uns gerade geschieht, ›schlechter‹ sein könnte? Was fehlt uns an der Gegenwart? Die nächste. Internetfirmen machen daraus ein Gesellschaftsprogramm: billiger und schneller. »Die Leerzeit deutscher Taxis ist halt sehr teuer. Durch die Informationstechnologie sind Plattformen« – z.B. Uber – »so effizient, dass man immer und überall in zwei Minuten einen Wagen bekommen kann«. Gerhard muss schnell mit dem Taxi zu einem Termin. Danach hat er noch einen Termin, zu dem er wieder schnell hinmuss. Das Warten auf das Taxi braucht gewöhnlich nicht mehr als 10 Minuten. Wenn das Warten von UBER auf zwei Minuten verkürzt wird, hat er acht Minuten ›an Zeit gewonnen‹; bei zwei Terminen 16 Minuten. Kann Gerhard deswegen ›mehr Termine am Tag‹ machen? Wohl kaum. Weshalb aber ist uns die Minimierung des Wartens dennoch wichtig? Ist es das Gefühl der Effizienz? Denn mehr als ein Effizienzempfinden ist es nicht, da nicht wirklich ›viel Zeit‹ herausspringt. Ebenso im Supermarkt: Wieso müssen wir ›schnell durch‹? So kaufen wir dann auch ein: Schnell dies & das einladen, um uns über die Warteschlange an der Kasse zu ärgern. Rögenkötter nimmt sich immer eine Zeitung, die er in der Schlange liest, um sie dann doch nicht zu kaufen, weil er sie ja schon gelesen hat. So ergibt das Warten Sinn. Und Vera Lansky geht durch den Supermarkt wie durch einen showroom aktueller Warendarbietungen, genießt das Angebot (in langsamen Bewegungen), um dann doch nicht das zu kaufen, was sie lockt. Aber die Stunde im Supermarkt ist ihr ein schönes Tagesereignis. Wer sagt denn, dass man kaufen muss, zumal der Eintritt gratis ist.
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»Der Supermarkt ist das wahre Paradies der Moderne« (Houellebec 2015: 40). Wir können durch ihn hindurchrauschen, wenn wir wissen, wo was liegt (wenn wir immer das kaufen, was wir sowieso kaufen). Aber wir können auch ›französisch‹ durch den Supermarkt schlendern, uns die Warenfülle genüsslich anschauen, den Marktplatz uns zu einem Ereignis machen, das uns manchmal sogar tatsächlich anregt, etwas Neues zu probieren. Genau das will der Supermarkt erreichen? Ja, wir wollen uns verführen lassen, lustwandeln, ›Zeit verbringen‹. Das Gefühl der Zeiteffizienz beruht auf geänderten Erwartungen. Jede (noch so minimale) Zukunft wird zu einer ›kleinen Utopie‹: dass dann – in ihr – erst ›wirklich‹ das Bessere geschehen könnte. Aber das Bessere, das kommt, denken wir nicht als Zukunft, sondern als das Andere dessen, was wir jetzt haben oder jetzt bekommen. Denn das, was neu kommt, können wir gar nicht danach beurteilen, ob es besser ist. ›Anders‹ aber ist es gewiss – jedenfalls so lange, bis wir feststellen, dass es doch nur ähnlich ist zu dem, was wir schon kennen. Das neue Andere nutzt sich schnell ab. Sein Zeitnutzen sinkt. Wenn aber das Andere immer besser zu sein scheint als das, was wir haben, haben wir gar nichts. Denn dann steht das, was wir haben, immer im Vorschatten des kommenden Besseren. Die dynamischen Märkte zeugen ständig neue Objekte des Begehrens. Sodass wir mit dem, was wir haben (oder gerade erworben haben), nicht lange beisammen sind. Daran erwächst keine Erfahrung. Bevor wir etwas ›er-fahren‹ (durch die Gewöhnung an den Gebrauch), wechseln wir es schon wieder. Wir werden erfahrungsloser. Unser Möglichkeitssinn überlagert den Wirklichkeitssinn. Wenn das Andere aber nur anders ist (weil es neu ist, wissen wir nicht, ob es besser ist), bildet sich eine Erwartung aus, in der allein schon das Andere besser ist, weil anders. Dann ersetzen wir das, was wir haben, schneller, weil die Prüfung, ob das Andere, Neue besser ist, entfällt. In einem alteuropäischen Sinn sind wir leichtsinnig. Aber das eben ist ›modern‹. Raimund kauft sich das neuste iPhone. Sein altes ist noch gut, aber das Neue hat ein paar Funktionen mehr. Ob Raimund sie brauchen
