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German Pages 207 Year 1994
MARKUS DORNACH
Der Strafverteidiger als Mitgarant eines justizförmigen Strafverfahrens
Schriften zum Prozessrecht Band 120
Der Strafverteidiger als Mitgarant eines justizförmigen Strafverfahrens Ein Plädoyer für die öffentlichen Funktionen des Strafverteidigers
Von Dr. Markus Dornach
DUßcker & Humblot . Berliß
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Dornach, Markus: Der Strafverteidiger als Mitgarant eines justizförmigen Strafverfahrens : ein Plädoyer für die öffentlichen Funktionen des Strafverteidigers / von Markus Dornach. - Berlin: Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 120) Zug!.: Passau, Univ., Diss., 1993/94 ISBN 3-428-08135-8 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-08135-8
Meinen Eltern Annemarie und Ludwig Dornach
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Passau im Wintersemester 1993/94 als Dissertation angenommen. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Dr. Werner Beulke für seine Unterstützung im Rahmen der Anfertigung dieser Arbeit. Für die Übernahme des Zweitgutachtens danke ich weiterhin Herrn Prof. Dr. Martin Fincke. Schließlich gebührt ganz besonderer Dank Frau Regierungsrätin Karin Sedlmaier. Passau, im März 1994
Markus Domach
Inhaltsverzeichnis Einleitung
17
Kapitell Einführung in die Problematik, Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes sowie Darlegung der methodischen Vorgehensweise
21
A. Einführung in die Problematik...................................................................
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I. Die Entscheidung BGHSt 38, 111 zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts
durch den Angeklagten...................................................................... 11. Die Entscheidung BGHSt 38, 214 zum Bestehen eines Verwertungsverbotes bei unterbliebener polizeilicher Belehrung des Beschuldigten über seine Aussagefreiheit. ......... . . .. . . . . . . . . . . . ..... .. . . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . .. . ....... . . . . . . . . . . . . . . . ..
24
B. Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes. .............................................
26
c.
Darlegung der methodischen Vorgehensweise...............................................
30
Kapitel 2 Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
32
A. Überblick über die historische Entwicklung der Organtheorie. ........................... I. 11. III. IV. V.
21
32
Der Organbegriff in der Rechtsprechung des Reichsgerichts......................... Die gesetzliche Fixierung des Begriffes "Organ der Rechtspflege"................. Die Entwicklung der Organtheorie in der Rechtsprechung des BGH............... Die Entwicklung der Organlehre in der Rechtsprechung des BVerfG.............. Die Entwicklung der Organtheorie in der Prozeßrechtsliteratur.....................
32 33 33 35 38
B. Die Aussage der Organtheorie...................................................................
40
I. Die Bedeutungslosigkeit des § 1 BRAO hinsichtlich der Rechtsstellung des Strafverteidigers.... ................... . .. .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ........ . . . . . .... . . . ...... 1. Die Gefahr einer "Zweiklassenverteidigung" .......... ... ............... .......... 2. Die unterschiedliche Rechtsstellung von Strafverteidiger und Zivilanwalt. . . 3. Die Ungeeignetheit des anwaltlichen Berufsrechts hinsichtlich der Lieferung strafprozessualer Vorgaben............ ................ .. . . . . ....... .. . . ... . .. . . 4. Zwischenergebnis.......................................................................
41 42 44 45 46
10
Inhaltsverzeichnis 11. Die Aussagekraft der bisher ergangenen Rechtsprechung zur OrgansteIlung des Strafverteidigers............................................................................... 1. Die Aussagekraft der Rechtsprechung des BVerfG zur OrgansteIlung des Verteidigers................................ ................ ....... ....................... a) BVerfGE 16, 214.............. .................................................... b) BVerfGE 22, 114...... ............................ ........ ........................ c) BVerfGE 28,21.................................................................... d) BVerfGE 34,293.................................................................. e) BVerfGE 38,26.................................................................... f) BVerfGE 63,266.................................................................. g) BVerfGE 66, 337.................................................................. h) BVerfGE 76, 171.................................................................. i) BVerfGE 80, 269.................................................................. 2. Zusammenfassende eigene Bewertung der Rechtsprechung des BVerfG zum Organbegriff. ............................. ........ .......... . . . . . . . .. . .. ... ..... ... 3. Die Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit...................................... a) BGHSt 9, 20........ ...... .......................................................... b) BGHSt 12, 367..................................................................... c) BGHSt 13, 337..................................................................... d) BGHSt 15, 326..................................................................... e) BGHSt 18, 396.............................. .............. ........ ................. f) BGHSt 25,272 und BGHSt 26,221........................................... g) BGHSt 29,99...................................................................... h) BGHSt 38, 111..................................................................... i) BGHSt 38,214..................................................................... j) BGHSt 38,345..................................................................... k) BGH NStZ 1992, S. 396......................................................... I) OLG München NJW 1976, S. 252............................................. m) HansOLG JZ 1978, S. 275...................................................... n) KG JR 1977, S. 213 und KG JR 1992, S. 86................................ 0) OLG Köln NJW 1975, S. 459................................................... 4. Zusammenfassende eigene Bewertung der Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit zum Organbegriff. ... . . .. . . . . . . . . . .. ... .. . . . . . . . . . . . ..... ... .. . . . . . . . . ..
Kapitel 3 Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
48 48 48 49 49 49 50 51 51 52 53
53 54 54 54 55 55 57 57 57 58 59 59 60 60 61 61 63 63
65
A. Die Aussage der Interessentheorie..............................................................
65
B. Sonderformen der Interessentheorie............................................................
71
I. Das Autonomieprinzip Welps.............................................................. 11. Das Vertragsprinzip Lüderssens.. .................................. .......................
71 71
Inhaltsverzeichnis C. Die Kritik an der Interessentheorie................. .............. .................. ......... ... I. Der Verlust der Gegenpolfunktion (Waffengleichheit) durch Autoritätsverlust... 11. Der Verlust der Unabhängigkeit und die dadurch erfolgende Schwächung der Beistandsfunktion. ............................................................................ III. Die Anbindung des Strafverteidigers an öffentliche Funktionen als Legitirnationsgrundlage seiner weitreichenden Rechte............................................ IV. Die Stärkung der Beistandsfunktion infolge Anerkennung öffentlicher Funktionen............................................................................................... V. Die völlige Unbestimmtheit der Beschuldigtenautonomie bzw. der vom Strafverteidiger zu beachtenden Interessen.................................................... VI. Die Inkonsequenz der Interessentheorie.. ................................................ VII. Realitätsfremde Überbetonung der Beschuldigtenautonomie. ........................ VIII. Schwächung der Beistandsfunktion durch Einräumung eines Lügerechts.. ........
11 72 74 75 77 79 80 82 83 83
D. Zwischenergebnis und abschließende Stellungnahme zur Parteiinteressentheorie.....
85
I. Der Verlust der Unabhängigkeit des Verteidigers.................... .......... ........ 11. Der Verlust der Autorität und der Glaubwürdigkeit des Strafverteidigers......... III. Die Gefahr des Verlustes der spezifischen Verteidigerrechte........................
86 87 87
E. Spezielle Kritik an der Vertragstheorie.........................................................
88
I. Kritik in der Literatur........................................................................ 11. Stellungnahme.................................................................................
88 90
Kapitel 4 Die eingeschränkte Organtheorie Beuikes als eigenständiges Verteidigerkonzept
91
A. Das methodische Vorgehen Beulkes............................................................
91
B. Die öffentlichen Funktionen der Strafverteidigung..........................................
92
C. Die einzelnen öffentlichen Funktionen des Strafverteidigers, ihre Ableitung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.........................................................
93
I. Die "Effektivität der Strafverteidigung" als öffentliche Aufgabe des Strafverteidigers............................................................................................ 1. Die Ableitung der konkreten Funktion.............................................. 2. Stellungnahme........................................................................... 3. Konsequenzen der Anerkennung eines öffentlichen Interesses an der "Effektivität der Strafverteidigung "......... .................. . . . . . . . . .. ... .. . . . .. ..... . . 4. Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Verteidigers gegenüber dem Beschuldigten in der übrigen Literatur................................................. 11. Die "Effektivität der Strafrechtspflege" als öffentliche Aufgabe der Strafverteidigung. .... ..................................... ............. ................... ............. 1. Die Ableitung der konkreten Funktion..............................................
93 93 94 95 97 101 101
12
Inhaltsverzeichnis 2. Stellungnahme........................................................................... 3. Die Anerkennung einer Verpflichtung des Verteidigers auf das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege in der übrigen Literatur...... 4. Konsequenzen der Anerkennung eines vom Verteidiger zu beachtenden öffentlichen Interesses an einer effektiven Rechtspflege (Kembereichsformel)........................................................................................
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes........................
104 106
107 109
I. Die grundsätzliche Kritik an der Organtheorie.. ........................................ I. Der Arbeitskreis Strafprozeßreform................................................. a) Unzutreffende Funktionsbeschreibung der Verteidigung durch den Begriff "Organ der Rechtspflege" ........................ .............. ............ b) Stellungnahme............................................................... ....... c) Ungeeignetheit des anwaltlichen Berufsrechts hinsichtlich der Begründung einer Organstellung des Strafverteidigers.............................. d) Stellungnahme...................................................................... e) Die fehlende Regelung der Organstellung des Verteidigers im Gerichtsverfassungsgesetz. ....................................................... f) Stellungnahme...................................................................... g) Keine Rechtfertigung der Organstellung aufgrund Gewährung besonderer Verteidigerrechte.. .... ...................................... ............... h) Stellungnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . .. . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . 2. Die Kritik Knapps....................................................................... a) Mangelnde Aussagekraft und Vorbelastung des Begriffs "Organ der Rechtspflege" . .... ...................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... .. .. . .. ........ . .. . . . b) Stellungnahme...................................................................... 3. Die Kritik Lüderssens.................................................................. 4. Die Kritik Hamms.......................... .................... ......................... 11. Spezifische Kritik an dem Verteidigerkonzept Beulkes................................ I. Die angebliche Unbestimmheit der eingeschränkten Organtheorie Beulkes.. 2. Stellungnahme...........................................................................
109 109
E. Zustimmende Stellungnahmen...................................................................
120
F. Zusammenfassende Würdigung des Verteidigerkonzepts der eingeschränkten Organtheorie Beulkes.................................................................................
121
Kapitel 5 Abweichende Verteidigerkonzepte, neuere Diskussionsansätze zur RechtssteUung des Strafverteidigers und ihre Bewertung
110 110 110 111 112 112 112 113 113 113 114 115 116 116 116 117
123
A. Das Verteidigerbild Gössels........................................................... ...........
123
I. Das methodische Vorgehen Gössels...................................................... 11. Der Inhalt des Konzepts.....................................................................
123 124
Inhaltsverzeichnis
13
III. Kritik an dem Verteidigerkonzept Gössels............................................... 1. Ableitung des Verteidigerbildes aus dem Rechtsstaatsprinzip......... ... ...... 2. Die Unbestimmtheit des Konzepts................................................... 3. Das Fehlen konkreter Folgerungen.................................................. 4. Die unzureichende Aufgabenzuweisung an den Verteidiger.................... IV. Stellungnahme zu der Verteidigerkonzeption Gössels.................................
125 125 126 127 127 127
B. Das Verteidigerkonzept Heinickes (sog. "extensive" Organtheorie). .......... ..........
128
I. Der Inhalt des Konzepts..................................................................... 11. Die Kritik am Konzept Heinickes.......................................................... 1. Die Verkennung von Sinn und Zweck der Strafverteidigung................... 2. Die Unbestimmtheit der Terminologie Heinickes................................. 3. Die mangelnde Praktikabilität des Konzepts....................................... III. Abschließende Stellungnahme zum Konzept Heinickes...............................
128 131 131 132 133 133
C. Der Diskussionsansatz Hamms..................................................................
135
I. Das methodische Vorgehen Hamms...................................................... 11. Der Inhalt des Diskussionsansatzes. ...................................................... III. Kritik am Diskussionsansatz Hamms..................................................... 1. Die Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention als ungeeignete Ausgangspunkte einer Standortbestimmung........................... 2. Die Ungeeignetheit des Verfassungsrechts hinsichtlich der Herleitung konkreter Rechte und Pflichten des Verteidigers.................................. .... 3. Mangelnde Auseinandersetzung mit den Argumenten der herrschenden Organtheorie. ............................................................................ 4. Gefahr des Zirkelschlusses sowie Gefahr einer gewissen Beliebigkeit der gefundenen Ergebnisse............................................................ ..... IV. Abschließende Stellungnahme zum Diskussionsansatz Hamms......................
135 136 137 137 137 138 138 139
D. Die Thesen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer...............
139
I. Das methodische Vorgehen des Strafrechtsausschusses. .............................. 11. Der Inhalt der Thesen des Strafrechtsausschusses. ............ ......................... 1. These 1 (Freiraum der Verteidigung). .. . . . . . .. . . . . . . . . . . ..... . . . . . . . . . . ...... . . . . . . 2. These 2 ("GarantensteIlung" des Verteidigers).................................... 3. These 3 (Entscheidung bei PflichtenkoIlisionen).................................. 4. These 9 (Grundsatz) und These 10 (Konsensgebot).............................. III. Stellungnahme zu den Thesen des Strafrechtsausschusses. .... .......................
139 140 140 141 141 142 143
E. Der Diskussionsansatz Vehlings.................................................................
144
I. Das methodische Vorgehen Vehlings..................................................... 11. Folgerungen................................................................................... III. Stellungnahme zu der Auffassung Vehlings.................... .................. .......
144 144 145
14
Inhaltsveneichnis Kapitel 6 Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie auf die Problematik der aktiven Mitwirkungspflicht
147
A. LG Göttingen AnwBI. 1966 S. 406 und LG Göttingen Nds. Rpfl. 1966 S. 125.......
147
I. Sachverhalt.....................................................................................
147 148
11. Die Entscheidungen des LG Göttingen................................................... III. Stellungnahme und Lösung unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie. ... ............ ......................... ..................................................
149
B. KGBerlinJR 1981.S. 86..................................... ...................................
153
I. Sachverhalt.....................................................................................
153 154
11. Die Entscheidung des KG Berlin.......................................................... III. Stellungnahme und Lösung unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie. ... .... . . ............................... ............................................... . . .
155
C. Mitwirkungspflicht des Verteidigers an der Rekonstruktion verlorengegangener ErmittIungsakten? ...... . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .... ....... . . . . . . . . . . . .. ... . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. ... .. . ...
157
D. BGHSt38. 111.....................................................................................
160
I. Sachverhalt..................................................................................... 11. Die Entscheidung des BGH................................................................. III. Stellungnahme und Lösung unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie ............................................. :............................................. 1. Das Interesse an der Effektivität der Strafverteidigung.................... ...... 2. Das Interesse an der Effektivität der Strafrechtspflege (Kembereichsverletzung?).....................................................................................
160 161
E. Ergebnis zu KapiteI6..............................................................................
167
I. Die Effektivität der Strafverteidigung ... ................................................. . 11. Die Effektivität der Strafrechtspflege.. .... ...............................................
167 167
Kapitel 7 Die Abscbichtung der Verantwortungsbereiche von Gericht und Verteidigung bezüglich der Justizf"önnigkeit des Strafverfahrens
161 163 164
169
A. Rügeverlust in der Revisionsinstanz als Folge einer Pflichtverletzung?................
169
I. Mitwirkungspflicht des Angeklagten?................................................... 11. Mitwirkungspflicht des Strafverteidigers?............................................... 1. Bejahende Stellungnahmen............................................................ 2. Ablehnende Stellungnahmen.......................................................... 3. Lösung der Frage unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie a) Die Effektivität der Strafverteidigung. ......................................... b) Die Effektivität der Strafrechtspflege..........................................
170 170 171 173 177 177 179
Inhaltsverzeichnis
15
B. Rügeverlust in der Revisionsinstanz als Folge einer Obliegenheitsverletzung?.......
181
I. Inakzeptable Überdehnung des Verantwortungsbereiches eines Verteidigers..... 11. Intolerable SchlechtersteIlung des fonnell verteidigten Angeklagten... ... . . ...... . 111. Die Zurechnung der Kenntnis bzw. des Kennenmüssens des Verteidigers an den Angeklagten.............................................................................. IV. Das Fehlen einer dem § 295 Abs. 1 ZPO vergleichbaren Vorschrift im Strafverfahrensrecht. .... . ... . .. . .. . . .. .. . . ................ ................ . . . . . ........ . . . . .... .. . . C. Ergebnis zu Kapitel 7..............................................................................
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Kapitel 8 Zusammenfassung der Ergebnisse und DiskussioDSausblick
184 185 185
187
A. Gegenüberstellung der Verteidigertheorien........... ..................... ............ .......
187
I. Das Vertragsprinzip Lüderssens......... ................... ... ............. ... ..... ....... 11. Die Parteiinteressenvertretertheorie................................... ........... ......... 111. Die Organtheorie. ............................................................................ IV. Die Organtheorie in Fonn der eingeschränkten Organtheorie Beulkes.............
187 187 188 189
B. Würdigung von BGHSt 38, 111.................................................................
190
C. Würdigung von BGHSt 38, 214.................................................................
190
D. Diskussionsausblick................................................................................
191
Literaturverzeichnis
197
Einleitung Das Ansehen der Strafverteidigung unterlag im Laufe der Jahrhunderte einer als höchst wechselvoll zu bezeichnenden Geschichte. Während man in der Antike den Advokaten noch ein recht hohes Ansehen entgegenbrachte und Männer wie Cicero 1, Seneca, Kaiser Augustus und Marcus Antonius ruhmvoll Eingang in die Weltgeschichte fanden, verkümmerte das Ansehen der Advokatur im Laufe der folgenden Jahrhunderte in zunehmendem Maße. 2 Hingewiesen sei hier nur auf die Vorsprecher des alten deutschen Strafverfahrens, die ein ursprünglich unentgeltliches Ehrenamt wahrnahmen, sowohl nach dem Deutschen- als auch nach dem Schwabenspiegel die Befähigung zum Richteramt aufweisen mußten 3 und die nicht im Privatinteresse einer bestimmten Partei, sondern im öffentlichen Interesse des Rechts wirkten. 4 Aus dem ehemals recht angesehenen Vorsprecheramt wurde aufgrund eintretender Kommerzialisierung nach und nach ein weniger angesehenes, ja gar ein unlauteres Gewerbe. 5 Aufgrund ihrer Rabulisterei und Geldgier waren die Vorsprecher in der Zeit vor und während der Rezeption Gegenstand allgemeinen Gespöttes und Hasses. 6 Dieser Ansehensverlust ging mancherorts schließlich soweit, daß man das Vorsprechertum als unredlich ansah. Zum Zwecke der Aufnahme in eine Handwerkszunft bescheinigte beispielsweise der Abt von Altzell im Jahre 1460 einer Person mit folgenden Worten ihre ehrliche Abkunft: "Ouch bekennen wir, das der obgen. N. nicht geborn ist, unredelicher vnd vngeachter Hantwerker, also Lineweber, Pfiffer, scheffer, bader, lutensIeger, kesseler, swinsnyder, vorsprechen vnd der hantwerg glich." 7 Diese Person gehörte also glücklicherweise nicht zu der Gruppe der unredlichen und I Gross bezeichnet Cicero als den wohl berühmtesten Anwalt der Weltgeschichte, vgl. Gross, NJW 1988, S. 302. 2 Pfeiffer, DRiZ 1984, S. 341. 3 Armbrüster, Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, S. 34. 4 Weiß/er, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, S. 74. 5 Vargha, Die Vertheidigung in Strafsachen (1879), S. 170. 6 Armbrüster, Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, S. 43. 7 Vargha, Die Vertheidigung in Strafsachen (1879), S. 170 (unter Fußnote 2); weitere Beispiele bei Weiß/er, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, S. 80 f. 2 Domach
18
Einleitung
ungeachteten Handwerker, wie beispielsweise Leinwebern, Pfeifern, Lautenschlägern, Kesselflickern, Schweinschneidern und eben Vorsprechern. Ein weiterer Tiefpunkt in der Geschichte der Advokatur war sicherlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts erreicht, als es im Jahre 1713 in Preußen durch den König Friedrich Wilhelm I. zum sog. "Mantelerlaß " kam, der es den Advokaten auch privat zur Pflicht machte, ihre schwarze Amtstracht zu tragen ("die atvocatten sollen schwartz gehen mit ein Mentelchen biss an die Knie") und der bei einem Verstoß gegen diese Pflicht sogar Zwangsarbeit androhte ("sollen karren"). 8 Nach einer Äußerung des Königs erlegte man den Advokaten jene Verpflichtung angeblich deshalb auf, damit man diese "Spitzbuben" schon von weitem erkennen und sich infolgedessen vor ihnen hüten konnte. 9 Aber auch in der heutigen, modemen Zeit scheint es um das Ansehen der Anwaltschaft, speziell um die Reputation der Strafverteidiger, nicht besonders gut bestellt zu sein. So berichtete vor nicht allzu langer Zeit ein bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin über den zunehmenden Ansehensverlust der westdeutschen Rechtsanwälte. 10 Viele Anwälte würden sich weniger durch bravouröse juristische Leistungen auszeichnen, als vielmehr durch ihre extravagante Lebensweise, wie "Jugendstilhaus, Jaguar und junge Frau". 11 Die "Organe der Rechtspflege", wie das Gesetz sie nenne, würden nicht selten selbst zu Objekten der Rechtsprechung werden, weil sie beispielsweise Rauschgift in den Knast hinein- und Kassiber herausschmuggelten, Beweismittel unterdrückten, falsche Alibis besorgten, Dokumente frisierten und Mandantengelder verjubelten. 12 Bekannte "Star-Verteidiger" würden sich alle Mühe geben, ihrem bereits schlechten Ruf als Rechtsverdreher und Schlitzohren auch gerecht zu werden und deckten beispielsweise die anfallenden Gebühren der Einfachheit halber durch einen Exklusivverkauf der Lebensgeschichte ihrer oft mittellosen Mandanten. 13 Anstoß errege auch der äußerst schnelle Rollenwechsel des Verteidigers. Hebe dieser heute die entlastenden Umstände als Fürsprecher des Angeklagten noch temperamentvoll hervor, 8 Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, S. 310. 9 Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, S. 310. 10 Der Spiegel 1989, Heft 49, S. 145 ff. sowie Heft 50, S. 130 ff. 11 Der Spiegel 1989, Heft 49, S. 152. 12 Der Spiegel 1989, Heft 49, S. 152. 13 Der Spiegel 1989, Heft 49, S. 145 und 162.
Einleitung
19
weise er schon morgen als Vertreter des Verletzten die gleichen Argumente als weniger gewichtig zurück. 14 Der Strafverteidiger gelte daher bei vielen Menschen als wendischer Rabulist, der die Interessen des jeweiligen Mandanten mit advokatischer Schläue einseitig vertrete, ohne Rücksicht zu nehmen auf die notwendige Aufklärung des Falles und ohne jede Tendenz zur Ermittlung der Wahrheit. 15 Selbst bei "Vier- oder Fünf-Sterne-Verteidigern" stehe der Bekanntheitsgrad umgekehrt proportional zu deren Reputation. 16 Das Ansehen der Strafverteidiger - so schreibt Müller im Jahre 1989 - sei heutzutage dort angelangt, wo es immer schon angesiedelt war: auf einem recht niedrigen Level. 17 Verlassen wir aber nun das Bild, das der Verteidiger in der breiten Öffentlichkeit hinterläßt und wenden wir uns dem Leitbild der Strafverteidigung zu. Ähnlich wie das Ansehen des Verteidigers ist natürlich auch sein Leitbild nicht statisch festgeschrieben, sondern hängt ganz von der subjektiven Einschätzung der Person ab, die um Stellungnahme gebeten wird. Würde man etwa einen Kriminellen nach den Fähigkeiten eines aus seiner Sicht "idealen" Strafverteidigers fragen, so könnte die Antwort wohl wie die Äußerung eines Mitglieds der englischen Posträuberbande ausfallen, daß nämlich für einen Räuber großen Stils ein normaler, ehrlicher Anwalt v~llig nutzlos sei, er vielmehr einen Mann brauche, der Alibis fälsche, der Zeugen, die Polizei und möglichst auch noch eine Geschworenenbank bestechen könne. 18 Es bedarf hier wohl keiner näheren Darlegung, daß eine Rechtsordnung, die ihren Namen verdient, die von der Strafverteidigung zu erfüllenden Aufgaben nicht darin sehen kann, Beweisquellen zu trüben und Strafverfolgungsorgane zu korrumpieren. 19 Einem solchen Leitbild der Strafverteidigung wäre selbstverständlich jegliche Anerkennung zu versagen. Aber selbst wenn man nicht so weit gehen will, kann man immer noch die berechtigte Frage stellen, ob es sich bei Strafverteidigern um vornehmlich dem eigenen finanziellen Vorteil 14 Hammerstein, NStZ 1990, S. 262. 15 Hammerstein, NStZ 1990, S. 262. 16 Müller, Strafverteidigung im Überblick, Rn. 1. 17 Müller, Strafverteidigung im Überblick, Rn. 1; vgl. zum Ansehen der Verteidigung auch Ger/ach, der die Strafverteidigung als ein "ungeliebtes Kind" bezeichnet, dem man - insbesondere seit den Terroristenprozessen - mit unverhohlenem Mißtrauen begegne, vgl. Gerlach, Peters-Festgabe, S. 155. 18 Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 26/27.11.1983, S. 3 (Beispiel übernommen von Bottke, ZStW 96 (1984), S. 726). 19 Vgl. dazu Bottke, ZStW 96 (1984), S. 726.
20
Einleitung
verpflichtete Rechtsverdreher handelt, um gewissenlose Egoisten, die den Verbrecher mit den verabscheuungswürdigsten Kniffen und Winkelzügen der verdienten Strafe entziehen. 20 Würde man auf der anderen Seite die staatlichen Strafverfolgungsorgane um eine Stellungnahme zum Leitbild des Strafverteidigers bitten, so würde sich wohl so mancher Staatsanwalt bzw. Richter einen Verteidigertypus wünschen, der die staatlichen Verfolgungsinteressen voll und ganz zu seinem eigenen Anliegen erklärte und der die Interessen des Beschuldigten allenfalls am Rande berücksichtigte. Befragte man schließlich die Strafverteidigerschaft selbst, so würde man wohl auch hier höchst unterschiedliche Stellungnahmen zu erwarten haben. Eine denkbare Antwort wäre wohl die, daß dem idealen Strafverteidiger eine möglichst große Unabhängigkeit nach allen Seiten hin zukommen müßte und daß er seitens der Strafverfolgungsbehörden möglichst geringen Einschränkungen seiner Tätigkeit ausgesetzt wäre. Leitbild wäre auch ganz sicherlich nicht das eines Strafverteidigers, der sich ständig - gleich einem Hochseiltänzer ohne Netz - auf der höchst unsicheren Grenze zwischen noch erlaubter Strafverteidigung einerseits und bereits verbotener Strafvereitelung andererseits zu bewegen hätte. Die soeben gestellte und rein fiktiv beantwortete Frage nach dem Leitbild des Strafverteidigers und weiterhin die Frage nach seinem Auftrag sowie den konkreten Rechten bzw. Pflichten des Verteidigers stehen bereits seit Jahrzehnten im Mittelpunkt einer überaus bewegt geführten Diskussion, die vornehmlich die strafprozessuale Literatur entzweit und die, wie neuere Stellungnahmen belegen, jedenfalls auf absehbare Zeit noch kein Ende finden wird. 21
20 Vgl. dazu Gössel, ZStW 94 (1982), S. 5. 2! Vgl. dazu nur die in jüngerer Zeit veröffentlichten Aufsätze von Hamm, NJW 1993, S. 289 ff.; Maatz, NStZ 1992, S. 513 ff., Richter 11, NJW 1993, S. 2152 ff.; Veh/ing, StV 1992, S. 86 ff. und Widmaier, NStZ 1992, S. 519 ff.
Kapitell
Einführung in die Problematik, Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes sowie Darlegung der methodischen Vorgehensweise A. Einführung in die Problematik I. Die Entscheidung BGHSt 38, 111 zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts durch den Angeklagten Unter dem Leitsatz "Macht der Angeklagte zwecks Verhinderung des ordnungsgemäßen Abschlusses der Hauptverhandlung in exzessiver Weise von seinem Recht, Beweisanträge zu stellen, Gebrauch, kann das Gericht anordnen, daß er in Zukunft Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger stellen darf." traf der 4. Strafsenat des BGH (4 StR 252/91) am 07.11.1991 eine Entscheidung, die Rolle und Standort der Verteidigung im heutigen Strafprozeß, insbesondere ihre PflichtensteIlung, in ganz erheblicher Weise beeinflussen, ja möglicherweise zum Teil völlig neu definieren wird. 1 Bedeutsamer noch als die Ausführungen zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts durch den Angeklagten 2 erscheint in vorliegendem Zusammenhang die grundsätzliche Stellungnahme des BGH zur Funktion und zu den Pflichten der Verteidigung im Strafverfahren. Ganz besonderes Interesse weckt natürlich die Begründung, die der BGH dafür zu geben sucht, daß die Verteidigung in die Pflicht genommen und gleichsam als Kontrollinstanz zwischen den Angeklagten und das Gericht geschaltet wird, "um damit eine rechtliche Kontrolle 1 BGHSt 38, 111 ff. 2 Überzeugend führte der BGH hierzu aus, daß der Mißbrauch des prozessualen Beweisantragsrechts auf der Hand liege, wenn ein Gericht zu einem sachlich insgesamt überschaubaren Sachverhalt (Vorwurf des betrügerischen Verhaltens bei der Erteilung von Aufträgen an Handwerker bezüglich zweier Bauprojekte) bereits über ein Jahr lang an 77 Tagen verhandelte, dann mehr als ein halbes Jahr an etwa dreißig weiteren Verhandlungstagen nur mit der Entgegennahme und - fast ausschließlichen - Ablehnung von Beweisanträgen befaßt war und ihm gleichwohl noch hunderte oder gar tausende von Beweisanträgen angekündigt wurden (vgl. BGHSt 38, 111, 113).
