Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Strafverteidigers (Litigation-PR) [1 ed.] 9783428542307, 9783428142309

Öffentlichkeits- und Medienarbeit (Litigation-PR) gehört noch nicht zum Anwaltsalltag. Meistens beschränkt sich der Stra

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Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Strafverteidigers (Litigation-PR) [1 ed.]
 9783428542307, 9783428142309

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle

Band 94

Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Strafverteidigers (Litigation-PR) Von

Annelies Herzog

Duncker & Humblot · Berlin

ANNELIES HERZOG

Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Strafverteidigers (Litigation-PR)

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder und Prof. Dr. Andreas Voßkuhle

Band 94

Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Strafverteidigers (Litigation-PR)

Von

Annelies Herzog

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7514 ISBN 978-3-428-14230-9 (Print) ISBN 978-3-428-54230-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84230-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Medialisierung des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.1. Der Medienrummel um den Fall Kachelmann  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2. Die Medialisierung hat ihre guten Seiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Litigation Public Relations, Litigation-PR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2.1. Litigation-PR in Literatur und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2. Wozu Litigation-PR? Sinn und Zweck der Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . 28 2.2.1. Schutz des guten Rufs, Reputationsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.2. Einwirkung auf Staatsanwälte und Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3. Kein neues Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.3.1. Ein historischer Prozess: die Dreyfus-Affäre . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.3.2. Mordfall Zwahlen: ein klarer Fall erfolgreicher Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Was ist Öffentlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Medien, Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Neue Medien, Internet, Social Media . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Medienwandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Funktionen der Medien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4. Macht und Ohnmacht der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5. Medienwirkung und Medienwirkungsforschung . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6. Voraussetzungen der Medienwirkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Öffentlichkeitsarbeit, Public Relations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Public Relations und Medienschaffende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39 40 42 44 45 47 48 50 52 54

4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Zwei Phasen des Strafverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Das Vorverfahren wird „entheimlicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Staatsanwaltschaft . . . . . . 4.2.2. Verletzung der Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Vorverurteilung durch Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4. Vorfreispruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Öffentlichkeit im Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Gerichtsberichterstattung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 58 60 63 65 68 70 71 73 74

6 Inhaltsverzeichnis 4.4. Unabhängigkeit der Organe der Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.4.1. Der unvoreingenommene Staatsanwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4.4.2. Innere Unabhängigkeit des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 5. Medieneinfluss auf den Entscheid? Die Sicht der Rechtswissenschaft . . 5.1. Wie kommt ein Urteil zustande? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Ausserrechtliche Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Druck der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Rechtsprechung zum Einfluss von Öffentlichkeit und Medien . . . . . . . . 5.4.1. Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts . . . . . . . . . . 5.4.2. Rechtsprechung der europäischen Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Meinungen der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 83 86 87 90 91 94 95

6. Medieneinfluss auf den Entscheid? Die Sicht der Sozialwissenschaften  . 98 6.1. Theorien und Modelle der Entscheidung im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.1.1. Lösen eines komplexen Problems: Heuristiken, Faustregeln, Denkfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 6.1.2. Geschichten konstruieren: das Story Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.2. Empirische Forschung und ihre Methoden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid . . . 106 6.3.1. Der Entscheid im Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 6.3.1.1. Medieneinfluss im Vorverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 6.3.2. Das Urteil des Strafgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6.3.2.1. Sachverhaltsfeststellung, Tat- und Schuldfrage . . . . . . . . 111 6.3.2.1.1. Einfluss der Medien auf den Schuldspruch . . . 112 6.3.2.1.2. Opfer, Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6.3.3. Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6.3.3.1. Der Antrag des Staatsanwalts als Anker . . . . . . . . . . . . . 118 6.3.3.2. Einfluss der Medien auf die Strafzumessung . . . . . . . . . 120 6.3.4. Laienrichter – Berufsrichter, Novizen – Experten  . . . . . . . . . . . . 121 6.3.5. Einzelrichter – Kollegialgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 6.3.6. Deutsche Studien zum Medieneinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6.3.6.1. Erste Umfragen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 6.3.6.2. Die Umfragen der Forschungsgruppe an der Universität Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6.3.6.3. Die Umfragen eines Kommunikationsberaters  . . . . . . . . 130 6.4. Sind die Ergebnisse empirischer Forschung für das Recht relevant? . . . 131 6.4.1. Skepsis der Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 6.4.2. Fragliche ökologische Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 7.1. Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 7.1.1. Sprache, Bilder, Emotionen, Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Inhaltsverzeichnis7 7.1.2. Eigene Initiative des Beschuldigten: Rappaz, Meier 19, Ackermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3. Lancieren von Beiträgen in der Fachpresse: die Mannesmänner  7.1.4. Prozesssponsoring: der Fall Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Fallstricke der Öffentlichkeits- und Medienarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1. Reaktanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3. Ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Alternativen zum Gang an die Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1. Auf Strafminderung plädieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 . 146 148 150 153 155 157 159

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 8.1. Litigation-PR in den USA  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 8.1.1. Der Prozess gegen O. J. Simpson  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 8.2. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 8.2.1. Nochmals Kachelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 8.2.2. Eine Meinungsumfrage zum aktuellen Stand der Litigation-PR  . 169 8.3. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 8.4. Unterlassene Öffentlichkeits- und Medienarbeit?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 8.4.1. Landesverräter Jeanmaire: nachlässige Verteidigung? . . . . . . . . . . 172 8.4.2. Hitler-Attentäter Bavaud: Unterdrückung von Publizität . . . . . . . 174 9. Rechtliche Rahmenbedingungen der Öffentlichkeits- und Medienarbeit . 175 9.1. Rechtsbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem . . . . . . . . . . 175 9.1.1. Entschädigung für Öffentlichkeits- und Medienarbeit  . . . . . . . . . 176 9.2. Rechtsbeziehung zwischen Verteidiger und PR-Berater . . . . . . . . . . . . . 177 9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 9.3.1. Werbung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 9.3.2. Berufsgeheimnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 9.3.3. Sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung  . . . . . . . . . . . . . . 182 9.3.3.1. Kritik an der Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 9.3.3.2. Öffentliche Kritik im hängigen Verfahren . . . . . . . . . . . . 186 9.3.3.2.1. Praxis der Aufsichtskommission im Kanton Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 9.3.3.2.2. Praxis des Bundesgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . 190 9.3.3.2.3. Praxis der europäischen Instanzen . . . . . . . . . . 192 9.4. Verantwortung des Verteidigers für Public Relations . . . . . . . . . . . . . . . 194 9.4.1. Der Anwalt als mittelbarer Urheber eines Medienbeitrags . . . . . . 196 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Abkürzungsverzeichnis AfP

Archiv für Presserecht

AJP

Aktuelle juristische Praxis

altGVG

Gerichtsverfassungsgesetz (Kanton Zürich, ausser Kraft)

APO

Ausserparlamentarische Opposition

BBl Bundesblatt BGE

Entscheid des schweizerischen Bundesgerichts

BGFA

Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte, Anwaltsgesetz

BGG

Bundesgesetz über das Bundesgericht, Bundesgerichtsgesetz

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

CBS

CBS Broadcasting, Inc. (früher: Columbia Broadcasting System)

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DM

Deutsche Mark (Währung Deutschlands bis 2001)

DRS

Radio der deutschen und rätoromanischen Schweiz

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EKMR

Europäische Kommission für Menschenrechte

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

EuGRZ

Europäische Grundrechte-Zeitschrift

GOG

Gesetz über die Gerichts- und Behördenorganisation im Zivil- und Strafprozess (Kanton Zürich)

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz (Deutschland)

IDG

Gesetz über die Information und den Datenschutz (Kanton Zürich)

JStPO

Schweizerische Jugendstrafprozessordnung

JZ Juristen-Zeitung MHMK

Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (München)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

OR Obligationenrecht PNAS

Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America

PR

Public Relations

Praxis

Praxis des Schweizerischen Bundesgerichts

Abkürzungsverzeichnis9 PTP

Pretrial publicity

RAF

Rote Armee Fraktion

SAV

Schweizerischer Anwaltsverband

SJZ

Schweizerische Juristenzeitung

SPRG

Schweizerische PR-Gesellschaft

SPRI

Schweizerisches PR-Institut

StGB

Schweizerisches Strafgesetzbuch

StPO

Schweizerische Strafprozessordnung

StraFo Strafverteidiger-Forum StV Strafverteidiger SZK

Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie

UWG

Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb

VPB

Verwaltungspraxis der Bundesbehörden

WOSTA

Weisungen der Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren (Kanton Zürich)

ZGB

Schweizerisches Zivilgesetzbuch

ZPO

Schweizerische Zivilprozessordnung

ZR

Zeitschrift für zürcherische Rechtsprechung

ZSR

Zeitschrift für schweizerisches Recht

ZStrR

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht

zzz

Schweizerische Zeitschrift für Zivilprozess- und Zwangsvollstreckungsrecht

Einleitung Der Verteidiger nimmt im Strafverfahren die Interessen des Beschuldigten wahr und hat die Aufgabe, für seinen Klienten ein möglichst günstiges Resultat zu erzielen. Als Rechtsbeistand muss er ihn nach bestem Wissen und Gewissen unterstützen. Er berät den Klienten und entscheidet mit ihm gemeinsam über die Verteidigungstaktik. Er kontrolliert, ob die Verfahrensregeln eingehalten werden. Er nimmt an Einvernahmen von Zeugen und Opfern teil. Er kann versuchen, den Staatsanwalt zu überzeugen, das Verfahren diskret einzustellen oder mit Strafbefehl abzuschliessen. Eventuell verhandelt der Verteidiger mit dem Staatsanwalt über eine Erledigung im abgekürzten Verfahren. Kommt es zum Prozess, versucht der Anwalt, einen Freispruch oder mindestens eine milde Strafe zu erwirken. Gelingt das nicht, hat er die Möglichkeit, Rechtsmittel zu ergreifen. Zu diesem Pflichtenheft des Verteidigers gehörten Öffentlichkeits- und Medienarbeit bisher nicht, im Gegenteil: Der traditions- und standesbewusste Anwalt fühlt sich dem Berufsgeheimnis verpflichtet und antwortet auf Anfragen der Medien mit einem schroffen „kein Kommentar“. Doch wird heute zunehmend auch unter Anwälten diskutiert, ob sich ein Verteidiger in spektakulären Fällen damit begnügen könne, seinen Standpunkt einzig im Verfahren einzubringen. Geht es doch auch um die Reputation seines Klien­ ten, welche durch eine Medienkampagne unwiderruflich beschädigt werden kann – unabhängig vom Ausgang des Verfahrens. Die grosse Mehrzahl der Strafverfahren wickelt sich ohne Anteilnahme der Öffentlichkeit ab. Die Staatsanwaltschaft ist während ihrer Ermittlungen dem Amtsgeheimnis verpflichtet. Sie darf die Öffentlichkeit nur in Ausnahmefällen über eine laufende Strafuntersuchung informieren. Die meisten Fälle werden von der Staatsanwaltschaft endgültig abgeschlossen, mit Verfahrenseinstellung oder Strafbefehl. Nur wenn der Staatsanwalt Anklage erhebt, gelangt der Fall zum Strafgericht. Erst die Hauptverhandlung ist der Öffentlichkeit zugänglich. Doch nimmt das Publikum sein Recht auf Teilnahme nur sporadisch wahr. Es sind die Medienschaffenden, welche die Öffentlichkeit vertreten und in den Medien über Prozesse berichten. Das Interesse an Strafverfahren soll in den letzten Jahren zugenommen haben. Die Medien sind einem harten Konkurrenzdruck ausgesetzt, sie müssen die Konsumenten mit spannenden Stories bei der Stange halten. Strafverfahren eignen sich gut dazu, das Interesse des Publikums zu wecken. Die Medien

12 Einleitung

berichten intensiv über Straftaten und Straftäter und schüren die Emotionen der empörten Öffentlichkeit. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer eigentlichen Medienkampagne und zu einer Vorverurteilung des Beschuldigten. Beobachter sprechen von der Medialisierung des Strafverfahrens. Dieses Phänomen wird im 1. Kapitel der Arbeit angesprochen und anhand des Kachelmann-Prozesses illustriert. Statt von Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Anwalts spricht man heute auch von Litigation-PR. Im 2. Kapitel wird der Begriff eingeführt und ein Überblick über die Literatur gegeben. Aber vor allem stelle ich mir hier die grundlegende Frage nach Sinn und Zweck der Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigers im Strafverfahren. Der Beschuldigte ist ja kaum erpicht darauf, dass Aussenstehende von seinem Missgeschick erfahren. Warum also sollten er oder sein Verteidiger von sich aus an Öffentlichkeit oder Medien gelangen? Tatsächlich ist die Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Verteidigung meistens bloss die Reaktion entweder auf die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft oder auf eine vorverurteilende Me­ dien­kampagne. Der Verteidiger kann versuchen, Gegensteuer zu geben, der Öffentlichkeit eine alternative Sicht zu vermitteln und vielleicht sogar den Verfahrensausgang zu beeinflussen. Dass Litigation-PR kein neues Phänomen ist, wird mit zwei Beispielen, der Dreyfus-Affäre und dem Mordfall Zwahlen, erläutert. Die Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigers wird fast ausschliesslich durch die Vermittlung der Medien wirksam. Thema des 3. Kapitels sind Öffentlichkeit, Medien und Public Relations sowie ihr Verhältnis zueinander. Es geht um die Vielfalt der Medienformen, die Macht der Medien, die Voraussetzungen der Medienwirkung und schliesslich um die Art und Weise, wie Public Relations zur Geltung kommen. Im 4. Kapitel wird dargestellt, wie Medien und Öffentlichkeit am Strafverfahren beteiligt sind. Es wird untersucht, wie sich die zunehmende Medialisierung auf den Gang des Strafverfahrens auswirkt, beispielsweise ob sie die richterliche Unabhängigkeit gefährdet oder beeinträchtigt. Die nächsten beiden Kapitel befassen sich mit der Frage, ob und inwiefern Medienberichterstattung auf die Entscheidfindung von Staatsanwalt und Richter einwirken kann. Vorab ist grundsätzlich zu überlegen, wie denn überhaupt eine rechtliche Entscheidung zustande kommt. Dazu haben sich nicht nur Juristen ihre Gedanken gemacht, sondern auch Sozialwissenschaftler, hauptsächlich Rechts- und Sozialpsychologen sowie Medienwirkungsforscher. Im 5. Kapitel gebe ich einen Überblick über die Meinungen in der Jurisprudenz, wie sie in Rechtsprechung und Lehre zum Ausdruck kommen. Die Ergebnisse empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung fasse ich im 6. Kapitel zusammen.

Einleitung13

Wenn der Verteidiger sich entschliesst, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, muss er sich überlegen, welche Strategien er im Umgang mit den Medien wählen kann, was er tun und was er vermeiden soll. Im 7. Kapitel stelle ich einzelne Techniken und Taktiken vor. Im 8. Kapitel geht es darum, die Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Anwalts in verschiedenen Ländern anhand von Beispielen zu illustrieren. Es ist nicht einfach, Öffentlichkeits- und Medienarbeit zu beobachten; die Kontakte des Verteidigers mit den Medien finden im Verborgenen statt. Eine Einflussnahme auf das Prozessgeschehen kann plausibel erscheinen, wird aber kaum zu beweisen sein. In den USA sind die Bedingungen für Litigation-PR günstiger, auf Grund des adversarischen Strafverfahrens und der weiter fortgeschrittenen Medialisierung. Doch haben auch in Deutschland und in der Schweiz schon Prozesse stattgefunden, in denen Litigation-PR möglicherweise eine Rolle spielte. Für die Tätigkeit von Anwälten in der Schweiz gelten rechtliche Rahmenbedingungen. Unerlässliche Voraussetzung für Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Rechtsanwalts ist das Einverständnis des Klienten. Auch wenn dieses Einverständnis vorliegt, ist der Anwalt in der Art und Weise seines Vorgehens nicht ganz frei. Für die öffentliche Kritik an den Behörden haben Lehre und Rechtsprechung gewisse Schranken entwickelt, welche im 9. Kapitel dargestellt werden. Rechtsprechung und Literatur sind bis Ende März 2013 berücksichtigt.

1. Medialisierung des Strafverfahrens Ganz allgemein bedeutet Medialisierung, dass ein Lebensbereich zunehmend von den Medien vereinnahmt und gesteuert wird. Betroffen sind private, gesellschaftliche, politische und staatliche Entscheidungsprozesse, die Entscheidungsträger richten sich mehr und mehr nach der medialen Logik aus.1 Auch das Strafverfahren kann sich der Medialisierung2 oder Mediatisierung3 nicht entziehen. In den letzten Jahren wird ein gesteigertes Interesse der Medien an Strafverfahren beobachtet. Zwar wird die überwiegende Mehrheit der Verfahren ohne Anteilnahme von Öffentlichkeit und Medien erledigt. Es sind nur wenige spektakuläre Prozesse, die Aufsehen erregen oder gar zu eigentlichen Medienereignissen werden; Joachim Wagner gab 1987 ihren Anteil mit 1 % an.4 In diesen seltenen Fällen kann die Medienberichterstattung eine Eigendynamik entwickeln. Man spricht von einem parallelen Prozess oder einem medialen Parallelforum,5 von einem Trial by newspaper, einem Trial by media vor dem Court of public opinion. Ein solcher paralleler Prozess ist mit einer ordnungsgemässen Rechtspflege nicht vereinbar, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1979 in einem Leiturteil festgehalten hat.6 Das heikle Verhältnis zwischen Me­dien und Strafverfahren war auch in der Belletristik ein Thema: der Nobelpreisträger Heinrich Böll schrieb darüber eine Erzählung, die später von Volker Schlöndorff verfilmt wurde.7 Ein Strafverfahren ist für den Beschuldigten eine peinliche Angelegenheit. In der überwiegenden Mehrzahl der Straffälle ist der Beschuldigte denn auch nicht an Publizität interessiert, sondern an Diskretion. Diesem 1  Saxer / Mannhart

427; Koppenhöfer, Justiz, 280. Begriff Medialisierung verwenden zum Beispiel: Christine Danziger, Die Medialisierung des Strafprozesses, Berlin 2009; Heinrich 80; Imhof 111; BoehmeNessler, Rechtsprechung, 79. 3  Den Begriff Mediatisierung verwenden: Kaiser, ZRP 2002, 33; Salmina, media­ lex 2011, 11; von Felten 251 ff.; ebenso das Bundesgericht in BGE 128 IV 97 ff., 106. 4  Wagner 15, die Angabe beruhte auf einer Schätzung des Bundes Deutscher Zeitungsverleger. 5  Danziger 316. 6  EGMR vom 26. April 1979, No. 6538 / 74, Sunday Times c. United Kingdom. 7  Heinrich Böll, Die verlorene Ehre der Katharina Blum, Köln 1974. 2  Den



1. Medialisierung des Strafverfahrens15

Bedürfnis entspricht der Grundsatz des geheimen Vorverfahrens. Während der Ermittlungsphase sind Polizei und Staatsanwaltschaft an das Amtsgeheimnis gebunden. Ausnahmsweise kann die Staatsanwaltschaft in Straffällen von besonderer Bedeutung, den Medienschlüsselfällen, die Öffentlichkeit orientieren (siehe S. 63). Doch beklagen viele Stimmen in Deutschland und in der Schweiz, dass die Medienarbeit der Staatsanwaltschaft in den letzten Jahren zunehmend offensiver geworden sei.8 Karl-Ludwig Kunz, Strafrechtler an der Universität Bern, spricht von einer „Veramerikanisierung“ des Strafverfahrens.9 Und manchmal erfahren die Medien durch die Indiskretion eines Whistleblowers über die Tatsache einer Strafuntersuchung. Wenn ein Verfahren publik wird, besteht die Gefahr, dass der Beschuldigte vorverurteilt wird. Weil der Beschuldigte die öffentliche Gerichtsverhandlung scheut, ist er in der Regel an einem zügigen Abschluss des Verfahrens durch Einstellung oder Strafbefehl interessiert. Die Chancen dafür stehen gut, werden doch in der Schweiz bereits mehr als 95 % der Verfahren auf diese Weise erledigt.10 In den übrigen Fällen erhebt der Staatsanwalt Anklage, und es kommt zum öffentlichen Strafprozess. Der Zugang von Öffentlichkeit und Medien zu Hauptverhandlung und Urteilsverkündung ist eine Errungenschaft des modernen Rechtsstaats. Das Publikum soll sich im öffentlichen Prozess selber davon überzeugen können, ob der Angeklagte fair behandelt wird. Nur selten wird dieses Recht wahrgenommen, ab und zu finden sich ein paar Rentner oder eine Schulklasse im Gerichtssaal ein, manchmal ein Journalist. Die Medien halten sich glücklicherweise meistens an den Pressekodex und berichten über Alltagskriminalität, ohne den Namen des Beschuldigten zu nennen oder dessen Foto zu publizieren. Dieser ist erleichtert, wenn sich keine Zuschauer einfinden und ihm öffentliche Schmach und Schande erspart bleiben. Auch wenn ihm die Anwesenheit von Reportern und Zuschauern im Gerichtssaal peinlich ist – nach wenigen Wochen ist wieder Gras über die Sache gewachsen. Heute wird die Kontrolle der Justiz praktisch ausschliesslich durch die Medien vermittelt. Die Medien nehmen diese Funktion im Dienst der Gesellschaft nicht ganz selbstlos wahr. Medienunternehmen wollen Gewinne 8  Lehr, Rn. 5; Albin, AnwBl 2010, 311; Boehme-Nessler, StraFo 2010, 458; Friedrichsen, ZRP 2010, 263; Gross 39 f.; Schertz / Höch 236 f.; Reike 158 ff., 163.; Köhler / Langen 194. 9  Karl-Ludwig Kunz in der Sendung Echo der Zeit vom 31. Mai 2011, Radio DRS. 10  Franz Riklin in der NZZ vom 30. Dezember 2011, S. 21. Nach einer Meldung der NZZ vom 19. April 2013, S. 15, wurde im Kanton Zürich im Jahr 2012 noch in 5,4 % der Straffälle Anklage erhoben.

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1. Medialisierung des Strafverfahrens

erzielen und stehen unter Konkurrenzdruck. Die Art ihrer Berichterstattung richtet sich deshalb nach den tatsächlichen oder vermeintlichen Bedürfnissen der Konsumenten. Strafverfahren gegen Prominente und Reiche erregen das Interesse der Öffentlichkeit, Normverstösse und Skandale steigern die Auflage. Es sind die klassischen Nachrichtenfaktoren, welche die Faszina­ tion eines Verfahrens auf Öffentlichkeit und Medien ausmachen (siehe S. 51). Fast unschlagbar scheint die Kombination Sex und Prominenz zu sein. Medienanfällig sind nicht diejenigen Prozesse, in denen es um Probleme geht, mit denen jeder Bürger im Lauf seines Lebens konfrontiert wird: Konsumentenfragen, Bagatellkriminalität, Verkehrsdelikte … Und die meisten Straffälle nimmt die Öffentlichkeit gar nicht zur Kenntnis, diejenigen nämlich, die mit Einstellung oder Strafbefehl erledigt werden. Manche Kriminologen sind deshalb der Meinung, dass die Bevölkerung auf Grund der Medienberichte notwendigerweise ein falsches Bild der Kriminalität haben müsse.11 Die Medien begnügen sich nicht immer damit, neutral über ein Verfahren zu berichten. Sie nehmen Stellung, ergreifen Partei, veröffentlichen Verfahrensakten, spüren Zeugen auf. Während sich die Akteure im Strafverfahren mit der Straftat und dem Straftäter in exakt vorgeschriebener, rationaler Weise auseinandersetzen müssen, wird der Parallelprozess in den Medien von den Nachrichtenwerten gesteuert. Er zielt auf die Emotionen der Konsumenten, lässt Distanz und Sachlichkeit vermissen und kann archaische, als überwunden erachtete Impulse wiederbeleben.12 Urs Saxer, Professor für Staats- und Medienrecht, nennt dazu ein Beispiel aus Zürich: In einem Fall betreffend Kindesentführung wurde das Obergericht vom Sonntagsblick in der Ausgabe vom 9. Januar 2005 kritisiert, eine Richterin wurde als „Frau Gnadenlos“ bezeichnet. Auf der Homepage der Zeitung konnten die Leser online darüber abstimmen, ob sie mit dem Urteil einverstanden waren.13 Juristen – Praktiker und Wissenschaftler – betrachten diese Entwicklung mit Sorge. Die sonst so zurückhaltenden Richter haben sich in einigen Fällen zur Medienschelte hinreissen lassen: das Landgericht Düsseldorf in der mündlichen Begründung des Urteils in der Wirtschaftsstrafsache gegen die Verantwortlichen des Mannesmann-Konzerns (siehe S. 147 f.),14 das Landgericht Mannheim in der Urteilsbegründung im Kachelmann-Prozess (siehe 11  Kaiser, ZRP 2002, 30 ff.; Kunz 271, Rn. 25; Hanslmaier  / Kemme, ZSR 2011, 131 ff. 12  Garapon 235 ff.; Boehme-Nessler, Rechtsprechung, 7 ff. 13  Saxer, Justizkommunikation, 75. 14  Siehe: http: /  / www.manager-magazin.de / unternehmen / artikel / 0,2828,309949,00. html (9.4.13).



1.1. Der Medienrummel um den Fall Kachelmann17

S. 19),15 und das Obergericht des Kantons Zürich in der Verhandlung vom 19. Juli 2012 in einem Verfahren betreffend Menschenhandel und Zuhälterei (siehe S. 160).16 Medienkampagnen gefährden elementare prozessuale Grundsätze: die Fairness des Verfahrens, die Waffengleichheit, die Objektivität der Staatsanwälte und die richterliche Unabhängigkeit. Der Beschuldigte muss sich nicht nur dem staatlichen Strafverfahren stellen. Er ist dem parallelen Medienprozess ausgeliefert. Gegen Öffentlichkeit und Medien hat der Beschuldigte einen schweren Stand. Er kann sich im Medienprozess nicht auf die Garantien und Grundrechte berufen, welche die Macht der staatlichen Strafbehörden begrenzen. Die Folgen der öffentlichen, medialen Vorverurteilung fallen für die Betroffenen oft härter aus als das Strafurteil. Medienkampagnen bedrohen den Ruf, die Ehre, die berufliche und private Existenz, die Gesundheit des Beschuldigten. Der Verlust der Reputation kann ein Unternehmen in den finanziellen Ruin treiben. Gegen die Folgen einer medialen Vorverurteilung kann ein Freispruch oft nichts mehr ausrichten. Frank Th. Petermann, ein Rechtsanwalt aus St. Gallen, beschreibt die Situation treffend: „Prozess gewonnen – Interessenwahrung missglückt“.17 Ines Heinrich, die über Litigation-PR eine Dissertation geschrieben hat, spricht von einem Pyrrhussieg.18 Genau das passierte Jörg Kachelmann.

1.1. Der Medienrummel um den Fall Kachelmann19 Über einen Straffall berichten die Medien besonders gerne, wenn es sich um die Verfehlung einer prominenten Persönlichkeit handelt. Damit hoffen die Medien, ihre Auflage steigern zu können und gegenüber der Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil zu gewinnen. So entwickelte sich rund um das Strafverfahren gegen den Fernsehmoderator und Publikumsliebling Jörg Kachelmann ein Medienhype, wie er in Europa vielleicht noch nie da gewesen war. Im März 2010 wurde Kachelmann wegen des Verdachts auf Vergewaltigung festgenommen. Die Staatsanwaltschaft Mannheim teilte den Medien mit, dass ein 51jähriger Moderator verhaftet worden sei. Reporter sollen 15  Siehe: http: /  / www.landgericht-mannheim.de / servlet / PB / menu / 1269214 / index. html?ROOT=1160629 (9.4.13). 16  Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 20. Juli 2012, S. 13. 17  Petermann, zzz 2006, 3. 18  Heinrich 3. 19  Thomas Knellwolf, Die Akte Kachelmann: Anatomie eines Skandals, Zürich 2011. Köhler  /  Langen 187 ff.; Friedrichsen  /  Gerhardt 1679 ff., Rdn. 36a ff.; Reike 190 ff.

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1. Medialisierung des Strafverfahrens

danach nur wenige Minuten benötigt haben, um die Identität des Verhafteten herauszufinden. Die Boulevard-Zeitung Bild veröffentlichte ein Foto des soeben Verhafteten; das Leck wird bei den Strafbehörden vermutet. Fragwürdig stellt sich die Rolle der Staatsanwaltschaft dar, die von sich aus zu einer intensiven Zusammenarbeit mit den Medien bereit war, ja, die Medien geradezu „bediente“. Jörg Kachelmann seinerseits engagierte ein Team von angesehenen Rechtsanwälten, neben den eigentlichen Verteidigern auch einen Medienanwalt, der es übernahm, die Medien über den Fall zu informieren und zugunsten seines Klienten zu intervenieren. Fast drei Jahre lang, von der Verhaftung bis zum Urteil, bot das Verfahren Stoff für hitzige mediale Auseinandersetzungen. Mit Sex und Prominenz trafen zwei ideale Medienreizthemen zusammen. Auch nach den ersten Tagen und Wochen flaute das Interesse der Medien nicht ab. Ein Teil der Medien schlug sich auf die Seite der Anklage, so die Zeitung Bild unter Führung der Publizistin Alice Schwarzer. In einem etwas zurückhaltenderen, vornehmeren Stil nahmen die Zeit und der Spiegel mit ihren Berichterstatterinnen Sabine Rückert und Gisela Friedrichsen den Beschuldigten in Schutz. Die Medien organisierten Umfragen im Internet, und die Konsumenten konnten ihre Meinung zu Schuld oder Unschuld des Moderators kundtun. In Radio und Fernsehen waren prozessbegleitend zahlreiche Sendungen, Diskussionen, Podiumsgespräche zu hören und zu sehen. Kachelmann stand nicht nur wegen des ihm vorgeworfenen Delikts am Pranger, die Medien erörterten auch sein etwas bizarres Sexualleben. Ehemalige Gespielinnen des Beschuldigten, die das Gericht als Zeuginnen im Prozess aufgeboten hatte, liessen sich interviewen und gaben Auskunft über Einzelheiten ihrer Beziehung mit dem Beschuldigten – gegen angemessenes Honorar. Die Illustrierte Bunte bezahlte einer Zeugin 50.000 € für ein Exklusivinterview und garantierte ihr die Übernahme der Anwaltskosten. Der Spiegel publizierte das aussagepsychologische Gutachten, das zu Handen des Gerichts die Glaubwürdigkeit des Opfers beurteilen sollte. Die Medienhysterie nahm ein solches Ausmass an, dass im Lauf der Hauptverhandlung sogar die Staatsanwälte selber vorschlugen, Kachelmann einen „Medienrabatt“ zu gewähren. Der Prozess begann im September 2010 und dauerte mehr als acht Monate. Verantwortlich für die lange Prozessdauer war einmal das für die Schöffengerichte geltende Unmittelbarkeitsprinzip: Die Geschworenen haben keine Aktenkenntnis, jede Einvernahme muss in der Hauptverhandlung wiederholt werden. Zudem bot das Gericht etliche frühere Freundinnen Kachelmanns als Zeuginnen auf – unnötigerweise, weil diese zum Tathergang gar keine Auskunft geben konnten, sondern nur zum rechtlich irrelevanten Vorleben des Angeklagten. Am 31. Mai 2011 fällte das Mannheimer



1.2. Die Medialisierung hat ihre guten Seiten19

Landgericht sein unterdessen rechtskräftig gewordenes Urteil, einen „Freispruch zweiter Klasse“ aus Mangel an Beweisen. Der vorsitzende Richter rügte in seiner mündlichen Urteilsbegründung die Medien. Zwei Wochen danach erschien bereits das erste Buch eines Schweizer Journalisten.20 Im folgenden Jahr stellte Kachelmann selber seine Sicht der Dinge dar, in einem Buch, das er zusammen mit seiner Frau geschrieben hatte.21 Jörg Kachelmann hat in verschiedener Hinsicht Schaden erlitten. Im Laufe des Verfahrens wurden Details aus seinem Privat- und Intimleben ans Licht gezerrt, um die Sensationsgier des Publikums zu befriedigen. Er verlor seine Stelle als Wettermoderator beim Fernsehen. Zwar wurde er freigesprochen, doch ob es ihm gelingen wird, beruflich und privat wieder Fuss zu fassen, ist ungewiss. Im Fall eines anderen erfolgreichen deutschen Fernsehmoderators, der 2004 ebenfalls wegen Vergewaltigung vor Gericht stand, wurde das Leck nie eruiert, das die Medien auf die Spur brachte. Auch dieser Beschuldigte wurde freigesprochen, doch auch er konnte nicht mehr als Moderator arbeiten.22 Tröstlich ist, dass der Name dieses Beschuldigten unterdessen vergessen ging, vielleicht im Wirbel um seinen „Nachfolger“ Jörg Kachelmann. Der Anwalt, der mit Litigation-PR liebäugelt, muss sich klar machen, dass er die Anteilnahme der Öffentlichkeit nur in einem solch interessanten und spektakulären Fall erlangen kann. Zudem gehört Öffentlichkeits- und Medienarbeit nicht zum normalen Aufgabenbereich des Rechtsanwalts. In der Regel verfügt er weder über eine Ausbildung noch über Erfahrung auf diesem Gebiet. Ist er kein Naturtalent, muss er die Hilfe eines Spezialisten in Anspruch nehmen. Diese Rolle hat im Fall Kachelmann der Medienanwalt Ralf Höcker übernommen.

1.2. Die Medialisierung hat ihre guten Seiten Das Interesse von Öffentlichkeit und Medien an der Strafjustiz hat Sinn. Wenn Medien objektiv informieren, können sie den Bürgern Wissen über das Strafrecht vermitteln und die Generalprävention befördern. Allerdings ist es zweifelhaft, ob eine Sensationsberichterstattung diesen Zweck erfüllt. Medien können erreichen, dass überhaupt ein Strafverfahren eingeleitet wird. Der Bericht der Weltwoche im Dezember 2011 über Nationalrat Bruno 20  Thomas

2011.

Knellwolf, Die Akte Kachelmann: Anatomie eines Skandals, Zürich

21  Jörg Kachelmann / Miriam Kachelmann, Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz, München 2012. 22  Sasse 69 ff.; Holzinger / Wolff, 174.

20

1. Medialisierung des Strafverfahrens

Zuppiger, der sich als Willensvollstrecker ein überrissenes Honorar genehmigt haben soll, brachte nicht nur seine Kandidatur als Bundesrat zu Fall, sondern setzte ein Strafverfahren in Gang.23 Während des Vorverfahrens können Medien mit ihrem Druck bewirken, dass die Ermittlungen sorgfältig, aber auch zügig geführt werden.24 Medien kontrollieren die Arbeit und die Methoden der Ermittlungsbehörden. Sie sorgen dafür, dass die Rechte des Verdächtigen respektiert werden, indem sie beispielsweise illegale Hausdurchsuchungen oder unnötige Gewaltanwendung durch die Polizei rügen. Sie können auf eine schwache, ungenügende Beweislage hinweisen, Fehlermittlungen aufdecken und bewirken, dass Irrtümer rechtzeitig korrigiert werden. Medien können bei der Aufklärung eines Verbrechens, bei der Suche nach Beweisen und Verdächtigen behilflich sein. In jüngster Zeit ist die Fahndung im Internet aktuell geworden, beispielsweise um Fussball-Hooligans zu überführen. Die Zusammenarbeit von Ermittlungsbehörden, Öffentlichkeit und Medien kann tatsächlich zu erfreulichen Ergebnissen führen: Im Jahr 2007 suchte die Polizei mit ihren Aufrufen an die Öffentlichkeit wochenlang vergeblich nach dem im Kanton Appenzell Innerrhoden vermissten Mädchen Ylenia. Zwar hatte die grosse Anteilnahme viele Meldungen zur Folge, die jedoch nicht zum Ziel führten und die Polizei bloss belasteten. Einem Hobbydetektiv gelang es schliesslich, acht Wochen nach dem Verschwinden des Kindes, die Leiche zu finden. Er hatte sich auf Grund der Medienberichte vorstellen können, wo er ungefähr zu suchen hatte.25 Medien können verhindern, dass ein Fall klammheimlich durch Einstellung oder Strafbefehl erledigt wird. Die Staatsanwaltschaft wird sich genau überlegen, ob sie einen heiklen Fall unter den Teppich kehren soll.26 Medien können nachträglich für Transparenz sorgen, indem sie sich über Einstellungsverfügungen und Strafbefehle informieren. Die Medien veranlassten mit ihren Berichten über die Einstellung eines Verfahrens gegen den Chef der Schweizer Armee, Roland Nef, dass dieser zurücktreten musste (siehe auch S. 60).27 Die Kritik an bereits gefällten Urteilen kann die Rechtsfortbildung und Rechtsentwicklung fördern. Sie kann eine Praxisänderung oder gesetzgeberische Aktivitäten initiieren.28 In einigen Fällen haben Medien auch bewirkt, 23  Urs

Paul Engeler in der Weltwoche vom 7. Dezember 2011, S. 18 f. 674, Rz. 40; Becker-Toussaint 46; Jäger 233, Rz. 744. 25  Fehr / Looser, Kriminalistik 2009, 434. 26  Becker-Toussaint 51; J. Jahn, Litigation-PR, 264. 27  Jäger 15 ff., Rz.  48 ff. 28  Nobel / Weber 674, Rz.  40. 24  Nobel / Weber



1.2. Die Medialisierung hat ihre guten Seiten21

dass Fehlurteile und Justizirrtümer korrigiert werden konnten. Ein krasses Beispiel dafür war in den Vereinigten Staaten der Fall von Randall Adams. Der junge Mann war in Texas wegen Mordes an einem Polizisten zum Tod verurteilt worden und stand bereits kurz vor der Hinrichtung. Der amerikanische Regisseur Erroll Morris machte Adams’ Schicksal im Dokumentarfilm The thin blue line publik und zeigte auf, dass der Staatsanwalt die Zeugen manipuliert hatte. Schliesslich gestand der wahre Täter das Verbrechen, und Randall Adams erlangte seine Freiheit wieder.29 Im schweizerischen Fall Zwahlen (siehe S. 37 f.) konnte dessen Unschuld zwar nie definitiv erwiesen werden. Doch erreichte Bruno Zwahlen mit Hilfe der Medien eine Revision des Prozesses wegen untragbarer Verfahrensmängel. Im Revisionsprozess wurde Zwahlen aus Mangel an Beweisen freigesprochen.30 Und natürlich ist auch die Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Verteidigers, die Litigation-PR, nur denkbar infolge der Medialisierung.

29  Huff / Rattner / Sagarin

33 ff.

30  Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser

172.

2. Litigation Public Relations, Litigation-PR „Litigation-PR – die Öffentlichkeitsarbeit während einer juristischen Auseinandersetzung – ist der strategische Einsatz von unterschiedlichen Kommunikations­mitteln, um gezielt auf die Öffentlichkeit einzuwirken.“ Boehme-Nessler, Öffentlichkeit, 20.

Volker Boehme-Nessler, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, hat sich in mehreren Publikationen ausführlich mit dem Thema befasst. Etwas kürzer ist die Definition von Redaktor und Dozent Georg Neureither: „Öffentlichkeitsarbeit vor, während und nach einer juristischen Auseinandersetzung“.31 Unter diese Umschreibungen würde auch die Öffentlichkeitsarbeit der Justizbehörden fallen.32 Die meisten Autoren verwenden aber den Begriff Litigation-PR ausschliesslich für die Öffentlichkeitsarbeit von Anwälten und ihren Mitarbeitern. Die Kommunikationstätigkeit der Strafbehörden wird demgegenüber als Justiz-PR bezeichnet. Und mit Kanzlei-PR ist Öffentlichkeitsarbeit gemeint, die keinen konkreten Rechtsstreit zum Anlass hat, sondern direkt auf die Marktstellung des Anwalts zielt. Der in den USA geprägte und dort gebräuchliche Ausdruck Litigation-PR hat sich in der deutschsprachigen Literatur noch nicht durchgehend eingebürgert.33 Gelegentlich werden auch andere Begriffe gebraucht, hier eine Auswahl: – rechtsstreitbegleitende Öffentlichkeitsarbeit34 – prozessbegleitende Public Relations35 – vorprozessuale bzw. prozessbegleitende Medienstrategie36 – strategische Rechtskommunikation37 – strategische Kommunikation bei Rechtsstreitigkeiten38 31  Neureither,

AnwBl 2010, 313. bei Boehme-Nessler, StraFo 2010, 456; Rehbinder, Litigation-PR, 777. 33  Heinrich 7. 34  Schmitt-Geiger 57. 35  Möhrle 157. 36  Ernst, NJW 2010, 745. 37  Huff, DRiZ 2010, 114; Wolff, Medienarbeit, 174; Schmitt-Geiger 57. 38  Holzinger / Wolff 20; Wolff, Medienarbeit, 174. 32  So



2. Litigation Public Relations, Litigation-PR23

– Litigation Communication, Streitkommunikation, Prozesskommunika­ tion39 – prozessbegleitende (Krisen-)Kommunikation40 – Prozess-PR41 – Zivilverfahrens-PR, Insolvenz-PR, Strafverfahrens-PR42 – Angeklagten-PR43 In den Vereinigten Staaten ist James F. Haggerty die anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Litigation-PR, die er definiert als Kommunikationsmanagement im Rahmen eines Rechtsstreits: „managing the media process during the course of any legal dispute“.44 Auch die bildhaften Ausdrücke Legal spin control oder Spinning the law sind in den USA populär.45 Das Verb spin bedeutet, einer Sache eine andere Wendung zu geben. Die PRBerater werden als Spin doctors bezeichnet. Litigation-PR wird häufig als Sub- oder Nachbardisziplin der Krisenkommunikation oder Krisen-PR angesehen.46 Ein enger Bezug besteht auch zum sogenannten Reputationsmanagement.47 Petermann sieht Litigation Communication als Spezialdisziplin der Public Relations und damit als Teil der Soziologie an.48 Litigation-PR ist nicht auf das Strafverfahren beschränkt. Grosse Strafprozesse faszinieren das Publikum immer, doch finden auch manche Zivilprozesse viel Aufmerksamkeit. In den USA waren es beispielsweise die Schadenersatzklagen gegen die Zigarettenindustrie. Hierzulande stiessen die Sammelklagen gegen die Schweizer Banken, welche nachrichtenlose Vermögen gehortet hatten, natürlich auf grosses Interesse. Besonders ausgeprägt ist die Anteilnahme der Bevölkerung, wenn kleine Leute gegen grosse Konzerne klagen oder wenn es um tragische Unfallfolgen geht, wie etwa beim Contergan-Skandal im Deutschland der 60er Jahre: Schwangere Frauen, die das Schlafmittel Contergan eingenommen hatten, brachten überproportional häu39  Petermann,

zzz 2006, 15 f. AnwBl 2010, 313. 41  Boehme-Nessler, Öffentlichkeit, 20. 42  Albin, AnwBl 2010, 311 f. 43  Gerhardt, Justiz, 517; Boehme-Nessler, Öffentlichkeit, 20; Friedrichsen  / Gerhardt 1674, Rdn. 3. 44  Haggerty 2. 45  Siehe zum Beispiel Kendall Coffey, Spinning the law: Trying cases in the court of public opinion, Amherst / NY 2010. 46  Heinrich 98 f.; Albin, AnwBl 2010, 311. 47  Heinrich 13. 48  Petermann, zzz 2006, 19. 40  Neureither,

24

2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

fig Kinder mit Missbildungen zur Welt. Nachdem der Zusammenhang erstellt war, kam es 1968 zum Prozess gegen das verantwortliche Unternehmen, die Grünenthal GmbH. Das Verfahren wurde 1970 eingestellt, nachdem die Grünenthal mit den Geschädigten einen Vergleich geschlossen hatte. Es ist denkbar, dass die Entrüstung der Öffentlichkeit einen Einfluss auf die Höhe der auferlegten Entschädigung hat und dass eine geeignete Unternehmens-PR wiederum den Schaden begrenzen kann. Mit Öffentlichkeitsund Medienarbeit kann man Druck auf die Gegenpartei ausüben, um einen günstigen aussergerichtlichen Vergleich zu erzielen. Anwälte können durch Aufrufe in den Medien Betroffene suchen, die sich einer (Sammel-)Klage anschliessen wollen.49 Diese Arbeit beschränkt sich jedoch auf das „klassische Anwendungsgebiet von Litigation-PR“,50 auf die Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigers im Strafverfahren.

2.1. Litigation-PR in Literatur und Wissenschaft In den USA, dem Ursprungsland der Litigation-PR, gibt es bereits reichlich Literatur, sowohl wissenschaftliche Arbeiten wie auch praktische Ratgeber. Am häufigsten zitiert wird meinem Eindruck nach das Standardwerk von James F. Haggerty, in zweiter Auflage erschienen im Jahr 2009, herausgegeben von der American Bar Association, dem US-amerikanischen Anwaltsverband. Haggerty ist Rechtsanwalt, er bezeichnet sich zugleich als Kommunikationsberater. Wissenschaftliche Arbeiten, die ausdrücklich den Begriff Litigation-PR verwenden, sind im deutschen Sprachraum erst wenige erschienen. Bis Ende 2010 fand sich in der schweizerischen juristischen Datenbank Swisslex unter dem Suchbegriff Litigation-PR noch kein Eintrag. Der erste Beitrag in der Datenbank, der im Titel den Begriff verwendet, stammt von Franco Gullotti und Roland Binz und erschien 2010 in der Anwaltsrevue, dem Organ des Schweizerischen Anwaltsverbands.51 Die Autoren stellen sich als Berater für Rechts- und Krisenkommunikation vor, Gullotti verfügt zudem über einen juristischen Studienabschluss. Im Jahr 2011 veröffentlichte Professor Manfred Rehbinder von der Universität Zürich einen Beitrag über Litigation-PR in der Festschrift für Rolf H. Weber, einen Spezialisten für Kommunikationsrecht.52 49  Binz / Gullotti

131 f. Öffentlichkeit, 21; siehe auch Rehbinder, Litigation-PR, 772. 51  Gullotti / Binz, Anwaltsrevue 2010, 359 ff. 52  Rehbinder, Litigation-PR, 771 ff. 50  Boehme-Nessler,



2.1. Litigation-PR in Literatur und Wissenschaft25

Litigation-PR war aber unter anderer Bezeichnung durchaus schon ein Thema: Bereits 2004 schrieb der Anwalt und Hochschullehrer Daniel Jositsch einen Beitrag über die Medienarbeit von Strafverteidigern.53 2006 publizierte Frank Th. Petermann, Rechtsanwalt in St. Gallen, einen Artikel über Litigation Communication.54 In Deutschland veröffentlichte der Journalist Joachim Wagner 1987 seine Pionierarbeit Strafprozessführung über die Medien.55 Zehn Jahre später, im Wintersemester 1995 / 96, hielt der Hochschullehrer Rainer Hamm an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main eine Vorlesung über Grosse Strafprozesse und die Macht der Medien, die später in Buchform herausgegeben wurde.56 In letzter Zeit erscheinen nun aber mehr und mehr wissenschaftliche Arbeiten zum Thema: Boehme-Nessler gab 2010 einen Sammelband mit dem vielsagenden Untertitel Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung heraus. Die meisten Beiträge beruhen auf Vorträgen, die auf dem ersten Berliner Tag der Rechtskommunikation im Januar 2010 gehalten wurden.57 2012 publizierten Lars Rademacher und Alexander Schmitt-Geiger einen Sammelband. Er enthält die Beiträge der Münchner Litigation-PRTagung vom 16. September 2010 und gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Litigation-PR in Deutschland.58 Das Geleitwort stammt von Alice Schwarzer, die den Kachelmann-Prozess für die Boulevard-Zeitung Bild beobachtet hatte. Die Dissertation von Ines Heinrich über Litigation-PR wurde 2010 von der Freien Universität Berlin angenommen, im Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften.59 Der Autorin geht es nach ihrer eigenen Aussage um „eine theoretisch fundierte Einordnung“.60 Sie legt ihren Schwerpunkt auf die Beschreibung der Krise, die eine rechtliche Auseinandersetzung für ein Unternehmen und dessen Reputation bedeutet, und untersucht die gegenseitige Abhängigkeit und das Zusammenwirken von PR-Fachleuten, Journalis53  Jositsch,

ZStrR 2004, 115 ff. zzz 2006, 3 ff. 55  Joachim Wagner, Strafprozessführung über Medien, Baden-Baden 1987. 56  Rainer Hamm, Grosse Strafprozesse und die Macht der Medien, Baden-Baden 1997. 57  Volker Boehme-Nessler (Hrsg.) Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung, Baden-Baden 2010. 58  Lars Rademacher  / Alexander Schmitt-Geiger (Hrsg.) Litigation-PR: Alles was Recht ist. Zum systematischen Stand der strategischen Rechtskommunikation, Wiesbaden 2012. 59  Ines Heinrich, Litigation-PR: PR vor, während und nach Prozessen, Berlin 2010. 60  Heinrich 15. 54  Petermann,

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2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

ten, Anwälten und den Akteuren der Justiz. Und 2012 erschien eine Bachelorarbeit zum Thema, von Nadine Maier an der Hochschule Mittweida.61 Für die praktische Anwendung veröffentlichten Stephan Holzinger und Uwe Wolff, beide mit eigenen Beratungsunternehmen, im Jahr 2009 einen Ratgeber.62 Uwe Wolff publizierte ein Jahr später auch ein Handbuch über Kanzlei-PR, das ein Kapitel über Litigation-PR enthält.63 Ende 2011 erschien von Peter Engel und Walter Scheuerl ein kurz gefasstes Handbuch.64 Zahlreiche praxisorientierte Ratgeber, geschrieben vor allem von Kommunikationsfachleuten, gibt es zum weniger spezifischen Thema Krisenkommunikation. In diesem Rahmen befassen sich einige Autoren auch mit der Bewältigung einer Krise, die durch ein gerichtliches Verfahren ausgelöst wird. Ein Beispiel dafür ist das 2006 erschienene Buch des Kommunikationsberaters Frank Wilmes, darin ist ein Kapitel der Litigation-PR im Strafprozess gewidmet.65 Hartwin Möhrle gab 2007 ebenfalls ein Handbuch über KrisenPR heraus, in welchem der Beitrag von Knut Schulte die Rolle des Rechtsanwalts beleuchtet.66 Dieselben Autoren publizierten 2011 einen Ratgeber für die Zusammenarbeit zwischen Juristen und sogenannten Kommunikatoren.67 Wissenschaftlichen Charakter hat das Werk des schweizerischen Anwalts und Medienrechtlers Peter Nobel; der Autor befasst sich mit den rechtlichen Aspekten der Unternehmenskommunikation im Alltag und in der Krise.68 Eine ergiebige Quelle für Informationen über Litigation-PR bildet das Internet. Exponenten der Litigation-PR schreiben nicht nur Ratgeber, sie betreiben Blogs und Diskussionsforen.69 61  Nadine Maier. Litigation-PR: Medienarbeit in juristischen Auseinandersetzungen. Hamburg 2012. 62  Stephan Holzinger / Uwe Wolff, Im Namen der Öffentlichkeit: Litigation-PR als strategisches Instrument bei juristischen Auseinandersetzungen, Wiesbaden 2009. 63  Uwe Wolff, Medienarbeit für Rechtsanwälte: ein Handbuch für effektive Kanzlei-PR, Wiesbaden 2010. 64  Peter Engel / Walter Scheuerl, Litigation-PR: Erfolgreiche Medien- und Öffentlichkeitsarbeit im Gerichtsprozess, Köln 2011. 65  Frank Wilmes, Krisen-PR – Alles eine Frage der Taktik: Die besten Tricks für eine wirksame Offensive, Göttingen 2006. 66  Schulte 154 ff., in: Hartwin Möhrle (Hrsg.) Krisen-PR: Krisen erkennen, meistern und vorbeugen – Ein Handbuch von Profis für Profis, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2007. 67  Hartwin Möhrle / Knut Schulte (Hrsg.) Zwei für alle Fälle: Handbuch zur optimalen Zusammenarbeit von Juristen und Kommunikatoren, Frankfurt am Main 2011. 68  Peter Nobel, Unternehmenskommunikation: Die rechtlichen Aspekte, Bern 2009. 69  Siehe zum Beispiel: http: /  / www.litigation-pr-blog.de (9.4.13).



2.1. Litigation-PR in Literatur und Wissenschaft27

Die zunehmende Bedeutung von Litigation-PR zeigt sich darin, dass Veranstaltungen und Tagungen zum Thema durchgeführt werden: Am 29. Oktober 2009 fand am Verwaltungsgericht Frankfurt am Main der erste Deutsche Litigation-PR-Tag statt, einer der Referenten war der bereits erwähnte James F. Haggerty. Boehme-Nessler initiierte den ersten Berliner Tag zur Rechtskommunikation am 14. Januar 2010; die Teilnehmer waren Hochschullehrer, Journalisten, Richter, Rechtsanwälte und der Inhaber eines Unternehmens, das Litigation-PR anbietet.70 Am 61. Deutschen Anwaltstag vom 13. bis 15. Mai 2010 in Aachen wurde eine SchwerpunktVeranstaltung zum Thema Kommunikation im Kampf ums Recht angeboten. Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einer Podiumsdiskussion zur Frage Kontrolle der Justiz durch die Presse? Dazu fanden sich illustre Teilnehmer ein, die aus dem Prozess gegen Jörg Kachelmann bekannt waren: der Verteidiger Johann Schwenn und die Gerichtsberichterstatterin des Spiegel, Gisela Friedrichsen. Am 16. September 2010 fand in München eine Tagung der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation statt: Litigation-PR: Alles was Recht ist – Kommunikation rund um den Gerichtssaal.71 Für den 18. September 2013 ist auch in der Schweiz eine Veranstaltung angesagt. Litigation-PR wird Thema einer Podiumsdiskus­ sion der Stiftung juristische Weiterbildung Zürich sein, zum Anlass des 30jährigen Bestehens der Stiftung.72 Vereinzelt sind an Hochschulen bereits Ausbildungsangebote zu finden, so an der Universität Bayreuth ein Masterkurs in Strategischer Rechtskommunikation.73 Für die Frage der Wirksamkeit von Öffentlichkeits- und Medienarbeit könnten Erfahrungsberichte von Anwälten nützlich sein. Solche Fallschilderungen sind jedoch nicht zu finden; ein Anwalt wird sich wohlweislich nicht damit brüsten, dank Public Relations die öffentliche Meinung manipuliert oder die Richter über den Tisch gezogen zu haben. In den Publikationen, die zum Thema erscheinen, und in weiteren Aktivitäten spiegelt sich das zunehmende Interesse. Aber ob Anwälte PRDienstleistungen überhaupt in Anspruch nehmen, ist unklar. In den USA etablierte sich bereits ein Markt, zahlreiche Unternehmen spezialisierten 70  Beiträge publiziert in: Volker Boehme-Nessler (Hrsg.) Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung, Baden-Baden 2010. 71  Beiträge publiziert in: Lars Rademacher  /  Alexander Schmitt-Geiger (Hrsg.) Litigation-PR: Alles was Recht ist. Zum systematischen Stand der strategischen Rechtskommunikation, Wiesbaden 2012. 72  Siehe: http: /  / www.sjwz.ch / veranstaltungen / 130918_litpr.php (9.4.13). 73  Siehe: http: /  / www.marketing.uni-bayreuth.de / de / teaching / master / 02_rechtskom munikation / index.html (9.4.13).

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2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

sich auf rechtliche Kommunikationsdienstleistungen und Litigation-PR.74 In Deutschland werden solche Dienstleistungen erst vereinzelt angeboten, doch soll der Markt im Wachsen begriffen sein.75 Die meisten deutschen Anwaltskanzleien wissen immerhin, worum es bei Litigation-PR geht; der Begriff ist ihnen vertraut.76 Noch kaum etabliert hat sich Litigation-PR in der Schweiz und Österreich.77

2.2. Wozu Litigation-PR? Sinn und Zweck der Öffentlichkeitsarbeit „Litigation-PR ist nichts anderes als strategische Öffentlichkeitsarbeit im juristischen und gerichtlichen Kontext. Wie jede Öffentlichkeitsarbeit hat sie ein Ziel: Es geht ihr um Einflussnahme – zunächst direkt auf die Öffentlichkeit, indirekt dann auch auf Gerichte und Behörden.“78

Wie das Zitat von Boehme-Nessler sagt, zielt der Verteidiger mit Litigation-PR auf zwei Adressaten: auf die Öffentlichkeit, den Court of public opinion, und auf die Strafbehörden.79 Litigation-PR bezweckt einerseits den Schutz der Reputation des Beschuldigten. Mit seiner Medienarbeit kann der Verteidiger im Strafverfahren die Darstellung des Staatsanwalts ergänzen oder korrigieren, einer Vorverurteilung entgegentreten und den eigenen Standpunkt klar machen. Dieses erste Ziel, die Stimmung in der Öffentlichkeit zu steuern, ist nicht gering zu schätzen. Für die Wahrnehmung der betroffenen Personen oder Unternehmen in der Öffentlichkeit ist nämlich der Prozessausgang nicht unbedingt entscheidend. Das Publikum gewichtet nicht nur strafbares, sondern auch moralisch fragwürdiges Verhalten. Zudem wird ein Freispruch aus Mangel an Beweisen in der Öffentlichkeit – wie im Fall Jörg Kachelmann (siehe S. 17 ff.) – als Freispruch zweiter Klasse empfunden. Und unabhängig vom Ausgang kann ein Strafverfahren für einen Politiker und Amtsinhaber das Ende seiner Laufbahn bedeuten. Der Schaden ist eben mit dem Bekanntwerden der Strafuntersuchung bereits eingetreten. Eine Verfahrens­ einstellung oder ein Freispruch erfolgt erst einige Zeit nach den ersten Medienberichten, wird vom Publikum möglicherweise gar nicht mehr wahrgenommen und interessiert jedenfalls niemanden mehr. So wurde zwar der 74  Holzinger / Wolff

44. AnwBl 2010, 311 ff. 76  Rademacher / Bühl 247 f. 77  Binz / Gullotti 128. 78  Boehme-Nessler, BilderRecht, 228. 79  Ebenso Haggerty 2; Reber  / Gower / Robinson, Journal of Public Relations Research 2006, 25. 75  Albin,



2.2. Wozu Litigation-PR? Sinn und Zweck der Öffentlichkeitsarbeit 29

ehemalige Schweizer Nationalrat Ricardo Lumengo vom Berner Obergericht vom Vorwurf der Stimmenfälschung freigesprochen, er hatte aber bereits vorher auf den Druck seiner Parteigenossen hin zurücktreten müssen.80 Manche Anbieter von Litigation-PR deuten in ihrer Werbung an, dass eine gelungene Öffentlichkeitskampagne nicht nur das Publikum, sondern auch Staatsanwälte und Richter beeinflussen könnte.81 Die Kampagne kann in der Öffentlichkeit Erwartungshaltungen aufbauen, die auf die Organe der Rechtspflege einwirken. Entschliesst sich ein Anwalt zur Litigation-PR, beschränkt er sich nicht auf die klassischen Mittel, auf Eingaben und Plädoyers, um die Justiz zu überzeugen. Er versucht, den Entscheid oder das Urteil gezielt und systematisch via die Medien zu beeinflussen. Sind solche Erwartungen realistisch? Das bleibt vorerst Glaubenssache, denn empirische Forschung dazu gibt es nicht. Öffentlichkeitsarbeit ist mit einem Werbeeffekt für den Anwalt selber verbunden. Darauf weisen die Anbieter von PR-Dienstleistungen nur sehr diskret hin, da ein solcher Effekt dem althergebrachten Selbstverständnis der Anwälte nicht entspricht und eventuell sogar den Standesregeln zuwiderläuft. Jedenfalls sollte dieser Zweck nicht im Vordergrund stehen. Nun sind PR-Dienstleistungen nicht ganz billig. Professionelle Öffentlichkeitsarbeit kommt nur für gutbetuchte Klienten in Frage. Auch deshalb werden nur Konzerne und Unternehmen oder reiche und prominente Privatpersonen Litigation-PR in Anspruch nehmen. Es gibt keinen Anspruch auf unentgeltliche Public Relations im Prozess, und es ist kaum vorstellbar, dass in Zukunft einem mittellosen Beschuldigten unentgeltliche Öffentlichkeitsarbeit finanziert wird (siehe auch S. 155 f.). Auch reiche Leute wollen für ihr Geld einen Gegenwert erhalten. Lohnt sich der Aufwand für Öffentlichkeits- und Medienarbeit oder setzt der Klient damit sein Geld in den Sand? Hält Litigation-PR das, was die Anbieter versprechen? Können PR-Massnahmen eine Rufschädigung und deren Folgen verhindern oder ausgleichen? Ist ein Einfluss auf die Entscheide der Strafbehörden denkbar? Wenn es nicht möglich wäre, durch die Mobilisierung von Medien und Öffentlichkeit eine Wirkung zu erzielen, hätte Litigation-PR keinen Sinn. Doch in jedem Fall ist der Gang an Öffentlichkeit und Medien für Anwälte eine heikle Gratwanderung. Die öffentliche Reaktion bleibt letztlich unberechenbar, der Schuss kann hinten hinaus gehen. Zudem kann der Anwalt in Konflikt mit dem Standesrecht geraten. 80  NZZ

vom 19. Februar 2011, S. 12. zum Beispiel die Werbung von NAÏMA: http:  /   /  www.naima-media. de / content_03.html (9.4.13). 81  Siehe

30

2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

2.2.1. Schutz des guten Rufs, Reputationsschutz „Glaubwürdigkeit ist das zentrale Element jeder Reputation.“ Walter P. von Wartburg in der Neuen Zürcher Zeitung vom 10. Februar 2012, S. 21.

Eine Medienkampagne kann den guten Ruf einer Person beeinträchtigen und unangenehme, weitreichende und nachhaltige Folgen haben. Besonders einschneidend sind die Konsequenzen für ein Unternehmen. Ist ein Unternehmen in einen Skandal oder eine Rechtsstreitigkeit verwickelt, steht seine Reputation auf dem Spiel. Das kann sich in materiellen Verlusten bis hin zum Konkurs niederschlagen. Der Absatz der Produkte und Dienstleistungen bricht ein, der Aktienkurs sinkt. Anleger, Kreditgeber, Gläubiger, Lieferanten, Kunden, Mitarbeiter verlieren das Vertrauen in die Firma. Aktionen wie ein Boykott der Produkte und Dienstleistungen können die Folge sein. Vermutlich wird sich der Skandal über das Pferdefleisch in der Lasagne, der im Februar 2013 die Gemüter bewegte, ungünstig auf die Hersteller der entsprechenden Tiefkühlprodukte auswirken. Für ein Unternehmen stellt ein Gerichtsfall eine Krise dar. Unternehmenskrisen sind nichts Aussergewöhnliches, wie einem der Blick in den Wirtschaftsteil einer Zeitung klar macht. Es ist denn auch nicht die Krise an sich, die dem Unternehmen schadet. Der Umgang mit der Krise entscheidet über den guten Ruf, die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen. Gewinnt die Öffentlichkeit den Eindruck, dass die Krise offen kommuniziert und dass nichts vertuscht wird, kann die Krise auch eine Chance sein.82 Für ein im Markt tätiges Unternehmen ist ein guter Ruf für wirtschaft­ lichen Erfolg unabdingbar. Die Geschäftspartner müssen auf die Leistungsfähigkeit und die Vertragstreue des Unternehmens zählen können. Public Relations gehören deshalb zum normalen Geschäftsgang. Ines Heinrich hält fest, dass ein Unternehmen vernünftigerweise nicht erst in der Krise mit der Imagepflege beginnen wird. Dann mag es nämlich bereits zu spät sein. Ist es dem Unternehmen gelungen, einen Vorschuss an Vertrauen und Glaubwürdigkeit herzustellen, wird es von der akuten Krise, vom Prozess, weniger beeinträchtigt werden. Die Prävention ist deshalb so wichtig, weil Vertrauen, das in jahrelanger Arbeit aufgebaut wurde, im Gefolge eines Prozesses im Nu verloren gehen kann. War der Vertrauensvorschuss genügend gross, kann das Unternehmen vom „Reputationskonto“ zehren. Für ein Unternehmen ist es eine Überlebensfrage, dass die Reputation trotz eines hängigen Verfahrens möglichst intakt bleibt. Unternehmen 82  Nobel

346.



2.2. Wozu Litigation-PR? Sinn und Zweck der Öffentlichkeitsarbeit 31

sind am ehesten auf rechtsstreitbegleitende Öffentlichkeitsarbeit angewiesen, weil die Folgen negativer Berichterstattung unmittelbar die Existenz des Unternehmens betreffen. Public Relations sollen diese Konsequenzen verhindern oder mindestens mildern. Sie sollen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit korrigieren und ein günstiges Bild des Unternehmens und seiner Verantwortlichen vermitteln; Vorurteile sollen abgebaut werden.83 Potentielle Kunden für die Anbieter von Litigation-PR sind einmal Unternehmen, wenn sie keine eigene PR-Abteilung haben oder nicht auf diese zurückgreifen wollen. Das mediale Interesse ist gross bei Konkursen bedeutender Konzerne, bei Wirtschafts- oder Umweltstraftaten. Einem Unternehmen wird passive Hinnahme, das Aussitzen der Medienkampagne, nicht zu empfehlen sein. Hier kann es der Verteidiger als seine Aufgabe ansehen, den drohenden Reputationsschaden abzuwenden. Auch Privatpersonen, die ins Kreuzfeuer der Medien geraten sind, wollen vielleicht nicht untätig zusehen, wie ihr Ruf, ihre Karriere und ihr Privatleben zerstört werden. Prominente sind bezüglich Medienberichterstattung nicht privilegiert, im Gegenteil, sie haben einen „Prominenten-Malus“.84 Über ihre Verfehlungen wird besonders intensiv und oft mit einer gewissen Schadenfreude berichtet. Als Personen der Zeitgeschichte geniessen sie weniger Schutz als der Normalbürger. Dieser hat eine grössere Chance, ein Strafverfahren inkognito hinter sich zu bringen. Immerhin können sich Prominente und Reiche renommierte Verteidiger und PR-Experten leisten. Wenn eine Vorverurteilung des Beschuldigten droht, kann der Strafverteidiger versuchen, diese zu kompensieren, das Klima zugunsten seines Klienten zu beeinflussen, den Ruf und die Ehre seines Klienten so weit als möglich zu wahren und ihn vor Folgeschäden zu schützen. Insgeheim mag sich der Verteidiger auch überlegen, ob er mit geschickter Öffentlichkeitsund Medienarbeit sogar die Entscheide des Staatsanwalts oder das Gerichtsurteil beeinflussen kann. 2.2.2. Einwirkung auf Staatsanwälte und Richter „So habe ich die Farbe meines Lippenstifts geändert, als ich gelesen habe, er wirke grellorange.“ Koppenhöfer, StV 2005 Beilage, 174.

Immerhin soviel Einflussnahme gesteht die Richterin im MannesmannProzess (siehe S. 147 f.) den Medien zu. Aber können Medienberichte auch 83  Heinrich

149 ff. 253; Schertz / Höch 111; Gatzweiler 219.

84  Knellwolf

32

2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

auf das eigentliche Verfahren einwirken? Wenn das bewiesen wäre, läge es nahe, dass der Strafverteidiger dieselben Kanäle nutzt. Die Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigers wird erst durch die Vermittlung der Medien – Presse, Radio und Fernsehen – wirksam. Auch Staatsanwälte und Richter gehören zum Medienpublikum; auch sie sind Leser, Hörer und Zuschauer: PR → Medien → Strafbehörden

Staatsanwälte und Richter haben ein Gespür für die Einstellung der Öffentlichkeit. Richter legen es nicht darauf an, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Ein Gericht kann sich öffentlichem Druck nicht komplett ver­ schliessen, obwohl das natürlich nicht gerne zugegeben wird. Eine Kam­ pagne mobilisiert die Öffentlichkeit und weckt Erwartungshaltungen des Publikums, die von Staatsanwälten und Richtern wahrgenommen werden. Die Medien können damit indirekt auf die Entscheidungen der Strafbehörden einwirken: PR → Medien → Öffentlichkeit → Strafbehörden

In der Regel kommt der Druck der Öffentlichkeit aber wiederum in den Medien zum Ausdruck und gelangt so zur Kenntnis der Organe der Rechtspflege: PR → Medien → Öffentlichkeit → Medien → Strafbehörden

Man muss bei diesen Einflüssen von Wechselwirkungen und Verstärkungsmechanismen ausgehen. Ein Beispiel dafür: Wenn ein bestimmtes Medium einen Fall aufgreift, müssen die anderen Medien nachziehen. Doch nehmen sie vielleicht eine andere Position ein, um sich als eigenständig zu profilieren. Genau das ist im Fall Kachelmann geschehen (siehe S. 18): Die Medienlandschaft teilte sich in zwei gegnerische Lager. Ines Heinrich meint, man könne die Wirksamkeit von Litigation-PR schwer nachweisen, weil jede Krise einzigartig sei.85 Ob es wirklich die PR-Massnahmen waren, welche das Image eines Unternehmens, den Ruf einer Person verbessert oder gar die milde Strafe bewirkt haben, ist kaum auszumachen. Die Wirksamkeit kann mit einer gewissen Plausibilität vermutet, aber nicht wissenschaftlich exakt nachgewiesen werden. Die Medienschlacht im Fall Kachelmann hat mindestens insofern Wirkung auf das Gericht gezeitigt, als bei der Urteilseröffnung die Medien gescholten wurden.86 85  Heinrich

124.