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wird, ist offen, aber er hat sie dann zumindest schon einmal. »Mehr ist besser als weniger« lacht er uns zu. Wenn wir etwas, das anders ist, für besser halten, als das, was wir bisher für gut halten, dann haben wir eine grundlegende Tendenz, das, was gut ist, nicht für gut genug zu halten. Wir verlieren einen sinnvollen Begriff des ›Guten‹. Das hat sogleich Konsequenzen: Der öfter geäußerte Wunsch, dass wir uns um ein ›gutes Leben‹ kümmern sollten, ist durch die Verschiebung des ›Guten‹ auf das zeitdifferentielle ›Bessere‹ längst dynamisiert. Beim ›bloß Guten‹ zu verharren erscheint bereits als Verzicht auf das mögliche ›Bessere‹. Gleichsam als ein Opfer, als ob man etwas schenken würde, nämlich ›das Bessere‹ verschenken.
Das Zeitlose als ein vergessener Modus des Nachhaltigen Gibt es nicht dennoch Zeitloses? Ich erinnere mich, dass man früher davon reden konnte, etwas sei ›zeitlos‹: ein Kostüm, ein Möbel, ein Anzug. Für den männlichen Anzug kann man das fast noch behaupten, aber alles andere ist in den Moden, den life-styles etc. verschwunden. Die vernünftige Idee meines Großvaters, sich zehn Anzüge schneidern zu lassen, die er ein Leben lang tragen würde (jeden nur einen Tag, um ihn dann wieder auszuhängen), würde ihn heute in den Sackgassen des Modischen lächerlich machen. Wir halten die Dinge nicht lange aus, wenn die Innovationen ständig auf uns einströmen. Nur die Alten hören irgendwann auf und begnügen sich mit dem Gewohnten (was die Erben sofort alles wegwerfen). Meine Großmutter kaufte sich noch einen ›zeitlosen Nerz‹, den sie heute nicht einmal mehr tragen, verkaufen, oder gar verschenken könnte. Das ehedem ›Zeitlose‹ veraltet heute schnell, war eine eigene geschichtliche Episode. ›Zeitlos‹ war der Versuch, eine ästhetische Legitimation zu benutzen für etwas, das man lange zu gebrauchen vorhatte. Da wir heute Automobile nach drei bis sechs Jahren spätestens auswechseln, haben wir darin ein neues Zeitmaß eines Gebrauchswertes. Wir gehen auf kürzere Frequenzen des Gebrauchens. Das hat wesentlich technologische Gründe: Die modernsten Technologien sind attraktiver, sicherer, multipler, oft auch kostengünstiger im
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Verbrauch als die alten – ohne nachzurechnen, ob diese Ersparnis durch die häufigere Zahlung des ganzen Kaufpreises bei ständigen Neukäufen nicht negativ ausläuft. Die rationale Kalkulation kann sich gegen die Dynamik des designs nicht halten. Wir legen unsere Gebrauchsweisen in den schnellen Takt der Technologie- und Designwechsel. Damit dominiert der Konsum die Investition (die Anzüge meines Großvaters wie der Nerz meiner Großmutter waren nachhaltige Lebens-Investitionen). Wir geben erheblich mehr aus für die Gebrauchsgüter, die nun Konsumgüter geworden sind, als die früheren ›Investitionen‹ in Kleidung, Geräte etc. – wenn man es über die life-time rechnet. Konsum ist, en passant, eine teure Angelegenheit, indem wir immer wieder das funktional Selbe neu kaufen, weil