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Kapitell: Einführung, Untersuchungsgegenstand, Methodik
darüber stattfinden zu lassen, ob es sich um sachdienliche Anträge handelt". 3 Zur Rechtfertigung dieser Inpflichtnahme der Strafverteidigung führte der BGH folgendes aus: "Damit wurde der Verteidigung keine unzumutbare Aufgabe gestellt oder gar das Wesen der Verteidigung verkannt. Der Auftrag der Verteidigung liegt nicht ausschließlich im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege (BGHSt 29, 99, 106). Der Verteidiger, von dem das Gesetz besondere Sachkunde verlangt (§§ 138, 139, 142 Abs. 2 StPO, § 392 AO), ist der Beistand, nicht der Vertreter des Beschuldigten, an dessen Weisungen er nicht gebunden ist (BGHSt 12, 367, 369; 13, 337, 343). Die Strafprozeßordnung geht deshalb folgerichtig davon aus, daß es in gewissen Fällen sachdienlich sein kann, Rechte des Beschuldigten nur über den Verteidiger ausüben zu lassen. So wird beispielsweise lediglich dem Verteidiger, nicht dem Beschuldigten selbst, das Akteneinsichtsrecht gewährt (§ 147 StPO); ein Kreuzverhör (§ 239 StPO) darf nur vom Verteidiger (und von dem Staatsanwalt), nicht vom Angeklagten durchgeführt werden; der Angeklagte darf seinen Mitangeklagten nicht unmittelbar befragen (§ 240 Abs. 2 Satz 2 StPO); Revisionsanträge und ihre Begründung können nur in einer von dem Verteidiger (oder - praktisch wenig bedeutsam - von einem Rechtsanwalt oder zu Protokoll der Geschäftsstelle) unterzeichneten Schrift abgegeben werden (§ 345 Abs. 2 StPO); schließlich darf ein Rechtsanwalt als Beschuldigter nicht sein eigener Verteidiger sein (BVerfGE 53, 207). Aus alledem folgt, daß ein Verteidiger den Angeklagten in der Hauptverhandlung keineswegs nach Belieben "schalten und walten lassen" darf, sondern daß ihn eine Pflicht trifft, mit dafür Sorge zu tragen, daß das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt wird. Daß er dabei inhaltlich einseitig die Interessen des Angeklagten zu beachten hat (vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO 40. Aufl. vor § 137 Rn. 1 aE m.w.Nachw.), steht mit der Notwendigkeit der Mitwirkung an einer ordnungsgemäß zu fördernden Hauptverhandlung, in der auch der Abschluß des Verfahrens in einer angemessenen Zeit nicht in Frage gestellt werden darf, nicht in Widerspruch." 4 Nach Auffassung des BGH trifft den Verteidiger also die Pflicht, "mit dafür Sorge zu tragen, daß das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt wird." Der Verteidiger hat nach Ansicht des BGH die Aufgabe, an einer ordnungsgemäß zu fördernden Hauptverhandlung mitzuwirken. Wie Maatz hervorhebt, wies der BGH dem Strafverteidiger mit die3 BGHSt 38, 111, 114. 4 BGHSt 38, 111, 114 und 115.
A. Eirlführung in die Problematik
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ser Entscheidung nicht nur im Hinblick auf den konkret entschiedenen Fall eine Art "Filterfunktion" hinsichtlich der Stellung sachdienlicher Beweisanträge zu, sondern der BGH statuierte darüber hinaus ganz generell und verallgemeinerungsfähig eine Mitverantwortungspflicht der Verteidigung für eine sachdienliche und prozessual geordnete Durchführung des Strafverfahrens. 5 Man könnte nun mit einiger Berechtigung fragen, was denn Nachteiliges und Problematisches daran zu finden ist, wenn der Verteidiger und das Prozeßgericht gemeinsam die Justizförmigkeit des Strafverfahrens überwachen, gewissermaßen in Eintracht miteinander kooperieren, da eine solche Zusammenarbeit des Verteidigers mit den Strafverfolgungsbehörden dem Mandanten letztlich doch nur helfe und damit in dessen ureigenstem Interesse liege. Handelt es sich daher bei dieser Inpflichtnahme der Strafverteidigung lediglich um einen Ausfluß ihrer besonderen Verantwortung? Handelt es sich wirklich nur um die vom Gesetz selbst geforderte Teilhabe des Verteidigers an der Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit im Einzelfall, die seine Pflicht zur Einseitigkeit zugunsten des Beschuldigten gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und dem Gericht nicht grundlegend einschränkt, wie es - aus Sicht der (BGH-) Richterschaft - Maatz darstellt? 6 Oder aber will der BGH hier - wie es Widmaier aus Sicht der Verteidigerschaft befürchtet 7 - die Verantwortlichkeit des Prozeßgerichts für einen (prozeß-) ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens zu einem ganz erheblichen Teil auf die Verteidigung verlagern, mit der höchst einschneidenden Folge, daß in Zukunft mit dem Rechtsmittel der Revision nur noch solche Verfahrensverstöße erfolgreich gerügt werden können, gegen die sich der Verteidiger bereits in der Hauptverhandlung - vergeblich - zur Wehr gesetzt hat? Wie lassen sich die Verantwortungsbereiche von Gericht und Strafverteidigung im Hinblick auf einen ordnungsgemäßen Prozeßablauf in der Hauptverhandlung konkret gegeneinander ab schichten? Kommt dem Strafverteidiger hinsichtlich eines ordnungsgemäßen Prozeßablaufes gar eine Art "GarantensteIlung" zu? Die Beantwortung der soeben aufgeworfenen Fragen ist nicht reiner Selbstzweck, keine wissenschaftliche Fleißaufgabe, sondern erlangt spätestens in der Revisionsinstanz eine ganz erhebliche praktische Relevanz. Denn hier ist zu entscheiden, ob aufgrund der Verletzung einer Mitwirkungspflicht des Strafverteidigers 5 Maatz, NStZ 1992, S. 513. Dieser Stellungnahme wird man insbesondere deshalb ein überaus hohes Gewicht beizumessen haben, weil Maatz ein Mitglied des BGH-Senats ist, der die vorliegende Entscheidung BGHSt 38, 111 traf. 6 Maatz, NStZ 1992, S. 513. 7 Widf1lllier, NStZ 1992, S. 519.
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Kapitell: Einführung, Untersuchungsgegenstand, Methodik
möglicherweise ein Rügeverlust eingetreten ist (beispielsweise in Form der Verwirkung oder gegebenenfalls auch in Form des stillschweigenden Verzichts). Diesen äußerst praxisrelevanten, revisionsrechtlichen Aspekt des Problems betont Maatz, wenn er darlegt, daß der Rügeverlust eine Sanktion auf der Ebene des Prozeßrechts sei, aus der - im Nachhinein - die (Mit-) Verantwortung des Angeklagten und/oder seines Verteidigers für ein - bezogen auf den im Einzelfall gerügten Verfahrensverstoß - prozeßordnungsgemäßes Verfahren entnommen werden könne. 8 Das "Ob" und das "Wie" der Mitverantwortung des Verteidigers erweise sich also erst auf der Rechtsmittelebene, eben wenn im konkreten Einzelfall darüber zu entscheiden sei, ob ein in der Tatsacheninstanz nicht geheilter Verfahrensfehler von dem Angeklagten im Wege der Revision noch mit Erfolg gerügt werden kann. 9 11. Die Entscheidung BGHSt 38,214 zum Bestehen eines Verwertungsverbotes bei unterbliebener polizeilicher Belehrung des Beschuldigten über seine Aussagefreiheit Auch in einer anderen, erst kürzlich veröffentlichten Entscheidung des BGH fmden sich Ansätze, die besondere Verantwortung des Strafverteidigers und die von ihm wahrzunehmenden Pflichten mehr zu betonen als dies "nach bisherigem Verständnis" 10 der Fall war. Es handelt sich hier um den Beschluß des 5. Strafsenats des BGH vom 27.02.1992 (5 StR 190/91). In dieser Entscheidung bejahte der BGH - gegen die Entscheidung BGHSt 31, 395 grundsätzlich ein Verwertungsverbot für solche Äußerungen, die ein - entgegen § 136 Abs. 1 S. 2 i. V.m. § 163 a Abs. 4 S. 2 StPO - nicht über seine Aussagefreiheit belehrter Beschuldigter im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung machte. 11 Ein solches Verwertungsverbot besteht jedoch nach Ansicht des BGH unter anderem dann nicht, wenn ein Verteidiger des Angeklagten in der Hauptverhandlung mitwirkte und der verteidigte Angeklagte ausdrücklich der Verwertung des Inhalts einer ohne Belehrung (§ 136 Abs. 1 S. 2 StPO) zustandegekommenen Aussage zugestimmt hat oder wenn der verteidigte Angeklagte einer solchen Verwertung nicht wirksam widersprochen hat, wobei der Widerspruch gegen die Verwertung nur bis zu dem in § 257 8 Maatz, NStZ 1992, S. 514. 9 Maatz, NStZ 1992, S. 514. 10 Vgl. zu dieser Tendenz des BGH auch das Vorwort von Hamm und Lohberger in dem Beek'sehen Formularbueh für den Strafverteidiger sowie KK-Laujhütte, Vor § 137 Rn. 4. 11 BGHSt 38, 214 ff.
A. Einführung in die Problematik
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StPO genannten Zeitpunkt wirksam erklärt werden kann. 12 Zur Begründung dieser Ausnahmen vom grundsätzlich zu bejahenden Verwertungsverbot äußerte sich der BGH wie folgt: "Diese Einschränkung des Verwertungsverbotes beschneidet die Rechte des Angeklagten nicht in unangemessener Weise. Sie entspricht der besonderen Verantwortung des Verteidigers und seiner Fähigkeit, Belehrungsmängel aufzudecken und zu erkennen, ob die Berufung auf das Verwertungsverbot einer sinnvollen Verteidigung dient." 13 Man muß sich die Konsequenzen dieser Entscheidung schon deutlich vor Augen halten: Unterläßt der Strafverteidiger den rechtzeitigen Widerspruch gegen die Verwertung der Aussage seines - von der Polizei nicht belehrten - Mandanten, dann soll nach Auffassung des BGH - trotz Vorliegen eines Verfahrensverstoßes - kein Verwertungsverbot vorliegen. Durch diese Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung erhöht sich also zum einen die Verantwortung der Verteidigung, da ihr eine "Widerspruchspflicht" - wie sie nun infolge der Rechtsprechungsänderung begründet wurde - zuvor gänzlich unbekannt war. 14 Zum anderen wird man die Frage aufwerfen müssen, ob sich hinter der "besonderen Verantwortung" der Verteidigung, die der BGH hier so betonte, nicht möglicherweise mehr verbirgt, nämlich die Entpflichtung des Gerichts von der Feststellung von Verfahrensfehlem durch Verlagerung auf die Verteidigung. 15 Hamm führt dazu aus, daß die vom Ergebnis her erfreuliche, weil ein Verwertungsverbot bejahende Entscheidung jedenfalls dann Bedenken hervorrufen muß, wenn man sie - wie beispielsweise Maatz es tut - in der Weise interpretiert, daß die Verteidiger damit in den Verantwortungsbereich des Prozeßgerichts eingebunden werden. 16 Auch Bohlander ist der Ansicht, daß die vom BGH eingeschlagene Richtung eine geflihrliche Tendenz aufweist. Er stellt die Frage, ob hier künftig unter Berufung auf die "besondere Verantwortung des Verteidigers" dem Anwalt die Verantwortung für die Beachtung der Strafverfahrensordnung auferlegt werden soll bzw. ob strafprozessuale Verfahrensfehler in Zukunft den Charakter zivilprozessualer Einreden erhalten sollen. 17 In ganz ähnlicher Weise übt Fezer Kritik an vorliegender Entscheidung des BGH: Das Gericht dürfe seine eigene Verantwortung nicht an den Verteidiger abgeben, da Verwertungsverbote von Amts 12 BGHSt 38, 214, 225 und 226. 13 BGHSt 38, 214, 226. 14 Kiehl, NJW 1993, S. 502. 15 Kiehl, NJW 1993, S. 502. 16 Hamm, NJW 1993, S. 291 und S. 295. 17 Bohlander, NStZ 1992, S. 505.
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Kapitel I: Einführung, Untersuchungsgegenstand, Methodik
wegen zu beachten seien. 18 Diese Literaturstimmen belegen deutlich, daß sich auch im Rahmen der Entscheidung BGHSt 38,214 das Problem einer Inpflichtnahme der Strafverteidigung stellt. Es geht letztlich wiederum um die Abschichtung der konkreten Aufgaben- und Verantwortungsbereiche von Gericht und Verteidigung. Solange jedoch der Verantwortungs- und Aufgabenbereich der Verteidigung hinsichtlich eines ordnungsgemäßen Prozeßablaufes - wie es zumindest den Anschein hat - dogmatisch völlig ungeklärt ist, tritt zum einen eine erhebliche Rechtsunsicherheit ein. Dies zeigen die unterschiedlichen, ja sich zum Teil diametral gegenüber stehenden Interpretationen von Maatz 19 und Widmaier 20 hinsichtlich der erstgenannten Entscheidung des BGH zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts sehr anschaulich. Als weitere Folge ist einer ungezügelten und schrankenlosen "Inflation der Inpflichtnahme" des Strafverteidigers Tür und Tor geöffnet (meist - was darzustellen ist - unter Berufung auf die Stellung des Verteidigers als "Organ der Rechtspflege" oder gar unter Vermeidung jeglicher Begründung). Provokant gefragt: Ist und bleibt der Strafverteidiger ein Spielball der verschiedenen, in der Literatur vertretenen Verteidigertheorien, den die Rechtsprechung unter äußerst geschickter Ausnutzung der bestehenden Meinungsvielfalt sowie der weitreichenden Interpretationsspielräume bald in die eine und bald in die andere Richtung rollen läßt? Und: Ist es möglich, daß es sich hierbei meist um einund dieselbe Richtung handelt, nämlich um - positiv gesprochen - die der Inpflichtnahme oder - negativ gewendet - die der Disziplinierung der Strafverteidigung?
B. Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes Die Fragen, die sich vorliegend stellen und die im Rahmen dieser Dissertation einer Lösung zugeführt werden sollen, sind damit wie folgt zu formulieren: Trifft den Strafverteidiger in bezug auf den ordnungsgemäßen Ablauf des Strafverfahrens in der Hauptverhandlung eine aktive Mitwirkungspflicht oder ist die Wahrung der Justizförmigkeit des Strafverfahrens originäre und letztlich alleinverantwortlich wahrzunehmende Angelegenheit des Prozeßgerichts?
18 Fezer, IR 1992, S. 386. 19 Maatz., NStZ 1992, S. 513 ff. 20 Widmaier, NStZ 1992, S. 519 ff.
B. Umschreibung des UnteISUchungsgegenstandes
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Woraus ist eine solche Mitwirkungspflicht des Verteidigers möglicherweise abzuleiten und wo liegen gegebenenfalls ihre Grenzen? Für die Beantwortung vorliegender Fragen ist insbesondere auf die Funktion des Verteidigers sowie auf seinen Aufgabenbereich abzustellen. Es ist danach zu fragen, ob eine Verfahrenskontrolle mit zum Aufgabenbereich des Verteidigers gehört bzw. ob es mit der Funktion und Stellung eines Verteidigers vereinbar ist, ihm die Pflicht aufzuerlegen, das Strafverfahren kooperativ mit dem Prozeßgericht zu beaufsichtigen und zu kontrollieren, also eine Art Kontroll- und Wächterfunktion einzunehmen. Spätestens an dieser Stelle treten jedoch die ersten Schwierigkeiten auf, da - wie einleitend bereits kurz Erwähnung fand - das Leitbild des Strafverteidigers in der Bundesrepublik Deutschland und damit auch die von ihm wahrzunehmenden Aufgaben und Funktionen nicht nur heftig umstritten, sondern über weite Strecken hinweg gänzlich ungeklärt sind. Der Grund für diesen Streit um die RechtssteIlung des Strafverteidigers liegt in unserer Strafprozeßordnung begründet, die in den §§ 137 - 149 die Stellung des Strafverteidigers allenfalls fragmentarisch regelte und weder einen wohlbestimmten Katalog einzelner Rechte und Pflichten des Verteidigers aufstellte noch - wenigstens - eine Generalklausei normierte, die bei der Definition von strafprozessual erlaubtem und unerlaubtem Verhalten hilfreich wäre. 21 Angesichts dieser Situation nimmt es auch nicht wunder, daß beispielsweise Rieß in dem Geleitwort zu den vom Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer erarbeiteten "Thesen zur Strafverteidigung" aus dem Jahre 1992 die große Unsicherheit hinsichtlich der Stellung und Funktion des Strafverteidigers beklagt: Im Gegensatz zur Stellung des Richters und des Staatsanwalts gingen die Definitionen beim Verteidiger weit auseinander, wobei sich die Kontroversen in den letzten zwanzig Jahren eher noch vergrößert hätten. 22 Die Schärfe und die Gegensätzlichkeit der verschiedenen Standpunkte zur Rechtsstellung des Strafverteidigers bringt Schäfer sehr plastisch zum Ausdruck, wenn er bemerkt, daß in der heutigen Verteidigerdiskussion nahezu die gesamte denkbare Bandbreite an Positionen vertreten wird. 23 Diese Bandbreite reiche von dem der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichteten Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) über die im öffentlichen Interesse wirkende Kontrollinstanz zur Abwehr fehlerhaften Han21 Vgl. Battke, ZStW 96 (1984), S. 727 und 728. 22 BRAK-Thesen, S. 1 (Geleitwort). 23 SeM/er, Die Praxis des Strafverfahrens, Rn. 45.
28
Kapitell: Einführung, Untersuchungsgegenstand, Methodik
delns der staatlichen Organe (Kontrolle der Justizfönnigkeit des Verfahrens) bis hin zu dem einseitigen Interessenvertreter, dem jedes Mittel gestattet sein soll, ein Verfahren oder eine Verurteilung seines Mandanten zu vermeiden, ja sogar zu hintertreiben. 24 Auch Eisenberg stellt fest, daß die Rechts- bzw. AufgabensteIlung des Verteidigers, im Vergleich zu den Rechten und Pflichten der am Strafverfahren beteiligten staatlichen Organe, mit einer erheblichen Unsicherheit behaftet ist. 25 Große Hindernisse sieht auch Maatz, der sich zum Problem einer Mitverantwortung des Verteidigers für ein prozeßordnungsgemäßes Verfahren dahingehend einläßt, daß sich diese Frage ganz generell schon deshalb nicht beantworten lasse, weil es an positiv-rechtlichen Vorschriften über die Art und Weise der Durchführung der Verteidigung fehle und - von den in § 138 a Abs. 1 StPO nonnierten AusschlußgTÜnden abgesehen - Einigkeit nur insoweit bestehe, daß der Verteidiger bei Ausübung seiner Tätigkeit zur Wahrheit und zur Sachlichkeit verpflichtet sei. 26 Ehrliche Worte zur dargestellten Problematik um die Rechtsstellung des Verteidigers fand in jüngster Zeit Hamm: Ein jeder Mensch wisse, was ein Strafrichter zu tun habe. Welche Aufgabe und welche Stellung der Staatsanwalt habe, glaube jeder zu wissen. Über die Rolle des Verteidigers wisse man jedoch von jeher wenig. 27 So habe sich - dieser Ansicht ist jedenfalls Hamm - denn auch bis heute keine der zur Rechtsstellung des Strafverteidigers vertretenen Meinungen in einer Weise durchsetzen können, daß sie als theoretischer Überbau für eine Kodifizierung der Rechte und Pflichten des Verteidigers konsensfahig wäre. 28 Aber nicht nur in der Literatur findet man höchst unterschiedliche Interpretationen der Rechtsstellung und der Funktion des Strafverteidigers. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH zeigt in bezug auf die dargestellte Problematik eine nicht unerhebliche Unsicherheit. Anzuführen ist hier beispielsweise der Beschluß des BGH vom 09.12.1992 (5 StR 394/92). 29 Es ging in dieser Entscheidung um die Frage der Wiedereinsetzung des Angeklagten in den vorigen Stand in einem Fall, in dem der Vertei24 Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, Rn. 45. 25 Eisenberg, NJW 1991, S. 1257. 26 Vgl. Maatz, NStZ 1992, S. 514. Auch diese Annahme ist eher noch zu optimistisch, da in letzter Zeit sogar die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers vereinzelt in Zweifel gezogen wird, vgl. dazu Kapitel 3. 27 Hamm, NJW 1993, S. 289. 28 Hamm, NJW 1993, S. 289. 29 BGH NJW 1993, S. 742.
B. Umschreibung des Untersuchungsgegenstandes
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diger des Angeklagten die Rechtsmittelfrist schuldhaft verstreichen ließ. Zwar billigte der BGH vorliegend noch die Wiedereinsetzung des Angeklagten in den vorigen Stand und rechnete ihm das Verschulden seines Verteidigers an der Versäumung der Revisionsbegründungsfrist nicht zu, sprach jedoch im Rahmen der Beschlußgründe folgende "Warnung" aus: "In künftigen gleichgelagerten Fällen wird der Senat indes der Frage nachgehen, ob die Rechtsprechung zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Revisionsbegründungsfrist infolge Verteidigerverschuldens zu korrigieren sein wird." 30 Nun ist es jedoch im Strafverfahren bisher "anerkannten Rechts, daß das Verschulden des gewählten oder bestellten Verteidigers, das zu einer Fristversäumnis führt, die Gewährung von Wiedereinsetzung rechtfertigt, sofern nicht der Angeklagte durch eigenes Verschulden zur Versäumung der Frist (mit-) beigetragen hat." 31 Diese Auffassung geht zurück auf einen Beschluß des BGH aus dem Jahre 1960, in dem das Gericht entschied, daß ein Verteidigerverschulden durch das eine Frist versäumt wird, für den Angeklagten einen unabwendbaren Zufall im Sinne des § 44 StPO darstellt und grundSätzlich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigt. 32 Im Gegensatz zu der zivilprozessualen Vorschrift des § 85 Abs. 2 ZPO, die bestimmt, daß das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleich steht, gilt also im Bereich des Strafverfahrens, daß dem Angeklagten ein Verschulden seines Verteidigers grundsätzlich nicht zugerechnet werden kann. 33 Während also bisher im Strafverfahren dem Verteidiger im Verhältnis zu seinem Mandanten eine unabhängige Rechtsstellung zugebilligt wird, die dazu führt, daß das Verteidigerverschulden dem Angeklagten nicht zugerechnet werden kann - wobei an dieser Stelle noch nicht geklärt werden soll, woraus sich die angesprochene Unabhängigkeit des Strafverteidigers eigentlich ergibt -, soll diese, dem Angeklagten letztlich nur Vorteile bringende Position des Verteidigers in künftigen Fällen zumindest in Frage gestellt werden. Wie ist nun die in obigem Beschluß zum Ausdruck kommende Tendenz mit anderen Entscheidungen des BGH zu vereinbaren, in denen gerade die Unabhängigkeit der Rechtsstellung des Strafverteidigers be-
30 BGH NJW 1993, S. 742. 31 Vgl. statt vieler OLG Karlsruhe NStZ 1988, S. 472. 32 BGHSt 14, 306, 308. 33 BVerfG NJW 1991 S. 351; Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 306; DahslDahs, Die Revision im Strafprozeß, Rn. 222; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 44 Rn. 18; Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, Rn. 126; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 22 Rn. 17.
30
Kapitell: Einführung, Untersuchungsgegenstand, Methodik
sonders hervorgehoben wird? Als Beispiel diene die bereits erwähnte Entscheidung des BGH zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts durch den Angeklagten, in der das Gericht gerade die Unabhängigkeit des Strafverteidigers besonders betonte und hierzu ausführte: "Der Verteidiger, von dem das Gesetz besondere Sachkunde verlangt (§§ 138, 139, 142 Abs. 2 StPO, § 392 AO), ist der Beistand, nicht der Vertreter des Beschuldigten, an dessen Weisungen er nicht gebunden ist (BGHSt 12, 367, 369; 13, 337, 343)." 34 Der BGH will also auf der einen Seite - nämlich im Rahmen der Zurechnung des Verteidigerverschuldens - die Unabhängigkeit des Verteidigers zukünftig mindestens in Frage stellen, während ihm auf der anderen Seite dieselbe Unabhängigkeit sehr gelegen kommt, wenn es um die Inpflichtnahme der Verteidigung geht. Gerade die weisungsunabhängige Stellung des Verteidigers, also seine Unabhängigkeit, war in der Entscheidung BGHSt 38, 111 zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts durch den Angeklagten ein gewichtiges Argument für die Zumutbarkeit der Inpflichtnahme der Verteidigung. Durch diese Gegenüberstellung sich im Grunde widersprechender Argumentationen kommt sehr deutlich zum Ausdruck, welch große Unsicherheit selbst im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung in bezug auf die Rechtsstellung und den Verantwortungsbereich des Strafverteidigers noch besteht. Aber sind denn Aufgabenbereich und Funktionen des Verieidigers bisher wirklich so unbestimmt geblieben, wie es den Anschein hat? Ist tatsächlich keine der in Rechtsprechung und Lehre vertretenen Theorien dazu in der Lage, das geeignete Instrumentarium für überzeugende Lösungsansätze hinsichtlich der Abgrenzung der Verantwortungsbereiche von Gericht und Verteidigung zur Verfügung zu stellen?
c. Darlegung der methodischen Vorgehensweise Im Rahmen dieser Arbeit sollen zunächst die in Rechtsprechung und Literatur aktuell vertretenen Verteidigertheorien, wie beispielsweise Organtheorie, eingeschränkte Organtheorie und Parteiinteressenvertretertheorie, näher dargestellt und auf Aussagegehalt sowie Überzeugungskraft hin untersucht werden (vgl. hierzu die Kapitel 2 - 5). Ist schließlich die Entscheidung für ein bestimmtes Verteidigerkonzept gefallen, so werden dessen wesentliche Grundaussagen und Konsequenzen anhand ausgewählter Fälle verdeutlicht
34 BGHSt 38,111,114.
C. Darlegung der methodischen Vorgehensweise
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(vgl. hierzu Kapitel 6) und die konkrete Frage einer Mitverantwortung des Strafverteidigers hinsichtlich der Justizförmigkeit des Strafverfahrens einer Lösung zugeführt (Kapitel 7). Am Ende der Arbeit erfolgt eine kurze Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse und es wird ein kritischer Ausblick auf die weitere Verteidigerdiskussion gewagt (Kapitel 8).
Kapitel 2
Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie A. Überblick über die historische Entwicklung der Organtheorie Obgleich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eine Auseinandersetzung mit der Organtheorie dergestalt erfolgen soll, wie sie sich im Lichte der aktuellen Verteidigerdiskussion präsentiert, erscheint zum Verständnis des Nachfolgenden ein kurzer Überblick über die historische Entwicklung des Begriffes "Organ der Rechtspflege" in Rechtsprechung und Gesetzgebung hilfreich. 1 I. Der Organbegriff in der Rechtsprechung des Reichsgerichts Im Schrifttum finden sich die ersten Ansätze der Organlehre bzw. Organtheorie, wie Beulke überzeugend nachwies, bereits in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. 2 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand der Terminus "Organ der Rechtspflege" dann auch Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung des Reichsgerichts. Erstmalig sprach der Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte - ein Senat des Reichsgerichts - in der Entscheidung vom 25.05.1883 vom Rechtsanwalt als einem "Organ der Rechtspflege". 3 Das Reichsgericht in Strafsachen übernahm diese Terminologie in dem Beschluß des 4. Senats vom 02.11.1926 und führte aus, der Senat sei in Übereinstimmung mit der ganz überwiegenden Mehrheit in der modemen Rechtslehre der Auffassung, daß der Verteidiger neben dem Gericht und der Staatsanwaltschaft ein gleichberechtigtes Organ der Rechtspflege sei. 4 Bemer1 Bezüglich der Entwicklung der Organtheorie und des Mißbrauchs des Begriffes "Organ der Rechtspflege" in der Zeit des Nationalsozialismus wird auf die ausführliche Darstellung bei Knapp, Der Verteidiger - Ein Organ der Rechtspflege?, S. 50 ff. verwiesen. 2 Vgl. hierzu die umfangreichen Nachweise bei Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 164 f. 3 EGH I, S. 140. 4 RG JW 1926, S. 2756.