86  Pressemitteilung

des Landgerichts Mannheim vom 31. Mai 2011: http: /  / www. landgericht-mannheim.de / servlet / PB / menu / 1269214 / index.html (9.4.13).



2.2. Wozu Litigation-PR? Sinn und Zweck der Öffentlichkeitsarbeit 33

Jeder und jede hat wohl eine Vorstellung davon, ob und wie die Medien wirken. In der juristischen Fachliteratur finden sich Meinungsäusserungen dazu, ob Publizität auf die Organe der Strafrechtspflege Einfluss hat. Doch empirische Studien, die den Anforderungen an Wissenschaftlichkeit genügen, gibt es im deutschen Sprachraum nur wenige. In den USA hingegen ist die Wirkung von Pretrial publicity auf die Jury ein beliebtes Forschungsthema. Ob wir die Ergebnisse amerikanischer Studien auf unsere europäischen Verhältnisse übertragen können, ist allerdings eine weitere offene Frage (siehe S. 135). Öffentlichkeits- und Medienarbeit kann im Vorverfahren, während der Hauptverhandlung und im Rechtsmittelverfahren stattfinden. Litigation-PR kann bereits im Vorverfahren ein Korrektiv zur Informationshoheit der Staatsanwaltschaft darstellen und die Ermittlungen unter Umständen in eine andere Richtung lenken.87 Und sogar nach rechtskräftigem Urteil kann der Verteidiger die Wiederaufnahme des Verfahrens, die Erleichterung der Vollzugsbedingungen, die Gewährung von Hafturlaub, die bedingte Entlassung oder die Begnadigung anstreben: „Der Einfluss der Medien bei Lockerungen im Strafvollzug, bei Strafaussetzungen zur Bewährung und bei einer Begnadigung kann offenbar gross sein.“88 Doch ist heute die Öffentlichkeit gegenüber Straftätern wenig mild gestimmt, wie der Chef Justizvollzug des Kantons Zürich, Thomas Manhart, registriert.89 Mit der Annahme der Verwahrungsinitiative hat die Schweizer Bevölkerung zum Ausdruck gebracht, dass „Kuscheljustiz“ nicht mehr en vogue ist. Dem wegen Mordes verurteilten Bruno Zwahlen (siehe S. 37 ff.) gelang es, mit Unterstützung von Öffentlichkeit und Medien ein Wiederaufnahmeverfahren zu erreichen. Federführend dabei war der Weltwoche-Journalist Hanspeter Born. An die Medien kann ein Anwalt auch gelangen, um dem Klienten Geldmittel für die Prozessfinanzierung zu erschliessen. Der deutsche Rechtsanwalt Gerhard Strate vermittelte seiner Klientin Monika Weimar, die wegen der Tötung ihrer Kinder im Gefängnis sass, einen Exklusivvermarktungsvertrag mit der Illustrierten Stern.90 Damit konnte sie ihr Wiederaufnahmeverfahren finanzieren, das aber schliesslich erfolglos bleiben sollte (siehe S. 149 f.).

87  Wolff,

Medienarbeit, 176. Einfluss, 42. 89  Manhart, 193 ff. 90  Hamm 108 ff.; Tillmanns, ZRP 1999, 339 ff. 88  Gerhardt,

34

2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

2.3. Kein neues Phänomen „Litigation-PR ist nicht mehr als ein Werbebegriff, um ein alt bekanntes Produkt besser an den Mann (und an die Frau) bringen zu können …“ J. Jahn, Litigation-PR, 257.

Zwar ist der Begriff der Litigation-PR neu, aber nicht die Sache selber. Der Wirtschaftsredaktor, Jurist und Hochschullehrer Joachim Jahn ist nicht der einzige, der das Sprichwort vom alten Wein in neuen Schläuchen zitiert. Schon die Anhänger des Sokrates sollen 399 v. Chr. im Prozess gegen den umstrittenen Philosophen versucht haben, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Ihr Engagement blieb erfolglos, Sokrates wurde wegen Verführung der Jugend zum Tod verurteilt und musste den Schierlingsbecher nehmen. Erfolgreich war hingegen die Öffentlichkeitsarbeit zugunsten von Alfred Dreyfus, der Ende des 19. Jahrhunderts wegen Verrats von militärischen Geheimnissen zu Unrecht verurteilt worden war. In Deutschland waren nach dem zweiten Weltkrieg mehrere spektakuläre Straffälle zu beobachten, bei denen die Verteidiger Prozessführung über die Medien betrieben hatten.91 Doch blieben das bisher seltene Einzelfälle. Die Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Anwalts wird in den Vereinigten Staaten als Litigation-PR bezeichnet und hat sich dort zu einer eigenständigen und selbstbewussten Disziplin entwickelt. Versuche zur Instrumentalisierung der Medien sollen seit den 80er Jahren systematischer und offensichtlicher geworden sein.92 Anwälte scheinen keine Hemmungen mehr zu haben, den Kampf nicht nur im Gericht, sondern auch über die Medien auszutragen. Gewisse Eigentümlichkeiten des amerikanischen Rechtssystems haben diese Entwicklung begünstigt. Nicht nur der Zivilprozess, auch das Strafverfahren ist adversarisch oder kontradiktorisch ausgestaltet. Bei schweren Delikten, die in der Öffentlichkeit Anteilnahme erregen, kommt in der Regel eine Jury zum Einsatz. Die Geschworenen sind Laien und möglicherweise gegen mediale Einflüsse weniger gefestigt als es Berufsrichter wären. Zudem herrschen in den USA andere mediale Rahmenbedingungen: der Konkurrenzdruck unter den Medien ist höher, die Medialisierung der Rechtspflege weiter fortgeschritten als in Europa (siehe auch S.  162 ff.).93 Aber auch in den Ländern des kontinental-europäischen Rechtskreises findet Litigation-PR – trotz anderer rechtlicher Voraussetzungen – zuneh91  Siehe Joachim Wagner, Strafprozessführung über Medien, Baden-Baden 1987. Rainer Hamm, Grosse Strafprozesse und die Macht der Medien, Baden-Baden 1997. 92  Haggerty 6 ff.; Roschwalb / Stack 275 ff.; Schmitt-Geiger 60. 93  Schmitt-Geiger 58 ff., 64 ff.



2.3. Kein neues Phänomen35

mend die Aufmerksamkeit der Fachwelt und der Praktiker. Es sind vor allem spektakuläre Prozesse, die sich als Tummelplatz für medienbewusste Anwälte anbieten. Leider lässt sich Öffentlichkeitsarbeit des Anwalts kaum beobachten. Anwälte hängen ihre Medienkontakte nicht unbedingt an die grosse Glocke, sie schätzen Diskretion und begnügen sich oft damit, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Der Anwalt und Journalist Matthias Prinz vertritt denn auch die Meinung: „Am besten ist Litigation-PR, wenn man sie nicht bemerkt.“94 Ob die Initiative zur Orientierung der Medien jeweils von der Staatsanwaltschaft, von der Verteidigung oder von anderen Prozessbeteiligten ausging, ist nicht immer leicht zu bestimmen. Die Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft unterliegen grundsätzlich einer Schweigepflicht. Zum Bild des seriösen Anwalts gehören auch heute noch Diskretion und Verschwiegenheit, ganz abgesehen davon, dass eine Pflicht zur Wahrung des Berufsgeheimnisses besteht. Was die Öffentlichkeits- und Medienarbeit betrifft, war die schweizerische Praxis zum Standesrecht bis vor kurzem sehr restriktiv. Sie ist erst in jüngster Zeit, dank der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, etwas liberaler geworden.95 Die klassische Antwort des Anwalts auf die Anfrage eines Journalisten lautete bis anhin: kein Kommentar. Möglicherweise sind es weniger die Anwälte, denen es gelingt, die Öffentlichkeit zu mobilisieren, sondern es sind engagierte Journalisten, die auf einen Fall stossen und sich aus eigener Initative für den Beschuldigten oder bereits Verurteilten einsetzen. So geschah es in der Dreyfus-Affäre, und so war es auch im Mordfall Zwahlen. 2.3.1. Ein historischer Prozess: die Dreyfus-Affäre96 Ende des 19. Jahrhunderts bewegte der Strafprozess gegen den Offizier Alfred Dreyfus die Gemüter nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Dreyfus, einem aus dem Elsass stammenden Juden, wurde der Verrat von militärischen Geheimnissen an den Erzfeind Deutschland vorgeworfen. 1895 wurde Dreyfus verurteilt, öffentlich degradiert und auf die Teufelsinsel in Französisch-Guayana verbannt. 94  Siehe:

http: /  / planet-interview.de / interview-matthias-prinz-24032011.html (9.4.13). vom 13. Dezember 2007, No. 35865 / 04, Foglia c. Schweiz, siehe medialex 2008, 43 f. 96  Vincent Duclert, Die Dreyfus-Affäre: Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass, Berlin 1994. Louis Begley, Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantànamo, Alptraum der Geschichte, Frankfurt am Main 2009. George R. Whyte, Die DreyfusAffäre: Die Macht des Vorurteils, Frankfurt am Main 2010. 95  EGMR

36

2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

Für viele Beobachter war es offensichtlich, dass der Prozess von antisemitischen Vorurteilen geleitet war. Der Kriegsminister, Auguste Mercier, hatte schon vor der Verhandlung öffentlich erklärt, dass Dreyfus schuldig sei. Die Presse hatte Dreyfus ebenfalls fast einhellig vorverurteilt. Die Verhandlung vor dem Kriegsgericht war unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt worden. Den Richtern waren während der Beratung Dokumente vorgelegt worden, von denen Dreyfus und sein Verteidiger nichts wussten. Einige Monate nach dem Prozess entdeckte man, dass die Dokumente, die Dreyfus belasteten, gefälscht waren. Die neu entdeckten Beweise wurden aber unterdrückt und gelangten dem Bruder des Verurteilten, Mathieu Dreyfus, erst später und nur zufällig zur Kenntnis. Mathieu Dreyfus gelang es, die Unterstützung von Intellektuellen zu gewinnen. Einer der Prominentesten war der Romancier Émile Zola, der sich leidenschaftlich und eloquent für den Verurteilten einsetzte und damit auch Risiken einging. Die Gesellschaft spaltete sich in Dreyfusards und Antidreyfusards. Die Presse bildete ebenfalls zwei gegnerische Lager. Freundschaften brachen auseinander, Familien gerieten in Streit … Die Öffentlichkeitsarbeit der Dreyfusards war erfolgreich. Nach der Gutheissung des Revisionsgesuchs änderte sich die Stimmung in der Presse zugunsten von Dreyfus. Die Affäre kam ins Rollen. Weitere berühmte Mitstreiter schlossen sich der Sache von Dreyfus an, darunter die Schriftsteller Anatole France und Marcel Proust, sowie die späteren Ministerpräsidenten Georges Clemenceau und Léon Blum. Hatte sich das Blatt mit der Veröffentlichung des berühmten „J’accuse“ von Zola gewendet? Der an den Staatspräsidenten Félix Faure gerichtete offene Brief erschien 1898 in der linksgerichteten Zeitung L’Aurore und gilt heute noch als „ein Meisterwerk politischer Literatur“.97 Die Affäre Dreyfus wurde damit auch zur Affäre Zola. Zola wurde wegen Verleumdung angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, der er sich durch die Flucht nach England entzog. Im ersten Revisionsverfahren, im Jahr 1899, wurde Dreyfus nochmals schuldig gesprochen. Um der peinlichen Affäre ein Ende zu machen, bot man ihm Begnadigung an. Der zermürbte Dreyus fand sich damit ab. Erst 1906 wurde der zu Unrecht Verurteilte endgültig rehabilitiert und in den Majorsrang befördert. Zola allerdings konnte diesen Triumph nicht mehr erleben, er war 1902 unter nicht geklärten Umständen gestorben. Nicht nur in Frankreich erregte die Dreyfus-Affäre das Publikum. Über den Ausgang der Revision zeigte sich die gesamte ausländische Presse empört und rief zum Boykott gegen die Weltausstellung auf, die 1900 in Paris stattfinden sollte. Vor den französischen Botschaften im Ausland wurde für 97  Begley

146.



2.3. Kein neues Phänomen37

Dreyfus demonstriert. Noch im 21. Jahrhundert ist die Affäre nicht vergessen: Vandalen verunstalteten im Jahr 2002 die Statue von Dreyfus, die 1984 in Paris aufgestellt worden war. Und der erfolgreiche Regisseur Roman Polanski möchte als eines seiner nächsten Projekte die Dreyfus-Affäre verfilmen; das Drehbuch schreibt Bestsellerautor Robert Harris.98 Im Prozess gegen Dreyfus waren es nicht die Anwälte, die an die Me­dien gingen. Es war der Bruder von Alfred Dreyfus, Mathieu, dem es gelang, für seine Kampagne die richtigen Leute aus Literatur und Journalismus zu finden. Mathieu Dreyfus wird charakterisiert als „Autorität, guter Zuhörer und Organisator“,99 in der Sprache der Moderne könnte man ihn also als PRTalent bezeichnen. Er war in der glücklichen Lage, seine Mitstreiter gut zu bezahlen, die Familie Dreyfus war reich. So konnte er Gutachter engagieren, die auf Grund von Schriftvergleichen zum Schluss kamen, dass die belastende Akte nicht von Alfred Dreyfus stammen konnte. Heute sind die Mittel, derer sich ein Anwalt bedienen kann, vielfältiger und wirkungsvoller geworden. Zola könnte seine Meinung nicht nur über die Zeitungen verbreiten, er hätte die Möglichkeit, Radio und Fernsehen zu mobilisieren. Das Internet stünde ihm zur Verfügung, ein billiges, schnelles und weit verbreitetes Medium. 2.3.2. Mordfall Zwahlen: ein klarer Fall erfolgreicher Öffentlichkeitsarbeit100 „Hausfrau erschlagen und in Tiefkühltruhe versteckt“

So lautete am 6. August 1985 die Schlagzeile auf der Titelseite der schweizerischen Boulevard-Zeitung Blick. Der Tatverdacht fiel auf den Ehemann, Bruno Zwahlen. Das Geschworenengericht Bern Mittelland sprach ihn am 4. Dezember 1987 schuldig und verurteilte ihn zu lebenslänglichem Zuchthaus. Nach dem Prozess konnten sich vier der acht Geschworenen nicht abfinden mit der Art, wie die Berufsrichter mit dem Angeklagten, mit den Zeugen und mit den Geschworenen selber umgesprungen waren. Diese Geschworenen reichten eine Beschwerde bei der Justizkommission des Grossen Rates ein, ein absolutes Novum in der Berner Rechtspraxis. Einer der drei Berufsrichter wurde denn auch tatsächlich verwarnt. 98  NZZ

vom 21. Juni 2012, S. 53. 24. 100  Hanspeter Born, Mord in Kehrsatz. Wie aus einer Familientragödie ein Justizskandal wurde, Zürich 1989. Peter Maurer  / Gabriela Neuhaus  /  Dominique Strebel / Patrick Wuelser, Der galoppierende Kehrichtsack: Dichtung und Wahrheiten im Fall Zwahlen, Münsingen-Bern 1993. 99  Duclert

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2. Litigation Public Relations, Litigation-PR

Als Zwahlen bereits im Zuchthaus Thorberg sass, wurde der Journalist Hanspeter Born auf den Fall aufmerksam und begann zu recherchieren. Dabei stiess er auf zahlreiche Ungereimtheiten und Verfahrensfehler, die er in der Serie Ein klarer Fall in der Weltwoche und später als Buch mit dem Titel Mord in Kehrsatz publik machte. Born gewann die Unterstützung einer Geschworenen und gründete mit ihr und anderen Mitstreitern, darunter der ehemaligen Gerichtsberichterstatterin, den Verein „Fairness für Zwahlen“. Der Verein gab ein Inserat in Auftrag, das am 27. März 1990 in der Berner Tageszeitung Bund erschien. Darin forderte der Verein allfällige Entlastungszeugen auf, sich zu melden: „In Kehrsatz halten sich hartnäckig Gerüchte, wonach neben Frau Nelly Furrer noch zwei weitere Personen Frau Christine Zwahlen-Etter am Samstag, 27.7.1985, lebend gesehen haben. Wer dazu (oder überhaupt zum Fall Zwahlen) sachdien­ liche Angaben machen kann, wird dringend gebeten, sich unter Chiffre S 0525349 an Publicitas, 3001 Bern, zu melden. Absolute Diskretion wird zugesichert. Verein Fairness im Fall Zwahlen.“

Mit vereinter Kraft gelang es, die Öffentlichkeit und die Medien für den Fall zu interessieren. Andere Medien schlossen sich der Kampagne an, kirchliche Kreise liessen sich zur Unterstützung von Zwahlen bewegen, und mehrere Filmemacher – darunter Rolf Lyssy und Bernhard Giger – nahmen sich der Story an und machten sich ans Werk. Eine lebhafte Diskussion kam in Gang, die schliesslich Wirkung zeitigte: 1991 hiess der Kassationshof das Revisionsgesuch von Zwahlen gut. Im April 1993 begann der Revisionsprozess, der noch mehr Aufsehen erregte als der erste Prozess. Der Zuschauer­ andrang war gross. Mehr als 70 Medienschaffende hatten sich akkreditieren lassen, darunter der Star-Reporter Gerhard Mauz vom Spiegel. Am 19. Mai 1993 wurde Zwahlen freigesprochen, nach dem Grundsatz in dubio pro reo, wie fast zwanzig Jahre später Jörg Kachelmann (siehe S. 19). Für die Zeit seiner Haft erhielt Zwahlen eine Entschädigung. Nach seiner Freilassung absolvierte er noch einige Medienauftritte, dann wurde es still um ihn. Wie bei der Dreyfus-Affäre war es nicht Zwahlens Verteidiger, der sich an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Hanspeter Born hatte im Fall Zwahlen eine vergleichbare Stellung wie Zola in der Dreyfus-Affäre. Ohne das Engagement von Hanspeter Born hätte Bruno Zwahlen seine Freiheit nicht wieder erlangt. Mit seiner Serie in der Weltwoche und dem anschliessend publizierten Buch gelang es ihm, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Die überragende Bedeutung des 1989 erschienenen Buches zeigt sich auch darin, dass es 1993 im Revisionsprozess zitiert und benutzt wurde. Aufgebotene Zeugen, die sich nicht genau erinnern konnten, beriefen sich auf „das Buch“. Die Verteidigung stellte den Antrag, Auszüge aus „dem Buch“ zu den Akten zu nehmen, weil das Original des Prozessprotokolls fehlte!

3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations Medien und Public Relations richten sich beide an die Öffentlichkeit. Aber wer ist die Öffentlichkeit? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Medien? Beschreiben die Medien die Stimmung in der Öffentlichkeit oder rufen sie diese Stimmung erst hervor? Und wie gelingt ihnen das? Wie erreichen Public Relations die Öffentlichkeit? Wie beeinflussen Public Relations die Medienberichterstattung? Sind PR-Massnahmen und Litigation-PR erfolgreich?

3.1. Was ist Öffentlichkeit? „Öffentlichkeit besteht aus einer Vielzahl von Kommunikationsforen, deren Zugang prinzipiell offen und nicht an Mitgliedschaftsbedingungen gebunden ist …“ Qualität der Medien, Schweiz: Jahrbuch 2011, Glossar S. 550.

Das ist nur ein Beispiel für viele, aber zumeist ähnliche Umschreibungen.101 Es gibt nicht nur eine Öffentlichkeit, sondern eine Vielzahl von Teilöffentlichkeiten. Ein Beispiel für ein modernes, virtuelles Forum ist die Internetgemeinde.102 Vor dem Zeitalter der Massenmedien fand Öffentlichkeit statt auf dem Marktplatz (dem Forum), auf der Strasse, beim Brunnen, in der Kirche, im Kaffeehaus. Unterdessen hat der technische Fortschritt indirekte Formen der Öffentlichkeit ermöglicht. Information muss nicht mehr unmittelbar, im direkten Kontakt zwischen zwei Personen, ausgetauscht werden. Öffentlichkeit wird heute fast ausschliesslich durch die Medien vermittelt; das Wort Medium bedeutet ja Vermittlung. Die Massenmedien haben für die Vermittlung von Information so überragende Bedeutung gewonnen, dass man sich fragen kann, ob es Öffentlichkeit ohne Medien überhaupt noch geben kann. Medien stellen Öffentlichkeit erst her.103 Man darf aber „die Öffentlichkeit“ nicht ohne Weiteres mit der Bevölkerung gleichsetzen: Wenn beispielsweise behauptet wird, die Öffentlichkeit verlange härtere Strafen, sei das ein von den Medien inszenierter Unmut.104 101  Siehe

auch Bentele / Fröhlich / Szyska 610 f. 13; siehe auch Rehbinder, Litigation-PR, 779. 103  Saxer, medialex 2004, 26. 104  Niggli / Maeder 421. 102  Bernet

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3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

Tatsächlich hat eine Schweizer Umfrage zur Strafzumessung ergeben, dass die zufällig aus der Bevölkerung ausgewählten Studienteilnehmer weniger hart urteilten als die befragten Berufsrichter.105

3.2. Medien, Massenmedien „During the course of their daily lifes, people have direct contact with only a small sector of the physical and social environment.“ Bandura 98.

Dank der Medien hat der Mensch heute die Möglichkeit, viel mehr zu wissen, als er unmittelbar aus seiner eigenen Lebensumwelt erfahren kann. Ein Medium vermittelt den Informationsaustausch zwischen den Menschen, wenn die Kommunikation nicht mehr direkt und unmittelbar erfolgt. Das schweizerische Bundesgericht definierte den Begriff Medium im Zusammenhang mit dem Gegendarstellungsrecht nach Art. 28g ZGB: Ein Medium richtet sich an die Öffentlichkeit oder ist der Öffentlichkeit zugänglich. Kriterium für die Öffentlichkeit ist der unbestimmte und nicht kontrollierbare Empfängerkreis.106 Das Medium bedient sich zur Informationsvermittlung verschiedener Mittel, je nach dem Stand der Technik. Als Maria Stuart hingerichtet wurde, erfuhren die Franzosen den Tod ihrer früheren Königin erst durch Briefe, die wochen- oder monatelang unterwegs waren. Über das Urteil gegen Dreyfus berichteten die Zeitungen wenige Tage später in aller Welt darüber. Und heutzutage konnten wir dank des Internets nach ein paar Minuten erfahren, dass Jörg Kachelmann freigesprochen wurde. Medien bilden die Wirklichkeit nicht exakt ab, sie informieren nicht nur objektiv. Sie konstruieren oder rekonstruieren Realität.107 Medien treffen eine – manchmal willkürliche – Auswahl aus einer Vielzahl von Informa­ tionen. Sie liefern nicht nur „Muster und Modelle zum Verständnis der Welt“,108 sie können das Verhalten der Menschen steuern, wie die Medienwirkungsforschung zeigt. Wenn man heute von Medien spricht, sind in der Regel die Massenme­ dien gemeint. Bei einem Massenmedium findet keine persönliche Interakti105  Kuhn / Villettaz / Willi-Jayet / Willi, SZK 2004 / 01, 28 ff.; anders eine holländische Studie, siehe De Keijser / van Koppen / Elffers, Journal of Experimental Criminology 2007, 131 ff. 106  BGE 113 II 369, 371 ff. 107  Luhmann 13; Luginbühl / Baumberger / Schwab / Burger 7. 108  Boehme-Nessler, Rechtsprechung, 80.



3.2. Medien, Massenmedien41

on zwischen Sender und Empfänger statt; die Barrieren zwischen Raum und Zeit werden überwunden. Massenmedien richten sich an ein breites und anonymes Publikum, die Masse eben. Massenmedien nutzen besonders ausgeprägt die Suggestionskraft der Bilder.109 Visuelle Information übertrifft in ihrer Wirkung die rein verbale Information um ein Vielfaches. Boehme-Nessler spricht vom „Bildüberlegenheits­ effekt“.110 Bilder können einen Sachverhalt leichter und schneller verständlich machen als Text, sie sind eindrücklicher und können besser erinnert werden.111 Bewegte Bilder wiederum rufen intensivere Eindrücke hervor als statische Fotos.112 Das Fernsehen ist wohl darum so populär geworden, weil es auf Bild und Bewegung setzt. Für viele Menschen ist das Fernsehen zur wichtigsten, wenn nicht gar zur einzigen Quelle von Information geworden.113 Immerhin haben in der Schweiz auch heute noch 8 % der Haushalte kein Fernsehen und 5 % kein Radio.114 Bilder können unmittelbar starke Emotionen auslösen, die dem Menschen oft gar nicht bewusst werden.115 Bilder regen die „Bildung“ von Stereotypen und Vorurteilen an und verstärken sie.116 Der Kommunikations- und Medienpsychologe Siegfried Frey, der an der Universität Bern lehrte, spricht von der „Unbelehrbarkeit und Unbeirrbarkeit der visuellen Wahrnehmung“.117 Bilder wirken auf den ersten Blick glaubwürdiger als Worte, sie scheinen die Realität wahrhaftig „abzubilden“.118 Doch gerade dadurch lassen sich Menschen täuschen und vergessen, dass Fotos und Filme manipuliert werden können, dass auch Bilder manchmal lügen! Die Printmedien versuchen, sich dieser Erkenntnisse der kognitiven Psychologie zu bedienen, und reichern ihre Texte mit Bildern an. Ein Foto dient als Blickfang oder Aufhänger, illustrierte Berichte werden auch in den Printmedien bevorzugt wahrgenommen. Boulevard-Medien nutzen mehr Bilder als die seriöse Presse. Auch dem Rechtsanwalt wird in den Praxisratgebern zur Litigation-PR geraten, seine Darstellungen möglichst mit Fotos und Bildern zu versehen und audiovisuelles Material zu nut109  Boehme-Nessler, 110  Boehme-Nessler, 111  Anderson

BilderRecht, 55 ff. BilderRecht, 81.

118. 136 ff. 113  Garapon 231. 114  Nach Rainer Stadler in der NZZ vom 11. Februar 2011, S. 13. 115  Anderson 118; Friedrichsen  / Gerhardt, 1681 ff., Rdn. 37 ff.; Holzinger / Wolff 107; Frey 18; Boehme-Nessler, BilderRecht, 69. 116  Frey 21 f., 123. 117  Frey 143. 118  Boehme-Nessler, BilderRecht, 83 ff. 112  Frey

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3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

zen.119 Das gilt jedenfalls, wenn er in erster Linie das Publikum, weniger die Richter, beeinflussen möchte. Ende des 20. Jahrhundert entwickelte sich wiederum ein neues Medium, dessen Bedeutung für die Gesellschaft noch nicht abzuschätzen ist: das Internet. Die Möglichkeiten, welche diese neue Kommunikationsform dem Rechtsanwalt bieten, sind noch wenig erkundet. 3.2.1. Neue Medien, Internet, Social Media „Litigation-PR ist ohne Internet-Strategie unvollendet.“ Engel / Scheuerl 64, Rdn. 207.

Neue Medien bedienen sich der Computertechnik. Das Internet ermöglicht eine noch raschere und breitere Kommunikation als die traditionellen Medien. Die Information gelangt ohne Verzögerung, gleichzeitig und weltweit, zu den Konsumenten. Das Web ermöglicht eine zeitlich und räumlich grenzenlose Information. Audielle und visuelle Formate werden kombiniert, Informationen werden durch Links miteinander vernetzt. In der Schweiz sollen 80 % der Haushalte über mindestens einen Computer verfügen.120 Mehr als drei Viertel der Bevölkerung nutzen regelmässig das Internet.121 Auch für die Medienschaffenden selber ist das Internet zur hauptsächlichen Recherche- und Informationsquelle geworden. 95 % der Journalisten nutzen das Internet und seine Funktionen: E-Mail, Suchmaschinen, Datenbanken, Wikipedia, die Portale anderer Medien und die Websites von Verwaltungen und Unternehmen. Soziale Plattformen werden konsultiert, um Ideen für Artikel zu generieren, Trends zu erkennen, neue Perspektiven zu gewinnen und ergänzende Informationen zu erhalten. Reporter stehen nicht mehr im Trenchcoat an der Strassenecke, sie sitzen am Bildschirm.122 Die Beziehung zwischen Medium und Nutzer war bisher eine einseitige: das Medium informiert – der Nutzer konsumiert. Seit dem 21. Jahrhundert, mit der Entwicklung der Social Media im Web 2.0, haben Konsumenten die Möglichkeit, sich aktiv in die Kommunikation einzuschalten. Dank interaktiver Plattformen, Foren und Blogs wie Facebook, YouTube, Twitter kann der Nutzer Inhalte selber gestalten und Öffentlichkeit schaffen, ganz ohne Vermittlung der Medien. In der Schweiz soll heute bereits ein Drittel der 119  Holzinger / Wolff

112 ff.; Engel / Scheuerl 28, Rn.  87. Stadler in der NZZ vom 11. Februar 2011, S. 13. 121  Zielmann / Ettinger / Imhof 308. 122  Bernet 24 f. 120  Rainer



3.2. Medien, Massenmedien43

Bevölkerung in Facebook aktiv sein, vor allem jüngere Leute.123 Social Media haben für die jüngsten Ereignisse in der arabischen Welt – in Ägypten, Lybien, Syrien – eine wichtige Rolle gespielt. Auch die klassischen Medien, die Tageszeitungen, wollen sich dem Trend nicht verschliessen. Sie eröffnen Websites, Newsportale, Diskus­ sionsforen oder Blogs, um damit den Dialog mit den Nutzern zu ermöglichen. Leserbrief und Leserfoto sind nicht mehr die einzigen Formen der Beteiligung. Jeder kann sein eigenes Informationsangebot ins Netz stellen, seine eigenen Nachrichten kreieren, seine eigenen Medienmitteilungen versenden. Gehört dem sogenannten partizipativen Journalismus die Zukunft? Im Fall Kachelmann jedenfalls wurde das Internet von Anhängern beider „Parteien“ rege genutzt (siehe S. 18). Einige Medien gaben den Konsumenten die Möglichkeit, über Schuld oder Unschuld des Angeklagten in Online-Umfragen zu urteilen.124 Unternehmen können das Internet nutzen, um in einer Krise den eigenen Standpunkt klarzulegen. Die Einrichtung einer Hotline wird als vertrauensbildende Massnahme wahrgenommen.125 Der Nutzer wird es besonders schätzen, wenn ihm Gelegenheit geboten wird, seine Meinung in Foren oder Blogs zu äussern. Mögliche Strategien der Krisenkommunikation im Web beschreiben die amerikanischen Autoren Taylor und Kent, welche das Krisenmanagement von über 100 US-Firmen im Zeitraum zwischen 1998 und 2005 unter die Lupe genommen haben. Darunter finden sich so berühmte Fälle wie das Antitrust-Verfahren gegen Microsoft oder der Vioxx-Skandal, in den das Pharmaunternehmen Merck verwickelt war.126 Rechtsanwälte haben ebenfalls begonnen, die neuen Möglichkeiten zu nutzen. Das Internet stellt für Anwälte eine kostengünstige Möglichkeit dar, in Eigenregie, unabhängig und autonom ein mediales Forum zu schaffen. Heute verfügen denn auch die meisten Anwaltsbüros über eine eigene Website. Über die Social Media könnte der Anwalt ohne den Umweg über die Medien die Öffentlichkeit mobilisieren, auf fallbezogenen Internetseiten (Litigation Websites) die aktuelle Entwicklung in einem Rechtsstreit dokumentieren und seine Auffassung darlegen. In der Schweiz üben Anwälte und Verteidiger – glücklicherweise? – noch Zurückhaltung. Das Potential, das Internet und Social Media bieten, wird noch nicht ausgeschöpft. Dies hat eine Umfrage zur Nutzung von sozialen Netzwerken im Internet ergeben, 123  NZZ vom 29. November 2011, S. 13; Marie-Astrid Langer in der NZZ vom 12. Mai 2012, S. 35. 124  Knellwolf 79; Reike 196. 125  Nobel 208, 347. 126  Taylor / Kent, Public Relations Review 2007, 140 ff.

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3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

die anlässlich einer Tagung am Europainstitut in Zürich, ICT – Recht und Praxis: Online social networks, im September 2011 durchgeführt wurde.127 Bryan H. Reber und seine Mitarbeiter analysierten die Litigation Websites von drei amerikanischen Prominenten, Martha Stewart, Richard Scrushy und Michael Jackson. Der grösste Vorteil der Litigation-PR im Web sei die symmetrische Kommunikation, die nur im Internet möglich sei. Zwar sei der Dialog mit den Nutzern in der Litigation-PR noch nicht üblich, habe sich aber in den Public Relations generell als vertrauensbildend erwiesen. Nach Meinung der Autoren setzten die drei analysierten Websites dieses Ideal nur unzureichend um. Zwei der drei Angeklagten – aber nicht Martha Stewart – wurden tatsächlich freigesprochen.128 Ob dafür ihre Litigation Websites den Ausschlag gaben, können wir nicht wissen. 3.2.2. Medienwandel „Im Zweifelsfall berichtet inzwischen auch die NZZ über die Strapse von Paris Hilton …“ Russ-Mohl 92.

Alle Medien werden nebeneinander genutzt. Die alten Medien wurden keineswegs durch die neuen Medien verdrängt, wie Kulturpessimisten jeweils befürchteten. Doch sinkt die Auflage der Printmedien in der Schweiz seit längerer Zeit; die Bevölkerungszunahme konnte den Verlust nicht ausgleichen.129 Zugelegt hat einzig die Gratispresse.130 Die Medien passten sich den technischen Entwicklungen an und gingen online; die Online-Portale der Zeitungen und Zeitschriften werden zunehmend genutzt.131 Stephan Russ-Mohl, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Lugano, hält es für möglich, dass sich die Presse mit der Lancierung von Gratiszeitungen und Online-News ihr eigenes Grab geschaufelt hat.132 Warum soll der Nutzer bezahlen für etwas, was auch gratis zu haben ist? Auch der Druck zur Ak­ tualität schwächt die Medien gegenüber den Online-Plattformen.133 Deshalb sind viele Medienunternehmen unter finanziellen Druck geraten. Es ist ein Teufelskreis: Die Medien müssen sparen, sie streichen Stellen, die Qualität sinkt, die Abonnenten kündigen, die Auflage sinkt, die Inserenten 127  Nach

einer Meldung in plädoyer 2011 / 5, 76 ff. Journal of Public Relations Research 2006, 23 ff. 129  Rainer Stadler in der NZZ vom 11. September 2012, S. 13. 130  NZZ vom 6. September 2011, S. 13. 131  NZZ vom 6. November 2012, S. 13. 132  Russ-Mohl 84. 133  Grossenbacher, Staatskommunikation, 144. 128  Reber / Gower / Robinson,



3.2. Medien, Massenmedien45

bleiben aus, und die Medien müssen noch mehr sparen. Durch die Medienkonzentration ist die einstige Medienvielfalt in der Schweiz verloren gegangen. Wenn weniger Journalisten weniger Zeit haben für eigene Recherchen, ist die Versuchung gross, Medienmitteilungen der PR-Agenturen zu übernehmen, ohne eigenen Aufwand zu treiben. Der Medienwandel ist nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Art. Der Qualitätsjournalismus sei unter Druck geraten, berichtet die Neue Zür­cher Zeitung,134 eine Zeitung, die selber zu den seriösen Blättern, zu den Qualitätsoder Leitmedien gezählt wird, zu den „Leuchttürmen öffentlicher Kom­munika­ tion“.135 Dazu gehören neben der Neuen Zürcher Zeitung auch die New York Times, die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder das Wochenmagazin Spiegel.136 Den Qualitätsmedien wird besonders hohe Glaubwürdigkeit attestiert. Die sogenannten Boulevard-Medien – in Deutschland beispielsweise die Zeitung Bild, in der Schweiz der Blick – setzen auf Unterhaltung, auf Infotainment. Sie wollen den Leser gewinnen mit effekthascherischer Aufmachung, durch die Berichterstattung über Sensationen und Skandale, durch Personalisierung und Emotionalisierung, Populismus und Empörungsbewirtschaftung. Ein Strafverfahren eignet sich hervorragend dazu, diese Wünsche des Publikums zu bedienen. Auch die seriöse Presse, die den Anspruch hat, die Information der Bürger zu befördern und nicht die Sensationslust, kann sich der „Boulevardisierung“ nicht ganz entziehen. In der Podiumsdiskussion am 61. Deutschen Anwaltstag 2010 waren sich die Teilnehmenden – darunter der Verteidiger von Kachelmann, Johann Schwenn, und die Gerichtsreporterin des Spiegel, Gisela Friedrichsen – weitgehend einig, dass die Kontrollfunktion der Medien zugunsten der Unterhaltung des Publikums in den Hintergrund getreten sei.137 3.2.3. Funktionen der Medien „Medien transportieren Zeitgeist. Nicht selten tragen sie auch zu seiner Entwicklung bei.“ Mertin, ZRP 2005, 206.

Die Medien sind für die Meinungsbildung in Demokratie und Gesellschaft, für das politische und rechtliche Leben überhaupt, unerlässlich. Eine 134  Martina Leonarz, Werner A. Meier und Gabriele Siegert in der NZZ vom 21. Juni 2011, S. 54. 135  Roger Blum  / Heinz Bonfadelli / Kurt Imhof / Otfried Jarren (Hrsg.), Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation, Wiesbaden 2011. 136  Russ-Mohl 81; Jäckel 156, 218. 137  Siehe: http: /  / www.fr-online.de / medien / deutscher-anwaltstag-stoff-aus-demgerichtssaal,1473342,4458158.html (9.4.13).

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3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

moderne, demokratisch organisierte Gesellschaft ist ohne informierte Bürger und ohne unabhängige Medien nicht denkbar.138 Eine wichtige Funktion der Medien ist die Forums-, Integrations- oder Vermittlungsfunktion. Die Medien vermitteln Öffentlichkeit, ja, sie stellen Öffentlichkeit überhaupt erst her.139 Überspitzt gesagt: Was nicht in den Medien existiert, existiert überhaupt nicht. Medien vermitteln den Zeitgeist und können einen Wandel in den gesellschaftlichen Einstellungen hervorrufen.140 Da in einer grösseren Gemeinschaft nicht mehr alle Bürger direkt miteinander in Kontakt treten und über ihre Angelegenheiten diskutieren und entscheiden können, braucht es eine „Überbrückung“. Auch das Bundesgericht anerkennt diese Funktion: „Da nicht jedermann jederzeit an beliebigen Gerichtsverhandlungen teilnehmen kann, übernehmen die Medien mit ihrer Berichterstattung insofern eine wichtige Brückenfunktion, als sie die richterliche Tätigkeit einem grösseren Publikum zugänglich machen.“141 Die Medien vermitteln dem Bürger die Tätigkeit der Gerichte, weil dieser sein Recht zur Teilnahme an den Verhandlungen, das ihm durch Art. 30 Abs. 3 BV garantiert wird, nur selten in eigener Person wahrnimmt. Indem ihn die Medien vertreten, kontrollieren sie die Rechtspflege und üben eine „Wächterfunktion“ aus.142 Damit wird eine weitere Funktion der Medien angesprochen, die Kontrolle der drei staatlichen Gewalten. Von daher kommt die Bezeichnung der Medien als Vierte Gewalt. Die Aufgaben der Medien werden vom Staat anerkannt. In der Rechtsordnung finden sich Normen, die der besonderen Stellung der Medien Rechnung tragen. Die Medien geniessen Privilegien, abgesehen von der in Art. 17 BV garantierten Medienfreiheit. Ein bedeutendes Privileg der Medien ist der Quellenschutz im Strafrecht nach Art. 28a StGB und Art. 172 StPO: Gelangen Medien zu Kenntnissen über eine Straftat, so können die Strafbehörden die Medienschaffenden nicht zur Mitwirkung bei der Aufklärung der Straftat zwingen, ausser es besteht für eine Person Lebensgefahr oder wenn ein schweres Delikt begangen wurde.143 In einem neueren Urteil von 2010 hat das Bundesgericht entschieden, dass der Quellenschutz auch für den Me­ dien-Blog gilt. Das Medium, hier das Schweizer Fernsehen, musste den Verfasser des Beitrags nicht preisgeben.144 Medien können deshalb von Indiskretionen und Whistleblowing profitieren, ohne ihre Informanten bloss138  Imhof

99 f. medialex 2004, 26. 140  Mertin, ZRP 2005, 206; Schmitt, ZRP 2011, 221. 141  BGE 129 III 529, 532. 142  Michlig 27 ff. 143  BGE 132 I 181. 144  BGE 136 IV 145. 139  Saxer,



3.2. Medien, Massenmedien47

zustellen. Ein Anwalt kann einem Medium einen Tipp geben, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. 3.2.4. Macht und Ohnmacht der Medien Wegen ihrer überragenden Rolle für Staat und Gesellschaft werden die Medien, welche die drei staatlichen Gewalten kontrollieren, geläufig als „Vierte Gewalt“ bezeichnet. Die Medien machen Missstände publik. Dank des Quellenschutzes können sie Informationen von Insidern und Whistleblowern verwerten. Medienschaffende können einen Präsidenten stürzen: USPräsident Nixon wurde durch die Enthüllungen der Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward in der Washington Post zu Fall gebracht und musste 1974 zurücktreten. Zum Sturz eines Präsidenten braucht es nicht einmal Profis: Es waren Blogger, die den Skandal um eine Rede des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler auslösten und so den Anstoss zu dessen Rücktritt im Mai 2010 gaben.145 Die Medienwirkung ist nicht einseitig oder deterministisch. Mediennutzer konsumieren nicht nur passiv, sie entscheiden selber aktiv, welche Medien sie nutzen wollen, sie selektieren Information, sie reflektieren und interpretieren die Inhalte. So hat eine Umfrage bei deutschen Richtern ergeben, dass Richter vor allem die Gerichtsberichterstattung zu ihren eigenen Fällen studieren.146 Psychologische Mechanismen beschränken die Medienwirkung. Die Theorie der kognitiven Dissonanz wurde 1957 von Leon Festinger begründet:147 Menschen verarbeiten neue Informationen so, dass ihr bisheriges Weltbild nicht ins Wanken gerät. Und sie nutzen bevorzugt Informationen, die ihr bisheriges Weltbild bestätigen.148 Das Phänomen der Reaktanz wurde 1966 von Jack Brehm beschrieben.149 Dabei handelt es sich um einen kontraproduktiven Medieneffekt, zu vergleichen mit einem Bumerang-Effekt.150 Der Mediennutzer wehrt sich bewusst oder unbewusst gegen Persuasion und schiesst damit wie aus Trotz übers Ziel hinaus. Weil er die Werbung für das Waschmittel, das am weissesten wäscht, nicht mehr sehen und hören kann, kauft er aus Überdruss ein anderes Waschmittel. Reaktanz ist auch für den Medieneinfluss auf rechtliche Entscheidungen von Bedeutung (siehe S. 153 ff.). 145  Binz / Gullotti

126 f.

146  Kepplinger / Zerback,

Publizistik 2009, 224 f. Festinger, A theory of cognitive dissonance, Stanford 1957. 148  Nach Femers 53 f. 149  Jack Williams Brehm, A theory of psychological reactance, New York 1966. 150  Nach Femers 57 f. 147  Leon

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3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

Wie schätzen Menschen selber ihre eigene Beeinflussbarkeit durch die Medien ein? Bei Umfragen geben die Mehrzahl der Teilnehmer an, sie seien resistent gegenüber Medieneinflüssen. Ihren Mitmenschen hingegen trauen sie nicht die gleiche Widerstandskraft zu. Die eigene Beeinflussbarkeit wird überschätzt, diejenige der anderen unterschätzt. Das Phänomen wird als Third-Person-Effekt, Third-Person-Phänomen oder – verdeutscht – Andere-Leute-Effekt bezeichnet.151 Übrigens sind auch Richter überzeugt, dass sie selber dem Einfluss der Medien nicht unterliegen, ihre Kollegen vielleicht aber schon – ganz zu schweigen von Laien!152 Menschen ver­ mögen sich selber eben nicht objektiv zu sehen. Deshalb sind die Resultate von Umfragen oder Selbsteinschätzungen immer mit Vorsicht zu geniessen. Auch in ökonomischer Hinsicht unterliegen die Medien Schranken. Sie sind Unternehmen des Privatrechts und den Gesetzes des Marktes unterworfen. Sie müssen Gewinn erzielen, was ihre Macht wieder einschränkt. Das musste der Tages-Anzeiger 1979 feststellen, als er sich erlaubte, einen kritischen Artikel über die Autolobby zu veröffentlichen. Die schweizerischen Autoimporteure zogen ihre Inserate zurück, und die Tageszeitung erlitt einen beträchtlichen Einnahmenausfall.153 Medien sind finanziellen Zwängen unterworfen, heute noch mehr als früher. Sie müssen Kosten senken, sie müs­ sen Personal einsparen oder weniger qualifizierte Leute einstellen, gerade auch im Ressort der Gerichtsberichterstattung. Medienschaffende, die unter zeitlichem Druck stehen, können in Versuchung geraten, PR-Meldungen unbesehen zu übernehmen. 3.2.5. Medienwirkung und Medienwirkungsforschung Im 18. Jahrhundert schrieb Johann Wolfgang Goethe den Roman Die Leiden des jungen Werther, erschienen 1774. Es geht darin um einen jungen Mann, der wegen unerwiderter Liebe den Freitod wählt. In den Jahren nach der Veröffentlichung des Romans bemerkte man, dass sich viele junge Männer umbrachten. Die Romanfigur schien als Modell gewirkt zu haben. Der Roman wurde deswegen auch zeitweilig verboten. Von daher erhielt das Phänomen seinen Namen „Werther-Effekt“. Zu dieser Zeit gab es keine systematische Untersuchungen, die unsere heutigen Kriterien der Wissenschaftlichkeit erfüllen. Doch scheint die Beobachtung plausibel, denn dieses natürliche Experiment wurde später repliziert, auf ebenso un151  Perloff

252 ff.; Gerhardt, ZRP 2009, 250. ZRP 2009, 248, 250; Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 229,

152  Gerhardt,

235.

153  Nobel

356 f.



3.2. Medien, Massenmedien49

absichtliche Weise: Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) sendete 1981 die Serie Tod eines Schülers, in der sich ein 18jähriger unter einen fahrenden Zug warf. Da Daten über alle Suizide auf dem Netz der Deutschen Bahn zur Verfügung standen, konnte die Zunahme der Suizide bei jungen Männern und Frauen belegt werden. Eineinhalb Jahre später wurde die Serie erneut ausgestrahlt; es zeigte sich der gleiche, wenn auch etwas schwächere Effekt.154 Ob und inwiefern Medien Einfluss ausüben, ist Thema der Medienwirkungsforschung.155 Auch zu Medienwirkungen in den Bereichen Strafrecht und Kriminalität haben sich Wissenschaftler Gedanken gemacht. Eine erwünschte Medienwirkung stellt die Realisierung der Generalprävention dar.156 Dem Bürger soll vermittelt werden, dass sich Verbrechen nicht lohnen. Leider gibt es zur Wirksamkeit der Generalprävention keine gesicherten Erkenntnisse. Am meisten Aufmerksamkeit hat in der empirischen Forschung die Frage gefunden, ob der Konsum von Gewaltdarstellungen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, dazu führt, dass die Schwelle für die Ausübung realer Gewalt sinkt. Pionier auf diesem Forschungsgebiet war der amerikanische Lernpsychologe Albert Bandura; seine Experimente führte er in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts durch. Kinder sahen einen Film, in dem das Modell, ebenfalls ein Kind, eine Gummipuppe mit einem Holzhammer schlug und dafür belohnt wurde. Die Kinder neigten anschliessend dazu, das aggressive Verhalten nachzuahmen. Später haben Längsschnittstudien bestätigt, dass Jugendliche, die als Kinder mehr Gewaltdarstellungen konsumierten als andere, später zu aggressiverem Verhalten neigten.157 Von solchen oder ähnlichen Vorstellungen hat sich wohl auch der schweizerische Gesetzgeber leiten lassen, als er den Straftatbestand des Verbots von Gewaltdarstellungen schuf; Art. 135 StGB ist seit 1990 in Kraft. Umstritten ist, ob die Berichterstattung über Kriminalität und Gewalt für die zunehmende Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung verantwortlich ist. Medien berichten nicht über die Alltagskriminalität, über Bagatelldelinquenz, sondern bevorzugt und ausgiebig über Mord und Totschlag, Gewalttaten, Sexualdelikte, Terrorakte oder über Delikte, die gerade im Blickpunkt des Interesses stehen.158 Selektive Informationen und mediale Aufbereitung von Einzelfällen kann beim Mediennutzer einen falschen Eindruck von der 154  Sparks

192 ff. einen Überblick über die Theorien der Medienwirkung siehe Bonfadelli / Friemel / Wirth, 605 ff. 156  W. Hassemer, Einfluss, 65; Neuling 82 ff.; Reike 132 f., 137. 157  Nach Sparks 80 ff. 158  Kaiser, ZRP 2002, 30; siehe auch Jäger, 96 ff., Rz. 283 ff. 155  Für

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3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

Häufigkeit schwerer Verbrechen verursachen.159 Er entwickelt Angst, selber zum Opfer einer Gewalttat zu werden. Ebenfalls zu den unerwünschten Folgen medialer Berichterstattung gehören Nachahmungstaten, beispielsweise Amokläufe und Terrorakte.160 Terroristen wollen durch spektakuläre Aktionen die Öffentlichkeit auf ihre Ziele aufmerksam machen. Die einstigen RAF-Terroristen betrieben geradezu professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Wenn Medien unsere Realität konstruieren, so dürften auch die Rechtskenntnisse der Bevölkerung, das Wissen über Strafrecht und Strafverfahren, von der Darstellung in den Medien geprägt sein. Doch scheinen die Medien das Bild des Rechtssystems eher zu verzerren.161 Der Hochschullehrer Klaus Bernsmann fragte in einer mündlichen Prüfung den Studenten, wie viele Geschworene im deutschen Schwurgericht sässen. Der Prüfling gab prompt und bestimmt die Zahl 12 an. Als Bernsmann die gleiche Frage in einer Anfängervorlesung stellte, gab es dazu unterschiedliche Meinungen: 4, 6 oder 12 Geschworene. Die Studenten erklärten, ihr „Wissen“ aus dem Fernsehen zu haben, vor allem aus amerikanischen Kriminalfilmen.162 Falsche Vorstellungen beschränken sich nicht auf Studenten: In einer Umfrage von Zitscher aus dem Jahr 1967 war mehr als ein Fünftel der befragten Journalisten der irrigen Meinung, dass die deutschen Schöffen nur über die Schuldfrage befinden dürften.163 3.2.6. Voraussetzungen der Medienwirkung „Die Justiz dringt auf Einhaltung von Normen, die Massenmedien sind hingegen an Normen nur interessiert, insofern sie spektakulär durchbrochen werden.“ Hörisch, StV 2005, 153

Medien können die Einstellungen und das Verhalten von Menschen beeinflussen. Aber wie muss eine mediale Botschaft beschaffen sein, damit sie die Nutzer erreicht? Bereits erwähnt wurde die Bedeutung visueller Information (siehe S. 41 f.). Um eine einseitig steuernde Funktion der Medien handelt es sich nicht, es bestehen wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Medien und der 159  Kaiser,

131 ff.

ZRP 2002, 30 ff.; Kunz 271, Rn. 25; Hanslmaier / Kemme, ZSR 2011,

160  Bandura 161  Ernst,

110 f. NJW 2010, 744 f.; Boehme-Nessler, Rechtsprechung, 88; Koppenhöfer,

Justiz, 281. 162  Bernsmann 2; siehe § 74 Abs. 2 des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG). 163  Zitscher 75.



3.2. Medien, Massenmedien51

Öffentlichkeit. Medien müssen ihre Berichterstattung nach den Bedürfnissen der Konsumenten ausrichten, danach, was die Nutzer tatsächlich oder vermeintlich lesen, hören oder sehen wollen. Konsumenten und Inserenten haben ebenfalls Macht, die Macht, den Konsum zu verweigern oder das Medium zu boykottieren. Der Boykott des Tages-Anzeigers durch die Autoindustrie wurde bereits erwähnt (siehe S. 48). Die zwei wesentlichen Voraussetzungen der Medienwirkung sind einerseits die mit der Information verbundenen Nachrichtenwerte und andererseits die Glaubwürdigkeit des Mediums. Ein hoher Nachrichtenwert bringt den Konsumenten dazu, die Medienmitteilung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen; dank der Glaubwürdigkeit wird die Information ernst genommen. Diese Bedingungen muss auch der Anwalt bei seiner Medienarbeit in Betracht ziehen. Medien müssen ihre Berichterstattung nach bestimmten Selektionskriterien, den Nachrichtenwerten oder Nachrichtenfaktoren, ausrichten.164 Hohen Nachrichtenwert haben beispielsweise die Prominenz eines Beteiligten oder der lokale Bezug eines dramatischen Ereignisses. Skandale, Krisen oder ein Strafverfahren sind besonders geeignet, den Konsumenten anzusprechen, weil der Nachrichtenfaktor der Negativität – only bad news are good news – erfüllt ist.165 Bei einem Strafverfahren geht es um einen Normverstoss. Für die Medien besonders ergiebig sind Normverstösse, wenn noch andere Nachrichten­ faktoren hinzukommen. Die amerikanischen Autoren Hardaway und Tummi­ nello nennen die Prominenz des Täters oder des Opfers und eine besonders schockierende Art des Verbrechens.166 Im Prozess gegen Jörg Kachelmann (siehe S. 17 ff.) waren die Nachrichtenwerte in idealer Weise kom­ biniert. Prominenz ist an sich schon ein Leckerbissen für die Medien, und Sexualdelikte stossen ebenfalls auf Neugier: Sex sells. Das Sexualleben einer prominenten Person ist besonders pikant. Ebenfalls zur High Society gehörte der amerikanische populäre Football-Star O. J. Simpson (siehe S. 165 f.), der des Mordes an seiner Ehefrau und deren Freund angeklagt war. Das Liebesdrama, der betrogene Ehemann, ist ein beliebtes Medienthema. Schliesslich spielte das Rassenproblem eine Rolle: ein Schwarzer tötete seine weisse Frau und deren ebenfalls weissen Freund. Im Fall Zwahlen (siehe S. 37 f.) ging es zwar nicht um einen prominenten Tatverdächtigen, aber um ein schweres Delikt, um Mord. Dazu waren die Tatumstände ungewöhnlich und schockierend: Der verdächtige, nicht geständige Bruno Zwahlen soll seine 164  Bentele / Fröhlich / Szyska

131.

165  Heinrich

66 f.

166  Hardaway / Tumminello,

609; Heinrich 63 ff.; Hanslmaier / Kemme, ZSR 2011,

The American University Law Review 1996, 44.

52

3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

junge, attraktive Ehefrau erschlagen und die Leiche in der Gefriertruhe versteckt haben, wo sie dann von den Eltern des Opfers entdeckt wurde. Ein wichtiges, vielleicht das zentrale Kriterium ist für die Mediennutzer die Glaubwürdigkeit der Informationsquelle als „Grundvoraussetzung für die Kommunikatorwirkung“.167 Als besonders glaubwürdig werden die sogenannten Leit- oder Qualitätsmedien angesehen, die den Ruf haben, seriös und objektiv informieren zu wollen. Dabei erscheinen redaktionelle Beiträge als vertrauenswürdiger als Inserate.168 Bei einer Online-Umfrage an 1000 Personen in Deutschland durch Christoph Neuberger von der Ludwig-Maximilians-Universität München nannten die Teilnehmer als wichtigste Kriterien für guten Journalismus: Glaubwürdigkeit, Sachlichkeit, Unabhängigkeit und Themenkompetenz.169

3.3. Öffentlichkeitsarbeit, Public Relations Was Öffentlichkeitsarbeit oder Public Relations ausmacht, ist am besten über ihren Zweck zu verstehen. Öffentlichkeitsarbeit möchte eine Behörde, eine Organisation, ein Unternehmen oder eine Einzelperson in ein günstiges Licht setzen. Mit Public Relations will ein Unternehmen die Stimmung der Kunden und Geschäftspartner heben. Es möchte Wohlwollen, Verständnis, Vertrauen, Goodwill gegenüber dem Unternehmen erlangen, sein Image pflegen und seine Reputation fördern. Werbung und Marketing hingegen geht es darum, direkt den Absatz von Produkten oder Dienstleistungen zu fördern. Public Relations zielen auf eine eher langfristige und anhaltende, nachhaltige Wirkung, sie dienen aber mittelbar natürlich ebenfalls der Absatzförderung. Für die Mehrzahl der Schweizer Unternehmen ist Public Relations eine Selbstverständlichkeit.170 Grosse Unternehmen haben eigene Kommunikations- oder PR-Abteilungen, kleinere beauftragen externe Agenturen. Auch öffentliche Instanzen haben begonnen, Öffentlichkeitsarbeit zu machen. Sie wollen damit dem Bürger und Steuerzahler ihre Tätigkeit nahebringen und Transparenz herstellen. Mittel der Öffentlichkeitsarbeit sind: Sponsoring, Medienmitteilungen, Medienkonferenzen, Tag der offenen Tür und andere Veranstaltungen. Zu einem grossen Teil wird Öffentlichkeitsarbeit über die Medien vermittelt. Auch für Werbung und Marketing ist ein Unternehmen auf die Medien angewiesen. 167  Femers

52. Medienarbeit, 20. 169  Nach einer Meldung der NZZ vom 28. Dezember 2012, S. 54. 170  Röttger / Hoffmann / Jarren 134; Röttger 382. 168  Wolff,



3.3. Öffentlichkeitsarbeit, Public Relations53

Neue Möglichkeiten zur Selbstständigkeit eröffnen Internet und Social Media. Doch hat das Internet einen gewichtigen Nachteil: Sobald ein Beitrag im Web erscheint, ist keine Kontrolle mehr möglich. Der Versuch, bereits publizierte Informationen zu unterdrücken oder wieder zu entfernen, ist kontraproduktiv, rechtliche Massnahmen sind ungeeignet.171 Ein weiteres Problem von Public Relations im Internet ist die Glaubwürdigkeit. Klaus Streeck, Professor für Wirtschaftskommunikation an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, hält es für empfehlenswerter, professionelle Medienschaffende und „hochreputierliche“ Medien einzubinden, als die eigenen Inhalte direkt ins Internet zu stellen.172 Public Relations sind eine Wachstumsbranche, wie aus dem Berufsregister der Schweizerischen PR-Gesellschaft SPRG hervorgeht.173 Da im PRBereich keine spezifische Berufsausbildung existiert, sind viele Quereinsteiger tätig. Vor allem Journalisten wechseln in die verwandte, aber wachsende PR-Branche, wo sie besser bezahlt werden. Sie beherrschen den Umgang mit den Medien und können ihre Beziehungen zu früheren Kollegen nutzen. Man kennt einander, die PR-Leute wissen, was Journalisten wollen. Medienmitteilungen und Medienkonferenzen sind für Journalisten eine ergiebige und zeitsparende Recherchequelle.174 Gerät ein Unternehmen in eine Krise, ist es Aufgabe der PR-Berater, dafür zu sorgen, dass die Reputation möglichst wenig beeinträchtigt wird. Dieser Zweig der PR wird als Krisen-PR oder Krisenkommunikation bezeichnet. Das Unternehmen vor Reputationsschaden zu bewahren, ist auch eines der Ziele von Litigation-PR. Besonders erfolgversprechend ist die Krisenkommunikation, wenn sich das Unternehmen seine Reputation bereits in den guten Zeiten erarbeitet hat und in der Krise davon zehren kann.175 Eine positive Resonanz in den Medien ist erstes Erfolgskriterium für PR; zur empirischen Überprüfung dienen Medienresonanzanalysen.176 Dazu sagt die Pionierin der PR-Wirkungsforschung, Barbara Baerns: „Öffentlichkeitsarbeit hat erfolgreich Einfluss ausgeübt, wenn das Ergebnis der Medienberichterstattung ohne diese Einflussnahme anders ausgesehen hätte.“177

171  Ruisinger

220, Fn. 413. 133. 173  Nach Röttger / Hoffmann / Jarren 75; Röttger 392. 174  Röttger / Hoffmann / Jarren 182 ff.; Röttger 392 f. 175  Heinrich 170 f. 176  Röttger / Hoffmann / Jarren 145 ff. 177  Baerns 17. 172  Streeck

54

3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

3.3.1. Public Relations und Medienschaffende „Journalisten bilden eine extrem selbstbewusste Personengruppe, sie verstehen sich in gewisser Hinsicht als moralische Instanz. Es ist enorm schwierig, sie gegen ihren Willen zu beeinflussen.“ Streeck 132 f.

Während es das vornehmste Ziel der Medien sein sollte, objektiv zu informieren, bezweckt Öffentlichkeitsarbeit oder Public Relations einseitige Interessenwahrung.178 Insofern hat sie dieselbe Funktion wie der Rechtsanwalt, der einen Klienten vertritt. Der Einfluss von Public Relations auf die Medienberichterstattung wurde empirisch mehrfach nachgewiesen. 1985 erschien die Pionierarbeit von Barbara Baerns über die Wirkung der Öffentlichkeitsarbeit deutscher Behörden.179 In der Schweiz publizierte Grossenbacher 1986 eine entsprechende Studie,180 die von ihm selbst und seinen Mitarbeitern im Jahr 2006 repliziert wurde.181 2010 untersuchte ein weiteres schweizerisches Team die Wirkung von Unternehmens-PR.182 Auf Grund der Studienergebnisse muss man annehmen, dass Public Relations die journalistische Berichterstattung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht weitgehend lenken.183 PR-Agenturen können nicht nur Themen vorgeben und so – mit Agenda Setting – die Medienberichterstattung steuern.184 Indem sie den Termin für die Medienkonferenz oder die Ausgabe der Medienmitteilung festsetzen, bestimmen sie den Zeitpunkt, in dem ihr Anliegen publik wird. Nach der Studie von Bürgis und Mitarbeitern werden 40 % der Berichterstattung über Unternehmen durch Public Relations ausgelöst, und drei Viertel der Artikel erscheinen zum nächstmöglichen Zeitpunkt.185 Die Abhängigkeit der Redaktionen von der Öffentlichkeitsarbeit der Unternehmen und Behörden soll in den letzten Jahren zugenommen ha­ 178  Röttger 382; Bürgis  / Gisler / Eisenegger, Qualität der Medien, Schweiz: Jahrbuch 2011, 434 f. 179  Barbara Baerns, Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus? Zum Einfluss im Mediensystem, Köln 1985. 180  René Grossenbacher, Die Medienmacher: Eine empirische Untersuchung zur Beziehung zwischen Public Relations und Medien in der Schweiz, Solothurn 1986. 181  René Grossenbacher / Thomas Forsberg / Isabel María Koch / Matthias Brändli, Politische Öffentlichkeitsarbeit in regionalen Medien, Kilchberg 2006. 182  Bürgis  /  Gisler  /  Eisenegger, Qualität der Medien, Schweiz: Jahrbuch 2011, 433 ff. 183  Röttger / Hoffmann / Jarren 396 ff. 184  Grossenbacher, Staatskommunikation, 139; Russ-Mohl 92. 185  Bürgis / Gisler / Eisenegger, Qualität der Medien, Schweiz: Jahrbuch 2011, 446 f.



3.3. Öffentlichkeitsarbeit, Public Relations55

ben.186 Ein Grund dafür ist der Spardruck, dem die Medien ausgesetzt sind. Immer weniger gut ausgebildete Journalisten stehen immer mehr sachverständigen, gut bezahlten PR-Fachleuten gegenüber. Der investigative Journalismus, die teure Originalrecherche, der Primeur – sie verlieren notwendigerweise an Gewicht. Journalisten müssen sich wohl oder übel damit begnügen, Informationen zu verarbeiten, die leicht zugänglich sind, um die sie sich nicht extra bemühen müssen und die sie tel quel weiterverwenden können. Medienkritiker beklagen diese zunehmende und nicht immer offen gelegte Abhängigkeit der Medien von Public Relations. Mangelnde Transparenz ist ein Problem. Medienschaffende geben die Quelle ihrer Informationen nicht immer korrekt an. Nach der Studie von Bürgis und Mitarbeitern erfolgt nur bei einem Viertel der Beiträge eine korrekte Quellenangabe, zudem übernimmt mehr als die Hälfte der Presseartikel die Optik des Unternehmens unkritisch.187 Wenn der Einfluss von Public Relations zunimmt, ohne dass er deklariert wird, wird die Kontrollfunktion der Medien geschmälert. Mit der Zeit schwindet die Glaubwürdigkeit der Medien.188 Im schlimmsten Fall werden Journalisten zu „Wasserträgern der Unternehmen“.189 Journalisten selber neigen dazu, den Beitrag von PR auf ihre Arbeit zu vernachlässigen oder zu unterschätzen.190 Medienschaffende haben Mühe zuzugeben, dass keine Eigenleistung erbracht wurde, obwohl der Schweizer Presserat in Richtlinie 2.3 vorschreibt, dass Medienmitteilungen als solche zu kennzeichnen sind.191 Und – wie bereits erwähnt – es bestehen zwischen PR und Medien enge personelle Verflechtungen, die einer kritischen Distanz nicht förderlich sind. Diese Phänomene deuten darauf hin, dass Public Relations die Medienberichterstattung beeinflussen, determinieren. Der Begriff Determinationshypothese oder Determinationsthese wurde zwar nicht von Barbara Baerns selber geprägt, geht aber auf ihre Arbeiten zurück.192 Manche Autoren halten die Hypothese für zu einseitig, da wechselseitige Einflüsse vernach186  Grossenbacher, Staatskommunikation, 143; Bürgis / Gisler / Eisenegger, Qualität der Medien, Schweiz: Jahrbuch 2011, 449 f.; Russ-Mohl 90; Rainer Stadler in der NZZ vom 7. Oktober 2011, S. 11. 187  Bürgis / Gisler / Eisenegger, Qualität der Medien, Schweiz: Jahrbuch 2011, 445. 188  Russ-Mohl 89 f. 189  Sergio Aiolfi in der NZZ vom 11. Oktober 2011, S. 54. 190  Grossenbacher, Medienmacher, 22, 77 ff.; Russ-Mohl 90; Beat Waber in der NZZ vom 24. Dezember 2011, S. 23. 191  Richtlinien zur Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten, siehe: http: /  / presserat.ch / 12810.htm (9.4.13). 192  Bentele / Fröhlich / Szyszka 584 f.; Heinrich 202, Fn.  118.

56

3. Öffentlichkeit, Medien, Public Relations

lässigt würden. Diese Wechselwirkungen versuchten Günter Bentele und seine Mitarbeiter mit ihrem Intereffikationsmodell zu integrieren.193 Für die Litigation-PR sind diese Ergebnisse interessant. Anwälte können vor allem die Tatsache nutzen, dass bei den Medien gespart werden muss, gerade auch im Ressort Gerichtsberichterstattung. Die Medienschaffenden werden deshalb gerne auf „Instant-Informationen“ zurückgreifen, ob diese nun von der Staatsanwaltschaft, vom Verteidiger oder von der PR-Abteilung eines Unternehmens stammen. Die Unterlagen können die Journalisten mit minimer redaktioneller Bearbeitung und ohne viel Zeitaufwand übernehmen. Litigation-PR kann damit direkt die Berichte über einen Strafprozess steuern. Doch gibt der Kommunikationswissenschaftler Klaus Streeck zu bedenken, dass es nahezu unmöglich sei, einen guten Journalisten gegen dessen Willen zu beeinflussen. Mindestens müsse man die Informationen so aufbereiten, dass sie dem Journalisten den Eindruck von Objektivität geben.194 Im gleichen Sinn weist Ines Heinrich darauf hin, dass Journalisten gerade in Krisen nicht unbesehen die Sichtweise des Unternehmens übernehmen. Sie würden die Stellungnahmen der PR eher hinterfragen, und die Eigenleistung nehme wieder zu. Medienschaffende seien gegenüber den Pressemeldungen eines Unternehmens, dessen Exponenten in ein Strafverfahren verwickelt sind, besonders kritisch und liessen sich nicht im gewohnten Mass instrumentalisieren. Im Übrigen sei der Einfluss von Krisen-PR auf die Medienberichterstattung empirisch noch weitgehend ungeklärt.195

193  Bentele / Fröhlich / Szyszka 194  Streeck

132 ff. 195  Heinrich 202 ff.

594 f.

4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren Bis Ende 2010 hatten die Kantone und der Bund ihr eigenes Strafprozessrecht. Seit 2011 gilt für die ganze Schweiz einheitliches Recht. Rechtsanwalt Edy Salmina, ehemaliges Mitglied des Presserats, fällt auf, dass die neue Strafprozessordnung bezüglich Öffentlichkeit eher restriktiver ausgestaltet ist, als man vielleicht erwartet hätte, vermutlich wegen schlechter Erfahrungen im Ausland und als Gegenreaktion auf die Medialisierung.196 So bleiben nach Art. 71 StPO Bild- und Tonaufnahmen im Gerichtssaal verboten. Noch im Vorentwurf von 2001 war für Aufnahmen eine Bewilligungspflicht vorgesehen.197 In der definitiven Botschaft 2005 sind Bild- und Tonaufnahmen kein Thema mehr.198 Für die Gestaltung des Verhältnisses zu Öffentlichkeit und Medien finden sich im Strafprozessrecht Regeln, die vor allem den Sinn haben, dem Beschuldigten ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK zu gewährleisten: das Amtgeheimnis im Vorverfahren, die Unschuldsvermutung, die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung und schliesslich die richterliche Unabhängigkeit, die durch Medieneinfluss gefährdet werden kann. Das Strafverfahren verläuft in zwei Phasen, die je ein anderes Verhältnis zu Öffentlichkeit und Medien haben: das nicht öffentliche Vorverfahren und das erstinstanzliche Hauptverfahren mit öffentlicher Hauptverhandlung und Urteilsverkündung. Eventuell schliesst sich noch das ebenfalls öffentliche Rechtsmittelverfahren an.