es seinen performativen und seinen sozialen Inklusionswert wechselt. Die Dinge (die wir haben), haben nicht mehr, wie früher, ›ihre Zeit‹, sondern stehen im Vorschatten neuer und anderer Dinge, die uns die Märkte in schneller Frequenz servieren. Die Dinge veralten schneller (bevor wir mit ihnen zu leben richtig begonnen haben). Richard liebte seinen alten Citroen DS und wollte ihn ein Leben lang fahren. Heute drohen ihm die Steuer und Ökovorschriften, so dass er sicherheitsgetunte neue Wagen fahren muss. Er wechselt nun alle drei bis vier Jahre die Modelle. Die Dinge werden Ereignisse, deren Attraktivität schnell vergeht, bevor wir beginnen, sie wahrlich zu gebrauchen. Die Smartphone-Kauf-Wechselfrequenz liegt heute bei einem Jahr. »In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die Konsumgesellschaften, in denen das ursprüngliche Freiheitsversprechen der Moderne mehr und mehr als Recht auf uneingeschränkten Konsum ausgelegt wurde: Die Möglichkeit für jeden einzelnen, zu jeder Jahreszeit alle erdenklichen Produkte kaufen und überall hin reisen zu können, wurde zu einer grundlegenden Antriebskraft der Great Acceleration und damit des Anthropozän« (so der Philosoph Bernd Scherer 2020: N2). Über die extensivierte Konsumkultur kommt eine Unmittelbarkeit ins Spiel, eine temporäre ›sofortness‹, die nicht nur die Waren-Fülle des Seienden ausschüttet, sondern zugleich auch die Zeit verdichtet. Was
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in der Summe als Beschleunigung erscheint, manifestiert sich in den Erwartungen unmittelbarer Belieferung (instant delivery), die vor allem die digitalen Märkte des e-commerce forcieren. Sein, Seiendes und Zeit relationieren sich neu. Das Jetzt verflüchtigt sich, weil man in verschiedenen Informationswelten angeschlossen ist, die ihre eigenen Ereignisrhythmen und verteilten Gegenwarten haben. Es sind nicht nur die diversen Zeitzonen, in denen global players zugleich sich zurechtfinden müssen, sondern es sind die verschiedenen Zeitlichkeiten, je nachdem, in welchen sozialen Arenen wir uns bewegen. Die Unterschiede bestehen darin, dass jeweils verschiedene Erfüllungserwartungen gehandelt werden. Die diversen Sphären haben ihr eigenen Rhythmen, oder Eigenzeiten. Man muss dann jeweils wissen, in welchem Takt man je gerade operiert. Die Empfindung, die Welt beschleunige sich, liegt daran, dass manchmal die Taktzahlen in parallelen Bereichen sich erhöhen und wir den Wechsel nicht mehr beherrschen. Sonja soll das Projekt bis heute Abend fertigstellen, das aupair-Mädchen ist krank und kann das Kind nicht abholen von was auch immer, wovon Kinder heute abgeholt werden müssen, der Tanzkurs hat seinen finalen Abend, an dem bewertet werden soll, und der Ehemann ruft an, er komme erst morgen von Kongress zurück, was ihr die Vermutung verstärkt, er befände sich in einer anderen Zeit der Gesellung mit einer Geliebten anderswo. Nicht die Zeit ›gerät aus den Fugen‹, aber die diversen Eigenzeiten kollidieren. ›Die Zeit bricht weg‹. Nichts läuft wie gewohnt. Man hat ›zu nichts mehr Zeit‹.
Paradoxien des moralischen nachhaltigen Konsums »Der heutige Zwang der Produktion nimmt den Dingen ihre Haltbarkeit. Er zerstört bewusst die Dauer, um mehr zu produzieren, um mehr Konsum zu erzwingen. Das Verweilen aber setzt Dinge voraus, die dauern. Werden die Dinge nur verbraucht und konsumiert, ist kein Verweilen möglich« (so der Philosoph Byung-Chul Han 2019).