A. Überblick über die historische Entwicklung der Organtheorie
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kenswert erscheint hierbei, daß das Reichsgericht bereits zu diesem recht frühen Zeitpunkt - im Jahre 1926 - unter Hinweis auf die "ganz überwiegende Mehrheit in der modemen Rechtslehre" mit dem Begriff "Organ der Rechtspflege" wie selbstverständlich umging und nähere Erläuterungen sowie Umschreibungen des Begriffes für völlig entbehrlich hielt. Bestätigt und fortgeführt wurden die Ausführungen des Reichsgerichts aus dem Jahre 1926 durch die Beschlüsse vom 22.05. und vom 05.06.1928, in denen das Gericht - jeweils wortgleich - die Feststellung traf, daß der Strafverteidiger nicht lediglich Beistand des Beschuldigten, sondern darüber hinausgehend ein mit besonderen Befugnissen ausgestattetes Organ der Rechtspflege sei. 5
n. Die gesetzliche Fixierung des Begriffes "Organ der Rechtspflege" Eine erste gesetzliche Normierung fand die Organtheorie erst nach dem Ende des 2. Weltkriegs, nämlich in § 1 der Rechtsanwaltsordnung für die britische Zone vom 10.03.1949. Dort hieß es: "Die Rechtsanwaltschaft ist ein Organ der Rechtspflege. Sie ist ein freier Beruf und kein Gewerbe." 6 Endgültig festgeschrieben wurde die Organschaft jedoch durch Erlaß der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) vom 1. August 1959. 7 Unter der Überschrift "Stellung des Rechtsanwalts in der Rechtspflege" bestimmt § 1 BRAO: "Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege." Diese Aussage wird durch § 3 BRAO ergänzt, in dessen Absatz 1 es heißt: "Der Rechtsanwalt ist der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. "
m. Die Entwicklung der Organtheorie in der Rechtsprechung des BGH Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH fand der Begriff "Organ der Rechtspflege" im Zusammenhang mit der Funktion und der Stellung des Strafverteidigers erstmalig am 15.02.1956 8 , also über drei Jahre vor Erlaß der Bundesrechtsanwaltsordnung. Zur Frage des damals gesetzlich noch nicht geregelten Verteidigerausschlusses legte der BGH an dieser Stelle erstmals dar, daß es sich bei dem Verteidiger um ein mit besonderen Befug-
5 RG DRiZ 1928, S. 470. 6 VOBI. der Britischen Zone 1949, S. 80 ff. 7 BGBI. I, S. 565 i.d.F. vom 13.1.1969, BGBI. I, S. 25. 8 BGHSt 9,20 ff. 3 Domach
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
nissen ausgestattetes Organ der Rechtspflege handle. 9 Weiterhin vertrat der BGH die Auffassung, daß es mit der Würde des Gerichts nicht vereinbar sei, wenn ein Rechtsanwalt als "Organ der Rechtspflege" auftrete und die ihm als Verteidiger zustehenden Rechte ausübe, der an sich neben den von ihm vertretenen Angeklagten gehöre. 10 Diese Rechtsprechung zur Organstellung des Strafverteidigers führte der BGH fort mit Beschluß vom 30.01.1959. 11 Darin sprach der BGH dem Verteidiger eine Rechtsstellung eigener Art zu, die ihn als selbständiges Organ der Rechtspflege erscheinen lasse und die sich äußerlich darin abzeichne, daß er als Beistand (§ 137 StPO) selbständig an der Seite des Beschuldigten auftrete. 12 Zu einer weiteren Bestätigung der Organlehre es handelt sich wiederum um eine Entscheidung zum Ausschluß des Verteidigers - kam es durch die Entscheidung BGHSt 15, 326 vom 02.03.1961. Dort konstatierte der BGH - nunmehr erstmals unter Hinweis auf die inzwischen erlassenen §§ 1 und 3 BRAO -, daß der Rechtsanwalt in seiner Funktion als Strafverteidiger neben Gericht und Staatsanwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege handle. 13 Im Laufe der weiteren Entwicklung der Organtheorie ist schließlich das Urteil des BGH vom 02.07.1963 zu nennen, in dem die Organschaft des Strafverteidigers abermals ausdrücklich Bestätigung fand. 14 Eine endgültige Verfestigung erfuhr die Organstellung schließlich durch die Entscheidungen vom 22.01.1974 15 und vom 22.10.1975 16, in denen der BGH den Strafverteidiger, jeweils unter Hinweis auf § 1 BRAO bzw. auf § 1 LV.m. § 3 Abs. 1 BRAO, als "unabhängiges Organ der Rechtspflege" bezeichnete. Obgleich in der vielbeachteten Entscheidung BGHSt 29, 99 vom 03.10.1979, in der es um die Abgrenzung zwischen noch zulässigem Verteidigerverhalten und bereits rechtswidriger Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung ging, nicht ausdrücklich vom Strafverteidiger als einem Organ der Rechtspflege die Rede ist, fand die Organtheorie auch hier Bestätigung. Der BGH betonte nämlich, daß der Verteidiger als Wahl- oder Pflichtverteidiger einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen habe, "dessen Ausführung nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in dem einer 9 BGHSt 9, 20, 22. 10 BGHSt 9,20,22 und 23. 11 BGHSt 12, 367 ff. 12 BGHSt 12, 367, 369. 13 BGHSt 15, 326, 326. 14 BGHSt 18, 396, 397. IS BGHSt 25,272 ff. 16 BGHSt 26,221 ff.
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A. Überblick über die historische Entwicklung der Organtheorie
am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege liege".
Der Verteidiger dient somit nach Ansicht des BGH nicht nur dem Beschuldigten als Beistand, sondern er hat über diese Funktion hinausgehende, im öffentlichen Interesse liegende Aufgaben zu erfüllen. Da in dieser vom BGH vorliegend ausdrücklich betonten DoppelsteIlung des Verteidigers (Erfüllung der privaten Beistandsfunktion sowie Wahrnehmung weiterer, öffentlicher Aufgaben 18) jedoch gerade die zentrale Hauptaussage der Organtheorie zum Ausdruck kommt 19, ging der BGH zweifelsfrei auch hier von der OrgansteIlung des Strafverteidigers aus. Bestätigt wird dies nicht zuletzt durch die Entscheidungen BGHSt 38, 111 und BGHSt 38, 345, wobei der BGH im Rahmen letzterer Entscheidung wiederum ausdrücklich auf die dem Strafverteidiger zukommende OrgansteIlung hinweist. 20 Festzuhalten bleibt somit, daß die These von der OrgansteIlung des Verteidigers seit der Entscheidung BGHSt 9, 20 aus dem Jahre 1956 zu einem festen Bestandteil der Rechtsprechung des BGH avancierte. 21 Parallel hierzu bekannte sich auch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte einmütig zur Organstellung des Strafverteidigers. 22 17
IV. Die Entwicklung der Organlehre in der Rechtsprechung des BVerfG Das BVerfG bezeichnete den Anwalt erstmals in einem Beschluß vom 11.06.1963 - betreffend die Ausschließung des Rechtsanwalts Dr. SchmidtLeichner von der Verteidigung (sog. Schmidt-Leichner-Beschluß) - als Organ
17 BGHSt 29,99, 106. 18 Welche "weiteren" öffentlichen Aufgaben dem Verteidiger neben seiner Beistandsfunktion zukommen, wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung noch im einzelnen darzustellen sein. 19 Vgl. hierzu Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 164 sowie Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 150. 20 BGHSt 38,345,347,351. 21 Neben den bereits zitierten Entscheidungen seien aus der Rechtsprechung des BGH genannt: BGH NIW 1964, S. 2402; BGH NIW 1972, S. 2140; Vorlagebeschluß des 2. Strafsenats des BGH an den Großen Senat für Strafsachen StV 1983, S. 314; BGH StV 1993, S. 453; BGHSt 37,395,396; BGH NStZ 1993, S. 602. 22 Aus der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte seien folgende Entscheidungen erwähnt: OLG Bremen AnwBI. 1964, S. 288; OLG Karlsruhe JZ 1969, S. 710; KG NIW 1971, S. 476; OLG Bremen AnwBI. 1972, S. 229; OLG Köln NIW 1975, S. 459; OLG München NIW 1976, S. 252; OLG Saarbrücken NIW 1978, S. 1446; HansOLG MDR 1979, S. 694; OLG Hamburg IZ 1979~ S. 275; KG IR 1981, S. 86; OLG Frankfurt StV 1981, S. 28; OLG Bamberg StV 1984, S. 499; OLG Celle NStZ 1988, S. 426; OLG Frankfurt StV 1989, S. 384; OLG Düsseldorf NIW 1991, S. 996 ; KG IR 1992, S. 86; KG StV 1993, S. 236.
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der Rechtspflege. 23 Das Gericht umschrieb hierbei die Stellung des Verteidigers wie folgt: "Der Anwalt ist Organ der Rechtspflege. Seine Mitwirkung als Verteidiger im Strafprozeß besteht darin, daß er - schon um der Chancengleichheit willen - die Interessen und Rechte des Angeklagten wahrnimmt. Zur Wahrheitsfindung des Gerichts trägt er vor allem dadurch bei, daß er alle Umstände zur Geltung bringt, die den Angeklagten zu entlasten geeignet sind." 24 Dieser Entscheidung folgte - ebenfalls zur Problematik des Verteidigerausschlusses - der Beschluß vom 28.06.1967. Darin nahm das BVerfG erstmals ausdrücklich auf die §§ 1 und 3 BRAO Bezug, verneinte jedoch gleichzeitig deren Eingriffscharakter. 25 Die Bestimmungen der §§ 1 und 3 BRAO enthielten keinen Eingriffstatbestand für den Fall, daß ein Anwalt ihrem Leitbild nicht entspräche. 26 Von wohl eher untergeordneter Bedeutung jedenfalls im Hinblick auf die Entwicklung der Rechtsprec~ung des BVerfG zur Organstellung des Verteidigers - ist die Entscheidung BVerfGE 28, 21 zum "Robenzwang" der Rechtsanwälte. Dort erwähnte das Gericht, daß durch das Tragen der Amtstracht die beteiligten Rechtsanwälte aus dem Kreis der übrigen Teilnehmer an der Verhandlung hervorgehoben würden und ihre Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) sichtbar gemacht werde. 27 Bedeutsamer ist hier schon der sog. Schily-Beschluß aus dem Jahre 1973. 28 Im Rahmen dieses Verfahrens entschied das BVerfG, daß der Entzug der Verteidigungsbefugnis eines Rechtsanwalts durch das Gericht einen Eingriff in die anwaltliche Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG darstelle, der weder durch Gesetz noch durch Gewohnheitsrecht gedeckt sei und der künftig eine gesetzliche Grundlage erfordere. Im übrigen bestätigte das Gericht seine Rechtsprechung zu § 1 und zu § 3 BRAO. 29 In einer Entscheidung aus dem Jahre 1974 betreffend den Ausschluß des Rechtsbeistandes eines Zeugen von der Zeugenvernehmung wies das BVerfG dem Rechtsanwalt unter Heranziehung von § 1 BRAO gar eine Art "amtsähnliche Stellung" zu und stellte folgendes fest: "Nach § 1 BRAO ist der Rechtsanwalt ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. Sein Beruf ist ein staatlich gebundener Vertrauensberuf, der ihm eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete amtsähnliche Stellung 23 24 25 26 27 28 29
BVerfGE 16, BVerfGE 16, BVerfGE 22, BVerfGE 22, BVerfGE 28, BVerfGE 34, BVerfGE 34,
214 ff. 214, 216. 114 ff. 114, 120. 21, 32. 293 ff. 293, 300.
A. Überblick über die historische Entwicklung der Organtheorie
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zuweist." 30 Von dem Rechtsanwalt als einem "Organ der Rechtspflege" spricht das BVerfG auch in der Entscheidung BVerfGE 39, 238, in der es darauf hinweist, daß der selbst tatbeteiligte Rechtsanwalt grundsätzlich nicht in der Lage sei, seine Verteidigeraufgaben so wahrzunehmen, wie es seine Stellung als Organ der Rechtspflege und Beistand des Beschuldigten verlange. 31 Wichtige Ausführungen zur Rechtsstellung des Rechtsanwalts finden sich auch in dem Beschluß des BVerfG vom 08.03.1983, der eine Verfassungsbeschwerde eines Assessors gegen die Nichtzulassung zur Rechtsanwaltschaft betraf. 32 Dort nahm das Gericht erstmals in einer etwas ausführlicheren Art und Weise zur Organschaft des Anwalts Stellung: So bringe die im ersten Entwurf der BRAO noch nicht vorgesehene Anerkennung als Organ der Rechtspflege zum Ausdruck, daß die Rechtsanwälte im freiheitlichen Rechtsstaat als berufene Berater und Vertreter der Rechtssuchenden neben Richtern und Staatsanwälten eine eigenständige wichtige Funktion im "Kampf um das Recht" ausübten und daß ihnen deshalb weitergehende Befugnisse und damit korrespondierende Pflichten als ihren Mandanten zukämen. 33 Diese Rechtsprechung bestätigte das BVerfG durch Beschluß vom 04.04.1984, der eine Verfassungsbeschwerde gegen die Ausschließung des Beschwerdeführers aus der Rechtsanwaltschaft wegen pflichtwidrigen Verhaltens betraf. 34 An dieser Stelle äußerte sich das Gericht wie folgt: "Der Rechtsanwalt nimmt als unabhängiges Organ der Rechtspflege eine eigenständige Stellung ein; wegen seiner Funktion stehen ihm besondere Befugnisse und damit korrespondierende Pflichten zu, deren Verletzung ehrengerichtliche Maßnahmen zum Schutz der Rechtsuchenden und der Rechtspflege erfordern." 35 Im Beschluß vom 14.07.1987 - betreffend eine Verfassungsbeschwerde eines Anwalts und Notars gegen einen ehrengerichtlichen Beschluß - beschäftigte sich das BVerfG ausführlich mit den anwaltlichen Standesrichtlinien 36 sowie der 30 BVerfGE 38, 105, 119 (vgl. auch BVerfGE 38,26 ff. sowie BVerfGE 38, 35 ff.). 31 BVerfGE 39, 238, 245 (vgl. auch BVerfGE 39, 156). 32 BVerfGE 63,266 ff. 33 BVerfGE 63, 266, 284. 34 BVerfGE 66, 337 ff. 3S BVerfGE 66,337,354. 36 Die anwaltlichen Standesrichtlinien wurden vom BVerfG zwar nicht für verfassungswidrig erklärt (vgl. Feuerich, AnwBI. 1988, S. 502; a.A. Kleine-Cosack, NJW 1988, S. 167, 170), jedoch können die Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts nach Ansicht des BVerfG künftig weder als nonnative Regelung der anwaltlichen Berufspflichten noch als Hilfsmittel zur Konkretisierung der GeneralklauseI des § 43 BRAO herangezogen werden (ausführlich hierzu Taupirz, DYBI. 1988, S. 209 ff., Zuck, NJW 1988, S. 175 ff.).
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
Funktion des Rechtsanwalts im Strafprozeß. 37 Nach Ansicht des Gerichts hat der Anwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege und als der berufene Berater und Vertreter der Rechtssuchenden die Aufgabe, zum Finden einer sachgerechten Entscheidung beizutragen, das Gericht - und ebenso Staatsanwaltschaft oder Behörden - vor Fehlentscheidungen zu Lasten seines Mandanten zu bewahren und diesen vor verfassungswidriger Beeinträchtigung oder staatlicher Machtüberschreitung zu sichern; insbesondere soll er die rechtsunkundige Partei vor der Gefahr des Rechtsverlustes schützen. 38 Das Nebeneinander von Interessenvertretung und Organschaft des Rechtsanwalts war schließlich Gegenstand der Entscheidung BVerfGE 80, 269 aus dem Jahre 1989. Dort hob das Gericht unter Verweis auf § 1 BRAO hervor, daß der Rechtsanwaltschaft neben der Interessenvertretung eine unabhängige Organstellung in der Rechtspflege zukomme. 39 V. Die Entwicklung der Organtheorie in der Prozeßrechtsliteratur Bereits dieser kurze Überblick über die Entwicklung der Organtheorie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowohl der Fachgerichtsbarkeit wie auch der (Bundes-) Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt hinsichtlich der Bewertung des Rechtsanwalts bzw. Strafverteidigers als "Organ der Rechtspflege" eine, in der Rechtsprechung wohl selten anzutreffende Einmütigkeit und Kontinuität. Daher verwundert es auch nicht, daß Beulke bereits im Jahre 1980 konstatieren konnte, es habe sich die Meinung, der Verteidiger sei sowohl Helfer des Beschuldigten als auch Organ der Rechtspflege so allgemein durchgesetzt, daß die Etikettierung dieser Ansicht als "herrschende Lehre" nahezu schon eine Untertreibung darstelle. 40 Auch in der Folgezeit blieb die Lehre von der Organstellung des Strafverteidigers völlig herrschende Meinung. 41 37 BVerfGE 76, 171 ff. 38 BVerfGE 76, 171, 192. 39 BVerfGE 80,269,280 und 281. 40 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 171 mit umfangreichen Nachweisen, vgl. dort Fußnote 81. 41 Aus dem Schrifttum neuerer Zeit seien nur genannt: Augstein, NStZ 1981, S. 52; Bottke, IA 1980, S. 448; DahslDahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 11; Dancken, StV 1986, S. 171; Dreherfl'röndle, § 258 Rn. 7; Emesti, IR 1982, S. 223; Eser, Strafprozeßrecht, S. 174; Fe1.er, Strafprozessrecht I 4, Rn. 16; Groh, DRiZ 1985, S. 53; Haft, Strafrecht BT, S. 180; Ha1NJcher, DRiZ 1988, S. 355; Hanack, Dünnebier-Festschrift, S. 325; Joachimski, Strafverfahrensrecht, S. 35; Jolrnes, Der Verteidiger im deutschen und im österreichischen Strafprozeß, S. 144; Jungfer, StV 1981, S. 100; KK-Laufhütte, Vor § 137 Rn. 4; KleinknechtIMeyer-Goßner; Vor § 137 Rn. 1; KreJ, Strafverfahrensrecht I, Rn. 536; Kuckuk, NIW 1980, S. 298; Kühne,
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Greifen wir uns nun aus diesem Chor der Verfechter einer Organstellung des Strafverteidigers einige typische Stellungnahmen heraus: Nach Roxin ist der Strafverteidiger ftkein Interessenvertreter des Beschuldigten, sondern ein als Beistand (§ 137) neben ihm stehendes "selbständiges Organ der Rechtspflege" (vgl. § 1 BRAO) , das auch den Belangen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege verpflichtet" ist. 42 Der Verteidiger sei deshalb nicht bloßer Vertreter des Beschuldigten, sondern nehme im Rahmen der Rechtspflege eine öffentliche Funktion wahr. 43 Diese Doppelfunktion des Verteidigers als Beistand des Beschuldigten sowie als Organ der Rechtspflege betont auch Pfeiffer. Es handle sich bei der Beistands- und der Organfunktion um einander bedingende Funktionen, die in einem von der Rechtsordnung gewollten Spannungsverhältnis stünden. 44 Krey beschreibt den Verteidiger als den einseitigen Interessenvertreter des Beschuldigten, der in dieser Funktion zu dessen Entlastung und als dessen Fürsprecher tätig werde. Darüber hinaus agiere der Strafverteidiger aber nicht nur als Beistand, sondern auch als selbständiges, dem Gericht und der Staatsanwaltschaft gleichgeordnetes, unabhängiges Organ der Rechtspflege. Der Strafverteidiger fungiere daher als Teilhaber und nicht als Gegner einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. 45 Ranft sieht den Verteidiger einerseits als den Beistand des Beschuldigten (§ 137 StPO) und andererseits als "Organ der Strafrechtspflege" (§ 1 BRAO), wobei mit der OrStrafprozeßlehre, Rn. 82, 90; Kunigk, Prozeßführung und Strafverteidigung, S. 161; Liemersdorf, MDR 1989, S. 204; LK-Ruß, § 258 Rn. 19; LR-Dfblnebier, 23. Auflage, Vor § 137 Rn. 9 ff.; Maatz, NStZ 1992, S. 514; Madtener, ZStW 1993 (1981), S. 302; Meurer, Strafprozeßrecht, S. 29; Müller, Strafverteidigung im Überblick, Rn. 3; Müller-Dietz, Jura 1979, S. 248; Mützetburg, Dünnebier-Festschrift, S. 283; Otto, Jura 1987, S. 329; Peters, Strafprozeß, § 29 I, S. 214; Pfeiffer, DRiZ 1984, S. 342; Ranft, Strafprozeßrecht, § 21 B II; Römer, Schmidt-Leichner-Festschrift, S. 135; Rösmmm, NStZ 1983, S. 447; Rogall in SK StPO, Vor § 133 Rn. 95; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 2; Rücket, NStZ 1987, S. 299; Rücket, Peters-Festgabe, S. 267; Rücket, Strafverteidigung und Zeugenbeweis, Rn. 4; Rüping, Das Strafverfahren, S. 45; Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, Rn. 892; Schautz, Strafrechtliche Grenzen des VerteidigerhandeIns, S. 41; Schier, AnwBI. 1984, S. 415; SchmehtlVollmer, Die Assessorklausur im Strafprozeß, S. 5; Schneider, Jura 1989, S. 345; Schneider, Der Rechtsanwalt, ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, passim; Schroeder, Strafprozeßrecht, Rn. 143, Schroeder, Strafprozeßrecht - Fälle, S. 34 und 35; Schröter, Der Hochschullehrer als Strafverteidiger, S. 152 und S. 158; Seier, JuS 1981, S. 806; Sieg, StV 1986, S. 3; BRAK-Thesen, S. 23; Wasserburg, Peters-Festgabe, S. 286; Weihrauch, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Rn. 2; Wesseis, Strafrecht BT 1, S. 152; Vehling, StV 1992, S. 87; Zipf, Strafprozeßrecht, S. 48. 42 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 2 und KK-Laufhüne, Vor § 137 Rn. 1. 43 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 5 44 Pfeiffer, DRiZ 1984, S. 342. 45 Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 535 und 536.
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ganstellung zwar die einseitige Beistandspflicht nicht jedoch die Abhängigkeit von Weisungen des Mandanten und die Außerachtlassung des Rechtsstaatsprinzips vereinbar sei. 46 Nach der Ansicht Peters stelle die Doppelstellung, nämlich "Dienst für den Beschuldigten" und "Organ der Rechtspflege", den Verteidiger nicht selten unter die Spannung der gegenseitigen Interessen. Schweigepflicht und Pflicht zur Wahrhaftigkeit, Beistandspflicht und Dienst an der Gerechtigkeit stünden sich oftmals gegenüber. 47
B. Die Aussage der Organtheorie Wesentlich wichtiger als die mehr schlagwortartige Umschreibung der Rechtsstellung des Strafverteidigers mit der Formel "Organ der Rechtspflege" ist natürlich die dahinter stehende Aussage, der Gehalt dieses Begriffes. Welche konkreten Rechte und Pflichten des Strafverteidigers verbergen sich hinter der Organtheorie und dem Begriff "Organ der Rechtspflege"? Die Beantwortung dieser Frage wird zunächst durch den Umstand erschwert, daß es nicht nur eine einzige Organtheorie gibt, sondern daß drei verschiedene Varianten der Organlehre unterschieden werden müssen. 48 Die Variante der Organlehre, die den Verteidiger mehr oder weniger als eine Art "Staatsorgan" einstufte, wird - soweit ersichtlich - heute nicht mehr vertreten 49 und dürfte damit nur mehr Bedeutung in rechtshistorischer Hinsicht haben. 50 Auch auf die Spielart der Organtheorie, die den Begriff "Organ der Rechtspflege" nicht als einen Ausdruck von besonderen Rechten oder Pflichten des Verteidigers sehen will und die Organeigenschaft lediglich als zusätzliche Charakterisierung der allgemeinen Anwaltstätigkeit ohne spezielle Aussagekraft begreift, wird - mangels Relevanz für die heutige Verteidigerdiskussion - nicht näher eingegangen. 51 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit findet eine Auseinandersetzung mit der heute im Vordergrund der Erörterungen stehenden Variante der Organtheorie statt, die den Verteidiger nicht als ein Organ des Staates, sondern - in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG, des BGH und der Oberlandesgerichte - als ein Rechtspflegeorgan begreifen 46 Ranft, Strafprozeßrecht, § 21 B 11. 47 Peters, Strafprozeß, § 29 I, S. 213. 48 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 172. 49 Zu dieser Auffassung gelangte Weber bereits im Jahre 1982, vgl. hierzu Weber, Der Verteidiger als Vertreter in der Hauptverhandlung, S. 37. 50 Ausführlich dazu Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 172 und 173. 51 Zu dieser Spielart Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 175.
B. Die Aussage der Organtheorie
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will. Die zentrale Aussage der so verstandenen Organtheorie ist - wie bereits kurz angedeutet - die einer DoppelsteIlung des Strafverteidigers, dessen Aufgabe sich also nicht in der reinen Beistandsfunktion gemäß § 137 StPO erschöpft, sondern darüber hinausgeht. In einem Urteil aus dem Jahre 1964 erläuterte der BGH diese Doppelfunktion recht anschaulich. Das Gericht legte an dieser Stelle dar, daß der Verteidiger im Strafverfahren sowohl die Stellung eines selbständigen Beistands des Beschuldigten (Angeklagten) als auch die eines unabhängigen Organs der Rechtspflege habe. 52 Die angesprochene DoppelsteIlung des Strafverteidigers bringt auch das OLG Düsseldorf deutlich zum Ausdruck, wenn es feststellt: "Der Verteidiger ist als Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) zur Mitwirkung bei der Ermittlung der materiellen Wahrheit berechtigt und verpflichtet. Dem steht seine andere Funktion als Vertrauensmann des Angeklagten, als sein Rechtsbeistand, gegenüber." 53 Ganz ähnlich äußert sich der BGH auch in einer neueren Entscheidung aus dem Jahre 1992 54, in der ausdrücklich von einem Spannungsverhältnis zwischen der OrgansteIlung und der Beistandsfunktion des Verteidigers die Rede ist. Der Strafverteidiger hat also unter Zugrundelegung der Organtheorie zwei Funktionen wahrzunehmen, die gegebenenfalls in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen können, nämlich die Beistandsfunktion einerseits und die Funktion bzw. Stellung als ein Organ der Rechtspflege andererseits. Aber auch die Erkenntnis, daß der Verteidiger zwei Funktionen wahrzunehmen hat, die in einem "gewissen Spannungsverhältnis" zueinander stehen, gibt uns leider noch keine, auch nur annähernd befriedigende Antwort darauf, was sich hinter der OrgansteIlung des Verteidigers verbirgt, welche konkreten Rechte oder Pflichten sich daraus für den Verteidiger ergeben bzw. ob sich aus der - von Rechtsprechung und Literatur vehement behaupteten - Organschaft des Verteidigers überhaupt rechtliche Folgerungen herleiten lassen. I. Die Bedeutungslosigkeit des § 1 BRAO hinsichtlich der Rechtsstellung des Strafverteidigers Da der Begriff "Organ der Rechtspflege" in § 1 BRAO 55 eine ausdrückliche gesetzliche Normierung gefunden hat, liegt es - legt man das Verteidigerkonzept der Organtheorie zugrunde - nahe, diese Rechtsnonn des 52 BGH NIW 1964, S. 2402. 53 OLG Düsseldorf NJW 1991, S. 996. 54 BGHSt 38,345,347. 55 VgI. hierzu Feuerich, § 1 BRAO Rn. 1 ff.