196  Salmina,

medialex 2011, 11 f. Abs. 3 des Vorentwurfs des EJPD bzw. Bundesamts für Justiz, Juni 2001, siehe: http: /  / www.bj.admin.ch / content / dam / data / sicherheit / gesetzgebung / straf prozess / vn-ve-1-d.pdf (9.4.13). 198  Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006, 1085 ff. 197  Art. 77

58

4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

4.1. Zwei Phasen des Strafverfahrens „… demnächst werde es verboten, in der Voruntersuchung und in der Hauptverhandlung die gleiche Schreibmaschine zu benutzen.“ Stauffer 63.

Das Vorverfahren wird durch Polizei und Staatsanwaltschaft unter Leitung der Staatsanwaltschaft geführt. Sachverhalt und Täterschaft werden abgeklärt. Sind die Ermittlungen beendet, hat der Staatsanwalt drei Möglichkeiten: – die Einstellung des Verfahrens nach den Art. 319–323 StPO, – den Erlass eines Strafbefehls nach den Art. 352–356 StPO, – die Erhebung der Anklage beim Gericht nach den Art. 324–327 StPO. Der Zugang der Öffentlichkeit zum Strafverfahren ist in Art. 69 StPO geregelt. Danach gilt: Geheimes Vorverfahren – öffentliches Hauptverfahren. Doch diese Grundsätze werden aufgeweicht, Riklin spricht von einer gegenläufigen Entwicklung, das Vorverfahren werde „entheimlicht“, die Hauptverhandlung marginalisiert.199 Dementsprechend habe sich das Interesse von Publikum und Medien auf das Vorverfahren hin verlagert.200 Dass Anklage erhoben und die Strafsache vom Gericht beurteilt wird, ist in der Schweiz nicht mehr der Normalfall. Heute werden mehr als 95 % aller Straffälle endgültig von der Staatsanwaltschaft erledigt, entweder mit Strafbefehl oder durch Einstellung.201 Im neu eingeführten abgekürzten Verfahren nach den Art. 358–362 StPO einigen sich der Beschuldigte und die Staatsanwaltschaft bezüglich Schuldpunkt und Strafmass, und das Gericht begnügt sich damit, den „Deal“ zu überprüfen und gegebenfalls zu genehmigen. In der Wahl ihres Vorgehens steht der Staatsanwaltschaft ein grosses Ermessen zu. Die Machtverschiebung zur Staatsanwaltschaft hin, die durch die neue Strafprozessordnung noch akzentuiert wurde, wird auch in anderen Ländern beobachtet: In Deutschland wird in weniger als 12 % der Straffälle Anklage erhoben.202 In den USA gelangen nur noch zwischen 5 und 10 % der Verfahren vor eine Jury.203 199  Riklin,

medialex 2008, 155. medialex 2008, 155 f.; Strebel 1; ebenso für Deutschland Weigend 313. 201  Franz Riklin in der NZZ vom 30. Dezember 2011, S. 21. Nach einer Meldung der NZZ vom 19. April 2013, S. 15, wurde im Kanton Zürich im Jahr 2012 noch in 5,4 % der Straffälle Anklage erhoben. 202  Jehle 19. 203  Bommer, ZSR 2009, 70, Fn. 348; Gilliéron 73. 200  Riklin,



4.1. Zwei Phasen des Strafverfahrens59

Diese Entwicklung wird in verschiedener Hinsicht als problematisch angesehen.204 Bedenken bestehen nicht nur hinsichtlich der Gewaltenteilung, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses zur Öffentlichkeit: Die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft sind der unmittelbaren Kontrolle durch Öffentlichkeit und Medien entzogen. Immerhin müssen Strafbefehle gemäss Art. 69 Abs. 2 StPO publik gemacht werden. Nach der Bundesgerichtspraxis ist auch in Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen auf Wunsch Einsicht zu gewähren.205 Für den Beschuldigten ist die Erledigung durch die Staatsanwaltschaft oft sehr erwünscht. Er bleibt anonym, die Stigmatisierung durch die öffentliche Verhandlung bleibt ihm erspart. Die neuzeitliche Errungenschaft der Gerichtsöffentlichkeit hatte ursprünglich den Sinn, den Beschuldigten vor der Willkür der Obrigkeit zu schützen. Heute wird jedoch das Grundrecht der Öffentlichkeit von vielen Betroffenen nicht als Wohltat empfunden. Mancher Beschuldigte würde noch so gerne auf diesen zweischneidigen Schutz verzichten. Darin liegt eine gewisse Ironie der Geschichte.206 Im Strafbefehlsverfahren wird der Sachverhalt nur rudimentär abgeklärt, was eine mögliche Ursache für Fehlentscheidungen ist, wie Gwladys Gilliéron in ihrer Dissertation nachwies.207 Tatsächlich werden 66 % der Strafbefehle im Einspracheverfahren korrigiert, während Rechtsmittel gegen ein Urteil des Strafgerichts nur in etwa einem Drittel der Fälle erfolgreich sind.208 Im Hinblick auf den unsicheren Prozessausgang kann der Beschuldigte unter Druck stehen, den Strafbefehl zu akzeptieren.209 Er meint, den Strafbefehl und eine Busse leichter verkraften zu können als die öffentliche Verhandlung und deren Konsequenzen. Das mag mit ein Grund sein, weshalb gegen Strafbefehle selten Einsprache ergriffen und gerichtliche Beurteilung verlangt wird, obwohl eine Einsprache in vielen Fällen durchaus Erfolgschancen hätte. So berichtete die Neue Zürcher Zeitung über eine Schauspielerin, die sich wegen versuchten Versicherungsbetrugs und anderer Delikte verantworten musste. Gegen den Strafbefehl hatte sie Einsprache ergriffen. Zwei Tage vor dem Prozess erschien im Blick eine Meldung zum 204  Zum Beispiel von Riklin, medialex 2008, 155  ff.; Gilliéron 60; Thommen, ZStrR 2010, 373 ff. 205  BGE 134 I 286; BGE 136 I 80; BGE 137 I 16; BGE vom 1. Juli 2007, 1B_68 / 2012. 206  Niggli  / Maeder 412; siehe auch Wohlers, StV 2005 Beilage, 187 f.; Weigend 312. 207  Gwladys Gilliéron, Strafbefehle und plea bargaining als Quelle von Fehlurteilen, Zürich 2010. 208  Dominique Strebel in der NZZ vom 17. März 2011, S. 25. 209  Zihlmann 153; Gilliéron 52; Kaiser, Funktionswandel, 177; Bommer, ZSR 2009, 81 f.; Pizzi 102.

60

4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

Fall. Darauf zog die Schauspielerin, die vermutlich eine gewisse Prominenz geniesst, die Einsprache zurück.210

4.2. Das Vorverfahren wird „entheimlicht“211 „Während etwa das Steuergeheimnis noch relativ intakt ist, erscheint das Dienstgeheimnis löchrig wie ein Schweizer Käse.“ Wagner 97 f.

Heute ist zwar auch das Steuergeheimnis nicht mehr das, was es einmal war, es ist ebenfalls recht löchrig geworden. Was das Strafverfahren betrifft, so sind tatsächlich viele Verfahren erst durch Lecks bei Polizei oder Staatsanwaltschaft publik geworden.212 Manchmal wird allerdings auch vermutet, dass Verteidiger selber die Fäden gezogen haben.213 Das Vorverfahren ist ja an sich gemäss Art. 69 Abs. 3 lit. a StPO nicht öffentlich; legal informieren darf die Staatsanwaltschaft einzig in Straffällen von besonderer Bedeutung im Sinn von Art. 74 Abs. 1 lit. d StPO. Das Öffentlichkeitsprinzip gilt zwar heute für die meisten kantonalen Verwaltungen und im Bund. Doch ist es auf hängige Verfahren in der Regel nicht anwendbar, so auch im Kanton Zürich nach § 14 Abs. 3 IDG. Setzt die Berichterstattung bereits im Vorverfahren ein, so wird vermutlich eine diskrete Verfahrenserledigung mit Strafbefehl oder Einstellung verhindert. Das zeigt der Fall von Roland Nef, der kurze Zeit Armeechef war.214 Gegen ihn war ein Verfahren wegen Sexualdelikten und Nötigung eingestellt worden. Den Medienschaffenden, die von einem Whistleblower einen Tipp erhalten hatten, erhielten von den Behörden zuerst keine Einsicht in die Einstellungsverfügung. Sie mussten sich das Recht auf Öffentlichkeit vor dem Bundesgericht erstreiten.215 Als die Sache publik wurde, musste der Armeechef auf Grund der öffentlichen Empörung zurücktreten. Hätte die Öffentlichkeit schon vor dem Einstellungsentscheid von der Sache Wind bekommen, wäre ein ordentlicher Prozess wohl unumgänglich gewesen. Ist sich nämlich die Staatsanwaltschaft bewusst, dass ein Delikt das Interesse geweckt hat, wird sie vorsichtig agieren, damit in der Öffentlichkeit nicht der Eindruck entsteht, die Justiz messe mit ungleicher Elle. Bei grosser 210  NZZ

vom 7. Juli 2012, S. 21. medialex 2008, 155. 212  Hamm 32; Becker-Toussaint 52 ff. 213  J. Jahn, Litigation-PR, 261; Koppenhöfer, Justiz, 285. 214  Nach Jäger 15 ff., Rz. 48 ff. 215  BGE 136 I 80 und BGE 137 I 16. 211  Riklin,



4.2. Das Vorverfahren wird „entheimlicht“61

Anteilnahme der Öffentlichkeit oder der Medien wird der Staatsanwalt also wohl Anklage erheben.216 Im Vorverfahren werden entscheidende Weichen gestellt.217 Lückenhafte Ermittlungen, nachlässige Beweisaufnahmen sind unter Umständen nicht wiedergutzumachen, wie der Fall Zwahlen (siehe S. 37 f.) gezeigt hat. Dort hat sich die Polizei auf den Hauptverdächtigen „eingeschossen“, ohne Alternativen überhaupt geprüft zu haben.218 Diese Versäumnisse führten schliesslich zur Gutheissung des Revisionsgesuchs. Der Druck durch Öffentlichkeit und Medien kann so stark werden, dass die Staatsanwaltschaft Fehler macht. Um der Öffentlichkeit möglichst rasch einen Schuldigen zu präsentieren, werden voreilig Namen genannt oder Haftbefehle erlassen, ohne dass die Voraussetzungen dafür vorliegen. Hamm nennt dafür ein Beispiel: Ein prominenter Immobilienkaufmann, der unter Betrugsverdacht stand, war nach Florida geflohen. Durch den Druck von Öffentlichkeit und Medien sah sich die Staatsanwaltschaft zum Handeln gezwungen und stellte trotz zweifelhafter Haftgründe einen Haftbefehl aus – „gegen jede kriminalistische Vernunft“.219 Die ungerechtfertigte Anordnung von Untersuchungshaft kommt den Staat bzw. den Steuerzahler teuer zu stehen. In der Schweiz ist in jüngster Zeit die Bundesanwaltschaft wegen voreiliger und unsorgfältiger Untersuchungen ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.220 Es soll auch schon vorgekommen sein, dass ein wirklicher oder vermeintlicher Geschädigter eine Kopie seiner Strafanzeige gleich an die Medien geschickt hat.221 Heutzutage ist das mancherorts noch einfacher; entsprechende Formulare können im Web ausgefüllt und an weitere Empfänger gesandt werden.222 So kann man Personen, die in Politik, Wirtschaft oder Showbusiness prominente Stellungen einnehmen, „abschiessen“. Die Strafanzeige kann natürlich auch eingesetzt werden, um zivilrechtlichen Forderungen Nachdruck zu verleihen.223 216  Wagner

52 ff.; Becker-Toussaint 49; Danziger 378. medialex 2008, 156; Albrecht 63; Weigend 313; Wilmes, StraFo 2007, 12; Reike 115. 218  Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser 119 ff. 219  Hamm 27. 220  Markus Felber in der NZZ vom 19. Oktober 2011, S. 23; Markus Felber in der NZZ vom 19. September 2012, S. 21. 221  Wagner 36 ff.; J. Jahn, Litigation-PR, 265; Engel / Scheuerl 37, Rdn. 112. 222  Holzinger  /  Wolff 135; in der Schweiz nur verzeinzelt möglich, im Kanton Zürich für die Strafanzeige wegen Graffiti, siehe: https:  /   /  www.stadt-zuerich. ch / pd / de / index / stadtpolizei_zuerich / praevention / kriminalpraevention / graffiti / anzei geformular.secure.html (9.4.13). 223  J. Jahn, Litigation-PR, 266. 217  Riklin,

62

4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

Nach Art. 74 Abs. 1 lit. a StPO kann die Öffentlichkeit zur Mithilfe bei der Aufklärung von Straftaten oder bei der Fahndung nach Verdächtigen aufgefordert werden. Auch ohne eine solche Aufforderung dürfen Privatpersonen, also auch Anwälte oder Medienschaffende, als Hobbydetektive tätig werden und auf eigene Faust ermitteln. Der Verteidiger kann sich an die Öffentlichkeit wenden, um Beweismittel oder Zeugen zu finden. Für die Strafbehörden wirkt sich das nicht unbedingt günstig aus. Private Ermittlungen können den Gang des Strafverfahrens stören und den Untersuchungszweck, die Suche nach der Wahrheit, gefährden: Täter werden gewarnt, Spuren verwischt, Beweismittel unbrauchbar gemacht, Zeugenaussagen in ihrem Wert geschmälert.224 In ihrer Wirkung auf Zeugen liegt nach Auffassung vieler Autoren die wesentliche Gefahr von Medienkampagnen im Vorverfahren.225 Wenn sich ein Zeuge bereits den Medien gegenüber geäussert und sich damit auf eine bestimmte Version des Geschehens festgelegt hat, wird er Mühe haben, vor den Strafbehörden eine andere Version, zum Beispiel die Wahrheit, zu sagen.226 Aus diesem Grund lud das Gericht im Revisionsprozess Zwahlen (siehe S. 38) einen Zeugen sofort – quasi notfallmässig – vor, als es erfuhr, dass der Zeuge dem Fernsehen ein Interview geben wollte.227 Heute sieht Art. 165 StPO vor, dass potentielle Zeugen unter Straffolge zur Verschwiegenheit über die beabsichtigte oder bereits erfolgte Einvernahme verpflichtet werden können. Auch für den Beschuldigten selber kann sich die „Einvernahme“ durch die Medien nachteilig auswirken. Journalisten sind nicht an die staatlichen Verfahrensgrundsätze gebunden.228 Diese Grundsätze, die dem Beschuldigten ein faires Verfahren gewährleisten sollen, sind im Medienprozess bedeutungslos. So darf im Strafverfahren der Beschuldigte schweigen, ohne dadurch seine prozessuale Stellung zu verschlechtern. In der Öffentlichkeit wird Schweigen anders interpretiert: als Eingeständnis, Schuldbewusstsein, schlechtes Gewissen, Unsicherheit, Feigheit oder Arroganz.229

224  Jäger 31 ff., Rz. 89 ff.; Jäger 43 f., Rz. 123; Jäger 59, Rz. 160; Jäger 235 f., Rz.  752 f. 225  Jäger 235, Rz. 751; Altermann 38 f.; Danziger 11; Gross 40. 226  Tillmanns, ZRP 1999, 345. 227  Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser 157. 228  Hamm 9; Neuling 169 f., 317 f.; Reike 125. 229  Hamm 9 f.; Gibson  / Padilla, Public Relations Review 1999, 221; Petermann, zzz 2006, 9; Roschwalb / Stack 267.



4.2. Das Vorverfahren wird „entheimlicht“63

4.2.1. Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Staatsanwaltschaft „Der schweigende Staatsanwalt gehört der Vergangenheit an.“ Boehme-Nessler, StraFo 2010, 456.

Grundsätzlich sind Staatsanwaltschaft und Polizei nach Art. 73 StPO an das Amtsgeheimnis gebunden. Die rechtliche Grundlage für eine ausnahmsweise Orientierung der Öffentlichkeit über hängige Straffälle findet sich in Art. 74 StPO. Nach Abs. 1 lit. d StPO ist Öffentlichkeits- und Medienarbeit zulässig in einem Straffall von besonderer Bedeutung. In den früheren kantonalen Strafprozessgesetzen fand sich oft die Formulierung der überwiegenden öffentlichen Interessen, so auch in § 34 der ehemaligen Zürcher Strafprozessordnung. In den aktuellen Weisungen der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft für das Vorverfahren (WOSTA)230 spricht man von Medienschlüsselfällen, und es wird beispielhaft aufgezählt, welche Arten von Strafsachen von besonderer Bedeutung sind. Darunter fallen etwa Straftaten, welche Personen der Zeitgeschichte begangen haben. Die Kriterien für die besondere Bedeutung entsprechen ungefähr den Nachrichtenwerten der Medienwissenschaft. Dazu hat der Zürcher Staatsanwalt Rolf Jäger in seiner Dissertation bei mehreren Medienredaktionen im Kanton Zürich nachgefragt, welche Straffälle berichtenswert seien.231 Für den Blick etwa ist allein das vermutete Interesse der Öffentlichkeit massgebend, das seien zur Zeit Raserexzesse, während der Drogenhandel „aus der Mode“ gekommen sei.232 Für den Umgang mit Medien und Öffentlichkeit kann die Staatsanwaltschaft einen Mitarbeiter als Mediensprecher oder Kommunikationsbeauftragten bezeichnen. Im Kanton Zürich hat diese Funktion die Medienstelle der Oberstaatsanwaltschaft inne. Sie informiert mit Medienmitteilungen, die heute auch ins Web gestellt werden, mit Medienkonferenzen oder Interviews. Dabei ist der Grundsatz der Gleichbehandlung der Medien zu beachten.233 Die untersuchenden Behörden haben mit Zurückhaltung und Diskretion zu informieren. Sie müssen das Verhältnismässigkeitsprinzip wahren und jede unnötige Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen vermeiden. 230  WOSTA, Stand vom 1. März 2013, Ziff. 15: Medienarbeit, S. 286 ff., siehe: http: /  / www.staatsanwaltschaften.zh.ch / content / dam / justiz_innern / stanw / PDF / Wei sungen / WOSTA %20 %20130301.pdf (9.4.13). 231  Jäger 96 ff., Rz.  283 ff. 232  Jäger 106, Rz. 313. 233  WOSTA, Stand vom 1. März 2013, Ziff. 15.3.5.1, S. 293, siehe: http:  /  / www. staatsanwaltschaften.zh.ch / content / dam / justiz_innern / stanw / PDF / Weisungen / WOSTA  %20 %20130301.pdf (9.4.13).

64

4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

Dazu gehört auch, dass nach Abschluss eines Strafverfahrens die Medienmitteilungen im Internet gelöscht oder zumindest anonymisiert werden.234 Das Bundesgericht sah es 2009 als zulässig an, dass die Staatsanwaltschaft der Presse einen Teil der Anklageschrift zugänglich machte, ohne gleichzeitig die Verteidigungsschrift abzugeben. Die Waffengleichheit werde dadurch nicht verletzt, der Beschuldigte könne den Medien ohne Weiteres seine eigene Darstellung nachreichen.235 Nicht nur die Mitglieder der Strafbehörden sind zur Verschwiegenheit verpflichtet; auch den Verfahrensbeteiligten können nach Art. 73 Abs. 2 StPO Informationssperren auferlegt werden. Der Beschuldigte selber und sein Rechtsbeistand können nicht zum Schweigen verpflichtet werden. Doch ist das wohl kaum nötig; dem Beschuldigten wird im Ermittlungsstadium in der Regel jede Publizität unerwünscht sein. Erst wenn bereits Details aus dem Verfahren an die Öffentlichkeit gesickert sind, wird der Beschuldigte oder sein Anwalt unter Umständen Gegenmassnahmen erwägen. Die Medien können nicht durch eine strafprozessuale Vorschrift zum Schweigen gebracht werden. Es kann höchstens der umstrittene Straftatbestand von Art. 293 StGB über die Veröffentlichung amtlicher geheimer Verhandlungen zur Anwendung kommen. Diese Bestimmung ist nach der Praxis des EGMR restriktiv anzuwenden.236 Wenn die Medien von einer Indiskretion eines Mitarbeiters der Strafbehörden profitiert haben, müssen sie den Namen des Informanten auf Grund des Quellenschutzes von Art. 28a StGB nicht preisgeben. Als Joachim Wagner 1987 sein Buch über Medien und Strafprozess veröffentlichte, beschrieb er die Informationspolitik der Staatsanwaltschaften in Deutschland als zurückhaltend und öffentlichkeitsscheu.237 Doch in den letzten Jahren hat sich nach Meinung vieler Beobachter die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht verändert. Die Justiz-PR sei professioneller, aber auch aggressiver und offensiver geworden.238 Auch in der Schweiz sollen die Staatsanwälte medienbewusster geworden sein, ja, es habe sich „eine eigentliche Komplizenschaft zwischen Justiz und Medien“ entwickelt.239 Erst 234  Bundesstrafgericht

vom 20. Juni 2008, BB.2008.20, E. 3. vom 26. März 2009, 1B_73 / 2009, E. 2.4. 236  EGMR vom 10. Dezember 2007, No. 69698 / 01, Stoll c. Schweiz 2007. 237  Wagner 60. 238  Lehr, Rn. 5; Albin, AnwBl 2010, 311; Boehme-Nessler, StraFo 2010, 458; Friedrichsen, ZRP 2010, 263; Gross 39 f.; Schertz / Höch 236 f.; Reike 158 ff., 163; Köhler / Langen 194. 239  Zihlmann 72 f. 235  BGE



4.2. Das Vorverfahren wird „entheimlicht“65

als Reaktion auf diese Entwicklung hätten die Verteidiger ihrerseits begonnen, forscher zu informieren.240 Andere Autoren – und wahrscheinlich die Staatsanwälte selber – sehen das gerade umgekehrt: die Anwälte hätten angefangen mit Litigation-PR, die Staatsanwaltschaften hätten nur nachgezogen.241 Boehme-Nessler ist der Meinung, dass eine offensive Öffentlichkeitsarbeit des Staatsanwalts nur im adversarischen Verfahren angemessen sei. Sie lasse sich nicht mit der Rolle eines Staatsanwalts vereinbaren, der von Gesetzes wegen zur Objektivität und Unabhängigkeit verpflichtet ist.242 In den USA hatte 1994 das Fernsehen die polizeiliche Verfolgungsjagd des mordverdächtigen Football-Stars O. J. Simpson direkt übertragen (siehe S. 165). Ganz soweit ist es in Europa noch nie gekommen. Doch eine gewisse „Amerikanisierung“ ist unübersehbar. So orientierte die Staatsanwaltschaft Bochum 2008 das Zweite Deutsche Fernsehen über die bevorstehende Verhaftung des damaligen Chefs der deutschen Post, Klaus Zumwinkel. Hausdurchsuchung und Verhaftung wurden vom ZDF live übertragen, ein Novum in der deutschen Mediengeschichte.243 Entsprechendes geschah im März 2012 in der Schweiz: Gegen Nationalrat Christoph Blocher wurde ein Verfahren wegen Verletzung des Bankgeheimnisses eröffnet. Das Schweizer Fernsehen war bereits über die Hausdurchsuchung informiert worden, bevor diese stattfand, wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Medienmitteilung vom 20. März 2012 eingestehen musste. Fast ganz am Schluss der Mitteilung steht verschämt der Hinweis: „Es gilt die Unschuldsvermutung.“244 4.2.2. Verletzung der Unschuldsvermutung „Die beste Dienstaufsichtsbeschwerde ist die, die nicht bei der Staatsanwaltschaft, sondern in einer Redaktion angebracht wird.“ Tilmann, StV 2005 Beilage, 175.

Wird durch Justiz-PR die Unschuldsvermutung verletzt, stehen dem Beschuldigten verschiedene Rechtsmittel zur Verfügung. Stattdessen kann er 240  Gatzweiler

213 f.; Boehme-Nessler, Öffentlichkeit, 32; Zihlmann 41, Fn. 252. 237 f.; persönliche Mitteilung einer Staatsanwältin für Wirt-

241  Schertz  /  Höch

schaftsdelikte. 242  Boehme-Nessler, StraFo 2010, 458. 243  Becker-Toussaint 52 f.; Schertz / Höch 107. 244  Siehe: http: /  / www.staatsanwaltschaften.zh.ch / internet / justiz_inneres / staatsanwaltschaften / de / aktuell / medienmitteilungen / 20111 / 20032012.html (9.4.13); siehe auch Marcel Gyr in der NZZ vom 22. März 2012, S. 9; Nadine Jürgensen in der NZZ vom 24. März 2012, S. 12.

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

sich natürlich auch an die Medien wenden und die Verletzung publik machen, wie das Zitat von Tilmann suggeriert. Die Unschuldsvermutung bildet die Schranke für die Öffentlichkeitsarbeit staatlicher Behörden. Sie ist in Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 10 Abs. 1 StPO und Art. 74 Abs. 3 StPO verankert. Eine Vorverurteilung von staatlicher Seite verletzt den Grundsatz des fairen Verfahrens. Die Unschuldsvermutung bindet alle Behörden, nicht nur die Strafbehörden, wie die Europäische Kommission für Menschenrechte im Jahr 1978 in einem die Schweiz betreffenden Fall festhielt: Der damalige Bundesrat Kurt Furgler hatte die Terroristin Petra Krause in einer Fernsehsendung sinngemäss als schuldig bezeichnet, obwohl das Verfahren noch hängig war.245 Das Bundesgericht hatte sich 1990 ebenfalls mit der Frage der Vorverurteilung eines Beschuldigten, Alvaro Baragiola, zu befassen: Ein Tessiner Staatsrat hatte den Beschuldigten als „grausamen Terroristen“ bezeichnet. Weil sich die Äusserung aber auf die bereits abgeschlossenen, italienischen Verfahren bezog, verletzte der Magistrat nach Ansicht des Bundesgerichts den Anspruch auf ein faires Verfahren nicht.246 Der EGMR bejahte erstmals 1995 eine Verletzung der Unschuldsvermutung. Die französischen Behörden hatten in einer Pressekonferenz einen Verdächtigen als Anstifter zur Ermordung eines Ministers bezeichnet und mit Namen genannt. Das Verfahren war später eingestellt worden. Der EGMR sprach dem Betroffenen eine Entschädigung von 2 Millionen Francs zu.247 Der Beschuldigte hat verschiedene Möglichkeiten des Rechtsschutzes: Aufsichtsbeschwerde, Strafanzeige, Gesuch um Verfahrenseinstellung oder Strafminderung, Geltendmachung von finanziellen Ansprüchen. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung durch die Strafbehörden stellt zudem deren Unabhängigkeit in Frage (siehe S. 75 ff.). Die Medienarbeit der Ermittlungsbehörden ist keine Amtshandlung, deshalb ist eine ordentliche Beschwerde gegen die Medienarbeit selber nicht möglich. Das Bundesstrafgericht trat 2008 auf eine entsprechende Beschwerde nicht ein und sah auch keinen Anlass für aufsichtsrechtliche Massnahmen. Der Beschwerdeführer hatte die Festellung verlangt, dass die Bundesanwaltschaft gegen das Gebot der Fairness verstossen habe, und unter anderem gefordert, dass die Medienmitteilung im Internet unverzüg245  EKMR vom 3. Oktober 1978, Krause c. Schweiz. Nach Zeller, Vorverurteilung, 53, soll die Schweiz nur knapp an einer Verurteilung vorbeigekommen sein. 246  BGE 116 Ia 14, 22. 247  EGMR vom 10. Februar 1995, No. 15175 / 89, Allenet de Ribemont c. Frankreich; siehe auch Nobel / Weber 663, Rz. 13, Fn. 35.



4.2. Das Vorverfahren wird „entheimlicht“67

lich gelöscht werde.248 Eine differenzierte Meinung vertritt für Deutschland Boehme-Nessler, der eine verfassungswidrige Informationspolitik der Staatsanwaltschaft als Grund für die Anfechtung des Urteils ansieht.249 Der Beschuldigte kann mit Aufsichtsbeschwerde gegen die Behörden vorgehen. Im Jahr 2011 waren bei der neu geschaffenen Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft zwei Aufsichtsbeschwerden betreffend die Pressearbeit eingegangen.250 In einem Zürcher Fall – es ging um Jugendliche, die der Vergewaltigung verdächtig waren – hatten zwei hochrangige Beamte der Stadtpolizei an einer Medienkonferenz von Tätern statt Tatverdächtigen gesprochen. Zwei der amtlichen Verteidiger reichten Aufsichtsbeschwerde ein, ein anderer machte Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung.251 Die Verletzung des Amtsgeheimnisses nach Art.  320 StGB ist ein Offizialdelikt;252 die Behörden müssten dagegen von Amtes wegen strafoder disziplinarrechtlich einschreiten. Sind sie nicht von sich aus tätig geworden, kann der Beschuldigte Strafanzeige stellen. Die staatliche Vorverurteilung kann als Prozesshindernis angesehen werden. Doch schätzt der ehemalige Bundesrichter Hans Wiprächtiger die Gutheissung eines entsprechenden Gesuchs als unwahrscheinlich ein.253 Immerhin wollen einige Autoren eine Einstellung in krassen Ausnahmefällen, als ultima ratio, nicht ausschliessen.254 Mehr Aussicht auf Erfolg hat ein Antrag auf Strafminderung (siehe S. 159 ff.). Finanzielle Leistungen des Staates kommen ebenfalls in Frage. 1999 sprach das Bundesstrafgericht zwei freigesprochenen Angeklagten eine Genugtuung von je 10’000 Fr. zu, nicht nur wegen der ausgestandenen Untersuchungshaft, sondern auch wegen der medialen Vorverurteilung, welche die damalige Bundesanwältin durch ihre Informationspolitik provoziert hatte.255 Heute bildet Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO die Grundlage für eine Entschädigung bei Freispruch oder Verfahrenseinstellung. 248  Bundesstrafgericht

vom 20. Juni 2008, BB.2008.20 und BA.2008.2. StraFo 2010, 456 ff. 250  Tätigkeitsbericht der Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft über das Jahr 2011, siehe: http: /  / www.ab-ba.ch / misc / TB_ABBA_d_2011.pdf (9.4.13). 251  NZZ vom 19. Mai 2009, S. 41; Gysin, plädoyer 2007 / 1, 11 f.; Strebel 3 f. 252  Siehe dazu Matthias Michlig, Öffentlichkeitskommunikation der Strafbehörden unter dem Aspekt der Amtsgeheimnisverletzung (Art. 320 StGB), Zürich 2013. 253  Wiprächtiger, plädoyer 2000 / 3, 30. 254  Zum Beispiel Strebel 222; Riklin, recht 1991, 70; Wohlers, StV 2005 Beilage, 189 f. 255  Bundesstrafgericht vom 29. Oktober 1999, 9X.1 / 1998. 249  Boehme-Nessler,

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

In Deutschland gewährte das Oberlandesgericht Düsseldorf dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG, Klaus Esser, wegen der unangemessenen und unnötig exzessiven Informationspolitik der Staatsanwaltschaft ein Schmerzensgeld von 10.000 €. Die Medien waren vor dem Beschuldigten selber über die Einleitung des Strafverfahrens orientiert worden, und die Staatsanwaltschaft hatte den Beschuldigten als käuflich bezeichnet (siehe auch S. 147).256 Und schliesslich verurteilte der EGMR in einem kürzlich ergangenen Urteil Spanien zur Bezahlung einer Genugtuung von 12.000 €. Der Verletzte war an der Medienkonferenz einer Behörde mit Namen genannt und vorverurteilt worden.257 Im Übrigen stehen dem Beschuldigten die zivil- und strafrechtlichen Mittel zur Verfügung, wie er sie auch gegenüber den Medien hätte. 4.2.3. Vorverurteilung durch Medien „Denn das Urteil, das die Öffentlichkeit über einen Angeklagten spricht, ehe der eigentliche Strafprozess überhaupt begonnen hat, ist für den Mandanten bisweilen erbarmungsloser und folgenschwerer als der spätere Richterspruch.“ Friedrichsen, ZPR 2010, 263.

Die Medien sind im Gegensatz zu den staatlichen Behörden nicht an den Grundsatz der Unschuldsvermutung gebunden. Grundrechte verpflichten an sich nur die staatlichen Organe. Immerhin gehen einige Autoren – und das Bundesgericht – mindestens von einer indirekten oder mittelbaren Drittwirkung der Unschuldsvermutung aus.258 Andere Autoren plädieren sogar für eine direkte Drittwirkung.259 Danach müsse das Gemeinwesen aktiv dafür sorgen, dass Private das faire Verfahren nicht durch Medienkampagnen beeinträchtigen; dem Staat obliege insofern eine Schutzpflicht.260 Die Universitätsprofessorin Regina Kiener gibt zu bedenken, dass eine Kampagne auch das Ansehen der Justiz und das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtspflege beeinträchtigen könne; der Staat habe durchaus ein Interesse daran, gegen die Kampagne vorzugehen.261 Verschiedene kantonale Rechtsordnungen sehen die Möglichkeit vor, bei Falschmeldungen vom verantwortlichen Medium eine Berichtigung zu verlangen; im Kanton Zürich 256  Nach

Weigend 317; Perron 183. vom 28. Juni 2011, No. 28834 / 08, Lizaso Azconobieta c. Spanien. 258  Zeller, Vorverurteilung, 108 ff.; Jäger 55, Rz. 149; BGE 116 IV 31, 40. 259  Schulz 27 ff.; Nobel / Weber 665 f., Rz. 18; Strebel 124. 260  Frowein  / Peukert, Art. 6 EMRK, Rz. 270; Saxer / Mannhart 437 f.; vgl. BGE 116 IV 31, 40. 261  Kiener 215 f. 257  EGMR



4.2. Das Vorverfahren wird „entheimlicht“69

bildet § 125 GOG die Grundlage dafür. Gegenüber akkreditierten Journalisten haben die Behörden ebenfalls ein Druckmittel, den Entzug der Akkreditierung. Aber in erster Linie ist es Sache des Beschuldigten selber, sich gegen eine Vorverurteilung zu wehren und gegen die Medien vorzugehen. Der Beschuldigte kann Strafanzeige wegen Ehrverletzung machen. Er kann den zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutz nach den Art. 28 ff. ZGB beanspruchen und etwa Berichtigung oder Gegendarstellung verlangen oder finan­ zielle Forderungen stellen. Er kann die Verletzung beim Presserat rügen, der in Richtlinie 7.4 die Vorverurteilung untersagt.262 Allerdings sind die Stellungnahmen des Presserats rechtlich nicht verbindlich. Erfolgte die Verletzung im Radio oder im Fernsehen, kommt eine Beschwerde bei den entsprechenden Ombudsstellen in Frage. Nach Ansicht einiger Autoren ist der Rechtsschutz des Beschuldigten zu wenig griffig ausgestaltet.263 Die Gegendarstellung beispielsweise sei wenig wirksam, oft sei sie geradezu kontraproduktiv, weil der Beschuldigte ein zweites Mal ins Visier der Medien gerate. Deshalb werde dieser Rechtsbehelf auch nur wenig benutzt.264 Zudem kommen rechtliche Massnahmen zu spät, um den Ruf des Beschuldigten wiederherzustellen. Es wird deshalb manchmal diskutiert, ob der Staat wirksamere gesetz­ liche Schranken für die Medientätigkeit schaffen soll. Einige nationale Rechtsordnungen kennen spezielle Vorschriften zum Schutz des ungestörten Ablaufs eines Strafverfahrens. Deren Nutzen ist jedoch zweifelhaft. In Deutschland beispielsweise ist nach § 353d Nr. 3 des deutschen Strafgesetzbuches die wörtliche Wiedergabe der Anklageschrift verboten. Weil aber das Verbot nur die wört­liche, nicht die sinngemässe Wiedergabe betrifft, lade es zur Umgehung geradezu ein.265 Kann der Beschuldigte, der Opfer einer von den privaten Medien inszenierten Kampagne geworden ist, daraus Ansprüche gegen den Staat herleiten? Eine intensive Medienkampagne kann das in Art. 6 EMRK garantierte Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren tangieren und die Unabhängigkeit der Strafbehörden gefährden (siehe S. 75 ff.). Doch haben bisher weder die europäischen Instanzen noch das Bundesgericht in einem konkreten Fall eine tatsächliche Verletzung dieser Grundsätze festgestellt oder ein 262  Richtlinien zur Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten, siehe: http: /  / presserat.ch / 13000.htm (9.4.13). 263  Petermann, zzz 2006, 14; Strebel 193; Michlig 107 f.; anders Wohlers, StV 2005 Beilage, 191. 264  Nobel / Weber 255 ff., Rz. 237 ff.; Bernsmann / Gatzweiler 262, Rz. 1098. 265  Roxin 106; Weigend 323.

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

staatliches Verschulden bejaht.266 Als mögliche Maßnahmen kann man die Verfahrenseinstellung, eine Prozessverschiebung oder -verlegung diskutieren (siehe S. 80 f.). Erfolgversprechender ist es jedoch, bei der Strafzumessung für eine milde Strafe zu plädieren (siehe S. 159 ff.). Der als mangelhaft empfundene Schutz des Beschuldigten mag ein Grund dafür sein, dass ein Verteidiger in Versuchung kommen kann, seinerseits eine Gegenkampagne zu initiieren. 4.2.4. Vorfreispruch „Ein Freispruch auf Vorschuss ist ebenso unhaltbar wie eine Missachtung der Unschuldsvermutung.“ Schneider 207.

Eine Medienberichterstattung, die für den Beschuldigten Partei ergreift, ist weniger häufig als eine Vorverurteilung. Für die Strafrechtspflege ist ein Vorfreispruch nicht weniger problematisch als die Vorverurteilung.267 Die Wahrheitssuche kann dadurch nicht weniger gestört werden als durch eine Vorverurteilung. Für den Beschuldigten ist sie – wenigstens auf den ersten Blick – naturgemäss weniger gravierend. Umso unangenehmer können die Folgen für andere Prozessbeteiligte sein, für die Zeugen, die Geschädigten, die Opfer. Im Fall Zwahlen (siehe S. 37 f.) präsentierte der Journalist Hanspeter Born, der sich für den Beschuldigten einsetzte, dem Publikum eine alternative Täterschaft, nämlich die Eltern der Ermordeten. Das entsprechende Buch wurde gerichtlich verboten.268 Ist ein Straffall mit Publizität jeglicher Art verbunden, kommt es kaum zu einer Erledigung durch die Staatsanwaltschaft. Geniesst der Verdächtige mediale Unterstützung, könnte die Staatsanwaltschaft zu besonderer Vorsicht und zu guter Ausarbeitung der Klage gezwungen sein, was natürlich nicht negativ zu werten ist. Auch vor Gericht muss sich eine günstige Presse nicht zugunsten des Beschuldigten auswirken. Eher das Gegenteil trifft zu, wie Hamm eindrücklich belegt: Er hatte die Verteidigung eines jungen Mannes übernommen, der ein Verbrechen gestanden, später aber sein Geständnis widerrufen hatte. Die Medien recherchierten intensiv und kamen zum Schluss, dass die Beweislage dürftig war und nicht für die Schuld des Angeklagten spräche. Die 266  Kiener 202, 211; Nobel / Weber 672, Rz. 35; Frowein / Peukert, Art. 6 EMRK; Saxer / Mannhart 434. 267  Jäger 32, Rz. 91; Schneider 207; siehe auch Roxin 100. 268  Hanspeter Born, Unfall in Kehrsatz. Eine Hypothese, Zürich 1990.



4.3. Öffentlichkeit im Hauptverfahren71

Richter liessen sich nicht beeindrucken, im Gegenteil, sie erwähnten den Vorfreispruch missbilligend. Hamm spricht von einem „Bärendienst“, den die Medien seinem Mandanten erwiesen hatten.269 Die Richter liessen sich von einem Phänomen leiten, das in der Psychologie als Reaktanz bezeichnet wird (siehe S. 153 ff.). Es mag also nicht die klügste Taktik eines Verteidigers sein, bei den Medien einen Vorfreispruch zu lancieren, wenn das denn überhaupt in seiner Möglichkeit stünde! Auch beraubt er sich mit einem Vorfreispruch – sei er von den Medien oder durch eigene Litigation-PR inszeniert – der Möglichkeit, eine Reduktion der Strafe zu erwirken (siehe S. 159 ff.).

4.3. Öffentlichkeit im Hauptverfahren Zum Recht auf ein faires Verfahren im Sinn von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gehört der Grundsatz der Öffentlichkeit von Hauptverhandlung und Urteilsverkündung, der in Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 69 StPO verankert ist. Das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen, so sind Jugendstrafverfahren nach Art. 14 JStPO generell nicht öffentlich. Auch im Einzelfall kann das Publikum ausgeschlossen werden, beispielsweise zum Schutz eines Opfers nach Art. 70 StPO. In solchen Fällen kann das Gericht den akkreditierten Me­ dienvertretern Zugang unter Auflagen gewähren. Es kann die Journalisten etwa dazu verpflichten, die Anonymität der Prozessbeteiligten zu wahren. Weigert sich ein Journalist, die Auflage einzuhalten, kann er von der Verhandlung ausgeschlossen werden.270 Das Publikum ist eher selten an Verhandlungen anzutreffen. Ab und zu sieht man eine Schulklasse. Es soll auch Pensionierte geben, die sich auf diese Weise die Zeit vertreiben. Doch in der Regel wird das Publikum, die unmittelbare Öffentlichkeit, durch die Medien, die mittelbare Öffentlichkeit, vertreten.271 Die Verhandlungen vor dem Strafgericht sind öffentlich, doch sind Tonund Bildaufnahmen nach Art. 71 StPO nicht gestattet. Die Beratungen sind geheim, gemäss Art. 69 Abs. 1 und Art. 348 Abs. 1 StPO. Für Zivilprozesse hingegen können die Kantone nach Art. 54 Abs. 2 ZPO selber bestimmen, ob sie die Beratungen der Öffentlichkeit zugänglich machen wollen. Der Gesetzgeber begründet den Unterschied damit, dass im Strafverfahren die Gefahr von Repressalien gegen die Richter grösser sei als im Zivilverfahren. Man könne Laien dann kaum mehr für das Amt des Strafrichters ge269  Hamm

64 ff. 137 I 209. 271  N. Schmid, Handbuch, 98, N. 250 f. 270  BGE

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

winnen.272 Diese Bedenken sind wohl berechtigt: In Nordirland wurde 1973 der Anspruch des Beschuldigten auf eine Jury bei politisch motivierten Delikten suspendiert, weil man befürchtete, die Geschworenen würden sich einschüchtern lassen und einen Schuldigen möglicherweise ungerechtfertigt frei sprechen.273 Der Grundsatz der Öffentlichkeit hat verschiedene Funktionen: Einerseits soll er das Vertrauen der Bevölkerung in die Gerichte stärken, Transparenz und Kontrolle ermöglichen.274 Die Generalprävention als Strafzweck kommt nur zur Geltung, wenn die Öffentlichkeit überhaupt erfährt, dass gestraft wird. Andererseits steht der Grundsatz im Interesse des Beschuldigten, dieser soll vor Beamtenwillkür geschützt werden. Die öffentliche Verhandlung stellt gegenüber dem überwundenen Inquisitionsprozess einen historischen Fortschritt dar. Heute wird aber die Öffentlichkeit von vielen Beschuldigten nicht als Schutz wahrgenommen, sondern als Demütigung und Stigmatisierung.275 In ihrer Wirkung ist sie mit dem mittelalterlichen Pranger durchaus zu vergleichen. Das Bundesgericht findet aber, dass dieser Nachteil vom Beschuldigten wegen der hohen rechtsstaatlichen Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips in Kauf zu nehmen sei.276 Anfangs 2013 sorgte ein Entscheid des Bezirksgerichts Zürich in den Medien für Aufregung: Ein Top-Manager, der sich Prostituierten gegenüber als Polizist ausgegeben hatte, erfuhr vom Gericht eine Vorzugsbehandlung. Die Journalisten wurden dazu verpflichtet, ihre Berichte so zu formulieren, dass der Verurteilte nicht identifiziert werden konnte. Der Strafanspruch stehe ausschliesslich den Gerichten zu, eine Nebenstrafe der Anprangerung sei nicht vorgesehen. Für Zuwiderhandlung drohte das Gericht den Journalisten eine Busse und den Entzug der Akkreditierung an.277 Die Medien werfen mit Recht die Frage auf, ob damit die Klassenjustiz wiederkehre.278 Nur wenige Wochen später, in einem Mordprozess vor dem Obergericht, verbot der Gerichtspräsident den Journalisten ebenfalls, Bilder und Namen der Prozessbeteiligten zu veröffentlichen. Er wollte damit eine Vorverurteilung verhindern.279 272  Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006, 1287. 273  NZZ vom 21. Januar 2012, S. 2. 274  BGE 119 Ia 99, 104. 275  Niggli / Maeder 412; Wohlers, StV 2005 Beilage, 187 f.; Weigend 312. 276  BGE 119 Ia 99, 105. 277  Bezirksgericht Zürich vom 28. Januar 2013, G120376; NZZ vom 29. Januar 2013, S. 15. 278  Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 1. Februar 2013, S. 17; Alex Baur in der Weltwoche vom 6. Februar 2013, S. 24 f. 279  Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 28. März 2013, S. 19.



4.3. Öffentlichkeit im Hauptverfahren73

4.3.1. Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Gerichte „Richter sollten sich gegenüber der Presse mönchisch verhalten.“ Ziegler, StraFo 1995, 73.

Weil Öffentlichkeit und Medien am Gerichtsverfahren teilnehmen können, hatte die Öffentlichkeitsarbeit für die Gerichte bisher wenig Bedeutung. Die schweizerischen Gerichte sind gegenüber den Medien traditionellerweise zurückhaltend.280 Heute soll das Öffentlichkeitsprinzip, das in den letzten Jahren sowohl auf Bundes- wie auf kantonaler Ebene etabliert wurde, auch für die Justiz Entsprechung finden. Eine restriktive Informationspolitik sei nicht mehr zeitgemäss, die moderne Justizkommunikation solle dem gestiegenen Bedürfnis nach Transparenz Rechnung tragen.281 Es ist heute Standard, dass Gerichte ihre Sessionslisten nicht nur an akkreditierte Journalisten versenden, sondern im Web zugänglich machen. Im Internet kann auch die Rechtsprechung der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Seit 2000 veröffentlicht das Bundesgericht die Mehrzahl seiner Urteile auf seiner Website in anonymisierter Form. Dabei geht es sehr sorgfältig vor und anonymisiert sogar die Namen von Kühen.282 Die rechtliche Grundlage der Informationspolitik des Bundesgerichts findet sich in Art. 27 BGG. Die Leitlinien für die Kommunikation des Bundesgerichts sind im Rahmenkonzept der eidgenössischen Gerichte vom 30. März 2011283 und im Kommunikationskonzept des Bundesgerichts vom 15. März 2010284 festgelegt. Laut diesem Konzept sollen sich die Bundesrichter zur Rechtsprechung nicht öffentlich äussern. Über Urteile, die in der Öffentlichkeit auf Interesse stossen könnten, gibt das Bundesgericht Medienmitteilungen ab. Über hängige Verfahren sollen Gerichte nur zurückhaltend informieren.285 Ein Richter setzt sich leicht dem Verdacht der Befangenheit aus, wenn er sich über ein laufendes Verfahren öffentlich äussert.286 Doch ist Befangenheit nicht bereits anzunehmen, wenn ein Richter eine Pressemitteilung über eine bevorstehende Verhandlung abgibt.287 280  Wurzburger

205. Justizkommunikation, 50 f.; Wiprächtiger, Öffentlichkeit, 155 f. 282  BGE vom 11. Februar 2002, 5P.451 / 2001. 283  Siehe: http: /  / www.bger.ch / rahmenkonzept_gerichte_2011_d_def.pdf (4.9.13). 284  Siehe: http: /  / www.bger.ch / kommunikationskonzept_2010_15_03_internet_d.pdf (4.9.13). 285  Wiprächtiger, Öffentlichkeit, 161; Saxer, Justizkommunikation, 57, 66. 286  Saxer, Justizkommunikation, 57. 287  BGE vom 25. September 2002, 1P.347 / 2002, E. 3.2. 281  Saxer,

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

Medienkonferenzen eines Gerichts fallen als ungewöhnlich auf. Eine solch seltene Ausnahme betraf in Zürich einen Prozess betreffend die Rückführung von Scheidungskindern (siehe auch S. 16). Der tragische Fall hatte in der Öffentlichkeit hohe Wellen geworfen. Eine Oberrichterin war in den Medien auf persönliche und diffamierende Weise angegriffen worden. Nach der Urteilsverkündung sah es das Zürcher Obergericht für nötig an, eine Pressekonferenz abzuhalten.288 Auch in Deutschland kam es vor, dass Richter zu Urteilen, die in der Bevölkerung Unmut hervorgerufen hatten, nachträglich öffentlich Stellung nahmen und ihr Urteil quasi zu rechtfertigen suchten. So gab das Landgericht Düsseldorf nach der Einstellung des zweiten Verfahrens gegen die ehemaligen Vorstandsmitglieder der Mannesmann AG (siehe S. 148) eine Pressemitteilung heraus, in der es seine Argumente ausführlich darlegte.289 Als ungewöhnlich ist ebenfalls aufgefallen, dass sowohl im ersten Mannesmann-Prozess (siehe S. 147 f.) wie auch im Fall Kachelmann (siehe S. 19) die vorsitzenden Richter die Medien wegen unangemessener Berichterstattung rügten. In der Gerichtsverhandlung des Raser-Prozesses von Schönenwerd sagte der Richter, Pierino Orfei, er sei über die Medien „sackhässig“ gewesen, weil er als „Kuschelrichter“ bezeichnet worden sei. Dem anwesenden Publikum erläuterte er seinen Entscheid ausführlich und mit Hilfe von Computeranimationen.290 Die aktive Justizkommunikation ist im Grossen und Ganzen eher noch die Ausnahme. Eine Neuigkeit für die Schweiz ist der virtuelle Medienraum, den das Obergericht Luzern den akkreditierten Journalisten zur Verfügung stellt.291 Zur Hauptsache aber erfolgt die Kommunikation zwischen Gericht und Öffentlichkeit durch die Gerichtsberichterstattung der Medien. 4.3.2. Gerichtsberichterstattung „Der bekannte Herr tritt gewöhnlich bescheiden ein und nimmt in den hinteren Reihen Platz. Trotzdem ist plötzlich alles anders. Der Verteidiger, bis dahin eher passiv, reckt sich empor. Er wirkt grösser. Offensichtlich ist er kampfesbereit. Seine Anträge steigen wie Raketen zum Gerichtshimmel. Der Vorsitzende wirkt nervös. Er klopft mit dem Kugelschreiber, der sich in seiner rechten Hand befindet, rhythmisch auf den Daumen seiner linken Hand. Unmerklich wird ein mimisches Beben um seine Mundwinkel sichtbar. Selbst der Staatsanwalt schaut irritiert auf, gleichsam als ob ihn etwas getroffen hätte, er aber noch nicht recht feststellen konnte, was.“ Schumacher, StV 1995, 445. 288  Saxer,

Justizkommunikation 76, Fn. 96; Studer, AJP 2005, 1448. Perron, ZStrR 2007, 185 f. 290  Nach Marcel Gyr in der NZZ vom 30. Oktober 2010, S. 26. 291  Siehe: http: /  / www.gerichte.lu.ch / o_medienraum_login (9.4.13). 289  Nach



4.4. Unabhängigkeit der Organe der Strafrechtspflege75

Wie das Zitat zeigt – es handelt sich beim bekannten Herrn um den unterdessen verstorbenen Gerichtsreporter des Spiegel, Gerhard Mauz, – können Journalisten das Klima im Gerichtssaal sehr wohl beeinflussen. Das geben Richter selber ohne Weiteres zu.292 Der Zugang des Publikums zur Verhandlung, die Publikums- oder Saalöffentlichkeit, ist gegenüber der Medienöffentlichkeit von geringer Bedeutung. Die Gerichtsberichterstattung bildet die Brücke zwischen der Tätigkeit des Gerichts und dem Medienkonsumenten. Früher hatte jede Tageszeitung, die etwas auf sich hielt, eine Gerichtskolumne. Aber der Spardruck ist immens, und viele Medien können sich spezialisierte Fachjournalisten nicht mehr leisten. Zahlreiche Autoren klagen denn auch darüber, dass die Gerichtsberichterstattung an Qualität verloren habe.293 Der Sprecher des deutschen Bundesgerichtshofs, Bertram Schmitt, nennt den Gerichtsberichterstatter gar eine „gefährdete Spezies“.294 Dieser Umstand ist gleichzeitig die Chance für die Öffentlichkeitsarbeit anderer Akteure.295 Zeitnot und mangelnde Sachkenntnis der Journalisten schaffen eine Lücke für die Medienarbeit durch Staatsanwälte oder durch Beschuldigte und deren Verteidiger. Journalisten sind dankbar für Informationen, die einen komplizierten rechtlichen Sachverhalt auf verständliche Weise erläutern. Sie schätzen es, wenn sie die Inhalte ohne grossen Zeitaufwand und mit wenig Überarbeitung übernehmen können. Jurist und PRBerater Alexander Schmitt-Geiger sieht im unkritischen Journalismus das „Einfallstor“ für Litigation-PR.296

4.4. Unabhängigkeit der Organe der Strafrechtspflege „Das langjährige Verfahren im Fall von Kehrsatz hat leider den Eindruck erweckt, dass die bernische Justiz dem Druck der Öffentlichkeit nicht gewachsen war und dass sie ihre Unabhängigkeit preisgab.“ Schneider 55.

Die Medialisierung des Strafverfahrens kann die Unabhängigkeit der Staatsanwälte und Richter gefährden. Der Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren beinhaltet das Recht auf unabhängige, unvoreingenommene, unbefangene und unparteiische Amtsträger. Die Garantie von Art. 6 292  Gerhardt,

Im Namen, 176 f.; Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 229 ff. AJP 2005, 1447; Gullotti / Binz, Anwaltsrevue 2010, 359; Rehbinder, Litigation-PR, 774; Heer 149 f. 294  Schmitt, ZRP 2011, 221. 295  Gullotti / Binz, Anwaltsrevue 2010, 359. 296  Schmitt-Geiger 66. 293  Studer,

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

Ziff. 1 EMRK und Art. 30 Abs. 1 BV bezieht sich vom Wortlaut her nur auf das Gericht. Doch schon 1986 hielt das Bundesgericht fest, dass die richterliche Unabhängigkeit auch für Staatsanwälte gilt, wenn diese in richterlicher Funktion tätig werden.297 Mit der neuen Strafprozessordnung, in Art. 4 Abs. 1 StPO, wird das Gebot der Unabhängigkeit auf alle Strafbehörden ausgedehnt. Auch Staatsanwälte und Polizisten sollen unabhängig und allein dem Recht verpflichtet sein. Die Unabhängigkeit ist elementar; das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtspflege steht auf dem Spiel. Die Unabhängigkeit hat zwei Aspekte: die äussere, organisatorische, institutionelle oder administrative Unabhängigkeit und die innere Unabhängigkeit.298 Die institutionelle Unabhängigkeit folgt aus der Gewaltenteilung und wird durch Unvereinbarkeitsregeln gewährleistet. Die innere Unabhängigkeit – die Unbefangenheit, Unvoreingenommenheit oder Unparteilichkeit – bezieht sich auf die psychische Haltung des Staatsanwalts oder des Richters. Er soll sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen und muss äusseren Pressionen standhalten können.299 Die innere Unabhängigkeit steht nicht ein für allemal fest. Die Justizperson muss sie sich immer wieder von neuem erarbeiten.300 Steht ihre Unabhängigkeit in Frage, liegt ein Ausstandsgrund nach Art. 56 StPO vor. Wenn sich die Justizperson selber befangen fühlt, sollte sie von sich aus in den Ausstand treten. Befangenheit ist als innerpsychisches Phänomen kaum nachzuweisen. Deshalb genügt als Ausstandsgrund bereits der Anschein der Befangenheit, die Gefahr der Voreingenommenheit. Doch ist Befangenheit nicht leichthin anzunehmen, es müssen konkrete Indizien, objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen. Befangenheit muss im Verhalten des Richters – beispielsweise in Äusserungen gegenüber einem Medium – zum Ausdruck kommen. Die Beweislast dafür liegt beim Antragsteller. 4.4.1. Der unvoreingenommene Staatsanwalt Polizei und Staatsanwaltschaft gehören organisatorisch zur Verwaltung. Sie sind nach Art. 14 StPO der Aufsicht durch die Exekutive unterstellt und müssen Weisungen befolgen.301 Das stellt ihre Unabhängigkeit in gewisser 297  BGE

112 Ia 142. 67 ff.; Wurzburger 75 f.; Heer 150; andere Terminologie bei Kiener 13, 52; Walter, Justiz 2005 / 1, Rz. 1. 299  Wiprächtiger, Unabhängigkeit, 50; Wurzburger 76. 300  Boehme-Nessler, AfP 2010, 539. 301  Saxer / Mannhart 439. 298  Pfeiffer



4.4. Unabhängigkeit der Organe der Strafrechtspflege77

Weise in Frage. Dass Staatsanwälte in mehreren Kantonen durch das Volk gewählt werden, kann ihre Unabhängigkeit ebenfalls beeinträchtigen.302 Nach Art. 56 StPO unterliegen Staatsanwälte den gleichen Ausstandsregeln wie Richter. Das gilt nach der bisherigen Praxis jedenfalls, wenn der Staatsanwalt als Teil der Judikative tätig wird, wenn er eine Einstellung verfügt oder einen Strafbefehl erlässt.303 Wenn der Staatsanwalt in seiner Funktion als Ermittler tätig ist, sind die Anforderungen an seine Unabhängigkeit weniger streng.304 Auch in den Gesetzesmaterialien wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass an den Staatsanwalt nicht die gleichen Anforderungen zu stellen sind wie an das Gericht.305 Ausdrücklich erwähnt ist die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Objektivität in Art. 6 StPO. Die Strafbehörden klären den Sachverhalt von Amtes wegen ab und müssen entlastenden Umständen mit gleicher Sorgfalt nachgehen wie den belastenden. Von seiner Funktion und Rolle her nimmt jedoch der Staatsanwalt trotz seiner Verpflichtung zur Objektivität eher die Rolle des Strafverfolgers ein, wie auch Art. 16 StPO einräumt. Die Hauptverhandlung selber ist denn auch durchaus kontradiktorisch gestaltet. Die Leiterin der Medienstelle der aargauischen Staatsanwaltschaft, Elisabeth Strebel, vertritt deshalb in ihrer Dissertation die Meinung, dass für den Staatsanwalt im Vorverfahren ein strengerer Massstab an die Unabhängigkeit zu legen sei als im Hauptverfahren.306 Ein Indiz für die Befangenheit des Staatsanwalts können Äusserungen in den Medien, in Medienmitteilungen und bei Medienkonferenzen bilden. Nicht jede ungeschickte Äusserung in den Medien gibt bereits Anlass zur Annahme der Befangenheit, es sei denn, die Äusserung richtet sich gegen die Person des Beschuldigten oder sie vermittelt den Eindruck, der Staatsanwalt habe sich in der Schuldfrage bereits festgelegt.307 Ist der Staatsanwalt in seiner Medienarbeit zu weit gegangen, hat er beispielsweise die Unschuldsvermutung verletzt, so muss er nach Art. 56 Abs. 1 lit. f StPO in den Ausstand treten. Tut er das nicht von sich aus, kann ein Prozessbeteiligter ein Ausstandsbegehren stellen. Der Antragsteller trägt die Beweislast dafür, die Befangenheit des Amtsträgers plausibel zu machen. Der Beweis ist nicht leicht zu führen. So war dem Verteidiger von Bruno Zwahlen 302  Von

Felten 256. 112 Ia 142; BGE 127 I 196, 198; BGE vom 16. Januar 2009, 1B_282 / 2008, E. 2.3; BGE vom 30. Juni 2009, 1B_86 / 2009, E. 2.2. 304  BGE 127 I 196, 198; BGE vom 24. Juni 2008, 1B_56 / 2008, E. 4.1; BGE vom 16. Januar 2009, 1B_282 / 2008, E. 2.3. 305  Botschaft des Bundesrates zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006, 1107. 306  Strebel 215 ff. 307  BGE 127 I 196, 200; BGE vom 24. Juni 2008, 1B_56 / 2008, E. 4.1. 303  BGE

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

(siehe S. 37 f.) mit seinem Ausstandsbegehren gegen den Staatsanwalt kein Erfolg beschieden.308 In einem vielbeachteten Prozess hatte das Bundesstrafgericht die Vermögensdelikte eines hohen Beamten im Verteidigungsdepartement zu beurteilen. Das Bundesgericht hiess das Ausstandsbegehren gegen die eidgenös­ sische Untersuchungsrichterin gut. Diese hatte sich vorbehaltlos auf ein ausführliches Interview mit dem Sonntagsblick eingelassen und darin den ­Beschuldigten indirekt der Lüge bezichtigt, was tendenziell auf eine Vorverurteilung hinauslief.309 2009 lehnte das Bundesgericht das Ausstandsbegehren gegen einen St. Galler Staatsanwalt, der sich in der Online-Ausgabe des St. Galler Tagblatts zum Fall geäussert hatte, ab. Der Staatsanwalt hatte im Artikel die Meinung vertreten, dass eine noch durchzuführende Zeugeneinvernahme am Beweisergebnis nichts ändern werde.310 2012 ordnete das Bundesstrafgericht, das hier in letzter Instanz entschied, den Ausstand zweier Bundesanwälte an. Die Bundesanwaltschaft hatte im November 2011 auf ihrer Website einen Strafbefehl gegen den AlstomKonzern in vollem Wortlaut und nicht anonymisiert veröffentlicht. Damit erweckte sie den Eindruck, dass das separate Verfahren gegen zwei Amtsträger des Unternehmens bloss noch eine Formsache sei und dass sich die Staatsanwaltschaft bezüglich der Strafbarkeit der beiden Amtsträger bereits festgelegt habe.311 Und schliesslich musste im Verfahren um die angebliche Bankgeheimnisverletzung von Nationalrat Christoph Blocher ein Zürcher Oberstaatsanwalt in den Ausstand treten, weil er sich in einem Pub zum Fall geäussert hatte.312 4.4.2. Innere Unabhängigkeit des Richters „Lässt sich überhaupt verhindern, dass Biografie und Weltanschauung des Richters auf seine Urteile durchschlagen?“ Lamprecht, Justiz 2009 / 4, Rz. 18.

Da die Objektivität des Staatsanwalts etwas zweifelhaft erscheint, ist die Unabhängigkeit des Strafrichters umso wichtiger. Die rechtlichen Grundlagen finden sich in Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 4 StPO. 308  Born,

Mord, 212. vom 25. September 2000, 8G.36 / 2000, E. 4.b. 310  BGE vom 30. Juni 2009, 1B_86 / 2009, E. 2.4. 311  Bundesstrafgericht vom 14. Februar 2012, BB.2011.135 und BB.2011.136. 312  NZZ vom 13. Juni 2012, S. 8. 309  BGE



4.4. Unabhängigkeit der Organe der Strafrechtspflege79

Der Richter ist nur Recht und Gesetz verpflichtet. Niemand kann ihm Weisungen darüber erteilen, wie ein Gerichtsfall zu lösen sei. Eine Kontrolle oder Korrektur kann einzig durch die Rechtsmittelinstanz erfolgen. Unabhängigkeit wird in anderen Rechtsordnungen garantiert durch die Wahl auf Lebenszeit, das ist beim deutschen Bundesverfassungsgericht und beim US-amerikanischen Supreme Court der Fall. In der Schweiz ist die Abwahl eines Richters prinzipiell möglich, aber bisher nur ganz selten vorgekommen.313 Für die Annahme einer Befangenheit muss ein Bezug zur aktuellen Streitsache vorliegen.314 Eine bestimmte Weltanschauung des Richters oder seine politische Einstellung allein genügen nicht, um Voreingenommenheit anzunehmen. Mit dem Postulat der richterlichen Unabhängigkeit kann nicht gemeint sein, dass der Richter im luftleeren Raum agiert. Fast immer gehört ein Schweizer Richter einer Partei an oder ist von einer Partei aufgestellt worden.315 Er hat eine politische Einstellung, er vertritt bestimmte Werte, er hat eine Meinung zur Entstehung von Kriminalität. Er hat eine individuelle Geschichte, die ihn geprägt hat, einen sozialen und familären Hintergrund, er gehört einer bestimmten Gesellschaftsschicht an. Richter sind dem Zeitgeist unterworfen.316 Die richterliche Unabhängigkeit sei ein Mythos, meint der Kommunikationswissenschaftler und Jurist Rudolf Gerhardt.317 Dass die innere Unabhängigkeit aber als Problem erkannt wird, zeigen Anforderungsprofile und Richtlinien für Richter. So sollen sich die basellandschaftlichen Kantonsrichter nicht von Dritten beeinflussen lassen und unabhängig vom Druck der öffentlichen Meinung entscheiden.318 BoehmeNessler verlangt von den Richtern Medienkompetenz, er meint damit die Fähigkeit, sich mögliche Einflüsse bewusst zu machen und sie zu kontrollieren.319 Die Erwartungen an den Richter – mindestens an den Berufsrich313  Felber,

Justiz 2006 / 1, Rz. 12 ff. 185 ff. 315  Dass für die Wahl eines Richters die Parteibindung von grösserer Bedeutung sei als die Fachkompetenz, wird oft kritisiert, zum Beispiel von Regina Kiener in der NZZ vom 18. Juni 2012, S. 23. 316  Zihlmann 85, 177; Wiprächtiger, Unabhängigkeit, 50; Daniel Jositsch in der Sendung Baz Standpunkte: Kachelmann & Co.: Opfer der Medienjustiz? am 5. / 11. Juni 2011 im Schweizer Fernsehen SF1 / SFinfo. 317  Gerhardt, Einfluss, 45. 318  Verhaltenskodex der Richterinnen und Richter des Kantonsgerichts, Ziff. 1.1 / 1.2, nach Heer 151. 319  Boehme-Nessler, AfP 2010, 542; sinngemäss ebenso Pfeiffer 70; Gerhardt, Einfluss, 45; Nobel / Weber 2007, 673, Rz. 36; Wiprächtiger, Unabhängigkeit, 50; Wiprächtiger, plädoyer 2000 / 3, 29; Heer 152; Niehaus / Englich / Volbert 677; Jositsch, ZStrR 2004, 125. 314  Kiener

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4. Öffentlichkeit und Medien im Strafverfahren

ter – sind hoch. Auch bei überdurchschnittlichem Medienecho und grosser Anteilnahme der Öffentlichkeit darf erwartet werden, dass der Richter seine Unabhängigkeit bewahren kann. Sogar eine virulente320 Medienkampagne begründet nach der Praxis noch keine Gefahr für die Unabhängigkeit, vor allem wenn zwischen Kampagne und Gerichtsverhandlung eine gewisse Zeit verstrichen ist.321 Die Unvoreingenommenheit erscheint fraglich, wenn sich ein Richter in einem hängigen Fall gegenüber den Medien äussert oder gar Stellung für eine Partei bezieht. Es wird erwartet, dass ein Richter auch gegenüber Provokationen, etwa durch einen Verteidiger, souverän bleibt und sich nicht zu unbedachten Äusserungen gegenüber den Medien hinreissen lässt.322 Das Bundesgericht sah die Unbefangenheit nicht gefährdet durch die Pressemitteilung eines Richters, die eine bevorstehende Verhandlung zum Gegenstand hatte.323 In Deutschland hingegen war das Ablehnungsgesuch gegen einen Richter, der einen Leserbrief zu einem bei ihm selber hängigen Verfahren geschrieben hatte, erfolgreich. Es handelte sich um den heiklen Prozess gegen den ehemaligen Staatschef der ehemaligen DDR, Erich Honecker.324 Liegen Anhaltspunkte für eine Befangenheit des Richters vor, kann ein Ausstandsbegehren gestellt werden. Wiederum liegt die Beweislast beim Antragssteller, die Anforderungen sind hoch. Im Verfahren gegen Kachelmann (siehe S. 17 ff.) wurde der Antrag der Verteidigung, den vorsitzenden Richter und dessen Kollegin auszuschliessen, abgelehnt.325 Die Forderung, Richter vor Medieneinflüssen abzuschirmen, kommt in den USA in Regeln zum Ausdruck, welche die Geschworenen von der ­Aussenwelt isolieren (sequestration). Ebenfalls in den USA kann ein Gesuch um örtliche Verlegung (change of venue) oder zeitliche Verschiebung (continuance) des Prozesses gestellt werden (siehe auch S. 162 ff.). Verlegung und Verschiebung sind auch in der Schweiz prinzipiell möglich, nach Art. 38 Abs. 2 bzw. Art. 92 StPO, kommen aber nur vereinzelt vor. Nach Riklin kommt die Verlegung eines Prozesses in Frage, wenn die Unabhängigkeit des Gerichts in Frage steht, „so wenn ein Delikt am Tatort 320  Nach Saxer / Mannhart 432 eine Kampagne mit eindeutiger Stossrichtung, die auf eine Verurteilung oder eine exemplarische Bestrafung abzielt. 321  Kiener 213, Fn. 652 und die dort angegebene Rechtsprechung; Nobel / Weber 673, Rz. 37. 322  Frowein / Peukert, Art.  6 EMRK, Rz.  214. 323  BGE vom 25. September 2002, 1P.347 / 2002, E. 3.2. 324  Nach Ziegler, StraFo 1995, 71. 325  Knellwolf 198 f.