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Byung-Chul Han (2019) zieht daraus den Schluss, dass »derselbe Zwang der Produktion […] das Leben (destabilisiert), indem er das Dauernde im Leben abbaut. So zerstört er die Haltbarkeit des Lebens, obwohl das Leben sich verlängert«. Bei Hannah Arendt lesen wir: Die Dinge haben »die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren«. Ihre Objektivität liegt darin, dass »sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens […] eine menschliche Selbstigkeit darbieten«, nämlich eine stabilisierende Identität, die »sich daraus herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleicher Vertrautheit entgegenstehen« (Arendt 2002). Nehmen wir das Beispiel der Langlebigkeit von Gütern. Niemand möchte heute Gebrauchsgegenstände, die ein ganzes Leben halten, oder sogar über Generationen darüber hinaus. Die meisten Gebrauchsgegenstände sind, innerhalb unseres modernen Lebensstiles, selber nur kurzfristig zu gebrauchen, weil sie veralten, weil ihr Design nicht mehr modisch ist, weil sie technisch überholt sind etc. In einer innovationsgetriebenen Wirtschaftsdynamik veralten Produkte, modisch wie technisch. Das ist durchaus ein modernes Phänomen. Baute eine Patritizierfamilie im 15. Jahrhundert ein Haus, war es auf lange Generationenfolgen abgestellt. Eigenartigerweise bewohnen wir solche Häuser (bei entsprechenden Modernisierungsumbauten) auch heute gerne. Selbst eine solche Generationeninvestition zu tätigen, liegt uns allerdings fern. In diesem Sinne ist die Nachhaltigkeitsidee eine Simulation der Generationeninvestitionsidee, nur dass wir Regeln für künftige Gesellschaften (alle Generationen in tutto) ersinnen, statt für die eigenen familiaren. Die Gesellschaft wird zu einer supra-familia – ein Gedanke, der ein kosmopolitisches Moment der Kooperation aller Menschen enthält (Weltfamilie). Die Einfachheit der Idee steht umgekehrt reziprok zur Komplexität ihrer politischen Realisation. Gebrauchswerte, die auf lange Sicht gelten sollen, sind eher von der Art der Investitionen in Kunstobjekte, die erst nach langer Zeit erhebliche Preissteigerungen auf den Kunstwerken erbringen. Hier ist die Nachhaltigkeit aber eine erhoffte Werthaltigkeit.
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Wenn wir also trotzdem solche langlebigen Güter haben wollen, kann das nur einhergehen mit der Änderung unseres Lebensstils, das heißt mit dem Verzicht auf die Dynamik des Modischen, das Abwechslungsreichen, des Aufmerksamkeitserheischenden. Ein solcher Verzicht, der mit dem Gebrauch von langlebigen Gütern einhergeht, erfordert ein hohes Maß an Verzicht auf moderne Lebensdynamik. Man mag ja gerade bezweifeln, dass das ein Wert sei, muss aber gleichzeitig zugestehen, dass das Leben des Nachhaltigkeitswertes nur wenigen gelingt. Diese wenigen können dafür plädieren, dass ihr Lebensstil allgemein werden sollte, es ist aber realistischerweise einzugestehen, dass ihre Mission auch scheitern kann. In dem Moment aber reduziert sich diese Lebensstilgemeinschaft auf relativ wenige, die gerade dann, wenn sie behaupten, dass ihr Lebensstil allgemein gültig sein soll, elitär auftreten. Ich bitte nicht missverstanden zu werden: Ich halte eine Diätik des Lebensstils nicht nur für denkbar, sondern auch für angemessen; meine aber nicht, dass sich ihr viele anschließen können, oder dass selbst dann, wenn sich ihr viele anschließen, sie es ist nicht nachhaltig durchhalten. Nachhaltigkeit dieser Art operiert als bounded sustainability. Es kann eine Überforderung sein, von Individuen in ihrer je aktuellen Entscheidung Nachhaltigkeitsprädikate mit zu überlegen. Statt von jemandem zu fordern, jedes Mal, wenn er die Klospülung getätigt, nur kurz zu drücken, scheint es mir sinnvoller zu sein, die Mechanik der Toilette so anzulegen, dass beim Klo spülen automatisch weniger Wasser verwandt wird. Anstelle kognitiver Überforderung der Menschen ist eine regulative Intelligenz der Technik besser geeignet – oder ein anderer institutioneller Mechanismus. Das klingt jetzt einigermaßen trivial, da es jetzt nicht mehr um Nachhaltigkeitsmoral geht, sondern um technische Intelligenz. Wenn Toilettenspülungen so ausgelegt sind, dass sie wenig Wasser verbrauchen (und damit den je aktuellen Wasserverbrauch der Welt senken), sind sie komplexitätsreduzierende Automaten, die nicht mehr auf das Niveau des Vielwasserverbrauchs in den alten Toiletten zurückfallen werden.