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Drgantheorie
anwaltlichen Standesrechts als für den Strafverteidiger rechts- bzw. pflichtenbegründend heranzuziehen. Dies umso mehr als in der Praxis die Verteidigung durch einen Nichtanwalt keine Rolle spielt und der klassische "Verteidiger" im Grunde der Rechtsanwalt ist. 56 Trotz der ausdrücklichen Fixierung des Begriffes "Organ der Rechtspflege" in § 1 BRAO ist es jedoch sehr fraglich, ob aus dieser positivrechtlichen Festschreibung der Organstellung im anwaltlichen Berufsrecht konkrete Rechte bzw. Pflichten gerade des Strafverteidigers hergeleitet werden können. Im Ergebnis wird man jedenfalls eine konstitutive Wirkung des § 1 BRAO in bezug auf die Rechtsstellung eines Verteidigers aufgrund folgender Überlegungen zu verneinen haben:
1. Die Gefahr einer "Zweiklassenverreidigung" Geht man davon aus, daß dem Begriff "Organ der Rechtspflege" in § 1 BRAO bestimmte Rechte oder Pflichten des Strafverteidigers entnommen werden können (beispielsweise wäre hier an ein "Lügerecht" oder entgegengesetzt auch an die Wahrheitspflicht des Verteidigers zu denken), so würden sich daraus folgende Konsequenzen ergeben: Dem als Strafverteidiger tätigen Rechtsanwalt kämen als Organ der Rechtspflege im Sinne des § 1 BRAO diese Rechte ganz selbstverständlich zu bzw. er würde diesen Pflichten unterliegen. Ganz anders wäre die Rechtslage dagegen bei einer Person zu beurteilen, die ohne Rechtsanwalt zu sein als Verteidiger agierte, beispielsweise bei einem Hochschullehrer einer deutschen Hochschule, der gemäß § 138 Abs. 1 StPO als Verteidiger tätig würde. 57 Dieser Person käme, mangels Anwendbarkeit des § 1 BRAO 58, in Ausübung genau derselben Funktionen eine völlig andere Rechts- bzw. Pflichtenstellung zu. Es kann jedoch weder gewollt noch zulässig sein, daß die eine Person in ihrer spezifischen Eigenschaft als Strafverteidiger mehr bzw. weniger Rechte haben soll als eine andere, obwohl beide Personen genau dieselbe Tätigkeit verrichten und genau dieselben Funktionen innehaben (zumal auch ein "sachlicher Grund" für eine solche 56 Vgl. Madlener, ZStW 93 (1981), S. 275. 57 Zur Tätigkeit von Hochschullehrern als Verteidiger vgl. Schröter, Der Hochschullehrer als Strafverteidiger, passim. 58 Wie Schröter eingehend nachwies, kommt eine analoge Anwendung der BRAD und der Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts jedenfalls auf Hochschullehrer mangels Regelungslücke nicht in Betracht, vgl. Schröter, Der Hochschullehrer als Strafverteidiger, S. 155 ff. Ebenso Schneider, Jura 1989, S. 346, wonach Hochschullehrer möglichen Pflichtenkonkretisierungen der BRAD von vorneherein nicht unterliegen (vgl. auch Jähnke NJW 1988, S. 1893 und Bottke JR 1984, S. 3(0).
B. Die Aussage der Organtheorie
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Ungleichbehandlung in vorliegendem Zusammenhang nicht ersichtlich ist). Mehle führt hierzu aus, daß unsere Strafprozeßordnung, wenn sie Verteidigerrechte und -pflichten festlege oder Sanktionen gegen den Verteidiger normiere, durchgängig den Begriff "Verteidiger" verwende, ohne zwischen Rechtsanwälten und anderen Verteidigern zu unterscheiden. 59 Dies beginne mit der grundlegenden Fixierung der Beistandsfunktion in § 137 StPO und setze sich ohne Ausnahme in den anderen den Verteidiger betreffenden Bestimmungen fort, wie beispielsweise § 140 StPO und § 147 StPO. 60 Wolle die Strafprozeßordnung Sonderrechte des Rechtsanwaltes normieren, werde dies, wie in § 345 Abs. 2 StPO, besonders hervorgehoben. 61 Diese systematische Betrachtung mache deutlich, daß unser Verfahrensrecht jedem Verteidiger die gleichen Rechte gewähre und die nämlichen Pflichten auferlege, völlig unbeschadet seiner Zuordnung zur Rechtsanwaltschaft. 62 Mit Recht stellt Mehle fest, daß es dieser banal anmutenden, in der Diskussion um die Rechtsstellung des Verteidigers jedoch oft verschütteten Erkenntnis bedürfe, um zu überlegen, daß inhaltliche Kriterien für die Ausübung der Verteidigerrolle nicht aus dem anwaltlichen Standesrecht hergeleitet werden dürfen. 63 Mit derselben Argumentation leugnet Mehle an anderer Stelle die Begründung einer Wahrheitspflicht für den Verteidiger aus dem Standesrecht. Würde man eine solche Pflicht des Strafverteidigers aus § 1 BRAO ableiten, so würde man damit unweigerlich ein "Zweiklassenrecht" der Strafverteidigung schaffen. 64 Auch Jähnke erkennt, daß ein Strafverteidiger nicht notwendigerweise Rechtsanwalt sein !p.uß und legt völlig zu Recht dar, daß die Abgrenzung zwischen noch zulässiger Verteidigung und bereits strafbarer versuchter Strafvereitelung einer Regelung durch das anwaltliehe Standesrecht verschlossen sei, weil der Verteidiger eben nicht Rechtsanwalt zu sein brauche. 65 Ebenso hält Paulus die 59 Mehle, Peters-Festgabe, S. 204. 60 Mehle, Peters-Festgabe, S. 204. 61 Mehle, Peters-Festgabe, S. 204. 62 Mehle, Peters-Festgabe, S. 204. 63 Mehle, Peters-Festgabe, S. 204. 64 Mehle, Koch-Festgabe, S. 183. Mehle ist in vollem Umfang zuzustimmen, wenn er hervorhebt, daß § 1 BRAO als berufsrechtliche Norm zur Begründung von Rechten bzw. Pflichten des Strafverteidigers nicht herangezogen werden kann. Wenn Mehle jedoch weitergehend mit diesem Argument auch die Wahrheitspflicht des Verteidigers bzw. dessen Organstellung in Zweifel ziehen will, überzeugt dies in keiner Weise. Die h.M. leitet nämlich die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers nicht aus § 1 BRAO, sondern aus dessen Organstellung ab (und diese Stellung des Verteidigers - verstanden als Wahrnehmung auch öffentlicher Aufgaben - war bereits viele Jahrzehnte vor Erlaß der BRAO anerkannt, vgI. dazu bereits oben A I und m). 65 lähnke, NJW 1988, S. 1893.
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts, abgeleitet aus § 1 BRAO oder konkretisiert in den Richtlinien gemäß § 177 Abs. 2 S. 2 BRAO für strafprozeßirrelevante Inhaltsrnaßstäbe, weil der Verteidiger nicht notwendig Rechtsanwalt sein müsse und der "formell" unverteidigte Beschuldigte möglicherweise dann besser stünde als der sich Anwaltsbeistands bedienende. 66
2. Die unterschiedliche Rechtsstellung von Strafverteidiger und Zivilanwalt Gegen die Ableitbarkeit von besonderen Rechten oder Pflichten des Strafverteidigers aus § 1 BRAO spricht noch ein weiterer Gesichtspunkt: Der Anwendungsbereich des § 1 BRAO erfaßt ganz allgemein die gesamte Rechtsanwaltschaft, d.h. genauso den als Strafverteidiger tätigen Rechtsanwalt wie auch den Anwalt, der ausschließlich im Rahmen einer zivilrechtlichen Streitigkeit zugunsten seines Mandanten tätig wird. Beide sind als Rechtsanwälte gemäß § 1 BRAO "Organe der Rechtspflege" und beiden müßte damit - will man gerade aus § 1 BRAO konkrete Rechte bzw. Pflichten ableiten - dieselbe Rechts- und dieselbe PflichtensteIlung zukommen. Dies ist jedoch gerade nicht der Fall. Man denke hier nur an die dem Zivilprozeßrecht völlig fremde Unabhängigkeit des Strafverteidigers. 67 Auch bei dem besonderen Spannungsverhältnis zwischen Beistandsfunktion und OrgansteIlung handelt es sich ausschließlich um eine Eigenheit gerade des Strafverfahrens. Ein solches Spannungsverhältnis ist dem Zivilprozeßrecht völlig unbekannt und spielt nur für das Tätigkeitsfeld des Strafverteidigers eine prägende Rolle. So spricht denn auch der BGH in seinem Urteil vom 01.09.1991 ausdrücklich von der Stellung als Verteidiger in einem Strafprozeß und dem damit verbundenen Spannungsverhältnis zwischen OrgansteIlung und Beistandsfunktion. 68 Zur unterschiedlichen Stellung und Funktion von Strafverteidiger und "Zivilanwalt" nimmt beispielsweise Ahrens wie folgt Stellung: "Während der Anwalt im Zivilverfahren anstelle und im Namen einer Partei Prozeßhandlungen vornimmt und entgegennimmt, also als deren Stellvertreter handelt, begreift die h.M. den Anwalt im Strafverfahren gerade nicht als einseitigen Interessenvertreter des Beschuldigten, sondern als Beistand. Nicht zufällig spricht § 137 Abs. 1 S. 1 StPO davon, daß sich der Beschuldigte des Beistandes eines Verteidigers bedienen könne, während die vom Anwaltszwang handelnde Vorschrift des § 78 Abs. 1 S. 1 ZPO besagt, daß sich die Parteien durch einen 66 Paulus, NStZ 1992, S. 309. 67 Vgl. zu dieser Unabhängigkeit des Strafverteidigers ausführlich Kapitel 4. 68 Vgl. nur BGH StV 1992, S. 576.
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beim Prozeßgericht zugelassenen Rechtsanwalt als Bevollmächtigten vertreten lassen müssen, und § 85 Abs. 1 S. 1 ZPO den Prozeßhandlungen des Bevollmächtigten die gleichen verpflichtenden Wirkungen beimißt, als wären sie von der Partei selbst vorgenommen." 69 Dem Zivilprozeßrecht ist also ein Spannungsverhältnis verschiedener Funktionen des Prozeßbevollmächtigten völlig fremd, der Rechtsanwalt ist in diesem Bereich - trotz § 1 BRAO - unbestritten der weisungsgebundene Interessenvertreter seines Mandanten. 70 Diese unterschiedliche Rechtsstellung von "Zivilanwalt" und Strafverteidiger ist schon seit langer Zeit bekannt. Vargha führte hierzu bereits im Jahre 1879 aus: "Der Rechtsbeistand im Civilprozesse ist eben einzig und allein nur Mandatar seines Clienten; der Vertheidiger im Strafprocesse hingegen ist nicht allein für die Privatzwecke des Beschuldigten, sondern zugleich auch für den öffentlichen Zweck einer gerechten Strafgerichtspflege thätig (00')'" 71 Diese Anschauung hat sich denn auch bis heute nicht gewandelt. So beschreibt Vollkommer im Rahmen einer Untersuchung über die Rechtsstellung des Anwalts im Zivilprozeß diesen als den Vertreter und den Repräsentanten der Partei, der seinem Mandanten gegenüber zur umfassenden, einseitigen Interessenwahrnehmung verpflichtet sei. 72 Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß die Vorschrift des § 1 BRAO, würde man dieser Norm rechtsund pflichtenbegründende Bedeutung zumessen, die anerkanntermaßen unterschiedliche Rechtsstellung von Zivilanwalt und einem als Strafverteidiger tätigen Rechtsanwalt nicht erklären könnte.
3. Die Ungeeignetheit des anwaltlichen Berufsrechts hinsichtlich der Lieferung strafprozessualer Vorgaben Auch der Arbeitskreis Strafprozeßreform, der im Jahre 1979 einen Gesetzgebungsvorschlag zur Reformierung des mit "Verteidigung" überschriebenen 11. Abschnittes der StPO erarbeitete 73, ist der Auffassung, daß sich aus den Vorschriften der BRAO hinsichtlich der Aufgaben und Stellung eines Vertei69 Ahrens in Gilles: Anwaltsberuf und Richterberuf in der heutigen Gesellschaft, S. 23. 70 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 29 IX 2 c. Aufgrund des Geschäftsbesorgungsvertrages (§ 675 BGB) ist der (Zivil-) Anwalt an die Weisungen seines Mandanten gebunden (vgl. Palandt-Thomas, § 665 Rn. 3) und darf nur unter besonderen Voraussetzungen davon abweichen (vgl. § 665 S. 1 BGB). 71 Vargha, Die Vertheidigung in Strafsachen (1879), S. 350. 72 Vollkommer, Die Stellung des Anwalts im Zivilprozeß, S. 9. 73 Arbeitskreis Strafprozeßrejorm, Die Verteidigung - Gesetzentwurf mit Begründung, Heidelberg, Karlsruhe, 1979.
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
digers keine grundlegenden Schlüsse ziehen lassen. Insbesondere die - Stellung und Beruf des Rechtsanwalts allgemein betreffenden - einleitenden Vorschriften der BRAO würden hierfür keine Grundlage bieten, da eben nicht jeder Verteidiger Rechtsanwalt sei. 74 Allenfalls die Vorschrift des § 1 BRAO, wonach der Rechtsanwalt ein Organ der Rechtspflege sei, könnte - so der Arbeitskreis Strafprozeßrefonn - einer Funktionsbestimmung die Wege öffnen. Demgegenüber müsse aber betont werden, daß das Berufsordnungsrecht aus dem Prozeßrecht nur Folgerungen ziehen, nicht aber umgekehrt die Interpretation der Prozeßordnungen leiten, insbesondere nicht deren Prinzipien liefern könne. 75 Letzteren Gesichtspunkt betont auch Beulke, wenn er darlegt, daß § 1 BRAO nicht der Ausgangspunkt der herrschenden Organtheorie sei. Bei der in § 1 BRAO angesprochenen Organstellung handle es sich nämlich nur um die standesrechtliche Fixierung eines bereits vorher im Prozeßrecht gewonnenen Ergebnisses. Das müsse schon deshalb so sein, weil nicht jeder Verteidiger ein Rechtsanwalt ist. Auch wäre es wenig sinnvoll, im anwaltlichen Standesrecht die Quelle für die Auslegung der StPO zu suchen. 76 Völlig zu Recht ist daher auch Lüderssen der Auffassung, daß der Vorschrift des § 1 BRAO keine selbständige Bedeutung beizumessen ist, da die BRAO dem Verteidiger nicht Eigenschaften zuschreiben könne, die ihm nach der StPO gar nicht zukommen: Das Standesrecht könne nicht etwa das allgemeine Recht korrigieren. 77
4. Zwischenergebnis Unter Zugrundelegung oben genannter Gesichtspunkte lassen sich aus der Vorschrift des § 1 BRAO als rein berufsrechtlicher Regelung des Anwaltsstandes keine konkreten Rechte oder Pflichten des Strafverteidigers ableiten. Dieser Nonn kann in bezug auf die Tätigkeit eines Strafverteidigers keine konstitutive Bedeutung beigemessen werden. Dieses Ergebnis wird auch nicht durch den Umstand in Frage gestellt, daß in der täglichen Praxis fast ausschließlich Rechtsanwälte als Strafverteidiger tätig werden, da es im hier zu untersuchenden Zusammenhang um die Rechte und Pflichten eines Strafverteidigers und nicht um die eines Rechtsanwaltes geht. Diejenigen, die aus § 1 BRAO Rechte oder Pflichten des Strafverteidigers ableiten wollen, übersehen 74 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 37. 75 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 37. 76 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 10. 77 Lüderssen, Sarstedt-Festschrift, S. 157.
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ganz offensichtlich, daß nach unserer Verfahrensordnung der Kreis der Personen, die zu Wahlverteidigern gewählt werden können, weit über den Berufsstand der Rechtsanwälte hinausgeht (vgl. § 138 Abs. 1 und 2 StPO). 78 Vollends bestätigt wird das gefundene Ergebnis - die Untauglichkeit des § 1 BRAO hinsichtlich der Begründung etwaiger Rechte und Pflichten des Strafverteidigers - schließlich durch die völlige Gehalt- bzw. Konturenlosigkeit des Begriffes "Organ der Rechtspflege", die sich in ebenso volltönenden wie nichtssagenden Umschreibungsversuchen widerspiegelt. Als ein Beispiel hierfür möge folgender Defmitionsversuch dienen, wie man ihn in einem führenden Kommentar zur BRAO findet: "Das Organ der Rechtspflege ist ein Werkzeug der Rechtspflege. Jedes Werkzeug aber ist Diener, seine Aufgabe ist zweckbedingter Dienst. Der Rechtsanwalt ist daher ein Diener der Rechtspflege. Sein Dienst ist bestimmt, das Recht zu verwirklichen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß er regelmäßig im Sonderinteresse einer Partei tätig wird. Die - scheinbare - Doppelstellung zwingt lediglich zu klaren Abgrenzungen dort, wo Dienst am Recht und Interessenwahrung für den Einzelnen in Konflikt geraten können." 79 Selbst nach diesem Defmitionsversuch der Bezeichnung "Organ der Rechtspflege" bleibt der Begriff in seiner Aussage derart vage und unbestimmt, daß § 1 BRAO allein schon aus diesem Grunde zur Ableitung konkreter Rechte und Pflichten des Verteidigers völlig ungeeignet erscheint. Überdies wird auch mit keinem Wort darauf eingegangen, anband welcher Kriterien man die "klaren Abgrenzungen" vorzunehmen hat, wenn der "Dienst am Recht" und die "Interessenwahrung für den Einzelnen" miteinander kollidieren. Als Zwischenergebnis bleibt damit festzuhalten, daß die gesetzliche Nonnierung des Begriffes "Organ der Rechtspflege" in § 1 BRAO zur Lösung der vorliegenden Problematik in keiner Weise beitragen kann. Diese Nonn kann allenfalls dazu dienen, ein bereits vorher - nämlich im Strafprozeßrecht - gefundenes Ergebnis nachträglich zu untennauem. Zuzustimmen ist Dahs, wenn er feststellt, daß der Organbe78 Dies trifft erfreulicherweise nicht auf Krey zu, der zwar eingesteht, daß sich die OrgansteIlung des Strafverteidigers nicht "logisch zwingend· aus § 1 BRAO ergibt, der jedoch den Rekurs auf diese Nonn bei wertender Betrachtung für ausreichend hält, um de lege lata den Verteidiger als unabhängiges Organ der Strafrechtspflege anzusehen. Krey argumentiert, daß die OrgansteIlung nach §§ I, 3 BRAO jedem Rechtsanwalt unbestritten zukomme und für andere Verteidiger schwerlich etwas anderes gelten könne, da das gesetzliche Leitbild des Strafverteidigers nun einmal das eines unabhängigen Organs der Rechtspflege sei (vgl. dazu Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 537 ff.). 79 Isete, Kommentar zur BRAO, IV zu § 1.
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griff in § 1 BRAO nicht als Basis für ein Koordinatensystem der Verteidigerrechte bzw -pflichten sowie der Grenzen zulässigen Verteidigerhandelns dienen kann, sondern vieles dafür spricht, daß die Formel des § 1 BRAO nur die Integration des Rechtsanwalts in den Funktionszusammenhang der Rechtspflege beschreibt. 80
n. Die Aussagekraft der bisher ergangenen Rechtsprechung zur OrgansteIlung des Strafverteidigers
Da - wie bereits dargestellt und hervorgehoben - in der Rechtsprechung des BVerfG, des Reichsgerichts, des BGH und der Oberlandesgerichte seit über einhundert Jahren kontinuierlich und einmütig die These vom Verteidiger als "Organ der Rechtspflege" vertreten wird, ist im folgenden zu untersuchen, ob es der Rechtsprechung gelang, der OrgansteIlung des Verteidigers klare Konturen zu verleihen. Hierbei wird zwischen der Rechtsprechung des BVerfG und der Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit unterschieden.
1. Die Aussagekrajt der Rechtsprechung des BVerfG zur OrgansteIlung des Verteidigers a) BVerfGE 16, 214 Im sog. Schmidt-Leichner-Beschluß aus dem Jahre 1963, in dem das BVerfG zum ersten Mal vom Anwalt als einem Organ der Rechtspflege sprach, führte es - im Zusammenhang mit der OrgansteIlung - aus, daß die Aufgabe des Verteidigers in der Wahrnehmung der Interessen und Rechte des Angeklagten liege und er durch die Geltendmachung der den Angeklagten entlastenden Umstände zur Wahrheitsflndung des Gerichts beitrage. 81 Da sich die vom BVerfG hier angesprochene, zugunsten des Angeklagten bestehende Beistands- und Fürsprachepflicht des Verteidigers bereits aus dem Strafverfahrensrecht selbst ergibt (vgl. § 137 Abs. 1 StPO: "Der Beschuldigte kann sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen. "), ist nicht ersichtlich, daß das Gericht vorliegend gerade aus der OrgansteIlung des Verteidigers "besondere" Rechte oder Pflichten herleiten wollte.
80 DahslDahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 11. 81 BVerfGE 16, 214, 216.
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b) BVerfGE 22, 114 Der Entscheidung BVerfGE 22, 114 läßt sich lediglich entnehmen, daß das Gericht den Eingriffscharakter der §§ 1 und 3 BRAO verneinte. 82 Nähere Ausführungen zur OrgansteIlung des Verteidigers finden sich hier leider nicht. c) BVerfGE 28, 21 Keine große Rolle spielte die OrgansteIlung auch in dem Beschluß hinsichtlich der Pflicht der Anwaltschaft vor Gericht in Amtstracht aufzutreten. 83 Den Ausführungen des BVerfG, daß durch das Tragen der Amtstracht die Stellung der beteiligten Rechtsanwälte als "unabhängiges Organ der Rechtspflege" sichtbar gemacht werde, lassen sich jedenfalls im Hinblick auf die vorliegende Problematik keinerlei nutzbare Erkenntnisse entnehmen. d) BVerfGE 34, 293 Auch im sog. Schily-Beschluß 84 zog das BVerfG aus der OrgansteIlung des Strafverteidigers keine grundlegenden Schlüsse. Zwar bestätigte das Gericht seine bisherige Rechtsprechung zu den Bestimmungen der §§ 1 und 3 BRAO, zog aber zur Begründung der Entscheidung (Unzulässigkeit des Verteidigerausschlusses mangels gesetzlicher Grundlage) nicht etwa die OrgansteIlung des Verteidigers heran, sondern stellte vornehmlich auf die - zur Zeit der Entscheidung - gesetzlich nicht gedeckte Beeinträchtigung der Freiheit der anwaltlichen Berufsausübung ab (Art. 12 Abs. 1 GG). Im übrigen führte das Gericht folgendes aus: "Der selbst tatbeteiligte Rechtsanwalt ist grundsätzlich nicht in der Lage, seine Verteidigeraufgabe so wahrzunehmen, wie es seine Stellung als Organ der Rechtspflege und Beistand des Beschuldigten verlangt. Denn er wird vielfach versucht sein, entweder der Wahrheitsfindung überhaupt in den Weg zu treten oder aber die Belange seines Mandanten hintanzustellen, um sich vor eigener Bestrafung so weit wie möglich zu schützen. Dies entspricht nicht dem Leitbild des Verteidigers, wie es in einer Anzahl gesetzlicher Vorschriften zum Ausdruck gekommen ist, sondern widerstreitet der
82 BVerfGE 22, 114, 120. 83 BVerfGE 28,21 ff. 84 BVerfGE 34, 293 ff. 4 Domach
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Rolle, die der Gesetzgeber dem Verteidiger erkennbar zugedacht hat." 85 Das Gericht billigte dem Gesetzgeber hier im Ergebnis zu, einen tatbeteiligten Verteidiger gegebenenfalls vom weiteren Verfahren auszuschließen (vgl. nun die Regelung des § 138 a Abs. 1 Nr. 1 StPO). Im Hinblick auf die OrgansteIlung läßt sich der Entscheidung jedoch allenfalls entnehmen, daß sich der Verteidiger der Wahrheitsfindung nicht hindernd in den Weg stellen darf. e) BVerfGE 38, 26 Im Jahre 1974 sprach das BVerfG im Zusammenhang mit der Organeigenschaft von einem "staatlich gebundenen" Vertrauensberuf, der dem Anwalt eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete, "amtsähnliche Stellung" zuweise. 86 Aus dieser Entscheidung, in der einem Zeugen das Recht zugebilligt wurde, auch im Rahmen einer nicht öffentlichen Vernehmung einen Anwalt beizuziehen, läßt sich jedoch keinesfalls schließen, daß sich aus der Organstellung des Verteidigers möglicherweise "staatsähnliche" Aufgaben ergeben, sondern das Gericht wollte hier - wie Beulke bereits im Jahre 1980 konstatierte - lediglich zum Ausdruck bringen, daß der Verteidiger nicht nur rein private Interessen, sondern auch öffentliche Aufgaben wahrzunehmen habe. 87 Das BVerfG selbst bestätigte in einem Beschluß aus dem Jahre 1983 die Richtigkeit dieser Entscheidungsinterpretation und die Unbegründetheit der Befürchtungen derjeniger, die aufgrund der genannten Entscheidung bereits den Grundsatz der "freien Advokatur" in Gefahr sahen, indem es folgendes darlegte: "Die Herauslösung des Anwaltsberufs aus beamtenähnlichen Bindungen und seine Anerkennung als ein vom Staat unabhängiger freier Beruf kann als ein wesentliches Element des Bemühens um rechts staatliche Begrenzung der staatlichen Macht angesehen werden." 88 Im Anschluß daran heißt es: "Dieser Beurteilung steht auch nicht die Entscheidung entgegen, in der die Zurückweisung eines von einem Zeugen beauftragten Rechtsanwalts als verfassungswidrig beanstandet und der Beruf des Rechtsanwalts zu seinen Gunsten als ein staatlich gebundener Vertrauensberuf bezeichnet worden ist, der ihm eine auf Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtete "amtsähnliche Stellung" zuweise (BVerfGE 38, 105 [119])." 89 Die getroffenen Aussagen noch 8S BVerfGE 34, 293, 300 und 301. 86 BVerfGE 38, lOS, 119. 87 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 190. 88 BVerfG StV 1983, S. 420. 89 BVerfG StV 1983, S. 420.
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bekräftigend führte das BVerfG weiterhin aus, daß sich aus dem geltenden Recht nichts dafür herleiten lasse, "daß der freie und durch das Grundrecht der Berufsfreiheit geschützte Anwaltsberuf entgegen der rechtsstaatlichen Tradition der freien Advokatur an die Staatsorganisation herangeführt, beamtenähnlichen Treuepflichten unterworfen oder berufsrechtlich der Stellung von Richtern und Staatsanwälten angeglichen werden sollte." 90 Nach dieser "KlarsteIlung" durch das BVerfG läßt sich wohl folgendes sagen: Die Entscheidung des BVerfG, in der dem Anwalt zu seinen Gunsten eine "amtsähnliche Stellung" zugewiesen und der Anwaltsberuf als "staatlich gebundener Vertrauensberuf" bezeichnet wurde 91, sollte die bestehende rechtsstaatliche Tradition der freien und unabhängigen Advokatur in keiner Weise in Frage stellen. f) BVerfGE 63, 266
Erst wieder im Jahr~ 1983 sah sich das BVerfG dazu veranlaßt, etwas näher zur Organschaft Stellung zu nehmen. 92 Das Gericht führte hier aus, daß die Anerkennung der Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege ihre eigenständige wichtige Funktion im "Kampf um das Recht" zum Ausdruck bringe und daß ihnen deshalb weitergehende Befugnisse und damit korrespondierende Pflichten als ihren Mandanten zukämen. 93 Dieser Stellungnahme läßt sich zwar entnehmen, daß die OrgansteIlung nach Auffassung des Gerichts besondere Rechte und Pflichten begründet, jedoch sucht man leider auch an dieser Stelle vergeblich nach näheren Ausführungen hinsichtlich Art und Umfang dieser "weitergehenden" Rechte und "damit korrespondierenden" Pflichten. g) BVerfGE 66, 337 Die Entscheidung BVerfGE 66, 337 vom 04.04.1984 bestätigte die soeben dargestellte Rechtsprechung, sprach jedoch ebenfalls nur ganz allgemein von der eigenständigen Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege und den dwaus folgenden besonderen Befugnissen und Pflichten. 94 90 BVerfG StV 1983, S. 420. 91 BVerfGE 38, lOS, 119. 92 BVerfGE 63, 266, 284. 93 Von aus der OrgansteIlung folgenden "besonderen" Pflichten spricht auch BVerfGE 38, 26,31. 94 BVerfGE 66,337,354.
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h) BVerfGE 76, 171 In der Entscheidung BVerfGE 76, 171 aus dem Jahre 1987 legte das Gericht dar, daß der Anwalt - als Organ der Rechtspflege und als der berufene Vertreter und Berater des Rechtssuchenden - zur Findung einer sachgerechten Entscheidung beizutragen und Gericht - und ebenso Staatsanwaltschaft und Behörden - vor Fehlentscheidungen zu Lasten seines Mandanten zu bewahren habe. 95 Das BVerfG sprach im Rahmen dieser Entscheidung ausdrücklich nur von der Pflicht des Anwalts, Fehlentscheidungen zu Lasten seines Mandanten entgegenzuwirken, nicht jedoch von einer generellen Aufgabe des Verteidigers, allgemein Fehlentscheidungen des Prozeßgerichts zu verhindern. 96 Diese Äußerungen des BVerfG könnten im Wege des Umkehrschlusses durchaus dahingehend verstanden werden, daß dem Verteidiger unter Berücksichtigung seiner Beistandsfunktion zugunsten des Beschuldigten - hinsichtlich der Prozeßordnungsgemäßheit von gerichtlichen Entscheidungen eine "Wächter- oder Kontrollfunktion" nur insoweit zukommen kann, als es sich bei den unrichtigen Entscheidungen um solche gerade zu Lasten seines Mandanten handelt. Die Pflicht, unrichtige Entscheidungen zu verhindern, bestünde demnach nicht in einem - wie auch immer gearteten - "öffentlichen" Interesse, sondern einzig und allein im privaten Interesse des Beschuldigten. Eine allgemein und im öffentlichen Interesse bestehende Mitwirkungspflicht des Verteidigers wäre demnach abzulehnen und auch eine GarantensteIlung des Strafverteidigers in bezug auf die Justizförmigkeit des Strafverfahrens könnte allenfalls insoweit angenommen werden, als durch die unrichtige Entscheidung Belange des Beschuldigten negativ beeinträchtigt würden (was selbstverständlich nicht bei jeder fehlerhaften Entscheidung des Gerichts der Fall wäre). Da das BVerfG jedoch weder im Rahmen der zitierten Entscheidung noch in späteren Entscheidungen näher zu den spezifischen Pflichten eines Strafverteidigers Stellung nahm, erscheint diese Art der Entscheidungsinterpretation - jedenfalls isoliert betrachtet - als zu wenig aussagekräftig um die Beantwortung der im Rahmen dieser Arbeit aufgeworfenen Problematik einer Mitverantwortung des Verteidigers für ein ordnungsgemäßes Verfahren davon abhängig zu machen.