4.4. Unabhängigkeit der Organe der Strafrechtspflege81

grosse Emotionen gegen die beschuldigte Person und eine entsprechende Erwartungshaltung gegenüber dem örtlich zuständigen Gericht geweckt hat“.326 1978 erklärte sich das Bezirksgericht Rheinfelden in der Streitsache um das geplante, aber heftig umstrittene Atomkraftwerk Kaiseraugst in seiner Gesamtheit als befangen. Das Bundesgericht konnte diese Argumente nachvollziehen, der Prozess wurde ans Bezirksgericht Bremgarten verlegt.327 2008 lehnte das Bundesgericht das Gesuch eines des Mordes Angeklagten ab, den Geschworenenprozess in einen anderen Gerichtsbezirk des Kantons Waadt zu verlegen. Nur eine besonders intensive und einseitige Medienkampagne könne allenfalls die richterliche Unabhängigkeit gefährden.328 1995, noch unter der Geltung des kantonalen Strafprozessrechts, verschob ein Genfer Richter einen Prozess am Geschworenengericht, das die Tötung einer jungen Frau beurteilen musste. Grund dafür war ein Beitrag im Westschweizer Fernsehen. Die Sendung habe für die Beschuldigte ein ungünstiges Klima geschaffen.329 Publizität kann ein Sprachrohr für wirkliche oder vermeintliche Stimmungen der Öffentlichkeit darstellen und Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit schüren, welche wiederum die richterliche Unabhängigkeit gefährden.330 Boehme-Nessler hält es für möglich, dass die Unabhängigkeit auch durch Litigation-PR gefährdet wird.331 Andererseits können Medien aber auch Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit – etwa durch Interessenkonflikte – publik machen.332

326  Riklin,

Art. 38 StPO, Rz. 5. 105 Ia 157. 328  BGE vom 15. April 2008, 1B_65 / 2008. 329  Nach einer Meldung in plädoyer 1995 / 3, 5. 330  Kiener 211. 331  Boehme-Nessler, AfP 2010, 542. 332  Kiener 208 f. 327  BGE

5. Medieneinfluss auf den Entscheid? Die Sicht der Rechtswissenschaft „Ist die stillschweigend vertretene Voraussetzung zutreffend, wonach sich der Strafprozess ausschliesslich entwickelt und ausrichtet nach den gesetzlichen Vorgaben des GVG, der StPO und des StGB?“ Schumacher, StV 1995, 442.

Schumacher, ein Medizinprofessor, hat die Frage rhetorisch gemeint. Doch auch Juristen selber hatten schon den Verdacht, dass bei der Entscheidfindung nicht alles mit rechtlichen Dingen zugeht, dass Faktoren, die nicht im Recht begründet sind, auf den Entscheid einwirken können. Die gesetzlichen Vorgaben allein reichen nicht aus, um zu verstehen, wie Richter und Staatsanwälte entscheiden. Ausserrechtliche oder extralegale Motive können Bedeutung erlangen, dazu gehört auch ein allfälliger Medieneinfluss. Der Bundesgerichtsjournalist der Neuen Zürcher Zeitung, Markus Felber, behauptet, das Gericht beeinflusst zu haben. Manche Kammern fällten ihre Leitentscheide in Dreierbesetzung statt in gesetzlich vorgeschrieber Fünferbesetzung. Mehr als zwei Jahre lang versah Felber, sekundiert von Berufskollegen und Juristen, seine Berichte mit einem entsprechenden Hinweis, bis das Bundesgericht schliesslich seine rechtswidrige Praxis korrigierte.333 Die Medienwirkungsforschung hat gezeigt, dass Medien die Einstellungen und das Verhalten von Menschen beeinflussen können. Richter sind bekanntlich auch Menschen.334 Können Medien also auch auf das richterliche Urteil einwirken? Sind Laienrichter, Geschworene oder Schöffen anfälliger auf Medieneinfluss als Berufsrichter? Manche Autoren haben darauf hingewiesen, dass ein Medieneinfluss auf die Rechtspflege empirisch nicht nachgewiesen sei. Das stimmt nicht ganz: In den USA ist das Forschungsthema sogar sehr beliebt. Im deutschen Sprachraum hingegen sind empirische Studien nur spärlich zu finden. Sowohl in der Rechtswissenschaft wie auch in den Sozialwissenschaften hat das Gerichtsurteil mehr Aufmerksamkeit gefunden als die Entscheide im Vorverfahren.335 So wurde die Frage, ob ein Medieneinfluss auf die recht­ 333  Felber,

Justiz 2006 / 1, Rz. 20. auch Gerhardt, Im Namen, 174. 335  Rehbinder, Rechtssoziologie, 142, Rz. 161; Hermann 653; Kapardis 157; Killias / Kuhn / Aebi 51, Rz. 225; von Felten 251 ff.; sinngemäss auch Schünemann 278. 334  So



5.1. Wie kommt ein Urteil zustande?83

liche Entscheidung möglich sei, überwiegend in Bezug auf das richterliche Urteil gestellt und untersucht. Doch sind vermutlich Staatsanwälte nicht weniger anfällig auf Erwartungshaltungen der Öffentlichkeit und Druck durch Medien.336 Viele relevante und oft nicht wieder gutzumachende Entscheide fallen bereits im Vorverfahren.337 Studien zu Fehlurteilen zeigen, dass Fehler vor allem in einem frühen Stadium des Ermittlungen gemacht werden.338 Was Polizei und Staatsanwaltschaft vermasselt haben, kann das Gericht kaum mehr nachholen. Und bekanntlich gelangt nur eine Minderheit der Straffälle vor Gericht; die Mehrzahl wird mit einem Endentscheid der Staatsanwaltschaft abgeschlossen. Staatsanwälte sind von ihrer Rolle her weniger an entlastenden Momenten interessiert, trotz der Vorgabe von Art. 6 Abs. 2 StPO. Die persönlichen Umstände des Beschuldigten werden nicht mit gleicher Sorgfalt abgeklärt. Im Sinn eines sparsamen und raschen Vorgehens wird auf eine aufwendige Beweiserhebung verzichtet. Die Verfahrensökonomie war für den Gesetzgeber ja auch das wichtigste Motiv, die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft auszuweiten. Deshalb ist der Entscheid, der vom Staatsanwalt gefällt wird, im Ganzen wohl weniger „ausgewogen“. Und damit lässt sich erklären, dass Einsprachen gegen Strafbefehle oft erfolgreich sind.339 Das Recht ist eben keine exakte Wissenschaft. Es gibt in der Regel nicht nur einen möglichen, allein richtigen Entscheid. Auch bei gleicher Ausgangslage sind verschiedene Wertungen und Lösungen denkbar.

5.1. Wie kommt ein Urteil zustande? „In theory, the judge begins with some rule or principle of law as his premise, applies this premise to the facts, and thus arrives at his decision.“ Frank 101.

Der Richter ist bei der Rechtsanwendung nach Art. 1 ZGB in erster Linie dem Gesetz verpflichtet. Für das Strafrecht wird der Gesetzesvorbehalt bekräftigt durch Art. 1 StGB, es gilt ein striktes Legalitätsprinzip. Der Richter orientiert sich zudem an Präzedenzfällen, an Präjudizien. Diese Rechtsquelle ist vor allem in den Ländern des Common law von grosser Bedeutung. Das Urteil des Strafgerichts klärt den Sachverhalt verbindlich ab und bestimmt die Konsequenzen für den Beschuldigten. Die einzelnen Entschei336  Boehme-Nessler,

BilderRecht 134; siehe auch Wagner 32 ff.; Hamm 24 ff. medialex 2008, 156; Albrecht 63; Weigend 313; Wilmes, StraFo 2007, 12; Reike 2, 115. 338  van Koppen 210. 339  Dominique Strebel in der NZZ vom 17. März 2011, S. 25. 337  Riklin,

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5. Die Sicht der Rechtswissenschaft

dungsschritte sind im Gesetz nicht festgeschrieben, doch wird der Richter in der Praxis wohl auf folgende Weise vorgehen: 1. Tatfrage: Wurde ein Tatbestand des StGB erfüllt? Hat der Beschuldigte die Tat begangen? Liegen Rechtfertigungsgründe vor? 2. Schuldfrage: Ist der Täter schuldfähig und damit für die Tat (juristisch) verantwortlich? 3. Strafzumessung: Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Welche Strafe oder Massnahme ist angemessen? Sind Nebenstrafen auszusprechen? Kann der bedingte Strafvollzug gewährt werden?

Eine Zweiteilung des Verfahrens in Tat- oder Schuldinterlokut, wie sie für das frühere Zürcher Geschworenengericht vorgeschrieben war, kann auch heute angeordnet werden, nach Art. 342 StPO. Gerade im Zeitalter der Medialisierung kann das Interlokut den Sinn haben, den Angeklagten davor zu bewahren, seine persönlichen Verhältnisse vor einer neugierigen Öffentlichkeit ausbreiten zu müssen.340 Wenn der Richter zuerst die Schuldfrage klärt und dann das Strafmass bestimmt, ist das nicht nur logisch, sondern auch neurologisch bedingt: Für die beiden Schritte scheinen verschiedene Hirnareale involviert zu sein.341 Der Richter würdigt die Beweise nach Art. 10 Abs. 2 StPO frei. Er hat ein gewisses Ermessen darin, welche Beweise er als relevant ansieht und wie er sie gewichtet. Jedoch wird von ihm erwartet, dass er bei der Feststellung des Sachverhalts die objektive Wahrheit herausfindet. Wenn der Richter überzeugt ist, dass der Beschuldigte die ihm vorgeworfene Tat begangen hat und dafür verantwortlich ist, wendet er sich der Frage zu, welche Strafe oder Massnahme angemessen ist. Massgebend ist nach Art. 47 StGB das individuelle Verschulden des Täters. Der Richter orientiert sich an Tatmerkmalen, wie der Schwere der Tat oder dem entstandenen Schaden. Er berücksichtigt Tätermerkmale, die persönlichen Verhältnisse, das Vorleben, die vermutete Wirkung der Strafe. Dabei gewährt das Strafgesetzbuch dem Richter einen sehr grossen Ermessensspielraum. So beträgt der Strafrahmen für Totschlag nach Art. 113 StGB zwischen einem und zehn Jahren Freiheitsstrafe. Vermutlich ist deshalb ein Einfluss von Öffentlichkeit und Medien eher bei der Strafzumessung denkbar. Jedenfalls haben Richter selber in entsprechenden Umfragen eingeräumt, dass sie hier einen Einfluss der Medien für möglich halten.342 Lange war in der Rechtsgemeinschaft die Ansicht vorherrschend, dass die Rechtsanwendung des Richters eine rationale Sache sei und allein gestützt 340  Hauser

675. et al., Neuron 60 / 2008, 930 ff. 342  Gerhardt, Im Namen, 177; Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 229 ff. 341  Buckholtz



5.1. Wie kommt ein Urteil zustande?85

auf Gesetz und Präjudizien erfolge. Andere Einflüsse auf das Urteil, ausserrechtliche oder extralegale Faktoren, wurden als unerwünscht angesehen. Rational wäre eine rechtliche Entscheidung zu nennen, wenn sie auf Grund der Fakten und der Gesetzeslage eindeutig nachvollziehbar ist. Das ist wohl eine unrealistische Forderung. Auch erfahrene Juristen sind nicht in der Lage, den Prozessausgang vorherzusagen.343 Juristen selber haben diese Sicht der Rechtsprechung als mechanistisch in Frage gestellt. In der kognitiven Psychologie wird das Vorgehen als „bottom-up“-Prozess beschrieben. Der amerikanische Rechtsrealist Jerome Frank (1889–1957) bezeichnet die mechanistische Vorstellung von der Rechtsprechung als einen fundamentalen Irrtum. In der Praxis entscheide der Richter intuitiv, aus dem Bauch heraus. Er lasse sich von Rechtsgefühl und Gerechtigkeitsideen leiten, sehe im Geist bereits das Ergebnis und suche dann nach Normen, Präzedenzfällen und Lehrmeinungen, um den bereits gefassten Entscheid auf rechtliche Grundlagen zu stellen. Er wisse auf Grund seines Instinkts von Anfang an, wohin die Reise gehen werde. Vom gewünschten Resultat her arbeite er sich sozusagen zurück. Überspitzt gesagt, dienten die Gesetze den Richtern vor allem zur Rationalisierung und Rechtfertigung ihrer Entscheide. Zu denselben Entscheiden kämen sie auch ohne das gesetzte Recht. Dass logische und rationale, allein rechtliche Erwägungen ein Urteil bestimmen, sei eine Illusion.344 Rechtssoziologen in Deutschland und in der Schweiz teilen diese Auffassung. Der Richter habe sich bereits auf Grund des Aktenstudiums in einer ersten spontanen und intuitiven Einschätzung des Falls eine Vorstellung vom Urteil gebildet. Das in der Strafprozessordnung vorgeschriebene Vorgehen sage ihm bloss, wie er zu diesem Urteil gelangen könne.345 Diese pragmatische Vorgehensweise des Richters komme im Urteil nicht zum Ausdruck, man unterscheidet deshalb zwischen der inoffiziellen Herstellung und der ­offiziellen Darstellung des Urteils.346 Die Urteilsbegründung sei eine nachträgliche Rationalisierung, aus ihr gehe die tatsächliche Genese des Urteils nicht hervor. Die Entscheidungskriterien blieben in „wohltuendes Dunkel gehüllt“.347 Ausserrechtliche Einflüsse werden deshalb im publizierten Urteil nicht dokumentiert sein. Die kognitive Psychologie spricht von einem „topdown“-Prozess oder einer „top-down“-Heuristik. Dasselbe Vorgehen wählt ja auch ein Rechtsanwalt. Sein Ziel ist es, ein günstiges Resultat für den Klien343  Lautmann,

2011, 19. 100 ff. 345  Lamprecht, Justiz 2009 / 4, Rz. 34. 346  R. Hassemer, Monatsschrift für Kriminologie 1983, 26  ff.; Zihlmann 199; Albrecht 159; Lautmann 18. 347  Rehbinder, Rechtssoziologie, 11, Rz. 12. 344  Frank

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5. Die Sicht der Rechtswissenschaft

ten herauszuholen, einen Freispruch oder eine milde Strafe. Dazu sucht er Präjudizien und Literatur, die seinen Standpunkt stützen.

5.2. Ausserrechtliche Motive „Das subjektive Rechtsgefühl hat schon längst die sichtende Auswahl getroffen, und die Motive hinken mühsam hinten nach.“ Carl Wieland (Hochschullehrer in der Schweiz, 1864–1936), nach Fehr 427.

Rechtswissenschaftler nennen verschiedene ausserrechtliche, extralegale Faktoren oder sachfremde Motive, die möglicherweise auf den Entscheid einwirken und die innere Unabhängigkeit der Justizperson gefährden k ­ önnen: Für die Erledigung von Fällen können organisatorische und prozessökonomische Gründe massgebend sein, der Arbeitsanfall und der Zeitdruck, unter dem die Strafbehörden stehen. Der Soziologe und Jurist Rainer Lautmann, der als verdeckter Beobachter den Gerichtsalltag ein Jahr lang beobachtet hatte, meinte, die Richter liessen sich vor allem von ihren Bedürfnissen leiten, ein Verfahren rasch durchzuziehen.348 Der langjährige Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung am Bundesgericht, Markus Felber, nennt gruppendynamische Prozesse, die beispielsweise dann eine Rolle spielen, wenn sich die Richter nicht einig sind und eine öffentliche Beratung unumgänglich wird.349 Ebenso der ehemalige Bundesrichter Hans Wiprächtiger: der Richter muss dem Gruppendruck, der „Hackordnung“, standhalten.350 Der Richter hat ein legitimes Interesse daran, ein Urteil zur Befriedigung der Beteiligten so zu fällen, dass es nicht an die höhere Instanz weitergezogen wird.351 Er wird es im „Verdachtsfall“ von vornherein sorgfältig begründen. Der deutsche Jurist und Politiker Richard Schmid (1899–1986) hat den „Zusammenhang zwischen der guten oder schlechten Verdauung des Richters und der Milde oder Schärfe seiner Urteile“ erwähnt und scherzhaft als „gastronomische Jurisprudenz“ bezeichnet.352 Nicht nur die Mahlzeiten, auch die Tagesform des Richters, seine Schlafqualität oder die Wetterlage könnten ein Urteil beeinflussen. Das gilt wohl für die menschliche Entscheidung ganz allgemein.353 348  Lautmann

168 ff. Justiz 2006 / 1, Rz. 26 f. 350  Wiprächtiger, Unabhängigkeit, 50. 351  Lautmann 166 ff.; Schünemann 278; Rasehorn 138 ff.; Schumacher, StV 1995, 443. 352  R. Schmid, Hintergründe, 44. Der amerikanische Richter Alex Kozinski hält das für Schabernack, siehe Loyola of Los Angeles Law Review 1993, 993 ff. 353  Das haben mir zwei Strafrichter im persönlichen Gespräch bestätigt. 349  Felber,



5.3. Druck der Öffentlichkeit87 Eventuell lassen Richter vor Weihnachten eher Milde walten.354 Einstellungen und Werthaltungen, durch die Tat ausgelöste Emotionen, Sympathien und Antipathien gegenüber dem Täter, können eine Rolle spielen. Diese möglichen Einflüsse haben das besondere Interesse der empirisch forschenden Sozialwissenschaftler gefunden. Auch ein Medieneinfluss ist ein ausserrechtliches Motiv. Der Gesetzgeber hat nicht vorgesehen, dass sich Richter in ihrer Rechtsanwendung an der Medienberichterstattung orientieren. Saxer und Mannhart sprechen von medial bedingter oder medialer Befangenheit.355

Es ist nicht nur unmöglich, es ist auch unnötig, ausserrechtliche Einflüsse vollständig eliminieren zu wollen.356 Es muss genügen, wenn sich der Richter möglicher Beeinflussung gewahr wird.

5.3. Druck der Öffentlichkeit Natürlich steht der Richter unter dem Druck der öffentlichen Meinung.“ Sarstedt, AfP 1971, 146.

Als ganz selbstverständlich sah der 1985 verstorbene Werner Sarstedt, Richter am deutschen Bundesgerichtshof, in seinem klassischen Beitrag den Einfluss der Öffentlichkeit an. Was die Öffentlichkeit bewegt, drückt sich in schwer fassbaren Strömungen und Tendenzen aus, die mit dem Begriff Zeitgeist gut erfasst werden. Das Wort ist so treffend, dass es tel quel Eingang in die englische Sprache gefunden hat. Man muss in Betracht ziehen, dass der Zeitgeist heute mindestens teilweise ein Produkt der Massenme­dien sein könnte. Die Medien greifen gesellschaftliche Strömungen auf, sie vermitteln und verstärken Zeitgeist.357 In der Öffentlichkeit bestehen Straferwartungen, die wiederum in den Medien zum Ausdruck kommen.358 Dabei ist schwer zu sagen, was zuerst war, das Huhn oder das Ei. Die Medien können die Stimmung weiter aufheizen und Druck aufbauen.359 Es besteht die Gefahr, dass Richter beim Abfassen des Urteils auf die Öffentlichkeit schielen.360 Den Druck spüren 354  Stauffer

71; persönliche Mitteilung eines langjährigen ehemaligen Strafrichters. 427 ff. 356  Zeller, Vorverurteilung, 127; Wiprächtiger, plädoyer 2000 / 3, 29; BGE 105 Ia 157, 162 f. 357  Mertin, ZRP 2005, 206; Schmitt, ZRP 2011, 221. 358  Zihlmann 179; Kiener 211. 359  Neuling 81. 360  Nobel  /  Weber 673, Rz. 37; Boehme-Nessler, StraFo 2010, 461; Jäger 234, Rz. 746; Stauffer 67. 355  Saxer / Mannhart

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auch die Ermittlungsbehörden, wie der Oberstaatsanwalt (procureur général) des Kantons Waadt, Eric Cottier, einräumt.361 Doch könne und solle sich die Rechtspflege den generellen und etablierten Erwartungen der Öffentlichkeit nicht auf Dauer widersetzen, meint die Luzerner Oberrichterin Marianne Heer, sonst werde der Rechtsfriede gefährdet. Heikel sei aber, wenn in einem Einzelfall Druck ausgeübt werde.362 Veränderte Wertvorstellungen in der Bevölkerung kommen in der Gerichtspraxis zum Ausdruck.363 Ein Beispiel dafür sind die „Raserunfälle“, die Unfälle, bei denen Fussgänger von Autofahrern getötet werden, welche die zulässige Geschwindigkeit massiv überschritten haben. Darüber hat die Berichterstattung in den Medien quantitativ zugenommen.364 Die Unfallverursacher werden mit einem von Emotionen geprägten Vokabular geschildert: Raser, Tempobolzer, Strassen-Rowdy, Verkehrs-Rowdy, Todesfahrer … Die Gerichte beurteilen Raserunfälle seit einigen Jahren strenger.365 Dasselbe gilt für sexuelle Handlungen mit Kindern. Der Basler Anwalt Peter Zihlmann meint, es gelte heute als Verstoss gegen die Political correctness, einen mutmasslichen Sexualtäter aus Mangel an Beweisen freizusprechen.366 Und ein drittes Beispiel: Die Behörden sind wegen des öffentlichen Drucks sehr vorsichtig geworden, was die Gewährung von Urlaub für Häftlinge oder gar die bedingte Entlassung betrifft.367 Die Öffentlichkeit kann ihre Standpunkte durch Demonstrationen zum Ausdruck bringen, durch den Druck der Strasse. In den USA hat es im Zusammenhang mit verschiedenen Straffällen Rassenunruhen gegeben, zum Beispiel im Fall Rodney King. Der junge Schwarze wurde 1991 bei seiner Verhaftung von Polizisten zusammengeschlagen. Ein zufälliger Zeuge filmte das Geschehen und stellte das Video einem Fernsehsender zur Verfügung. Die Sendung des Videos rief nicht nur in Amerika, sondern weltweit Empörung hervor. Nach dem Freispruch der Polizisten kam es zu Ausschreitungen. Es wird vermutet, dass diese Ausschreitungen später indirekt zum Freispruch des populären schwarzen Sportlers O. J. Simpson (siehe S.  165 f.) beigetragen haben.368 361  Cottier

249. 154. 363  Heer 153 f. 364  Schweizer 205 f., Rz. 612 f. suchte in der Mediendatenbank Swissdox nach dem Begriff Raserunfall und fand für das Jahr 1998 nur einen Treffer, im Jahr 2004 aber bereits 162 Treffer! 365  Zur verschärften Gerichtspraxis siehe zum Beispiel BGE 130 IV 58. Erst 2013 traten auch gesetzliche Verschärfungen in Kraft, siehe: http:  /   /  www.news. admin.ch / message / index.html?lang=de&msg-id=46713 (9.4.13). 366  Zihlmann 99, 111. 367  Manhart 193 ff. 368  Schnabl 60, 62. 362  Heer



5.3. Druck der Öffentlichkeit89

Simpson war in einem einzigartig spektakulären Prozess des Mordes an seiner Ehefrau und deren Freund angeklagt worden. Trotz der ziemlich belastenden ­Beweislage sprachen die Geschworenen Simpson frei, während er im anschliessenden Zivilprozess zur Bezahlung von Schadenersatz verurteilt ­ wurde. Es ist also denkbar, dass die öffentliche Meinung nicht nur aktuelle Verfahren beeinflusst, sondern indirekt auf spätere Verfahren eine „Fernwirkung“ zeitigt. In der öffentlichen Verhandlung selbst kann es zu Störmanövern oder zu Beeinflussungsversuchen durch das Publikum, durch „vom Klassenkampf Beseelte“, kommen.369 Besonders gefährdet sind Prozesse gegen politisch motivierte Straftäter wie beispielsweise die RAF-Terroristen in Deutschland, aber nicht nur: Bei öffentlichen Verhandlungen von Vergewaltigungsfällen sind konzertierte Aktionen militanter Feministinnen bekannt geworden.370 Die Ergebnisse der rechtspsychologischen Forschung lassen sogar darauf schliessen, dass Zwischenrufe von Zuschauern auf die Strafzumessung Einfluss nehmen könnten.371 Koordinierte Aktionen dieser Art können heute durch Social Media befördert werden. In der Schweiz gab der Strafprozess gegen den Mörder eines Au-PairGirls zu reden. Ende Februar 2012 verurteilte das Bezirksgericht Baden den Mörder des jungen Mädchens zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und anschliessender Verwahrung. Es folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf lebenslange Verwahrung nicht und liess sich von ultimativen Forderungen der lokalen Presse nicht beeindrucken. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb, es sei dem Badener Bezirksgericht hoch anzurechnen, nicht dem „populistischen Reflex“ nachgegeben zu haben, obwohl sich die Richter im selben Jahr der Wiederwahl stellen mussten.372 Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein, und das Aargauer Obergericht sprach im Oktober 2012 die lebenslange Verwahrung aus.373 Nun ist der Fall vor Bundesgericht hängig. Internationale Beachtung hat die Tat des norwegischen Amokläufers Anders Behring Breivik gefunden, der im Juli 2011 zwei Anschläge beging. In Oslo verloren durch eine Autobombe acht Menschen ihr Leben. Anschlies­ send fuhr Breivik auf die Insel Utøya und erschoss dort 69 Jugendliche, die an einem Zeltlager teilnahmen. Das norwegische Strafgericht, das im Sommer 2012 die Tat beurteilte, war grossem öffentlichem Druck ausgesetzt, den Täter als schuldfähig einzustufen. In diesem Sinn hat es denn auch 369  Stauffer

66. 71; Schumacher, StV 1995, 445. 371  Englich, Zeitschrift für Sozialpsychologie 2005, 215 ff. 372  Marcel Gyr in der NZZ vom 2. März 2012, S. 17. 373  Marcel Gyr in der NZZ vom 19. Oktober 2012, S. 15. 370  Wagner

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5. Die Sicht der Rechtswissenschaft

tatsächlich entschieden, trotz gegenteiligen Antrags der Staatsanwaltschaft.374 Das Urteil ist rechtskräftig. Im April 2009 verwüstete ein Erdbeben die Gegend um die italienische Stadt L’Aquila. Über 300 Menschen verloren dabei ihr Leben. Die Seismologen, welche das Risiko beurteilt und es unterschätzt hatten, wurden vor Gericht gestellt und im Oktober 2012 zu langen Haftstrafen verurteilt. Vielleicht wollten die Richter mit dem strengen Urteil die betroffene Bevölkerung beschwichtigen. Diese zeigte sich denn auch zufrieden. Doch überall sonst auf der Welt stiess der Entscheid auf Kritik, besonders natürlich in Kreisen der Wissenschaft.375 Einige Autoren halten nicht so sehr die Erwartungen der Öffentlichkeit und die Tätigkeit der Medien für bedenklich; für die Unabhängigkeit der Rechtspflege sei es gefährlicher, wenn Politiker versuchten, sich in laufende Verfahren einzumischen.376

5.4. Rechtsprechung zum Einfluss von Öffentlichkeit und Medien Bis heute hat weder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) noch das schweizerische Bundesgericht je festgestellt, dass die richterliche Unabhängigkeit durch Medienberichterstattung gefährdet oder verletzt wurde.377 In Deutschland sind die Amts- und Landgerichte, die erst- und zweitinstanzlichen Strafgerichte, aus Berufsrichtern und Schöffen zusammengesetzt.378 In der Literatur wird kein Fall zitiert, in denen Berufsrichter oder Schöffen als Folge einer Medienkampagne für befangen erklärt wurden. Nach Roxin lehnt es die deutsche Rechtsprechung ab, Richtern die Unbefangenheit wegen Mediendrucks abzusprechen, sei dieser noch so ausgeprägt.379 So hatten auch die Befangenheitsanträge der Verteidigung von Jörg Kachelmann (siehe S. 17 ff.) gegen zwei Richter keinen Erfolg.380 Die Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert dem Beschuldigten im 6. Zusatzartikel ein faires Verfahren. Der US Supreme Court stellte schon 374  Ingrid

Meissl Årebo in der NZZ vom 25. August 2012, S. 3. Spina in der NZZ vom 25. Oktober 2012, S. 3. 376  Weigend 320; Kiener 217 ff. 377  Kiener 202, 211; Nobel / Weber 672, Rz. 35; Frowein / Peukert, Art. 6 EMRK; Saxer / Mannhart 434. 378  Ludewig-Kedmi / Angehrn, Justiz 2008 / 3, Rz.  14. 379  Nach Roxin 105. 380  Knellwolf 198. 375  Romina



5.4. Rechtsprechung zum Einfluss von Öffentlichkeit und Medien 91

mehrmals fest, dass die Rechte eines Beschuldigten durch Medienkampagnen verletzt wurden. Doch liegen diese Urteile schon relativ lange zurück.381 Das richtungsweisende Urteil war der Straffall Sheppard v. Maxwell (1966): Der Arzt Sam Sheppard wurde 1954 des Mordes an seiner schwangeren Ehefrau angeklagt. Trotz massiver medialer Vorverurteilung weigerte sich der vorsitzende Richter, den Prozess zu verschieben, zu verlegen oder eine Sequestrierung der Geschworenen anzuordnen. Sam Sheppard wurde schuldig gesprochen. Der Supreme Court hob das Urteil auf mit der Begründung, der verfahrensleitende Richter habe es versäumt, den Angeklagten im Rahmen des Prozesses zu schützen. Er habe es unterlassen, die Geschworenen gehörig zu instruieren. Damit habe er dem Angeklagten ein faires Verfahren verunmöglicht.382 Zu beachten ist, dass der Gerichtshof nicht den Medien Vorwürfe machte, sondern den staatlichen Rechtspflegeorganen. Im neuen Prozess wurde Sheppard freigesprochen. Sein Anwalt war F. Lee Bailey, der mit diesem Fall seinen Ruhm als mediengewandter Verteidiger begründete und später auch im Verteidigungsteam von O. J. Simpson (siehe S. 165 f.) mitwirkte. 5.4.1. Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts Das Bundesgericht schliesst einen Einfluss von Öffentlichkeit und Medien auf die Entscheidungen von Staatsanwaltschaften und Gerichte nicht von vornherein aus. Vorverurteilende Publikationen können Erwartungen der Öffentlichkeit schüren und damit indirekten Druck auf die Justizbehörden bewirken.383 Eine virulente Pressekampagne kann eine „verheerende“ Wirkung auf die Richter haben.384 Auch durch aggressive Kritik an den Justizorganen selber können Gerichtspersonen die notwendige innere Distanz zum Streitgegenstand und damit ihre Unabhängigkeit verlieren.385 Doch darf vom Richter erwartet werden, dass er auch bei überdurchschnittlichem Medienecho seine Unabhängigkeit wahren kann. Der blosse Zugang zu den Medien genügt nicht, um die Objektivität der Richter in Frage zu stellen, es könnte sonst kaum mehr ein Richter zum Einsatz kommen, und es müssten jeweils alle Richter in den Ausstand treten. Befangen381  Zusammenstellung zum Beispiel bei Studebaker  / Penrod, Public Policy and Law 1997, 430 f. 382  Sheppard v. Maxwell 384 U.S. 333 (1966), nach Champion 417 f. 383  BGE 116 IV 31, 39. 384  BGE 116 IV 31, 36. Virulent ist nach Saxer  / Mannhart 432 eine Kampagne mit eindeutiger Stossrichtung, die auf eine Verurteilung oder eine exemplarische Bestrafung abzielt. 385  BGE 113 Ia 309, 321.

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5. Die Sicht der Rechtswissenschaft

heit darf nicht leichthin angenommen werden, sonst würde die örtliche richterliche Zuständigkeit ausgehebelt. Insofern steht das Gebot der Unabhängigkeit mit der Garantie des verfassungsmässigen Richters in Konflikt. Im konkreten Fall müssen objektive Kriterien gegeben sein, welche die Unbefangenheit des Richters in Frage stellen. Das Bundesgericht selber hält den Zustand völliger Unbefangenheit nicht nur für unmöglich, sondern gar für unerwünscht.386 In seiner älteren Rechtsprechung traut das Bundesgericht den Laienrichtern und Geschworenen weniger Widerstandsfähigkeit zu als den Berufsrichtern.387 Es hat jedoch im Fall Zwahlen (siehe S.  37 f.) festgehalten, dass auch Geschworene grundsätzlich in der Lage seien, auf Grund neuer, in der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse von einem vorläufigen Eindruck abzurücken.388 Das Bundesgericht verwendet den Begriff des Laienrichters undifferenziert. Damit können Geschworene gemeint sein, die sporadisch für einen Straffall berufen werden, „Laien ad hoc“ oder Gelegenheitsrichter.389 Oder es handelt sich um ständige Laienrichter, die an vielen schweizerischen Gerichten tätig sind, in einigen Kantonen sogar an Rechtsmittelinstanzen.390 Manchmal wird erst aus dem Kontext klar, welche Art von Laien gemeint ist. Die Bedenken, die das Bundesgericht gegen Laienrichter äussert, scheinen sich nicht gegen ständige Laienrichter, sondern gegen Geschworene zu richten, die es heute nur noch im Kanton Tessin gibt. Dort haben sich die Stimmbürger 2010 für die Beibehaltung der Geschworenengerichte ausgesprochen.391 Die Tradition des Laienrichtertums wurde 2007 vom Bundesgericht bestätigt: Der Rechtsuchende hat keinen verfassungsmässigen Anspruch auf einen juristisch ausgebildeten Richter.392 Nicht einmal für die Wahl ans Bundesgericht ist nach Art. 143 BV und Art. 5 Abs. 2 BGG eine juristische Ausbildung Voraussetzung! 2008 hielt das Bundesgericht nochmals fest, dass die Unabhängigkeit von Richtern, selbst von Laienrichtern oder Geschworenen, nur bei einer sehr intensiven und einseitigen Medienkampagne in Frage gestellt werden könne, und lehnte das Gesuch ab, den Prozess in einen anderen Bezirk des Kantons Waadt zu verlegen.393 386  BGE

105 Ia 157, 162 f. 105 Ia 157, 165 (Laienrichter); BGE 116 Ia 14 (Geschworene). 388  BGE vom 19. Juli 1989, 1P.438 / 1988, nach Zeller, Vorverurteilung, 120. 389  Bommer, Laienbeteiligung, 56; Hauser 679. 390  Bommer, Laienbeteiligung, 53, Fn. 26. 391  Nach einer Meldung in plädoyer 2011 / 1, 5; siehe auch Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. September 2005, BBl 2006, 1138; N. Schmid, Handbuch, 144, N. 380. 392  BGE 134 I 16. 393  BGE vom 15. April 2008, 1B_65 / 2008. 387  BGE



5.4. Rechtsprechung zum Einfluss von Öffentlichkeit und Medien 93

Das Leiturteil des Bundesgerichts wurde im Jahr 1990 erlassen.394 Ein ehemaliges Mitglied der italienischen „Roten Brigaden“, Alvaro Baragiola, hatte in die Schweiz flüchten und dort das Bürgerrecht erlangen können. Seine Identität wurde bekannt, und er musste sich für seine Delikte vor dem Tessiner Geschworenengericht verantworten. Der Beschuldigte stellte ein Ausstandsbegehren gegen das gesamte Gericht mit der Begründung, die Richter, insbesondere die Geschworenen, seien auf Grund der Medienberichte voreingenommen. Das Gericht lehnte das Gesuch ab und verurteilte den Beschuldigten, der sich darauf ans Bundesgericht wandte. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab. Es stützte sich in seinem Urteil vor allem auf die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) und führte in Erwägung 7.c aus: Um eine Befangenheit anzunehmen, müssten objektive Anzeichen für eine Beeinflussung der Richter durch Medienberichte bestehen. Dass im Pausenzimmer der Richter Zeitungen auflagen, genüge dafür nicht. Das faire Verfahren werde nur bei einer einseitig den Angeklagten belastenden Kampagne gefährdet. Die Geschworenen hätten einen Eid oder ein Gelübde abgelegt, deshalb sei es nicht notwendig gewesen, ausdrücklich auf die Gefährlichkeit der Medien für die Urteilsbildung hinzuweisen oder die Medien zu ermahnen. Zudem seien die staatlichen Organe nicht untätig geblieben; in einem gemeinsamen Communiqué von Staatsanwaltschaft und Verteidigung seien die Medienvertreter gebeten worden, Rücksicht zu nehmen. Gegen den Entscheid des Bundesgerichts wandte sich der Verurteilte an die EKMR, diese wies die Beschwerde ab.395 In einem Entscheid von 1998 hielt das Bundesgericht wiederum fest, dass von Berufsrichtern, hier den Mitgliedern des Zürcher Obergerichts, erwartet werden könne, den Stellenwert der Prozessberichterstattung richtig einzuschätzen. Allein wegen einer intensiven Pressekampagne könne ein Gericht nicht als befangen gelten und genausowenig, weil es nicht aktiv gegen die Medienberichterstattung vorgegangen war. Wie hätte es das auch tun sollen? Dem Ausstandsbegehren gegen das Gesamtgericht wurde nicht stattgegeben. Abgesehen davon hatte der Beschwerdeführer – es handelte sich um einen der Korruption angeklagten Beamten – gar keine Belege für die behauptete Hetzkampagne anführen können.396

394  BGE

116 Ia 14; siehe dazu Spühler, SJZ 1990, 349 ff. vom 21. Oktober 1993, No. 17265 / 90, Alvaro Baragiola c. Schweiz, siehe VPB 1994, Nr. 106. 396  BGE vom 19. März 1998, 1P.701 + 703 / 1997. 395  EKMR

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5. Die Sicht der Rechtswissenschaft

5.4.2. Rechtsprechung der europäischen Instanzen Bis Oktober 1998 beurteilte hauptsächlich die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) Beschwerden gegen die Verweigerung eines fairen Verfahrens, seither ist allein der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zuständig.397 Beide Instanzen gingen und gehen davon aus, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens, der in Art. 6 EMRK festgehalten ist, grundsätzlich durch eine Medienkampagne gefährdet werden könne. Tatsächlich wurde aber bisher in keinem konkreten Fall eine Verletzung festgestellt.398 Die Kommission schien in ihrer älteren Praxis danach zu differenzieren, ob staatliche Instanzen die Medienkampagne provoziert hatten. Wenn nicht die Behörden selber ihre Pflichten verletzt haben, müssen sie für Medienkampagnen nicht einstehen.399 In einem späteren Entscheid von 1986 hielt die EKMR dagegen fest, dass die Passivität der Justiz, das Nicht-Reagieren auf eine Medienkampagne, den Anschein der Befangenheit erwecken kann. Das faire Verfahren ist aber nicht gefährdet, wenn die Ansichten in der Presse nicht einseitig, sondern geteilt sind.400 Bereits erwähnt wurde der Entscheid der EKMR vom 21. Oktober 1993 in der Sache Alvaro Baragiola (siehe S. 93). In einem Urteil von 2002 zeigte sich der EGMR nachsichtig gegenüber den Medienschaffenden, die über die Strafsache gegen einen Spitzenpolitiker gepfefferte Kommentare schrieben. Der EGMR sah keine Anhaltspunkte für eine unzulässige Beeinflussung des Gerichts, das hier zudem ausschliesslich aus Berufsrichtern zusammengesetzt war.401 Die europäischen Instanzen haben an sich keine Bedenken gegen Laienrichter.402 Doch ging mindestens die ältere Rechtsprechung davon aus, dass Geschworene wesentlich leichter beeinflussbar seien.403 397  Siehe: http: /  / www.humanrights.ch / de / Instrumente / Europarats-Organe / EGMR /  Uebersicht / index.html (9.4.13). 398  Kiener 202, 211; Nobel / Weber 672, Rz. 35; Frowein / Peukert, Art. 6 EMRK; Saxer / Mannhart 434. 399  EKMR vom 8. Juli 1978, No. 7572  / 76, No. 7586 / 76, No. 7587 / 76, Ensslin, Baader und Raspe c. Bundesrepublik Deutschland, siehe EuGRZ 1978, 314 ff., 323; siehe dazu Spühler, SJZ 1990, 351. 400  EKMR vom 15. Juli 1986, No. 10857  / 84, G. und L. Bricmont c. Belgien, siehe EuGRZ 1987, 356 f. 401  EGMR vom 5. Dezember 2002, No. 34896 / 97, Craxi c. Italien. 402  Nach Frowein / Peukert, Art. 6 EMRK, Rz. 210. 403  EKMR vom 8. Juli 1978, No. 7572  / 76, No. 7586 / 76, No. 7587 / 76, Ensslin, Baader und Raspe c. Bundesrepublik Deutschland, siehe: EuGRZ 1978, 314–324, 323. Hinweis auf weitere Urteile in Zeller, Vorverurteilung, 114, Fn. 191.



5.5. Meinungen der Lehre95

5.5. Meinungen der Lehre „Der Einfluss der Medien auf das Strafverfahren ist wissenschaftlich bislang Niemandsland, und auch die Beteiligten können über ihn nur mutmassen.“ Wagner 101 f.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird überwiegend eingeräumt, dass die Medien eine rechtliche Entscheidung beeinflussen können.404 Jositsch nennt das Beispiel des Fraumünsterpostraubs in Zürich 1997 und fragt sich, ob die Strafen relativ hoch ausgefallen seien wegen der intensiven Medienberichterstattung, die den Aspekt der Beute in den Vordergrund gestellt hätte. Natürlich könne das nicht bewiesen werden.405 Einige Autoren sind der Meinung, der Medieneinfluss werde unterschätzt; vor allem die Strafverteidiger selber neigen zu dieser Ansicht.406 Gefahr bestehe vor allem, wenn dem Richter der Einfluss nicht bewusst sei.407 Bedenklich sei auch, wenn so getan würde, als ob Richter gegen Medieneinflüsse immun seien.408 Andere Autoren, und nicht nur Richter, halten dagegen.409 Der ehemalige Bundesrichter Wiprächtiger beispielsweise sieht keinen Anlass zur Sorge:410 Medienberichterstattung ist nur einer von unzähligen Faktoren, die den richterlichen Entscheid beeinflussen. Dazu zählen selbstverständlich auch verschiedenste ausserrechtliche und sachfremde Einflüsse: der familiäre, soziale, kulturelle und weltanschauliche Hintergrund, die Erziehung, das Umfeld des Richters. Gerd Pfeiffer, der ehemalige Präsident des deutschen Bundesgerichtshofs, hält eine völlige Losgelöstheit für unmöglich und gar nicht wünschbar.411 Saxer und Mannhart ergänzen, die „mediale Befangenheit“ werde in Schach gehalten durch die Bindung des Richters an das Recht, durch die Parteirechte und dank der Möglichkeit des Weiterzugs an die höhere Instanz.412 404  Stürner, JZ 1978, 164; Wagner 87 ff.; Hamm 20; Gross 41 f.; Jositsch, ZStrR 2004, 124 f.; Wohlers, StV 2005 Beilage, 187; Hafter 538, Rz. 3132 f.; Koppenhöfer, Justiz, 289; K. Schiller, Anwaltsrecht, 398, Rz. 1609. 405  Jositsch, ZStrR 2004, 126 f.; detaillierte Schilderung des Falls in Jäger 191 ff., Rz.  603 ff. 406  Gatzweiler 213; Bernsmann / Gatzweiler 261, Rz. 1097; Schulz 3 f. 407  Pfeiffer 70; Gerhardt, Einfluss, 45; Nobel / Weber 2007, 673, Rz. 36; BoehmeNessler, AfP 2010, 542; Wiprächtiger, Unabhängigkeit, 50; Heer 152; ähnlich Jositsch, ZStrR 2004, 125. 408  Wohlers, StV 2005 Beilage, 187. 409  Kiener 211; Saxer / Mannhart 439. 410  Wiprächtiger, plädoyer 2000 / 3, 28. 411  Pfeiffer 73. 412  Saxer / Mannhart 430.

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5. Die Sicht der Rechtswissenschaft

Doch wird eingeräumt, dass keine empirischen Belege vorlägen, die einen Medieneinfluss definitiv bestätigen oder ausschliessen könnten.413 Das stimme so nicht ganz, sagt Hochschullehrer Volker Boehme-Nessler, doch stehe die empirische Forschung noch ziemlich am Anfang.414 Viele Autoren sind – wie das schweizerische Bundesgericht – der Meinung, dass Laienrichter gegenüber sachfremden Einflüssen anfälliger seien. Berufsrichter seien auf Grund ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrung abgehärteter und resistenter.415 Nicht alle Juristen sind derselben Meinung. Doch richten sich ihre Bedenken nicht in erster Linie gegen ständige Laienrichter, sondern gegen Geschworene (in Deutschland und Österreich Schöffen genannt), die nur im Einzelfall oder unregelmässig aufgeboten werden. Professionell oder halbprofessionell tätige Laienrichter, wie sie in verschiedenen Schweizer Kantonen zum Einsatz kommen, sind den studierten Juristen absolut vergleichbar, vor allem wenn sie über langjährige Erfahrung verfügen. Die Laienrichter sind ihren akademisch gebildeten Kollegen auch rechtlich gleichgestellt.416 In Aus- und Weiterbildungen können sie sich die notwendigen Kenntnisse aneignen. Zudem stehen ihnen Gerichtsschreiber mit abgeschlossener juristischer Ausbildung zur Seite. Nach einer gewissen Zeit sind Laienrichter so „tough“ wie Berufsrichter. In einigen Kantonen sind Laien auch in den Ermittlungsbehörden tätig, was im vereinheitlichten Strafprozess möglich bleibt.417 Gegenüber Geschworenen scheint ein gewisses Misstrauen zu bestehen. Sie seien nicht gewohnt, mit Druckversuchen der Medien und der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit umzugehen. Gewieften Anwälten sei es ein Leichtes, die naiven Geschworenen zu manipulieren. Vielleicht gehören deshalb Anwälte, die von sich, ihrer Eloquenz und ihrer medialen Ausstrahlung überzeugt sind, zu den vehementesten Befürwortern der Jury.418 Einige Autoren können sich andererseits sogar vorstellen, dass die fehlenden Karriereängste der Geschworenen eine bessere Gewähr für richterliche Unab413  Stürner, JZ 1978, 164; Wagner 13, 87, 101 f.; W. Hassemer, Einfluss, 67; Riklin, recht 1991, 66; Roxin 100; Gross 41; Gatzweiler 212; Zeller, Vorverurteilung, 113 f.; Schulz 3; Jositsch, ZStrR 2004, 124; Heinrich 256; Heer 150; Kiener 211. 414  Boehme-Nessler, AfP 2010, 541. 415  Sarstedt AfP 1971, 146; Wagner 13, 89; Spühler, SJZ 1990, 349 f.; Wehnert, StV 2005 Beilage, 178; Bernsmann / Gatzweiler 261, Rz. 1097; Nobel / Weber 673, Rz. 37; Saxer, Justizkommunikation, 67; Koppenhöfer, Justiz, 289; J. Jahn, Litiga­ tion-PR, 265. 416  Kiener 205 f.; Ludewig-Kedmi / Angehrn, Justiz 2008 / 3, Rz. 6. 417  Bommer, Laienbeteiligung, 51 Fn. 15; siehe auch Botschaft zur Vereinheit­ lichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006, 1383. 418  Zum Beispiel Zihlmann 182; Dershowitz 200 f.; Jacques Barillon  / Jean-Noël Cuénod. Ne tirez pas sur le jury! Genève 2009.



5.5. Meinungen der Lehre97

hängigkeit bieten.419 Ob nun Juristen oder Laien anfälliger sind für mediale Befangenheit – diese Frage kann mangels empirischer Grundlagen nicht definitiv beantwortet werden.420 Nach Saxer und Mannhart ist der ideale Richter ein informierter Zeitgenosse, er hält sich auf dem Laufenden und verfügt über Medienmündigkeit. Auch wenn sich Justizpersonen über Medienkampagnen beklagen, so sind sie doch motiviert und in der Lage, dem tatsächlichen oder vermeintlichen Mediendruck zu widerstehen.421 In einem spektakulären Verfahren mag dieses Bedürfnis der Richter sogar besonders ausgeprägt sein. Die Gefahr, von persönlichen Einstellungen, Zu- oder Abneigungen beeinflusst zu werden, sei am grössten in alltäglichen Fällen, wenn die Richter nicht unter Beobachtung stehen. Wenn ein Fall grosses Aufsehen erregt, geben sich die Richter besondere Mühe, neutral zu bleiben und dafür zu sorgen, dass das Verfahren korrekt abläuft. Lieber biete man noch einen Zeugen mehr auf.422 So wurden im Kachelmann-Prozess (siehe S. 17 ff.) ehemalige Freundinnen und Bekannte möglichst vollzählig aufgeboten, obwohl sie ja zum aktuellen Vorwurf der Vergewaltigung nicht direkt eine Aussage machen und deshalb eigentlich keinen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten konnten. Strafverteidiger könnten das Problem des Medieneinflusses naturgemäss etwas anders sehen. Die von Forschern der Universität Mainz durchgeführten Umfragen ergaben, dass mehr als ein Drittel der befragten 35 Verteidiger einen Einfluss der Medienberichterstattung auf die Strafzumessung der Berufsrichter befürchtet.423 Die geringe Teilnehmerzahl erlaubt natürlich keine eindeutige Aussage. Bei einer anderen Umfrage, die der deutsche Kommunika­ tionsexperte Frank Wilmes 2005 durchführte, hielten 80 der 111 befragten Verteidiger eine Beeinflussung der Berufsrichter durch die Medien für möglich.424 Mediale Beeinflussungsversuche können bei Richtern und Geschworenen zu einer Haltung führen, die in der Alltagssprache als Trotzreaktion, in der Psychologie als Reaktanz bezeichnet wird (siehe S. 153 ff.). Zahlreiche Juristen erwähnen diese Art der richterlichen „Verteidigung“ gegen Medien­ einfluss ebenfalls.425 419  Zihlmann

182; Stauffer 67 f. JZ 1978, 164; W. Hassemer, Einfluss, 67; Kiener 205, Fn. 615. 421  Saxer / Mannhart 434, 439. 422  Daniel Jositsch in der Sendung Baz Standpunkte: Kachelmann & Co.: Opfer der Medienjustiz? am 5. / 11. Juni 2011 im Schweizer Fernsehen SF1 / SFinfo. 423  Kepplinger, Einfluss, 232 f. 424  Wilmes, Krisen-PR, 103. 425  Zum Beispiel Sarstedt, AfP 1971; Stürner, JZ 1978, 165; Wagner 52; Hamm 20 f.; Stauffer 68; Koppenhöfer, StV 2005 Beilage, 173; Wohlers, StV 2005 Beilage, 187, Gerhardt, Strafverteidigung, 1670, Rz. 18; von Felten 256. 420  Stürner,

6. Medieneinfluss auf den Entscheid? Die Sicht der Sozialwissenschaften „Gäbe es keinen Einfluss der Medien auf ein Gerichtsverfahren, hätte ‚Litigation-PR‘ keine Chance auf Erfolg.“ Fechner 42.

Die menschliche Entscheidung allgemein ist Thema der Sozialwissenschaften. Mit der Entscheidung im Recht, dem Entscheid, befassen sich Rechtssoziologie, Rechts- und Sozialpsychologie, mit der spezifischen Frage des Medieneinflusses zudem die Medienwirkungsforschung. Die Sozialwissenschaften sind keine exakten, „harten“ Wissenschaften wie Physik oder Mathematik. Man kann nicht mit Sicherheit voraussagen, wie sich ein Mensch in einer bestimmten Situation verhalten wird, man kann dafür nur Wahrscheinlichkeiten angeben. Wenn sich Juristen und Richter zu einem möglichen Medieneinfluss äus­ sern, stützen sie ihre Einschätzung nicht auf Erkenntnisse der Wissenschaft, sondern auf intuitive Einsichten, auf ihre Erfahrungen, auf den gesunden Menschenverstand, auf Alltagswissen, auf Alltagstheorien.426 Wenn Juristen sagen, Laienrichter seien gegenüber Medieneinflüssen empfänglicher als Berufsrichter, so vertreten sie damit eine Alltagstheorie. Alltagstheorien sind – wie schon der Name sagt – geeignet, das tägliche Leben zu bewältigen, aber sie genügen wissenschaftlichen Kriterien nicht. Dennoch sollten sie nicht gering geschätzt werden. Erscheint eine Alltagstheorie plausibel, kann sie der Wissenschaft immerhin als Ausgangshypothese dienen.427 Abgesehen davon sollen Alltagstheorien schon manche sogenannte wissenschaftliche Theorie überlebt haben.428 Wissenschaftlich ist eine Theorie erst, wenn sie mit anerkannten Methoden empirisch überprüft wurde. Und auch dann gilt eine Theorie nur so lange, als sie nicht widerlegt oder falsifiziert wird. So können wir zwar die Hypothese aufstellen, dass ein Anwalt mit Medienarbeit den Entscheid einer Behörde beeinflussen kann. Solange dafür der wissenschaftliche Beweis 426  Zum Begriff der Alltagstheorie siehe Huber 15 ff.; Rehbinder, Rechtssoziologie, 8 f., Rz. 9. 427  Huber 37. 428  Stürner, JZ 1978, 164.



6.1. Theorien und Modelle der Entscheidung im Recht99

nicht erbracht wurde, wissen wir aber nicht, ob es wirklich die Intervention des Anwalts war, die den günstigen Prozessausgang bewirkte. Vielleicht hat ja der Klient seine Zuflucht zum Gebet genommen, wer weiss?

6.1. Theorien und Modelle der Entscheidung im Recht Ordnung ins Chaos der Tatsachen zu bringen, scheint ein spezifisch menschliches Bedürfnis zu sein, zumindest ein Bedürfnis des Wissenschaftlers. Mit einem Modell oder einer Theorie will er einen Sachverhalt generalisieren. Die ideale Theorie beschreibt alle Einzelfälle ausnahmslos und vollständig. Das ist in den exakten Naturwissenschaften manchmal möglich, ein Beispiel dafür ist die Wirkung der Schwerkraft. In den Sozialwissenschaften hingegen sind Modelle, die ausnahmslos Geltung haben, kaum zu finden. Sozialwissenschaftler müssen sich damit begnügen, für ihre Aussagen Wahrscheinlichkeiten anzugeben. Eine Theorie oder ein Modell ist umso besser, je zuverlässiger das menschliche Verhalten damit vorhergesagt wird. Das Modell sollte alle relevanten Faktoren einbeziehen. Doch ist ein Modell, das auf zu vielen Faktoren basiert, in der Praxis wiederum nicht brauchbar. Man muss einen Mittelweg zwischen Komplexität und Handhabung finden. Die in der Schweiz forschenden Psychologen Jörg Hupfeld-Heinemann und Bettina von Helversen geben eine Übersicht über die Modelle zur Erklärung der strafrechtlichen Entscheidung. Sie stellen auch Modelle vor, die auf algebraischer oder mathematischer Logik basieren. Mit solchen Modellen versucht man, die Entscheidfindung in eine Formel zu fassen und den Entscheid präzis vorherzusagen.429 So müsste es möglich sein, das Urteil durch einen Computer und nicht mehr durch den Richter fällen zu lassen. Doch ist es um die computergestützte Rechtsanwendung und die „juristischen Expertensysteme“ in letzter Zeit still geworden.430 Dennoch scheint es für viele Forscher immer noch verführerisch zu sein, eine Entscheidung aus mathematischer Logik herzuleiten – vielleicht aus einem Minderwertigkeitskomplex der Sozialwissenschaftler heraus, die sich an die hoch geschätzten und finanziell besser gewürdigten exakten Wissenschaften anlehnen wollen. Eine Alternative dazu sind kognitive Modelle. Zwei solche Modelle stelle ich hier vor: – die Entscheidfindung als Lösung eines komplexen, mehrdeutigen Problems, 429  Hupfeld-Heinemann / von 430  Die

von 1995.

Helversen 275 ff.; siehe auch Devine 21 ff. neueste Publikation im Bibliothekskatalog Basel / Bern zum Thema datiert

100

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

– das Story Modell, das die Entscheidfindung mit der Konstruktion einer Geschichte vergleicht. Beide Modelle haben breite Zustimmung gefunden. Sie könnten auch für die Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigers relevant sein. 6.1.1. Lösen eines komplexen Problems: Heuristiken, Faustregeln, Denkfehler Während es für ein mathematisches Problem eine einzige richtige Lösung gibt, bleibt die Entscheidfindung im Recht mit Unsicherheiten behaftet. Ein Entscheid ist nicht richtig oder falsch, sondern höchstens mehr oder weniger angemessen.431 Staatsanwälte und Richter müssen einen Entscheid fällen, obwohl sie nicht über vollständige Entscheidgrundlagen verfügen und die langfristigen Konsequenzen nicht mit Sicherheit voraussehen können (judgment under uncertainty). Die Entscheidfindung stellt deshalb ein komplexes Problem dar (ill-defined problem, ill-structured problem). Dafür gibt es keine eindeutige Lösungsstrategie, denkbar sind verschiedene Lösungswege. Muss der Mensch ein komplexes Problem lösen, sollte er idealerweise viele Faktoren in Betracht ziehen, die wiederum auf komplexe Weise interagieren. Für eine solch sorgfältige und eingehende Prüfung steht die Zeit aber nicht immer zur Verfügung. Um innert nützlicher Frist zu einer Entscheidung zu kommen, wählt der Problemlöser ein vereinfachtes, abgekürztes Verfahren, eine Heuristik oder eine Faustregel. Heuristiken sind wie Alltagstheorien oft unbewusst. Sie reduzieren das komplexe Problem, beschränken sich auf einige hervorstechende Merkmale, lassen die übrigen unter den Tisch fallen und sparen so viel Zeit. Heuristiken führen zwar oft zu schnellen und brauchbaren Lösungen, manchmal werden dabei aber typische Denkfehler gemacht (biases, mental shortcuts). Solche Denkfehler haben Tversky und Kahneman als Erste beschrieben, in ihrem Artikel Heuristics and biases, der 1974 in der Zeitschrift Science erschien.432 Die Autoren erhielten für ihre Arbeit den Nobelpreis. Es soll die am meisten zitierte sozialpsychologische Studie überhaupt sein.433 Nicht nur ungebildete Leute unterliegen Denkfehlern, sogar Experten fallen ihnen zum Opfer, und das in ihrem spezifischen Tätigkeitsbereich: 431  Saks / Kidd, Law and Society Review 1980, 126; Wagenaar 267; Greene / Ellis 183; Englich, Heuristic strategies, 295 ff. 432  Tversky  / Kahneman, Science 1974, 1124 ff. Daniel Kahneman hat 2012 ein populärwissenschaftliches Buch Schnelles Denken – langsames Denken publiziert und es seinem verstorbenen Kollegen Amos Tversky gewidmet. 433  Nach Schweizer 28, Rz. 70.



6.1. Theorien und Modelle der Entscheidung im Recht101

Ärzte, Buchhalter, Ingenieure, Börsenmakler …434 Mehrere Studien zeigten, dass auch Juristen und Richter nicht vor Denkfehlern gefeit sind.435 Das gilt ebenso für schweizerische Richter, wie Mark Schweizer mit seiner Dissertation nachwies.436 Auch wenn Berufsrichter der Auffassung sind, ihre Kollegen seien weniger medienresistent als sie selber, unterliegen sie einem Denkfehler, dem Third-Person-Effekt (siehe S. 48). Ein gut untersuchter Denkfehler ist der Ankereffekt oder die Ankerheuristik. Menschen orientieren sich an Zahlenwerten und Vorgaben, auch wenn diese willkürlich vorgegeben oder zufällig ausgewählt wurden und für die Problemlösung völlig irrelevant sind. Der Ankereffekt hat sich als konstant und robust erwiesen, er wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen.437 Im deutschen Sprachraum hat sich die Gruppe um die Sozialpsychologin Birte Englich an der Universität Köln auf die Erforschung des Ankereffekts im juristischen Kontext spezialisiert. Besondere Bedeutung hat der Ankereffekt für die Strafzumessung: der Antrag des Staatsanwalts dient als Ankerwert für die richterliche Strafzumessung (siehe S. 118 ff.). Im Zivilprozess kommt der Ankereffekt ebenfalls zum Tragen: Jeder Anwalt weiss, dass er bei Vergleichsverhandlungen hoch pokern muss.438 Es ist anzunehmen, dass auch die Medien einen Anker setzen können. 6.1.2. Geschichten konstruieren: das Story Modell „There is a story behind every verdict.“ Stephenson 196. „Despite the image of legal jargon, lawyers’ mysterious tactics, and obscure court procedures, any criminal case can be reduced to the simple form of a story.“ Bennett / Feldman 4. „Trial lawyers know that they need to tell stories, that the evidence they present in court must be bound together and unfolded in narrative form.“ Brooks 416. 434  Guthrie / Rachlinski / Wistrich,

Cornell Law Review 2001, 782 f. Law and Society Review 1980, 123  ff.; Guthrie  /  Rachlinski  /  Wistrich, Cornell Law Review 2007, 1 ff.; Englich, Heuristic strategies, 308. 436  Mark Daniel Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht: Eine empirische Studie, Zürich 2005. Der Autor befragte 415 Richter aus verschiedenen Kantonen und legte ihnen fiktive Fälle vor. 437  Zum Beispiel bei Tversky / Kahneman, Science 1974, 1124 ff.; Saks / Kidd, Law and Society Review 1980, 140 ff.; Guthrie / Rachlinski / Wistrich, Cornell Law Review 2001, 787  ff.; Guthrie  /  Rachlinski  /  Wistrich, Cornell Law Review 2007, 19  ff.; Schweizer 82 ff., Rz.  212 ff. 438  Schweizer 88 f., Rz. 237; Hafter 13, Rz. 70. 435  Saks  /  Kidd,

102

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

Die Zitate beschreiben dieses beliebteste Modell der strafrechtlichen Entscheidung treffend. Das Story Modell, Story-telling model oder Narrative model hat nicht nur viel Zuspruch gefunden, seine Brauchbarkeit wurde mehrfach empirisch bestätigt.439 Bereits 1981 beschrieben die amerikanischen Wissenschaftler Bennett und Feldman, dass die Vermittlung des relevanten Sachverhalts bei den Geschworenen besser ankommt, wenn die Präsentation als in sich stimmige Geschichte erfolgt. Die Autoren hatten für ihr Buch über 60 Prozesse in den USA beobachtet, darunter die Verfahren gegen Angela Davis und Patricia Hearst.440 Zahlreiche weitere Autoren aus verschiedenen Disziplinen – Psychologie, Linguistik, Recht – vertreten das Story Modell, in den USA441 und in Europa.442 Auch im deutschen Sprachraum wurde die Theorie rezipiert.443 Das Modell soll universell anwendbar sein, im Zivilprozess und im Strafverfahren, im Vorverfahren,444 bei der Beurteilung der Schuldfrage wie bei der Strafzumessung,445 für Geschworene446 und für Berufsrichter.447 Der 2013 verstorbene französische Staranwalt Jacques Vergès beschreibt seine Arbeit als „Schaffung einer zweiten Geschichte“ gegenüber derjenigen der Anklage.448 Besonders im US-amerikanischen, adversarisch gestalteten Strafverfahren (siehe auch S. 163) wird offensichtlich, dass sowohl Anklage wie Verteidigung versuchen, die Geschworenen von der eigenen Version der Geschichte zu überzeugen. Es leuchtet unmittelbar ein: Wer die bessere Geschichte erzählt, gewinnt den Prozess. Dabei hat die Verteidigung die leichtere Aufgabe, sie muss bloss genügend Zweifel (reasonable doubts) an der Darstellung der Staatsanwaltschaft wecken.449 Im amerikanischen Juryprozess und in den deutschen Schöffengerichten gelten Unmittelbarkeitsund Mündlichkeitsprinzip; die Geschworenen sind oft überfordert damit, das 439  Überblick

185.

in Kapardis 188 f. und Roesch / Zapf / Hart 197 ff.; siehe auch Devine

440  Walter Lance Bennett / Martha S. Feldman, Reconstructing reality in the court­ room, London 1981. 441  Pennington / Hastie 1993, 192 ff.; Lurigio / Carroll / Stalans 91 ff.; Hastie / Wittenbrink 260 ff.; Brooks 415 ff.; Bruner 37 ff.; Devine 181 ff. 442  Stephenson 193 ff.; Wagenaar 267 ff.; van Koppen 191 ff. 443  Zum Beispiel von Gabriele Löschper, Bausteine für eine psychologische Theo­ rie richterlichen Urteilens, Baden-Baden 1999. 444  van Koppen 191 ff.; Wagenaar 267 ff. 445  Lurigio / Carroll / Stalans, 91 ff.; Kapardis 220. 446  Hastie  /  Wittenbrink 260  ff.; Devine 26  ff., 77, 185; Hupfeld-Heinemann  /  Oswald, 482. 447  Lurigio / Carroll / Stalans, 91 ff. 448  Nach Garapon 241 f. 449  Bennett / Feldman 98.



6.2. Empirische Forschung und ihre Methoden103

Gehörte zu behalten, sinnvoll zu ordnen, das Wesentliche zu erfassen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Der Verteidiger kann ihnen mit Hilfe einer überzeugenden Story diese Arbeit abnehmen. Macht er zusätzlich Medienarbeit, erreicht die Story die Geschworenen auf einem zweiten Weg, die Wirkung wird verstärkt. Die Geschichte muss natürlich nicht unbedingt wahr sein, aber sie sollte glaubhaft erscheinen. Die Story muss aufgehen, sie muss in sich stimmig, plausibel sein. Die vorgelegten Beweismittel müssen zur Geschichte passen. Die Geschichte sollte eindeutig und frei von Widersprüchen sei. Eine Geschichte, die reich ist an passenden Details, wird eher geglaubt als eine rudimentäre Darbietung. Der Anwalt sollte im Plädoyer die Beweise in chronologischer Form vorbringen, wie sie dem natürlichen Ablauf der Geschichte entsprechen. Es hat keinen Wert, den wirkungsvollsten Zeugen erst zum Schluss in einem dramatischen Coup zu präsentieren.450 Besonders wichtig wird die Präsentation der Story bei unklarer Beweislage, wenn die Beweise nicht für sich selber sprechen oder wenn die Beweise verschiedene Interpretationen zulassen. Das Story Modell scheint auf die Arbeitsweise des menschlichen Geistes zugeschnitten zu sein. Der Mensch neigt dazu, sein Wissen und seine Erfahrungen in prototypischen Geschichten (Skripts, Schemata) zu organisieren.451 Die Inszenierung einer Story im Strafverfahren folgt ähnlichen Gesetzen wie die Inszenierung einer Story in den Medien. Auch Public Relations nutzen „Storytelling“.452 Deshalb bietet das Story-Modell für den Verteidiger einen guten Ansatz, nicht nur für die Überzeugungsarbeit im Strafverfahren selber, sondern auch für die Öffentlichkeitsarbeit.453 Er muss nur darauf achten, dass der Berufsrichter vielleicht auf andere Elemente der Geschichte anspricht als es die Laien tun.

6.2. Empirische Forschung und ihre Methoden Rechtswissenschaftler im deutschen Sprachraum bedauern, dass zum Einfluss von Medien auf rechtliche Entscheidungen kaum empirische Nachwei450  Pennington / Hastie 211; Waites 131 ff.; Aronson / Wilson / Akert 521; Waschulewski 261. 451  Wiener / Richmond / Seib / Rauch / Hackney, Behavioral Sciences & the Law 2002, 119 ff. 452  Littek, Frank, Storytelling in der PR: Wie Sie die Macht der Geschichten für Ihre Pressearbeit nutzen, Wiesbaden 2011. Russ-Mohl 2011, 93; Holzinger / Wolff 129; zum Begriff Public storytelling siehe Bentele / Fröhlich / Szyska 620 f. 453  Tipps zur Anwendung des Story-Modells siehe zum Beispiel in Waites 131 ff.