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Aber das Beispiel zeigt etwas ganz anderes: dass die Technologie ein Gedächtnis hat, das wir in den modernen epistemologischen Mannigfaltigkeiten nicht mehr sicher oder nachhaltig in Anschlag bringen können. Das individuelle und kollektive Verhalten wird eingespannt in ein Wissensgerüst, das die individuelle Überlegung entlastet, aber die Richtung des Verhaltens bestimmt. Technik ist in diesem Sinne soziales Gedächtnis. Technologien können ausgetauscht werden, ohne den erheblichen kulturellen Aufwand der Lebensstiländerung. Es ist schlicht die einfachere Änderungsdimension. Es geht nicht darum, das Verhalten der nächsten Generationen zu determinieren; das wird kulturell sowieso nicht gelingen, weil evolutiv immer wieder neue Varianten etabliert werden. Es geht eher darum, Dispositionen zu schaffen, die die Plattformen für die nächsten Entscheidungen (der nächsten Generationen) bilden können, die weniger hintergehbar sind als andere. Wir richten institutionelle Pfade ein. Die Entscheidungen der nächsten Generationen laufen dann auf dieser Pfadabhängigkeit, die eine gewisse Unhintergehbarkeit erzeugt. Das ist nichts anderes als ein historisches Niveau der Entscheidbarkeit, das nicht mehr in die individuellen Entscheidungen kognitiv einfließt, aber subkutan, d.h. kollektiv unbewusst – in meiner Diktion als technisches Gedächtnis. Nennen wir es Installation. Dann erst wirken die gegenwärtigen Entscheidungen nachhaltig auf die zukünftigen. Doch ist das, was hier nachhaltig genannt wird, nur eine Brücke zur nächsten Generation (auch: Entscheidungsgeneration). Ob sie verlängert wird (in die Zeit), entscheidet jede Generation neu. Doch ist es nicht einfach, das Niveau zu verlassen, was vorgeliefert wurde. Deshalb gibt es relativ stabile Pfadabhängigkeiten, die wir zu Recht ›nachhaltig‹ nennen können. Historische Beispiele haben wir zur Genüge: z.B. die Installation von Gesundheitsstandards wie die Elimination bestimmter Bakterienkulturen; bei den Viren sind wir noch nicht so weit. Die Aufrechterhaltung dieses Nachhaltigkeitspfades erfordert allerdings ein kostenpflichtiges Gesundheitssystem mit staatlich verordneten Impfpflichten (merit good). Wir haben z.B.
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auch nachhaltige Systeme der Abwasserableitung und -reinigung. Wir kennen nachhaltig wirksame informelle Institutionen, in der Öffentlichkeit nicht mehr zu spucken oder hinzurotzen; neuerdings kommen Rauchverbote auf. Die Reihe lässt sich weiter aufzählen; alles aber sind informelle Institutionen oder staatlich verordnete formelle. Und alle beziehen sich auf social behaviour, kaum auf ökonomisches Verhalten. Das allerdings ist die entscheidende Prüffrage: Entlasten sie künftige Generationen von Problemen (und den Aufwänden zu ihrer Lösung), die wir für sie mit gelöst haben? Die Freiheit, das, was wir nachhaltig einrichten, wieder ändern oder aufheben zu können, sowieso vorausgesetzt, wäre zu klären, inwieweit unsere Investitionen in Nachhaltigkeit institutionelle (oder technologische) Infrastrukturen einrichten, die den nachfolgenden Generationen die Freiheit geben, sie selbst nicht einrichten zu müssen. Das mag trivial klingen, ist aber unsere Investition, deren return on investment die Späteren einholen, ohne selbst in dieselbe Sache investieren zu müssen. Man könnte auch sagen, wir senken durch Gegenwartsentscheidungen Zukunftskosten.