95 BVerfGE 76, 171 ff. 96 BVerfGE 76, 171, 192.
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i) BVerfGE 80, 269
Die im Sinne der Organtheorie bestehende Doppelstellung betonte schließlich die Entscheidung vom 04.07.1989, in der sich das BVerfG dahingehend äußerte, daß dem Anwalt neben der Interessenvertretung eine unabhängige Organstellung zukomme. 97
2. Zusammenfassende eigene Bewertung der Rechtsprechung des BVerfG zum Organbegriff In den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Entscheidungen lag der Begründungsschwerpunkt keiner einzigen Entscheidung auf der Stellung des Rechtsanwalts bzw. des Strafverteidigers als "Organ der Rechtspflege". Der dargestellten Rechtsprechung kann nur entnommen werden, daß das BVerfG ein Nebeneinander von Interessenvertretung und Organschaft anerkennt, wobei sich aus der OrgansteIlung - verglichen mit dem Beschuldigten - "gesteigerte" Pflichten ergeben sollen. Um welche konkreten Pflichten des Strafverteidigers es sich hierbei handelt, blieb jedoch leider völlig ungeklärt. Die Aussagekraft der dargestellten verfassungsrechtlichen Entscheidungen kann daher in bezug auf die OrgansteIlung des Verteidigers sowie auf möglicherweise daraus zu ziehende Folgerungen als nicht sehr hoch eingestuft werden. Dies gilt umso mehr, als das BVerfG in den meisten Entscheidungen nur ganz allgemein auf die OrgansteIlung der Rechtsanwaltschaft abstellte, ohne speziell auf die Rechtsstellung und Funktion gerade des Strafverteidigers einzugehen. Eine Tendenz des BVerfG den Verteidiger aufgrund seiner OrgansteIlung in die Pflicht zu nehmen, ist der vorliegenden Rechtsprechung allerdings ebenfalls nicht zu entnehmen. Diese Ansicht vertritt auch Schier in einer Untersuchung zur Stellung des Rechtsanwalts in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte. Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung - so Schier - zeige, "daß bei der Interessenabwägung nach Art. 12 Abs. 1 GG die Eigenschaft als Organ der Rechtspflege keinesfalls nur oder auch häufiger - wie es gelegentlich behauptet worden ist - als Instrument benützt wird, den Rechtsanwalt in die Pflicht zu nehmen." 98 So wurde nicht nur in den Entscheidungen zum damals gesetzlich nicht geregelten Verteidigerausschluß 99, sondern auch in anderen
97 BVerfGE 80, 269, 280 und 281.
98 Schier, AnwBI. 1984, S. 415.
99 Vgl. BVerfGE 16,214 ff.; BVerfGE 22, 114 ff.; BVerfGE 34, 293 ff.
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Entscheidungen des BVerfG 100 den erhobenen Verfassungsbeschwerden im Ergebnis jeweils deshalb bzw. auch deshalb stattgegeben, weil bei dem jeweiligen Eingriff die Eigenschaft als Rechtspflegeorgan nicht ausreichend berücksichtigt worden war. 101 Ebenso bescheinigt Heinicke dem höchsten deutschen Gericht "einen äußerst vorsichtigen und zurückhaltenden Umgang mit der Organthese auf dem Gebiet der Strafverteidigung" . 102 Das BVerfG drücke mit dieser These aus, daß der Verteidiger gerade als Beistand objektiv auch der Strafrechtspflege nutze, ohne daraus jedoch einen Eingriffstatbestand herzuleiten, unterstreiche die gesetzlichen Grenzen der Strafverteidigung, die der Gesetzgeber auch im Prozeßrecht sichern dürfe und betone die besondere Vertrauenswürdigkeit des institutionalisierten Anwaltsstandes, die durch ein besonderes Disziplinarrecht erhalten werden dürfe. Eine inhaltliche Begriffsbestimmung der OrgansteIlung gebe das Gericht dagegen nicht." 103
3. Die Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit Im folgenden soll untersucht werden, welche konkreten Rechte und Pflichten die Strafgerichte aus der OrgansteIlung des Verteidigers ableiten, wobei sich die Darstellung sowohl auf die höchstrichterliche Rechtsprechung des BGH als auch auf ausgewählte Entscheidungen der Oberlandesgerichte erstreckt. a) BGHSt 9, 20 In der Entscheidung BGHSt 9, 20 aus dem Jahre 1956 zum Ausschluß des Strafverteidigers vorn weiteren Verfahren sprach der BGH erstmalig vorn Verteidiger als einern "Organ der Rechtspflege" und brachte zum Ausdruck, daß aus dieser OrgansteIlung die Pflicht des Verteidigers folge, sich der Wahrheitsforschung nicht hindernd in den Weg zu stellen. 104 b) BGHSt 12, 367 In dem Beschluß vom 30.01.1959 wies der BGH dem Verteidiger eine Rechtsstellung eigener Art zu, die ihn als ein selbständiges Organ der Rechts100 Vgl. BVerfGE 38,35 ff.; BVerfGE 38, 105 ff.
101 Schier, AnwBI. 1984, S. 415.
102 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 300. 103 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 300. 104 BGHSt 9, 20, 22.
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pflege erscheinen lasse und die sich äußerlich darin abzeichne, daß der Verteidiger als Beistand nach § 137 StPO selbständig an der Seite des Beschuldigten auftrete. Wo er durch Anträge oder auf andere Weise in das Verfahren eingreife, handle er infolgedessen kraft seiner Stellung als Beistand aus eigenem Recht und in eigenem Namen, nicht als Vertreter des Beschuldigten in dessen Namen. 105 c) BGHSt 13, 337 Von der Unabhängigkeit des Strafverteidigers sprach der BGH auch in seiner Entscheidung vom 30.10 .1959, in der er sich zur Funktion des Verteidigers wie folgt äußerte: "Die besondere Aufgabe des Verteidigers im Strafprozeß ist es, dem Schutze des Beschuldigten zu dienen und dadurch zur Findung eines gerechten Urteils beizutragen. Er hat diese Aufgabe unter eigener Verantwortung und unabhängig vom Angeklagten zu erfüllen." 106 d) BGHSt 15, 326 Zur OrgansteIlung des Verteidigers äußerte sich der BGH expressis verbis wieder in dem Beschluß vom 02.03.1961. An dieser Stelle legte er dar: "Der Rechtsanwalt handelt als Strafverteidiger neben Gericht und Staatsanwalt als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§§ 1, 3 BRAO)." 107 Weiterhin heißt es: "Gemäß seinem Amte hat der Verteidiger auf Beachtung aller zugunsten des Beschuldigten sprechenden rechtlichen und tatsächlichen Umstände und auf strenge Justizförmigkeit des Verfahrens hinzuwirken. " 108 Als bedeutsam erscheint in vorliegendem Zusammenhang insbesondere die vom Gericht angenommene Pflicht des Verteidigers, auf eine "strenge" Justizförmigkeit des Strafverfahrens hinzuwirken. Leider wird seitens des BGH auf eine dogmatische Herleitung dieser Pflicht völljg verzichtet und es finden sich auch keinerlei Anhaltspunkte, in welchem Umfang diese Pflicht besteht bzw. welchen Grenzen sie unterliegt. Besteht diese Mitwirkungspflicht etwa nur dann, wenn z.B. ein vom Verteidiger bemerkter Rechtsfehler des Gerichts Interessen des Beschuldigten negativ zu beeinträchtigen droht (dann könnte man eine solche Mitwirkungspflicht noch zwanglos aus der unbestritten bestehenden Bei105 BGHSt 106 BGHSt 107 BGHSt 108 BGHSt
12, 13, 15, 15,
367, 337, 326, 326,
369. 343. 326. 327.
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standsfunktion des Verteidigers gemäß § 137 Abs. 1 StPO ableiten) oder aber besteht eine solche Mitwirkungspflicht ganz allgemein, etwa im öffentlichen Interesse (mit der denkbaren Folge eines Rügeverlustes in der Revisionsinstanz), also auch in den Fällen, in denen der gerichtliche Verfahrensverstoß bzw. die fehlerhaft zustandegekommene Entscheidung Interessen des Beschuldigten überhaupt nicht negativ zu berühren droht? Möglicherweise kann zur Beantwortung dieser Frage eine Entscheidung des BGH in Zivilsachen aus dem Jahre 1964 herangezogen werden, die sich anläßlich eines Schadensersatzprozesses sehr ausführlich mit der PflichtensteIlung eines Strafverteidigers beschäftigt. Im Rahmen dieses Urteils führte der Senat folgendes aus: "Gewiß haben Staatsanwaltschaft und Gericht im Strafverfahren die Pflicht, von sich aus die materielle Wahrheit zu erforschen, alle dem Beschuldigten günstigen und ihn entlastenden Umstände genau so zu berücksichtigen, wie die ungünstigen und belastenden, und weiter auf genaue Innehaltung der Verfahrensvorschriften bedacht zu sein. Aber gerade mit Rücksicht auf das nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit menschlicher Irrtümer sieht das Gesetz in der StPO einen "Verteidiger" als Helfer des Beschuldigten und unabhängiges Organ der Rechtspflege vor, der im Interesse des Beschuldigten nach Kräften dazu beitragen soll, daß für den Beschuldigten sich ungünstig auswirkende Irrtümer des Gerichts vermieden werden, und der damit verhindern soll, daß die richtige Entscheidung zu Lasten des Beschuldigten verfehlt wird." 109 DerVerteidiger handelt also im Interesse des Beschuldigten, er soll Irrtümer vermeiden, die sich für diesen ungünstig auswirken und er soll verhindern, daß die richtige Entscheidung gerade zu Lasten des Beschuldigten verfehlt wird, während Staatsanwaltschaft und Gericht generell auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften bedacht zu sein haben. Würde man die hier getroffenen Aussagen der Entscheidung BGHSt 15, 326 zugrundelegen, so bestünde die Pflicht des Strafverteidigers, auf eine strenge Justizförmigkeit des Strafverfahrens hinzuwirken, allein im Interesse des Beschuldigten, jedoch keinesfalls in einem dem Interesse des Beschuldigten gegebenenfalls übergeordneten "öffentlichen" Interesse. Eine Mitwirkungspflicht des Verteidigers wäre also nur insoweit anzuerkennen, als es darum geht, unrichtige Entscheidungen gerade zu Lasten des Beschuldigten zu verhindern. Eine allgemein und im öffentlichen Interesse bestehende Mitwirkungspflicht im Sinne einer Verfahrenskontrolle wäre jedoch abzulehnen. 109 BGH NJW 1964, S. 2403.
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e) BGHSt 18, 396 Im Urteil vom 02.07.1963 erwähnte der BGH zwar die OrgansteIlung des Verteidigers, leitete daraus jedoch keine besonderen Rechte bzw. Pflichten her. Es ging in dieser Entscheidung um das Recht des nicht rechtzeitig geladenen Verteidigers zur Entscheidung darüber, ob er die Aussetzung der Verhandlung verlangen oder aber auf dieses Recht verzichten will. Der BGH äußerte in diesem Zusammenhang, daß nur der Strafverteidiger, nicht etwa der Angeklagte, dazu in der Lage und deshalb als Organ der Rechtspflege berufen sei, diese Entscheidung zu treffen, weil nur der Verteidiger beurteilen könne, was insoweit dem wirklichen Interesse des Angeklagten entspreche. 110 Die Erwähnung der OrgansteIlung ist hier wohl lediglich als Hervorhebung der besonderen Sachkunde und Kompetenz des Strafverteidigers zu verstehen. f) BGHSt 25, 272 und BGHSt 26, 221
In beiden Entscheidungen des BGH fand der Begriff "Organ der Rechtspflege" zwar Erwähnung, jedoch wurde zu den aus dieser Funktion folgenden Rechten bzw. Pflichten nicht näher Stellung bezogen. g) BGHSt 29,99 Mit Urteil vom 03.10.1979 entschied der BGH, daß ein zulässiges Verteidigerhandeln keine rechtswidrige Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung sein könne. 111 Das Gericht führte im Rahmen dieser Entscheidung ferner aus, daß Strafverteidigung ihrer Natur nach auf den Schutz des Beschuldigten vor Anklage, Verhaftung und Verurteilung ausgerichtet sei 112 und daß die Strafverteidigung einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen habe, dessen Ausführung nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in dem Interesse einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege liege. 113 Wie bereits dargestellt, ging der BGH auch hier von der OrgansteIlung des Verteidigers aus (allerdings ohne diese ausdrücklich zu erwähnen), nahm jedoch auch in diesem Rahmen nicht näher zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen Stellung. Festzuhalten bleibt jedoch 110 BGHSt 18, 111 BGHSt29, 112 BGHSt 29, 113 BGHSt 29,
396, 397. 99,105. 99, 102. 99, 106.
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
folgendes: Neben der Aufgabe den Beschuldigten zu "schützen", ist die Strafverteidigung - nach Ansicht des BGH - noch einem weitergehenden Interesse verpflichtet, nämlich dem öffentlichen Interesse einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege. Offen bleibt jedoch wieder einmal, welche konkreten Folgen sich daraus für den Strafverteidiger ergeben. h) BGHSt 38, 111 Unter Berufung auf die eben dargelegten Ausführungen in BGHSt 29, 99 nahm der BGH in BGHSt 38, 111 die Strafverteidigung in die Pflicht und bestätigte im Falle einer rechtsmißbräuchlichen, exzessiven Beweisantragsstellung durch den Angeklagten die Rechtmäßigkeit einer gerichtlichen Anordnung, wonach der Angeklagte Beweisanträge künftig nur noch über seinen Verteidiger stellen dürfe. 114 Dem Verteidiger sei es nicht erlaubt, den Angeklagten nach dessen Belieben "schalten und walten" zu lassen, sondern es treffe ihn die Pflicht, "mit dafür Sorge zu tragen, daß das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahpen durchgeführt wird." 115 Abgeleitet wurde diese Pflicht insbesondere aus dem Auftrag der Verteidigung sowie aus der Weisungsunabhängigkeit des Verteidigers. 116 Obwohl der BGH auch hier die Formel vom "Organ der Rechtspflege" vermied, leitete er die Mitwirkungspflicht des Verteidigers letztlich doch aus dessen OrgansteIlung her. Denn allein aus der rein privaten (unstreitig bestehenden) Beistandsfunktion des Verteidigers nach § 137 StPO hätte eine derartige Mitwirkungspflicht nicht hergeleitet werden können. Eine solche Pflicht kann nämlich nur unter der Voraussetzung angenommen werden, daß der Strafverteidiger nicht allein den Interessen des Beschuldigten verpflichtet ist und ihm im Verhältnis zu seinem Mandanten eine gewisse Unabhängigkeit von dessen Willen zukommt. Exakt dies drückt die Formel von der Organstellung des Verteidigers verkürzt jedoch aus, nämlich zum einen das "Verpflichtetsein des Verteidigers auf (auch) öffentliche Interessen" und zum anderen - als Folge davon - die Unabhängigkeit des Strafverteidigers vom Beschuldigten. Der BGH begründete damit vorliegend die Mitwirkungspflicht des Strafverteidigers letztlich mit dessen Stellung als "Organ der Rechtspflege", also der Wahrnehmung nicht allein privater, sondern auch öffentlicher Aufgaben. 114 BGHSt 38, 111 ff. 115 BGHSt 38,111,115. 116 BGHSt 38, 111, 114.
B. Die Aussage der Organtheorie
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i) BGHSt 38, 214 Eine erhebliche Erweiterung der PflichtensteIlung des Strafverteidigers brachte auch die bereits erwähnte Entscheidung BGHSt 38, 214 mit sich. Hier sprach sich der BGH zwar grundsätzlich für ein Verwertungsverbot der Aussage des - im Rahmen der polizeilichen Vernehmung - nicht belehrten Beschuldigten aus, verneinte ein solches Verwertungsverbot jedoch bei einem verteidigten Angeklagten, wenn der Angeklagte bzw. sein Verteidiger der Verwertung nicht bis zu dem in § 257 StPO genannten Zeitpunkt widersprochen hat. Der BGH begründete diese Ausnahme vom grundsätzlich bestehenden Verwertungsverbot mit einem knappen Hinweis auf die "besondere Verantwortung" des Verteidigers sowie auf seine Fähigkeit, Belehrungsmängel aufzudecken und zu erkennen, ob die Berufung auf das Verwertungsverbot einer sinnvollen Verteidigung dient. 117 Woraus sich jedoch die vom BGH vorliegend so betonte, "besondere Verantwortung" des Strafverteidigers genau ergeben soll, ob aus seiner Schutzfunktion zugunsten des Beschuldigten oder aber aus der Wahrnehmung auch öffentlicher Funktionen (= OrgansteIlung), blieb unausgesprochen. j) BGHSt 38,345 Im Urteil vom 01.09.1992 beschäftigte sich der BGH mit der möglichen Strafbarkeit eines Verteidigers wegen Strafvereitelung nach § 258 StGB und führte hierzu aus, daß die Stellung des Verteidigers und das damit verbundene Spannungsverhältnis zwischen OrgansteIlung und Beistandsfunktion eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verteidigerverhalten erforderlich mache. 118 Dies gelte insbesondere im Hinblick auf den Straftatbestand des § 258 StGB, da sich die Grenzen zulässigen Verteidigerhandelns nicht dieser Vorschrift, sondern allein dem Strafprozeßrecht entnehmen ließen. 119 Hiernach dürfe der Strafverteidiger alles tun, was in gesetzlich nicht zu beanstandender Weise dem Mandanten nütze. 120 Mit vorliegender Entscheidung bestätigte der BGH zum einen seine ständige Rechtsprechung zur DoppelsteIlung des Verteidigers (Beistand und Organ der Rechtspflege) und erkannte zum anderen ausdrücklich an, daß die Grenzziehung 117 BGHSt 38,214,226. 118 BGHSt 38,345, 347. 119 BGHSt 38, 345, 347. 120 BGHSt 38, 345, 347 f.
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verteidigerverhalten einer Abwägung zwischen den privaten Interessen des Beschuldigten (= Beistandsfunktion) einerseits und den öffentlichen Funktionen des Verteidigers ( = OrgansteIlung) andererseits zu entnehmen sei. 121 Leider sprach der BGH in vorliegender Entscheidung wieder einmal nur ganz allgemein von der OrgansteIlung des Verteidigers, ohne die Gelegenheit zu nutzen, die vom Verteidiger im einzelnen wahrzunehmenden öffentlichen Funktionen konkret anzusprechen. k) BGH NStZ 1992, S. 396 Mit Urteil vom 08.04.1992 entschied der BGH, daß die dem Verteidiger telefonisch mitgeteilte und in einem Aktenvermerk dokumentierte Umladung zu einem verlegten Fortsetzungstermin auch gegenüber dem Angeklagten wirksam sei. 122 Der BGH begründete diese Ansicht mit einem äußerst knappen Hinweis auf die "hervorgehobene Rolle des Verteidigers als Organ der Rechtspflege", die es rechtfertige, "bei formlosen Mitteilungen an den Verteidiger dessen grundSätzliche Mitwirkungsbereitschaft vorauszusetzen und geringere Sicherungsvorkehrungen im Interesse der Rechtssicherheit zu fordern als bei Mitteilungen an den Beschuldigten selbst." 123 1) OLG München NJW 1976, S. 252
Am 28.11.1975 nahm das OLG München zur Funktion des Strafverteidigers wie folgt Stellung: "Die Ausrichtung des Verteidigerverhältnisses auf den jeweiligen einzelnen, von ihm verteidigten Beschuldigten ergibt sich zusätzlich aus der besonderen, über das bloße Vollmachtsverhältnis hinausgehenden, öffentlich-rechtlichen Funktion und Stellung des Strafverteidigers; dieser fungiert als Prozeßbeteiligter mit eigenen Rechten und Pflichten in einem öffentlich-rechtlich geordneten Verfahren und ist damit nicht nur Beauftragter seines Mandanten, sondern Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO; BVerfG NJW 1975, S. 1014)." 124 Auch dieser Entscheidung des OLG München können keine konkreten Rechte oder Pflichten des Strafverteidigers, die 121 Vgl. ausführlich hierzu die Urteilsanmerkungen von Beulke (Näheres im Literaturverzeichnis) und Scheffler, StV 1993, S. 470 ff. 122 BGH NStZ 1992, S. 396. 123 BGH NStZ 1992, S. 397. 124 OLG München, NJW 1976, S. 253.
B. Die Aussage der Organtheorie
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sich aus dessen Organstellung ergeben, entnommen werden. Bemerkenswert ist allerdings, daß das OLG München von einer "öffentlich-rechtlichen" Funktion und Stellung des Strafverteidigers spricht und als Beleg hierfür die Entscheidung BVerfG NJW 1975, S. 1014 zitiert, während das BVerfG im Rahmen der zitierten Entscheidung nur davon spricht, daß die Sicherung der Beistandsfunktion des Verteidigers im "öffentlichen" Interesse liege und der als Verteidiger tätige Rechtsanwalt daher nicht nur ein durch privatrechtlichen Geschäftsbesorgungsvertrag erteiltes Mandat wahrnehme, sondern ihm auch davon zu trennende - eigene Rechte und Pflichten zukämen. 125 m) HansOLG JZ 1978, S. 275 In dem bekannten Groenewold-Urteil aus dem Jahre 1978, in dem der Rechtsanwalt Kurt Groenewold wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung durch Aufbau eines sog. "Info-Systems" verurteilt wurde, legte das Gericht in bezug auf die Funktion des Strafverteidigers folgendes dar: "Als unabhängiges Organ der Rechtspflege soll der Verteidiger mithelfen, das Recht zu verwirklichen. Damit tritt er an die Seite der Gerichte und der Staatsanwaltschaft. Auf diese hat der Rechtsanwalt Bedacht zu nehmen und jedenfalls nicht den Kampf seiner Mandanten gegen diese Institutionen zu unterstützen." 126 Wie so oft werden auch im Rahmen dieser Entscheidung konkrete Aussagen hinsichtlich der Organstellung des Strafverteidigers tunliehst vermieden. Es bleibt - wie sonst auch - bei so nichtssagenden Aussagen wie "soll mithelfen, das Recht zu verwirklichen" oder "hat auf die Gerichte und Staatsanwaltschaft Bedacht zu nehmen". n) KG JR 1977, S. 213 und KG JR 1992, S. 86 Von der Organeigenschaft des Rechtsanwalts spricht das Kammergericht in zwei Beschlüssen, die beide das Recht des Verteidigers auf ungehinderten Verkehr mit dem nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten betreffen (§ 148 Abs. 1 StPO). Mit Beschluß vom 08.10.1976 legte das Gericht dar, daß der "Anwalt wegen seiner Integrität, die das Gesetz bei ihm als Organ der Rechtspflege grundSätzlich unterstellt, von jeder Beschränkung in der Wahrnehmung seiner Aufgabe als Verteidiger zu entheben sei; die "völlig freie
125 BVerfG NJW 1975, S. 1014. 126 HansOLG JZ 1979, S. 276.
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Kapitel 2: RechtssteUung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
Verteidigung" war und ist das Anliegen des Gesetzes." 127 Im Jahre 1991 führte das Gericht hierzu folgendes aus: "Dennoch kann die Tatsache, daß der Beschwerdeführer Rechtsanwalt ist, nicht außer Betracht bleiben und dazu führen, ihn wie jeden anderen Besucher zu behandeln. Von anderen Besuchern hebt sich der Beschwerdeführer dadurch ab, daß er Organ der Rechtspflege ist (§ 1 BRAO) und besonderen Berufspflichten unterliegt (§ 43 Satz 2 BRAO) , die eine Beziehung zu Recht und Gesetz haben und in erhöhtem Maße erwarten lassen, daß er sich der Rechtsordnung verpflichtet sieht. Er genießt daher, falls nicht Umstände entgegenstehen, schon von vorneherein das Maß an Vertrauen, das es rechtfertigt, von einer Überwachung des Gesprächs abzusehen." 128 Vorliegend bleibt unklar, ob sich der in beiden Fällen gewährte Integritätsbonus oder Vertrauensvorschuß aus der beruflichen Stellung der Betroffenen als Rechtsanwalt ergibt oder aber aus ihrer besonderen Funktion als Strafverteidiger. Im Rahmen der ersten Entscheidung spricht das Kammergericht nämlich einerseits von der Integrität des Anwalts (also der formellen Stellung), andererseits jedoch von dem Anliegen des Gesetzgebers "freie Verteidigung" zu gewähren (also der materiellen Funktion). Wurde dem Antragsteller die ihm gewährte Integrität nun eigentlich deshalb zugestanden, weil er Rechtsanwalt war oder weil er Verteidigungsaufgaben wahrnahm? Der Wortlaut des zweiten Beschlusses aus dem Jahre 1991 spricht ganz eindeutig von der "Tatsache, daß der Beschwerdeführer Rechtsanwalt ist" und sich von anderen Besuchern dadurch abhebt, daß ihm die Stellung eines "Organs der Rechtspflege" (§ 1 BRAO) zukommt. Es drängt sich vorliegend daher die Frage auf, ob das Gericht einem als Verteidiger tätigen Rechtslehrer (vgl. § 138 Abs. 1 StPO) oder einer nach § 138 Abs. 2 StPO Verteidigungsaufgaben wahrnehmenden Person den hier gewährten Vertrauensvorschuß verwehrt hätte. Da in beiden Entscheidungen des Kammergerichts nicht hinreichend zwischen der beruflichen Stellung der Betroffenen (als Rechtsanwalt) und der von ihnen ausgeübten Funktion (als Strafverteidiger) differenziert wurde, lassen sich daraus in bezug auf die Rechts- und PflichtensteIlung des Strafverteidigers keine grundlegenden Schlüsse herleiten.
127 KG IR 1977, S. 214. 128 KG IR 1992, S. 86.
B. Die Aussage der Organtheorie
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0) OLG Köln NJW 1975, S. 459
In einem Verfahren, das einen Verteidigerausschluß wegen angeblicher Strafvereitelung betraf, sah sich das OLG Köln dazu veranlaßt, näher zur Funktion der Strafverteidigung Stellung zu nehmen. Das Gericht legte dar, daß der Verteidigung im Strafverfahren eine doppelte Pflichtenstellung zukomme, nämlich zum einen die als Organ der Rechtspflege gemäß § 1 BRAO und zum anderen die als Beistand des Auftraggebers. 129 Zum Verhältnis dieser verschiedenen Funktionen im Konfliktsfall führte das OLG Köln aus: "Wenn daraus Konflikte entstehen, gebührt grundsätzlich der Beistandsfunktion der Vorzug, indem der Verteidiger in erster Linie das subjektive Recht des Mandanten wahrt und das Gewicht seiner Tätigkeit auf die entlastenden Umstände legt." 130 Dieser Rechtsansicht des OLG Köln - doppelte Pflichtenstellung des Strafverteidigers mit Vorrang der Beistandsfunktion im Konfliktsfall - schloß sich im Jahre 1981 das OLG Frankfurt 131 an und im Jahre 1990 folgte auch das OLG Düsseldorf 132 dieser Auffassung.
4. Zusammenfassende eigene Bewertung der Rechtsprechung der Fachgerichtsbarkeit zum Organbegriff Die Rechtsprechung verabsäumte es - aus welchen Gründen auch immer in den vielen Jahrzehnten, in denen sie die Lehre von der Organstellung des Strafverteidigers vertrat, dem Begriff "Organ der Rechtspflege" klare Konturen zu verleihen. In keiner einzigen Entscheidung sah sich die Rechtsprechung dazu veranlaßt, konkret die öffentlichen Aufgaben beim Namen zu nennen, die sich hinter der Kurzformel "Organ der Rechtspflege" verbergen. So blieb gänzlich unbestimmt, auf welche Belange und Interessen der Strafverteidiger aufgrund seiner Organfunktion Rücksicht zu nehmen hat. 133 Völlig offen blieb auch, welche konkreten Rechte und Pflichten sich gerade aus der "Organstellung" für den Strafverteidiger ergeben. Will man den Gerichten nun Arges unterstellen, so könnten Kritiker durchaus vorbringen, die 129 OLG Köln NJW 1975, S. 460. 130 OLG Köln NJW 1975, S. 460. \31 OLG Frankfurt, NStZ 1981, S. 145. 132 OLG Düsseldorf, NJW 1991, S. 996. 133 Eine - allerdings noch konkretisierungsbedürftige - Andeutung der öffentlichen Aufgaben des Verteidigers ist jedoch der Entscheidung BGHSt 29, 99 zu entnehmen. Dort sprach das Gericht davon, daß der gesetzliche Auftrag des Verteidigers auch im Interesse einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege liege (BGHSt 29, 99, 106).