104

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

se existieren. Es gibt aber durchaus Forschung zum Thema, allerdings vorwiegend aus den USA, und dort fast ausschliesslich zum Medieneinfluss auf die Jury, das amerikanische Geschworenengericht. Mit empirischer Forschung versuchen Wissenschaftler, einen Zusammenhang zwischen zwei Grössen oder Variablen zu beweisen. Eine mögliche Fragestellung könnte lauten: Neigt ein Richter dazu, härter zu bestrafen, wenn er mit vorverurteilenden Medienberichten konfrontiert wurde? Die Medienberichterstattung ist Ausgangsbedingung und unabhängige Variable; das Strafmass ist Resultat und abhängige Variable. Der Zusammenhang zwischen unabhängiger und abhängiger Variable, die Korrelation, lässt sich messen: Der Korrelationseffekt bezeichnet die Stärke des Zusammenhangs.454 Zu beachten ist allerdings, dass eine Korrelation allein noch keine Aussage über Ursache und Wirkung, über das Bestehen einer kausalen Beziehung zulässt.455 Plant ein Forscher eine Studie mit Richtern, kann er nicht jeden einzelnen Richter untersuchen oder befragen. Er muss aus der Grundgesamtheit eine Stichprobe ziehen, die genügend gross sein sollte. Die Stichprobe sollte in ihrer Zusammensetzung der Grundgesamtheit möglichst genau entsprechen, sie sollte repräsentativ sein. Nur eine methodisch gute Studie kann gewährleisten, dass das Resultat nicht nur für die tatsächlich erfasste Stichprobe gilt, sondern auch für die Grundgesamtheit aller Richter. Wenn wir beispielsweise das Ergebnis erhalten haben, dass Richter auf Grund vorverurteilender Medienberichterstattung härtere Strafen ausfällen, so haben wir das vorerst nur für die untersuchte Stichprobe bewiesen. Wenn wir das Ergebnis verallgemeinern und von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit schliessen wollen, ist das nicht ganz ohne Risiko.456 Bereits beim Design der Studie müssen die Forscher die Daten so erheben, dass diese mit statistischen Verfahren ausgewertet werden können. Wissenschaftliches Arbeiten zeichnet sich durch systematisches und kontrolliertes Beobachten aus. Dazu stehen vielfältige Methoden zur Verfügung.457 Diese lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen, die Labor- bzw. experimentelle Forschung und die Feldforschung. Experimente untersuchen das Verhalten von Menschen in einer künstlich geschaffenen Situation, wäh454  Der Korrelationskoeffizient kann einen Wert zwischen 0 (keine Korrelation) und 1 (vollständige Korrelation) annehmen. 455  Wir alle kennen die Scheinkorrelation zwischen Storchpopulation und Geburtenrate. 456  Die Wahrscheinlichkeit, dabei einen Fehler zu machen, heisst Signifikanz. Erreicht das Signifikanzniveau nicht einen Wert von mindestens 5 % (.05), besser noch 1 % (.01), ist das Studienresultat nicht schlüssig. 457  Überblick in Rehbinder, Rechtssoziologie, 45 ff., Rz. 52 ff.



6.2. Empirische Forschung und ihre Methoden105

rend Feldstudien versuchen, den Menschen so weit wie möglich in seiner natürlichen Umwelt zu belassen. Beide Arten haben Vor- und Nachteile. Zur Auswertung der erhaltenen Daten ist man auf Statistik angewiesen. Das Experiment ist die bevorzugte Methode in der Rechts- und Sozialpsychologie und besonders beliebt in der amerikanischen Juryforschung: Man will etwa herausfinden, ob und wie sich die Einstellung von Geschworenen gegenüber dem Beschuldigten durch die Medienberichterstattung ändert. Echte Geschworene stehen selten zur Verfügung, deshalb muss man sich in der Regel mit einer simulierten Situation begnügen. Die Rolle der Geschworenen besetzt man mit Versuchspersonen und bildet zwei (oder mehr) Gruppen. Eine Gruppe erhält vorverurteilende Berichte, die andere wertfrei formulierte Texte. Anschliessend müssen die Studienteilnehmer ihr „Urteil“ fällen. Der grosse Vorteil des Experiments liegt in der Kontrolle über die Versuchsbedingungen: Störfaktoren lassen sich weitgehend ausschalten. Die unabhängigen Variablen können variiert werden, zum Beispiel die Art und das Ausmass der „Berichterstattung“. Möglicherweise lassen sich Aussagen zur Kausalität machen; wir dürfen annehmen, dass die abhängige Variable, das „Urteil“, durch die Ausprägung der unabhängigen Variablen bedingt wurde. Fraglich ist allerdings die ökologische Validität: Es ist unsicher, ob und inwieweit die Ergebnisse von Laborstudien auf die Realität übertragen werden können (siehe auch S. 133 ff.). Medienwissenschaftler und Soziologen benutzen gerne das Instrument der Befragung. Ein Vorteil von Umfragen und Interviews liegt darin, dass „echte“ Versuchspersonen befragt werden können. Wir können Richter fragen, ob eine Vorverurteilung in den Medien auf ihr Urteil Einfluss haben könnte. Der Nachteil liegt auf der Hand: Wir können nicht sicher sein, ob die Befragten wirklich die Wahrheit sagen wollen oder können. Auf eine Selbsteinschätzung ist wenig Verlass, wie sich eindrücklich in der viel zitierten Studie über die Autofahrer zeigte: Die weit überwiegende Mehrheit der befragten Automobilisten war überzeugt davon, die Kunst des Fahrens überdurchschnittlich gut zu beherrschen!458 Die Resultate einer Umfrage können durch das Motiv der Teilnehmer nach sozialer Erwünschtheit verfälscht werden. Eine in der Rechtspsychologie beliebte Umfragetechnik besteht darin, die Richter fiktive Fälle lösen zu lassen und daraus beispielsweise ihre bevorzugte Strafzweckpräferenz zu erschliessen. Diese Methode kann den eigentlichen Untersuchungszweck etwas kaschieren und damit ehrliche Antworten fördern; sie ist aber ebenfalls umstritten.459 458  Svenson, Acta psychologica 1980, 145 f.: 69 % der Teilnehmer aus Schweden und – mit noch grösserem Selbstvertrauen – 93 % der Teilnehmer aus den USA. 459  Nach Hermann 653 f.; 657 f.

106

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

Die Rechtstatsachenforschung arbeitet hauptsächlich mit Aktenanalysen. Für die Fragestellung nach dem Medieneinfluss genügen allerdings die in den Gerichtsakten vorhandenen Angaben nicht. Denn in den Akten sind Medienberichte zum Straffall nicht oder nur anekdotisch dokumentiert, man müsste deshalb die parallel publizierte Medienberichterstattung ebenfalls auswerten. Zudem löst nur eine verschwindend geringe Anzahl von Strafverfahren überhaupt ein Medienecho aus. Voraussetzung für die statistische Auswertung ist aber ein ausreichend grosser Datensatz. Und schliesslich ist heute der Datenschutz ein Forschungshindernis.460 Einzelfallstudien sind etwas aus der Mode gekommen. Von der Fachwelt werden sie als nicht oder nur sehr bedingt aussagekräftig angesehen. Hier soll die einzigartige Studie des Soziologen und Juristen Rüdiger Lautmann zur Urteilsfindung erwähnt werden, der ein Jahr lang „verdeckte Ermittlungen“ als Assessor in einem Landgericht geführt und seine Beobachtungen publiziert hat.461 Wie man sich gut vorstellen kann, war die Resonanz auf seine Arbeit nicht nur zustimmend, man sprach von „Nestbeschmutzung“, von einer „Wallraffiade“.462 Die Ergebnisse einzelner Studien – seien es Feld- oder Laborstudien – sind für sich allein genommen selten genügend aussagekräftig. Ein Forschungsresultat kann erst als gesichert gelten, wenn es mehrfach repliziert wurde und wenn verschiedenartige Studiendesigns zum gleichen Ergebnis kamen.463 Besonders hilfreich sind deshalb Meta- oder Sekundäranalysen, welche verschiedene Studien zusammenfassen und Trends aufzeigen können.464

6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid Die Entscheidforschung befasst sich vor allem mit dem Schlusspunkt des Strafverfahrens, mit dem Urteil des Strafgerichts.465 Das liegt sicher zum Teil an der Nichtöffentlichkeit des Ermittlungsverfahrens. Das Gerichtsurteil hingegen bietet sich dank seiner Zugänglichkeit eher als Forschungsobjekt an. 460  Albrecht

19 f.; Schweizer 73 f., Rz. 185. Lautmann, Justiz – die stille Gewalt: Teilnehmende Beobachtung und entscheidungssoziologische Analyse, Frankfurt am Main 1972. 462  Rasehorn 110; Lautmann 2011, 22. 463  Kerr / Bray 357; Kapardis 18, 158. 464  Zum Beispiel die Metaanalyse von Steblay / Besirevic / Fulero / Jimenez-Lorente zur Pretrial publicity, in Law and Human Behavior 1999, 219 ff. 465  Rehbinder, Rechtssoziologie, 142, Rz. 161; Hermann 653; Kapardis 157; Killias / Kuhn / Aebi 51, Rz. 225; sinngemäss auch Schünemann 278. 461  Rüdiger



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 107

Im Lauf eines Strafverfahrens treffen verschiedene Behörden – Polizei, Staatsanwaltschaft, Strafgerichte – eine Vielzahl von Entscheiden. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die formellen Endentscheide im Vor- und Hauptverfahren, die durch Staatsanwaltschaft oder Gericht gefällt werden. 6.3.1. Der Entscheid im Vorverfahren „Durch die Existenz von Handlungsspielräumen wird klar, dass die Ermittlungs-, Erledigungs- und Anklagepraxis der Staatsanwaltschaft nicht vollständig durch die gesetzlichen Grundlagen vorhersagbar ist.“ Dittmann 103.

Wir werden noch sehen, dass die rechtliche Würdigung des Staatsanwalts, die im Strafantrag zum Ausdruck kommt, grossen Einfluss auf das richterliche Urteil ausübt. Wie aber kommt der Staatsanwalt zu seinem Antrag? Wir können nur vermuten, dass Faktoren, die in der empirischen Forschung zum richterlichen Urteil als relevant angesehen wurden, auch im Vorverfahren relevant sind. Sowohl im Vor- wie im Hauptverfahren werden Entscheide von Juristen gefällt, die eine vergleichbare Ausbildung genossen haben. Sie stützen sich dabei auf dieselben rechtlichen Grundlagen. Ein Delikt sollte sowohl vom Staatsanwalt wie auch vom Richter gleich qualifiziert werden. Die zahlreichen Befunde zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung (siehe auch S. 110 ff.) darf man deshalb im Grossen und Ganzen wohl auch für die Entscheidfindung des Staatsanwalts als gültig ansehen. Fasst man die eigenständige Forschung zur Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaft zusammen, so dominieren rechtliche Aspekte: die Tatschwere, die Vorstrafenbelastung und die Beweislage. Soziodemografische Merkmale sind demgegenüber glücklicherweise nicht relevant.466 Vermutlich wirkt sich aber die Geschäftslast auf die Art der Erledigung aus:467 Deutsche Staatsanwälte stellen bei erhöhtem „Kriminalitätsaufkommen“ vermehrt Verfahren ein, es gibt weniger Strafbefehle.468 In Deutschland wurden in mehreren Aktenanalysen regionale Unterschiede festgestellt, was die Einstellungspraxis betrifft.469 466  Manzoni / Ribeaud 217; Dittmann 334; von Helversen / Rieskamp 387 f.; Ludewig / LaLlave / Gross-De Matteis, SZK 2012 / 2, 29 ff.; zusammenfassend Killias /  Kuhn / Aebi 325, Rz.  831. 467  So auch nach der Selbsteinschätzung von Staatsanwälten in Ludewig  /  La Llave / Gross-De Matteis, SZK 2012 / 2, 34 ff.; zusammenfassend Killias / Kuhn / Aebi 51, Rz. 225. 468  Dittmann 279. 469  Zum Beispiel Dittmann 311 f.; siehe auch die Sekundäranalyse von Albrecht 46 f.

108

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

In einer Umfrage bei 54 deutschen Staatsanwälten wurde gezeigt, dass diese Staatsanwälte vereinfachende Heuristiken anwenden: Nicht alle gesetzlich vorgesehenen Kriterien, welche die Staatsanwälte selber als wesentlich für die Strafzumessung ansehen, gehen auch tatsächlich in den Entscheid ein.470 Die Risiken von Heuristiken zeigt der holländische Rechtspsychologe Wagenaar auf: Sobald der Tatbestand – die Story – der Ermittlungsbehörde als genügend plausibel erscheint, geht sie weiteren Hinweisen nicht mehr nach und unterlässt es, alternative Hypothesen oder andere mögliche Tatverdächtige zu überprüfen.471 Gefährlich ist besonders die tätergeleitete Ermittlung. Genau dieses Problem zeigte sich in der Schweiz beim Fall Zwahlen (siehe S. 37 f.): Die Polizei wähnte sich rasch allzu sicher, in Bruno Zwahlen den Mörder seiner Frau gefunden zu haben. Sie konzentrierte sich allein auf diese Hypothese, Alternativen wurden nicht erwogen. Falls es Spuren oder Beweise gegeben hätte, die in eine andere Richtung geführt hätten, wurden sie nicht verfolgt oder gesichert. Diese Versäumnisse der Untersuchungsbehörden mussten schliesslich im Revisionsverfahren zum Freispruch von Zwahlen führen.472 Interessant ist ein Befund der 2012 unternommenen Umfrage bei Schweizer Staatsanwälten durch Revital Ludewig und ihr Team am Kompetenzzentrum für Rechtspsychologie in St. Gallen: Staatsanwälte schätzen ihre eigene Beeinflussbarkeit durch „rechtlich nicht legitime Einflussfaktoren“ wie etwa den Zeitdruck als geringer ein verglichen mit der Gefährdung ihrer Berufskollegen.473 Auch diese Berufsgruppe unterliegt also dem Denkfehler des Third-Person-Effekts (siehe S. 48). 6.3.1.1. Medieneinfluss im Vorverfahren „Nicht hinreichend erforscht sind derzeit die Auswirkungen des Medienklimas auf die Vorbereitung des Deals, über den manche Prozessbeteiligte vielleicht heilfroh wären.“ Gerhardt, ZRP 2009, 250.

Einflüsse von Öffentlichkeit und Medien auf die Arbeit der ermittelnden Behörden waren bisher kaum ein Forschungsthema. Die wenigen Aktenstudien zur Entscheidfindung der Staatsanwaltschaft befassten sich vorwiegend mit Massendelikten wie Diebstahl, Sachbeschädigung, Fahren im angetrun470  Von

387.

Helversen / Rieskamp, Journal of Experimental Psychology: Applied 2009,

471  Wagenaar

270 ff., 276 ff.

472  Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser 473  Ludewig / LaLlave / Gross-De

119 ff. Matteis, SZK 2012 / 2, 37, 42.



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 109

kenen Zustand … Diese Straftaten stossen kaum auf grosses mediales Interesse. Manzoni und Ribeaud haben zwar die Akten der basel-städtischen Staatsanwaltschaft zu 400 Gewaltdelikten analyisiert, Medienberichterstattung wurde aber nicht erfasst.474 Auch in der bereits erwähnten Studie von Ludewig und Mitarbeitern war der Medieneinfluss kein Thema.475 Ab und zu finden wir anekdotische Berichte. So schildert der Zürcher Staatsanwalt Rolf Jäger eindrücklich die Wechselwirkung zwischen Öffentlichkeit und Untersuchungsbehörde anhand des Fraumünsterpostraubs von 1997, bei dessen Aufklärung er mitwirkte.476 2006 befragten die Mainzer Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger und Thomas Zerback insgesamt mehr als 3500 Personen – Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Gerichtsreporter – zu ihrer Meinung nach dem Einfluss „negativer“ Medienberichte auf Prozessbeteiligte und Justizpersonen (siehe S. 127 ff.). Als negativ wird in der Studie eine Berichterstattung bezeichnet, die gegenüber der Justiz kritisch ist oder fehlerhaft berichtet, nicht eine Kampagne, die den Beschuldigten vorverurteilt. Was die Entscheidung der Staatsanwaltschaft betrifft, so glauben 16 % der Richter, dass eine kritische Medienberichterstattung eine starke oder sehr starke Wirkung auf Staatsanwälte ausüben kann. Immerhin 9 % der Staatsanwälte sind der gleichen Meinung. Die 35 befragten Verteidiger hatten in dieser Beziehung mehr Bedenken: 48 % glaubten, dass sich die Staatsanwälte von negativen Medienberichten irritieren liessen. Verteidiger scheinen also den Staatsanwälten wenig Widerstandskraft zuzugestehen.477 Die blosse Angst vor einer Medienkampagne kann bewirken, dass der Beschuldigte der Staatsanwaltschaft gegenüber gefügig wird. Dazu befragte im Jahr 2008 der Kommunikationsspezialist Frank Wilmes, Inhaber der Medienagentur Wilmes Kommunikation, 21 führende Verteidiger in Wirtschaftsstrafsachen (siehe S. 130 f.). 13 Verteidiger waren der Meinung, dass auch Klienten, die ihre Unschuld beteuern, eine Einstellung gegen Auflagen akzeptieren, weil sie das Medieninteresse fürchten.478

474  Manzoni / Ribeaud,

185 ff.

475  Ludewig / LaLlave / Gross-De

Matteis, SKZ 2012 / 2, 29 ff. 191 ff., Rz. 603 ff.; siehe auch Jositsch, ZStrR 2004, 126 f. 477  Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 229 ff.; Kepplinger, Einfluss, 231 ff. 478  Siehe: http: /  / www.wilmes-kommunikation.de / wilmes_auswertung_strafrecht. pdf (9.4.13). 476  Jäger

110

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

6.3.2. Das Urteil des Strafgerichts „Hungrige Richter sind gnadenlos.“ Beutler, plädoyer 2011 / 3, 98.

Neben den Entscheidgründen, wie sie im Gesetz vorgesehen sind und in der Begründung zum Ausdruck kommen, können andere Beweggründe zum Entscheid beitragen. Sie sind dem Richter nicht unbedingt bewusst und kommen deshalb in der Begründung des Entscheids nicht zum Ausdruck.479 Für die Wirkungsweise von ausserrechtlichen Einflüssen mag es einen Unterschied ausmachen, ob wir es mit einem Einzelrichter oder mit einem Kollegialgericht, mit Laien oder mit Berufsrichtern zu tun haben. Die Forschung zur richterlichen Urteilsbildung in den USA hat sich hauptsächlich mit dem Schuldspruch der Jury befasst. Im deutschen Sprachraum steht eher die Strafzumessung durch Berufsrichter im Vordergrund.480 In den Studien zur Entscheidfindung werden beim Beschuldigten als unabhängige Variablen soziodemografische Merkmale – dazu gehören etwa Geschlecht, Rasse, beruflicher Status – oder Persönlichkeitseigenschaften wie Attraktivität erhoben und die Auswirkungen dieser ausserrechtlichen Motive erfasst. Dieselben Variablen können auch bei Richtern erhoben werden. Im deutschen Sprachraum wurde in den 60er und 70er Jahren verschiedentlich untersucht, ob die Schichtzugehörigkeit der Richter im Urteil zum Ausdruck komme. Die Ergebnisse lassen glücklicherweise darauf schliessen, dass die Klassenjustiz keine empirische Grundlage hat.481 Spätere Untersuchungen haben sich mit dem Zusammenhang zwischen Weltanschauung, Einstellungen, Werthaltungen oder Strafzweckpräferenz des Richters und seinem Urteil befasst.482 Forscher haben auch Zusammenhänge, die auf den ersten Blick kurios erscheinen, untersucht, fast nach dem Motto: Wer sucht, der findet! Ein israelisches Team hat reale Verfahren beobachtet, bei denen es um den Entscheid über eine bedingte Entlassung ging. Die Richter waren nach dem Essen milder gestimmt.483 Der Praktiker Frederick gibt in seinem Ratgeber 479  Rehbinder, Rechtssoziologie, 11, Rz. 12; R. Hassemer, Monatsschrift für Kriminologie 1983, 26 ff.; Albrecht 159; Lautmann 18; Goodman-Delahunty / Sporer 24. 480  Albrecht 158 ff. 481  Nach Rehbinder, Rechtssoziologie, 128, Rz.  134; Killias  /  Kuhn  /  Aebi 325, Rz. 831. 482  Zum Beispiel von Margit E. Oswald, Psychologie des richterlichen Strafens, Stuttgart 1994. 483  Danziger / Levav / Avnaim-Pesso, PNAS 2011, 6889 ff.



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 111

zum amerikanischen Jury-Prozess den Tipp, der Anwalt solle entscheidende Zeugen entweder gleich zu Beginn der Session am Morgen oder nach der Mittagspause präsentieren und die dank der Kalorienzufuhr versöhnlichere Stimmung der Richter nutzen.484 Insgesamt ergab aber die Forschung zum richterlichen Urteil, sowohl zur Schuldfrage wie auch zur Strafzumessung, dass rechtliche Faktoren die Urteilsbildung zum grossen Teil erklären können.485 6.3.2.1. Sachverhaltsfeststellung, Tat- und Schuldfrage Was ist Wahrheit? Pilatus, Evangelium nach Johannes 18, 38.

Man sollte meinen, dass wenigstens die Sachverhaltsfeststellung im Strafrecht eine objektive Angelegenheit ist. Aber nicht immer liegen die Fakten klar und vollständig auf dem Tisch, nicht immer ist die Beweislage klar und eindeutig. Beweise können unterschiedlich interpretiert und gewichtet werden. Innere Tatbestandsvoraussetzungen wie beispielsweise die verwerfliche Gesinnung beim Mord können nur aus Indizien erschlossen werden. Falsche Geständnisse sind gar nicht so selten.486 Zeugen sind unzuverlässig; das wissen Richter nicht nur aus eigener Erfahrung, das hat auch die Forschung gezeigt.487 Experten können sich täuschen. So ging es im Dreyfus-Prozess um die Tatfrage, ob Dreyfus ein Dokument geschrieben habe oder nicht. Dazu wurde ein Gutachter befragt, der zum Schluss kam, dass Dreyfus der Verfasser sei. Diese Folgerung hat sich später als falsch erwiesen. Auch die Beurteilung der Schuldfrage ist mit Unsicherheit behaftet, und die hier involvierte forensische Psychiatrie ist wiederum keine exakte Wissenschaft. Auch bei der Sachverhaltsfeststellung hat der Richter deshalb oft einen Ermessensspielraum. Die Forschung hat als ausserrechtliche Faktoren vor allem Merkmale untersucht, die beim Beschuldigten erhoben werden, demografische Merkmale wie Geschlecht oder sozioökonomischer Status, aber auch Persönlichkeitseigenschaften wie beispielsweise die Attraktivität des Beschuldigten. Die Befunde sind nicht eindeutig – mit wenigen Ausnahmen: So weiss man aus Untersuchungen, die in den USA gemacht wurden, dass gegen Schwar484  Frederick

192. Sporer / Goodman-Delahunty 397 erklären ausserrechtliche Faktoren weniger als 10 % der beobachteten Varianz. 486  Sporer / Breuer 494. 487  Elizabeth F. Loftus, Eyewitness testimony, Cambridge / MA 1979. 485  Nach

112

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

ze, die Weisse getötet hatten, signifikant häufiger die Todesstrafe verhängt wurde als gegen Weisse, die Schwarze getötet hatten.488 Insgesamt konnten aber die Studien bestätigen, dass ausserrechtliche Einflüsse erst und nur dann zum Tragen kommen, wenn die Beweislage kritisch ist.489 6.3.2.1.1. Einfluss der Medien auf den Schuldspruch Die empirische Forschung stammt überwiegend aus den USA und hat fast ausschliesslich die Urteilssprüche der Jury zum Gegenstand. Das Forschungsgebiet der Pretrial publicity ist so beliebt, dass sich dafür die Abkürzung PTP eingebürgert hat. Feldstudien zur PTP stossen auf ein Hindernis: Die heute unabdingbaren statistischen Verfahren sind nur bei ausreichend grossen Fallzahlen anwendbar. Doch erregt nur eine kleine Minderheit der Strafprozesse das Interesse von Öffentlichkeit und Medien. Eine der seltenen Aktenstudien490 hatte deshalb Tötungsdelikte zum Gegenstand, die meistens auf grosses Medienecho stossen. Umfragen sind mit einem anderen Problem konfrontiert: Die Beratung der Jury ist geheim. In den USA dürfen Geschworene immerhin nach abgeschlossenem Prozess befragt werden, anderswo unterliegen sie einer Schweigepflicht.491 In der Schweiz wurde gegen die Mitglieder des Geschworenengerichts Bern, die im Fall Zwahlen (siehe S. 37 f.) geurteilt hatten, ein Strafverfahren eröffnet, weil sie Mängel des Prozesses öffentlich gerügt und damit das Amtsgeheimnis verletzt hatten.492 In einer viel zitierten Metaanalyse zum Thema PTP waren von 44 ausgewerteten Studien dementsprechend nur fünf Feldstudien vertreten.493 Bei der überwiegenden Mehrheit der Studien handelte es sich um Simulationsexperimente. Im klassischen Experiment bilden Studenten als „Geschworene“ eine Mock jury. Die Teilnehmer erhalten eine kurze schriftliche Fallschilderung, eine Vignette, mit variierender „Medienberichterstattung“. Die eine Gruppe wird beispielsweise mit tendenziösen Texten informiert, die andere mit sachlichen. Die „Geschworenen“ beraten nicht miteinander, sondern „urteilen“ unmittelbar nach erhaltener Information. 488  Nach

Devine 118 ff. Costanzo / Krauss 274 f.; Devine 77, 121. 490  Bruschke / Loges, Journal of Communications 1999, 104 ff. 491  Zum Beispiel in Kanada, nach Roesch / Zapf / Hart 183. 492  Born, Mord, 285 ff.; Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser 111 ff. 493  Steblay / Besirevic / Fulero / Jimenez-Lorente, Law and Human Behavior 1999, 219 ff. 489  Nach



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 113

Experimente, die der Wirklichkeit etwas näher kommen, wählen ihre Teilnehmer aus Geschworenen- oder Wählerlisten aus. Oder es wird in einem aktuellen Straffall parallel zur Jury eine „Schattenjury“ aus der Geschworenenliste gebildet. Oder das Experiment lehnt sich an eine wirklich geschehene Straftat an und stützt sich auf die Akten. Der Fall wird mit Video oder gar mit einer professionellen Aufführung von Schauspielern präsentiert. Eine „Beratung“ kann vorgesehen sein. Trotzdem bleiben Unterschiede zur Realität. Ein Strafprozess kann in Wirklichkeit Tage bis Monate dauern. Für ein Experiment, das länger als einen halben Tag in Anspruch nimmt, wären wohl kaum Versuchspersonen zu finden. Zudem ist den Teilnehmern klar, dass ihr Entscheid keine realen Konsequenzen hat, während es in einem wirklichen Strafprozess in den USA durchaus um Leben oder Tod gehen kann. Erstaunlicherweise sind aber tatsächlich die Befunde unter allen Versuchsbedingungen einigermassen konsistent: Vorverurteilende Medienkampagnen haben eine für den Beschuldigten ungünstige Wirkung, die Wahrscheinlichkeit eines Schuldspruchs nimmt zu. Es kommt nicht einmal darauf an, ob das Experiment mehr oder weniger wirklichkeitsnah ausgestaltet ist. PTP hat unerwünschte Wirkungen und ist in jeder Form wirksam. Die schon etwas ältere Metaanalyse von Steblay und Mitarbeitern wies für die ausgewerteten 44 Studien einen mässigen, aber konsistenten Effekt nach.494 Auch die seither publizierten Studien haben dieses Bild nicht verändert.495 Es werden dieselben Mechanismen wie in der Medienwirkungsforschung generell beschrieben (siehe S. 50 ff.): – Am wirksamsten ist Information in kombinierter, audiovisueller und gedruckter, Form. – Wenn das Medium als glaubwürdig eingeschätzt wird, ist PTP wirksamer. – Emotional gefärbte Vorverurteilungen sind wirksamer als sachliche Informationen. – Längere Exposition führt zu stärkerer Wirkung: steter Tropfen höhlt den Stein. – PTP ist vor allem dann wirksam, wenn die Beweislage nicht eindeutig ist. Das amerikanische Strafverfahren stellt ein paar Behelfe zur Verfügung, welche die Wirkung von Medienkampagnen auf die Jury entschärfen sol­ len:496 das spezielle Verfahren der Geschworenenauswahl (voir dire), die 494  Steblay / Besirevic / Fulero / Jimenez-Lorente, Law and Human Behavior 1999, 229 (Korrelationskoeffizient r = .16). 495  Nach Costanzo / Krauss 274 f.; Devine 72 ff. 496  Übersicht in Kovera / Greathouse, 261 ff.

114

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

Instruktion durch den verfahrensleitenden Richter, die Isolierung der Geschworenen von der Aussenwelt (sequestration), die örtliche Verlegung des Prozesses (change of venue) und schliesslich die zeitliche Verschiebung des Prozesses (continuance). Leider ist die Forschung zum Schluss gelangt, dass die meisten dieser Behelfe wenig wirksam sind.497 Die örtliche Verlegung des Prozesses soll als einzige Massnahme überhaupt Sinn machen.498 Doch kann man bezweifeln, ob im Zeitalter der modernen Kommunikationsmittel die Verlegung – gerade in einem aufsehenerregenden Fall – noch nützen kann.499 Anlässlich eines Strafprozesses in Kanada waren die kanadischen Medien mit einem Publikationsverbot belegt worden; die Bewohner der Grenz­provinz Ontario konnten sich jedoch ohne Weiteres in den US-Medien informieren.500 Im Fall des Bombenlegers von Oklahoma, Timothy Mc­Veigh, erreichte es die Verteidigung mit Hilfe einer fachgerecht durchgeführten Medienauswertung, dass der Prozess von Oklahoma City nach Denver im Bun­desstaat Colorado verlegt wurde.501 McVeigh wurde aber trotzdem 1997 zum Tod verurteilt und 2001 hingerichtet. Fast alle Studien haben die Wirkung vorverurteilender Publizität untersucht. Die wenigen Studien zur Medienberichterstattung, welche Partei für den Beschuldigten nimmt, sprechen aber nicht dafür, dass ein Vorfreispruch ihm tatsächlich helfen könnte.502 Es ist fraglich, ob die Verteidigung eine Vorverurteilung überhaupt kompensieren kann und wie sie das anstellen müsste. Im deutschen Sprachraum gibt es nur wenig entsprechende Forschung. Einige Autoren, die sich mit der Urteilsbildung von Richtern befasst haben, haben mögliche Medieneinflüsse beiläufig erwähnt, aber nicht systematisch erfasst. Rennig befragte in seiner soziologischen Dissertation zum Thema der Urteilsfindung in Schöffengerichten die Berufsrichter, ob ihrer Meinung nach die Schöffen von Medienberichten beeinflusst worden seien. Die Schöffen selber wurden dazu nicht befragt, und sie mussten ihrerseits die Berufsrichter auch nicht einschätzen. Der Autor kommt auf Grund dieser 497  Studebaker  / Penrod, Psychology, Public Policy and Law 1997, 445 f.; Kovera / Greathouse 275; Lieberman / Arndt / Vess 67 ff.; Devine 77, 226; Waschulewski 257 ff.; Pöschl / Döring 106 f. 498  Waites 262 f., Kovera / Greathouse 272; Roesch / Zapf / Hart 191; Costanzo /  Krauss 276; Devine 77. 499  Hardaway / Tumminello, The American University Law Review 2002, 45 f. 500  R. v. Bernardo (1993), nach Vidmar 87. 501  Studebaker / Penrod, Psychology, Public Policy and Law 1997, 450 ff. 502  Nach Bruschke / Loges, Journal of Communications 1999, 109; Pöschl / Döring 103 f.



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 115

Fremdbeurteilungen zum Schluss, dass Medienberichte keine Gefahr für die unabhängige Urteilsfindung der Schöffen darstellen.503 Die Studie hat sich allerdings auf Delikte wie den einfachen Diebstahl beschränkt, bei denen das Medienecho vermutlich inexistent oder nur gering war. „Exotische“ Fälle waren von vornherein ausgeschlossen.504 Der österreichische Autor Kette befasste sich ebenfalls mit der Urteilsfindung von Schöffen. Zur Erklärung der Urteilsbildung zieht er die Signalentdeckungstheorie heran und vermutet: Sei ein Straffall mit hoher Medienpublizität verbunden, würde sich die Schwelle der Schöffen für den Schuldspruch vermindern, und die Schöffen würden eher schuldig sprechen.505 Wissenschaftler der Universität Mainz haben deutsche Berufsrichter zum Thema Medieneinfluss befragt (siehe S. 127 ff.). Diese halten einen Einfluss auf den Schuldspruch für unwahrscheinlich, räumen aber ein, dass die Medien einen Einfluss auf die Atmosphäre im Gerichtssaal und auf die Strafzumessung haben könnten.506 6.3.2.1.2. Opfer, Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständige Als relativ unproblematisch gelten Sachbeweise, die unbestechlich und objektiv erscheinen, beispielsweise DNA-Analysen. Manchmal muss das Gericht aber auf die Aussagen von Opfern, Zeugen oder Auskunftspersonen abstellen, im Wissen darum, dass auf Augenzeugen wenig Verlass ist.507 Sogar bei bester Absicht sind die Erinnerungen von Menschen unzuverlässig. Dabei gibt es interindividuelle Unterschiede, es gibt genauere und weniger genaue Beobachter. Es gibt aber auch intraindividuelle Unterschiede: Der gleiche Mensch kann zu verschiedenen Zeitpunkten mehr oder weniger zuverlässig sein; die Eignung zum Zeugen ist wohl keine überdauernde Persönlichkeitseigenschaft. Das Gericht muss versuchen, die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit des Zeugen einzuschätzen, dazu kann es nach Art 164 StPO notfalls spezielle Abklärungen treffen. Die systematische Beurteilung der Glaubwürdigkeit ist Gegenstand der Aussagepsychologie. Das Gedächtnis ist nicht statisch, Erinnern ist kein passiv reproduzierender Vorgang. Nur wenige Menschen, die Eidetiker, sind fähig, eine Erinnerung quasi fotografisch zu speichern. Das Gehirn rekonstruiert Informationen aktiv. Es verknüpft und ergänzt neue Informationen mit vorbestehenden, 503  Rennig

574. 114. 505  Kette 102 ff., 141 f. 506  Gerhardt, Im Namen, 176 f.; Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 229 ff. 507  Aronson / Wilson / Akert 506 ff. 504  Rennig

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

oft unbewussten Gedächtnisinhalten, mit Vorurteilen, Wertungen, Einstellungen und Gefühlen. Ein Gedächtnisinhalt kann durch spätere Information wieder verändert werden. Er wird durch jede Wiedergabe überlagert und kann schliesslich so verfälscht oder entstellt werden, dass er mit der ursprünglichen Wahrnehmung nichts mehr zu tun hat.508 Mit einem einfachen, aber unmittelbar einleuchtenden Experiment zeigte die Pionierin der Augenzeugenforschung, Elizabeth Loftus, dass Zeugen durch suggestive Fragen beeinflusst werden. Alle Versuchsteilnehmer sahen einen kurzen Film, in dem zwei Autos zusammenstiessen. Nach der Vorführung wurden die Teilnehmer gebeten abzuschätzen, wie schnell die Autos beim Zusammenstoss fuhren. In der Formulierung der entsprechenden Frage wurde das Verb für zusammenstossen variiert: smashed – collided – bumped – contacted – hit. Allein die Wortwahl führte zu unterschied­ lichen Geschwindigkeitsschätzungen. Eine Woche später konnten sich zudem die Versuchspersonen, bei denen die Autos „zusammengeknallt“ waren, an zerbrochenes Glas erinnern, obwohl im Film nichts dergleichen zu sehen war.509 Ein Augenzeuge kann auf das Gericht, besonders auf unerfahrene Geschworene, eindrücklich und überzeugend wirken. Trotzdem sind falsche Identifikationen die häufigste Ursache von Fehlurteilen.510 Übrigens sind Zeugen, die sich ihrer Sache sicher sind, keineswegs die besseren Zeugen. Die eigene subjektive Überzeugung und Sicherheit des Zeugen korreliert nicht mit der tatsächlichen Verlässlichkeit.511 Deshalb kann Medienberichterstattung auf Zeugenaussagen eine verheerende Wirkung haben. Die Publikation eines Fotos des Verdächtigen kann den Zeugen zu späterer „Wiedererkennung“ inspirieren.512 Wenn sich Zeugen gegenüber einem Journalisten geäussert haben, sind sie eventuell im Gerichtssaal nicht mehr imstande, von der Medienversion abzuweichen.513 Im Revisionsprozess Zwahlen (siehe S. 38) musste das Gericht eine Zeugeneinvernahme kurzfristig vorziehen, weil ihm bekannt wurde, dass der Zeuge dem Schweizer Fernsehen am gleichen Abend ein Interview geben wollte. Das Gericht sah die Gefahr voraus, dass sich die Erinnerung des Zeugen im Verlauf des Interviews – durch die Fragen der 508  Sporer / Breuer

493. 77 f., 96. 510  Mindestens in den USA, nach Roesch / Zapf / Hart 120. 511  Aronson / Wilson / Akert 518; Kapardis 72; Roesch / Zapf / Hart 136 f.; Sporer / Breuer 493; Costanzo / Krauss 150 f. 512  Ein Beispiel dafür ist bei Wagner 67 ff. zu finden. 513  Pöschl / Döring 99. 509  Loftus



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 117

Journalisten und durch seine eigenen Antworten – verändern würde, möglicherweise zum Nachteil der Wahrheit.514 Die Rolle des Sachverständigen, des Experten, ist sicher weniger problematisch. Sachverständige werden nicht als Augenzeugen angehört, sondern zu ihrem Spezialgebiet befragt. Sie erscheinen nicht zum ersten Mal vor Gericht, ihre Fähigkeiten werden deshalb nicht durch eine ihnen ungewohnte Situation beeinträchtigt. Sie kennen den Umgang mit den Medien und sind keine naiven Medienopfer. Auch von Anwälten lassen sie sich kaum einschüchtern. 6.3.3. Strafzumessung „Richter haben einen dem Laien weitgehend unbekannten, gewaltigen Ermessens-Spielraum beim Strafmass.“ Schwarzer 10.

Während in den USA vor allem zum Schuldspruch der Jury geforscht wird, steht im kontinental-europäischen Rechtskreis die Strafzumessung des Berufsrichters im Blickpunkt des Interesses.515 Häufig angewandte Methoden sind Aktenanalysen und Richterbefragungen. In modernen Rechtsordnungen ist die Strafzumessung durch grosses richterliches Ermessen gekennzeichnet. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass die Mehrzahl der Studien signifikante Unterschiede in der Strafzumessung gefunden hat, auch unter vergleichbaren Tat- und Täterumständen, und – unabhängig vom geltenden Rechtssystem – sowohl in den anglo-amerikanischen wie auch in den kontinental-europäischen Ländern.516 Diese sogenannte Strafzumessungsdisparität irritiert. Auf den ersten Blick steht sie in Widerspruch zum Rechtsgleichheitsgebot und zum Willkürverbot. Um die Strafzumessung einheitlicher, „berechenbarer“ und eventuell sogar gerechter zu machen, haben die Gesetzgeber mancher Länder verbindliche Richtlinien erlassen. Ein Beispiel dafür bilden die Sentencing guidelines in den USA.517 In der Schweiz gibt es solche Bestrebungen vor allem in den Bereichen Stras­­senverkehrsdelikte und Betäubungsmitteldelikte („Grämmli-Justiz“).518 514  Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser 515  Zum

157. Beispiel Margit E. Oswald, Psychologie des richterlichen Strafens, Stutt-

gart 1994. 516  Nach Englich, Urteilseinflüsse, 486; Goodman-Delahunty / Sporer 20; Sporer /  Goodman-Delahunty 379; Kapardis 199 ff. 517  Bommer, ZSR 2009, 93. 518  Zum Beispiel die Empfehlungen der Konferenz der Strafverfolgungsbehörden der Schweiz, siehe: http: /  / www.ksbs-caps.ch / pages_d / empfehlungen_d.htm (9.4.13).

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

Natürlich eröffnet gerade das grosse richterliche Ermessen dem Verteidiger die Chance, für seinen Klienten das Beste herauszuholen. Neben den Tatumständen hat sich die Art und Anzahl der Vorstrafen als prädiktiv erwiesen.519 Die Strafrichter orientieren sich also an einem rechtlichen Kriterium, das in Art. 47 StGB als „Vorleben“ erwähnt ist. Demgegenüber tragen demografische Merkmale und Persönlichkeitseigenschaften des Beschuldigten nicht zur Erklärung des Strafmasses bei.520 Auch bei Richtern wurden entsprechende Merkmale erhoben; eindeutige Befunde liegen ebenfalls nicht vor.521 Strafdisparitäten können auf unterschiedliche Einstellungen und Werthaltungen des Richters, zum Beispiel auf dessen bevorzugte Strafzwecktheorie, zurückzuführen sein.522 Mehrere deutsche Studien haben die Rolle solcher Einstellungen anhand fiktiver Fälle untersucht.523 Dabei stellt sich das Problem, dass Einstellungen keineswegs in Stein gemeisselt sind; das menschliche Verhalten ist stark von situativen Faktoren geprägt. Das gilt auch für die Entscheidfindung des Richters.524 Möglicherweise präferiert ein Richter fallweise verschiedene Strafzwecke, die er ja alle geistig präsent haben sollte. In Deutschland wurden in mehreren Aktenanalysen regionale Unterschiede in der Strafzumessungspraxis nachgewiesen. Die Rechtspflege scheint sich an informellen Richtlinien oder lokal gebräuchlichen „Taxen“ zu orientieren.525 Einige Autoren meinen jedoch, dass sich die richterliche Strafzumessung ganz simpel erklären lasse.526 Der weitaus wichtigste Prädiktor für die richterliche Strafzumessung sei der Strafantrag des Staatsanwalts. 6.3.3.1. Der Antrag des Staatsanwalts als Anker Der Antrag des Staatsanwalts ist nicht ein ausserrechtliches Merkmal, sondern Teil des Strafverfahrens. Sowohl Staatsanwalt wie auch Richter 519  Zum Beispiel Hupfeld-Heinemann  / Oswald 479; Barton 65 ff.; zusammenfassend Albrecht 158; Englich, Urteilseinflüsse, 488; Niehaus  /  Englich  /  Volbert 663; Hermann 654 f. 520  Hermann 655; Kapardis 208  ff.; Killias  /  Kuhn  /  Aebi 325, Rz. 831, 147  ff., Rz.  412 ff. 521  Von Helversen / Rieskamp 387 f. 522  Englich, Urteilseinflüsse, 488. 523  Zum Beispiel Margit E. Oswald, Psychologie des richterlichen Strafens, Stuttgart 1994. 524  Boehme-Nessler, AfP 2010, 540; Hermann 657 f. 525  Zusammenfassend Albrecht 159; Niehaus / Englich / Volbert 663. 526  Zum Beispiel Konečni / Ebbesen, Sentencing decision, 293 ff.



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 119

sind juristische Experten. Beiden liegt die gleiche Ausgangsinformation vor, sie stützen sich auf die gleichen rechtlichen Grundlagen und sollten deshalb eigentlich zu den gleichen Schlüssen kommen. Zudem ist die Beziehung zwischen Staatsanwalt und Gericht „von der Anlage her kooperativ“.527 Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass Antrag und Urteil nicht allzu weit auseinander driften. Bereits 1982 haben Konečni und Ebbesen in ihrer Feldstudie eine sehr hohe Korrelation von .85 zwischen dem Vorschlag des Probation officer und dem richterlichen Entscheid entdeckt.528 Sie meinen, damit den Mythos vom gründlich überlegten und unabhängigen richterlichen Urteil entlarvt zu haben. Die Autoren stellen sich die Frage, ob der Richter nicht eigentlich überflüssig wäre, und ob das Sentence hearing nicht ein blosses Ritual sei, noch dazu ein kostspieliges.529 Auch in Deutschland ist zu beobachten, dass der Antrag des Staatsanwalts die Obergrenze für das Strafmass markiert; nur sehr selten urteilt der Richter strenger.530 Der Ankereffekt kommt nicht nur bei der Strafzumessung zum Tragen, sondern auch bei der Festsetzung einer Kaution, die an Stelle von Untersuchungshaft angeordnet wird,531 sowie im Rechtsmittelverfahren.532 Nicht nur Laien oder Geschworene, auch erfahrene Juristen unterliegen dem Ankereffekt.533 Juristen können auf den Ankereffekt hineinfallen, gleichgültig ob die Vorgabe von einem Berufskollegen oder einem Nichtfachmann stammt. Nicht nur der Strafantrag der Staatsanwaltschaft kann einen Anker setzen. In einem Experiment liessen sich Juristen – darunter auch professionelle Richter – mit mehr als zehn Jahren beruflicher Erfahrung irritieren, als sie ein „Journalist“ anfragte, ob die Strafe höher oder niedriger ausfallen würde als ein Jahr bzw. drei Jahre.534 Völlig irrelevante Anker – Zwischenrufe von Zuschauern während der Hauptverhandlung – können als Anker dienen, wie Englich in einem Simulationsexperiment mit Juristen (Referendaren) zeigte.535 527  Schumacher,

StV 1995, 444; sinngemäss ebenso Schünemann 265 ff. Sentencing decision, 314. 529  Konečni / Ebbesen, Sentencing decision, 326 f. 530  Dittmann 323 f.; siehe auch Schünemann 276. 531  Dhami, Psychological Science 2003, 175 ff. 532  Fitzmaurice / Peace 21 f.; Barton 85. 533  Guthrie / Rachlinski / Wistrich, Cornell Law Review 2001, 816; Englich / Mussweiler / Strack, Personality and Social Psychology Bulletin 2006, 310; Englich, Heuristic strategies, 301 ff. 534  Englich / Mussweiler / Strack, Personality and Social Psychology Bulletin 2006, 190 ff. 535  Englich, Zeitschrift für Sozialpsychologie 2005, 215 ff. 528  Konečni / Ebbesen,

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

Sogar Verteidiger selber (!) sollen ihren Antrag an denjenigen des Staatsanwalts anpassen.536 Der Strafverteidiger hat die schwierige Aufgabe, den Anker des Staatsanwalts zu entkräften. Es scheint wirkungsvoll zu sein, wenn der Verteidiger nicht einfach um ein mildes Urteil bittet, sondern einen konkreten Vorschlag macht, also wiederum einen Anker setzt.537 Hat sich der Verteidiger für eine aktive Medienpolitik entschieden, kann er im Gespräch mit den Journalisten eine konkrete, milde Strafe nennen und so den Ankereffekt nutzen, in der Hoffnung, dass die Richter den Medienbericht zur Kenntnis nehmen. 6.3.3.2. Einfluss der Medien auf die Strafzumessung Anfangs August gab es in verschiedenen englischen Städten Krawalle, welche die Öffentlichkeit und die Medien schockierten. Das Justizministerium veröffentlichte eine Statistik über die 1715 Personen, die bereits in der ersten Woche dem Richter vorgeführt worden waren. Die Justiz fasste die Krawallanten hart an: Zwei Drittel blieben in Gewahrsam verglichen mit 10 % in Normalfällen. Die durchschnittliche Freiheitsstrafe der Magistrate Courts betrug 5,1 Monate gegenüber 2,5 Monaten für vergleichbare Fälle im Vorjahr, bei den Crown Courts waren es 18,5 Monate, in Normalfällen bloss 11,3 Monate. Peter Rásonyi in der Neuen Zürcher Zeitung vom 16. September 2011, S. 3.

Die Meldung lässt uns vermuten, dass öffentliche Empörung möglicherweise das Strafmass beeinflussen kann. Nur kann man sich schwer vorstellen, wie man Einflüsse von Öffentlichkeit und Medien wissenschaftlich haltbar nachweisen soll. Was wir zu wissen glauben, beruht deshalb vorwiegend auf Anekdoten. Die US-Forscher Konečni und Ebbesen geben zu bedenken, dass ein Fall mit grosser Publicity nicht „normal“ verlaufe, er werde jedenfalls nicht durch ein Plea bargaining abgeschlossen, sondern gelange vor eine Jury. Unter den Fällen, die in der Feldstudie der Autoren erfasst wurden, fand sich zufällig auch der Prozess gegen Patricia Hearst, die von Terroristen entführt und „umgedreht“ worden war. Die Autoren vermuten, dass Patricia Hearst eine höhere Strafe erhalten habe als es bei einer weniger prominenten Person der Fall gewesen wäre. Der Richter habe offensichtlich versucht, dem Bedürfnis der Öffentlichkeit zu entsprechen, dass auch reiche Leute nicht ungeschoren davonkommen sollten. Als sich später die Wogen geglättet hatten, wurde Patricia Hearst bedingt entlassen.538 536  Englich,

Ankereffekte, 310; Englich, Heuristic strategies, 302. 275. 538  Konečni / Ebbesen, Sentencing decision, 328. 537  Schünemann



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 121

Bruschke und Loges führten eine der wenigen Aktenanalysen in diesem Forschungsbereich durch. Sie werteten die Akten von 134 Tätern aus, die wegen Tötungsdelikten vor amerikanischen Bundesstrafgerichten standen. Die Autoren fanden keinen Zusammenhang zwischen Ausmass oder Art der Berichterstattung und der Strafzumessung durch Berufsrichter. Sobald überhaupt über einen Fall berichtet wurde, erhielten die Täter eine höhere Strafe als Täter, über die nicht berichtet wurde. Die Autoren räumen ein, dass sie nicht ausschliessen können, dass die besonderen Umstände eines Falls, beispielsweise extreme Brutalität, sowohl zu erhöhter Medienaktivität wie zu grösserer Strenge bei der Strafzumessung geführt hätten. Interessant ist das Ergebnis, weil es nahelegt, dass die Art der Berichterstattung – ob Vorverurteilung oder Vorfreispruch – keine Rolle spielt.539 Ein Experiment von Englich hat gezeigt, dass sich ausgebildete Juristen irritieren lassen durch Ankerwerte, die von angeblichen Journalisten gesetzt werden.540 Offensichtlich ist es schwer, irrelevante Informationen zu ignorieren. Die Autorin kommt zum Schluss, dass ein völlig unbeeinflusstes, unabhängiges Urteil eine Illusion sei und man ein gewisses Mass an ausserrechtlichen Einflüssen akzeptieren müsse. Es gehe darum, diese Einflüsse so gering wie möglich zu halten.541 6.3.4. Laienrichter – Berufsrichter, Novizen – Experten In den USA ist die Jury-Forschung eines der beliebtesten Themen in der Rechtspsychologie. Das empirische Wissen über die Tätigkeit der Berufsrichter ist hingegen eher spärlich.542 Richter sind nicht unbedingt willige Versuchspersonen, wie Forscher immer wieder erfahren mussten.543 Man weiss wenig darüber, ob und inwiefern sich Laienrichter oder Geschworene von Berufsrichtern unterscheiden.544 Vor Denkfehlern sind weder die einen noch die anderen gefeit.545 Immerhin ist es wohl plausibel anzunehmen, dass Richter dank ihrer beruflichen Erfahrung mehr Informationen zu vergleichbaren Fällen gespeichert haben, die sie abrufen können, wenn ihnen 539  Bruschke / Loges,

Journal of Communications 1999, 104 ff. Zeitschrift für Sozialpsychologie 2005, 215 ff. 541  Englich, Heuristic strategies, 309. 542  Guthrie / Rachlinski / Wistrich, Cornell Law Review 2001, 781; Sporer / Goodman-Delahunty 384; Goodman-Delahunty / Sporer 20; Spellman 153 f. 543  So auch Schweizer 70, Rz. 176. 544  Hupfeld-Heinemann / Oswald 477; Kepplinger, Öffentlichkeit, 154. 545  Diamond, Convergence, 328; Guthrie  / Rachlinski / Wistrich, Cornell Law Review 2007, 15; Englich / Mussweiler / Strack, Personality and Social Psychology Bulletin 2006, 193. 540  Englich,

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

die eigene Anfälligkeit für Denkfehler bewusst wird.546 Damit sei es nicht weit her, widersprechen Konečni und Ebbesen: Berufsrichtern sei es in der Regel nicht bewusst, wie ihr Entscheid zustande komme. So seien Richter davon überzeugt, verschiedenste Faktoren auf komplexe Weise abzuwägen, während sie sich in Wirklichkeit von einem einzigen Merkmal leiten liessen, der Empfehlung des Parole officer.547 Die vielleicht berühmteste und aufwendigste Feldstudie, das Chicago Jury Project, konnte in den 50er Jahren mit Aktenanalysen und Befragungen des verfahrensleitenden Richters belegen, dass Jury und Richter in mehr als drei Viertel der Fälle übereinstimmten. Und stimmten die Gremien nicht überein, urteilte die Jury in den meisten Fällen milder als der Berufsrichter (leniency effect).548 Diese Befunde konnten für verschiedene Länder repliziert werden.549 Den Schluss, dass Laien milder urteilen als Berufsrichter, lässt auch eine schweizerische Studie zu.550 Und nach der Erfahrung des letzten Präsidenten des Zürcher Geschworengerichts, Pierre Martin, zeigten sich die Geschworenen in der Schuldfrage milder, war jedoch der Schuldspruch einmal gefallen, plädierten sie für härtere Strafen.551 Vermutlich verlaufen die grundlegenden Prozesse der Informationsverarbeitung bei allen Individuen grundsätzlich gleich.552 Die kognitive Psychologie hat die Fähigkeiten von Experten mit denjenigen von Novizen vor allem auf dem Gebiet der exakten Wissenschaften verglichen: Experten erbringen auf ihrem speziellen Gebiet bessere Leistungen, weil sie über spezifisches Wissen und reichhaltige Erfahrung verfügen. Experten sind auf ihrem Spezialgebiet nicht nur schneller und genauer als Novizen, sie haben auch ein besseres Gedächtnis. Experten wissen nicht nur mehr und können ihr Wissen schneller abrufen, ihr Wissen ist auch anders organisiert und repräsentiert. Experten zielen direkt auf die Tiefenstruktur eines Problems, während Novizen ihre Aufmerksamkeit eher auf oberflächliche Details richten, sie lassen sich durch Form und Darstellung des Problems ablenken und in die Irre führen.553 546  Guthrie / Rachlinski / Wistrich, 547  Konečni / Ebbesen,

Cornell Law Review 2001, 820. Sentencing decision, 299 f., 314; siehe auch Costanzo / 

Krauss 294 f. 548  Kalven / Zeisel 56 ff. 549  Überblick über die Forschung in Diamond, Convergence, 325 ff.; Costanzo  /  Krauss 295 ff. 550  Kuhn / Villettaz / Willi-Jayet / Willi, SZK 2004 / 1, 28 ff.; anders eine holländische Studie, siehe De Keijser / van Koppen / Elffers, Journal of Experimental Criminology 2007, 131 ff. 551  Nach Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 15. September 2011, S. 20. 552  Rennig 534; Kerr / Bray 353 f.; Sporer / Goodman-Delahunty 382. 553  Anderson 249, 257; Spellman 151 ff.



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 123

Über die Expertise in der Lösung komplexer Probleme ist weniger bekannt. Man kann nur mutmassen, inwiefern sich juristische Experten von Laien unterscheiden. Es wäre aber doch erstaunlich, wenn Ausbildung und Praxis gerade auf dem Gebiet des Rechts irrelevant wären. Nach Spellman sind erfahrene Richter geübt im analogen Denken: Ein Richter speichert im Lauf seiner Karriere immer mehr Präzedenzfälle und kann auf diesen Wissens- und Erfahrungsschatz zurückgreifen.554 Das spielt besonders in den USA eine Rolle, wo sich der Richter in erster Linie an Präjudizien orientiert. Der renommierte amerikanische Anwalt und Sozialpsychologe Richard C. Waites nimmt an, dass sich Berufsrichter weniger von irrelevanten Faktoren leiten lassen, sie seien sich ausserrechtlicher Einflüsse bewusst und könnten sie meistens kontrollieren. Richter hätten auf Grund ihrer Erfahrung keine Mühe, die Überzeugungstechniken und -taktiken der Anwälte zu durchschauen.555 Die Befunde der US-amerikanischen Jury-Forschung sprechen für eine gewisse Beeinflussbarkeit von Laien durch Medien. Diese Überzeugung vertreten auch Rechtsprechung und namhafte Juristen (siehe S. 92 ff. und S. 96 f.). Zur Frage, ob Berufsrichter durch die Medien beeinflusst werden, haben wir nur wenig Material, hauptsächlich Umfragen bei Richtern selber. Daraus kann man schliessen, dass die Öffentlichkeitsarbeit des Anwalts mehr Aussicht auf Erfolg hat in Ländern, in denen Geschworene an der Rechtsprechung beteiligt sind. Es ist ja sicher kein Zufall, dass sich Litigation-PR ausgerechnet in den USA entwickelt hat, wo die Jury eine grosse Tradition hat und als Institution nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. 6.3.5. Einzelrichter – Kollegialgerichte „Den verschiedenen Formen des Einflusses kann ein Kollegialorgan wirksamer begegnen als ein Einzelner.“ Weimar 199.

In manchen Kantonen der Schweiz sind Einzelrichter, zum Teil als Laienrichter, für weniger schwerwiegende Delikte zuständig. In Rechtsmittel­ instanzen entscheiden Kollegialgerichte, hauptsächlich Berufsrichter. Das Kollegialgericht hat Vorteile: Durch die Beratung entsteht ein allseitig ausgewogenes Urteil. Die gegenseitige Kontrolle vermag unerwünschte Einflüsse zu kontrollieren und auszugleichen.556 Den Vorteilen stehen auch 554  Spellman

162. 220. 556  Weimar 199; Walter, Justiz 2005 / 1, Rz. 16 ff.; Wiprächtiger, Unabhängigkeit, 48 f.; Saxer / Mannhart 439; Kiener 338 f. 555  Waites

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

Nachteile gegenüber: Kollegialgremien arbeiten langsamer, sie neigen zu Konservativität und Kompromissbereitschaft. Das einzelne Mitglied kann sich aus der Verantwortung stehlen.557 Dass die Arbeit in Gruppen in der Regel bessere Resultate erbringt als die Bemühungen von „Einzelkämpfern“, hat die Sozialpsychologie für verschiedenste Bereiche festgestellt. Allerdings können charakteristische Denkfehler auftreten, die zu Fehlentscheidungen führen, wenn nämlich sachliche Gesichtspunkte an Bedeutung verlieren gegenüber dem Bedürfnis nach Gruppenzusammenhalt und Einigkeit (groupthink).558 Die Versuche des Sozialpsychologen Solomon Asch wiesen Mitte der 50er Jahre nach, dass sogar in einer banalen Situation, wenn Versuchspersonen die Länge von Linien einschätzen sollten, nur ein Viertel dem Gruppendruck widerstehen konnte.559 Im Kollegialgericht ist der Druck auf die Minderheit gross, besonders wenn die Entscheidung einstimmig sein soll. Das zeigte sich im Fall Zwahlen (siehe S. 37): Die vier Geschworenen, die Zweifel an der Schuld des Angeklagten hatten, fühlten sich unter Druck gesetzt und gaben nach.560 Zwar sind Kollegialrichter formell gleichberechtigt, doch entwickeln sich in einem ständigen Gericht mit der Zeit Hierarchien und Rollen, die entweder auf fachlicher oder auf sozialer Kompetenz gründen.561 Der langjährige Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung am Bundesgericht, Markus Felber, beobachtet eine starke Konsensorientierung: 98 % der Bundesgerichtsentscheide ergehen einstimmig.562 Da am Bundesgericht die Beratungen zum Teil öffentlich zugänglich sind, ergäben sich für Sozialwissenschaftler interessante Forschungsmöglichkeiten! Der Soziologe und Jurist Rüdiger Lautmann war ein Jahr lang selber als Richter tätig und hat als Insider den Alltag an einem Kollegialgericht teilnehmend – im wahren Sinn des Worts – und zugleich verdeckt beobachtet und protokolliert. Die Veröffentlichung seiner Arbeit soll in der Richterwelt nicht gerade freundlich aufgenommen worden sein.563 Nach Lautmann ist vor allem der Zeitdruck für das Nachgeben der Minderheit verantwortlich: „Machen wir’s. Ich will den Betrieb nicht aufhalten.“564 557  Weimar

200; Zihlmann 181 f. Aronson / Wilson / Akert 297 ff. 559  Nach Aronson / Wilson / Akert 254 ff. 560  Born, Mord, 285 ff.; siehe auch Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser 111 ff. 561  Walter, Justiz 2005 / 1, Rz. 20; Wurzburger 55. 562  Felber, Justiz 2006 / 1, Rz. 25. In der NZZ vom 5. Juli 2012, S. 13, lobt Felber den zurückgetretenen Bundesrichter Niccolò Raselli dafür, dass er „immer wieder dem gruppendynamischen Druck zur Einstimmigkeit zu widerstehen vermochte“. 563  Rasehorn 110; Lautmann, 2011, 22. 564  Lautmann 172. 558  Nach



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 125

In den amerikanischen Jurys scheint die Beratung keinen grossen Einfluss mehr auf die Meinungsbildung zu haben: Die Meinung der Geschworenen ist in mehr als 90 % der Prozesse bereits gemacht, wenn die Geschworenen zu beraten beginnen.565 Eine Entwicklung wie im Film Twelve Angry Men (1957) von Sidney Lumet – der Held kann nach und nach jeden seiner elf Mitgeschworenen auf seine Seite bringen – kommt in der Realität also nur selten vor. Ob die Beratung eine mediale Vorverurteilung kompensieren kann, ist fraglich, eher scheinen die Vorurteile noch verstärkt zu werden.566 In aus Berufs- und Laienrichtern zusammengesetzten Gremien, wie in den deutschen Schöffengerichten, können sich die Schöffen gegenüber den Berufsrichtern nicht durchsetzen, sie haben wenig Einfluss auf den Verfahrensausgang.567 Welche Schlüsse kann der Verteidiger aus diesen Überlegungen und Befunden ziehen? Öffentlichkeits- und Medienarbeit könnte beim Einzelrichter eher das gewünschte Ergebnis erzielen. Für die Beurteilung schwerer und damit spektakulärer Delikte ist aber in der Regel das Kollegialgericht zuständig. Dann müsste der Verteidiger im Plädoyer wie in seiner Medien­ arbeit auf die Berufsrichter als Meinungsführer zielen. 6.3.6. Deutsche Studien zum Medieneinfluss Simulationsexperimente wie in der amerikanischen PTP-Forschung kann man an sich auch im deutschen Sprachraum machen. Vermutlich wird dieser Zugang wenig gewählt, weil die Versuchssituation zu weit von der kontinental-europäischen Gerichtsrealität entfernt wäre. Hier liegt die Rechtsprechung zum grössten Teil in der Hand von professionellen Richtern. Berufsrichter als Versuchspersonen für eine Studie zu gewinnen, ist aber – wie bereits erwähnt – schwierig. Aus diesen Gründen sehen Kepplinger und Zerback Experimente sogar als „generell undurchführbar“ an.568 Doch auch Umfragen haben ihre Nachteile: Nicht alle Befragten sind in gleichem Grad zur Selbstreflexion fähig. Und wenn sie es wären, sagen sie vielleicht nicht immer die Wahrheit. Teilnehmer an Umfragen wollen sich oft günstiger darstellen, als sie sind, sie richten ihre Antworten danach aus, was als sozial erwünscht gilt. Dadurch können die Ergebnisse von Umfragen verzerrt und verfälscht werden. 565  Kalven / Zeisel 488; Frederick 287; Kerr / Bray 349; zur Sozialpsychologie der Jury allgemein siehe Waschulewski, 251 ff. 566  Steblay / Besirevic / Fulero / Jimenez-Lorente, Law and Human Behavior 1999, 230; Devine 177 ff. 567  Rasehorn 134; Rennig 567, 575; Ludewig-Kedmi  /  Angehrn, Justiz 2008  /  3, Rz. 47; Schmitt-Geiger 67. 568  Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 222.

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

6.3.6.1. Erste Umfragen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wolfram Zitscher, ursprünglich Jurist, betrat mit seiner soziologischen Dissertation nach seiner eigenen Aussage Neuland.569 Der Autor befragte 37 Berufsrichter, 41 Schöffen, 16 Staatsanwälte, 21 Rechtsanwälte und 34 Gerichtsberichterstatter aus dem deutschen Bundesland Schleswig-Holstein zum Verhältnis zwischen Presse und Strafgericht und auch zu einem allfälligen Medieneinfluss:570 Zu jener Zeit, 1967, betrachtete eine überwiegende Mehrzahl der befragten Berufsrichter, Schöffen und Staatsanwälte eine Kritik der Presse an hängigen Verfahren als unzulässig. Die Kontrolle der Gerichte durch die oberen Instanzen sei ausreichend. Berufsrichter schätzen sich selber und ihre Fachkollegen als weitgehend unabhängig ein. Gefährdet sehen sie sich in bestimmten Konstellationen, zum Beispiel wenn sich der Justizminister kritisch zum Verfahren äussert oder wenn eine Zeitung ein Umfrageergebnis über die Schuld des Angeklagten veröffentlicht. Zu drei konkreten, spektakulären Fällen befragt, hält es aber mehr als ein Viertel der Berufsrichter für möglich, dass ein Medieneinfluss wirksam wurde. Dieselbe Meinung vertreten etwa ein Viertel der Schöffen, eine kleine Minderheit der Staatsanwälte und immerhin knapp die Hälfte der Rechtsanwälte. Ein Viertel der Berufsrichter meint, schon einmal den Einfluss der Presse auf einen Schöffen bemerkt zu haben. Knapp zwei Drittel der Gerichtsberichterstatter halten Schöffen für eher beeinflussbar als Berufsrichter. Die Hälfte der Journalisten hält aber auch einen Einfluss auf die Berufsrichter für möglich. Die Schöffen hingegen schätzen sich wiederum als weniger beeinflussbar ein als sie von den anderen Akteuren gesehen werden. Ein Viertel der Rechtsanwälte gibt an, schon einmal einen Einfluss der Presse auf das Gericht beobachtet zu haben. Über die Hälfte hält die Beeinflussung von Staatsanwälten für möglich, und mehr als ein Viertel will einen solchen Einfluss bereits einmal beobachtet haben. Knapp die Hälfte der Staatsanwälte erachtet es als legitim, sich an die Presse zu wenden, im Sinn einer letzten Möglichkeit, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. In einer solchen Situation halten es vier Fünftel der Rechtsanwälte ebenfalls für gerechtfertigt, Kontakt mit Journalisten aufzunehmen. Ein Fünftel hat auch schon erlebt, dass Anwälte – entgegen den Standesregeln – Prozessakten an Presseleute abgegeben hätten.

569  Zitscher 570  Zitscher

7. 64 ff.



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 127

1984 führte das Bundesjustizministerium der Bundesrepublik Deutschland zu den Auswirkungen der Presseberichterstattung auf den Ausgang von Strafverfahren eine Umfrage bei den Verbänden der Medien- und Justizberufe durch. Anlass dazu bildeten mehrere Prozesse gegen Prominente aus Politik und Wirtschaft, die Medienkampagnen ausgelöst hatten. Die Befragten – Journalisten, Richter und Anwälte – glaubten nicht an eine Behinderung der Justiz durch Medienberichte. Doch meinten sie, dass sich Medienkampagnen auf die vom Strafverfahren Betroffenen auswirken könnten, auf den Beschuldigten und seine Angehörigen, auf Zeugen und Opfer.571 6.3.6.2. Die Umfragen der Forschungsgruppe an der Universität Mainz „… ich habe keinen Richter getroffen, der einen Einfluss der Medien auf das Strafverfahren verneint hätte.“ Gerhardt 1990, 21

Die neueren Umfragen stammen alle aus derselben Forschergruppe an der Universität Mainz um Rudolf Gerhardt und Matthias Kepplinger: Beide sind Professoren für Kommunikationswissenschaft, Rudolf Gerhardt ist zudem auch Jurist. In den Studien ging es darum, einen Einfluss der Medien auf verschiedene Prozessbeteiligte zu prüfen. Im Jahr 1990 führte Gerhardt 25 Interviews mit zufällig ausgewählten Juristen und Richtern durch. Diese erste Umfrage genügte – wie er selber einräumt – wissenschaftlichen Kriterien nicht, vermochte aber ein gutes Stimmungsbild abzugeben und ermöglichte einen ersten Eindruck. Die Ergebnisse dieser ersten Umfrage dienten als Grundlage und Hypothese für die weiteren Studien.572 Generell halten die befragten Richter einen Einfluss von Medien für möglich oder sogar für wahrscheinlich. Dabei lässt sich der Third-Person-Effekt (siehe S. 48) beobachten: Richter sagen, sie selber seien nicht beeinflussbar, würden aber für ihre Kollegen die Hand nicht ins Feuer legen.573 Nach Meinung von Richtern und Anwälten beeinflussen die Medien sicher das Klima im Gerichtssaal und eventuell auch das Strafmass. Zudem werde das Urteil sorgfältiger abgefasst, wenn die Medien das Verfahren beobachten. Ein Verteidiger äusserte die Ansicht, dass Richter zwar 571  Nach

F.-A. Jahn, Einfluss, 6 ff. Einfluss, 20; 36; Gerhardt, ZRP 2009, 248; Gerhardt, Im Namen,

572  Gerhardt,

175.

573  Gerhardt, Einfluss, 22; vgl. Gerhardt, ZRP 2009, 248, 250; Gerhardt, Im Namen, 179; Gerhardt, Strafverteidigung, 1671, Rdn. 31.