Klima und Life Style Nicht nur, dass wir nicht wissen, welche Neigungen und Präferenzen der nachfolgenden Generationen haben werden, wir wissen zudem auch nicht, welche Restriktionen ihres Lebensstils sie haben werden durch den Klimawandel, der inzwischen ein Wandlungsniveau erreicht hat, das wir mit Maßnahmen nicht mehr aufhalten könne. Welche Welt werden unsere Nachfolger vorfinden? Welche Freiheiten, die wir noch hatten, sind ihnen genommen? Welche Aufwendungen müssen sie machen, um ihren Lebensstil auch nur zu halten? Die Diskurse über Nachhaltigkeit, die wir heute führen, sind nicht substanziell genug, vor allem nicht handlungspraktisch substanziell genug, um den Klimawandeln aufzuhalten. Der Klimawandel ist der größte Nachhaltigkeitswandler. Was wir uns heute vorstellen, was nachhaltig sei, ändert sich mit der Zeit, durch den Klimawandel beschleunigt.
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Alles, was wir weniger konsumieren, weniger an Energie verwenden, recyclen etc., ist nichts gegen die Anforderungen des Klimawandels. Klimawandel heißt: Änderungen der bisherigen territorialen, ressourcialen unternehmerischen Lebensbedingungen. Eindeutig müssen wir unseren Lebensstil ändern, vor allem den Konsumstil. Aber was wir ändern, ist zu wenig und zu langsam. Deshalb ist der moralische Konsum, wenn er diese Dimensionen mit bedenkt, eine legitimatorische Praxis, aber keine Abhilfe. Er befriedigt unsere Gewissen, aber die Dimension, die die Lebensstiländerung einnehmen müsste, ist so groß, dass wir es mit ein paar moralischen Kaufakten nicht gelöst bekommen. Der ›Kampf‹ um die Einhaltung des 1,5 Grad-Zieles – ein naturwissenschaftlich beliehenes politisches Ziel – ist inzwischen verloren. Die Klimata der Welt werden sich unabänderlich ändern, mit ihren kostenträchtigen Folgen: Dürren, Feuer, Überschwemmungen, Stürme etc. Die Wirtschaft produziert unablässig CO2 -Tonnenlasten, die Agrarwirtschaft Methan, in den hochentwickelten Wirtschaftszonen des Nordatlantik und Europas extrem viel stärker als in Indien, China, Afrika. Die Politik des Klimawandels tabuisiert die wirklichen Problemdimensionen: Unser way of life, die extreme Konsumwelt, die die globale Ressourcenallokation betreibt bei hoher technischer Produktivität. Um die Klimaziele zu erreichen (inzwischen wird schon mit 2,7 Grad gerechnet, die wir mit der bisherigen Nicht-Politik nicht mehr unterbieten können), müssten wir in den Konsumverzicht gehen. Jedes industriell gefertigte Produkt hat einen CO2 -Fußabdruck (Ressourcenausbeutung, energiereiche Produktion, Transport, Abfallverbrennung). Die Ausweitung von CO2 -gesenkten Produktionsprozessen bringt zu wenig; nachhaltig allein wäre eine geminderte Nachfrage – der Preis für den beschädigten Planeten ist eine Arrondierung von Existenzweisen, eine Form von Beendigung. Wenn wir uns als Teil der Natur verstehen würden, wären wir auf ihre Erhaltung angewiesen, indem wir alles, was sie in ihrer Autopoesie hindert, beenden. Vor allem unseren exzessiven Konsum, der einem Bewusstsein ökologischer Interferenz entkoppelt ist.