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Kapitel 2: Rechtsstellung und Funktion des Verteidigers aus Sicht der Organtheorie
Rechtsprechung vermied eine klärende Stellungnahme ganz einfach deshalb, weil man sich das Potential an denkbaren Pflichten des Verteidigers erhalten wollte, das der unbestimmte Begriff "Organ der Rechtspflege" noch in sich birgt. Selbst wenn man jedoch nicht so weit gehen will, liegen die Gefahren eines derartigen Umgangs mit einem Begriff, der eine so "hohe Konkretisierungsbedürftigkeit" 134 aufweist, klar auf der Hand. Eine unbestimmte Kurzformei, wie die vom "Organ der Rechtspflege", die von der Rechtsprechung nicht hinreichend mit "Leben" gefüllt wird, ist natürlich in sehr hohem Maße der Mißbrauchsgefahr ausgesetzt. Festzuhalten ist: (1)
Die Rechtsprechung vertritt einmütig und in langer Tradition die Auffassung, daß der Strafverteidiger nicht nur als Beistand des Beschuldigten handelt, sondern ihm darüber hinaus auch die Stellung eines "Organs der Rechtspflege" zukommt, er also eine DoppelsteIlung einnimmt. Der Verteidiger ist demgemäß nicht nur den rein privaten Interessen des Beschuldigten (Beistandsfunktion), sondern darüber hinausgehend auch noch bestimmten öffentlichen Funktionen verpflichtet (Organfunktion bzw. OrgansteIlung) .
(2)
Die Rechtsprechung unterließ es jedoch bisher, die sich hinter dem Schlagwort von der OrgansteIlung des Verteidigers verbergenden öffentlichen Funktionen des Strafverteidigers in hinreichendem Maße zu konkretisieren.
(3)
Als unvermeidliche Folge davon blieben Umfang und Grenzen der aus der OrgansteIlung folgenden Rechte und Pflichten der Strafverteidigung völlig im Dunkeln.
134 Vgl. Seier, JuS 1981, S. 806.
Kapitel 3
Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten A. Die Aussage der Interessentheorie Konkurrierend gegenüber steht der Lehre von der Organstellung des Strafverteidigers die sog. Parteiinteressenvertretertheorie oder schlicht Interessentheorie. Im Gegensatz zur Organtheorie leugnet dieses Verteidigerkonzept jegliche Anbindung des Strafverteidigers an öffentliche Funktionen und sieht in dem Verteidiger rein den privaten Interessenvertreter des Beschuldigten. 1 Als bekannte Vertreter der Parteiinteressentheorie sind beispielsweise Holtfort und Schneider zu nennen. Holtfort begreift den Strafverteidiger als reinen "Vertreter von Mandanteninteressen" , als parteigebundenen Helfer und gar als ein Stück "sozialer Gegenmacht" , ohne die jeder Angeschuldigte jeder Staatsgewalt unendlich unterlegen wäre. 2 Schneider kommt zu dem Ergebnis, daß das Leitbild des Rechtsanwalts im Grundgesetz vom Prinzip der "freien Advokatur" geprägt sei. Die verfassungsrechtliche Garantie dieses Prinzips durch Art. 12 Abs. 1 GG statuiere einen Vorrang unabhängiger Interessenvertretung vor jeder staatlichen Pflichtenbindung. Insoweit enthalte der Grundsatz freier Anwaltstätigkeit auch ein subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe und Beschränkungen. Verstehe man die "Rechtspflege" in erster Linie als Staatsaufgabe, könne der Anwalt im sozialen Rechtsstaat nur insoweit als deren "Organ" betrachtet werden, wie ihm jene Stellung die ungehinderte Wahmehmung von Mandanteninteressen, die wirksame Vertretung von I Vgl. Eschen, StV 1981, S. 367 f.; Gatzweiler, StV 1985, S. 248 ff.; Holtfon in Holtfon: Strafverteidiger als Interessenv~rtreter, S. 37 ff.; Lüderssen, Sarstedt-Festschrift, S. 159; Ostendorf NJW 1978, S. 1345 ff.; Ostendorf, JZ 1979, S. 252; Seelmann NJW 1979, S. 1128 ff.; AK-StPO-Stern, Vorbem. § 137 Rn. 21 ff.; Wassmann, Strafverteidigung und Strafvereitelung, jur. Diss., S. 255; kritisch äußert sich zur OrgansteIlung des Verteidigers auch Tondorf, StV 1983, S. 259 und 260. 2 Holtfon in Holtfon: Strafverteidiger als Interesscnvertreter, S. 45. S Domach
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
Parteianliegen vor Gericht und die solidarische Unterstützung von Beistandsbedürftigen im Rahmen des Rechts ermögliche. 3 Auch Seelrnann beschreibt den Verteidiger als einen zu einseitiger Interessenwahrung verpflichteten Beistand. 4 Ganz ähnlich äußerte sich in jüngster Zeit für den Bereich des österreichischen Strafverfahrensrechts auch Kienapfel. Der Verteidiger sei nicht Organ der Rechtspflege, sondern einseitiger, d.h. primär den Parteiinteressen verpflichteter Rechtsbeistand. 5 Eschen schließlich sieht die Aufgabe des Strafverteidigers darin, mit rechtlichen Mitteln Interessen des Mandanten durchzusetzen oder einen Angriff auf dessen Interessensphäre abzuwehren, wobei dieses aktive oder passive Interesse allein in der Disposition des Auftraggebers, also des Mandanten liege. 6 Allein dieses Interesse bilde den Umfang und den Maßstab der Tätigkeit des Anwalts, der im Rahmen des bestehenden Mandats weder berechtigt noch verpflichtet sei, das Petitum des Mandanten gegen dessen Willen einzuschränken oder zu erweitern. 7 Halte der Verteidiger das Interesse des Mandanten für materiell- und verfahrensrechtlich durchsetzbar oder aussichtsreich, so habe er seine intellektuellen und materiellen Mittel in vollem Umfang hierfür einzusetzen. 8 Solange das Mandat bestehe, sei der Anwalt einseitig und nur daran und an das mit ihm verflochtene Interesse gebunden. 9 Die Kritik an der herrschenden Organtheorie gipfelte im Jahre 1979 in dem erfolglosen Versuch des Arbeitskreises Strafprozeßreform 10 die Parteiinteressentheorie mittels Vorlage des Gesetzentwurfes "Die Verteidigung" 11 im geltenden Strafverfahrensrecht gesetzlich festzuschreiben. Dieser Reformvorschlag sollte ein in sich geschlossenes Verteidigerkonzept liefern und den mit "Verteidigung" überschriebenen 11. Abschnitt der Strafprozeßordnung komplett ersetzen. Hierbei
3 Schneider in Holt/ort: Strafverteidiger als Interessenvertreter, S. 35. 4 Seelmann, NJW 1979, S. 1130. S Kienapfel, Reichweite und Grenzen der Begünstigung, Strasser-Festschrift, S. 245. 6 Eschen, StV 1981, S. 367. 7 Eschen, StV 1981, S. 367. 8 Eschen, StV 1981, S. 367. 9 Eschen, StV 1981, S. 367. 10 Der Arbeitskreis Strafprozeßreform setzte sich aus den StrafrechtswissenschaftIem Bemmann, Grünwald, Hassemer, Krauß, Lüderssen, Naucke, RJUJolphi und Welp zusammen, vgl. Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. V (Vorwort). 11 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung - Gesetzentwurf mit Begründung, Heideiberg, Karlsruhe, 1979; vgl. dazu auch Grünwald, Die Verteidigung - Grundlagen und Ziele des Gesetzentwurfs des Arbeitskreises Strafprozeßrejorm, AnwBI. 1980, S. 5 Cf.
A. Die Aussage der Interessentheorie
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beschrieb der Gesetzesentwurf Aufgabe und Stellung des Strafverteidigers wie folgt: 12 §1
Aufgaben und Stellung des Verteidigers
(1)
Der Verteidiger vertritt die Interessen des Beschuldigten. Er stützt sich auf dessen Vertrauen.
(2)
Der Verteidiger ist unabhängig.
Der weiteren Veranschaulichung der Interessentheorie mögen auch die vier nachfolgend wiedergegebenen Thesen dienen, die anläßlich des 3. GustavRadbruch-Forurns im Jahre 1981 von einer Arbeitsgruppe der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen (ASJ) zum Thema "Der Anwalt im Prozeß der Wahrheitsfindung" aufgestellt wurden: 13 (1)
Der Rechtsanwalt ist der Interessenvertreter seines Mandanten. Seine Kennzeichnung als Organ der Rechtspflege hat sich wegen der wechselnden Inhalte, die diesem Begriff im Laufe der Zeit gegeben worden sind, als ungeeignet herausgestellt.
(2)
Im Strafverfahren ist es nicht Aufgabe des Verteidigers, dem Gericht bei der Ermittlung der materiellen Wahrheit zu helfen. Vielmehr wirkt er an der Erzielung eines rechtsstaatlichen Verfahrensergebnisses gerade dadurch mit, daß er als einseitiger Interessenvertreter nur die Interessen seines Mandanten durchzusetzen versucht. Daß er dabei an Recht und Gesetz gebunden ist, wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
(3)
Was die Interessen des Mandanten sind, bestimmt dieser selbst. Selbstverständlich trifft den Rechtsanwalt eine umfassende Beratungspflicht. Das sogenannte "wohlverstandene Interesse" des Mandanten darf das tatsächlich geäußerte nicht verdrängen oder verändern. Ausnahmen mögen allenfalls bei Mandanten mit erheblichem Autonomiedefizit gelten.
(4)
Die Unabhängigkeit des Rechtsanwalts von seinem Mandanten ist eine Frage des Berufsethos und seiner Qualität und erweist sich somit als unabhängig von jeder Kontrolle durch das Gericht. 12 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 3 und 37. 13 Vgl. hierzu Reichtl, ZRP 1982, S. 83.
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
Die bisher wiedergegebenen Stimmen und Stellungnahmen zeigen wohl eines ganz deutlich: Nach der Parteiinteressentheorie ist der Verteidiger einzig und allein den privaten Belangen des Beschuldigten verpflichtet. Weitere, etwa öffentliche Funktionen kommen der Strafverteidigung nach dieser Auffassung nicht zu. In welche Richtung die Parteiinteressentheorie wohl letztlich führen wird, zeigen die Stimmen in der Prozeßrechtsliteratur, die sich - wenn auch in höchst unterschiedlichem Ausmaß - von der Wahrheitspflicht des Strafverteidigers 14 lösen und dem Verteidiger - in krassem Widerspruch zur völlig h.M. 15 - sogar eine Art "Lügerecht" zubilligen wollen. So ist beispielsweise Ostendorf der Ansicht, daß der Verteidiger als völlig einseitiger Interessenwahrer "auch die falsche Einlassung seines Mandanten als wahr hin14 Die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers ist durch die strafrechtlich abgesicherte Schweigepflicht (vgl. § 203 I Nr. 3 StGB) begrenzt und daher nicht als umfassende Offenbarungspflicht zu verstehen, sondern als ein "Lügeverbot" . In Anlehnung an den berühmten Strafverteidiger Hans Dahs sen. wird häufig treffend fonnuliert: "Alles, was der Verteidiger sagt, muß wahr sein, aber er darf nicht alles sagen, was wahr ist." (vgl. DahslDahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 44). 15 Nach ganz h. M. in Literatur und Rechtsprechung trifft den Strafverteidiger eine Wahrheitspflicht im Sinne eines Lügeverbots: BGH NJW 1972 S. 2341; OLG München, NJW 1976, S. 253; OLG Frankfurt NStZ 1981, S. 145; Armbrüster, Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, S. 159; Augstein, NStZ 1981, S. 52; Bottke, ZStW 96 (1984), S. 760; BRAK-Thesen, S. 47; Dahs/Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 15; Dreherffröndle, § 258 Rn. 7; Ernesti, JR 1982, S. 228; Eser, Strafprozeßrecht, S. 179; Fuchs, AnwBI. 1989, S. 355; Güde, AnwBI. 1961, S. 4; Haft, Strafrecht BT, S. 180; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 153; Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 485; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 137 Rn. 2; KK-Laujhütte, Vor § 137 Rn. 5; Kunigk, Prozeßführung und Strafverteidigung, S. 161; Krekeler, NStZ 1989, S. 147; Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 661, 662; Liemersdorf, MDR 1989, S. 205 f.; LK-Ruß, § 258 Rn. 20; LR-Dünnebier, 23. Auflage, Vor § 137 Rn. 11; Madlener, ZStW 93 (1981), S. 303; Müller, Strafverteidigung im Überblick, Rn. 5; Müller-Dietz, Jura 1979, S. 249 und 250; Otto, Jura 1987, S. 329; Peters, Strafprozeß, § 29 I; pteijJer, DRiZ 1984, S. 343; Ranft, Strafprozeßrecht, § 21 AI; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 10; Rudolphi, Bruns-Festschrift, S. 333; Rückei, Strafverteidigung und Zeugenbeweis, Rn. 5; Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, Rn. 57; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 101; Eb. Schmidt, JZ 1969, S. 317; Schönke/Schröder-Stree, § 258 Rn. 20; Seier, NStZ 1981, S. 806 und S. 808; Vogt, Berufstypisches Verhalten und Grenzen der Strafbarkeit im Rahmen der Strafvereitelung, S. 230; Warburg, Die anwaltliche Praxis in Strafsachen, Rn. 9; Wasserburg, Peters-Festgabe, S. 286; Weber, ZStW 104 (1992), S. 409; Weihrauch, Verteidigung im Ermittlungsverfahren, Rn. 31; Welp, ZStW 90 (1978), S. 818 f; Wesseis, Strafrecht BT I, S. 153. Kritisch zur Wahrheitspflicht des Strafverteidigers äußert sich neuerdings Richter ll, da Wahrheit im Strafverfahren nicht vorgegeben sei, sondern erst im Laufe des Verfahrens herausgebildet werde, vgl. dazu Richter ll, NJW 1993, S. 2155 (m.E. wenig überzeugend: Verfahrensziel kann im Rahmen des Strafverfahrens einzig und allein die Erforschung der materiellen Wahrheit und nicht die der "prozessualen" Wahrheit, also des rein praktisch Erreichbaren, sein).
A. Die Aussage der Interessentheorie
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stellen, alle gegenteiligen Behauptungen anzweifeln und bestreiten" müsse. 16 Zur Begründung dieses "Lügerechts" des Verteidigers behauptet Ostendorf, daß Angeklagter und Verteidiger in der Hauptverhandlung gewissermaßen "im selben Boot" säßen. Es könne daher in dieser Hauptverhandlung nur einheitlich argumentiert werden, wobei der Verteidiger gleichsam als Sprachrohr seines Mandanten wirke. Aus dieser Situation heraus sei auch dem Verteidiger das Selbstschutzrecht 17 des Angeklagten auf Lüge zuzubilligen. 18 Ablehnend Stellung zur Organtheorie nimmt wegen des ihr angeblich innewohnenden Bevormundungs- und Kontrollcharakters auch Stern. 19 Da es sich bei dem Verteidiger um den reinen Interessenvertreter des Beschuldigten handle, sei er schon deshalb jeder staatlichen Einflußnahme entzogen. 20 In enger Anlehnung an Ostendorf spricht sich auch Stern offen für ein "Lügerecht" des Verteidigers aus und begründet dieses wie folgt: "Die Beistands- und Treuepflicht verbietet dem Verteidiger alles, was die Lüge des Angeklagten offenbaren würde. Zutreffend weist Ostendorf darauf hin, daß der Verteidiger demnach nicht auf verräterische Distanz gehen darf (NJW 1978, 1345 [1349]). Er hat die unwahre Darstellung seines Mandanten auch verteidigungstaktisch als zutreffend zu behandeln, darf und muß sich also dessen Lüge zwangsläufig zu eigen machen. Selbst die viel empfohlene Mandatsniederlegung hat zu unterbleiben, wenn sie, weil sie ersichtlich zur Unzeit erfolgt, Rückschlüsse auf die Lüge des Beschuldigten zuließe." 21 Ebenso vertritt Paulus die Auffassung, daß ein Strafverteidiger sowohl dem Beschuldigten zur "Lüge" raten als auch in eigener Person "lügen" dürfe. Wie Ostendorf argumentiert auch Paulus mit einem angeblichen Lügerecht des Beschuldigten: Sei dem Beschul16 Ostendorf, NJW 1978, S. 1349; für ein Lügerecht des Verteidigers bzw. ein Recht zum "Lügerat" auch Stn;yz, Die Abgrenzung von Strafverteidigung und Strafvereitelung, S. 304 und Wassmann, Strafverteidigung und Strafvereitelung, S. 136. 17 Das von OstendoTj" behauptete Lügerecht des Beschuldigten ist keineswegs so unstrittig, wie er es darstellt. Es ist nämlich bisher immer noch nicht hinreichend geklärt, ob es sich hierbei tatsächlich um ein Recht des Beschuldigten handelt oder ob unwahre Einlassungen des Beschuldigten ein lediglich sanktionsloses, aber dennoch prozeßordnungswidriges Verhalten darstellen (gegen ein Lügerecht z.B. Bottke, ZStW 96 (1984), S. 758; Brei, Grenzen zulässigen VerteidigerhandeIns, S. 330; Keller, JR 1986, S. 30; LR-Hanack, § 136 Rn. 41 m.w.N.; Müller-Dietz, Jura 1979, S. 250; Puppe, GA 1978, S. 305; Vogt, Berufstypisches Verhalten und Grenzen der Strafbarkeit im Rahmen der Strafvereitelung, S. 230 sowie Kleinknecht/MeyerGoßner, § 136 Rn. 18 m.w.N.). 18 OstendoTj", NJW 1978, S. 1349. 19 AK-StPO-Stem, Vorbem. § 137 Rn. 24. 20 AK-StPO-Stem, Vorbem. § 137 Rn. 24. 21 AK-StPO-Stem, Vorbem. § 137 Rn. 73.
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
digten prozeßrechtlich die Lüge nicht verboten, sondern in Konsequenz seiner Verteidigungsfreiheit rechtlich erlaubt, so gelte dies auch für den - gesetzlich daran ebenfalls nicht gehinderten - Verteidiger in seiner beistehenden Beratungsfunktion, sofern nur dem Beschuldigten prozeßsubjektsgemäß die eigenverantwortliche Entscheidung darüber verbleibe, ob er dem Rat zu leugnen, folge oder nicht. 22 Weiterhin hält Kühne 23 ein "unterstützendes Lügen" des Verteidigers für zulässig. Er vertritt die Auffassung, der Verteidiger dürfe sich auf Einlassungen des Beschuldigten beziehen, selbst wenn er genau wisse, daß diese Einlassungen falsch seien. Dies folge aus dem Umstand, daß der Beschuldigte im Verfahren lügen dürfe, ohne sich prozeßordnungswidrig zu verhalten. 24 Von seiner weitergehenden Ansicht, daß der Verteidiger den Beschuldigten sogar zum "Lügen" animieren dürfe, ist Kühne - entgegen der noch in der Vorauflage seines Lehrbuchs vertretenen Meinung 25 - inzwischen jedoch vollständig abgerückt. Der Verteidiger dürfe den Beschuldigten zwar auf dessen "Lügerecht" hinweisen, jedoch dürfe dies nicht gleichbedeutend mit einer Aufforderung zum Lügen sein. Der Verteidiger habe sich vielmehr bei der Darstellung der rechtlichen Möglichkeiten "stimulationsneutral " zu verhalten. 26 Neuerdings scheint sich auch Fezer vorsichtig in Richtung eines "Lügerechts" des Strafverteidigers zu bewegen. Er äußert sich dahingehend, daß der Verteidiger einen Beschuldigten zumindest zum Lügen anstiften dürfe, ohne sich wegen Strafvereitelung strafbar zu machen. 27 Es könne nämlich zwischen der Anstiftung zu schweigen und der Anstiftung, die Unwahrheit zu sagen, insoweit kein Unterschied gemacht werden. 28 Selbst wenn ein Lügeverbot des Verteidigers strafprozessual begründet werden und die Mißachtung dieses Verbotes zur Strafbarkeit nach § 258 StGB führen könnte, so müßte das Lügeverbot des Verteidigers von der Anstiftung des Beschuldigten, von dessen Lügerecht Gebrauch zu machen, strikt unterschieden werden. 29
22 Paulus, NStZ 1992, S. 310. 23 Obgleich Kühne ein Vertreter der Organtheorie ist. vgl. Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 82. 24 Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 91.1. 25 Vgl. Kühne, Strafprozeßlehre (3. Auflage), Rn. 91.1. 26 Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 91.1. 27 Fezer, Stree-/Wessels-Festschrift, S. 681. 28 Fezer, Stree-IWessels-Festschrift, S. 681. 29 Fezer, Stree-IWessels-Festschrift, S. 682.
B. Sonderfonnen der Interessentheorie
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B. Sonderformen der Interessentheorie I. Das Autonomieprinzip Welps Auch Welp, der zur Rechtsstellung des Verteidigers ein eigenständiges Konzept vertritt (sog. Autonomieprinzip Welps), lehnt die herrschende Organtheorie ab und sieht in der Beistandsfunktion des Strafverteidigers dessen einzige Aufgabe. Zur Funktion eines Strafverteidigers legt Welp dar, daß der Verteidiger die Aufgabe habe, durch die streng einseitige Akzentuierung aller zu Gunsten des Beschuldigten sprechender Umstände Beistand zu leisten. Die Mitwirkung des Strafverteidigers an einem gerechten Urteil sei ein bloßer Reflex dieser Funktion. Der Verteidiger als "Wahrer partikulärer Beschuldigteninteressen" sei kein Organ der Rechtspflege, sondern "Interessenvertreter" . 30 Die Aufgabe der Strafverteidigung umschreibt Welp als "Wahrnehmung selbstdeflnierter prozessualer Interessen aus eigenem Recht, wenn die Autonomie das Grundgesetz der prozessualen Stellung des Beschuldigten ist." 31 Im Gegensatz zu anderen Vertretern der Interessentheorie zieht jedoch Welp die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers (verstanden als "Lügeverbot") in keiner Weise in Zweifel und vertritt hierzu die Ansicht, daß man dem Beschuldigten anderenfalls - würde man ein solches Lügeverbot des Verteidigers nicht anerkennen - einen Gefolgsmann verschaffen würde, für den die arglistige Tatsachenverdrehung und die Beseitigung oder Verfälschung von Beweismitteln ein tägliches Arbeitsmittel wäre. 32 Die Auffassung, daß die Verteidigung ihre Aufgabe nicht mit Mitteln der Unwahrheit erfüllen dürfe, erklärt Welp als für eindeutig mit der Theorie der Interessenvertretung vereinbar. Die Beistandsfunktion des Strafverteidigers werde eben durch seine prozessuale Wahrheitspflicht begrenzt. 33 11. Das Vertragsprinzip Lüderssens Lüderssen entwickelte mit seinem sog. "Vertragsprinzip" einen Lösungsansatz völlig eigener Art. 34 Dieses Prinzip sei Ausdruck der allmählich durch30 Welp, ZStW 90 (1978), S. 828. 31 Welp, ZStW 90 (1978), S. 117. 32 Welp, ZStW 90 (1978), S. 818. 33 Welp, ZStW 90 (1978), S. 819. 34 Ausführlich dazu Lüderssen in der Neukommentierung der §§ 137 ff. StPO des Großkommentars Löwe-Rosenberg, vgl. LR-Lüderssen, 24. Auflage, Vor § 137 Rn. 33 ff.; zustimmend bisher nur: Scholderer, StV 1993, S. 229.
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gesetzten Anerkennung der Autonomie des Beschuldigten, also des Umstands, daß die zentrale Norm - § 137 StPO - dem Beschuldigten das Recht gebe, sich " . .. des Beistandes eines Verteidigers" zu "bedienen". 35 Nach der Auffassung Lüderssens wäre die Respektierung der Subjektrolle des Beschuldigten nur halb vollzogen, wenn der beistehende Verteidiger die dienende Rolle verlassen würde und etwas ohne oder gar gegen den Willen des Beschuldigten tun dürfte. 36 Da unsere Rechtsordnung auf der anderen Seite - abgesehen vielleicht von familiären Rechten - private Positionen nicht als Basis genuiner Abhängigkeitsverhältnisse anerkenne, bleibe für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Beschuldigtem und Verteidiger nur die - für die gesamte Privatrechtsgesellschaft typische - Rechtsform des Vertrages. 37 Konsequenterweise verneint Lüderssen auch die Unabhängigkeit des Verteidigers vom Beschuldigten, da der Verteidiger aufgrund seiner vertraglichen Bindung grundSätzlich an dessen Weisungen gebunden sei (vgl. §§ 611, 675 BOB i.V.m. § 665 BOB). 38 Ausnahmen von dieser Weisungsgebundenheit des Strafverteidigers sollen sich jedoch nach der dargestellten Konzeption im Einzelfall aus den §§ 134, 138 BOB sowie aus § 276 BOB ergeben. 39
c. Die Kritik an der Interessentheorie Wirft man einen unbefangenen Blick in unsere Strafverfahrensordnung und hier insbesondere auf die Vorschrift des § 137 Abs. 1 S. 1 StPO, wonach sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers bedienen kann, dann fragt man sich unweigerlich, warum sich die Parteiinteressentheorie nicht gegen die herrschende Organtheorie durchsetzen konnte. Auf den ersten Blick scheinen doch sehr viele Argumente für die Verteidigerkonzeption der reinen Interessenvertretung zu sprechen, so beispielsweise die ausdrückliche gesetzliche Normierung der Beistandsfunktion der Verteidigung in § 137 Abs. 1 S. 1 StPO,
35 LR-Lüderssen, 36 LR-Lüderssen, 37 LR-Lüderssen, 38 LR-Lüderssen, 39 LR-Lüderssen,
Vor Vor Vor Vor Vor
§ § § § §
137 137 137 137 137
Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.
33. 33. 33. 35 f. 36 f.
C. Die Kritik an der Interessentheorie
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das Fehlen einer ausdrücklichen, gesetzlichen Anbindung der Strafverteidigung an "öffentliche" Interessen, das Recht des Beschuldigten als Subjekt des Strafprozesses eigenverantwortlich über seine Interessen und seine Verteidigungsstrategie zu bestimmen (sog. Autonomieprinzip 40) und schließlich die Aufgabe der Strafverteidigung, die entsprechend der Rechtsprechung des BGH darin besteht, den Beschuldigten vor Anklage, Verhaftung und Verurteilung zu schützen. 41 Trotz all dieser Gesichtspunkte, die scheinbar eindeutig für das Verteidigerkonzept der Parteiinteressentheorie sprechen, konnte sich dieses Verteidigerbild jedoch bislang weder im Geltungsbereich der StPO noch in anderen Ländern durchsetzen. Diesen Umstand belegte Madlener in ausführlicher Weise im Rahmen einer rechtsvergleichenden Studie zur Institution des Verteidigers. Überblicke man - so Madlener - die verschiedenen Versuche, die Stellung der Anwaltschaft zu bestimmen, so falle auf, daß ein gewisser Gleichklang herrsche. Offensichtlich bestehe überall 42 das Bestreben, den Anwalt nicht in die Rolle eines reinen Interessenvertreters und Gegenspielers der Justiz ab sinken zu lassen. 43 Wenn nun aber der Rechtsanwalt im allgemeinen und der Strafverteidiger im besonderen nirgends als reiner Interessenvertreter des Beschuldigten angesehen werde, seien Refonnvorschläge, die auf eine so singuläre Ausrichtung der Verteidigerrolle abzielten, besonders kritisch zu prüfen. 44 Warum also konnte sich die vordergründig so einleuchtende Interessentheorie letztlich nicht durchsetzen? Im folgenden sollen die wichtigsten Argumente zusammengestellt werden, die gegen die Interessentheorie ins Feld geführt werden:
40 Der Arbeitskreis Strafprozeßreform bezeichnet als Autonomieprinzip den Grundsatz, daß der Beschuldigte, weiler regelmäßig am besten weiß, wie seine Verteidigung aussichtsreich zu führen ist, frei und ohne Einflußnahme durch den Staat entscheiden soll, wie er sich verteidigen will (vgl. Arbeitskreis Strafprozeßrejorm, Die Verteidigung, S. 59). 41 Vgl. BGHSt 29, 99, 102. 42 Untersucht wurden die Länder Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Österreich, Belgien, Frankreich, Holland, Italien, Spanien, England, USA und Schweden. 43 Madlener, ZStW 93 (1981), S:287. 44 Madlener, ZStW 93 (1981), S. 288 und 289.