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

immun gegen Vorverurteilungen seien, dass sie aber Vorfreisprüche nicht schätzten, sondern darauf mit Abwehr reagieren würden.574 Zehn Jahre später, im Jahr 2000, führte Gerhardt eine zweite Umfrage mit 66 Teilnehmern durch und konnte die Befunde der ersten Studie bestätigen.575 Die dritte Studie von 2006 erfüllte wohl die Kriterien, die für empirische Forschung gelten.576 Die Autoren, Hans Mathias Kepplinger und Thomas Zerback, unter Mitarbeit von Rudolf Gerhardt und Katja Griesenbeck, baten insgesamt 3549 Personen, online und anonym an der Umfrage teilzunehmen, alle 1777 (Berufs-)Richter und 1268 Staatsanwälte in Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Rheinland-Pfalz und Sachsen, 454 Rechtsanwälte und 50 Journalisten. Geantwortet haben 447 Richter und 271 Staatsanwälte, 35 Verteidiger – das sind nicht einmal 10 % der Angefragten! – und 29 Journalisten. Die Rücklaufquote betrug insgesamt 22 %. Zur Repräsentativität der Stichprobe können die Autoren keine Aussage machen.577 Die Autoren gelangten zu folgenden Ergebnissen: Richter, Staatsanwälte und Verteidiger verfolgen die Medienberichterstattung über „ihre“ Prozesse intensiver; ihr Medienverhalten ändert sich. Die überwiegende Mehrheit der befragten Richter und Staatsanwälte hält die prozessbeteiligten Laien – Angeklagte, Opfer, Zeugen – für wenig resistent gegenüber „negativer“ Medienberichterstattung. Damit ist Kritik an der Verfahrensführung gemeint, nicht etwa eine Vorverurteilung des Beschuldigten. Den eigenen Berufskollegen trauen sie eher Widerstandskraft zu, am ehesten sollen noch Verteidiger zu verunsichern sein. Medienberichte können auf die Aussagen von Zeugen Einfluss haben, meint eine grosse Mehrheit der Richter (77 %), Staatsanwälte (74 %) und Verteidiger (92 %). Die Aussagen von Sachverständigen werden hingegen als wenig gefährdet angesehen, weder von Richtern (11 %), noch von Staatsanwälten (14 %), am ehesten noch von Verteidigern (54 %). Nach der Meinung von Richtern (86 %), Staatsanwälten (90 %), Verteidigern (97 %) und Journalisten (97 %) hat die Medienberichterstattung Einfluss auf das Verhandlungsklima, die Atmosphäre im Gerichtssaal. Nur wenige Richter (3 %) und Staatsanwälte (9 %) glauben, dass Medienberichte in der Schuldfrage Einfluss nehmen können. Hingegen glaubt die Mehrzahl der Verteidiger (54 %) auch an einen Einfluss auf die Schuldfrage. 574  Gerhardt,

Einfluss, 26; Gerhardt, ZRP 2009, 249. ZRP 2009, 248; Gerhardt, Im Namen, 175. 576  Kepplinger  / Zerback, Publizistik 2009, 216 ff.; Beschreibung der Studie und Darstellung der Ergebnisse siehe auch Gerhardt, ZRP 2009, 247 ff.; Gerhardt, Im Namen, 171 ff.; Kepplinger, Öffentlichkeit, 154 ff.; Kepplinger, Einfluss, 219 ff. 577  Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 223. 575  Gerhardt,



6.3. Empirische Forschung zum Einfluss der Medien auf den Entscheid 129 25 % der Richter, 37 % der Staatsanwälte und sogar 85 % der Verteidiger glauben, dass ein Einfluss auf die Strafzumessung spürbar werde, vor allem wenn es um die Gewährung des bedingten Strafvollzugs oder um die Anordnung einer Verwahrung gehen würde. 58 % der Richter, aber nur 42 % der Staatsanwälte räumen ein, dass sie bei der Entscheidfindung die Reaktion der Öffentlichkeit im Auge haben. Vorauszuschicken ist, dass nur 35 Verteidiger an der Umfrage teilgenommen haben. 60 % der Verteidiger berichten, dass sie im Lauf der Zeit Informations­ beziehungen zu Journalisten aufgebaut haben, während das nur 27 % der Staatsanwälte von sich sagen. Das spricht für grössere Nähe der Verteidiger zu den Medien; 68 % der Journalisten berichten denn auch, dass Verteidiger den Kontakt zu ihnen gesucht haben. Doch nur 11 % der Verteidiger nutzen die Medien regelmässig, um aktive Informationspolitik zu betreiben; 57 % tun das immerhin gelegentlich. 9 % der Verteidiger nutzen die Medien häufig als Gegenstrategie zur Justiz-PR der Staatsanwaltschaft, 46 % gelegentlich. Im Übrigen bestätigt sich, dass Medienschaffende tendenziell ihre eigene Macht und ihren Einfluss auf das Strafverfahren in Abrede stellen. 72 % der befragten Journalisten haben schon einmal erlebt, dass man auf ihre Berichterstattung Einfluss zu nehmen versuchte. In 86 % dieser Fälle soll die Initiative vom Verteidiger ausgegangen sein. Genannt wurden aber auch Opfer oder Opferver­bände, Staatsanwälte, Chefredakteure und sogar Richter.

Die Umfragen des Teams um Gerhardt und Kepplinger zeigen im Wesentlichen das gleiche Bild: Bezüglich der Tat- oder Schuldfrage vertreten die Studienteilnehmer fast einhellig die Meinung, dass ein Medieneinfluss unwahrscheinlich sei. Hingegen sei bei der Strafzumessung ein Medieneinfluss nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Medien trügen auch zur Atmosphäre im Gerichtssaal bei. Auch in dieser Studie unterliegen die Richter dem bereits erwähnten Denkfehler des Third-Person-Effekt (siehe S. 48): Sie stellen zwar ihre eigene Unabhängigkeit nicht in Frage, sind aber skeptisch, was die Resistenz ihrer Berufskollegen und diejenige der Laien betrifft. Doch wissen wir nicht, welche Art und welches Ausmass von Medienberichterstattung wirksam sein soll und auf welche Weise der Einfluss zum Tragen käme. Zwar erfahren wir, dass Justizpersonen einen Medieneinfluss auf die Strafzumessung für plausibel halten, aber wir erfahren nichts über die „Richtung“ der Veränderung: Wann wird die Strafe milder, wann strenger? Unterscheiden sich Vorverurteilung und Vorfreispruch? Martin Huff, Geschäftsführer der deutschen Rechtsanwaltskammer, rät zur Vorsicht. Man könne zwar Tendenzen erkennen, man dürfe die Ergebnisse aber nicht überbewerten.578 Die Luzerner Oberrichterin Marianne Heer 578  Huff,

DRiZ 2010, 116.

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

meint, dass die Resultate schon „aufgrund des gesunden Menschenverstandes vorauszusehen“ waren.579 6.3.6.3. Die Umfragen eines Kommunikationsberaters Frank Wilmes, Betriebswirt und Journalist, ist Inhaber des Unternehmens Wilmes Kommunikation und bietet Reputationsmanagement, Media Relations und strategische Öffentlichkeitsarbeit an.580 Wilmes führte zwei Umfragen bei Verteidigern durch. Die erste hatte das Verhältnis von Öffentlichkeit und Medien zu Richtern und Staatsanwälten zum Gegenstand. In der zweiten Umfrage ging es um die Staatsanwaltschaften und ihre angeblichen Versuche, den Beschuldigten unter Druck zu setzen. Die Umfragen wurden meines Wissens nicht in Fachzeitschriften veröffentlicht. Immerhin wird die erste Studie im deutschen Handbuch des Fachanwalts, Strafrecht zitiert.581 Die erste Umfrage fand im Jahr 2005 statt; ihre Ergebnisse wurden im Ratgeber von Wilmes über Krisen-PR präsentiert582 und im Web veröffentlicht.583 Wilmes lud 437 Fachanwälte, die er als „sogenannte Promianwälte“ charakterisiert, zur Teilnahme ein. 114 Strafverteidiger beteiligten sich, der Rücklauf betrug damit 26,7 %, die Stichprobe soll repräsentativ gewesen sein. Die Teilnehmer mussten zu vier Thesen Stellung nehmen. Die These, dass die grösste Gefahr für die Fairness im Strafverfahren von der Justiz-PR der Staatsanwaltschaft ausgehe, findet immerhin bei 26 Verteidigern (22,8 %) Zustimmung. Dass mit dem Bekanntwerden der Ermittlungen die Vorverurteilung des Beschuldigten beginne, bestätigen 95 Verteidiger (85,6 %). 94 Verteidiger (83,9 %) sind der Meinung, der öffentliche Druck könne dazu führen, dass die Staatsanwaltschaft weder einstelle noch einen Strafbefehl erlasse, sondern Anklage erhebe. 80 Verteidiger (72,1 %) befürchten eine Beeinflussung der Berufsrichter durch die Medien. Die Umfrage von 2008 zur Rolle der Staatsanwaltschaften ist ebenfalls im Web zu finden.584 Ein juristischer Fachverlag hatte die 70 „besten“ Strafverteidiger aus 34 Kanzleien ermittelt. Welche Kriterien für die Aus579  Heer

157. http: /  / www.wilmes-kommunikation.de (9.4.13). 581  Gerhardt, Strafverteidigung, 1667, Rdn. 2. 582  Wilmes, Krisen-PR, 102 f. 583  Siehe: http: /  / www.pressetext.com / news / 20060104002 (9.4.13); http: /  / www. openpr.de / news / 73358 / Deutschlands-Strafverteidiger-Richter-sind-nicht-objektiv. html (9.4.13). 584  Siehe: http: /  / www.wilmes-kommunikation.de / wilmes_auswertung_strafrecht. pdf (9.4.13). 580  Siehe:



6.4. Sind die Ergebnisse empirischer Forschung für das Recht relevant? 131

wahl relevant waren, wird nicht gesagt. Wilmes lud diese Verteidiger ein, fünf Fragen zu beantworten. 21 Verteidiger nahmen an der Umfrage teil, was einer Rücklaufquote von 30 % entspricht. 10 Teilnehmer sind davon überzeugt, dass die Staatsanwaltschaft gezielt Informationen weiterreiche, um den Beschuldigten unter Druck zu setzen. Und 13 Verteidiger meinen, dass sich ihre Klienten auf einen ungünstigen Deal einlassen, nur weil sie das Medieninteresse fürchten, auch wenn sie sich für unschuldig halten. Besonders diese zweite Umfrage genügt streng wissenschaftlichen Ansprüchen nicht. Die Zahl der befragten Verteidiger ist zu gering, die Angabe von Prozentzahlen ist deshalb sinnlos. Ausserdem scheinen mir die Fragen ziemlich suggestiv zu sein, ein Beispiel: Gerade prominente Beschuldigte fürchten das gewaltige Medieninteresse. Die Gefahr ist gross, dass sie sich aus diesem Grund auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einlassen, um eine Verfahrenseinstellung gegen Auflagen zu erreichen – selbst dann, wenn sie von ihrer Unschuld überzeugt sind. Wie bewerten Sie diesen Zusammenhang? Welche Antwort trifft den Kern: Das ist die Regel. 13 (62 %)

Solche Deals nehmen zu. Sie sind jedoch eine Schande für unser Rechtsystem. [sic!] 7 (33 %)

sowohl als auch 0

Ich möchte mich dazu nicht äussern. 1 (5 %)

Immerhin scheint doch ein Trend erkennbar: Die Staatsanwaltschaften scheinen bei den Verteidigern kein grosses Vertrauen zu geniessen. Wie lässt sich das erklären? Natürlich empfindet sich der Verteidiger schon von seiner Funktion her als ein Gegner der Staatsanwaltschaft. Und vielleicht wird er diese Rolle auch noch etwas übertreiben, vor allem wenn er auf solch suggestive Weise dazu eingeladen wird.

6.4. Sind die Ergebnisse empirischer Forschung für das Recht relevant? Sozialwissenschaftler bedauern es oft, dass ihre Befunde auf wenig Echo in der Rechtswissenschaft stossen und keine Anwendung in der Rechtspraxis finden. Aber nicht nur Juristen und Richter nehmen eine skeptische Haltung gegenüber den Sozialwissenschaften ein, auch Sozialwissenschaftler selber tun sich manchmal schwer mit ihrer eigenen Zunft. Sie kritisieren methodische Mängel und vor allem die ökologische Validität, die Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf die reale Welt. In jüngster Zeit haben Skandale um sozialwissenschaftliche Studien von sich reden gemacht: Forscher frisieren und erfinden Daten, sie werfen Da-

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6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

tensätze raus, damit die Hypothesen bestätigt werden können.585 Wenn eine Hypothese falsifiziert werden müsste, wird die Studie gar nicht erst publiziert. 6.4.1. Skepsis der Juristen „The resistance of law and lawyers against the use of psychology in law is well known.“ Justickis 228.

Juristen und Richter sind gegenüber den Sozialwissenschaften reserviert.586 Die rechtspsychologische Forschung zur Pretrial publicity hat im Grossen und Ganzen wenig praktische Wirkung gezeitigt.587 Auch Mark Schweizer stiess im Rahmen seiner Umfrage zu den Heuristiken von Schweizer Richtern auf Skepsis oder gar Ablehnung.588 Die Aussagepsychologie hingegen scheint weniger umstritten zu sein und wird vom Bundesgericht anerkannt.589 Gründe für mangelnde Anerkennung empirischer Forschung durch die Jurisprudenz gibt es vielerlei. Die beiden Disziplinen gehen Probleme und Fragen ganz unterschiedlich an:590 Das Recht sagt, was der Mensch tun oder lassen soll. Der Jurist orientiert sich an Normen und Werten, während Sozialwissenschaftler oft geradezu krampfhaft um Wertfreiheit bemüht sind. Sozialwissenschaftler wollen die Realität beschreiben, sie möchten generelle, allgemeingültige Aussagen machen. Sie untersuchen, welches Verhalten unter bestimmten Umständen wahrscheinlich ist. Das Recht beansprucht zwar auch allgemeine Geltung, doch in der Rechtsanwendung entscheidet der Jurist einen konkreten Einzelfall. Dem Strafrichter darf blosse Wahrscheinlichkeit nicht genügen, er muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (beyond reasonable doubts) beweisen, dass eine Tat begangen wurde und dass der Beschuldigte der Täter ist. Bleiben Zweifel, darf er nicht verurteilen. Juristen sind mit den Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung nicht vertraut, es fällt ihnen schwer, die Qualität einer Studie zu beurteilen. Die Glaubwürdigkeit der Sozialwissenschaftler kann beeinträchtigt werden durch die Tatsache, dass Forscher publizieren müssen, um ihre Karriere zu beför585  Siehe

zum Beispiel die Meldung der NZZ vom 9. November 2011, S. 9. Law and Human Behavior 1997, 567 ff.; Posey / Dahl 121; DeMatteo / Anumba 1, 10 ff. 587  DeMatteo / Anumba 17. 588  Schweizer 70, Rz. 176. 589  BGE 129 I 49, 58. 590  Justickis 228; Kapardis 5 ff. 586  Diamond,



6.4. Sind die Ergebnisse empirischer Forschung für das Recht relevant? 133

dern und bei der Verteilung von Forschungsgeldern dabei zu sein: publish or perish!591 Das Misstrauen der Juristen gegenüber den Ergebnissen empirischer Forschung ist deshalb nicht unberechtigt. Auch in den USA selber hat die Rechtspsychologie einen schweren Stand, trotz lebhafter Forschung und der Existenz einer renommierten Fachzeitschrift.592 Die Erkenntnisse über Pretrial publicity haben in der amerikanischen Gerichtspraxis wenig Anwendung gefunden.593 Nicht nur böse Zungen, sondern anerkannte Koryphäen sagen, dass ein Jurist oder Richter die sozialwissenschaftliche Forschung nur dann zitiert, wenn sie seinen eigenen Standpunkt stützt.594 Dass Richter der sozialwissenschaftlichen Forschung kritisch gegenüberstehen, heisst nicht, dass Strafverteidiger nicht davon Gebrauch machen können. Wenn der Rechtsanwalt Public Relations betreibt, sollte er die Ergebnisse von Rechtspsychologie und Kommunikationsforschung nicht ausser Acht lassen – zum Nutzen seines Klienten. 6.4.2. Fragliche ökologische Validität „… die Trägheit des blinden Glaubens, dass das, was (manchmal) in der Physik funktioniert, auch in der Rechtspsychologie funktionieren müsse …“ Konečni / Ebbesen, Gruppendynamik 1991, 185.

Die Methoden der Sozialwissenschaft sind nicht über jeden Zweifel erhaben, nicht einmal unter Sozialwissenschaftlern selber. Ob ausgeklügelte Studiendesigns und statistische Verfahren es wirklich ermöglichen, Aussagen über die soziale Welt zu treffen, wird in der Fachwelt rege diskutiert. Die Rechtspsychologen Vladimir J. Konečni und Ebbe B. Ebbesen, die an der Universität von San Diego lehrten, waren nicht die einzigen, welche die Gültigkeit empirischer rechtspsychologischer Forschung, deren Validität, in Frage stellten. Der hohe Forschungsaufwand stehe in keinem Verhältnis zur „relativen Bedeutungslosigkeit“ vieler Studienergebnisse.595 Besonders umstritten sind die Simulationsexperimente, die in der amerikanischen Jury-Forschung so beliebt sind; zwei Drittel der Studien sind Simulationsexperimente.596 Als Versuchspersonen fungieren in den meisten 591  Schweizer

72, Rz. 182. and Human Behavior, offizielles Organ der American Psychology-Law Society, seit 1977. 593  Siehe zum Beispiel Lockhart v. McCree, 476 U.S. 162 (1986), 168 ff. 594  Kerr / Bray 356; Costanzo / Krauss 26; Killias / Kuhn / Aebi 21, Rz.  139. 595  Konečni / Ebbesen, Gruppendynamik 1991, 178. 596  Nach Devine 8. 592  Law

134

6. Die Sicht der Sozialwissenschaften

Experimenten Studenten.597 Gerade Psychologiestudenten, die im Lauf ihrer Ausbildung obligatorisch an mehreren Experimenten teilnehmen müssen – man kann von einem sanften Zwang zur Teilnahme sprechen – durchschauen den Zweck eines Experiments schnell.598 So wird das Experiment verfälscht. Die „Geschworenen“ wissen zudem genau, dass ihre Schuld- oder Freisprüche keine Konsequenzen haben.599 Fiktive Fallschilderungen sind nicht zu vergleichen mit realen komplexen Fällen. Die Präsentation der Prozesse ist unrealistisch, es fehlt an Einzelheiten und Details, es fehlt die Mischung zwischen irrelevantem und relevantem Material. Durch die rudimentären, holzschnittartigen Fallschilderungen wird das Studiendesign durchsichtig und damit der Zweck des Experiments vereitelt. Wichtige Verfahrenselemente wie Hauptverhandlung und Beratung werden weggelassen oder drastisch verkürzt.600 Damit werden Gruppenprozesse ignoriert und die Bedeutung von Kommunikation und Interaktionen verkannt.601 Simulationsexperimente haben in der Luft- und Raumfahrt ihren Sinn. Sie werden aus den gleichen Gründen benutzt wie in den Sozialwissenschaften: sie sind billig und bequem. Dazu haben sie den Vorteil, dass sie gegenüber Trial and error das Leben von Piloten und Astronauten nicht gefährden. Da es um physikalische, „harte“ Tatsachen geht, können die Ergebnisse praktisch vollständig auf die reale Welt übertragen werden. Die Sozialwissenschaften sind „weiche“ Wissenschaften, es ist fraglich, ob Methoden, die in den Naturwissenschaften entwickelt wurden, ebenfalls zum Ziel führen. Soziale Situationen sind zu komplex, als dass sie experimentell simuliert werden könnten.602 Umfragen haben ebenfalls ihre Tücken. Dabei können zwar ehemalige Geschworene oder „echte“ Richter befragt werden. Doch Geschworene dürfen nicht immer, und Berufsrichter wollen nicht immer. Aufsichtsbehörden und Steuerzahler dürften wenig Verständnis dafür haben, dass Richter in ihrer Arbeitszeit Fragebögen ausfüllen, statt sich ihrem Kerngeschäft zu widmen. Beschränkt wird die Aussagekraft von Interviews dadurch, dass man nicht wissen kann, ob die Befragten ehrlich sind, ob ihre Angaben zutreffen oder ob sie sich selber richtig einschätzen können. Das Problem 597  Diamond, Law and Human Behavior 1997, 563; Kerr  / Bray 329; DeMatteo /  Anumba 13; Pöschl / Döring 103; nach Kapardis 181 sollen nur 11 % aller Experimente mit „richtigen“ Geschworenen gemacht worden sein. 598  Huber 191 ff. 599  Kerr / Bray 329 f., DeMatteo / Anumba 14. 600  Diamond, Law and Human Behavior 1997, 564 f. 601  Löschper 23. 602  Konečni / Ebbesen, Gruppendynamik 1991, 179; Kerr / Bray 337; DeMatteo / Anumba 15.



6.4. Sind die Ergebnisse empirischer Forschung für das Recht relevant? 135

der sozialen Erwünschtheit darf nicht vernachlässigt werden: Richter werden nur ungern zugeben, dass sie ihr Urteil nicht auf Grund sorgfältiger und eingehender Abwägung aller Umstände in richterlicher Weisheit fällen, sondern dass der Antrag des Staatsanwalts als Richtwert dient. Eine Studie ist intern valid, wenn das Messresultat, die abhängige Variable, wirklich auf die Ausprägungen der unabhängigen Variable zurückzuführen ist. Extern valid ist die Studie, wenn von der Stichprobe auf die Grundgesamtheit verallgemeinert werden kann. Das grösste Problem in der So­ zialpsychologie ist aber die ökologische Validität: Wir wissen nicht mit Sicherheit, ob das Studienresultat nur für die künstliche Situation gilt, die wir mit Experiment oder Umfrage geschaffen haben, oder ob wir daraus auf die realen Verhältnisse schliessen dürfen. Für den speziellen Bereich der Pretrial publicity können wir zudem nicht wissen, ob die Befunde der amerikanischen Jury-Forschung auch für die kontinental-europäischen Rechtssysteme Geltung haben. Einige Autoren vertreten diese Auffassung;603 andere sehen das mindestens als fraglich an.604 Wenn im Zentrum einer Studie die kognitiven Fähigkeiten von Menschen und die Informationsverarbeitung stehen, sind die Befunde vermutlich generalisierbar.605 So werden nicht nur amerikanische Richter typischen Denkfehlern unterliegen, sondern auch die Richter in Europa und sogar in der Schweiz! Deshalb müssen wir die Forschungsergebnisse kritisch, mit Vorsicht, Bescheidenheit und Distanz zur Kenntnis nehmen. Ihre Bedeutung darf nicht überschätzt werden. Aber wir haben nichts Anderes oder Besseres. Schon Konfuzius soll gesagt haben, es sei besser, ein kleines Licht anzuzünden als über die grosse Dunkelheit zu fluchen.606

603  Kette 36 ff.; Greene / Ellis 185 f.; sinngemäss auch Niehaus / Englich / Volbert 664; Pöschl / Döring 94. 604  Löschper 21; Hupfeld-Heinemann / Oswald 477; Kepplinger / Zerback, Publizistik 2009, 217; Kepplinger, Öffentlichkeit, 154. 605  Englich, Heuristic strategies, 307. 606  Nach Rehbinder, Rechtssoziologie, 20, Rz. 24.

7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit Die Rechtsbeziehung zwischen Klient und Anwalt unterliegt dem Auftragsrecht. Der Klient bestimmt im Rahmen des Auftragsverhältnisses, auf welche Art und Weise der Anwalt seine Arbeit ausführen soll. Notwendige Voraussetzung für die Öffentlichkeitsarbeit ist jedenfalls das Einverständnis des Klienten. Fast immer ist es dem Klienten lieber, wenn jede Publizität vermieden wird. Der durchschnittliche Strafverteidiger kann die Fälle, in denen eine Öffentlichkeitsarbeit überhaupt in Frage kommt, wohl an einer Hand abzählen. Meistens wird er sie nur als Reaktion auf die Justiz-PR der Strafbehörden erwägen oder wenn die Medien durch Indiskretionen aufmerksam geworden sind. Noch seltener werden Verteidiger und Klient von sich aus den ersten Schritt an die Öffentlichkeit tun. Es gibt Rechtsanwälte, welche jede Publizität rundweg ablehnen, zum Beispiel Rechtsanwalt Lorenz Erni, wie er der Weltwoche gegenüber bekannte.607 Die meisten Anwälte halten eine Zusammenarbeit mit den Me­ dien mindestens für riskant und raten zu Vorsicht und Zurückhaltung.608 Von sich aus soll der Verteidiger keine Medienkontakte suchen. Der deutsche Rechtsanwalt Wolf Schiller empfiehlt höchstens eine beschränkte Zusammenarbeit zur Schadensbegrenzung, etwa um Falschmeldungen der Medien richtig zu stellen, eine Vorverurteilung zu kompensieren oder eine einseitige Darstellung zu relativieren.609 Auch Anwälte, die Medienkontakten nicht grundsätzlich abgeneigt sind, sind sich einig darin, dass Öffentlichkeits- und Medienarbeit nur in seltenen Fällen von Nutzen ist. Hochschullehrer und Rechtsanwalt Daniel Jositsch kann sich bloss zwei Situationen vorstellen, in denen Öffentlichkeitsarbeit überhaupt gerechtfertigt ist:610 – wenn durch unwidersprochene Medienberichterstattung die Gefahr einer unerwünschten Beeinflussung des Gerichts besteht 607  Nach

Markus Gisler in der Weltwoche vom 28. April 2011, S. 20. ZStrR 2004, 121 ff.; Baumgartner 321, Rz. 7.55; Gatzweiler 212; Wehnert, StV 2005 Beilage, 179. 609  W. Schiller, StV 2005 Beilage, 178. 610  Jositsch, ZStrR 2004, 122. 608  Jositsch,



7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit137

– oder wenn ein negatives Bild in der Öffentlichkeit korrigiert werden soll und es zweckmässig ist, dass die Klarstellung durch den Verteidiger erfolgt. Rechtsanwalt Frank Th. Petermann nennt folgende Konstellationen:611 – wenn sich ein Fall von den Medien zu einer personalisierten und emo­ tionalisierten Story ausbauen lässt, – wenn ein Verfahrensbeteiligter bereits im Rampenlicht steht oder dies mindestens zu befürchten ist, – wenn prominente Personen oder Unternehmen betroffen sind, – wenn eine Berufsgruppe, etwa die Manager, als Ganzes angegriffen wird, – bei „Zeitgeistdelikten“, dazu gehören beispielsweise Umweltdelikte oder Insidergeschäfte. Eindeutig befürwortend äussert sich der Berliner Rechtsanwalt Wolf Albin: Der Schutz der Reputation sei eine Aufgabe des Anwalts und könne mit rechtlichen Mitteln allein nicht gelingen.612 Und befürwortend der Kommunikationsberater Frank Wilmes, der als Inhaber eines einschlägigen Unternehmens natürlich auch Eigeninteressen vertritt: „Public Relations gehört zum notwendigen Handwerkszeug anwaltlichen Handelns.“613 Der Anwalt darf nicht zu hohe Erwartungen haben, das wäre unrealistisch. Er ist naiv, wenn er annimmt, die Medien steuern und kontrollieren zu können. Im besten Fall darf er hoffen, das von der Staatsanwaltschaft gezeichnete einseitige Bild seines Klienten durch ausgewogenere Bericht­ erstattung zu relativieren und eventuell zu korrigieren. Litigation-PR gehört nicht zum Kerngeschäft des Anwalts. Selten erfüllt er die Anforderungen für erfolgreiche Medienarbeit in eigener Person. Er kennt den Medienbetrieb nicht, es fehlt ihm an Medienkompetenz. Deshalb fährt der Anwalt vielleicht am besten, wenn er eine ausgewiesene Fachperson beizieht.614 Die Zusammenarbeit von Anwälten mit Kommunikationsberatern ist auf Grund der unterschiedlichen Berufskultur anspruchsvoll: Anwälte sind konservativ, vorsichtig, zurückhaltend, verschwiegen. Sie wissen, dass alles was sie sagen, gegen den Klienten verwendet werden kann. Sie befürchten den Verlust prozessualer Vorteile durch Geschwätzigkeit. Kommunikationsspezialisten hingegen möchten Glaubwürdigkeit durch Transparenz schaffen. Der schwierigen Zusammenarbeit von Anwalt und PR-Berater haben Hartwin 611  Petermann,

zzz 2006, 18. AnwBl 2010, 312. 613  Wilmes, StraFo 2007, 15. 614  Baumgartner 322, Rz. 7.56; Hafter 544 f., Rz. 3177 ff. 612  Albin,

138

7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Möhrle, Dozent am Schweizerischen PR-Institut SPRI, und Knut Schulte, Rechtsanwalt und Unternehmensberater, einen Ratgeber gewidmet.615 Worauf muss der Verteidiger achten, wenn er in einem speziellen Fall zum Schluss kommt, dass eine Zusammenarbeit mit den Medien von Nutzen ist? Was soll er tun, was muss er vermeiden? Kann er beide Zwecke der Litigation-PR, den Schutz der Reputation und die Beeinflussung der Strafbehörden, mit ein- und derselben Taktik erreichen, oder kann er ein Ziel nur auf Kosten des anderen verfolgen? Tatsächlich ist es gar nicht so leicht, in der Praxis Beispiele für erfolgreiche Medienarbeit zu finden. Das mag damit zusammenhängen, dass diese Arbeit zum grössten Teil nicht offen erfolgt, sondern hinter den Kulissen inszeniert wird. Es geht hier nicht darum, eine Praxisanweisung zu geben. An Publika­ tionen über Krisenmanagement und Krisenkommunikation besteht kein Mangel. Zum Thema Litigation-PR sind bereits mehrere Ratgeber erschienen, auch in deutscher Sprache. Darin werden einzelne Taktiken und Techniken beleuchtet, beispielsweise wie der Anwalt auf Anfragen der Medien am besten reagieren oder was er bei Hintergrundgesprächen616 beachten soll. Auch finden sich Checklisten für das Medienkonzept.617 Den Wert und Nutzen solcher Standardstrategien und Checklisten bezweifeln allerdings Engel und Scheuerl, die selber einen Ratgeber geschrieben haben: Jeder Fall sei einzigartig. Die Autoren preisen stattdessen „Situationsintelligenz“ und gesunden Menschenverstand.618 Einig sind sich aber alle Autoren darin, dass die Verweigerung gegenüber den Medien ein Fehler sei, das gelte ebenso für Dementis, Beschwichtigungen, Salamitaktik oder gar Lügen.619 Im Folgenden werden ein paar ausgewählte Strategien der Litigation-PR vorgestellt, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Im Übrigen darf man die Tipps, die in den Ratgebern empfohlen werden, nicht überschätzen. Taktik ist sinnlos, wenn das zentrale Kriterium für die Wirksamkeit der Kommunikation nicht erfüllt ist – Glaubwürdigkeit. Der Anwalt muss zudem berücksichtigen, dass die Öffentlichkeit bestimmte Erwartungen an sein Auftreten hat und dass das Standesrecht nicht jedes beliebige Vorgehen erlaubt. 615  Hartwin Möhrle / Knut Schulte (Hrsg.) Zwei für alle Fälle: Handbuch zur optimalen Zusammenarbeit von Juristen und Kommunikatoren, Frankfurt am Main 2011. 616  Bei Hintergrundgesprächen verpflichtet sich der Journalist, die erhaltenen Informationen nicht tel quel zu publizieren, sondern nur zum eigenen Verständnis zu nutzen. 617  Zum Beispiel bei Jositsch, ZStrR 2004, 134; Haggerty 115 ff. 618  Engel / Scheuerl 6, Rdn. 19. 619  Engel  / Scheuerl 44, Rdn. 133; Haggerty 61, 114; Petermann, zzz 2006, 8 f.; Heinrich 176.



7.1. Strategien139

7.1. Strategien „Am besten ist Litigation-PR, wenn man sie nicht bemerkt.“ Matthias Prinz, in einem Interview mit Marie v. Baumbach, Planet Interview, 24. März 2011.620

Diese Meinung vertritt auch Volker Boehme-Nessler, der sich auf das Thema Litigation-PR spezialisiert hat.621 Besonders die Überzeugungsarbeit, die auf das Gericht zielt, darf nicht offensichtlich sein, da sonst die Unabhängigkeit der Richter in Frage steht. Angezeigt ist also ein subtiles Vorgehen. Doch macht die erforderliche Heimlichkeit die Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Verteidigers zu einem schwierigen Forschungsgegenstand. Wenn sich Litigation-PR nicht beobachten oder nachweisen lässt, kann man keine Aussagen über die Wirkung bestimmter Strategien treffen. Das Einverständnis des Klienten ist unbedingte Voraussetzung für Litigation-PR. Damit der Klient zustimmen kann, muss der Anwalt den Klienten auf eine mögliche Gefährdung seines Rufs hinweisen.622 Er soll den Klienten auf die Chancen, aber auch auf die Risiken einer Öffentlichkeitsarbeit aufmerksam machen. Wenn der Klient Öffentlichkeitsarbeit wünscht oder ihr zustimmt, sollen Anwalt und Klient eine ausdrückliche Vereinbarung schliessen und eventuell ein Medienkonzept aufsetzen. Der Klient soll damit einverstanden sein, eigene Medienkontakte zu unterlassen.623 Anwalt und Klient müssen an einem Strick ziehen, der Klient darf seinem Vertreter nicht in den Rücken fallen. Auf die besonderen Probleme bei der Zusammenarbeit mehrerer Anwälte weisen Bernsmann und Gatzweiler hin; einer der Anwälte soll hier als alleiniger Medienbeauftragter wirken.624 Franz Zeller, Lehrbeauftragter an der Universität Basel, nennt für die Medienarbeit drei mögliche Strategien:625 Die passive Strategie ist der Normalfall: Der Anwalt kümmert sich nicht um die Medien und die Öffentlichkeit, er gibt auf Anfragen von Journalisten keine Antwort. Mit der Verhinderungsstrategie benutzt der Anwalt die rechtlichen Möglichkeiten, die gegen eine Vorverurteilung zur Verfügung stehen, er verlangt beispielsweise eine Gegendarstellung von einer Zeitung oder stellt ein Ausstandsbegehren gegen den Staatsanwalt.

620  Siehe:

http: /  / planet-interview.de / interview-matthias-prinz-24032011.html (9.4.13). Einleitung, 10. 622  Petermann, zzz 2006, 8. 623  Jositsch, ZStrR 2004, 129, 134. 624  Bernsmann / Gatzweiler 266 ff., Rz.  1109 ff. 625  Zeller, plädoyer 2000 / 6, 23 f. 621  Boehme-Nessler,

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7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Mit der aktiven Strategie schaltet sich der Anwalt in die öffentliche Kommunikation ein: Er übt Kritik an den Behörden, korrigiert oder relativiert die Vorverurteilung, weckt Zweifel an der Darstellung der Staatsanwaltschaft. Ein noch offensiveres, aber delikates Vorgehen wählt der Anwalt, wenn er selber an Öffentlichkeit und Medien gelangt. Damit kann er die Behörden unter einen gewissen Rechtfertigungsdruck setzen.

Hat sich der Verteidiger darauf beschränkt, auf Medienanfragen zu reagieren, ist er bereits in der Defensive. Das kann ein Nachteil sein, haben doch die Medien vermutlich von der Staatsanwaltschaft oder anderen Prozessbeteiligten bereits Informationen erhalten, welche den Verdächtigen in einem schlechten Licht präsentieren. Deshalb plädieren einige Befürworter der Litigation-PR nicht nur für eine aktive, sondern für eine geradezu offensive Strategie. Der Anwalt solle selber den ersten Schritt auf die Medien hin machen, nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Ines Heinrich hält eine offensive Strategie dann für gerechtfertigt, wenn ein allfälliger Reputationsschaden schwerer wiegt als ein verlorenener Prozess.626 Das wird in der Regel vor allem bei der Vertretung eines Unternehmens der Fall sein. Ein Reputationsschaden bedroht die materielle Existenz des Unternehmens an sich, was bei einer Einzelperson selten der Fall ist. Zudem steht die Öffentlichkeit gerade einem grossen Unternehmen oft kritischer gegenüber als einem einzelnen Menschen, der gestrauchelt ist. Es ist klüger, von sich aus zu informieren, als zuzuwarten, bis ein Skandal bekannt wird, etwa durch einen Whistleblower. Die öffentliche Empörung ist grösser, wenn auch nur der Anschein entsteht, dass die Verantwortlichen etwas verheimlichen oder beschönigen wollen und mit Informationen knausrig sind.627 Nachträgliche Rechtfertigungen und Entschuldigungen wirken unehrlich, ebenso das als Salamitaktik bezeichnete Vorgehen, nämlich jeweils nur gerade so viel zuzugeben, wie bereits bekannt ist. Informieren die Verantwortlichen immer erst dann, wenn sie durch die Entwicklung dazu gezwungen werden, kann das den Ruf des Unternehmens weit mehr beeinträchtigen als der Anlass zur Krise selber. Ein gewisses Mass an Selbstkritik erhöht die Glaubwürdigkeit. Zeigen sich die Verantwortlichen allzu selbstbewusst, werden sie als uneinsichtig empfunden, und die Öffentlichkeit ist erzürnt.628 Ein Pluspunkt der offensiven Strategie ist das Timing.629 Der Verteidiger kann den Zeitpunkt für die Medienkontakte in gewissen Grenzen selber bestimmen. 626  Heinrich

181. 2. 628  Gullotti / Binz, Anwaltsrevue 2010, 361 f.; Nobel 2, 350 f. 629  Heinrich 221 f.; Engel / Scheuerl 40 f., Rdn. 123 ff. 627  Nobel



7.1. Strategien141

Eine offensive Strategie ist jedenfalls gefragt, wenn der Anwalt die Öffentlichkeit zur Mithilfe bei der Suche nach Zeugen oder Beweismitteln auffordert. Rechtsanwalt und Hochschullehrer Rainer Hamm erläutert dies anhand eines Falls, bei dem er selber Verteidiger war. Seine Klienten waren zwei Piloten und ein Ingenieur der Lufthansa. Sie mussten sich für einen Flugzeugunfall, der sich 1974 in Kenia ereignet hatte, wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Die Beschuldigten brachten zu ihrer Entlastung vor, der Unfall sei durch technisches Versagen, nämlich eine falsche Anzeige von Kontrollleuchten, verursacht worden. Hamm gelang es durch Aufrufe in den Medien, andere Piloten als Zeugen beizubringen, die bestätigten, dass ihnen das Gleiche auch schon passiert sei. Damit konnte Hamm nachweisen, dass sich die Piloten korrekt verhalten hatten. Sie wurden freigesprochen.630 Auch der Verein, der zur Unterstützung von Bruno Zwahlen gegründet worden war (siehe S. 38), suchte mit Hilfe eines Inserats nach Zeugen, die im Revisionsverfahren möglicherweise zugunsten des Verurteilten aussagen konnten.631 7.1.1. Sprache, Bilder, Emotionen, Humor „In den APO-Prozessen der sechziger Jahre hängten Angeklagte wie die K ­ ommu­ narden Fritz Teufel oder Rainer Langhans mit dreisten und phantasievollen Sprüchen und Kabinettstückchen ihre Verteidiger bei der Sympathiewerbung in- und ausserhalb des Gerichtssaales deutlich ab.“ Wagner 26.

Litigation-PR muss – je nach Zielgruppe – anders beschaffen sein. Will man Berufsrichter überzeugen, so ist sachliche und präzise Information am Platz. Eine emotionalisierte Darstellung würde Abwehr zur Folge haben. Zielt man in erster Linie auf den Court of public opinion, muss die Botschaft anders gestaltet sein, sie muss emotional ansprechen.632 In Ratgebern und Handbüchern werden Tipps für die Kommunikation rechtlicher Sachverhalte gegeben, die zum Teil durchaus empirisch erhärtet sind. Will der Anwalt, dass die Medien seinen Beitrag übernehmen, so muss er ihn selber mediengerecht formulieren.633 Er muss auf möglichst einfache, klare und verständliche Sprache achten, Fachausdrücke sind tabu.634 Die 630  Hamm

75 ff.

631  Maurer / Neuhaus / Strebel / Wuelser

29. zzz 2006, 6. 633  Heinrich 115. 634  Gullotti / Binz, Anwaltsrevue 2010, 361 f. 632  Petermann,

142

7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Chance der Verteidigung liegt darin, dass Medienschaffende zunehmend unter Zeitdruck sind. Die Journalisten sind deshalb noch so froh, wenn man ihnen die Arbeit abnimmt, wenn sie von der Verteidigung – oder dann eben von der Anklage – „pfannenfertiges“ Material erhalten. Wolff empfiehlt eine Medienmappe, die aufbereitete und schnell lesbare Informationen enthält, „frei von hässlichem Juristendeutsch“.635 Noch besser, wenn der Anwalt nicht nur die trockene Fachsprache vermeidet, sondern auf die Kraft der Bilder vertraut (siehe auch S. 41 f.). Visuelle Informationen sind unmittelbar verständlich und können Emotionen auslösen, sie sind wirkungsvoller und werden leichter erinnert als bloss verbale Informationen.636 Dass anschauliches Material einen grossen Einfluss haben kann, macht der Mordprozess gegen O. J. Simpson deutlich (siehe S. 165 f.): Die Geschworenen liessen sich offensichtlich davon beeindrucken, dass sich Simpson vergeblich abzumühen schien, den blutverschmierten Handschuh überzuziehen. Sein Anwalt Johnnie Cochran wusste dazu noch den zündenden Reim, mit dem er den Geschworenen auf die Sprünge half: „If the glove doesn’t fit, you must acquit.“637 Eine weitere Taktik, die auf die Emotionen des Publikums zielt, besteht darin, den Täter zum Opfer zu machen, zum Opfer der Umstände, des Elternhauses, des bösen Chefs, der verständnislosen Ehefrau … So habe es die Verteidigung von Ex-DDR-Staatschef Erich Honecker verstanden, bei den Medien Sympathie und Mitleid zu wecken. Sie habe den verdienstvollen einstigen Kämpfer gegen das faschistische Hitler-Regime als alten, kranken Mann dargestellt.638 Beim Gericht hingegen dürfte diese Taktik nicht besonders beliebt sein. Mit Witz und Humor kann man Sympathien wecken, Menschen mögen jemanden, der sie zum Lachen bringt. Der unterdessen verstorbene Anarchist Fritz Teufel reagierte auf die Aufforderung des Richters, sich zu erheben, mit der Antwort: „Wenn’s der Wahrheitsfindung dient …“ Damit soll Teufel mehr Sympathien gesammelt haben, als es der smarteste Verteidiger hätte erreichen können.639

635  Wolff,

Medienarbeit, 53. 118; Friedrichsen / Gerhardt, 1681 ff., Rdn. 37 ff.; Holzinger / Wolff 107; Frey 18; Boehme-Nessler, BilderRecht, 69. 637  Nach Schulte 154. 638  Hénard 78. 639  Wagner 26. 636  Anderson



7.1. Strategien143

7.1.2. Eigene Initiative des Beschuldigten: Rappaz, Meier 19, Ackermann Prominente haben oft bereits ihre PR-Berater; auch grosse Unternehmen haben ihre hauseigene PR-Abteilung. Zwar kann sich die Fachkompetenz von Experten als Vorteil erweisen. Doch mangelt es den professionellen Interessenvertretern manchmal an Vertrauenswürdigkeit. Ihre Statements wirken selten spontan und ehrlich. Die gängige PR-Taktik ist dem Publikum bekannt und wirkt abgedroschen. Eine offensichtlich von Beratern verfasste Botschaft verliert an Glaubwürdigkeit, und Glaubwürdigkeit ist zentral für die Wirkung. Auch Rechtsanwälte haben in der Gesellschaft nicht unbedingt den Ruf, ehrlich zu sein. Das Publikum nimmt ihre Verlautbarungen mit einem gewissen Misstrauen wahr, weiss es doch, dass Anwälte – ebenso wie PR-Beauftragte – einseitig die Interessen ihres Klienten vertreten, ja, nach der Bundesgerichtspraxis sogar vertreten müssen,640 und nicht unbedingt objektiv informieren. Das schränkt ihre Glaubwürdigkeit ebenfalls ein. Seriöse Medien werden weder die Aussagen eines Anwalts noch diejenigen eines PR-Fachmanns blauäugig hinnehmen, sondern eine kritische Haltung einnehmen. Deshalb sind einige Autoren der Meinung, dass sich der Beschuldigte selber, ohne die Vermittlung des Verteidigers, den Medien stellen und sich dabei eventuell im Hintergrund von einem Kommunikationsfachmann beraten lassen solle.641 Bei der Vertretung von Unternehmen solle weder der Verteidiger noch ein PR-Mitarbeiter an die Öffentlichkeit treten; Krisenkommunikation sei Chefsache.642 Dass sich ein Beschuldigter nicht so geschliffen ausdrücken kann, schadet der Glaubwürdigkeit nicht, im Gegenteil, eine gewisse Unbeholfenheit wirkt charmant. Im Gerichtssaal der Öffentlichkeit kann der Beschuldigte damit nur gewinnen. Die ehemalige deutsche Kirchenratsvorsitzende Margot Kässmann wurde im Februar 2010 mit Alkohol am Steuer erwischt. Sie entschuldigte sich öffentlich, erklärte ihren Rücktritt und erwarb sich damit die Achtung von Medien und Publikum. Mit ihrer Flucht nach vorne nahm sie ihren Kritikern den Wind aus den Segeln. Ein Jahr später wollte ihr die Europäische Kulturstiftung den Kulturpreis für Zivilcourage verleihen, den Frau Kässmann jedoch nicht annahm. Der Spiegel hält die 640  BGE

138 IV 161, 164. Beispiel K. Schiller, Anwaltsrecht, 399, Rz. 1611; anders Wehnert, StV 2005 Beilage, 179. 642  Gullotti  / Binz, Anwaltsrevue 2010, 361; Heinrich 123; Engel / Scheuerl 58 f., Rdn. 157. 641  Zum

144

7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Geschichte für ein gutes Beispiel, wie man eine Krise in einen Triumph verwandelt.643 Der Walliser Hanfbauer Bernard Rappaz war wegen Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz und anderer Delikte zu einer relativ langen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Gefängnis versuchte er mehrmals, mit Hungerstreiks eine Unterbrechung des Strafvollzugs zu erzwingen.644 Im Zusammenhang mit der angeordneten, aber nicht durchgeführten Zwangsernährung befassten sich auch die schweizerischen Gerichte und der EGMR mit dem Fall. Die Medien publizierten in den Jahren 2010 und 2011 zahlreiche Meldungen, redaktionelle Beiträge und auch Leserbriefe zum Thema. Rappaz konnte illustre Unterstützung mobilisieren, von Jean Ziegler, Daniel Cohn-Bendit und vom französischen Bauernführer José Bové.645 Anlässlich der Behandlung seines Begnadigungsgesuchs sollen sich vor dem Parlamentsgebäude Anhänger von Rappaz und „Hanfaktivisten“ zu einer Demonstration eingefunden haben. Rappaz scheint sich in eigener Regie um die Medienarbeit zu kümmern, während sein Anwalt sich öffentlich nicht exponiert. Begnadigungsgesuche, für deren Behandlung nicht die Gerichte, sondern die Parlamente zuständig sind, werden übrigens in der Schweiz fast durchwegs abgelehnt, so auch im Fall Rappaz.646 Erfolgreicher als Rappaz war eine andere Gefangene aus dem Kanton Waadt, obwohl darüber kaum berichtet wurde. Die 48jährige Frau musste eine mehrjährige Haftstrafe absitzen und verweigerte über 100 Tage lang das Essen. Ihr wurde eine Haftunterbrechung für sechs Monate zugestanden.647 Es könnte sein, dass sich gerade die Publizität für Rappaz hinderlich ausgewirkt hat. Der Staat darf ja nicht den Eindruck machen, sich erpressen zu lassen. Teilweise erfolgreich gestaltete sich die Öffentlichkeitsarbeit des Zürcher Polizisten und Whistleblowers Kurt Meier oder Meier 19 (1925–2006).648 In den 60er Jahren war er bei seiner Arbeit auf ungleiche Behandlung bei der Verfolgung von Verkehrsdelikten gestossen. Prominente und Verkehrssünder, die gute Beziehungen zu den Kaderleuten der Stadtpolizei hatten, wurden begünstigt; sie mussten keine Bussen bezahlen, ihren Führerausweis nicht abgeben, oder es wurde ihnen die Blutprobe erlassen. Nachdem seine Demar643  Siehe:  http: /  / www.spiegel.de / panorama / gesellschaft / europaeischer-kulturpreismargot-kaessmann-verweigert-auszeichnung-a-745703.html (9.4.13). 644  BGE vom 7. Dezember 2010, 6B_1022 / 2010. 645  NZZ vom 6. Dezember 2010, S. 9. 646  NZZ vom 19. November 2010, S. 11. 647  NZZ vom 19. November 2010, S. 11. 648  Paul Bösch, Meier 19: Eine unbewältigte Polizei- und Justizaffäre, Zürich 1997.



7.1. Strategien145

chen innerhalb der Stadtpolizei nichts gefruchtet hatten, wandte sich Meier 19 zuerst an das Büro gegen Amts- und Verbandswillkür, das Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler geschaffen hatte. Dort sah die Anwältin Gertrud Heinzelmann keine andere Möglichkeit, als sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Der Artikel „Sind die ‚Grossen‘ im Strassenverkehr privilegiert?“ erschien 1967 in verschiedenen regionalen Zeitungen. Meier 19 wurde wegen Amtsgeheimnisverletzung entlassen und strafrechtlich verurteilt.649 Meier 19 blieb hartnäckig. Er machte unzählige Eingaben, Strafanzeigen und Aufsichtsbeschwerden bei allen möglichen Amtsstellen bis hin zum Bundesrat. Mit Flugblättern, Vorträgen, Pressemitteilungen wandte er sich – mit Unterstützung wechselnder Bundesgenossen – unentwegt an die Öffentlichkeit. Es gelang ihm auch immer wieder, Unterstützung durch Prominente und Politiker zu erlangen. Sein Vorgehen war manchmal nicht über jeden Zweifel erhaben, so behauptete er, seine Vorgesetzten hätten den Zahltagsdiebstahl bei der Zürcher Stadtpolizei vertuscht. Der Polizeichef selber habe den Diebstahl der Löhne begangen. Meier 19 wurde deshalb auch noch wegen übler Nachrede verurteilt und musste eine Gefängnisstrafe absitzen.650 Der Zahltagsdiebstahl konnte nie aufgeklärt werden. Weil er Korruption und Vetterliwirtschaft bei der Polizei angeprangert hatte, wurde Meier 19 unfreiwillig zur Symbol- und Galionsfigur der Zürcher Jugendunruhen von 1968. Er fand auch in Paul Bösch einen Fürsprecher: Der Journalist des Tages-Anzeiger kritisierte in seinem 1997 veröffentlichten Buch das Vorgehen der Behörden gegen Meier 19 und die Vertuschung von Missständen bei der Polizei. 1998, mehr als dreissig Jahre nach seiner Entlassung, wurde Meier 19 vom Stadtrat teilweise rehabilitiert und erhielt eine – eher symbolische – Genugtuung von 50’000 Fr. Ein geänderter Zeitgeist und personelle Wechsel bei den involvierten Behörden mögen den Wandel mitbewirkt haben. Den Ausschlag hat aber wohl – wie im Fall Zwahlen (siehe S. 37 f.) – die Publikation eines engagierten Journalisten gegeben. 2001 wurde Meier 19 sogar die Ehre zuteil, Held eines Dokumentarfilms von Erich Schmid zu werden. Heldentum kann man Meier 19 nicht absprechen; sein Vorgehen mag manchmal ungeschickt gewesen sein, aber sein Durchhaltevermögen verdient Anerkennung. Mit Mut und Ehrlichkeit gewinnt der Beschuldigte das Vertrauen, den Respekt und die Sympathie der Öffentlichkeit. Die Strategie hat einen gewichtigen Nachteil: Wendet sich der Klient direkt an die Medien, geht er das Risiko ein, Äusserungen zu machen, die er besser unterlassen hätte. Dadurch kann er sich seine rechtliche Position verscherzen. Der Beschul649  BGE 650  BGE

94 IV 68. 101 IV 292; BGE 102 IV 176.

146

7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

digte ist zwar an die „Aussage“, die er gegenüber den Medien gemacht hat, nicht gebunden, doch beeinträchtigt es seine Glaubwürdigkeit, wenn er im Gericht den Sachverhalt anders darstellt. Der Verteidiger sollte deshalb die Auftritte seines Klienten im Hintergrund steuern und notfalls die Bremse ziehen. Ein Musterbeispiel für schlechte PR gab Josef Ackermann, ehemaliges Vorstandsmitglied der Mannesmann AG. Mit dem Victory-Zeichen tat er nach erfolgtem Freispruch im Mannesmann-Prozess (siehe S. 147 f.) seinen Sieg kund. Mit dieser ungeschickten und unbedachten Geste löste er in der Öffentlichkeit Empörung aus. Sein damaliger Verteidiger, Klaus Volk, sprach von einer „Katastrophe“.651 Wie gewieft ein Anwalt auch zu sein scheint, gegen Eigenmächtigkeit und Dummheit des Klienten ist kein Kraut gewachsen. Der Konzern erlitt einen beträchtlichen Imageverlust, der sich auch im Aktienkurs niederschlug.652 7.1.3. Lancieren von Beiträgen in der Fachpresse: die Mannesmänner Nicht nur die Massenmedien berichten über aktuelle Prozesse. Auch in Fachzeitschriften erscheinen manchmal Beiträge, in denen Fachleute zu einem Verfahren Stellung beziehen. Der Leserkreis ist natürlich ein anderer als derjenige der Boulevard-Presse. Mit einer Publikation in einer Fachzeitschrift wird direkt auf die Beeinflussung der Berufsrichter gezielt; Geschworene gehören nicht zum Publikum der Schweizerischen Juristenzeitung oder der Neuen Juristischen Wochenschrift. Doch gerade seriöse Magazine mögen sich nicht vor den Karren des Rechtsanwalts spannen lassen. Dadurch verlieren sie ihre Reputation. So veröffentlicht die Neue Juristische Wochenschrift keine Beiträge, denen eine Verfahrensbeteiligung zu Grunde liegt.653 Ein Schlaumeier, der einen Artikel in eigener Sache bzw. in der Sache eines Klienten mit Hilfe und unter dem Namen eines Kollegen unterzubringen versucht, hat vielleicht einmal Erfolg, wird sich aber bei den Redaktionen unbeliebt machen, sobald die Sache auffliegt. Irgend jemand aus der Fachgemeinschaft wird Bescheid wissen, wer dahinter steckt. Der gute Ruf des Anwalts ist dahin, und soviel ist ein Klient kaum wert. Auch beim Gericht kann der Schuss hinten hinaus gehen: „Es erkennt die Absicht und ist verstimmt.“654 651  Siehe: http: /  / www.focus.de / finanzen / news / tid-18439 / medien-einfluss-euer-eh ren_aid_506303.html (9.4.13). 652  Heinrich 194, Fn. 115. 653  Nach Neureither, AnwBl 2010, 313. 654  Neureither, AnwBl 2010, 314.



7.1. Strategien147

Rege diskutiert wurde in den Massenmedien und in der Fachliteratur der Fall Mannesmann.655 Dabei ging es um Wirtschaftskriminalität im grossen Stil. Die Mannesmann AG war ein vielseitig tätiger Industriekonzern, der 2000 durch ein britisches Unternehmen übernommen wurde. In diesem Zusammenhang hatten sich die Vorstandsmitglieder der Mannesmann, darunter Klaus Esser und Josef Ackermann, grosszügige, vertraglich nicht vereinbarte Sonderzahlungen im Gesamtbetrag von mehr als 200 Millionen DM ausrichten lassen. Die Medien bedienten sich noch so gerne des Klischees der nimmersatten und gierigen Manager, die sich auf Kosten der Firma sanierten. Stern-Redaktor Arne Daniels sprach von der „Selbstbedienung der Mannesmänner“.656 Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Untreue. Sie liess sich zu vorverurteilenden Bemerkungen gegenüber einem der Beschuldigten, Klaus Esser, hinreissen. Dieser erhielt später vom Land Nordrhein-Westfalen ein Schmerzensgeld von 10’000 € zugesprochen. Der Mannesmann-Prozess erregte Aufsehen wegen der Prominenz der Angeklagten und wegen der riesigen Summen, um die es ging. Das Verhalten der Beschuldigten wurde in der Öffentlichkeit als Symptom für den Niedergang der Moral im Wirtschaftsleben angesehen. Es herrschte die Erwartung vor, das Gericht solle Remedur schaffen. Die Medien nahmen Partei: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hielt es mit der Verteidigung und forderte Freisprüche, der Stern war tendenziell eher für die Verurteilung der Beschuldigten. Im Vorfeld des Prozesses liessen die „Parteien“ Stellungnahmen und „Gutachten“ in Fachzeitschriften veröffentlichen. Zahlreiche Artikel brachten die unterschiedlichen Auffassungen zum Ausdruck. Das Landgericht Düsseldorf sprach in seinem Urteil vom 22. Juli 2004 alle sechs Angeklagten frei mit der Begründung, deren Verhalten sei zwar in aktienrechtlicher Hinsicht pflichtwidrig, aber strafrechtlich nicht relevant gewesen. Bei der Urteilsverkündung stellte Richterin Brigitte Koppenhöfer ihrer mündlichen Urteilsbegründung ein persönliches Vorwort voran, ein ungewöhnliches Vorgehen. Sie beklagte sich darüber, dass die Medien versucht hätten, auf das Urteil Einfluss zu nehmen, und dass sie persönlich belästigt und bedroht worden sei. Das sei ihr bisher in den 25 Jahren, in denen sie als Richterin tätig gewesen sei, noch nie passiert. Kritisch erwähnte sie die in Medien und Fachzeitschriften erschienenen Stellungnahmen: „Weitere Rechtsexperten – u. a. angeblich unabhängige Wissenschaftler – haben mehr oder weniger umfangreiche, quasi gutachterliche Stellungnahmen öffentlich abgegeben, und ich musste mich nicht immer fragen, wer der 655  J. Jahn, ZRP 2004, 179 ff.; Daniels, ZRP 2004, 270 ff.; Huff, ZRP 2004, 136; Perron, ZStrR 2007, 180 ff.; Neuling 202 ff.; Danziger 307 ff. 656  Daniels, ZRP 2004, 271.

148

7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Auftraggeber war.“657 Die Stellungnahme der Richterin lässt auf eine Abwehrreaktion schliessen (siehe auch S. 153 ff.). Insofern haben die Publikationen durchaus Wirkung gehabt. Das Urteil wurde in der Bevölkerung mit Unverständnis und Empörung aufgenommen: „Viele Bundesbürger hätten es offenbar gern gesehen, wenn ihr eigener Ärger über die als unverschämt hoch empfundenen Zahlungen und die Selbstbedienung der Mannesmänner vom Strafrecht bestätigt worden wäre.“658 Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein, das ordentliche Rechtsmittel in Deutschland. Der Bundesgerichtshof wies die Sache zur Neuverhandlung zurück. Im zweiten Prozess entschied wiederum das Landgericht Düsseldorf. Es stellte am 29. November 2006 das Verfahren gegen Geldauflage ein. Das Gericht hielt es offenbar für notwendig, sein zweites Urteil ausführlich zu erläutern und quasi zu rechtfertigen.659 7.1.4. Prozesssponsoring: der Fall Weimar Der Kauf von Informationen oder Bildern von Personen, die in ein Gerichtsverfahren verwickelt sind, ist untersagt. Vorbehalten ist die Rechtfertigung durch ein überwie­ gendes öffentliches Interesse, sofern die Information nicht auf andere Weise beschafft werden kann. Aus Richtlinie 4.3 des Schweizerischen Presserats zur Erklärung der Pflichte und Rechte der Journalistinnen und Journalisten.

Mit dem Verkauf von Exklusivinformation an die Medien möchte der Verteidiger gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Publizität für seinen Klienten und Sicherung der Prozesskosten. Er handelt damit auch im eigenen Interesse, sichert er sich doch damit die Vergütung seiner eigenen Arbeit. Wagner nennt fünf Motive für den Verkauf von Stories: Eitelkeit des Beschuldigten oder seines Anwalts, Eigenwerbung des Anwalts, Finanzierung von Prozess- und Anwaltskosten, Versorgung von Familienmitgliedern während der Haft und die Unterstützung der Prozessführung durch die Medien.660 Im Fall Kachelmann (siehe S. 17 ff.) hatte eine ehemalige Freundin des Moderators, die als Zeugin aufgeboten war, von der Illustrierten Bunte 50.000 € für ein Exklusivinterview erhalten, wie sie vor Gericht zu657  Anhang zur Pressemitteilung des Landgerichts Düsseldorf, Nr.  32  /  2004, 22.  Juli 2004, siehe: http: /  / www.manager-magazin.de / unternehmen / artikel / 0,2828, 309949,00.html (9.4.13). 658  Daniels, ZRP 2004, 271. 659  Perron, ZStrR 2007, 185 f. 660  Wagner 20.



7.1. Strategien149

geben musste.661 Solch namhafte Summen werden jedoch nur in Ausnahmefällen bezahlt. In der Regel genügen die Vergütungen nicht zur Finanzierung der Prozesskosten geschweige denn für das Anwaltshonorar.662 Verträge über Sponsoring sind nicht illegal, aber doch anrüchig. Nach Richtlinie 4.3 des Schweizer Presserats ist die Bezahlung von Informanten grundsätzlich verpönt, wobei Ausnahmen toleriert werden.663 Auch der deutsche Presserat hat Bedenken gegen den Verkauf von Informationen, wie Ziff. 15 des Pressekodexes zeigt.664 Die Vermarktung eines Verbrechens ist nicht ohne Risiko: Die Medien sind keineswegs verpflichtet, nur im gewünschten Sinn zu berichten. Die Sache kann entgleisen, die Kontrolle verloren gehen, und dem Rechtsanwalt mag es gehen wie dem Zauberlehrling von Goethe, der die Geister nicht mehr loswird, die er gerufen hat. 1994 war dem Stern die Geschichte von Monika Weimar (geschiedene Böttcher)665 80.000 DM wert. Frau Weimar befand sich wegen der Tötung ihrer beiden Töchter im Strafvollzug und strebte ein Wiederaufnahmeverfahren an. Das Landgericht Fulda hatte sie 1988 zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl Frau Weimar durchwegs ihre Unschuld beteuert hatte. Der Prozess hatte viel Aufsehen erregt; viele Nachrichtenwerte waren erfüllt: Die Art des Verbrechens, die Tötung der Kinder durch die eigene Mutter, hat fast mythischen Charakter. Eine dramatische Konstellation lag auch darin, dass bei einem Freispruch von Frau Weimar der Verdacht notwendigerweise auf Reinhard Weimar, den Vater der Kinder, fallen musste. Die Eheleute waren in ihrer Ehe nicht glücklich gewesen, und Frau Weimar hatte zur Zeit der Tat einen heimlichen Geliebten, einen Soldaten der damals in Deutschland stationierten US-Armee. Ein aussereheliches Verhältnis war in den 80er Jahren ein noch nicht alltäglicher Normverstoss. Für das Wiederaufnahmeverfahren engagierte Frau Weimar den mediengewandten Verteidiger Gerhard Strate. Diesem gelang es, seiner Klientin einen Exklusivvertrag mit der Illustrierten Stern zu vermitteln.666 Mit dem Honorar konnte ein Teil der Kosten gesichert werden. Das Wochenmagazin 661  Rainer

Stadler in der NZZ vom 1. Juni 2011; Knellwolf 122 ff.; Möhrle 159 f. Rn. 69. 663  Richtlinien zur Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten, siehe: http: /  / presserat.ch / 12890.htm (9.4.13). 664  Siehe: http: /  / www.presserat.info / inhalt / der-pressekodex / pressekodex.html (9.4.13). 665  Hamm 53 ff., 108 ff.; Tillmanns, ZRP 1999, 340. 666  Der Text der Vereinbarung ist auszugsweise zu finden unter: http:  /   /  www. kanzlei-prof-schweizer.de / bibliothek / content / tillmanns_mediale_vermarktung.html (9.4.13). 662  Lehr,

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7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Spiegel zog nach und stellte dem unterdessen geschiedenen Ehemann einen Rechtsbeistand. Der Wiederaufnahmeantrag hatte Erfolg; der zweite Prozess begann 1996 vor dem Landgericht Giessen. Tatsächlich wurde Frau Weimar 1997 freigesprochen, wobei manche Beobachter munkelten, dass sich die beiden Laienrichterinnen zum Freispruch hatten rühren lassen.667 Im Rechtsmittelverfahren erlangte jedoch das frühere Urteil wieder Rechtskraft, und Frau Weimar musste ihre Strafe absitzen.

7.2. Fallstricke der Öffentlichkeits- und Medienarbeit Ganz allgemein droht die Gefahr, dass sich der Anwalt selbst überschätzt und damit letztlich dem Klienten schadet.668 Als das grösste Risiko erscheint die Unberechenbarkeit der Medien. Medien und Öffentlichkeit folgen ihren eigenen Regeln, die der Anwalt nicht unbedingt kennt. Die Berichterstattung entwickelt ihre Eigendynamik und kann eskalieren. Ein Medienthema kann man anstossen (Agenda Setting, siehe S. 54), nachher aber nicht mehr steuern. Auf den tatsächlich veröffentlichten Beitrag hat der Anwalt keinen Einfluss mehr, er muss sich Kürzungen und Entstellungen seiner Statements gefallen lassen. Wenn überhaupt Öffentlichkeitsarbeit, soll der Anwalt die Printmedien bevorzugen. Der Verlust der Kontrolle droht besonders bei Telefongesprächen oder Live-Sendungen in Radio oder Fernsehen, wenn nachträgliche Korrekturen nicht mehr möglich sind.669 Der Anwalt befürchtet den Verlust der Kontrolle zu Recht: Die Medienwelt ist ihm fremd. Nur wenige Anwälte haben ein natürliches Flair für Medienauftritte oder haben sich die entsprechenden Fähigkeiten mit einem Medientraining angeeignet. Kenntnis des Medienbetriebs ist aber notwendige Voraussetzung für erfolgreiche Medienarbeit des Verteidigers.670 Sonst kann es geschehen, dass der Anwalt auf die Tricks der Journalisten hereinfällt: So stellt vielleicht der Journalist eine Behauptung auf, von der er weiss, dass sie falsch ist, und hofft, dass der Anwalt in die Falle tappt.671 Vorteilhaft ist die gleiche Behandlung der Journalisten. Werden einzelne Medien bevorzugt bzw. benachteiligt, besteht die Gefahr, dass übergangene Journalisten ihre Informationen aus anderen Quellen beziehen oder Gegenkampagnen starten.672

667  Gerhardt,

Strafverteidigung, 1669, Rdn. 11; J. Jahn, Litigation-PR, 265. Schiller, Anwaltsrecht, 399, Rz. 1611. 669  Bernhart, Standards, 143. 670  Holzinger / Wolff 226; Wolff, Medienarbeit, 35; Gatzweiler 212. 671  Hafter 540, Rz. 3152. 672  Nobel 354; Wagner 115. 668  K.



7.2. Fallstricke der Öffentlichkeits- und Medienarbeit151

Wenn der Anwalt eine im Sinn seines Klienten günstige Berichterstattung von den Medien erwartet, muss er bedenken, dass die Zusammenarbeit mit den Medien auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung beruht. Ein Journalist könnte in einem zukünftigen Fall auf einer „Belohnung“ für das frühere Entgegenkommen bestehen. Dadurch verliert der Anwalt seine Handlungsfreiheit. Der deutsche Rechtsanwalt Hohmann rät deshalb von einem „Informationstausch“ ab.673 Das ist wohl leichter gesagt als getan! Ein Anwalt kann die Medien nicht gerade dann nutzen, wenn es ihm passt. Erfolgreiche Kontakte mit den Medien erfordern ein Geben und Nehmen. Leichter hat es der Anwalt, wenn er in der Medienbranche bereits bekannt ist und über ein bewährtes Beziehungsnetz verfügt. Die Beziehungen und das gegenseitige Vertrauen muss er in jahrelanger Arbeit aufgebaut haben.674 Besonders die offensive Strategie hat ihre Risiken: Bei frühzeitiger Initiative kann man schlafende Hunde wecken. Offensive Öffentlichkeitsund Medienarbeit des Anwalts provoziert vielleicht entsprechende Reak­ tionen der Staatsanwaltschaft. Diese hat in der Regel die besseren Karten, ihre Sicht wird von den Medien übernommen und kaum in Frage gestellt. Die Sympathien der Öffentlichkeit werden stets den Strafverfolgungsbehörden zuteil, nicht dem Beschuldigten. Die Justiz-PR der Staatsanwaltschaft erscheint glaubwürdiger als die Litigation-PR des Verteidigers.675 Die amerikanischen Autoren Gibson und Padilla sprechen vom Prosecution bias.676 Sobald ein Fall publik ist, wird es zudem schwieriger, die Sache im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft zu erledigen.677 Nicht zuletzt besteht das Risiko der „Aufdeckung von Verteidigungsstrategien zur Unzeit“.678 Der Verteidiger muss damit rechnen, dass sein Einsatz für den Beschuldigten in Öffentlichkeit und Medien nicht auf Gegenliebe stösst.679 Schwierig ist die Lage des Verteidigers, wenn durch die Tat Opfer oder Geschädigte betroffen sind. Setzt sich der Verteidiger für den Beschuldigten ein, bleibt ihm manchmal nichts anderes übrig, als die Glaubwürdigkeit von Zeugen oder Opfern in Zweifel zu ziehen, wie es auch im Kachelmann-Prozess (siehe 673  Hohmann,

674  Gatzweiler

36.

NJW 2009, 884. 212; Lehr, Rn. 74; Wilmes, StraFo 2007, 15; Wolff, Medienarbeit,

675  Heinrich 240; Reber  / Gower / Robinson, Journal of Public Relations Research 2006, 25; Baumgartner 321, Rz. 7.55. 676  Gibson / Padilla, Public Relations Review 1999, 220. 677  Wagner 52 ff.; Danziger 378; Becker-Toussaint 49. 678  W. Schiller, StV 2005 Beilage, 177. 679  Jositsch, ZStr 2004, 132.