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Das setzt eine Paradoxie in die Welt: Weil aber weder Wirtschaft noch Politik die notwendige Senkung des way of life in Europa und USA erreichen können, wird das Ethische – der moralische Konsum – aufgewertet werden (und das Religiöse, verbunden mit Enthaltsamkeitsriten), ohne dass damit gewährleistet sein wird, die Spannung zwischen Konsum und Ökologischem aufzubrechen, bei allem Bemühen um Konsumbeschränkungsmoralen (Suffizienz). Es ist offensichtlich, welche kulturelle Transformation unser Wirtschaftssystem angehen müsste. Die aufkommende Bereitschaft zur Klimapolitik wagt sich nicht – oder nur sehr zögerlich – an das Thema der zu senkenden life standards heran (es geht nicht mehr nur darum, höhere Preise zu zahlen, sondern generell weniger zu verbrauchen, mit der Folge, weniger zu produzieren – weltweit. Um das zu erreichen, sind die Kosten der CO2 -Reduktion vom Konsum zu tragen). Wir sind mental progressistisch angelegt, und wir exportieren unsere technologisch geprägte Wirtschaftsform in andere Weltregionen, die aktuell noch weniger CO2 -lastig sind, um deren durch die global economy induzierten Effekte der Produktivitätserhöhungen zu reimportieren.
Literatur Arendt, Hannah (2002): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/ Zürich. Han, Byung-Chan (2019): Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin. Houllebecq, Michel (2015): Interventionen. Essays, Köln. Pfister, René (2021): »Die gekaufte Revolution«, in: Der Spiegel Nr. 23/2021, S. 90–93. Scherer, Bernd (2020): »Die Logik des Lokalen«, in: FAZ Nr. 100, S. N 2. Ullrich, Wolfgang (2013): Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin.
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Weiterführende Literatur Antoni-Komar, Irene/Lehmann-Waffenschmidt, Marco/Pfriem, Reinhard/Welsch, Heinz (Hg.) (2010): WENKE2 – Wege zum nachhaltigen Konsum, Weimar. Heidbrink, Ludger/Schmidt, Imke et al. (Hg.) (2011): Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a.M. MacKinnon, James B./Gebauer, Stephan (2021): Der Tag, an dem wir aufhören zu shoppen. Wie ein Ende der Konsumkultur uns selbst und die Welt rettet, München. Nordermann, Lisa (2021): »Nachhaltiger Konsum: Zwischen Wissen und Wollen«, in: philosophie Magazin, Nordermann, Lisa (2021): »Nachhaltiger Konsum: https://www.philomag.de/artikel/nach haltiger-konsum-zwischen-wissen-und-wollen.
Autoren
Priddat, Birger P. (geb. 1950), Prof. em., (vormals Lehrstuhl für Wirtschaft und Philosophie). Forschungsgebiete: Institutionenökonomie, Wirtschaftsphilosophie, Theoriegeschichte der Ökonomie, digital economy. Raphael, Lutz (geb. 1955), Seniorforschungsprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Zeitgeschichte der Geschichtswissenschaft, Gesellschaftsgeschichte der europäischen Demokratien seit 1918. Straubhaar, Thomas (geb. 1957), Professor der Universität Hamburg für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Außenbeziehungen, war von 1999 bis 2014 Präsident erst des Hamburgischen WeltWirtschafts-Archivs (HWWA) und danach Leiter des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Seit der Jahrhundertwende hat er mehrere Bücher zum Bedingungslosen Grundeinkommen veröffentlicht, in denen er auf die Herausforderungen der demografischen Alterung, des sektoralen Strukturwandels und der Digitalisierung eingeht. Wörwag, Sebastian (geb. 1966), Dr. oec., Professor und Rektor der Berner Fachhochschule sowie Präsident des Hochschulrats der Pädagogischen Hochschule Thurgau. Forschung und Publikationen zu Entwicklungen der Arbeitswelt.
Soziologie Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3
Franz Schultheis
Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0
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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten
2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6
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