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I. Der Verlust der Gegenpolfunktion (Waffengleichheit) durch Autoritätsverlust Zur "Waffengleichheit" zwischen Anklage und Verteidigung als Ziel des Strafverfahrens bekannte sich das BVerfG ausdrücklich mit Beschluß vom 08.10.1974, in dem es heißt: "Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher "Waffengleichheit" von Ankläger und Beschuldigten gekennzeichnet und dient damit in besonderem Maße dem Schutz des Beschuldigten, für den bis zur Verurteilung die Vermutung seiner Unschuld streitet." 45 Insbesondere dieses Verfahrensziel der prozessualen "Waffengleichheit" 46 sieht beispielsweise Seier in Gefahr. Er argumentiert, eine Herabstufung des Verteidigers zum bloßen Interessenvertreter hieße, ihn zum Werkzeug, ja zum Komplizen des Beschuldigten zu diskreditieren. Ein Autoritäts-, Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust wäre die unausweichliche Folge. Damit wäre gleichzeitig der Verteidiger seiner wesentlichsten Funktion, nämlich in einem fairen Verfahren für Waffengleichheit zu sorgen und einen ausgleichenden, effektiven Gegenpol zur Staatsanwaltschaft zu bilden, weitgehend entkleidet, da das Gericht einen nicht ins Recht eingebetteten und nicht der Wahrheit verschriebenen Helfershelfer des Angeklagten kaum ernstnehmen werde. 47 In ganz ähnlicher Weise äußerte sich Hanack anläßlich einer Kritik zum Gesetzesentwurf "Die Verteidigung" des Arbeitskreises Strafprozeßreform zum Autoritätsverlust eines Verteidigers, der einzig und allein den Interessen des Beschuldigten verpflichtet wäre. Die Folgen hinsichtlich der psychologischen Stellung in der Strafrechtspflege, also des Gewichts der Worte und Handlungen des Strafverteidigers, könnten hierbei überhaupt nicht schwer genug eingeschätzt werden. Es handle sich um einen katastrophalen Rückschritt in der historischen Entwicklung. 48 Auch Jolmes sieht die OrgansteIlung des Verteidigers als eine unabdingbare Voraussetzung für eine effektive Interessenwahrnehmung des Beschuldigten. 49 Erst die OrgansteIlung garantiere dem Verteidiger, daß er und sein Mandant nicht als eine Einheit betrachtet würden, so daß dem Verteidiger auch niemals die Komplizenschaft unterstellt werden könne. Eine solche Komplizenschaft, die dem Verteidiger leichter zu unterstellen sei, 45 BVerfGE 38, 105, 111. 46 Näher zu diesem Prinzip auch Müller, NJW 1976, S. 1063 ff. 47 Seier, JuS 1981, S. 806. 48 Hanack, ZStW 93 (1981), S. 564. 49 Jolmes, Der Verteidiger im deutschen und im österrcichischen Strafprozeß, S. 145.
c.
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wenn er nicht als Organ der Rechtspflege, sondern als Partei im Strafprozeß angesehen werde, müsse - so Jolmes - dazu führen, daß die faktischen Befugnisse des Verteidigers gemindert würden. 50 Der Verteidiger könne sich dann nämlich nicht des Verdachtes erwehren, in völliger Konkordanz zum Beschuldigten zu stehen. Im Interesse des Beschuldigten dürfe sich der Verteidiger daher niemals in seinen Prozeßhandlungen mit dem Beschuldigten identifizieren. 51 Die Konsequenz der Theorie vom Parteiinteressenvertreter sei letztendlich das Schwinden der prozessualen Befugnisse des Verteidigers. 52
n. Der Verlust der Unabhängigkeit und die dadurch erfolgende Schwächung der Beistandsfunktion
Wollte man mit der Parteiinteressentheorie wirklich ernst machen und den Verteidiger unter uneingeschränkter Anerkennung der Autonomie des Beschuldigten ausschließlich an dessen selbstdefinierte Interessen des Beschuldigten binden, müßte man unvermeidlicherweise auch den Verlust der Unabhängigkeit des Strafverteidigers von seinem Mandanten in Kauf nehmen. Dieser Verlust der Unabhängigkeit würde jedoch letzten Endes zu einer Schwächung der Beistandsfunktion führen, obwohl die Vertreter der Interessentheorie ja gerade die unumstritten bestehende Beistandsfunktion des Verteidigers entscheidend stärken wollten. Zu diesem Gesichtspunkt führt beispielsweise Eser aus, daß eine Korrektur des herrschenden Verteidigerbildes in Richtung eines einseitigen, eventuell weisungsabhängigen "Beschuldigtenvertreters" wohl nicht in Betracht komme. 53 Gerade für einen desorientierten, aber dafür umso verbohrteren Beschuldigten könne es nämlich sehr nützlich sein, wenn auch gegen seinen Willen ein Verteidiger entlastend für ihn tätig werden müsse, ganz zu schweigen davon, daß ein "beschuldigtenhöriger" Strafverteidiger leicht jede eigene Autorität gegenüber dem Gericht verlieren könne. 54 Auch Pfeiffer greift den Aspekt des Verlustes der Unabhängigkeit des Strafverteidigers auf und betont, daß die Unabhängigkeit des Anwalts von seinem Mandanten eine mindestens ebenso große Bedeutung habe wie seine Unabhängigkeit vom Staat. Der Strafverteidiger dürfe 50 Jo/mes, Der Verteidiger im deutschen und im österreichischen Strafprozeß, S. 144 und 145. 51 Jolmes, Der Verteidiger im deutschen und im österreichischen Strafprozeß, S. 145. 52 Jolmes, Der Verteidiger im deutschen und im österreichischen Strafprozeß, S. 145. 53 Eser, Strafprozeßrecht, S. 175. 54 Eser, Strafprozeßrecht, S. 175.
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sich niemals zum Interessenvertreter , gewissermaßen zum Sprachrohr seines Mandanten herabwürdigen lassen, da er auf diese Weise die gerade im Strafverfahren notwendige Distanz zu Mandant und Tatvorwurf verlöre und er ohne diese Distanz nicht dazu in der Lage wäre, ein wirkungsvoller Beistand zu sein. 55 Ebenso gehört für Ernesti die Unabhängigkeit des Verteidigers zu den Grundlagen des Strafverfahrens. Er befürchtet, daß die Verwandlung des Verteidigers zum Interessenvertreter diesem die Unabhängigkeit verstellen, ja nehmen würde, obwohl dies von den Vertretern der Interessentheorie nicht gewollt, vielmehr eine neue Unabhängigkeit beabsichtigt wäre. Es handle sich daher bei der Ablösung der Bindungen als Organ der Rechtspflege nur um eine scheinbare Befreiung, die den Verteidiger seiner bisherigen Stellung entkleiden, ihn jedoch in andere Bindungen geraten lassen würde. Als verteidigender Teil der Rechtspflege müsse der Rechtsanwalt sich unabhängig halten, wobei der Verteidiger diese Unabhängigkeit nicht nur hinsichtlich des Staates, sondern auch hinsichtlich des Beschuldigten selbst zu wahren habe. 56 Leitbild des Verteidigers sei nicht der Parteigänger, sondern der Anwalt, der in völliger Unabhängigkeit auch seinem Mandanten gegenübertrete. 57 Erst diese Unabhängigkeit gestatte dem Verteidiger das Zusammenwirken mit den anderen Organen der Rechtspflege, wobei diese Zusammenarbeit notwendig sei, wenn der Strafverteidiger das Interesse des Mandanten auf Dauer effektiv durchsetzen wolle. 58 Die Unabhängigkeit des Strafverteidigers vom Beschuldigten sieht schließlich auch Gössel in höchstem Maße gefährdet. Wer vom Verteidiger, wie dies neuerdings vereinzelt geschehe, verlange, daß er sich bedingungslos mit seinem Mandanten solidarisieren müsse und um jeden Preis nur dessen Interessen zu verfolgen habe, der führe die Verteidigung in jene aus dem Inquisitionsprozeß bekannte fatale Lage, die schließlich zum Extrem der Abschaffung der freien Advokatur führte. 59 Dieses Verlangen nämlich würde den Verteidiger zum bedingungslosen Diener der Interessen des Beschuldigten machen und müßte dem Verteidiger z.B. auch das Recht zugestehen, bewußt "falsche" Entlastungszeugen zu benennen, vor Gericht wider besseres Wissen die Unwahrheit zu sagen und sogar Beweismittel zu verfälschen und zu unterdrücken." 60 Nach der Auffassung von Gössel führen, wie 55 Pfeiffer, DRiZ 1984, S. 342. 56 Emesti, IR 1982, S. 228. 57 Emesti, IR 1982, S. 229. 58 Emesti, IR 1982, S. 229. 59 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 33. 60 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 33.
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geschichtliche Erfahrungen lehrten, einseitige Verpflichtungen des Verteidigers, wie etwa auf die Interessen des Beschuldigten oder auf die des Staates, zur Ineffektivität der Verteidigung und in letzter Konsequenz gar zur Abschaffung der Verteidigung. 61
m. Die Anbindung des Strafverteidigers an öffentliche Funktionen als Legitimationsgrundlage seiner weitreichenden Rechte
Krey 62 sieht in der Anerkennung der "OrgansteIlung" des Strafverteidigers - verstanden als Anbindung des Verteidigers an öffentliche Interessen - die eigentliche Legitimation für die "außerordentlich" weitgehenden Befugnisse, die dem Verteidiger seitens der Strafprozeßordnung eingeräumt wurden. Genannt seien an dieser Stelle folgende Rechte: 63 Das dem Verteidiger - unabhängig vom Willen des Beschuldigten und dessen Verteidigungsstrategie - zustehende Beweisantragsrecht nach § 244 Abs. 3 StPO Das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 Abs. 1 StPO Das Recht des Strafverteidigers auf unüberwachten mündlichen und schriftlichen Verkehr mit dem Beschuldigten gemäß § 148 Abs. 1 StPO Diese nach Inhalt und Umfang der Befugnisse machtvolle Verteidigerposition biete so gravierende und vielfältige Möglichkeiten der sachwidrigen Verfahrensverzögerung und sonstigen Verfahrenssabotage (zudem so zahlreiche Möglichkeiten, den Interessen des Beschuldigten zuwiderzuhandeln), daß sie aus rechtsstaatlicher Sicht nur dann tolerabel erscheine, wenn man im Gegenzug akzeptierte, daß der Strafverteidiger auch "Repräsentant öffentlicher Interessen" sei, auch als "Organ der Rechtspflege" fungiere. 64 Da die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege im Hinblick auf die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Verbrechensbekämpfung ein Gebot des Rechtsstaatsprinzips sei, könnte ein einseitiges Verständnis des Verteidigers als eines reinen Vertreters privater Interessen jene machtvolle Verteidi-
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Gössel, ZStW 94 (1982), S. 36. Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 540. Vgl. dazu Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 540. Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 541.
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gerposition nicht legitimieren. 65 Auch Pfeiffer ist der Ansicht, daß man dem Verteidiger ohne die ihm aus seiner OrgansteIlung zukommenden Pflichten, namentlich der Verpflichtung auf Wahrheit und Gerechtigkeit sowie der Teilhaberschaft an einer funktionstüchtigen Rechtspflege, die aus der Organsteilung fließenden Rechte (Akteneinsichtsrecht und Verkehrsrecht, das Recht auf Anwesenheit bei richterlichen Untersuchungshandlungen, das selbständige Antragsrecht) nicht zubilligen könnte. 66 Ebenso vertritt Gössel die Auffassung, daß im Falle einer Verpflichtung des Verteidigers allein auf die privaten Interessen des Beschuldigten, dem Verteidiger alle Verteidigungsrechte genommen werden müßten, die über die Rechte des Beschuldigten hinausgehen. 67 Derselben Ansicht ist Augstein. Er meint, daß niemand glauben solle, es ginge dem Strafverteidiger oder dem Angeklagten besser, wenn der Strafverteidiger nicht mehr Organ der Rechtspflege, sondern reiner Interessenvertreter des Angeklagten wäre. 68 Bisher erhalte der Verteidiger Akteneinsicht, bekomme die Akten grundSätzlich in die Kanzlei, seine Verteidigerpost werde nicht überprüft und er könne mit seinem Mandanten unbeaufsichtigt in der Untersuchungshaft sprechen. Auch unterliege der Verteidiger nicht der Disziplinargewalt des Gerichts und in umfangreichen Verfahren erfolge in den meisten Fällen eine Abstimmung zwischen Gericht und Verteidigung hinsichtlich der Hauptverhandlungstermine. Alle diese Rechte bzw. Annehmlichkeiten seien Ausfluß der OrgansteIlung des Verteidigers. 69 Als reiner Interessenvertreter könne der Verteidiger hingegen keine größeren Rechte beanspruchen als der Angeklagte selbst sie habe. 70 Als Folge davon müßten die Bundesrechtsanwaltsordnung, die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts, die Bundesnotarordnung und die Strafprozeßordnung umgearbeitet werden. 71 Auch andere Praktiker erkennen in zunehmendem Maße die Abhängigkeit der weitreichenden Verteidigerrechte von der Anbindung des Strafverteidigers an "öffentliche" Funktionen. Erst in jüngster Zeit bezog beispielsweise Hamm aus Sicht der Strafverteidiger gegen die Interessentheorie wie folgt Stellung: "Hätte sich diese Theorie durchgesetzt, so würden wir alles (zum Beispiel die Stellung von Beweisanträgen) stets nur "im Namen 65 Krtry, Strafverfahrensrecht I, Rn. 541. 66 Pfeiffer, DRiZ 1984, S. 342. 67 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 33. 68 Augstein, NStZ 1981, S. 54. 69 Augstein, NStZ 1981, S. 54. 70 Augstein, NStZ 1981, S. 54. 71 Augstein, NStZ 1981, S. 54.
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und mit Vollmacht" tun und das Akteneinsichtsrecht wäre wahrscheinlich abgeschafft." 72 Auch Rückel vertritt die Ansicht, daß sich erweiterte Rechte oder Sonderrechte des Verteidigers erst aus dessen Stellung als Organ der Rechtspflege ableiten lassen, wobei die Organstellung den Verteidiger weder von der freien unabhängigen Advokatur loslöse noch ihn in öffentlich-rechtliche Pflichten einbinde. 73 Ebenso erkannte Liemersdorf die wechselseitige Abhängigkeit von öffentlichen Bindungen und Rechten der Strafverteidigung. Liemersdorf meint hierzu, es wäre nur allzu einsichtig, daß das Eingebundensein der Strafverteidigung in die Systematik des bestehenden Rechtsstaats gerade von jungen Anwälten oder von Verteidigern, die an die Unschuld ihrer Mandanten glaubten und dennoch die drohende Gefahr einer Verurteilung sähen, als lästige Fessel empfunden würde. 74 Die Strafverteidiger würden jedoch bald nach Abstreifen solcher "Fessel" merken, daß der Staat, um das Funktionieren der Strafrechtspflege zu garantieren, viele oder alle ihrer Privilegien abbauen und sie als Spießgesellen der Beschuldigten behandeln würde. 75 IV. Die Stärkung der Beistandsfunktion infolge Anerkennung öffentlicher Funktionen Beulke legte hinsichtlich der Verpflichtung des Verteidigers auf öffentliche Funktionen dar, daß die Beistandsfunktion des Strafverteidigers durch Anerkennung der Organstellung letztendlich sogar eine Stärkung erfahre, weil sich gezeigt habe, "daß die Verteidigungsmöglichkeiten sogar zunehmen, wenn der Anwalt im Strafprozeß die Parteiinteressenvertreterstellung verläßt und auch auf die Effizienz der Rechtspflege Rücksicht nehmen muß, weil ihm dann sehr viel weiterreichende Befugnisse eingeräumt werden können." 76 Pfeiffer geht sogar noch einen Schritt weiter als Beulke und betont, daß ohne die aus der Organstellung des Verteidigers folgenden Rechte, namentlich das Akteneinsichts- und Verkehrsrecht, das Recht auf Anwesenheit bei richterlichen Untersuchungshandlungen und das selbständige Antragsrecht der Verteidiger seine Beistandsfunktion überhaupt nicht erfüllen könnte. 77 72 So Hamm, NJW 1993, S. 289, der allerdings auch die Organtheorie entschieden ablehnt. 73 Rücket, NStZ 1987, S. 299. 74 Liemersdorf, MDR 1989, S. 204. 7S Liemersdorf, MDR 1989, S. 204. 76 Beutke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 260. 77 Pfeifter, DRiZ 1984, S. 342.
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V. Die völlige Unbestimmtheit der Beschuldigtenautonomie bzw. der vom Strafverteidiger zu beachtenden Interessen Eine Schwierigkeit, der sich alle Vertreter der Interessentheorie ausgesetzt sehen, ist die Beschreibung und Umgrenzung der "Interessen" des Beschuldigten. Dürkop führte hierzu aus, daß der Begriff des "Mandanten-Interesses" an sich unproblematisch erscheine, weil sich unter dem Begriff "Interessen" jeder etwas vorstellen könne. 78 Bei Lichte betrachtet, könne jedoch niemand so recht sagen, worin die Mandanten-Interessen eigentlich bestehen. 79 Die Antwort darauf bliebe sowohl die juristische als auch die sozialwissenschaftliche Literatur schuldig. 80 Der Arbeitskreis Strafprozeßrefonn verzichtete daher in seinem Refonnvorschlag auch ganz einfach auf eine abschließende Definition der Interessen des Beschuldigten, da dies angeblich auf den Versuch hinausliefe, den Interessen des Beschuldigten eine Art staatlicher Anerkennung zu verschaffen. Vielmehr sei die Aushandlung der im Verfahren vom Verteidiger zu wahrenden Interessen des Beschuldigten der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Verteidiger und Beschuldigtem zu überlassen. 81 Auch Welp, der Strafverteidigung als Wahrnehmung prozessualer Interessen aus eigenem Recht begreift, schränkt ein: "Eine Begrenzung der Verteidigungsinteressen ergibt sich aus dem sie konstituierenden Autonomieprinzip allerdings insofern, als die geistige Basis dieser Autonomie gegeben sein muß, wenn die Entscheidung des Beschuldigten unter dem Aspekt der Fürsorge respektiert werden soll. Fehlt sie deswegen, weil die Bedeutung der Verteidigung in dem anhängigen Verfahren oder die Befähigung zur Selbstverteidigung verkannt wird, so dient ein Zwang zur Verteidigung in der Tat dem Schutz einer defekten Autonomie." 82 Ebenso spricht Lüderssen Weisungen des Mandanten in bestimmten Ausnahmefällen die Verbindlichkeit ab. Der Verteidiger brauche Weisungen des Beschuldigten jedenfalls dann nicht zu befolgen, wenn dieser vom Verteidiger etwas verlange, was - wenn es zum Gegenstand des Vertrages geworden wäre - diesen gemäß §§ 134, 138 BGB nichtig gemacht hätte. 83 So sollen beispielsweise an § 138 BGB Versuche des Mandanten scheitern, dem Verteidiger eine für ihn gleichsam selbstmörderische Strategie 78 Dürkop in Holt/ort: Strafverteidiger als Interessenvertreter, S. 152. 79 Dürkop in Holt/ort: Strafverteidiger als Interessenvertreter, S. 152. 80 Dürkop in Holt/ort: Strafverteidiger als Interessenvertreter, S. 152. 81 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 40. 82 Welp, ZStW 90 (1978), S. 117. 83 LR-Lüderssen, Vor § 137 Rn. 50.
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aufzudrängen. 84 Stern schließlich hält Ausnahmen von der abschließenden Entscheidungskompetenz des Beschuldigten in Fällen "offensichtlich stark venninderter Handlungs- und Beurteilungsautonomie" jedenfalls dann für diskutabel, wenn etwa allein das konkret feststellbare Autonomiedefizit im Einzelfall Veranlassung zur Bestellung des Verteidigers gegeben habe. Dies sei eindeutig nur bei Jugendlichen anzunehmen. 85 Anhand der wiedergegebenen Stellungnahmen zeigt sich eines ganz deutlich: Der Vorsprung an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, den man mittels einer Verpflichtung des Strafverteidigers auf nur mehr ein einziges Ziel - nämlich auf die Interessen des Mandanten - zu gewinnen glaubte, trat nicht ein. Wenn man nämlich die Ziele oder die "Interessen", denen der Verteidiger einseitig verpflichtet sein soll, entweder überhaupt nicht definiert oder aber deren Grenzen in einer Weise festlegt, die jeglichen Deutungen offensteht (vgl. "gute Sitten" in § 138 Abs. 1 BGB; "Fehlen einer geistigen Basis dieser Autonomie"; "offensichtlich stark venninderte Handlungs- und Beurteilungsautonomie"), dann ist - zumindest hinsichtlich des Gesichtspunkts Rechtssicherheit und Rechtsklarheit - gegenüber der herrschenden Organtheorie kein Fußbreit an Boden gewonnen. Den Vertretern der Parteiinteressentheorie ist es nämlich bisher in keiner Weise gelungen, die vom Strafverteidiger ausschließlich wahrzunehmenden Interessen des Beschuldigten in hinreichender Weise zu umschreiben und noch wichtiger - eventuelle Grenzen dieser Interessen aufzuzeigen. Abgesehen davon wird jedoch schon grundsätzlich die Fähigkeit des Beschuldigten, seine Interessen autonom zu bestimmen, stark in Zweifel zu ziehen sein. Die fehlende Distanz zur Tat und dem Tatvorwurf, die Verstrickung in den Prozeß der Verdachtsklärung, die Agonie der Ungewißheit über dessen Ausgang sowie die diskriminierende Wirkung des Verfahrens selbst, sind es, die den Beschuldigten als Interpreten seiner Interessen so wenig empfehlen. 86 Diese strafprozeßspezifisch defekte Autonomie kann nach der Auffassung von Müller nur durch den Beistand eines persönlich nicht vom Tatverdacht betroffenen Beistandes - Verteidigers - wiederhergestellt werden. 87 Meiner Auffassung 84 LR-Lüderssen. Vor § 137 Rn. 38. 85 AK-StPO-Stem. Vor § 137 Rn. 54. 86 Müller, AnwBI. 1981, S. 313. Ganz ähnlich auch die Ausführungen von Rieß. wonach sowohl das Straf- als auch das Strafprozeßrecht in unserer Rechtsordnung so hoch ausdifferenziert und so fachspezifisch seien, daß man ab einer bestimmten Schwierigkeitsschwelle von einer Vermutung für die individuelle Verteidigungsunfähigkeit nahezu jedes Beschuldigten ausgehen müsse. vgl. Rieß, StV 1981, S. 462. 87 Müller. AnwBI. 1981, S. 313. 6 Domach
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
nach rechtfertigt bzw. gebietet diese defekte Autonomie nicht nur die Bestellung eines Beistandes in Form eines Verteidigers, sondern verbietet zum anderen auch eine völlig schrankenlose Abhängigkeit des Verteidigers von den Weisungen des Beschuldigten. Selbst bei optimaler rechtlicher Betreuung und Aufklärung des Beschuldigten seitens des Strafverteidigers wird das beim Beschuldigten - jedenfalls bei schweren Anklagevorwürfen - vorhandene Defizit nicht völlig beseitigt werden können. Die nicht behebbaren Defizite auf der Beschuldigtenseite verbieten es daher von vorneherein, daß man den Verteidiger schrankenlos ausschließlich an die Interessen des Beschuldigten bindet.
VI. Die Inkonsequenz der Interessentheorie Weiterhin müssen sich die Vertreter der Parteiinteressentheorie den Vorwurf der Inkonsequenz gefallen lassen. 88 Beispielhaft sei hier nur der Gesetzesentwurf des Arbeitskreises Strafprozeßreform erwähnt. In § 1 Abs. 1 des Reformvorschlages bindet man den Strafverteidiger einzig und allein an die Interessen des Beschuldigten und erteilt damit der Ansicht, der Verteidiger nehme auch "öffentliche" Funktionen wahr, eine klare Absage. Gleichzeitig erklärt jedoch § 1 Abs. 2 des Reformvorschlags den Strafverteidiger für unabhängig. Hätte man die uneingeschränkte Bindung des Verteidigers an die Beschuldigteninteressen, also die Verwirklichung der Beschuldigtenautonomie, wirklich in letzter Konsequenz gewollt, könnte und dürfte es keine Unabhängigkeit des Verteidigers geben, da sein Handeln eben einzig und allein von den Interessen des Beschuldigten bestimmt würde. 89 In einer Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer zum Gesetzesentwurf des Arbeitskreises Strafprozeßreform wird auch völlig zu Recht auf diese Unstimmigkeit hingewiesen, wenn es dort heißt: "Nimmt man den Entwurf in Abs. 1 Satz 1 beim Wort, müßte der Beschuldigte seine Interessen eigenständig und auch für den Verteidiger verbindlich definieren und bestimmen können. Eine Unabhängigkeitsgarantie auch und gerade gegenüber dem Beschuldigten - wie sie in Abs. 2 statuiert wird - relativiert die Pflicht, die Interessen des Beschuldigten zu vertreten. Schon in seiner ersten Vorschrift kommt der Entwurf daher nicht ohne Friktionen aus." 90 88 Ausgenommen sei hier das Vertragsprinzip Lüderssens. 89 In diesem Sinne bereits 1979 Beulke in Schreiber: Strafprozeß und Reform, S. 41 und Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 77. 90 BRAK-Stellungnahme, S. 3.
C. Die Kritik an der Interessentheorie
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VB. Realitätsfremde Überbetonung der Beschuldigtenautonomie Von den Vertretern der Parteiinteressentheorie wird die Fähigkeit des Beschuldigten, seine Interessen eigenständig zu deftnieren (sog. Beschuldigtenautonomie) in nicht nachvollziehbarer Weise überschätzt und idealisiert. 91 Man geht ersichtlich von einem Beschuldigten aus, der - eine eingehende und fachkundige Beratung durch den Strafverteidiger unterstellt intellektuell dazu in der Lage ist, in eigener Person bzw. im Zusammenwirken mit seinem Verteidiger eine sachkundige Verteidigungsstrategie zu entwerfen. Dieses Bild und die Idee vom völlig "autonomen" Beschuldigten, der selbst am besten dazu in der Lage ist, seine Interessen zu bestimmen und diese dem Verteidiger zu vermitteln, ist in der Tat bestechend. Es hat nur einen Nachteil: Es stimmt mit der Rechtswirklichkeit nicht überein. So gibt beispielsweise Dürkop Ergebnisse von Untersuchungen im englischsprachigen Raum wieder, nach denen nur eine kleine Gruppe der Befragten, nämlich 15,1 %, überhaupt dazu in der Lage waren, strategisch zu handeln. 92 Unter den Probanden dominierten die Passiven, sich allen Verfahrensvorgängen Unterwerfenden (32,1 %), gefolgt von den Personen, in deren Verhalten keine Anzeichen strategischen Handeins und des Bewußtseins eigener Rechte festgestellt werden konnten (19,7 %). _93 Selbst wenn man die Ergebnisse dieser Untersuchungen für Deutschland nicht voll übernehmen will, zeigt sich doch die Tendenz, nämlich die weitgehende Unfähigkeit des Beschuldigten zu einer überlegten, den konkreten Verhältnissen angepaßten Festlegung der besten Verteidigungsstrategie. Wer in Kenntnis dieser Umstände den Strafverteidiger blindlings an die autonom bestimmten Vorgaben des Beschuldigten binden will, der tut weder dem konkret betroffenen Beschuldigten noch der EffIzienz der Strafverteidigung an sich einen Gefallen.
vm. Schwächung der Beistandsfunktion durch Einräumung eines Lügerechts
In dem Umstand, daß die Vertreter der Interessentheorie, wenn auch in unterschiedlichem Maße, dem Verteidiger das Recht zur Lüge zuerkennen, liegt nach der Auffassung Roxins ein ganz wesentliches Bedenken gegen die91 Vgl. auch Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 72. 92 Dürkop in Holtfon: Strafverteidiger als Interessenvertreter, S. 156. 93 Dürkop in Holt/on: Strafverteidiger als Interessenvertreter, S. 156. 6"
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
ses Verteidigerbild. 94 Ein solches Recht würde den Verteidiger zum einen in Mißkredit bringen und zum anderen würde sich ein solches Lügerecht auch in rechtspolitischer Hinsicht unglücklich auswirken. 95 Zu letzterem Gesichtspunkt meint Roxin zutreffend, daß die geforderten, wesentlich erweiterten Verteidigerrechte im Ermittlungsverfahren 96 nicht durchsetzbar wären, müßte man den Strafverteidiger als den rechtskundigen Komplizen des Beschuldigten ansehen. 97 Abgesehen davon würde natürlich auch die Effektivität der Verteidigung des Beschuldigten letztlich unter einem Lügerecht des Verteidigers zu leiden haben, würde man von der derzeit nahezu unbestrittenen Wahrheitspflicht des Verteidigers abrücken. 98 Völlig zu Recht meint auch Bottke: "Dürfte ein Verteidiger mit jedem "geistigen Mittel" kämpfen, lügen, sich die Lügen seines Mandanten zu eigen machen, für den Beschuldigten falsche Alibis oder unwahre Tatsachenbehauptungen konstruieren, Zeugen in falschen Aussagen bestärken oder mit dem Mitbeschuldigten unwahre Schutzbehauptungen absprechen, wäre eine solche Verteidigung auf lange Sicht inakzeptabel." 99 Eine von der Wahrheitspflicht entfesselte Strafverteidigung würde in einem fairen Strafverfahren, dem an Straftatverfolgung und Strafverteidigung gelegen sei, sowohl den Erfordernissen effektiver Strafrechtspflege als auch den wohlverstandenen Belangen wirksamer Strafverteidigung widersprechen. 100 Dürfte sich ein Strafverteidiger die Lügen seines Mandanten zueigen machen, an dessen sanktionslosen Strafvereitelungsversuchen teilnehmen oder gar eigene Strafvereitelungshandlungen straffrei vornehmen, wäre eine Verteidigung mit weitgespannten Rechten auf die Dauer gesehen nicht tolerierbar. 101 Eine solche Art von Strafverteidigung würde unserer Strafrechtspflege einen nennenswerten Beitrag zum Rechtsgüterschutz verunmöglichen und wegen ihres schlechten Beispiels mehr Schaden als Nutzen stiften. 102 Auch die Strafverteidigung selbst hätte an einer solchen Entwicklung kein Interesse mehr, weil die Strafverfolgungsbehörden einem lügeoder strafvereitelungsberechtigten Verteidiger kaum je Glauben schenken und 94 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 11. 95 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 11. 96 Auf das Defizit der VerteidigersteIlung im Bereich des Vorverfahrens weisen auch Jung, StV 1990, S. 516 und Ihomos, AnwBI. 1986, S. 56 ff. hin. 97 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 11. 98 Vgl. zur Wahrheitspflicht des Verteidigers die Nachweise unter Fußnote 15 in Kapitel 3. 99 Bottke, ZStW 96 (1984), S. 750 und 751. 100 Bottke, IR 1984, S. 300. 101 Bottke, IR 1984, S. 300. 102 Bottke, IR 1984, S. 301.