152

7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

S. 17 ff.) geschah. Das sollte aber auf sachliche Weise geschehen. In der Schweiz – und wohl auch anderswo – gilt es als verpönt, das Opfer schlechtzumachen, Richter schätzen solche Versuche nicht.680 Wenn Medienberichte Bilder von Opfern und trauernden Angehörigen veröffentlichen, werden Gefühle wie Mitleid und Sympathie mit dem Opfer, vermutlich aber vor allem Ressentiments gegenüber dem Täter geweckt oder verstärkt.681 Indem der Opfervertreter den Medien gezielt entsprechende Fotos überlässt, kann er diese Emotionen manipulieren. Der Verteidiger ist demgegenüber in einer schwierigen und wenig dankbaren Position, wenn er bei der Bevölkerung um Verständnis für den Beschuldigten werben muss. Fast immer wird sich die Öffentlichkeit eher mit dem Opfer identifizieren als mit dem Täter; das Opfer hat von vornherein einen Sympathiebonus. Das gilt besonders bei Sexual- oder Gewaltverbrechen. Die Forderung des Opfervertreters nach einer harten Strafe oder nach Verwahrung dürfte in der Öffentlichkeit ein positives Echo finden, sie steht im Einklang mit dem „gesunden Volksempfinden“. Die Rolle als Opfervertreter ist deshalb für einen Anwalt viel angenehmer. Der Verteidiger soll den Eindruck vermeiden, er wolle sich selber ins Rampenlicht stellen.682 Er soll Litigation-PR betreiben, nicht Kanzlei-PR. Der Anwalt soll sich auch nicht durch seinen Mandanten instrumentalisieren und als Sprachrohr missbrauchen lassen, wie es einige der Verteidiger der RAF-Terroristen im Stammheimer Prozess, der zwischen 1975 und 1977 stattfand, getan haben. Mit exzessiver Öffentlichkeitsarbeit kann der Anwalt den eigenen guten Ruf verlieren; zwei Gefahren werden in der Literatur hervorgehoben:683 – Overexposure: Wenn das Publikum übersättigt ist mit Informationen zu einer Person oder einer Angelegenheit, verliert es das Interesse. Weitere Informationen rufen kein Echo mehr hervor, oder – im Volksmund treffend ausgedrückt – allzuviel ist ungesund! – Ikarus-Effekt: Hier folgt nach anfänglichen sensationellen Erfolgen der Absturz, laut dem Sprichwort: Hochmut kommt vor dem Fall. Mit dem Gang an die Medien kann der Verteidiger versuchen, die Behörden unter Druck zu setzen. Wie heikel das sein kann, zeigt der Fall des Basler Anwalts Peter Zihlmann, der 1993 versuchte, die Entlassung seines 680  Daniel Jositsch in der Sendung Baz Standpunkte: Kachelmann & Co.: Opfer der Medienjustiz? am 5. / 11. Juni 2011 im Schweizer Fernsehen SF1 / SFinfo. 681  Danziger 294. 682  Zum Beispiel Baumgartner 322, Rz. 7.56; Hafter 539, Rz. 3140. 683  Holzinger / Wolff 227 f.; Rehbinder, Litigation-PR, 773.



7.2. Fallstricke der Öffentlichkeits- und Medienarbeit153

Mandanten aus der Untersuchungshaft zu bewirken. Weil er an die Presse gelangt war, erhielt er von der Aufsichtsbehörde eine Disziplinarbusse.684 Damals war die standesrechtliche Praxis punkto Öffentlichkeits- und Medienarbeit wesentlich restriktiver. Der Anwalt kann aber mit unbedachter Litigation-PR auch heute noch Berufsregeln verletzen und sich im Extremfall sogar strafbar machen. 7.2.1. Reaktanz „Ein Bauer, so erzählt man, war in Sorge um seinen bevorstehenden Prozess. Er fragte seinen Rechtsanwalt: ‚Würde ich den Richter günstig stimmen, wenn ich ihm vor der Verhandlung einen Schinken zukommen liesse?‘ ‚Nein, um Himmelswillen‘, warnte der Jurist, ‚auf diese Weise würden Sie Ihre Streitsache mit Sicherheit verlieren!‘ – Zwei Wochen später, nach gewonnenem Prozess, verliess der Bauer zufrieden das Gerichtsgebäude und schmunzelte: ‚Der Schinken hat eben doch gewirkt.‘ Entsetzt rief sein Anwalt: ‚Sie haben nicht etwa dem Richter ein Geschenk gesandt?‘ ‚Doch‘, lautete die Antwort, ‚aber aufs Paket habe ich als Absender die Adresse meines Prozessgegners geschrieben.‘ “ Nach Stauffer 62.

Richter sind auch Menschen.685 Sie lesen, hören und reagieren wie die Normalsterblichen und können sich der Medienberichterstattung nicht entziehen. Massnahmen zur medialen Abschottung eines Gerichts, wie sie in der USA gelegentlich getroffen werden (siehe S. 164), sind in Europa undenkbar, abgesehen davon, dass ihre Wirksamkeit fraglich ist. Doch kann eine Kampagne bei den Richtern eine gegenläufige Reaktion auslösen. Sie sind sich der Gefahr für ihre Unabhängigkeit bewusst und versuchen, gegen die Beeinflussung innere Schranken zu errichten. Dass Richter die Tendenz haben, sich dem Druck der Öffentlichkeit oder der Beeinflussung durch die Medien entgegenzustemmen, haben namhafte Juristen erkannt.686 Die Psychologie beschreibt diese Abwehrreaktion, diese widerständige, wehrhafte Haltung als Reaktanz. In der Umgangssprache würde man von einer Trotzhaltung reden. Wenn der Mensch bemerkt, dass ihn jemand zu beeinflussen versucht, fühlt er sich in seiner Freiheit bedroht. Auf wirkliche oder vermeintliche Einschränkungen seiner Freiheit reagiert der Mensch mit Widerstand. Ändert der Mensch auf Grund von Reaktanz sein Verhalten, spricht man von reaktantem Verhalten oder Reaktanzverhalten. 684  Zihlmann,

Justiz, 245 ff. auch Gerhardt, Im Namen, 174. 686  Sarstedt, AfP 1971; Stürner, JZ 1978, 165; Wagner 52; Hamm 20 f.; Stauffer 68; Koppenhöfer, StV 2005 Beilage, 173; Wohlers, StV 2005 Beilage, 187, Gerhardt, Strafverteidigung, 1670, Rz. 18; von Felten 256. 685  So

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7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Die Theorie der Reaktanz wurde 1966 von Jack W. Brehm begründet.687 In einem zweiten Buch, das er 1981 zusammen mit seiner Frau veröffentlichte, stellte Brehm erste Studien vor, welche die Reaktanz im Strafprozess untersuchten. In den zitierten Studien rief der Hinweis des „verfahrensleitenden Richters“, dass ein bestimmtes Beweismittel nicht verwendet werden dürfe, bei den „Geschworenen“ Reaktanz hervor. Es fiel ihnen schwer, den unzulässigen Beweis nicht zu beachten und ihr „Urteil“ unabhängig zu fällen.688 Spätere Forschung bestätigte diese Befunde: So stellen Lieberman und Mitarbeiter mehrere Studien vor, in denen sich „Geschworene“ durch die „richterliche“ Belehrung über unzulässiges Beweismaterial in ihrer Freiheit bedrängt sahen und sich sogar darauf versteiften, diese Beweise in ihr „Urteil“ einzubeziehen.689 Wie Reaktanz gegenüber PR-Massnahmen zustande kommt, beschreibt Susanne Femers, Kommunikationswissenschaftlerin und Psychologin. Sie spricht von einem Bumerangeffekt: Informationen lösen Reaktanz aus, wenn sie der Empfänger als einseitig und unfair oder gar als falsch empfindet.690 So wird der Verteidiger durch übermässige oder plumpe Medienarbeit seine Ziele selber torpedieren, etwa wenn er einen Mandanten als unschuldig bezeichnet, dessen Schuld offensichtlich ist. Im Kontext der rechtlichen Entscheidung besagt das Konzept der Reaktanz, dass der Richter, der ein Urteil fällen muss, in einen Konflikt geraten kann. Durch die Erwartungen der Öffentlichkeit und die Suggestionen der Medienberichterstattung sieht er sich in seiner Entscheidungsfreiheit und richterlichen Unabhängigkeit bedroht und baut Reaktanz auf. Doch kann dieser gesunde Abwehrmechanismus auch über das Ziel hinausschiessen und „zu falscher Verhärtung oder falschem Nachgeben“ führen,691 zu einer „Jetzt-erst-recht“-Entscheidung.692 Der Richter unterliegt der Reaktanz, wenn er ohne den Druck einen anderen Entscheid fällen würde. So könnte er das harte Urteil, das ihm die Medien nahe legen, verwerfen und gegenüber dem Beschuldigten Milde walten lassen. Genau das könnte im Strafprozess geschehen sein, der anfangs 2012 vor dem Bezirksgericht Baden verhandelt wurde, dabei ging es um den Mord an einem jungen Mädchen. Das Gericht wehrte sich gegen den Druck von Staatsanwaltschaft und Medien. Es ordnete zwar die Verwahrung des Täters 687  Jack

W. Brehm, The psychological theory of reactance, New York 1966. 346 ff. 689  Lieberman / Arndt / Vess 82 ff.; siehe auch Devine 58, 77 ff. 690  Femers 57 f. 691  Stürner, JZ 1978, 165. 692  Weigend 324. 688  Brehm / Brehm



7.3. Ethische Aspekte155

an, aber nicht die geforderte lebenslängliche Verwahrung.693 Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig (siehe auch S. 89). Eine vorverurteilende Kampagne muss sich deshalb für den Beschuldigten im Prozess nicht unbedingt fatal auswirken, ganz abgesehen davon, dass die Vorverurteilung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts einen Grund zur Strafminderung bilden kann (siehe S. 159 ff.). Dass der Beschuldigte womöglich einen Reputationsschaden erleidet, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Nach der Reaktanz-Theorie kann sich gerade auch ein Vorfreispruch – sei er durch die Medien selber oder durch den Verteidiger initiiert – kontraproduktiv auswirken. Das muss der Verteidiger, der in der Öffentlichkeit für seinen Klienten gute Stimmung machen will, berücksichtigen. Gerade bei erfolgreichen Kampagnen kann die Abwehrreaktion der Richter Bedeutung erlangen.694

7.3. Ethische Aspekte Der Staat hat das Monopol, Ansprüche der Bürger verbindlich zu regeln und diese Regeln notfalls mit Zwang durchzusetzen. Nur die staatlichen Gerichte dürfen Recht sprechen, nur die Strafbehörden dürfen Strafen verhängen. Das mediale Parallelverfahren stellt diese Errungenschaft in Frage.695 Eine Vorverurteilung kann sich auf den Betroffenen härter auswirken als die vom Gericht gefällte Strafe. Grundsätze aller modernen, rechtsstaatlichen Prozessordnungen sind Waffengleichheit, Fairness des Verfahrens und rechtliches Gehör. Diese Garantien werden gefährdet, wenn der Verteidiger neben den eigentlichen Verfahrensmitteln zusätzliche Kommunikationswege nutzt.696 Der Rechtsuchende hat Anspruch darauf, dass die Justizbehörden unabhängig, unbefangen, unvoreingenommen und unparteilich sind. Die innere Unabhängigkeit bezieht sich auf die psychische Haltung des Richters oder Staatsanwalts, der sich nicht von sachfremden oder ausserrechtlichen Einflüssen leiten lassen soll (siehe S. 75 ff.). Nur wenige, sehr wohlhabende Beschuldigte können sich einen teuren, „guten“ Anwalt leisten, nur sie können sich zusätzliche PR-Berater leisten. Deshalb befürchtet die Publizistin Alice Schwarzer, dass Litigation-PR als 693  Marcel

Gyr in der NZZ vom 2. März 2012, S. 17. StV 2005 Beilage, 187; siehe auch Hamm 64 ff. 695  Garapon 231 ff. 696  Boehme-Nessler, Öffentlichkeit, 31; Rehbinder, Litigation-PR, 776. 694  Wohlers,

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7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

solche den Rechtsstaat gefährdet und dass die Klassenjustiz wieder Einzug hält.697 Ein Anspruch auf unentgeltliche Medienarbeit ist wohl nicht einmal Zukunftsmusik, sondern illusorisch.698 Der Allgemeinheit ist es nicht zuzumuten, für Massnahmen zu zahlen, deren Aussichten schlecht einzuschätzen sind und deren Nutzen von vielen Autoren überhaupt bestritten wird. Schon die Vorstellung wirkt zynisch, dass ein Gericht unentgeltliche Litigation-PR bewilligen und damit seine eigene Beeinflussung noch bezahlen müsste. Und für den Schutz der Reputation ist jeder selber verantwortlich. Es genügt, wenn der Rechtsstaat dem Bürger die Mittel zur Verfügung stellt, mit denen der Geschädigte gegen die Medien vorgehen kann.699 In den USA soll der Anspruch auf einen PR-Berater immerhin bereits diskutiert werden.700 Ines Heinrich setzt sich in ihrer Dissertation ausführlich mit ethischen Aspekten der Litigation-PR auseinander.701 Für die Autorin steht der Reputationsschutz im Vordergrund, wobei sie einen Einfluss auf die Justizbehörden nicht gänzlich ausschliesst. Sie hebt hervor, dass die Öffentlichkeitsarbeit des Verteidigers die Justiz-PR kompensieren und ein Gegengewicht dazu schaffen kann, sieht aber durchaus die Gefahr einer Eskalation der medialen Auseinandersetzung. Die Gerichtsreporterin des Spiegel, Gisela Friedrichsen, stellt sich die Frage, ob die Richterschaft einem durch Litigation-PR bewirkten gesteigerten Druck der öffentlichen Meinung widerstehen könne.702 Dass mit vermehrter Litigation-PR der Druck auf die Rechtsprechung zunehme, befürchtet ebenfalls der Mediensprecher des deutschen Bundesgerichtshofs, Bertram Schmitt.703 Er baut darauf, dass im gleichen Ausmass auch die Medienkompetenz der Richter zunehme. Er hofft und glaubt, dass Urteile auch im Jahr 2030 immer noch „im Namen des Volkes“ gesprochen werden und nicht „im Namen der Medien“. Werde Litigation-PR zum Standard, könne das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert werden. Gerechtigkeit sei dann nur noch eine Sache von Public Relations.704 Nachdenklich stimmt eine Meldung der Basler Zeitung über den südafrikanischen Sportler Oscar Pistorius, der unter Verdacht steht, seine Freundin 697  Schwarzer

9. auch Gibson / Padilla, Public Relations Review 1999, 224. 699  Frowein / Peukert, Art.  6 EMRK, Rz.  270. 700  Heinrich 259; Streeck 132. 701  Heinrich 251 ff. 702  Friedrichsen, ZRP 2010, 264. 703  Schmitt, ZRP 2011, 222. 704  Boehme-Nessler, Öffentlichkeit, 44. 698  So



7.4. Alternativen zum Gang an die Medien157

erschossen zu haben. Nur Stunden nach deren Tod soll Pistorius mit dem PR-Experten und ehemaligen Chefredaktor des Tabloids Sun, Stuart Higgins, Kontakt aufgenommen haben.705

7.4. Alternativen zum Gang an die Medien Dem Verteidiger stehen rechtliche Mittel zur Verfügung, um gegen vorverurteilende Medienkampagnen vorzugehen. Diese Strategie der Medienarbeit bezeichnet Zeller als Verhinderungsstrategie.706 Viele Autoren sind aber der Meinung, dass eine Medienkampagne damit allein nicht erfolgreich bekämpft werden könne.707 Gegen die Medien selber kann der Verletzte zivilrechtlich oder strafrechtlich vorgehen (siehe auch S. 69). Carl Hirschmann, ein junger Zürcher Millionenerbe und Partylöwe, gegen den ein Strafverfahren wegen sexueller Nötigung lief, wehrte sich erfolgreich gegen den Medienkonzern Ringier. In einem Vergleich verpflichtete sich der Verlag, sich für die Persönlichkeitsverletzungen zu entschuldigen, die entsprechenden Publikationen im Web zu löschen und künftige Berichte zu unterlassen. Im Gegenzug verzichtete Hirschmann auf finanzielle Forderungen.708 Sind die Behörden die Urheber einer Kampagne, stehen dem Verteidiger dieselben zivil- und strafrechtlichen Mittel gegen die Amtsinhaber zur Verfügung, dazu die Anzeige wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses. Werden finanzielle Forderungen gestellt, kommt unter Umständen die Staatshaftung zum Zug. Ein weiterer Behelf gegenüber staatlichen Instanzen ist die Aufsichtsbeschwerde. Zudem besteht die Möglichkeit, den Ausstand von Staatsanwalt oder Richter wegen Befangenheit zu beantragen (siehe auch S. 65 ff. und S.  75 ff.). Eine weitere Möglichkeit, den Mandanten vor der Blossstellung in der Öffentlichkeit zu bewahren, ist eine Absprache mit anderen Prozessbeteiligten. Der Verteidiger kann mit dem Gegenanwalt, dem Anwalt des Geschädigten oder des Opfers, vereinbaren, dass dieser eine Öffentlichkeitsarbeit überhaupt unterlässt oder nur gemeinsam mit dem Verteidiger an die Me­ dien gelangt. Das sollen die Anwälte auch in der Strafsache gegen Jörg Kachelmann versucht haben, die Abmachung soll aber nicht eingehalten worden sein (siehe auch S. 17 ff.).709 705  Allison

Pearson in der Basler Zeitung vom 23. Februar 2013, S. 11. plädoyer 2000 / 6, 23. 707  Zum Beispiel Petermann, zzz 2006, 14. 708  NZZ vom 20. August 2012, S. 12. 709  Knellwolf 80. 706  Zeller,

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7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

Auch mit der Staatsanwaltschaft kann der Verteidiger zusammenarbeiten. Solange die Sache noch nicht publik ist, kann er über eine günstige Verfahrenserledigung durch Einstellung oder Strafbefehl verhandeln. Sinnvoll ist ein frühzeitiger Kontakt mit der Medienstelle der Staatsanwaltschaft, um unliebsame Mitteilungen zu verhindern. In einem Medienschlüsselfall soll der Anwalt – unter Berufung auf das rechtliche Gehör, auf Fairness und Waffengleichheit – von vornherein verlangen, dass ihn die Staatsanwaltschaft in ihre Informationstätigkeit einbezieht, ihn vorgängig über geplante Medienmitteilungen orientiert und ihn an ihre Pressekonferenzen einlädt.710 Eventuell ist es sogar möglich, dass Staatsanwaltschaft und Verteidiger ihre Medienarbeit koordinieren oder gemeinsame Medienorientierungen herausgeben.711 Das ist schon vorgekommen, beispielsweise im bereits erwähnten Terroristenprozess im Tessin von 1988, als die Staatsanwaltschaft des Sottoceneri und die Verteidigung ein gemeinsames Pressecommuniqé herausgaben (siehe auch S. 93).712 Im Kanton Zürich ist hingegen bloss die vorgängige Information der Verteidigung vorgesehen, wobei eine mündliche Mitteilung genügt. Die Staatsanwaltschaft soll aber mindestens rudimentär auf einen abweichenden Standpunkt der Verteidigung hinweisen.713 Wird der Straffall vor Gericht verhandelt, soll es eine gute Taktik sein, den Richter spüren zu lassen, dass man ein Rechtsmittel ergreifen werde.714 Im Übrigen kann sich der Anwalt die Ergebnisse der empirischen Forschung zu Nutze machen. Es ist zwar nicht ganz klar belegt, doch spricht vieles dafür, dass Faktoren wie Attraktivität oder das sympathische Auftreten den Richter für den Beschuldigten einnehmen können. Der Verteidiger kann dem Beschuldigten helfen, einen guten Eindruck zu machen oder wenigstens einen schlechten Eindruck zu vermeiden. In diesem Sinn pädagogisch auf den Angeklagten einzuwirken, ist jedenfalls billiger und wohl auch zielführender als die mit Unsicherheiten behaftete Medienarbeit. Der Klient soll sich möglichst adrett präsentieren, sauber, Haare gewaschen, rasiert, gepflegte Kleidung. Bennett und Feldman berichten von einem Verteidiger, der in seinem Büro einen Anzug für seine Klienten in Reserve hielt, falls diese nicht „richtig“ angezogen waren.715 710  Jositsch,

ZStrR 2004, 131; Jäger 61, Rz. 165; Gross 49. ZStr 2004, 131; Engel / Scheuerl 55, Rdn. 178. 712  BGE 116 I 14, 25. 713  Jäger 61, Rz. 165; WOSTA, Stand vom 1. März 2013, Ziff. 15.3.5.2, S. 293 f., siehe: http: /  / www.staatsanwaltschaften.zh.ch / content / dam / justiz_innern / stanw / PDF /  Weisungen / WOSTA %20 %20130301.pdf (9.4.13). 714  Schünemann 278. 715  Bennett / Feldman 15. 711  Jositsch,



7.4. Alternativen zum Gang an die Medien159

Alles was die Reputation verbessert, kann auch beim Richter wirksam sein. Soziales und kulturelles Engagement kommt gut an. So konnte der Rolling Stone Keith Richards mit der Zusage, zwei Benefiz-Konzerte zu geben, den kanadischen Richter milde stimmen, der ihn wegen Betäubungsmitteldelikten aburteilen sollte. 7.4.1. Auf Strafminderung plädieren „Eine Namensnennung und die Publikation des Bilds verstossen nicht nur gegen die Richtlinien des Presserats, sie könnten auch der Verteidigung in die Hände spielen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Verletzung der Persönlichkeitsrechte eines Beschuldigten strafmindernd auswirkt.“ Neue Zürcher Zeitung vom 19. Februar 2013, S. 13.

Eine Vorverurteilung bildet nach der schweizerischen Gerichtpraxis unter Umständen einen Grund für Strafminderung.716 Wenn für den Beschuldigten nicht der Reputationsschutz in der Öffentlichkeit im Vordergrund steht, sondern ein günstiges Strafurteil, kann der Anwalt auf Litigation-PR verzichten und stattdessen vor Gericht eine Strafminderung geltend machen. Die Strategie ist vor allem – aber nicht nur – dann Erfolg versprechend, wenn staatliche Behörden eine Mitschuld trifft. Das war der Fall im Strafprozess gegen einen ehemaligen Offizier der Schweizer Armee, Friedrich Nyffenegger (1936–2011), wegen Vermögensdelikten. 1996 hatte die damalige Bundesanwältin eine Medienkonferenz abgehalten, die Nyffenegger vorverurteilte und eine massive Medienkampagne auslöste. Das schweizerische Bundesstrafgericht befand, dass eine Vorverurteilung strafmindernd zu berücksichtigen sei, wenn sie das durchschnittliche Mass überschritte. Nyffenegger erhielt eine Strafe von nur sechs Monaten. Weniger die Berichterstattung der Medien führte zu dem relativ milden Urteil als die Medienaktivitäten der Bundesanwältin, die eine gravierende Vorverurteilung mit Quasi-Strafwirkung und eine weit überdurchschnittliche Belastung des Beschuldigten zur Folge hatten.717 2002 bekräftigte das Bundesgericht, dass eine Vorverurteilung durch die Medien nur bei einer überdurchschnittlich hohen Belastung strafmindernd zu berücksichtigen sei. Es verneinte im konkreten Fall – ein Sporttrainer

716  Strafminderung bedeutet die Zumessung einer milden Strafe innerhalb des Strafrahmens; bei einer Strafmilderung hingegen ist der Richter nach Art. 48a Abs. 1 StGB nicht an die Mindeststrafe gebunden. 717  Bundesstrafgericht vom 29. Oktober 1999, 9X.1 / 1998.

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7. Gestaltung der Öffentlichkeits- und Medienarbeit

hatte seine Schutzbefohlenen sexuell genötigt – die Voraussetzungen für eine Strafreduktion.718 In einem neueren Urteil von 2011 lehnte das Bundesgericht eine Strafreduktion ebenfalls ab. Der Verurteilte, ein lokal prominenter, ehemaliger Weltmeister im Thai-Boxen, hatte im Streit um einen Parkplatz den Konkurrenten erschossen und war zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt worden. In den Medien war er mit Namen genannt und als „Parkplatzmörder“ und „Parkplatzkiller“ bezeichnet worden. Das Bundesgericht argumentierte, die Berichterstattung sei – abgesehen von ein paar Ausreissern – im Ganzen sachlich gewesen, die Unschuldsvermutung sei nicht verletzt und der Standpunkt des Täters zur Sprache gebracht worden.719 Im Kanton Zürich erhielten vier als Zuhälter und Menschenhändler verurteilte Straftäter „Rabatte“: Das Obergericht übte in seinem Urteil Kritik an den Strafverfolgungsbehörden und an den Medien; es rügte vor allem die Vorverurteilung durch einen Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens. Obwohl das Obergericht insgesamt härter urteilte als die Vorinstanz, berücksichtigte es die Vorverurteilung mit einer leichten Strafminderung.720 Ebenfalls auf Geschehnisse im Milieu bezog sich der Prozess gegen einen Bordellbetreiber vor dem Bezirksgericht Dietikon im Oktober 2012. Das Gericht sprach den Angeklagten vom Vorwurf der Förderung der Prostitution und anderen Delikten frei und gewährte ihm wegen vorverurteilender und identifizierender Medienberichte Schadenersatz im Betrag von 165’000 Fr. und eine Genugtuung von 20’000 Fr.721 In einem anderen Fall scheint die Strategie nicht aufgegangen zu sein: Die Verteidiger der „Schlafzimmer-Räuber“ machten eine massive Vorverurteilung durch die Medien geltend und verlangten mildere Bestrafung. Das Gericht fällte jedoch – so beurteilten es wenigstens die Medien – eher harte Urteile, wenn es auch unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft blieb.722 Im Oktober 2012 wurde ein Gymnasiallehrer vom Bezirksgericht Zürich im Hauptanklagepunkt, er habe im Unterricht pornografisches Material verwendet, freigesprochen. Verurteilt wurde er allerdings im Nebenpunkt, weil er auf seinem Privatcomputer Pornografie gespeichert hatte. Das Gericht 718  BGE

128 IV 97, 104 ff. vom 31. Mai 2011, 6B_271 / 2011, E. 2.3. 720  Obergericht Zürich vom 19. Juli 2012, SB110481, SB110514, SB110517, SB110601, nach Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 20. Juli 2012, S. 13. 721  Bezirksgericht Dietikon vom 12. Oktober 2012, nach Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 13. Oktober 2012, S. 21. 722  Bezirksgericht Dietikon vom 13. April 2012, nach der NZZ vom 14. April 2012, S. 17; siehe auch NZZ vom 15. März 2012, S. 16. 719  BGE



7.4. Alternativen zum Gang an die Medien161

sprach dem Lehrer eine Prozessentschädigung von 12.000 Fr. und eine Genugtuung von 2.500 Fr. zu, nicht zuletzt wegen der Berichterstattung und Identifizierung durch die Medien.723 Der zur Prominenz gehörende Carl Hirschmann, der wegen Sexualdelikten vor Gericht stand, drang in der Berufung vor dem Zürcher Obergericht ebenfalls mit seinem Argument durch, dass eine Strafminderung wegen medialer Vorverurteilung angemessen sei. Das Gericht meinte, dass gewisse Medienunternehmen dem Beschuldigten mit ihrer Kampagne deshalb sogar einen Dienst erwiesen hätten.724 Gezielte Manipulationen dieser Art kann man sich durchaus vorstellen. Medien, Beschuldigte und deren Verteidiger könnten gezielt eine Vorverurteilung inszenieren, um damit prozessuale Vorteile zu erlangen.725 Schon 1987 berichtete Wagner, dass das Argument der Vorverurteilung von Anwälten gezielt genutzt werde, um auf Strafminderung zu pochen, beispielsweise durch Johann Schwenn, den späteren Verteidiger von Kachelmann.726 Die Berücksichtigung einer Vorverurteilung bei der Strafzumessung wird auch von der Lehre in Deutschland bejaht.727 Zum erstenmal in den Genuss einer Strafminderung kam 2004 ein Autofahrer, der wegen fahrlässiger Tötung verurteilt wurde. Das Landgericht Karlsruhe erkannte in zweiter Instanz auf eine mildere Strafe. Der Beschuldigte war in den Medien als „Turbo-Rolf“, „Raser von Bruchsal“, „Todesdrängler“ und „Vollgaskiller“ bezeichnet worden.728 Und der frühere Chef der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel, konnte beim Landgericht Bochum, das ihn wegen Steuerhinterziehung verurteilte, ebenfalls eine milde Bewährungsstrafe erreichen. Der Fernsehsender ZDF war 2008 über die bevorstehende Verhaftung informiert worden – vermutlich durch ein Leck bei den Behörden selber – und hatte Hausdurchsuchung und Verhaftung live gesendet.729 723  Bezirksgericht Zürich vom 20. Oktober 2012, GG110288, nach Brigitte Hürlimann in der NZZ vom 21. Oktober 2011, S. 19, siehe auch NZZ vom 6. Juli 2012, S. 15. 724  Obergericht Zürich vom 21. November 2012, nach Marcel Gyr in der NZZ vom 22.  November 2012, S.  17, siehe auch: http: /  / www.20min.ch / schweiz / zuerich /  story / 11668153 (9.4.13). 725  Roxin 101; Weigend 324. 726  Wagner 92 f. 727  Gross 53; Wohlers, StV Beilage 2005, 191; Weigend 324; Knauer, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2009, 541 ff. 728  Altermann 31; Friedrichsen  / Gerhardt 1676, Rdn. 20; Knauer, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2009, 544, Fn. 23. 729  Becker-Toussaint, 53; Schertz / Höch 112.

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis „Strafverteidiger haben schon immer gewusst, wie man in der Presse gut Wetter macht für den eigenen Mandanten – und für sich selbst.“ J. Jahn, Litigation-PR, 257.

Wenn Verteidiger mit den Medien zusammenarbeiten, ist das nicht leicht festzustellen. Anwälte hängen ihre Kontakte zu den Medien nicht an die grosse Glocke, sie schätzen Diskretion und begnügen sich oft damit, im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Der Journalist und Rechtsanwalt Matthias Prinz vertritt die Meinung: „Am besten ist Litigation-PR, wenn man sie nicht bemerkt.“730

8.1. Litigation-PR in den USA „So gross der amerikanische Beitrag zum technischen Fortschritt dieses Jahrhunderts war, so wenig lässt sich im amerikanischen Denken eine juristische Begabung feststellen.“ Honsell 40.

Die Vereinigten Staaten sind vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zur Vorbildnation und Leitkultur geworden. In Europa wurden amerikanische Rechtsinstitute rezipiert, in der Schweiz beispielsweise die Miranda Warnung. Manche europäische Rechtswissenschaftler stehen der „Amerikanisierung“ des Rechts und des Strafverfahrens skeptisch gegenüber.731 Auch die Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Verteidigers, die Litigation-PR, hat sich in den USA entwickelt. Alexander Schmitt-Geiger, Berater für Public Affairs und Litigation-PR in München, nennt zwei Gründe dafür: die starke Stellung der Medien und die Eigenheiten des amerikanischen Strafverfahrensrechts.732 Die Medialisierung des Strafverfahrens ist in den USA weiter fortgeschritten als in Europa, wie der Fall von O. J. Simpson exemplarisch zeigt (siehe S. 165 f.). Die Medienfreiheit wird traditionell hoch geschätzt, und 730  Siehe: http: /  / planet-interview.de / interview-matthias-prinz-24032011.html (9.4.13).

731  Honsell 52 ff.; Vest 294 ff.; Karl-Ludwig Kunz in der Sendung Echo der Zeit vom 31. Mai 2011, Radio DRS. 732  Schmitt-Geiger 58 ff., 64 ff.



8.1. Litigation-PR in den USA163

wenn sie in Konflikt gerät mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens, trägt sie oft den Sieg davon.733 Die Fernsehübertragung von Gerichtsverfahren ist erlaubt. Es gibt Spartensender, die ausschliesslich über Prozesse berichten und für Litigation-PR genutzt werden.734 Einige Bundesstaaten lassen das Fernsehen nicht nur in der Hauptverhandlung zu, sondern auch im Vorverfahren, etwa bei der Geschworenenauswahl.735 Schmitt-Geiger meint, dass der Wettbewerbsdruck, unter dem die Medien stünden, und die sinkende Qualität des Journalismus das „Einfallstor“ zur Litigation-PR gebildet hätten; in Deutschland hingegen habe sich der kritische Journalismus halten können.736 Nicht nur der Zivilprozess, auch das Strafverfahren ist adversarisch oder kontradiktorisch gestaltet. Während der Staatsanwalt in den kontinental-europäischen Ländern zur Objektivität verpflichtet ist – er soll entlastenden Momenten in gleicher Weise nachgehen wie belastenden – ist er im amerikanischen Strafverfahren Partei. Bereits im Vorverfahren verfügt er über ein ausgedehntes Ermessen, er ist nicht dem bei uns gültigen Legalitätsprinzip unterworfen. Der Druck auf den Beschuldigten, einem Deal zuzustimmen, ist gross. Die materielle Wahrheit wird nicht gesucht, sondern ausgehandelt oder erstritten.737 Auch in den USA gelangt nur eine kleine Anzahl der Strafverfahren vor das ordentliche Gericht.738 Immerhin gewährt die Verfassung dem Beschuldigten das Recht, von einer Jury beurteilt zu werden. Der Jury sitzt ein Berufsrichter vor, der aber nur verfahrensleitende Funktion hat. Im Vorverfahren (voir dire) wird die Unbefangenheit der sechs bis zwölf Geschworenen geprüft. Voreingenommene Geschworene können abgelehnt werden (challenge for cause). Sowohl Anklage wie auch Verteidigung können überdies eine bestimmte Anzahl potentieller Geschworener ablehnen, ohne dafür Gründe anzugeben (peremptory challenge). Amerikanische Verteidiger versuchen, die Auswahl der endgültigen Jury so zu manipulieren, dass die Geschworenen dem Beschuldigten günstig gesinnt sind und sich vielleicht sogar mit ihm identifizieren können. Ist genügend Geld da, engagieren sie dazu spezialisierte Berater, welche behaupten, nach wissenschaftlichen Kriterien vorzugehen (scientific jury selection). In der Hauptverhandlung nimmt die Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung oft sehr kämpferischen Charakter an. Jede Partei bringt 733  Schnabl

227.

734  Schmitt-Geiger

64 f. 222 ff. 736  Schmitt-Geiger 66, 70. 737  Pizzi 101 ff. 738  Pizzi 117 f.; Kapardis 157; Roesch / Zapf / Hart 179. 735  Schnabl

164

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis

ihre eigenen Zeugen. Anwälte dürfen mit ihren Zeugen das Kreuzverhör trainieren. In der Ratgeberliteratur wird das Vorgehen ungeniert als Witness preparation bezeichnet.739 Staatsanwaltschaft und Verteidigung versuchen, die Jury von der jeweils eigenen Version der Geschichte zu überzeugen. Anklage und Verteidigung rechnen mit der Beeinflussbarkeit der Geschworenen als Laien, die in der Regel zum ersten und einzigen Mal in einer Jury mitwirken. Beide Parteien gestalten ihre Plädoyers entsprechend und versuchen, die Emotionen der Geschworenen zu schüren.740 Das ist in der amerikanischen Rechtskultur nicht gleichermassen verpönt wie in Europa.741 In einem spektakulären Fall werden die Medien von Anklage und Verteidigung mit tendenziösen Informationen versorgt. Die Prozesse dauern wegen des Unmittelbarkeitsprinzips lange, die Medien haben immer wieder von Neuem Gelegenheit, in die Meinungsbildung einzugreifen. Wenn der vorsitzende Richter befürchtet, dass die Jury wegen exzessiver Publizität voreingenommen sein könnte, darf er die Isolierung der Geschworenen anordnen (sequestration). Diese Voraussetzungen erwiesen sich als günstig für die Entwicklung der Litigation-PR, die in den 80er Jahren einsetzte.742 Als „Initialzündung“ nennt der Litigation-PR-Experte James F. Haggerty die Verleumdungsklage von General William Westmoreland gegen den Fernsehsender CBS im Jahr 1982. Der Sender hatte dem General vorgeworfen, die amerikanische Regierung und die Öffentlichkeit über das wahre Geschehen im Vietnam-Krieg getäuscht zu haben. Westmoreland habe zu hohe Zahlen für die feindlichen Verluste angegeben und so die Bilanz des Krieges geschönt. Für das beklagte Unternehmen setzte sich der PR-Berater John Scanlon ein, mit Erfolg, wie Haggerty meint. Scanlon wendete bereits die Taktiken an, die in den aktuellen Ratgebern empfohlen werden: Er baute gute Beziehungen zu den Medienschaffenden auf und versorgte sie mit täglichen Résumés. Westmoreland liess schliesslich die Klage fallen.743 Ein neues Phänomen sind die Litigation Websites:744 So versuchte auch der Popsänger Michael Jackson (1958–2009), der 2005 wegen sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen vor Gericht stand, das Internet-Publikum von seiner Unschuld zu überzeugen. Tatsächlich wurde er freigesprochen.

739  Waites

410 ff., siehe auch Pizzi 114: „rehearse, practice and coach“. 60; Schnabl 218. 741  Schmitt-Geiger 70. 742  Schmitt-Geiger 57 f. 743  Haggerty 6 ff. 744  Haggerty 248  ff.; Reber  /  Gower  /  Robinson, Journal of Public Relations Research 2006, 23 ff. 740  Schmitt-Geiger



8.1. Litigation-PR in den USA165

8.1.1. Der Prozess gegen O. J. Simpson745 Doch sogar in den USA war ein Medienspektakel in der Grössenordnung, wie es sich um den Prozess gegen den schwarzen Sportler entwickelte, einzigartig. Simpson geriet 1994 in den Verdacht, seine weisse Ehefrau und deren Freund getötet zu haben. Schon die Verfolgung des im Auto flüchtenden Verdächtigen wurde live im Fernsehen übertragen, später auch der Prozess selber, der länger als acht Monate dauerte. Die Medien stellten ihre eigenen Recherchen an, boten den Zeugen Geld für ihre Stories, befragten ihre Nutzer zu Schuld oder Unschuld des Angeklagten und veröffentlichten die Umfrageergebnisse. Die Verteidigung, die in den USA eine bestimmte Anzahl von Geschworenen ohne Angaben von Gründen hinauswerfen kann, liess die potentiellen Geschworenen durch Psychologen auf Herz und Nieren prüfen, mittels eines Interviews mit sehr persönlichen Fragen. Der Fragebogen, den die Geschworenen im Fall Simpson ausfüllen mussten, bestand aus 294 Fragen und war über siebzig Seiten dick!746 Ein paar Beispiele: – Frage 193: Haben Sie Bücher, Artikel oder Magazine zum Thema DNAAnalysen gelesen? – Frage 248: Haben Sie schon einmal einen Leserbrief geschrieben? – Frage 244: Welche Art von Büchern bevorzugen Sie? – Frage 251: Welche Nachrichtensendungen sehen Sie regelmässig im Fernsehen? Die Verteidigung lehnte sämtliche Kandidaten ab, die zugaben, sich bereits über den Fall orientiert zu haben. Ein Geschworener hingegen, der erklärte, in den Zeitungen nur die Berichte über Pferderennen zu lesen, wurde akzeptiert. Schon Mark Twain hatte am amerikanischen Jury-System bemängelt, dass nur Analphabeten und Ignoranten als unbefangen angesehen würden, der belesene, intelligente Geschworene werde abgelehnt.747 Schliesslich waren in der zwölfköpfigen Jury neun Schwarze vertreten; acht der zwölf Geschworenen waren Frauen. Der verfahrensleitende Richter ordnete die Isolierung der Geschworenen an. Diese wurden 265 Tage lang im Hotel untergebracht, sie durften weder Aussenkontakte pflegen noch die Medien nutzen. Nach mehrmonatiger Verhandlung berieten die Geschworenen gerade einmal vier Stunden; vermutlich wollten sie einfach nach Hause. 745  Robert

Schnabl, Der O. J. Simpson-Prozess, Berlin 1999. Schmitt-Geiger 64 ff. http: /  / law2.umkc.edu / faculty / projects / ftrials / Simpson / Jurypage.html# Sample %20Jury (9.4.13). 747  Twain 320 f. 746  Siehe:

166

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis

Sie sprachen Simpson frei. Der Richter rechnete mit dem Schlimmsten und verzögerte die öffentliche Bekanntgabe des Urteils auf den nächsten Tag, damit sich die Polizei, die mit Tumulten rechnete, vorbereiten konnte. Dass der Freispruch höchst fraglich war, zeigt die Tatsache, dass Simpson im späteren Zivilprozess zur Bezahlung von Schadenersatz an die Hinterbliebenen der Opfer verurteilt wurde. Der Harvard-Professor Alan Dershowitz, der dem Verteidigungsteam angehörte, hat über den Prozess ein Buch geschrieben.748 Zur Medientaktik der Verteidigung äussert er sich darin wohlweislich nicht. Er konnte wohl kaum zugeben, dass die Verteidigung die Jury gezielt beeinflussen wollte. Die von der Aussenwelt abgeschotteten Geschworenen hatten ja offiziell auch keinen Zugang zu den Medien. Trotzdem werfen Gibson und Padilla die Frage auf, ob Simpson seinen Freispruch nicht doch einer geschickten Litigation-PR zu verdanken hatte.749 Haggerty hingegen glaubt nicht, dass die Jury manipuliert wurde. Das Verteidigungsteam habe einfach genügend Geld und Ressourcen gehabt und es fertig gebracht, reasonable doubts in den Köpfen der Geschworenen zu wecken.750

8.2. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in Deutschland „In Deutschland funktioniert die Strafjustiz anders. Und deshalb ist hier zu Lande bis jetzt auch Litigation-PR nicht erfolgreich oder zumindest nicht so, wie es sich die medialen Krisenmanager wohl wünschen.“ Friedrichsen, ZRP 2010, 263.

Anderer Meinung als die Gerichtsberichterstatterin des Spiegel, Gisela Friedrichsen, ist der Journalist Uwe Wolff. Er ist davon überzeugt, dass Litigation-PR auch in den Ländern des kontinental-europäischen Rechtskreises, in denen es keine Jury gibt, wirksam sei.751 Wolff selber betreibt ein Büro für Litigation-PR, und natürlich sind es vor allem die kommerziellen Anbieter, die den Nutzen der Dienstleistung preisen. Warum könnte Litigation-PR auch in Europa eine Zukunft haben? Vier Gründe könnten allenfalls dafür sprechen: – Wie in den USA lässt sich eine zunehmende Medialisierung der Rechtspflege feststellen. 748  Alan

M. Dershowitz, Reasonable doubts, New York 1996. Public Relations Review 1999, 216. 750  Haggerty 290. 751  Wolff, Gerechtigkeit, 123. 749  Gibson / Padilla,



8.2. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in Deutschland 167

– Die sinkende Qualität der Gerichtsberichterstattung, die von vielen Autoren beobachtet wird,752 hat ein Vakuum geschaffen für lobbyierende Anwälte. Die Medienschaffenden sind dankbar für bereits aufbereitete Information. – Die Staatsanwaltschaft ist ihrerseits kommunikationsfreudiger geworden; ja, man kann geradezu von einer Kommunikationseskalation sprechen. – Die Anwälte, die früher durch restriktive Standesregeln zur Zurückhaltung verpflichtet waren, geniessen heute mehr „kommunikative Freiheit“. In den einzelnen Ländern mit kontinental-europäischem Rechtssystem sind die rechtlichen Voraussetzungen zwar ähnlich, aber nicht identisch. Zum Beispiel folgt in der Schweiz auf das relativ lange, geheime Vorverfahren ein „kurzer Prozess“, eine Medienkampagne kann deshalb kaum dieselbe Intensität erreichen wie in Deutschland, wo die Schöffengerichte den Prinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit verpflichtet sind.753 8.2.1. Nochmals Kachelmann „Höcker betreibt – auch wenn er den Ausdruck nicht mag – Litigation-PR, juristische Public Relations für seine Mandanten. Er wird es ‚mediale Notwehr‘ nennen, wenn er, wie im Fall Kachelmann versucht, Presse und Rundfunk auf die in seinen Augen richtige, nämlich entlastende Fährte zu führen.“ Knellwolf 61.

Kachelmann engagierte über seinen Medienanwalt Ralf Höcker den ersten Verteidiger Reinhard Birkenstock. Einen Tag nach der Verhaftung gab das Verteidigungsteam eine eigene Pressemitteilung heraus.754 Im Lauf des Verfahrens stellte Höcker mehr als 30 Gesuche um einstweilige Verfügungen gegen Bild, deren Berichterstatterin Alice Schwarzer und gegen andere Medien und Medienschaffende; er nutzte also das von Zeller als Verhinderungsstrategie beschriebene Vorgehen.755 Sowohl Höcker wie auch der Rechtsvertreter des mutmasslichen Opfers äusserten sich in verschiedenen Medien und reagierten auf gegenseitige Vorwürfe.756 Die Berichterstatterin der Zeit, Sabine Rückert, soll mit Reinhard Birkenstock Kontakt aufgenom752  Holzinger  /  Wolff 138 f.; Gullotti  /  Binz, Anwaltsrevue 2010, 359; Rehbinder, Litigation-PR, 774. 753  Binz  / Gullotti 127; Knellwolf 254; Karl-Ludwig Kunz in der Sendung Echo der Zeit vom 31. Mai 2011, Radio DRS. 754  Siehe: http: /  / www.hoecker.eu / mitteilungen / artikel.htm?id=38 (9.4.13). 755  Zeller, plädoyer 200 / 6, 23. 756  Reike 191.

168

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis

men und auch beim späteren Wechsel der Verteidigung zu Johann Schwenn ihre Hand im Spiel gehabt haben.757 Nach dem Eindruck von Kommunikationsberater Hartwin Möhrle wirkte das erste Verteidigerteam medial überfordert. Schwenn dagegen habe auf demonstrative Inszenierungen gesetzt, was auch nicht ideal gewesen sei. Er habe versucht, sich persönlich zu profilieren, das habe Kachelmann geschadet. Es habe Kachelmann auch nicht geholfen, dass er bei seiner Entlassung einen Mitarbeiter des Gefängnisses umarmte. Möhrle hält solche „menschelnden“ Gesten, die bezwecken, in der Öffentlichkeit Sympathien zu gewinnen, für unglaubwürdig. Im Lauf des Verfahrens habe dann Kachelmann sein Verhalten geändert, auf jede Theatralik verzichtet und einen stoischen Eindruck gemacht. Ob dieser Kurswechsel eine überlegte und bewusste Strategie war, kann Möhrle natürlich nicht beurteilen.758 Die Medienwissenschaftler Andreas Köhler und Patricia Langen wollten im Fall Kachelmann ebenfalls hinter die Kulissen blicken und die Öffentlichkeitsarbeit und deren Wirkung untersuchen.759 Die Autoren erfassten die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft, die Berichterstattung der Medien, die „Image-PR“ Kachelmanns, die öffentliche Meinung und die Wechselwirkung der vier Faktoren. Zu diesem Zweck analysierten sie die Inhalte der OnlineAusgaben diverser Medien, sowohl von Leit- wie von Boulevard-Medien. Zudem befragten die Autoren 1652 Medienschaffende, von denen 134 Teilnehmer den Fragebogen vollständig ausfüllten, was einer sehr geringen Rücklaufquote von 8,1 % entspricht. Schliesslich machten die Autoren beim Publikum eine Online-Umfrage, sie konnten die Antworten von 91 Personen auswerten. Ein paar Ergebnisse von Medienanalyse und Umfragen: Die Medienanalyse zeigt, dass die Staatsanwaltschaft die Unschuldsvermutung verletzte und zu grosszügig informierte. Schon die erste Medienmeldung über die Verhaftung ging zu weit, mit ihr bahnte die Staatsanwaltschaft der Medienkampagne den Weg. Etwa die Hälfte der befragten Journalisten beurteilt die Medienberichterstattung kritisch. Ganz allgemein konstatieren 37,1 % der Journalisten, dass die Staatsanwälte zunehmend bewusst versuchen, auf die Meinungsbildung in der Öffentlichkeit Einfluss zu nehmen. Nur 9,3 % der Journalisten sind der Meinung, dass die Staatsanwaltschaft im Fall Kachelmann ihrer Pflicht zur Objektivität nachgekommen sei.

757  Knellwolf

183, 222 f.; Schwarzer 12; Pöschl / Döring 92 f. 153 ff. 759  Köhler / Langen 187 ff. 758  Möhrle



8.2. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in Deutschland 169 65,2 % der befragten Medienkonsumenten informierten sich über den Fall Kachelmann, aber weniger aus eigenem Interesse, sondern weil man sich der Berichterstattung einfach nicht entziehen konnte. 71,4 % hielten Kachelmann für unschuldig. Doch verlor er bei 65,5 % der Teilnehmer wegen seines polygamen Lebensstils an Sympathie.

Die Ergebnisse sind wegen der geringen Teilnehmerzahlen und der mangelnden Repräsentativität der Stichproben natürlich nicht sehr aussage­ kräftig. Die Autoren schätzen die Imagepflege von Kachelmann als teilweise erfolgreich ein. Seine Unschuldsbeteuerungen wurden in den Medien vielfach zitiert, es gelang ihm, die Kernbotschaft gezielt zu platzieren. Er nutzte die Macht der Bilder: das weisse T-Shirt, das er bei der Haftentlassung trug, die Umarmung des Aufsichtsbeamten, die Ruhe und Gelassenheit, die er während des Prozesses zu demonstrieren versuchte. Andererseits habe Kachelmann einige Chancen verpasst. Die Entlassung aus der Untersuchunghaft hätte er nutzen sollen, um einen Vorfreispruch zu erwirken. Die Klagen gegen Bild und andere Medien waren nicht geeignet, Kachelmanns Image zu verbessern, im Gegenteil. Ungeschickt war ebenfalls, dass Kachelmann in einem Interview mit dem Spiegel die hygienischen Zustände in der Haftanstalt bemängelte. 8.2.2. Eine Meinungsumfrage zum aktuellen Stand der Litigation-PR Lars Rademacher und Anton Bühl von der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in München (MHMK) führten 2010 eine Umfrage zum Thema Litigation-PR in Deutschland durch.760 Sie luden online 612 Justizbehörden (Gerichte und Staatsanwaltschaften) sowie 430 Anwaltskanzleien zur Teilnahme an einer Umfrage ein. Die Autoren konnten 259 komplette Fragebogen auswerten. 72 % der Behörden hatten geantwortet, aber nur 15 % der Anwaltskanzleien. Ingesamt betrug die Rücklaufquote 25 %. Einige Ergebnisse der Studie: Die Teilnehmer aus den Kreisen der Justiz kennen zu 70 % den Begriff der Litigation-PR gar nicht. Bei den Teilnehmern aus Anwaltskanzleien sind es nur 30 %, denen der Ausdruck nicht geläufig ist. Litigation-PR werde an Bedeutung zunehmen, meinen 47,4 % der Richter, 55,9 % der Staatsanwälte und 84,2 % der Rechtsanwälte.

760  Rademacher / Bühl

243 ff.

170

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis

Für 33,9 % der Richter, 26,5 % der Staatsanwälte und 28,9 % der Anwälte ist Litigation-PR nur ein „Marketinggebilde, das Kommunikationsberater verkaufen wollen“. Dass Litigation-PR der Waffengleichheit zwischen den Prozessparteien förderlich sei, meinen 10,5 % der Richter, 23,5 % der Staatsanwälte und 26,3 % der Anwälte. Der Aussage „Litigation-PR kann den Ausgang eines Prozesses beeinflussen“ stimmen 47,3 % der Rechtsanwälte zu. Nur 8,5 % der Richter und 26,5 % der Staatsanwälte sind derselben Meinung. Hingegen verneinen 47,4 % der Anwälte, 53,6 % der Richter und 44,1 % der Staatsanwälte einen Einfluss explizit.

Diese Studie kann natürlich nicht feststellen, ob Litigation-PR tatsächlich wirksam ist oder nicht. Sie gibt nur die persönlichen Eindrücke und Meinungen der befragten Personen wieder. Die Stichprobe war nicht repräsentativ, die Rücklaufquote unter den Anwälten gering, verallgemeinernde Aussagen lassen sich deshalb nicht machen. Doch auch in dieser Untersuchung zeigt sich – wie in allen bisherigen Umfragen – der Trend, dass Verteidiger eher misstrauisch sind, was die Medienresistenz der Angehörigen der Justiz betrifft (siehe S. 125 ff.).

8.3. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Schweiz „In der Schweiz und Österreich steckt die Rechtskommunikation indessen noch in den Kinderschuhen.“ Binz / Gullotti 128.

Die Zurückhaltung der Schweizer Anwälte mag mit der bisherigen restriktiven Rechtsprechung der Gerichte zu den Berufsregeln zusammenhängen. Art. 12 lit. a des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA) verpflichtet den Anwalt zu einer sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung. Die Kritik eines Anwalts an der Rechtspflege unterliegt Schranken, soweit sie ein hängiges Verfahren betrifft. Sie darf es nicht darauf anlegen, die Behörden unter Druck zu setzen. Erst in neuerer Zeit ist die Praxis des Bundesgerichts unter dem Druck der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liberaler geworden.761 Trotzdem bleibt Litigation-PR auch in rechtlicher Hinsicht eine Gratwanderung. Zwar gab es auch in der Schweiz Strafprozesse, welche die Öffentlichkeit beschäftigten. Der Wirtschaftsstrafprozess gegen die Verantwortlichen des 761  EGMR vom 13. Dezember 2007, No. 35865  /  04, Foglia c. Schweiz, siehe medialex 2008, 43 f.



8.3. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Schweiz171

Swissair-Groundings beispielsweise brachte eine intensive Medienberichterstattung mit sich. Die Angeklagten wurden freigesprochen. Es ist nicht bekannt, ob die Verteidiger im Hintergrund lobbyierten. Wenn ja, haben sie es diskret gemacht, wie es der Befürworter von Litigation-PR, Matthias Prinz, empfiehlt.762 Einer der wenigen Verteidiger, der sich nie vor Publizität zugunsten seiner Klienten scheute, ist der heute nicht mehr berufstätige Basler Anwalt und ehemalige Mietrichter Peter Zihlmann. Zu jener Zeit waren Medienkontakte für einen Anwalt fast noch ein Tabu. Peter Zihlmann wurde denn tatsächlich auch mehrmals standesrechtlich verurteilt. Über seinen grössten Fall, die Wirtschaftsstrafsache André Plumey, publizierte Zihlmann einen Tatsachenroman, in dem Zihlmann zwar die Namen änderte, doch auf eine Art, dass die Personen – jedenfalls für Insider – erkennbar bleiben; er selber tritt alias als Verteidiger Zwengmann auf.763 1990 kritisierte Zihlmann in einer Pressemitteilung zum Tag der Menschenrechte die Dauer der Untersuchungshaft und die Haftbedingungen des Wirtschaftsdelinquenten. Sie seien eines Rechtsstaats unwürdig und verletzten das Folterverbot der EMRK.764 Vier Tage später wurde Plumey aus der Haft entlassen. Doch der Staatsanwalt zeigte Zihlmann bei der Aufsichtskommission über die Advokaten an. Diese auferlegte Zihlmann eine Disziplinarbusse, wegen – damals noch – verbotener Werbung sowie übertriebener, massloser und unqualifizierter Kritik an den Justizbehörden. Der Weiterzug an das schweizerische Bundesgericht und an die Europäische Kommission für Menschenrechte blieb erfolglos.765 1993, in einem anderen Fall, wandte sich Zihlmann wiederum an die Medien, diesmal an die Basler Gratiszeitung Doppelstab. Dort erschien am 24. Juni 1993 ein Beitrag mit dem Titel „Auch ohne Beweise: Basler Haftrichter urteilt knallhart“. Im Beitrag wurde Zihlmann zitiert, der erwogen habe, aus Protest gegen den Entscheid des Haftrichters sein Anwaltspatent zu verbrennen. Mit seinem eigentlichen Anliegen hatte Zihlmann zwar wiederum Erfolg, der junge Straftäter wurde aus der Haft entlassen. Doch erhielt der Anwalt von der Aufsichtskommission eine Disziplinarbusse von 500 Fr. Im Entscheid wurde Zihlmann vorgeworfen, er habe versucht, Druck auf die Justiz auszuüben. Das schweizerische Bundesgericht wies seine Beschwerde ab.766 762  Siehe:

http: /  / planet-interview.de / interview-matthias-prinz-24032011.html (9.4.13). Zihlmann, Der Fall Plumey, Genève 1995. 764  Basler Zeitung vom 10. Dezember 1990, S. 25. 765  EKMR vom 28. Juni 1995, No. 21861 / 93, Zihlmann c. Schweiz; siehe auch Zihlmann, Justiz, 246 f. 766  Nach Zihlmann, Justiz, 245 f. 763  Peter

172

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis

Zihlmann hat sich in seinem Buch über die Schweizer Justiz auch zum Mordfall Zwahlen (siehe S. 37 f.) geäussert: „Aber Bruno Zwahlen hatte das Glück, dass sich die Weltwoche mit ihrer Medienmacht und ihrem engagierten Journalisten Hanspeter Born für seinen Fall interessierte und die Öffentlichkeit entsprechend informierte.“767 Zihlmann hat Recht, wenn er feststellt, dass ohne Hanspeter Born der Fall nicht wieder aufgerollt worden wäre.

8.4. Unterlassene Öffentlichkeits- und Medienarbeit? Kann einem Verteidiger überhaupt je der Vorwurf gemacht werden, er sei untätig geblieben und habe keine effektive Medienarbeit betrieben? Überschätzt man damit nicht den Einfluss eines Anwalts, der sich mit der Macht der Medien konfrontiert sieht? Und unterschätzt man die Eigengesetzlichkeit der Medien? Die beiden abschliessend dargestellten, sehr gegensätzlichen Fälle illustrieren nochmals die wichtige Rolle, welche die Medien für die Kontrolle der Rechtspflege wahrnehmen können und sollen. Der Prozess gegen JeanLouis Jeanmaire wegen Landesverrats wickelte sich unter grosser Anteilnahme der Öffentlichkeit ab. Jeanmaire wurde nicht nur von den Medien, sondern auch von den Behörden vorverurteilt; der Verteidiger blieb untätig und nahm nicht öffentlich Stellung für seinen Klienten. Im Fall von Maurice Bavaud, der sein gescheitertes Attentat auf Hitler mit dem Tod büsste, wurde überhaupt jegliche Publizität unterdrückt, das schweizerische Aussendepartement schien es sich mit dem Dritten Reich nicht verderben zu wollen. 8.4.1. Landesverräter Jeanmaire: nachlässige Verteidigung?768 „Im Grunde waren es die Obsessionen des Kalten Kriegs, die Jeanmaire in den Rang eines ‚Jahrhundertverräters‘ katapultierten.“ Schoch 221.

In der Schweiz fand in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts ein Prozess um militärischen Geheimnisverrat statt, der an die Dreyfus-Affäre erinnert, der Prozess gegen Jean-Louis Jeanmaire (1910–1992). Anders als Dreyfus hatte Jeanmaire aber tatsächlich militärische Geheimnisse verraten und dies auch gestanden. 767  Zihlmann,

Justiz, 100. Le Carré, Ein guter Soldat, Köln 1991. Urs Rauber, Der Fall Jeanmaire, Zürich 1991. Jürg Schoch, Fall Jeanmaire, Fall Schweiz, Baden 2006. 768  John



8.4. Unterlassene Öffentlichkeits- und Medienarbeit?173

Jean-Louis Jeanmaire, ein Brigadier der Schweizer Armee, wurde wegen Verrats militärischer Geheimnisse an die damalige Sowjetunion vom Divisionsgericht am 17. Juni 1977 zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt, degradiert und aus der Armee ausgeschlossen. Später wurde ihm auch die Pension aberkannt. Jeanmaire musste die Strafe in ganzer Länge absitzen, seine Revisions- und Begnadigungsgesuche blieben erfolglos. Erst kurz vor seinem Tod kam er frei. Die Medien schürten die Entrüstung gegen den Landesverräter, was ein Leichtes war damals, als noch die Kommunistenfurcht grassierte. Jeanmaire war erst noch ein hochrangiger Offizier, als umso schändlicher empfand man seine Tat. Jeanmaire wurde praktisch von allen Medien vorverurteilt: Die Boulevard-Tageszeitung Blick etwa bezeichnete ihn als „Verräter des Jahrhunderts“.769 Jeanmaire wurde aber nicht nur von den Medien, sondern auch von den Behörden vorverurteilt. Der damalige Bundesrat Kurt Furgler preschte einmal mehr vor wie früher im Fall der Terroristin Petra Krause (siehe S. 66). Er nannte Jeanmaire einen Verräter, sprach von dessen verwerflicher Gesinnung und verlangte eine Zuchthausstrafe von 20 Jahren. Ein Parlamentarier forderte sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe. Der Bundesanwalt soll bedauert haben, dass in der Schweiz Mittel, die im Verhör die Aussagebereitschaft fördern, nicht zugelassen sind. Mit diesen Äus­ serungen verletzten die Behörden nicht nur die Unschuldsvermutung und die Gewaltenteilung, sie griffen auch die richterliche Unabhängigkeit an. Die hohe Strafe für Jeanmaire wird heute als unverhältnismässig und unangemessen angesehen. Die Geheimnisse, die er an den „Klassenfeind“ weitergegeben hatte, waren banal. Jeanmaire fand keine Verbündete, ja, nicht einmal sein Anwalt soll sich gross engagiert haben. Urs Rauber geht hart mit dem Verteidiger ins Gericht, er spricht von Jean-Félix Paschoud als „Beistand, der keiner war“.770 Der Anwalt soll die zahlreichen Verfahrensfehler nicht gerügt haben. Wie im Prozess gegen Dreyfus konnten die Richter nicht alle Dokumente zur Kenntnis nehmen. Die Öffentlichkeit wurde weitgehend von der Verhandlung ausgeschlossen. Das vollständige Urteil soll nicht einmal Jeanmaire selber zugänglich gemacht worden sein. Paschoud machte keinen Versuch, der Öffentlichkeit ein weniger einseitiges Bild zu vermitteln. Ob das in einer Zeit des Kalten Kriegs überhaupt gelungen wäre, ist allerdings fraglich. Erst beim dritten und letzten Revi­ sionsgesuch hatte sich Jeanmaire vom medienerfahrenen Genfer Anwalt Jacques Barillon vertreten lassen. Doch weil Jeanmaire starb, wurde sein drittes Revisionsgesuch als gegenstandslos abgeschrieben. Zu spät kamen 769  Blick

vom 8. Oktober 1976, nach Schoch 98. 124.

770  Rauber

174

8. Öffentlichkeits- und Medienarbeit in der Praxis

auch die Bemühungen einzelner Buchautoren und Journalisten um eine gerechte Würdigung von Jeanmaire. Der Bestsellerautor John le Carré inter­ essierte sich für den Fall, sprach mit Jeanmaire nach dessen Entlassung und schrieb die Reportage Ein guter Soldat über den „modernen Dreyfus“.771 Er stellte sich zudem die Frage, ob der Fall Jeanmaire nur vorgeschoben war und von einem wirklichen grossen Spionagefall hätte ablenken sollen. 8.4.2. Hitler-Attentäter Bavaud: Unterdrückung von Publizität772 „Über Bavaud ist zu der Zeit, als ihm das Schreiben noch geholfen hätte, nichts geschrieben worden. Der Fall ist im gegenseitigen Einvernehmen der deutschen und schweizerischen Behörden totgeschwiegen worden. Die Familie Bavaud kannte keine Journalisten, die man für den Fall interessieren konnte, und der Vater hätte es vermutlich auch nicht gewagt, ohne Einwilligung des Politischen Departements etwas in die Presse zu bringen.“ Meienberg 170.

Maurice Bavaud (1916–1941), ein überzeugter Katholik aus Neuchâtel, plante ein Attentat auf Hitler und reiste zu diesem Zweck nach Deutschland. Er verfolgte verschiedene Pläne, doch blieben alle noch im Vorbereitungsoder im Versuchsstadium stecken. Einmal war es ihm sogar gelungen, auf das Gelände des Berghofs, das Quartier Hitlers in Bayern, zu gelangen. Fast zum Ziel kam Bavaud dann beim Marsch der nationalsozialistischen Parteimitglieder zur Münchner Feldherrnhalle am 9. November 1938. Bald danach wurde er verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 14. Mai 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Der deutsche Pflichtverteidiger tat mehr als seine Pflicht und setzte sich für Bavaud ein – was unter den damaligen Umständen viel Mut brauchte –, konnte aber nichts ausrichten. Der schweizerische Gesandte in Berlin hingegen, Hans Frölicher, liess seinen Landsmann im Stich, er besuchte ihn nicht einmal im Gefängnis. Zusammen mit dem Departement für Auswärtige Angelegenheiten versuchte Frölicher, die Sache unter dem Deckel zu halten. Man erhält den Eindruck, dass der Schweizer Diplomatie die Angelegenheit äusserst peinlich war. Den deutschen Behörden war das noch so recht. Hätte die Schweiz interveniert, hätte sie vielleicht mindestens das Leben ihres Bürgers retten können. So erhielt die Schweizer Presse, die zu dieser Zeit der Zensur unterworfen war, keinen Wind von der Sache, und es wurde nicht darüber berichtet. Nicht einmal Bavauds Eltern waren über die bevorstehende Exekution orientiert, den Abschiedsbrief ihres Sohnes erhielten sie erst nach dessen Hinrichtung. 771  Le

Carré 24. Meienberg, Es ist kalt in Brandenburg: Ein Hitler-Attentat, Zürich 1980.

772  Niklaus

9. Rechtliche Rahmenbedingungen  der Öffentlichkeits- und Medienarbeit Die Tätigkeit des Rechtsanwalts wird durch die Wirtschaftsfreiheit von Art. 27 BV geschützt. In der Regel untersteht das Verhältnis zwischen einem Anwalt und seinem Klienten dem Privatrecht. Eine Sonderstellung nimmt der vom Staat bestellte Offizialverteidiger ein. Zwar gehört die Tätigkeit des Anwalts zu den sogenannten freien Berufen, doch ist der Rechtsanwalt in der Ausübung seiner Tätigkeit nicht ganz frei. Selbstverständlich ist er den Schranken der Rechtsordnung unterworfen wie jeder andere Bürger auch. Zudem untersteht der forensisch tätige Anwalt, der Parteien vor Gericht vertritt, dem Standesrecht. Dieses stellt Verhaltensregeln auf im Hinblick auf die besondere Funktion des Anwalts als „Diener des Rechts“ und „Mitarbeiter der Rechtspflege“, wie es das Bundesgericht noch im Jahr 1997 etwas altertümlich formulierte.773 Auch nach moderner Auffassung sollen Rechtsanwälte auf Grund ihrer besonderer Stellung „zum ordnungsgemässen Gang der Justiz beitragen“.774 Das Standesrecht war bis 2002 Sache der Kantone, heute ist hauptsächlich der Bund für die Gesetzgebung zuständig. Seit dem 1. Juni 2002 gilt das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwälte und Anwältinnen (BGFA).

9.1. Rechtsbeziehung zwischen Verteidiger und Beschuldigtem Es handelt sich dabei um ein Auftragsverhältnis nach Art. 394 ff. OR. In der Gestaltung des Mandats sind die Parteien in den Schranken der Rechtsordnung frei. Eine solche Schranke bildet das BGFA. Dass sich ein Verteidiger für seinen Mandanten gegenüber den Strafbehörden einsetzt, ist selbstverständlich. Diese Funktion weist ihm das schweizerische Bundesgericht ausdrücklich zu; der Anwalt muss den Klienten engagiert und effizient vertreten. Vom Verteidiger wird eine geradezu einseitige Interessenwahrnehmung gefordert. Im konkreten Fall sah es das Bundesgericht als unzulässig an, dass der Verteidiger einräumte, er halte seinen nicht geständigen Klienten für schuldig.775 773  BGE

123 I 12, 16. AJP 2005, 1178 und die in Fn. 17 angegebene Rechtsprechung. 775  BGE 138 IV 161, 167 f. 774  Bernhart,

176

9. Rechtliche Rahmenbedingungen

Der Mandant oder Klient kann dem Anwalt Weisungen erteilen, wie er sich die Führung des Mandats vorstellt. Der Anwalt wiederum ist frei, diese Bedingungen anzunehmen oder sein Mandat niederzulegen. Möchte der Klient, dass sein Rechtsvertreter Öffentlichkeitsarbeit macht, so ist der Anwalt diesem Wunsch verpflichtet, soll ihm aber nicht unbesehen folgen. Würde Publizität dem Anliegen des Klienten schaden, muss der Anwalt darauf hinweisen und notfalls sein Mandat niederlegen.776 Denkbar ist auch, dass der Klient selber einen Kommunikationsberater engagiert und den Anwalt verpflichtet, mit dem Berater zusammenzuarbeiten. Das Weisungsrecht des Klienten gilt grundsätzlich auch für Beschuldigte, denen die unentgeltliche Rechtspflege nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO gewährt wurde. In diesem Fall wird zwischen dem amtlichen Verteidiger und dem Staat ein öffentlich-rechtliches Verhältnis begründet, das den Verteidiger verpflichtet, dem Beschuldigten zur Verfügung zu stehen. Einzig dem öffentlichen Recht untersteht der amtliche Verteidiger oder Pflichtverteidiger, der im Sinn von Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO ohne den Willen des Beschuldigten tätig wird.777 Der Anwalt haftet nach Art. 398 Abs. 2 OR nicht für den Erfolg seiner Aktionen, sondern nur für die gebotene Sorgfalt. Das gilt ebenso für Öffentlichkeits- und Medienarbeit. Es versteht sich von selber, dass der Anwalt nicht garantieren kann, die Reputation des Klienten zu wahren. Zu versprechen, dass der Richter ein günstiges Urteil fällen werde, ist einem Anwalt nicht möglich, eine solche Garantie wäre im Rahmen von Art. 20 OR als nichtig anzusehen. 9.1.1. Entschädigung für Öffentlichkeits- und Medienarbeit Im Mandat, das allein vom Privatrecht beherrscht wird, ist die Entschädigung kein Problem. Der Klient, der Medienarbeit gewünscht hat, ist verpflichtet, sie zu bezahlen. Ist er mit dem geforderten Honorar nicht einverstanden, kann er sich an die Honorarkommission des kantonalen Anwaltsverbandes wenden, sofern sein Anwalt dem Verband angeschlossen ist. Die Honorarkommission hat die Funktion einer Schlichtungsstelle; werden sich Anwalt und Klient nicht einig, bleibt ihnen nur der Rechtsweg. Bei amtlicher Verteidigung übernimmt die öffentliche Hand die Anwaltskosten. Honoriert wird der Rechtsbeistand durch die Staatskasse nach festen Tarifen, gemäss Art. 135 Abs. 1 StPO. 1999 hielt das Bundesgericht fest, dass die Medienarbeit eines amtlichen Verteidigers vergütet werden muss. Im kon776  Schulz

144. Art. 12 BGFA, Rz. 144 ff.

777  Fellmann,



9.2. Rechtsbeziehung zwischen Verteidiger und PR-Berater177

kreten Fall hatten die Strafverfolgungsbehörden die Journalisten an den Verteidiger verwiesen. Die zehn Minuten, die der Verteidiger in seiner Kostennote für die Medienarbeit eingesetzt hatte, waren vom Staat zu entschädigen.778 Wird der Beschuldigte frei gesprochen, gilt der Staat als unterliegende Partei und muss auch die Auslagen für Medienarbeit tragen, wie das Bundesgericht 2004 entschied: Dem Kanton Freiburg waren die Verfahrenskosten auferlegt worden. Doch hatte das Kantonsgericht die Aufwendungen des Verteidigers für Medienkontakte – Veröffentlichung von Pressecommuniqués, Abhalten von Pressekonferenzen, Fernsehinterviews, Verfassen von Leserbriefen – gestrichen mit der Begründung, sie stünden mit dem Strafverfahren nicht in unmittelbarem Zusammenhang und dienten nicht unmittelbar der Verteidigung der Interessen des Mandanten. Das Bundesgericht führte unter Hinweis auf seine Praxis779 aus, dass Medienkontakte unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit in besonderen Fällen zur Wahrung der Interessen des Mandanten erforderlich seien, so wenn der Beschuldigte medialen Vorverurteilungen entgegentreten oder auf behördliche Verlautbarungen reagieren muss. Hier war das Verfahren von intensiver Publizität begleitet und der Beschuldigte an den Pranger gestellt worden. Auch die Öffentlichkeitsarbeit der Behörden hatte ein derart ungewohntes Mass angenommen, dass sich das Freiburger Parlament veranlasst sah, ein Gutachten über die Führung der Strafuntersuchung in Auftrag zu geben. Das Gutachten äusserte sich kritisch über die Justiz-PR und bezeichnete sie als übertrieben.780

9.2. Rechtsbeziehung zwischen Verteidiger und PR-Berater Die Rechtsbeziehung zwischen Verteidiger und einem freischaffenden, externen PR-Berater untersteht dem Auftragsrecht. In einer grossen Anwaltskanzlei können auch im Arbeitsverhältnis angestellte Mitarbeiter für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig sein. Sie gelten als Hilfspersonen im Sinn von Art. 101 OR. Ist oder war der Beschuldigte in einem grösseren Unternehmen tätig, wird vermutlich die PR-Stelle des Arbeitgebers die Öffentlichkeitsarbeit übernehmen. Möglich ist auch, dass das Unternehmen eine externe PR-Firma beauftragt. In diesen Fällen sind für eine gute Zusammenarbeit zwischen dem Beschuldigten, den Rechtsanwälten und den PR-Spezialisten Vereinbarungen nötig, welche die Kompetenzen und Aufgaben der Beteiligten regeln. 778  BGE

vom 17. August 1999, 1P.327 / 1999, E. 3.c. 106 Ia 100, 108 f., 111 ff. 780  BGE vom 2. Juni 2004, 1P.57 / 2004, E. 9.3. 779  BGE

178

9. Rechtliche Rahmenbedingungen

PR-Berater haben die Sorgfaltspflichten nach Auftrag oder Arbeitsvertrag einzuhalten und Geschäftsgeheimnisse zu wahren. Verletzen sie diese Pflichten, können sie dafür zivil- oder strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. Sie sind keinen speziellen Rechtsnormen unterworfen, die den Berufsregeln der Anwälte vergleichbar sind. Deshalb ist ein PR-Berater in seiner Tätigkeit viel freier als ein Rechtsanwalt. Es stellt sich aber die Frage, ob der Anwalt oder seine Hilfsperson den Berufsregeln auch untersteht, wenn er Medienarbeit betreibt. Kaspar Schiller beschränkt den Geltungsbereich der Berufsregeln auf den Kernbereich der Anwaltstätigkeit, die „anwaltstypische“ Tätigkeit. Der Autor führt in seiner Aufzählung die Öffentlichkeits- und Medienarbeit nicht als typische Tätigkeit auf.781

9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA Für die Berufsausübung der Rechtsanwälte waren bis zum Erlass des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA) kantonale Normen massgebend. Mit dem Inkrafttreten des BGFA am 1. Juni 2002 wurde das kantonale Recht derogiert, soweit das BGFA eigene Normen festsetzte.782 Den Kantonen verbleiben nur noch wenige Kompetenzen; so bestimmen sie die Anforderungen für die Erteilung des Anwaltspatents und organisieren die Aufsicht über die Anwälte. Zur Regelung dieser Kompetenzen erliess der Kanton Zürich das Anwaltsgesetz vom 17. November 2003, das seit 1. Januar 2005 in Kraft ist. Das BGFA soll in Zukunft durch ein schweizerisches Anwaltsgesetz abgelöst werden. Das Ziel ist eine noch weitergehende Vereinheitlichung sowie die Anpassung an die 2011 in Kraft getretenen gesamtschweizerischen Prozessordnungen. Der Schweizerische Anwaltsverband (SAV) hat einen Entwurf verfasst und diesen im Februar 2012 der Bundesverwaltung zugestellt.783 Die Berufsregeln des BGFA finden sich im 3. Abschnitt des Gesetzes. Art. 12 BGFA stellt die zehn Grundsätze anwaltlicher Tätigkeit auf, und Art. 13 BGFA befasst sich mit dem Schutz des Anwaltsgeheimnisses. Die Berufsregeln sind abschliessender Natur. Die Standesregeln des schweizerischen Anwaltsverbands und diejenigen der kantonalen Verbände haben keine eigenständige Bedeutung mehr. Darauf ist nur noch abzustellen, soweit sie eine landesweit geltende Auffassung zum Ausdruck bringen.784 Immerhin kann die frühere Rechtsprechung zu den kantonalen Anwaltsge781  K. Schiller,

Anwaltsrecht, 77, Rz. 327, 80 ff., Rz. 337 ff. 130 II 270, 274 ff. 783  Staehelin, Anwaltsrevue 2012, 68. 784  BGE 130 II 270, 274 ff.; Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 4b. 782  BGE



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA179

setzen und den Verbandsregeln zur Auslegung und Präzisierung der Vorschriften des BGFA herangezogen werden. Das gilt beispielsweise für die Frage, was die sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung nach Art. 12 lit. a BGFA im Detail bedeutet.785 Über die Einhaltung des BGFA wacht gemäss Art. 14 BGFA eine kantonale Aufsichtsinstanz, in Zürich die Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte. Die Aufsichtsinstanz wird nicht von sich aus tätig, sie untersucht Vorkommnisse, die ihr zur Kenntnis gebracht werden. Stellt sie fest, dass ein Anwalt gegen Berufspflichten verstossen hat, kann sie Sanktionen aussprechen. Die Entscheide der Aufsichtsinstanz können an eine kantonale Instanz – in Zürich ans Verwaltungsgericht – und dann ans Bundesgericht weitergezogen werden. Für die Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Anwälte sind drei Normen von Bedeutung: – Art. 12 lit. d BGFA über die Werbung, – Art. 13 BGFA über das Berufsgeheimnis – die Generalklausel von Art. 12 lit. a BGFA über die sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung. 9.3.1. Werbung Im BGFA wird der Begriff der Öffentlichkeit nur im Zusammenhang mit der Werbung erwähnt. Werbung fällt unter den verfassungsrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit nach Art. 16 BV, der Medienfreiheit nach Art. 17 BV und der Wirtschaftsfreiheit nach Art. 27 BV. Der entsprechende Schutz nach Art. 10 EMRK geht nicht weiter als derjenige, den die Bundesverfassung gewährt.786 In vielen Kantonen galt bis zum Inkrafttreten des BGFA ein absolutes Werbeverbot.787 Nach dem heute geltenden Art. 12 lit. d BGFA dürfen Anwälte Werbung machen, wenn diese objektiv ist und einem Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit entspricht. Im Entwurf des Schweizerischen Anwaltsverbands zu einem neuen Anwaltsgesetz wird die Werbung überhaupt nicht mehr geregelt: Objektive Werbung gäbe es nicht, und unlauter dürfe die Werbung schon gemäss UWG nicht sein, das genüge.788 Doch ein neu785  Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 4c, Rz. 5; Bernhart, AJP 2005, 1179 und die in Fn. 24 angegebene Rechtsprechung. 786  BGE 125 I 417, 422. 787  BGE vom 24. Juli 2006, 2A.98 / 2006, E. 4. 788  Staehelin, Anwaltsrevue 2012, 69.

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

es, allerdings nicht einstimmig ergangenes Urteil des Bundesgerichts wendet sich gegen den liberalen Zeitgeist und hat eine 9,4 m lange und 70 cm hohe, beleuchtete Fassadenbeschriftung als zu aufdringlich beurteilt.789 Werbung dient der Anpreisung und Vermarktung der Dienstleistungen eines Anwalts. Indirekt kann sich ein Anwaltsbüro auch mit Public Relations profilieren, indem es etwa als Sponsor für Sportveranstaltungen oder als Mäzen für ein Kunsthappening auftritt, einen Tag der offenen Tür veranstaltet oder dem Publikum auf der Website Musterverträge zur Verfügung stellt. Solche Vorkehren sind als Teil der publizistischen Kommunikation790 oder kommerziellen Publikation791 erlaubt. Ebenfalls zur publizistischen Kommunikation gehört die Öffentlichkeitsarbeit zugunsten eines Klienten, die im BGFA nicht erwähnt wird. Sie hat nicht in erster Linie die Profilierung des Rechtsanwalts zum Zweck. Zwar mag Eigenwerbung ein nicht unerwünschter Nebeneffekt sein, wenn sich der Anwalt im Interesse eines Klienten an die Medien oder an die Öffentlichkeit wendet. Der Effekt lässt sich nicht vermeiden, die Werbung darf aber nicht im Vordergrund stehen. Der Anwalt darf seine eigene Leistung nicht aufdringlich herausstellen. Ebensowenig darf er die Arbeit von Berufskollegen abwerten.792 Es ist zwar unumgänglich, dass die Öffentlichkeits­ arbeit des Strafverteidigers auch dessen eigene Person ins Blickfeld rückt. Doch entsteht dabei leicht der Verdacht, dass der Anwalt nicht in erster Linie dem Wohl des Klienten dienen, sondern das eigene Geltungsbedürfnis befriedigen möchte.793 Die Aufsichtskommission über die Anwälte und Anwältinnen des Kantons Zürich erachtete den Internet-Auftritt eines Verteidigers während eines Prozesses als zulässig und sah die Publikation nicht als unerlaubte Werbung an. Die Kommission folgte der Rechtfertigung des Verteidigers, es sei ihm nicht um den Werbeeffekt gegangen. Die Berichte im Web sollten den Medien als zusätzliche Informationsquelle dienen „und dadurch das mediale Ungleichgewicht zwischen Staatsanwaltschaft und Geschädigtenvertretung einerseits und der Verteidigung andererseits entschärfen.“794

789  BGE

139 II 173. Begriff verwendet Bernhart, AJP 2005, 1177 ff. 791  Diesen Ausdruck verwendet Fellmann, Art. 12 lit. d BGFA, Rz. 115. 792  BGE 125 I 417, 425. 793  K. Schiller, Anwaltsrecht, 399, Rz. 1611; Ernst, NJW 2010, 745. 794  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 5. Juni 2008, KG070012  / U, E. I.6. 790  Diesen



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA181

9.3.2. Berufsgeheimnis Art. 13 BGFA verpflichtet die Anwälte und ihre Hilfspersonen zur Einhaltung des Berufsgeheimnisses. Im Entwurf zum schweizerischen Anwaltsgesetz soll die Bestimmung ergänzt werden: Nicht nur wie bisher sollen Tatsachen unter Geheimnisschutz stehen, die der Klient selber dem Anwalt mitgeteilt hat, sondern auch die von Dritten mitgeteilten Tatsachen.795 Grundsätzlich muss der Verteidiger auf Anfragen der Medien hin jede Auskunft verweigern und sich auf seine Schweigepflicht berufen. Er darf nicht einmal bestätigen, dass er Verteidiger ist. Geheimnisherr ist der Klient, nur er kann im Prinzip den Rechtsanwalt von der Schweigepflicht entbinden.796 Die Entbindung ist an keine Form gebunden und kann auch konkludent erfolgen. Von einer konkludenten Einwilligung ist für Öffentlichkeitsund Medienarbeit meiner Meinung nach allerdings nicht auszugehen, da diese Tätigkeit nicht zu den gewöhnlichen Aufgaben des Anwalts gehört. Ausnahmsweise kann die Aufsichtsbehörde den Anwalt von seiner Schweigepflicht entbinden.797 Das wird sie aber kaum tun, wenn der Anwalt gegen den Willen des Klienten die Medien informieren möchte. Würde die Einwilligung erteilt, käme sie überdies wohl zu spät. Kaspar Schiller ist der Auffassung, dass der Anwalt in einem Notfall Geheimnisse preisgeben dürfe, dabei sei er an die Prinzipien der Subsi­ diarität und Verhältnismässigkeit gebunden.798 Stellt eine Vorverurteilung oder Verunglimpfung des Klienten in den Medien einen solchen Notstand dar, auf den der Anwalt ohne Einwilligung des Klienten reagieren dürfte? Der deutsche Autor Karl-Heinz Gross nimmt einen solchen Ausnahmefall an, wenn Gefahr im Verzug ist und der Anwalt in einer Rechtsgüter- und Pflichtenabwägung zum Schluss kommt, dass er die Öffentlichkeit informieren muss. Das kann der Fall sein, wenn die Richtigstellung einer Falschmeldung unbedingt notwendig ist und die Einwilligung des Klienten nicht rechtzeitig erlangt werden kann.799 Von derselben Auffassung scheint – e contrario – auch das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich auszugehen: Dem Anwalt sei es in nicht dringenden Fällen zuzumuten, für Öffentlichkeitsarbeit die Zustimmung des Klienten einzuholen.800 Das Verwaltungsgericht kann sich also mindestens vorstellen, dass dringender Bedarf 795  Staehelin,

Anwaltsrevue 2012, 69. Anwaltsrecht, 150 ff., Rz. 616 ff. 797  K. Schiller, Anwaltsrecht, 146, Rz. 602 ff. 798  K. Schiller, Anwaltsrecht, 146 ff., Rz. 566 ff. 799  Gross 50, 52. 800  Verwaltungsgericht des Kantons Zürich vom 26. August 2010, VB.2010.00308, E. 4.2.3. 796  K. Schiller,

182

9. Rechtliche Rahmenbedingungen

für Öffentlichkeitsarbeit bestehen kann und der Anwalt dann in eigener Regie handeln dürfte. Der Anwalt darf PR-Fachleute als Hilfspersonen beiziehen, ohne mit dem Klienten Rücksprache zu nehmen, wenn das in der entsprechenden Vollmacht vorgesehen ist. Anders als etwa die Beschäftigung eines Substituten oder einer Sekretärin ist der Beizug eines PR-Beraters aussergewöhnlich und nicht typisch für das Verhältnis zwischen Mandant und Anwalt. Deshalb ist der Anwalt gut beraten, wenn er nicht aus eigener Initiative, sondern nur auf Anregung und in Absprache mit seinem Klienten tätig wird. Wenn ein Anwalt die Verteidigung in einem Fall übernimmt, der für die Medien von Interesse sein könnte, soll er mit seinem Mandanten eine grundsätzliche, am besten schriftliche Vereinbarung treffen über die Haltung gegenüber den Medien. Damit kann der Mandant auch verpflichtet werden, die Medienarbeit allein seinem Verteidiger zu überlassen und eigene Kontakte zu unterlassen, wie es in Praxisratgebern empfohlen wird.801 Für Öffentlichkeitsarbeit ohne Einwilligung des Klienten bestätigte das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich eine von der Aufsichtskommission ausgesprochene Disziplinarbusse für die Verletzung des Berufsgeheimnisses, es reduzierte jedoch die Busse von 6.000 auf 4.000 Fr. Im Jahr 2008 hatten Angestellte eines Zürcher Pflegeheims mehrere demente Bewohner in demütigenden Situationen gefilmt. Einer Pflegeassistentin wurde deshalb gekündigt. Sie überliess ihrem Rechtsanwalt ihr Handy, auf dem die Filme gespeichert waren, ohne aber ausdrücklich oder konkludent einer Weitergabe zuzustimmen. Der Rechtsanwalt zeigte die Aufnahmen nicht nur den Angehörigen eines Opfers, er übermittelte sie auch der Tageszeitung Blick, welche Ausschnitte daraus veröffentlichte. Auch anderen Medien gab der Anwalt Auskunft über den Fall, allerdings betrafen die Interviews nur Tatsachen, die bereits publik waren. Das Verwaltungsgericht unterstellte dem Anwalt, er habe mit seinem Vorgehen die Stadtverwaltung unter Druck setzen wollen.802 9.3.3. Sorgfältige und gewissenhafte Berufsausübung Hat der Klient seine Einwilligung zur Öffentlichkeitsarbeit erteilt, so müssen die Kontakte des Anwalts zu Öffentlichkeit und Medien dem Gebot der sorgfältigen und gewissenhaften Berufsausübung nach Art. 12 lit. a ­BGFA genügen. Soweit sich die Öffentlichkeits- und Medienarbeit auf den blossen Schutz der Reputation des Klienten bezieht, ist sie vom Standes801  Zum

Beispiel Schulz 143. des Kantons Zürich vom 26. August 2010, VB.2010.00308.

802  Verwaltungsgericht



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA183

recht her nicht problematisch. Erst wenn der Anwalt in diesem Zusammenhang Kritik an den Behörden übt, kann sein Vorgehen unter Umständen mit Art. 12 lit. a BGFA in Konflikt kommen. Der Entwurf zum schweizerischen Anwaltsgesetz sieht keine Änderung dieser Bestimmung vor.803 In Art. 1 der Standesregeln des Schweizerischen Anwaltsverbandes804 wird die Sorgfaltspflicht ergänzt; danach sollen Anwälte jedes Verhalten unterlassen, das ihre Vertrauenswürdigkeit in Frage stellt. Die Generalklausel von Art. 12 lit. a BGFA muss durch die Rechtsprechung konkretisiert werden. Die neuere Rechtsprechung stützt sich bei der Konkretisierung der Klausel auf die Grundsätze, die noch unter der Geltung des alten Rechts entwickelt wurden.805 Dem Anwalt ist Öffentlichkeits- und Medienarbeit nicht verboten, aber er ist gewissen Schranken unterworfen, was die Art und Weise seines Vorgehens betrifft. Er ist zwar nicht wie der Richter auf die objektive Wahrheitsfindung und Rechtsanwendung verpflichtet. Er ist nicht „Gehilfe des Richters“, sondern Vertreter der Partei und einseitig für seinen Mandanten tätig. Doch darf er sich zur Interessenwahrung keiner rechtswidrigen Mittel bedienen.806 Eigene Ermittlungen sind dem Verteidiger erlaubt, sofern er damit nicht die Wahrheitsfindung der Behörden behindert oder vereitelt. Die Suche nach Beweisen oder Zeugen mit Hilfe der Medien muss dem Verteidiger offen stehen. Aber nur ausnahmsweise, wenn es sachlich notwendig ist, soll der Verteidiger mit einem Zeugen, dem Opfer oder dem Geschädigten Kontakt aufnehmen. Dabei sind bestimmte Vorsichtsmassnahmen zu beachten, um schon den Anschein einer Beeinflussung des potentiellen Zeugen zu vermeiden.807 Dem Verteidiger ist es nicht verwehrt, auf Medienmitteilungen der Staatsanwaltschaft oder des Opferanwalts zu reagieren und sich gegen die Vor­ verurteilung seines Mandanten zu wehren. Ja, in gewissen Fällen ist es geradezu eine Pflicht des Anwalts, den Klienten zu schützen, wie das Bun803  Staehelin,

Anwaltsrevue 2012, 69. Standesregeln vom 10. Juni 2005, siehe: http: /  / www.sav-fsa. ch / fileadmin / user_upload / sav / Ueber  %20uns / 7229_Schweizerische_Standesregeln_ D_22.06.2012.pdf (9.4.13). 805  Bernhart, AJP 2005, 1179 und die in Fn. 24 angegebene Rechtsprechung; Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 4c, Rz. 5. 806  BGE 106 Ia 100, 105. 807  Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 38e, Rz. 38  f.; N. Schmid, Handbuch, 314, N. 760; BGE 136 II 551, 554 f.; BGE vom 12. April 2011, 2C_909 / 2010, E. 2. 804  Schweizerische

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

desgericht in mehreren Urteilen festhielt: Medienarbeit kann unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit erforderlich sein.808 Auch der Pflichtverteidiger muss die Medienberichterstattung daraufhin überprüfen, ob sein Klient vorverurteilt wird oder ob gar die Gefahr einer Beeinflussung des Gerichts besteht.809 Und es kann sich als notwendig erweisen, dass der Anwalt auf eine vorverurteilende Pressekonferenz reagiert.810 Doch insgesamt scheint Öffentlichkeitsarbeit „aus standesrechtlicher Sicht nach wie vor eher geduldet als erwünscht zu sein.“811 Und schon die Drohung eines Verteidigers, an die Öffentlichkeit und an die Medien zu gelangen, kann nicht nur den Standesregeln widersprechen, sondern sogar als Nötigung strafbar sein (siehe S. 195). 9.3.3.1. Kritik an der Rechtspflege Kritik an Ermittlungsbehörden oder Gerichten ist dem Anwalt nicht verboten, er kann sich auf die Grundrechte der Wirtschaftsfreiheit nach Art. 27 BV und der Meinungs- und Informationsfreiheit nach Art. 16 BV berufen. Einschränkungen unterliegen den Voraussetzungen von Art. 36 BV; sie bedürfen einer überzeugenden Begründung und sind eng auszulegen. Für öffentliche Erklärungen, die keinen Bezug zu einem Gerichtsverfahren haben, steht dem Anwalt grundsätzlich die volle Meinungsäusserungsfreiheit zu. Eine Einschränkung ergibt sich höchstens aus der Stellung des Anwalts als „Mitarbeiter der Rechtspflege“: So darf er sich nicht gegen die rechtsstaatliche Ordnung stellen und etwa einen gewaltsamen Umsturz befürworten.812 Und im Übrigen gelten für falsche Behauptungen oder Persönlichkeitsverletzungen die straf- und zivilrechtlichen Schranken wie für alle anderen Personen. Nimmt ein Anwalt in den Medien Stellung zu einem konkreten Verfahren, unterscheidet die Rechtsprechung danach: – ob ein abgeschlossenes oder ein hängiges Verfahren vorliegt, – ob die Kritik innerhalb des Verfahrens oder öffentlich geäussert wird. Zu einem abgeschlossenen Verfahren steht dem Anwalt die freie Meinungsäusserung zu, er ist hier nicht stärker eingeschränkt als jede andere 808  BGE

106 Ia 100, 108 f., 111 ff. vom 5. März 1999, 1P.35 / 1999, nach Zeller, plädoyer 2000 / 6, 23. 810  BGE vom 17. August 1999, 1P.327 / 99, nach Zeller, plädoyer 2000 / 6, 23. 811  Jositsch, ZStrR 2004, 130. 812  Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 42 und die in Fn. 337 angegebene Rechtsprechung. 809  BGE



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA185

Person. Die Gefahr der Beeinflussung des Gerichts besteht nicht mehr, das Urteil ist gefällt. Im Rahmen eines hängigen Verfahrens wird dem Anwalt im direkten Kontakt mit den Strafbehörden und auch in der öffentlichen Verhandlung weitgehende Freiheit zugestanden. Verfahrensinterne Kritik ist zulässig, wenn sie sich auf Tatsachenbehauptungen und Wertungen beschränkt. Der Anwalt darf nicht bewusst unwahre oder ehrverletzende Behauptungen aufstellen oder die Behörden irreführen.813 Doch hielt das Bundesgericht in einem Entscheid von 2005 fest, dass sogar an sich ehrverletzende Äusserungen eines Anwalts durch dessen Berufspflicht gerechtfertigt seien, wenn sie sachbezogen und nicht unnötig verletzend sind, nicht wider besseres Wissen erfolgen und blosse Vermutungen als solche bezeichnen. Die Äusserung eines Anwalts, die von der Gegenpartei angewendeten Mittel seien „nicht legal“, war im konkreten Fall gerechtfertigt.814 Die Aufsichtskommission des Kantons Zürich hielt in einem Entscheid von 2005 fest, dass die dem Anwalt gewährte, weitgehende Freiheit für Kritik an der Rechtspflege auch weiterhin, unter der Herrschaft des BGFA, gelte: „Standeswidrig und damit unzulässig handelt der Anwalt bei innerhalb des Verfahrens geäusserter Kritik nur, wenn er eine Rüge wider besseres Wissen oder in ehrverletztender Form erhebt statt sich auf Tatsachenbehauptungen und Wertungen zu beschränken.“815 In einem Entscheid von 2007 bezeichnete die Kommission ihre eigene Praxis als grosszügig und führte dazu aus: „Eine aufsichtsrechtliche Disziplinierung rechtfertigt sich nur bei offensichtlich groben Entgleisungen oder Verunglimpfungen … Dies ist bei unnötig verletzenden persönlichen Angriffen gegenüber Gegenpartei oder Behördenmitgliedern der Fall … Demgegenüber ist eine scharfe Kritik mit gewissen Übertreibungen in Kauf zu nehmen.“816 Damit sind die Grenzen für die Kritik innerhalb eines laufenden Verfahrens abgesteckt. Strengere Anforderungen gelten für die öffentliche Kritik in hängigen Verfahren. Nur hier besteht überhaupt die Gefahr, Prozessbeteiligte oder Gericht unter Druck zu setzen und auf die Urteilsfindung in unzulässiger Weise einzuwirken.

813  Bernhart, Standards, 143 und die in Fn. 1149 ff. angegebene Rechtsprechung; Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 40 und die in Fn. 326 angegebene Rechtsprechung. 814  BGE 131 IV 154, 158 f. 815  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 3. März 2005, siehe ZR 2005, Nr. 63. 816  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 27. August 2009, siehe ZR 2010, Nr. 5.

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

9.3.3.2. Öffentliche Kritik im hängigen Verfahren EGMR und Bundesgericht sehen unter bestimmten Umständen eine Einschränkung der Meinungsfreiheit als gerechtfertigt an, nämlich dann, wenn die Gefahr der Beeinflussung von Verfahrensbeteiligten, Untersuchungsbehörden und Gericht besteht oder wenn das Vertrauen der Bevölkerung in Rechtspflege und Anwaltschaft leiden könnte.817 Die Kritik des Anwalts darf nicht darauf angelegt sein, die Untersuchungsbehörden oder die Gerichte in ihrer Entscheidfindung unter Druck zu setzen.818 Der Anwalt darf nicht den Anschein erwecken, Zeugen oder Sachverständige beeinflussen zu wollen.819 Der Anwalt hat das Recht und sogar die Pflicht, gegen Vorverurteilungen vorzugehen, Missstände aufzuzeigen und Mängel des Verfahrens zu rügen. Auch scharfe und pointierte Kritik ist zulässig, und sogar gewisse Übertreibungen werden dem Anwalt zugestanden.820 Doch soll die Kritik sachlich bleiben und einen konkreten Bezug zum Verfahren haben. Die Vorwürfe sind wenn möglich zu belegen. Besondere Umstände, welche eine Kritik rechtfertigen, liegen nach bisheriger Praxis vor:821 – wenn die Kritik für die Wahrnehmung der Interessen des Klienten erforderlich ist, – bei persönlichen Angriffen gegen den Anwalt und zur Abwehr von Angriffen gegen den Anwalt selbst, – bei einem gesteigerten öffentlichen Interesse am Fall, – wenn die Kritik als Reaktion auf die Publizität der Behörden erfolgt. Auch wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, unterliegt der Anwalt gewissen Schranken:822 – die Vorwürfe müssen der Wahrheit entsprechen, – die Kritik muss objektiv sein, 817  BGE 106 Ia 100, 108; Fellmann / Bizarro / Küttel 91; Bernhart, Standards, 142 und die in Fn. 1141 angegebene Rechtsprechung; Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 41 und die in Fn. 331 angegebene Rechtsprechung. 818  Bernhart, Standards, 142 und die in Fn. 1142 angegebene Rechtsprechung. 819  Fellmann  /  Bizarro  /  Küttel 68 ff., 85 ff. und die dort angegebene Rechtsprechung. 820  BGE 106 Ia 100, 108. 821  Fellmann  / Bizarro / Küttel 91 f.; Bernhart, Standards, 141 f.; Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 41. 822  N. Schmid, Handbuch, 315, N. 761; Bernhart, Standards, 142, und die in Fn. 1138 angegebene Rechtsprechung; Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 41 und die in Fn. 332 angegebene Rechtsprechung.



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA187

– sie muss in sachlicher, zurückhaltender Form erfolgen, – der Anstand im Ton muss gewahrt werden, – eine unnötig verletzende Darstellung ist zu vermeiden, – die Rechte Dritter dürfen nicht verletzt werden. Kaspar Schiller hält die nach der älteren Praxis gebotene Zurückhaltung bei öffentlichen Auftritten für eine „überholte Leerformel“.823 Der persön­ liche Stil des Anwalts – sei er höflich, moderat, forsch oder gar respektlos – solle nicht staatlich normiert werden. Der Autor gibt zu bedenken, dass ein aggressiver oder persönlich verletzender Stil ein Gericht eher irritieren könne und damit kontraproduktiv sei.824 Der ehemalige Bundesrichter Hans Wiprächtiger ist ebenfalls der Meinung, dass unter dem Aspekt der Waffengleichheit Grosszügigkeit angebracht sei.825 Eindeutig unzulässig sind aber persönliche Beleidigungen, Verunglimpfungen, Beschimpfungen oder gar Angriffe auf die Integrität des Gerichts oder der Richter.826 9.3.3.2.1. Praxis der Aufsichtskommission im Kanton Zürich Die Aufgabe, die Einhaltung des BGFA zu kontrollieren, wird im Kanton Zürich von der Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte wahrgenommen, gemäss den §§ 18 ff. des zürcherischen Anwaltsgesetzes. Die Grundsätze für öffentliche Kritik, die unter dem bis Ende 2004 geltenden kantonalen Anwaltsgesetz galten, fasste die Aufsichtskommission in einem Beschluss zusammen:827 Der Gang an die Öffentlichkeit setzt einen besonderen Anlass voraus, er muss im Interesse des Klienten geboten erscheinen und darf erst erfolgen, wenn die verfahrensrechtlichen Wege nicht ausreichen. Der Anwalt muss objektiv in der Darstellung und sachlich im Ton bleiben. Die Kritik darf scharf formuliert, aber nicht bewusst unwahr, unnötig polemisch oder beleidigend sein. Was diese Richtlinien konkret bedeuten, zeigt ein Überblick über die ältere Praxis der Zürcher Aufsichtskommission: Ein Untersuchungsgefangener hatte Kontakt mit einer Zeitschrift aufgenommen. Diese veröffentlichte nach Rückfrage bei der Verteidigerin einen Beitrag unter dem Titel „Im Zweifel 50 Tage länger“, mit der Schlagzeile: 823  K. Schiller,

Anwaltsrecht, 398 f., Rz. 1608 ff.; 359, Rz. 1452 ff. Anwaltsrecht, 385, Rz. 1558. 825  Wiprächtiger, plädoyer 2000 / 3, 31. 826  Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 39. 827  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 3. April 2008, siehe ZR 2008, Nr. 36. 824  K. Schiller,

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

„Die Bezirksanwaltschaft … lässt sich Zeit beim Ermitteln“. Die Rechtsanwältin hatte der Zeitschrift die Akten zur Verfügung gestellt; sie hatte den Entwurf des Artikels gegenlesen können. Die Kommission entschied, dass die besonderen Umstände, welche eine Zusammenarbeit mit den Medien gerechtfertigt hätten, nicht vorlagen. Die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten hätten genügt. Falls nicht, hätte die Rechtsanwältin wenigstens für eine objektive Darstellung und einen sachlichen Ton besorgt sein müssen. Ihre Mitwirkung war derart massgeblich, dass sie als indirekte Autorin des Beitrags anzusehen war und deshalb die Verantwortung dafür übernehmen musste (siehe auch S. 196 f.).828 Ein Rechtsanwalt hatte dem Präsidenten eines Vereins Verfahrensakten überlassen, die Dokumente wurden auf der Website des Vereins publiziert, unter dem Titel „Richterin begeht Freiheitsberaubung gegen Kind und Mutter“. Die Kommission hielt fest, dass die Darstellung einseitig und unkritisch die Sichtweise des Beschuldigten übernahm. Es ging um eine eigentliche Abrechnung mit der Richterin. Ihr wurden fremdenfeindliche, rassistische Motive unterstellt, sie wurde öffentlich an den Pranger gestellt. Der Anwalt hat aber auf sachlich richtige Darstellung zu achten, wenn er an die Öffentlichkeit geht. Die Öffentlichkeitsarbeit soll mit Zurückhaltung und Objektivität erfolgen. Die gleichen Grundsätze gelten, wenn der Rechtsanwalt einen Journalisten oder Dritte informiert oder ihm Akten zur Verfügung stellt, was an sich zulässig ist, wenn der Klient damit einverstanden ist. Doch muss sich der Anwalt vergewissern, dass von den Informationen kein pflichtwidriger Gebrauch gemacht wird; er kann sich seiner Verantwortung nicht entziehen (siehe auch S. 196 f.).829 Abgesehen vom Standesrecht diente auch § 124 altGVG über die Sitzungspolizei als Grundlage für Einschränkungen der Öffentlichkeitsarbeit. Diese Vorschrift konnte gegenüber Rechtsanwälten und gegenüber anderen Personen Anwendung finden. Das Bundesgericht sah ein darauf gestütztes Verbot, das einem Website-Betreiber untersagte, sich im Internet über ein laufendes Verfahren zu äussern, einstimmig als gerechtfertigt und verhältnismässig an.830 An der bisherigen Praxis hält die Aufsichtskommission auch unter der Herrschaft des BGFA fest: Eine Disziplinierung darf nur stattfinden bei offensichtlichen und gravierenden Fehlleistungen, groben und haltlosen 828  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 7. November 1984, siehe ZR 1987, Nr. 11. 829  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 4. Mai 2000, siehe ZR 2001, Nr. 20. 830  BGE vom 24. September 2001, 1P.153  / 2001; Kritik siehe Zeller, medialex 2002, 46 f.



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA189

Entgleisungen oder Verunglimpfungen, unnötig verletzenden Äusserungen, entbehrlichen und aus blosser Streitlust ergriffenen Massnahmen und übertrieben aggressivem Vorgehen. Erhebt der Rechtsanwalt gegen die Behörden den Vorwurf strafbaren Verhaltens, muss er sich – sofern noch kein entsprechendes Strafurteil vorliegt – zurückhaltend äussern und deutlich klar machen, dass er erst einen Verdacht hegt.831 2007 hatte der Präsident des damals noch existierenden Geschworenengerichts den Verteidiger gerügt. Dieser hatte auf seiner Website Informationen veröffentlicht, die noch nicht in den Prozess eingebracht worden und damit den Geschworenen noch nicht bekannt waren. Dadurch sei das damals noch gültige Unmittelbarkeitsprinzip unterlaufen worden. Der Verteidiger erklärte, er habe durch die Veröffentlichung bloss auf die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft reagiert und auf die Tatsache, dass dem Tages-Anzeiger das psychiatrische Gutachten über den Angeklagten zugespielt worden sei. Die Aufsichtskommission stellte fest, dass Staatsanwaltschaft und Medien einseitig informiert hätten. Unter diesen Umständen sei nichts dagegen einzuwenden, dass sich der Verteidiger mit seiner eigenen Sachdarstellung an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Die Kommission folgte der Rechtfertigung des Verteidigers, es sei ihm nicht um den Werbeeffekt gegangen, sondern um die „Entschärfung des medialen Ungleichgewichts zwischen Staatsanwaltschaft und Geschädigtenvertretung einerseits und Verteidigung andererseits“. Im Weiteren hielt es die Kommission für zulässig, dass die Texte in anonymisierter Form weiterhin auf der Website des Verteidigers zu finden waren. Die Kommission sah auch keinen Grund, wegen einer Gefährdung der Unabhängigkeit der Geschworenen einzuschreiten, das wäre zudem Sache des Präsidenten des Geschworenengerichts gewesen.832 In einem anderen Fall zeigte die Aufsichtskommission für die Kritik an den Behörden des Kantons Schwyz sogar explizit Verständnis. Der Präsident des Schwyzer Kantonsgerichts hatte einen Beschuldigten, dem sexueller Missbrauch eines Kindes vorgeworfen wurde, aus der Untersuchungshaft entlassen und nicht verhindert, dass der (geständige) mutmassliche Täter wieder ins gleiche Haus zurückkehrte, wo auch das Opfer wohnte. Die Opferanwältin hatte das Gericht in den Medien deswegen kritisiert, und auch der Vertreter der Eltern des Opfers hatte sein Befremden geäussert. Deshalb zeigte das Schwyzer Kantonsgericht die beiden Anwälte bei der zuständigen Zürcher Aufsichtskommission an.833 831  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 3. April 2008, siehe ZR 2008, Nr. 36. 832  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 5. Juni 2008, KG070012  / U, siehe auch NZZ vom 21. März 2007, S. 53. 833  Nach Martin Merki in der NZZ vom 12. Januar 2012, S. 11.

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

Jedenfalls unter dem alten Standesrecht konnte schon die Ankündigung, an die Medien zu gelangen, zu Konsequenzen führen: 1998 hatte die Aufsichtskommission deswegen einen Rechtsanwalt diszipliniert. Der Anwalt hatte mit seiner innerhalb des Verfahrens vorgebrachten Kritik an einer Verwaltungsbehörde das zulässige Mass überschritten und die Kritik erst noch mit der Ankündigung verbunden, Presse und Öffentlichkeit zu orientieren. Die Kommission erachtete die Drohung als „einzig der Einschüchterung und Beeinflussung der betreffenden Beamten dienend“.834 Ein solches Vorgehen kann im Übrigen auch strafrechtlich relevant sein (siehe S. 195). 9.3.3.2.2. Praxis des Bundesgerichts Das Bundesgericht pflegte in konstanter langjähriger Praxis eine strenge Praxis zur öffentlichen Kritik des Verteidigers am laufenden Strafverfahren und behielt diese Praxis auch nach Inkrafttreten des BGFA vorerst bei. Der Verteidiger soll Kritik in erster Linie innerhalb des Verfahrens vorbringen. Er soll mit Kritik am Verfahren nur dann an die Öffentlichkeit oder an die Medien gelangen, wenn die verfahrensrechtlichen Mittel ausgeschöpft und erfolglos geblieben sind. Das Bundesgericht behandelte 1982 die Beschwerden der Verteidiger der deutschen Terroristen Gabriele Kröcher und Christian Möller. Die Berner Anwaltskammer hatte ihnen ein Berufsverbot auferlegt. Das Bundesgericht argumentierte: Der Strafverteidiger ist nicht in erster Linie der Wahrheitsfindung verpflichtet, er hat seine Tätigkeit nicht an den Interessen der Strafverfolgungsbehörden auszurichten, sondern er muss die Interessen des Klienten wahren. Der Anwalt darf öffentliche Erklärungen abgeben, wenn diese zur Wahrung der Interessen des Klienten geboten sind und wenn besondere Umstände vorliegen, etwa wenn die Massenmedien bereits über den Fall berichtet oder wenn die Behörden die Öffentlichkeit bereits informiert haben oder wenn es darum geht, Angriffe gegen den Anwalt selber abzuwehren. Allerdings muss der Anwalt objektiv in der Sache und sachlich im Ton bleiben; allzu strenge und übertriebene Anforderungen sind jedoch in dieser Hinsicht nicht zulässig. Die Tätigkeit des Anwalts unterliegt Schranken, rechtswidrige Mittel darf der Anwalt nicht ergreifen. Im konkreten Fall hatten die Verteidiger ihre Berufspflichten in mehrerer Hinsicht verletzt. Dass sie sich an die Medien wandten und Pressekonferenzen abhielten, war zwar nicht an sich schon standeswidrig, doch liessen sie dabei Objektivität und Sachlichkeit vermissen, und einige Formulierungen waren unzulässig. Einer der Verteidiger machte Propaganda für die politischen Ziele der Ter834  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 3. September 1998, siehe ZR 1999, Nr. 55.



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA191

roristen und befürwortete Gewalt im Kampf gegen den Imperialismus. Ebenfalls standeswidrig waren die Veröffentlichung eines offenen Briefes an Bundesrat Kurt Furgler, die Ausfertigung einer Hungerstreikerklärung in der Anwaltskanzlei und deren Weiterleitung, das Verlassen der Hauptverhandlung … Doch war der Entzug des Anwaltspatents als schwerste disziplinarische Sanktion ohne vorherige Verwarnung unverhältnismässig. Das Bundesgericht hiess die Beschwerden gut und wies die Sache zurück.835 In der gleichen Sache hatte die Zürcher Aufsichtskommission gegenüber zweien der vier erwähnten Verteidiger zeitlich befristete Berufsverbote ausgesprochen. Diese Sanktionen schützte das Bundesgericht.836 Das Bundesgericht bestätigte 2001 eine Disziplinarbusse von 1.000 Fr. gegenüber einem Glarner Anwalt. Dieser hatte in der Zeitung Südostschweiz eine Entgegnung auf einen dort kurz vorher erschienenen Beitrag verfasst und seinen bereits verfahrensintern, mittels Eingaben erhobenen Vorwurf gegen die Vormundschaftsbehörde wegen „gestapomässigen Vorgehens“ bekräftigt. Die Formulierung war im Übrigen auch innerhalb des Verfahrens unzulässig.837 Im gleichen Jahr hielt das Gericht fest, dass der Verteidiger die Sicht seines Klienten nicht kritiklos übernehmen und sich mit dessen Zielen identifizieren dürfe. Im konkreten Fall hatte der Verteidiger die Stellungnahme seines Klienten zu den ihm vorgeworfenen Delikten in einem Pressecommuniqué verbreitet, ohne die Angaben zu hinterfragen. Mit seinen Äusserungen hatte der Anwalt auch den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt. In einer späteren Pressekonferenz, die Staatsanwaltschaft und Verteidiger gemeinsam abhielten, musste der Verteidiger dann einräumen, dass sein Klient die Schutzbehauptungen unterdessen widerrufen hatte.838 Die Anwaltskammer des Kantons Bern büsste den Anwalt mit 500 Fr., und das Bundesgericht wies dessen Beschwerde ab. Das Bundesgericht hatte 2003 nichts einzuwenden gegen die Verwarnung eines Rechtsanwalts, der sich in einer Genfer Gratiszeitung wenig schmeichelhaft über die Beamten des Betreibungsamts Genf geäussert hatte: Diese seien „ronds-de-cuir“ (ein abschätziger Ausdruck für Beamte, die sich wichtig nehmen und ihre Macht ausnützen) und machten – mit wenigen Ausnahmen – nichts, und wenn sie doch etwas machten, so sei es oft falsch.839 835  BGE

106 Ia 100, 105, 107 ff. 108 Ia 316. 837  BGE vom 23. Januar 2001, 2P.291  / 2001, siehe Praxis des Bundesgerichts 2002, Nr. 66. 838  BGE vom 1. März 2001, 2P.281 / 2000; siehe auch Ruckstuhl 128 f., Rz. 3.188. 839  BGE vom 31. Juli 2003, 2A.151 / 2003. 836  BGE

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

2004 bestätigte das Gericht die einem Anwalt auferlegte Busse von 2.000 Fr. In der Aargauer Zeitung vom 10. Mai 2002 war der Beitrag erschienen: „Starkes Stück ‚Hauruck-Justiz‘ – Justizfarce, Wie Aargauer Gerichte die Scheidungsgeschichte eines Syrers erledigten“. Der Vertreter des Ehemannes hatte der Zeitung Informationen gegeben, Unterlagen zur Verfügung gestellt und sich wiederholt mit Inhalt und Tonfall des Artikels einverstanden erklärt. Das Bundesgericht sah ihn als mittelbaren Urheber des Berichts an (siehe S. 196 f.). Abgesehen davon sei im konkreten Fall der Gang an die Öffentlichkeit nicht nötig gewesen.840 Und schliesslich beurteilte das Bundesgericht 2011 den Fall eines Rechtsanwalts, der als einziger Stiftungsrat einer Stiftung auf deren Website über angebliche Fehlleistungen und Fehlurteile schweizerischer Gerichte informiert hatte. Der Anwalt hatte den Behörden „Lüge“, „Filz“, „Verarschung“, und „Geheimjustiz“ vorgeworfen und hatte die Urteile, die nicht in seinem Sinn gefällt wurden, „ohne nachvollziehbare, sachliche Auseinandersetzung“ als „Falschurteile“ qualifiziert. Die Aufsichtsbehörde des Kantons Luzern hatte dem Anwalt eine Disziplinarbusse von 4.000 Fr. auferlegt und ihm die Weisung erteilt, die entsprechenden Beiträge aus dem Netz zu nehmen. Das Bundesgericht bestätigte die Busse, hiess aber die Beschwerde des Anwalts in einem Punkt gut: Der Anwalt konnte nicht angewiesen werden, sämtliche Namen aus dem Web zu löschen.841 9.3.3.2.3. Praxis der europäischen Instanzen Die Informationsfreiheit von Art. 10 EMRK hat heute vor den europäischen Instanzen einen hohen Stellenwert. Während die Strassburger Richter früher noch eher dazu neigten, ihre eigenen Berufskollegen vor Kritik in Schutz zu nehmen, ist die heutige Praxis liberaler geworden.842 Zwar sind auch nach der aktuellen Praxis disziplinarische Sanktionen für Anwälte mit Art. 10 EMRK vereinbar, doch nur wenn die Äusserungen des Anwalts unwahr oder ehrverletzend sind. Zwei ältere Entscheide betreffen die Öffentlichkeitsarbeit schweizerischer Anwälte: Im Fall Zihlmann (siehe auch S. 171) hielt die Kommission fest, dass unwahre, masslose, unqualifizierte, effekthascherische Angriffe nicht erlaubt seien.843 Ebensowenig gestattet war nach Ansicht des EGMR die 840  BGE vom 11. August 2004, 2A.600 / 2003; Kritik siehe Zeller, medialex 2004, 231; Bernhart, Standards, 142. 841  BGE vom 24. Mai 2011, 2C_665 / 2010. 842  Zeller, medialex 2004, 171. 843  EKMR vom 28. Juni 1995, No. 21861 / 93, Zihlmann c. Schweiz, siehe VPB 1996, Nr. 127.



9.3. Standesrecht: Die Berufsregeln des BGFA193

Aussage, die der Luzerner Rechtsanwalt Alois Schöpfer in einer Pressekonferenz gemacht hatte: Er hatte behauptet, auf dem Statthalteramt Hochdorf würden „die Menschenrechte in höchstem Grade verletzt“. Der EGMR stellte fest, dass es tatsächlich keineswegs um gravierende Gesetzesverletzungen ging, und hatte gegen die Disziplinarbusse von 5.000 Fr. nichts ein­ zuwenden.844 Zeller erwähnt, dass das Urteil nicht einstimmig war. Vorgeworfen wurde dem Anwalt insbesondere, dass er den Schritt in die Öffentlichkeit als letztes Mittel bezeichnete, obwohl er anschliessend noch ein förmliches Haftentlassungsgesuch stellte.845 Die bisherige Praxis des Schweizer Bundesgerichts zur Öffentlichkeitsarbeit von Anwälten beurteilte der EGMR im Jahr 2007 als zu restrikiv: Der Tessiner Rechtsanwalt Aldo Foglia hatte 2003 in einem Strafverfahren gegen eine Bank die Geschädigten vertreten. Das Verfahren wegen Veruntreuung von Kundengeldern wurde von der Tessiner Staatsanwaltschaft aus Mangel an Beweisen eingestellt. Foglia focht die Einstellungsverfügung an und gab diversen Medien Interviews, in denen er die Untersuchung des Staatsanwalts als übereilt und oberflächlich bezeichnete. Er wurde mit einer Disziplinarbusse von 1.500 Fr. belegt. Das Bundesgericht hatte die Sanktion bestätigt mit der Begründung, ein Trial by newspaper müsse verhindert werden und es dürfe kein öffentlicher Druck auf Verfahrensbeteiligte ausgeübt werden. Es rügte insbesondere die Weitergabe von Verfahrensakten und warf dem Anwalt vor, dass er die Journalisten nicht zu einer vorsichtigeren Berichterstattung angehalten habe. Insgesamt habe Foglia die notwendige Zurückhaltung vermissen lassen.846 Der EGMR hingegen wertete in seinem einstimmig ergangenen Urteil das öffentliche Informationsinteresse höher als anwaltliche Standespflichten.847 Man darf davon ausgehen, dass mit diesem Urteil des EGMR der Spielraum der Strafverteidiger grösser geworden ist. Die neue, tolerante Strassburger Praxis wurde seither mehrere Male bestätigt. So beanstandete 2010 der EGMR einstimmig die Missachtung der Meinungsfreiheit gegenüber einem griechischen Anwalt, der im Fernsehen Kritik am Staatsanwalt geübt und diesem unter anderem die Missachtung von Beweismitteln vorgeworfen hatte. Die griechischen Instanzen hatten den Anwalt zur Bezahlung einer Genugtuung von 12.000 € verurteilt.848 844  EGMR

vom 20. Mai 1998, No. 56 / 1997 / 840 / 1046, Schöpfer c. Schweiz. Zeller, plädoyer 2000 / 6, 25 f. 846  BGE vom 7. Mai 2004, 4P.36 / 2004. 847  EGMR vom 13. Dezember 2007, No. 35865  /  04, Foglia c. Schweiz, siehe medialex 2008, 43 f.; Anmerkungen zum Urteil siehe Zeller, medialex 2008, 44 f. 848  EGMR vom 11. Februar 2010, No. 49330  /  07, Alfantakis c. Griechenland, siehe medialex 2010, 99. 845  Nach

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

2011 erachtete der Gerichtshof die polemische, sarkastisch formulierte Kritik von Anwälten an einer portugiesischen Richterin als zulässig, obwohl die Kritik ein hängiges Verfahren betraf. Es habe sich dabei nicht um eine unbegründete persönliche Attacke gegen die Richterin gehandelt. Das von den portugiesischen Gerichten zugesprochene Schmerzensgeld von 25.000 € sei überrissen und deshalb geeignet, die Diskussion über gesellschaftlich relevante Fragen zu behindern und Kritiker mundtot zu machen.849 Im gleichen Jahr hob der EGMR ein Urteil gegen eine französische Anwältin wegen Verletzung des Anwaltsgeheimnisses auf und sprach ihr eine Entschädigung zu. Die Anwältin hatte als Geschädigtenvertreterin gegen ein Pharmaunternehmen Klage wegen fahrlässiger Tötung eingereicht. Der im Auftrag der Untersuchungsbehörden erstellte medizinische Expertenbericht wurde den Medien zugespielt, und die Rechtsanwältin hatte – auf Wunsch ihrer Klienten (!) – den Bericht in einer Tageszeitung und im Radio kommentiert. In seinen Anmerkungen zum Urteil hält Franz Zeller fest: „Der EGMR macht aber jedenfalls dies deutlich: Bei aller gebotenen Sorgfalt und Diskretion darf der Anwältin gerade in publizitätsträchtigen Fällen eine engagierte Öffentlichkeitsarbeit nicht verbaut sein – sofern es um die wirkungsvolle Wahrung der Interessen des Mandanten geht und nicht primär um die eigene Profilierung.“850

9.4. Verantwortung des Verteidigers für Public Relations Der Verteidiger haftet gegenüber seinem Klienten nach Auftragsrecht gemäss Art. 398 f. OR. Hat er selber Medienarbeit geleistet, so haftet er in gleichem Rahmen wie für die spezifisch juristischen Tätigkeiten, die sein eigentliches Kerngeschäft ausmachen. Die Haftpflicht im Auftragsrecht ist eine Sorgfaltshaftung, keine Erfolgshaftung. Der Anwalt muss bloss dafür einstehen, dass er nach den Massstäben vorgegangen ist, die für sein Tätigkeitsgebiet gelten. Hat die PR nicht die gewünschte Wirkung, wie sie sich der Klient vorgestellt hat, wird der Anwalt für den Misserfolg nicht ersatzpflichtig. Für seine Hilfspersonen haftet der Anwalt nach Art. 101 OR. Zu den Hilfspersonen gehört nicht nur der subalterne Mitarbeiter, sondern auch die hochspezialisierte Fachkraft, etwa ein PR-Experte. Ein Subordinations- bzw. ein Arbeitsverhältnis zwischen Anwalt und Hilfsperson muss nicht vorlie849  EGMR vom 29. März 2011, No. 1529 / 08, Gouveia Gomes Fernandes & Freitas e Costa c. Portugal, siehe medialex 2011, 99 f. 850  EGMR vom 15. Dezember 2011, No. 28198  /  09, Mor c. Frankreich, siehe Zeller, medialex 2012, 27 f.



9.4. Verantwortung des Verteidigers für Public Relations 195

gen. Die Haftung nach Art. 101 OR kommt zum Zug, auch wenn den Anwalt bezüglich Auswahl, Instruktion und Überwachung der Hilfsperson kein Verschulden trifft. Ein Entlastungsbeweis steht ihm in dieser Beziehung nicht offen, höchstens der Rückgriff auf die Hilfsperson. Nur ein Ausweg bleibt ihm: Er kann versuchen, nachzuweisen, dass die Hilfsperson alle Sorgfalt angewendet hatte, die im Rahmen des Auftrags auch vom Anwalt selber zu erwarten gewesen wäre.851 Eine Beschränkung oder sogar ein Ausschluss der Haftung ist möglich nach Art. 101 Abs. 2 OR. Sie muss zum Voraus unmissverständlich vereinbart werden. Der Geschädigte hätte dann nur die Möglichkeit, seinen Schaden direkt bei der Hilfsperson geltend zu machen. Bei unbefugtem Beizug eines Kommunikationsberaters haftet der Anwalt aus nichtvertraglicher Haftpflicht nach den Art. 97 ff. OR.852 Zudem muss er natürlich auch für die Verletzung des Berufsgeheimnisses einstehen. Bei unentgeltlicher Rechtspflege hat der Anwalt für Verletzungen der Sorgfaltspflicht nach Privatrecht einzustehen. Ist hingegen der Anwalt als amtlicher Verteidiger tätig geworden, kommt die Staatshaftung zum Zug.853 Für Persönlichkeitsverletzungen, die der Anwalt im Rahmen von Öffentlichkeits- und Medienarbeit begangen hat, haften gemäss Art. 28 Abs. 1 ZGB neben ihm selber auch alle anderen Personen, die an der Verletzung mitgewirkt haben. Die Rechtsbehelfe nach Art. 28a ff. ZGB setzen kein Verschulden voraus; ein Verschulden ist allerdings Voraussetzung für die Zusprechung von Schadenersatz oder Genugtuung.854 Ein Anwalt kann nicht nur wegen Verletzung der Berufsregeln belangt werden, er kann mit der Öffentlichkeitsarbeit auch einen Tatbestand des Strafrechts erfüllen. So kann bereits die Drohung, an die Medien zu gelangen, als Nötigung strafbar sein.855 Das Bezirksgericht Zürich verurteilte 2011 einen Anwalt wegen mehrfacher versuchter Nötigung zu Geldstrafe und Busse. Er hatte versucht, Forderungen durchzusetzen, indem er dem Anwalt des „Schuldners“ mit E-Mails drohte und diese Mails auch an andere Adressaten richtete.856

851  Wiegand,

Art. 101 OR, Rz. 13. Art. 101 OR, Rz. 12. 853  Fellmann, Art. 12 BGFA, Rz. 146. 854  Strebel 209. 855  Omlin, Anwaltsrevue 2009, 75; Bernhart, Standards, 140 f. 856  Bezirksgericht Zürich vom 9. November 2011, GG110065, siehe auch NZZ vom 10. November 2011, S. 19. 852  Wiegand,

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9. Rechtliche Rahmenbedingungen

9.4.1. Der Anwalt als mittelbarer Urheber eines Medienbeitrags Wer in einem Medienbeitrag als Autor zeichnet, kann für damit begangene Rechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden. Zivilrechtlich haftbar sind nach Art. 28 ZGB nicht nur der Autor, sondern alle, die an der Verletzung mitgewirkt haben. Die strafrechtliche Verantwortung ist enger geregelt, mit der sogenannten Kaskadenhaftung gemäss Art. 28 StGB. Danach ist in erster Linie der Verfasser des Beitrags strafbar. Erst wenn der Verfasser nicht ermittelt werden kann, wird der zuständige Redaktor verantwortlich. Als Autor ist anzusehen, wer die Verantwortung für den Inhalt übernimmt oder sich als Autor ausgibt.857 Autor ist auch, wer einen Beitrag zum Zweck der Veröffentlichung durch einen Dritten aufsetzen lässt und dann als seine eigene Meinungsäusserung der Presse übergibt. Für Medienbeiträge in der Form von Leserbriefen, Inseraten oder Werbung trägt die Verantwortung in erster Linie der Verfasser.858 Auch ein Interviewter, der das Interview autorisiert hat, ist als Autor anzusehen.859 Bei unveränderter Übernahme eines Beitrags aus einem anderen Medium bleibt der ursprüngliche Autor verantwortlich.860 Wenn der Verteidiger einen Medienbeitrag ermöglicht, wird ihm das angerechnet, wie wenn er den Beitrag selber verfasst hätte. Gewährt der Anwalt einem Journalisten Akteneinsicht, ist er verpflichtet, die Kontrolle zu behalten. Er muss sich die Autorisierung und das Recht zum Gegenlesen vorbehalten. Das Bundesgericht betrachtete einen Anwalt, der einem Journalisten der Aargauer Zeitung Fragen beantwortet und Akteneinsicht gewährt hatte, als mittelbaren Urheber des Beitrags. Im Ergebnis komme es aufs Gleiche heraus, ob sich ein Anwalt direkt an Medien wende oder ob er einen Medienbeitrag bloss ermögliche oder fördere. In letzterem Fall seien sogar eher strengere Anforderungen an die Sorgfaltspflicht zu stellen, weil der Anwalt die Kontrolle abgebe; Journalisten seien nämlich nur schwer zu beeinflussen.861 Die Zürcher Aufsichtskommission äusserte sich 1984 und 2000 zur Verantwortlichkeit des Anwalts, wenn dieser nicht selber an die Öffentlichkeit tritt, sondern einen Journalisten informiert. Der Anwalt trägt die Verantwor857  BGE

128 IV 53, 66 ff.; siehe auch Strebel 203 ff. 73 IV 218, 222; siehe auch Strebel 204. 859  Nach Nobel / Weber 275, Rz. 12. 860  Studer / Mayr von Baldegg 73. 861  BGE von 11. August 2004, 2A_600 / 2003; Kritik siehe Zeller, medialex 2004, 231; Bernhart, Standards, 142. 858  BGE



9.4. Verantwortung des Verteidigers für Public Relations 197

tung dafür, dass sich der Journalist objektiv über den Sachverhalt informieren kann, und muss als indirekter Autor dafür einstehen.862 Die Konstruktion der mittelbaren oder indirekten Urheberschaft des Anwalts stimmt nicht mit der Rechtsprechung des EGMR überein. Der Gerichtshof hält fest, dass ein Anwalt nicht verantwortlich gemacht werden kann für einen Medienbeitrag, den er nicht selber verfasst hat.863 Für die zivilrechtliche Haftung nach Art. 28 ZGB sind diese Gesichtspunkte – wie bereits erwähnt – belanglos; jede Person, die an der Persönlichkeitsverletzung mitgewirkt hat, kann zur Rechenschaft gezogen werden. Für die Medien gilt keine Sonderregelung, welche der Kaskadenhaftung im Strafrecht entspricht.

862  Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 7. November 1984, siehe ZR 1987, Nr. 11; Aufsichtskommission des Kantons Zürich vom 4. Mai 2000, siehe ZR 2001, Nr. 20. 863  EGMR vom 20. April 2004, No. 60115  / 00, Amihalachioaie c. Moldawien, siehe medialex 2004, 170 f.; siehe auch Zeller, medialex 2004, 231.

Schluss „Verteidigung ist grundsätzlich nicht über die Medien zu führen.“ Schulz 143.

Dass Litigation-PR zur Erhaltung der Reputation in der Öffentlichkeit beitragen kann, ist zwar plausibel, empirisch aber nicht nachgewiesen. Es bleibt der Intuition des Verteidigers und dem Portemonnaie des Beschuldigten vorbehalten, den Versuch zu wagen und das Risiko einzugehen. Gute Medienarbeit der Verteidigung kann im besten Fall bewirken, dass eine Vorverurteilung mit ihren unangenehmen Begleiterscheinungen verhindert oder mindestens kompensiert wird. Für den Erfolg gibt es aber keine Garantie, und es gilt keineswegs das Motto: Nützt es nichts, so schadet es nichts. Soweit es um den Versuch geht, die Staatsanwaltschaft oder das Gericht zu beeinflussen, lohnt sich die kostspielige Litigation-PR wahrscheinlich nicht. Eine Medienkampagne würde die Staatsanwälte dazu motivieren, Anklage zu erheben. Sie würde die Richter zu besonderer Vorsicht veranlassen und sich vermutlich sogar kontraproduktiv auswirken. Kommt einem Richter der Verdacht, dass der Anwalt bewusst versucht, Öffentlichkeit und Medien für seine Zwecke einzuspannen, empfindet er dies als Gefahr für seine Unabhängigkeit. Der Anwalt würde beim Richter die Einstellung und das Verhalten auslösen, das als Reaktanz beschrieben wird. Wie die Dreyfus-Affäre und der Mordfall Zwahlen zeigten, können engagierte Medienschaffende die treibende Kraft bei der Korrektur von Fehlurteilen bilden. Insofern haben Medien durchaus grosse Macht. Aber gerade integre Journalisten werden sich nicht in die Rolle eines willigen Anwaltsgehilfen drängen lassen. Sie sind kritisch und wollen alle Aspekte eines Falls beleuchten. Einen Journalisten mit einseitiger und parteiischer Information zu bombardieren, ist zwecklos. Ist der Anwalt von seiner Sache überzeugt, soll er einem geeigneten Medienschaffenden einen Tipp geben, damit dieser selber zu recherchieren beginnt. Natürlich wird es dem Anwalt von Nutzen sein, wenn er den Medienbetrieb soweit kennt, dass er abschätzen kann, wen er für die Story interessieren kann. Ob Litigation-PR überhaupt in Erwägung gezogen wird, hängt sicher auch von der Persönlichkeit des Verteidigers ab. Als mediengewandt gilt beispielsweise der Zürcher Anwalt Valentin Landmann. Er mischte auch im

Schluss199

Kachelmann-Prozess mit, als Vertreter einer Schweizer Zeugin.864 In der Welschschweiz wird der Genfer Anwalt Jacques Barillon von der Neuen Zürcher Zeitung bezeichnet als einer der „Branchenvertreter, die von medienträchtigen Affären angezogen werden wie Haie von Surfern“.865 Er vertrat den Landesverräter Jeanmaire in dessen Revisionsverfahren. Zusammen mit einem Mitautor tat er sich später mit einer Streitschrift gegen die Abschaffung der Geschworenengerichte hervor.866 Zurückhaltend gibt sich der Verteidiger Lorenz Erni. Er vertrat den Bankier Oskar Holenweger, der sich vor dem schweizerischen Bundesstrafgericht wegen Wirtschaftsdelikten verantworten musste. Über Erni schreibt Markus Gisler im Wochenmagazin Weltwoche: „Er macht nicht den Fehler, zu glauben, er könne den Prozessverlauf mit medialen Auftritten beeinflussen. Mehr noch, er weiss genau, dass die Richter gerade auf diese indirekten Druckversuche allergisch reagieren.“ Erni selber sagt dazu: „Es gehört zu meinem Berufsverständnis, vor Gericht und nicht in den Medien zu plädieren.“ Erni riet seinem Klienten davon ab, sich mit den Medien einzulassen. Tatsächlich gab Holenweger kein einziges Interview trotz vieler journalistischer Avancen. Er wurde freigesprochen.867 Fast immer ist der Verteidiger besser beraten, wenn er sich im Vorverfahren von den Medien fernhält und auf die möglichst diskrete Erledigung hinwirkt. Lässt sich Publizität nicht vermeiden, so kann er in der Hauptverhandlung auf Strafminderung plädieren. Steht der Reputationsschutz im Vordergrund, kann der Anwalt professionelle PR-Experten engagieren. Will sich der Beschuldigte selber in den Medien äussern, hätte der Anwalt die Aufgabe, ihn vor unvorsichtigen, überstürzten und widersprüchlichen Erklärungen zu warnen. Im Zweifelsfall soll er im Hintergrund bleiben und die Public Relations anderen Akteuren überlassen. Um es schliesslich mit einem Wort der Beatles zu sagen: Let it be!

864  NZZ

vom 16. Februar 2011, S. 24. Büchi in der NZZ vom 28. Februar 2011, S. 11. 866  Jaques Barillon / Jean-Noël Cuénod, Ne tirez pas sur le jury!, Genève 2009. 867  Nach Markus Gisler in der Weltwoche vom 28. April 2011, S. 20. 865  Christophe

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Personenverzeichnis Ackermann, Josef  146 f. Adams, Randall  21 Alstom Network Schweiz AG (Alstom Prom AG)  78 Baragiola, Alvaro  66, 93 Bavaud, Maurice  172, 174 Blocher, Christoph  65, 78 Bösch, Paul  145 Böttcher (Weimar), Monika  33, 148 ff. Born, Hanspeter  33, 38, 70, 172 Breivik, Anders Behring  89 f. CBS Broadcasting, Inc.  164 Davis, Angela  102 Dreyfus, Alfred  34 ff., 48, 40, 111, 172 ff., 198 Dreyfus, Mathieu  36 f. Erni, Lorenz  136, 199 Esser, Klaus  68, 147

Kachelmann, Jörg  16, 17 ff., 25, 27, 28, 32, 38, 40, 43, 45, 51, 74, 80, 90, 97, 148 f., 151 f., 157, 161, 167 ff., 198 f. Kässmann, Margot  143 f. King, Rodney  88 f. Köhler, Horst  47 Krause, Petra  66, 173 Kröcher, Gabriele  190 f. Lumengo, Ricardo  29 Mannesmann AG  16, 32, 68, 74, 146 ff. Martin, Pierre  122 Mauz, Gerhard  38, 75 McVeigh, Timothy  114 Meier, Kurt (Meier 19)  144 f. Möller, Christian  190 f. Nef, Roland  21, 60 Nixon, Richard Milhous  47 Nyffenegger, Friedrich  159 Orfei, Pierino  74

Frölicher, Hans  174 Furgler, Kurt  66, 173, 191

Pistorius, Oscar  156 f. Plumey, André  171

Grünenthal GmbH  24

Rappaz, Bernard  144 Richards, Keith  159

Hearst, Patricia  102, 121 Hirschmann, Carl  157, 161 Holenweger, Oskar  199 Honecker, Erich  80, 142

Sheppard, Sam  91 Simpson, O.J. (Orenthal James)  51, 65, 88 f., 91, 142, 162, 165 f.

Jackson, Michael  44, 164 Jeanmaire, Jean-Louis  172 ff., 199

Teufel, Fritz  141 f. Vergès, Jacques  102

220 Personenverzeichnis Weimar, Monika  33, 148 ff. Westmoreland, William  164 Zihlmann, Peter  88, 152 f., 171 f., 192 Zola, Émile  36 ff.

Zumwinkel, Klaus  65, 161 Zuppiger, Bruno  19 f. Zwahlen, Bruno  21, 33, 35, 37 ff., 51 f., 61, 62, 70, 77 f., 92, 108, 112, 116 f., 124, 141, 145, 172, 198