D. Abschließende Stellungnahme zur Parteiinteressentheorie
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die vom Verteidiger beigebrachten Beweismittel (man denke beispielsweise an Entlastungszeugen) von vorneherein mit äußerstem Argwohn betrachtet würden. 103 Eine weitere Folge wäre auch, daß der Gesetzgeber in Bälde entweder expressis verbis eine Wahrheitspflicht des Verteidigers statuieren oder aber die Verteidigung einschneidender Überwachung unterwerfen würde. 104 Die den Verteidiger bindende Wahrheitspflicht erweise sich daher als Korrelat einer effektiven und weitgehend unüberwachten Verteidigung mit umfassenden Beteiligungsrechten, wie sie einem fairen Strafverfahren eigen sei. 105 Eine Bestätigung erfahre die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers positivrechtlich durch § 138 a Abs. 1 Nr. 3 StPO i.V.m. § 258 StGB, da ohne Wahrheitspflicht und ohne das sie ergänzende Verbot strafvereitelnder Akte die dort verankerte Ausschlußregel leer liefe. 106 In der Tat kann den Ausführungen Bottkes nur voll zugestimmt werden, wobei mir der Gesichtspunkt effektiver Strafverteidigung, also die Wahrung der gesetzlich normierten Beistandsfunktion nach § 137 StPO, am wichtigsten erscheint. Wer auf Dauer eine wirklich effektive Verteidigung des Beschuldigten aufrechterhalten und garantieren will, kann an einem Lügerecht des Strafverteidigers kein Interesse haben. Wer nämlich würde einem Verteidiger noch Glauben schenken, wäre dieser erst einmal als "Lügner" bekannt und damit in den Augen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft zum "Helfershelfer und Komplizen" des Beschuldigten abgestempelt? Wer wird den Äußerungen eines solchen Verteidigers noch Gewicht beimessen, wenn er beispielsweise im Rahmen des Schlußvortrags die vorliegenden Beweise anzweifelt und die "guten Seiten" seines Mandanten würdigend hervorhebt? Auf lange Sicht wird jedenfalls ein "lügeberechtigter" Verteidiger dem Beschuldigten mehr schaden als nützen. Wer dem Strafverteidiger das Lügen gestattet, der schadet nicht nur dem Ansehen der Verteidiger, sondern er schadet - weit wichtiger und inakzeptabel - dem von ihm zu Beschützenden, nämlich dem Beschuldigten.
D. Zwischenergebnis und abschließende Stellungnahme zur Parteiinteressentheorie Die Interessentheorie, die das Prinzip der Autonomie des Beschuldigten uneingeschränkt verwirklichen und damit die von der Strafprozeßordnung in § 103 Battke, 104 Battke, 105 Battke, 106 Battke,
JR JR JR JR
1984, 1984, 1984, 1984,
S. S. S. S.
301. 301. 301. 301.
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
137 Abs. 1 ausdrücklich erwähnte Beistandsfunktion des Strafverteidigers entscheidend stärken wollte, konnte sich zu Recht nicht durchsetzen. Zu stark wiegen die Nachteile, die dieses Verteidigerkonzept mit sich bringen würde. Erhebt man nämlich die Beschuldigtenautonomie uneingeschränkt zum obersten Leitprinzip der Strafverteidigung und erkennt man grundsätzlich jedes Interesse des Beschuldigten als schützenswert an, so tut man der Verteidigung und dem Beschuldigten letztlich nichts Gutes. Insoweit ist Krey voll beizupflichten, der den Standpunkt derer, die den Verteidiger ausschließlich als Interessenvertreter des Beschuldigten sehen und seine Organstellung leugnen, zugleich aber alle geltenden Verteidigerrechte beibehalten oder gar noch die Verteidigerbefugnisse ausweiten möchten, als bestenfalls blauäugig charakterisiert. 107 Insbesondere folgende Argumente sprechen entscheidend gegen den Ansatz der Interessentheorie: I. Der Verlust der Unabhängigkeit des Verteidigers Sähe man die Aufgabe des Strafverteidigers allein in der Durchsetzung der Beschuldigteninteressen, so würde diese einseitige Bindung in letzter Konsequenz zum vollständigen Verlust der Unabhängigkeit des Verteidigers gegenüber seinem Mandanten führen. 108 So wäre es einem Verteidiger, der nur die selbstdefinierten Interessen des Beschuldigten zu verwirklichen hätte, selbst im Falle schwerster Anklagevorwürfe nicht erlaubt, Beweisanträge hinsichtlich der Vernehmung von Alibizeugen zu stellen, wenn der Angeklagte diese Zeugen - aus welchen Motiven auch immer - aus dem Prozeß heraushalten möchte. 109 Auch ein unwahres Geständnis des Mandanten, das dieser etwa aus Geltungsbedürfnis oder aus Angst abgelegt hätte, würde den Strafverteidiger absolut binden. 110 Würde man also die Verwirklichung der Autonomie des Beschuldigten zum einzigen Leitprinzip der Strafverteidigung erheben, so käme es gerade in den Problemfalien, also in den Fällen einer Kollision zwischen den Interessen des Beschuldigten mit dem Interesse der Rechtsgemeinschaft an einer möglichst guten Verteidigung eben dieses Beschuldigten, zu 107 Krey, Strafverlahrensrecht I, Rn. 543. 108 Ein weiteres Problem, dem hier leider nicht näher nachgegangen werden kann, spricht Beulke in StV 1987, S. 458 an: Wie würde sich ein solcher Verlust der Unabhängigkeit des Verteidigers beispielsweise im Jugendstrafveifahren auswirken? Wessen Weisungen wären letztlich ausschlaggebend und bindend, wenn die Eltern, die den Verteidiger beauftragt haben, eine völlig andere Verteidigungsstrategie verlolgten als der Beschuldigte? 109 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 232. 110 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 232.
D. Abschließende Stellungnahme zur Parteiinteressentheorie
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dem völlig absurden Ergebnis, daß es möglicherweise Aufgabe des Strafverteidigers wäre, sehenden Auges ein Fehlurteil zuungunsten seines Mandanten herbeizuführen. ll. Der Verlust der Autorität und der Glaubwürdigkeit des Strafverteidigers Hätte der Verteidiger einzig und allein die Ziele des Mandanten zu verfolgen, würde er zu dessen Handlanger und Spießgesellen herabgewürdigt. Dies führte nicht nur zu einem Glaubwürdigkeits- und Autoritätsverlust, sondern letzten Endes zu einer nicht hinnehmbaren Schwächung der Beistandsfunktion und damit der Effektivität der Strafverteidigung. Gesteht man dem Strafverteidiger schließlich noch das Recht zu, Lügen für seinen Mandanten zu erfmden bzw. in eigener Person zu lügen, so untergräbt man dessen Autorität und die Effektivität seiner Beistandsfunktion vollends: Welches Gericht nähme einen Verteidiger länger ernst, der mindestens im Konfliktsfall als "Märchenerzähler" 111, "Alibi-Erfmder" und "Lügenbold" tätig würde? Wer solche Rechte des Verteidigers ernstlich einfordert, der erzwingt eine scharfe Reaktion des Gesetzgebers, die letztlich dazu führen wird, daß der Verteidiger in eine reine Statistenrolle gezwängt wird. Der Gesetzgeber würde, setzte sich in der Literatur die Auffassung durch, daß dem Verteidiger ein Lügerecht zukommt, entweder ausdrücklich eine Wahrheitspflicht festschreiben oder aber zu Lasten effektiver Verteidigung einschneidende Rechtsminderungen anordnen, da er das Individualinteresse eines Beschuldigten, dank der Lügen seines Verteidigers einer verdienten Strafe zu entgehen, keinesfalls höher bewerten könnte als das Interesse an effektiver Strafverfolgung und das Interesse jedes potentiell Beschuldigten an einer Strafverteidigung, deren Vorbringen bei den Strafverfolgungsorganen auch Gehör fmdet, also letztlich dem Interesse an einer effektiven Strafverteidigung. 112 ID. Die Gefahr des Verlustes der spezif"lScben Verteidigerrechte Würde man der Interessentheorie folgen und jegliche Anbindung des Verteidigers an "öffentliche" Funktionen ablehnen, so bestünde die realistische Gefahr des Verlustes der Rechte, die die Strafprozeßordnung nicht dem Beschuldigten, sondern allein dem Verteidiger zuerkennt. Ist der Verteidiger 111 Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung durch den Verteidiger, Rn. 71. 112 Völlig richtig Bonke, ZStW 96 (1984), S. 751 und 752.
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
reiner Parteiinteressenvertreter könnten ihm nämlich nicht mehr Rechte zugestanden werden als dem Beschuldigten selbst. Die daraus folgende Schwächung der Beistandsfunktion des Verteidigers ist offensichtlich. Vollkommen zu Recht führt Müller unter der Überschrift "Freiheit gegen Vertrauen" zu diesem Aspekt aus: "Der Gesetzgeber steht immer vor der Alternative, die Befugnisse des Strafverteidigers weit zu bemessen in der Erwartung, daß sie nicht der Sache zuwider ausgeübt werden, oder Vorkehrungen gegen Mißbräuche durch restriktive Fassung der Verteidigerrechte zu treffen. Indem der Gesetzgeber dem Verteidiger eigene, selbständige jedenfalls über die des Beschuldigten hinausgehende - prozessuale Befugnisse einräumt, vermutet er oder setzt er eine - wie auch immer geartete - personale Integrität des Verteidigers voraus. Wird er in dieser Erwartungshaltung enttäuscht, reagiert er eventuell restriktiver als nach der Sachlage veranlaßt. Mit anderen Worten: Der Gesetzgeber verfolgt, ob und inwieweit sein Vertrauensvorschuß eingelöst wird." 113 In dieselbe Richtung gehen auch die Ausführungen von Rieß, der bemerkt, daß der Umfang, in dem dem Verteidiger selbständige - und über die des Beschuldigten hinausgehende - prozessuale Befugnisse eingeräumt werden können, von der rechtlich begründeten Erwartung abhängig sei, daß der Verteidiger diese Rechte nicht zur Verfahrenssabotage mißbrauchen werde. Insofern erfordere der Vertrauensvorschuß der Rechtsordnung in die Korrektheit des Verteidigerhandelns dessen rechtliche Bindung und verlange die Sanktionierung illegalen Verhaltens. 114
E. Spezielle Kritik an der Vertragstheorie I. Kritik in der Literatur
Roxin lehnt das Vertragskonzept Lüderssens als mit dem geltenden Recht nicht vereinbar ab, weil eine dem Beschuldigten gegen seinen Willen aufgezwungene notwendige Verteidigung (vgl. §§ 140 ff. StPO) aus dem Vertragsprinzip kaum zu erklären sei und die gesetzlichen Regelungen unseres Strafverfahrensrechts einer Vertretung des Beschuldigten durch den Verteidiger vielfach entgegenstünden. 115 Barton teilt zwar die Auffassung Lüderssens, daß allein der Beschuldigte das Recht zur Bestimmung der Verteidi113 Müller, AnwBI. 1981, S. 314.
114 Rieß, Schäfer-Festschrift, S. 201. 115 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19
Rn. 4.
E. Spezielle Kritk an der Venragstheorie
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gungskonzeption habe, soweit ein gültiger Vertrag vorliege und die §§ 134, 138 BGB nicht entgegenstünden 116, führt aber im Anschluß daran aus, daß Lüderssens rigorose Ablehnung einer öffentlich-rechtlichen Komponente der Strafverteidigung mit dem geltenden Recht unvereinbar sei. 117 Es gäbe ein öffentlich-rechtliches Interesse an einer in Mindestmaßen wirksamen Verteidigung, das dazu führe, daß eine "Kompetenz-Mindestgrenzen" unterschreitende Strafverteidigung nicht hinnehmbar sei. 118 Kritisch äußert sich zur Vertragstheorie auch Hamm mit dem Hinweis, daß sich wegen Lüderssens starker Betonung der SubjektsteIlung des Beschuldigten sowie der Notwendigkeit des Ausgleichs von Autonomiedefiziten eigenständige Rechte des Verteidigers nur mit "Mühe und Not" begründen ließen. 119 Auch Eisenberg lehnt das Vertragsprinzip Lüderssens, "das den Verteidiger gleichsam als abhängig Beschäftigten den Weisungen des Beschuldigten unterstellen möchte", ab. 120 Zum einen erscheine bei einer derartigen Privatisierung der Belange effektiver Strafverteidigung zwecks Wahrung der Seriösität eine Bindung an standesrechtliche Pflichten und eine Begrenzung der Weisungsabhängigkeit angezeigt. 121 Zum anderen bestünden Bedenken sowohl hinsichtlich der Angemessenheit einer solchen Privatisierung wie auch hinsichtlich der Annah116 Banon, StV 1990, S. 238. Der Hinweis Banons, daß das Weisungsrecht des Beschuldigten - bezogen auf das Venragsinnenverhälmis zwischen ihm und dem Verteidiger - geltendes Recht sei, ist jedoch nicht zutreffend. Die zivilrechtlich begründete Weisungsbefugnis des Mandanten besteht nämlich nicht unbeschränkt, sondern endet nach ganz h.M. in Literatur und Rechtsprechung an dem Punkt, an dem die fachliche Unabhängigkeit des Strafverteidigers beginnt (dazu näher unten Kapitel 4 C 13 und 4 mit umfangreichen Nachweisen). Auch die Vermutung Banons, daß durch Anerkennung des Venragsprinzips mittelbar das Niveau der Strafverteidigung steige, ist sehr stark in Zweifel zu ziehen. Banon legt hierzu dar, der Umstand, daß ungenügende Veneidigungen (Verstoß gegen Weisungen bzw. Sorgfaltspflichten) nunmehr haftungsrechtlich sanktioniert werden könnten, würde sich mittelbar positiv auf die Güte der Veneidigung auswirken (Banon, StV 1990, S. 238). Da nicht ersichtlich ist, daß unter Geltung des Venragsprinzips die verteidigungsspezifischen Sorgfaltspflichten eine Änderung erfahren, läßt sich Banon insoweit von der falschen Vorstellung leiten, daß die Beschuldigten - mittels der von ihnen erteilten Weisungen - besser dazu in der Lage sind, die geeignete Verteidigungsstrategie zu bestimmen, als dies bisher seitens der "unabhängigen" Strafverteidiger der Fall war (daß der Beschuldigte in der Regel trotz fachkundigen Beistands des Verteidigers zur Bestimmung der bestmöglichen Strategie jedoch gerade nicht imstande ist, wurde bereits oben dargelegt). 117 Banon, StV 1990, S. 239. 118 Banon, StV 1990, S. 239. 119 Hamm, NJW 1993, S. 289. 120 Eisenberg, NJW 1991, S. 1258. 121 Eisenberg, NJW 1991, S. 1258.
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Kapitel 3: Der Strafverteidiger als privater Interessenvertreter des Beschuldigten
me, daß eine Weisungsbindung tatsächlich jenes Optimum an Verteidigung gewährleiste, auf das der Beschuldigte Anspruch habe. 122
ß. Stellungnahme Das Vertragskonzept Lüderssens leidet neben einer zu starken Betonung der Beschuldigtenautonomie an einer - historische Zusammenhänge negierenden - Überbewertung der zivilrechtlichen Komponente des Verhältnisses Verteidiger - Mandant. Überdies: Wer wie Lüderssen den Standpunkt vertritt, daß der Strafverteidiger keinerlei öffentliche Funktionen wahrnimmt, der darf sich auch nicht über die mehr und mehr zu beobachtende Tendenz der Gerichte beklagen, Versäumnisse und Fehler des Strafverteidigers kompensationslos dem Mandanten zuzurechnen. 123 Es fragt sich in diesem Zusammenhang lediglich, ob die richtige Erkenntnis, daß nämlich die Zuweisung öffentlicher Funktionen an den Verteidiger dem Beschuldigten letztlich nur Vorteile bringt (nämlich Schutz vor unfahigen, vergeßlichen oder unvorbereiteten Verteidigern 124), nicht allzu spät Betonung fand. Wie die neueste Rechtsprechung des BGH zur Wiedereinsetzung des Angeklagten in den vorigen Stand bei vom Verteidiger schuldhaft verursachter Fristversäumung zeigt, läßt sich jedoch genau dies bedauerlicherweise vermuten. 125 Aus den genannten Gründen ist somit auch das Vertragsprinzip Lüderssens als besondere Ausprägung der Parteiinteressentheorie abzulehnen.
122 Eisenberg, NJW 1991, S. 1258. 123 So völlig zu Recht Banon, StV 1990, S. 240. 124 So zu Recht Banon, StV 1990, S. 240. 125 Vgl. dazu schon oben Kapitell B (dort insbesondere BGH NJW 1993, S. 742).
Kapitel 4
Die eingeschränkte Organtheorie Beulkes als eigenständiges Verteidigerkonzept Eine grundlegende dogmatische Durchdringung erfuhr die Problematik um die Rechtsstellung und die Funktionen des Strafverteidigers in jüngerer Zeit durch die Göttinger Habilitationsschrift Beulkes aus dem Jahre 1980. 1 Hierbei leitete Beulke aus dem geltenden Strafverfahrensrecht ein Verteidigerbild ab, das er selbst als "eingeschränkte Organtheorie" bezeichnete. 2 Diese Konzeption soll im folgenden näher dargestellt und bewertet werden.
A. Das methodische Vorgehen Beulkes Während in methodischer Hinsicht in der Literatur vielfach der Versuch unternommen wurde, die Aufgaben und Pflichten eines Verteidigers aus dessen Rechtsstellung zu entnehmen, wobei der jeweilige Autor diese Rechtsstellung selbst definierte, beschritt Beulke im Rahmen seiner Untersuchung einen völlig anderen, erfolgversprechenderen 3 Weg. In einem ersten Schritt analysierte Beulke die vom Strafverteidiger wahrzunehmenden Aufgaben und leitete dann in einem weiteren Schritt aus dem gefundenen Ergebnis dessen Rechtsstellung ab. Zu dieser Art des methodischen Vorgehens führte Beulke aus, daß die Rechtsstellung des Strafverteidigers nicht der Ausgangspunkt einer entsprechenden Analyse, sondern nur das Ergebnis einer solchen sein könne, solange sich der Gesetzgeber zur Rechtsstellung nicht hinreichend erkläre. Erst wenn aufgrund der im Gesetz erwähnten bzw. dem Strafprozeßsystem entnommenen Rechte und Pflichten die Aufgaben des Strafverteidigers bestimmt seien, könnten konkrete Aussagen zu seiner Rechtsstellung gewagt werden. 4 Da sich der von Beulke eingeschlagene Weg gleichsam als 1 Vgl. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, Funktionen und Rechtsstellung, Frankfun, 1980. 2 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 200. 3 So Gössel, ZStW 94 (1982), S. 7. 4 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 34.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
"logische Folge" des Schweigens des Gesetzgebers zur Rechts- und Ptlichtenstellung des Verteidigers ergibt 5, vermag dieser Lösungsansatz auf Anhieb zu überzeugen. Zudem läßt sich wohl nur auf diese Weise der bereits erwähnte Zirkelschluß vermeiden: Um ein erwünschtes Recht oder um eine bestimmte Rechtsptlicht des Verteidigers begründen zu können, umschreibt man dessen Rechtsstellung in einer Weise, daß man daraus später das jeweils erwünschte Ergebnis ableiten kann. 6
B. Die öffentlichen Funktionen der Strafverteidigung An öffentlichen Funktionen, die der Strafverteidiger neben der ihm zukommenden Beistandsfunktion (vgl. § 137 Abs. 1 StPO) 7 wahrzunehmen
hat, arbeitete Beulke heraus:
Die Effektivität der StraJverteidigung Die Effektivität der Strafrechtspflege (in einem Kembereich) Das öffentliche Interesse an der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland 8 Andere vom Verteidiger wahrzunehmende öffentliche Interessen sind nach der Auffassung Beulkes unserer Strafprozeßordnung nicht zu entnehmen. 9
5 Vgl. auch Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 104. 6 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 34. 7 Zur Beistandsfunktion vgl. näher Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 35 ff. 8 Mangels Relevanz für die hier zu erörternde Problematik wird auf eine nähere Darstellung dieser öffentlichen Funktion der Verteidigung verzichtet, näher hierzu Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 103 f. 9 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 105.
C. Die öffentlichen Funktionen des Verteidigers
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C. Die einzelnen öffentlichen Funktionen des Strafverteidigers, ihre Ableitung und die sich daraus ergebenden Konsequenzen I. Die "Effektivität der Strafverteidigung" als öffentliche Aufgabe des Strafverteidigers
1. Die Ableitung der konkreten Funktion Als die naheliegenste öffentliche Funktion des Strafverteidigers nannte Beulke seine Garantiefunktion für die Effektivität der materiellen Verteidigung. 10 Er leitete diese öffentliche Aufgabe des Verteidigers daraus her, daß eine wirksame Strafverteidigung nicht nur im (rein privaten) Individualinteresse des Beschuldigten, sondern auch im (öffentlichen) Interesse der Allgemeinheit als Gemeinschaft potentiell Beschuldigter liege. Der Verteidiger habe deshalb darauf zu achten, daß wirklich von allen Verteidigungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht wird. 11 Trotz des äußeren Anscheins der absoluten Parteilichkeit und der Durchsetzung rein individueller Beschuldigteninteressen nehme der Strafverteidiger also - gerade durch sein einseitiges Agieren zugunsten des Beschuldigten - auch ein Interesse der Allgemeinheit, sprich ein öffentliches Interesse wahr, wenn er im konkreten Einzelfall über die Einhaltung der Verfahrensregeln zugunsten seines Mandanten wache. 12 Den eindeutigen Beweis für die Richtigkeit seiner These hinsichtlich der oben erwähnten öffentlichen Funktion der Strafverteidigung - Sicherung einer wirksamen Strafverteidigung im Allgemeininteresse - sah Beulke in den Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff. StPO), in denen unsere Verfahrensordnung die Bestellung eines Verteidigers auch gegen den Willen des Beschuldigten vorsieht. 13 In bestimmten Fällen (vgl. hierzu § 140 Abs. 1 und 2 StPO) soll also auch gegen den Willen des Betroffenen für dessen wirksame Verteidigung gesorgt werden. Es liegt auf der Hand, daß die Existenz dieser Regelung nur unter Anerkennung überindividueller, also öffentlicher Interessen erklärt werden kann. Wie sonst könnte man es rechtfertigen, daß der Wille des Beschuldigten, unverteidigt zu bleiben, vom Gesetzgeber in den Fällen der notwendigen Verteidigung als unbeachtlich erachtet wird? Als weitere Gesichtspunkte für die Richtigkeit seiner Auffassung führte 10 Beulke, 11 Beulke, 12 Beulke, \3 Beulke,
Der Verteidiger im Der Verteidiger im Der Verteidiger im Der Verteidiger im
Strafverfahren, Strafverfahren, Strafverfahren, Strafverfahren,
S. S. S. S.
81. 81. 51.
82.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
Beulke die Anwesenheitspflicht des (notwendigen) Verteidigers im Rahmen der Hauptverhandlung sowie die gesetzlichen Regelungen in den §§ 138 und 146 StPO an. 14 Wenn der Beschuldigte gemäß § 138 Abs. 1 StPO im Regelfall nur ausgebildete Juristen (nämlich zugelassene Rechtsanwälte und Rechtslehrer an deutschen Hochschulen) als Verteidiger wählen und gemäß § 146 S. 1 StPO wegen der Gefahr eines möglichen Interessenwiderstreits ein Verteidiger nicht gleichzeitig mehrere derselben Tat Beschuldigte verteidigen dürfe, zeige dies deutlich, daß der Gesetzgeber die Effektivität der Verteidigung absichern wollte. 15 Als weiteres Argument sei schließlich noch die Vorschrift des § 138 a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 StPO zu nennen, wonach der Verteidiger von der Mitwirkung im Strafverfahren auszuschließen ist, der dringend oder in einem die Eröffnung des Hauptverfahrens rechtfertigenden Grade verdächtig ist, an der Tat, die den Gegenstand der Untersuchung bildet, beteiligt zu sein (§ 138 a Abs. 1 Nr. 1 StPO) oder der im genannten Sinne verdächtig ist, eine Handlung begangen zu haben, die für den Fall der Verurteilung des Beschuldigten Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei wäre (§ 138 a Abs. 1 Nr. 3 StPO). Wenn in den vorgenannten Fällen der Verteidiger vom weiteren Verfahren auszuschließen ist, dann geschehe dies - so Beulke - in erster Linie deshalb, weil von einem Strafverteidiger, der in das Tatgeschehen verstrickt ist, nicht immer eine wirkungsvolle Verteidigung erwarten werden könne. 16 2. Stellungnahme Aus dem Institut der notwendigen Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) , der Anwesenheitspflicht des (notwendigen) Verteidigers in der Hauptverhandlung sowie aus den Vorschriften der §§ 138, 138 a Abs. 1 Nr. 1 und 3, 146 S. 1 StPO leitete Beulke überzeugend her, daß sich die Aufgabe der Strafverteidigung nicht in der bloßen Wahrnehmung rein privater Interessen des Beschuldigten erschöpft, sondern auch die öffentliche Funktion der Effektivität der Strafverteidigung mitumfaßt. In allen oben aufgeführten Fällen hätte der Gesetzgeber durchaus dem Willen des Beschuldigten absoluten Vorrang einräumen können. Die Tatsache, daß der Gesetzgeber dies nicht tat, zeigt die Anerkennung eines überindividuellen Interesses, das im Konfliktsfall zur Unbeachtlichkeit der autonomen Beschuldigteninteressen führen kann. De lege lata 14 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 82. 15 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 82. 16 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 83.
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ist Strafverteidigung eben nicht nur reine Privatangelegenheit des jeweils Beschuldigten, sondern auch Verwirklichung des öffentliches Interesses der Rechtsgemeinschaft - als potentiell Beschuldigter - an der Effektivität der Strafverteidigung. Es würde die Sicht verkürzen, würde man den Strafverteidiger nur als reinen Parteiinteressenvertreter und damit als den verlängerten Arm des Beschuldigten ansehen. An der Erfüllung der Aufgaben eines Strafverteidigers - Unterstützung des Beschuldigten und Überwachung der Justizförmigkeit des Verfahrens - besteht eben nicht nur ein rein privates, sondern auch ein öffentliches Interesse. 17
3. Konsequenzen der Anerkennung eines öffentlichen Interesses an der "Effektivität der StraJverteidigung n Besteht hinsichtlich der zu verfolgenden Verteidigungsstrategie zwischen Mandant und Strafverteidiger Einigkeit, deckt sich also - wie im Regelfall das private Interesse des Beschuldigten an einer von ihm eigenverantwortlich bestimmten und möglichst effektiven Vorgehensweise seines Verteidigers mit dem vom Strafverteidiger ebenfalls zu berücksichtigenden öffentlichen Interesse an einer möglichst wirkungsvollen Strafverteidigung, so treten keinerlei Schwierigkeiten auf. Probleme bereiten jedoch die Fallkonstellationen, in denen es zu einer Kollision des privaten Interesses des Beschuldigten an einer selbstbestimmten Verteidigungsstrategie mit dem öffentlichen Interesse an einer möglichst effektiven Strafverteidigung kommt. Wird in solchen Fällen keine einverständliche Lösung erzielt und wird das Mandatsverhältriis aus welchen Gründen auch immer nicht aufgelöst, muß dieser Konflikt privater und öffentlicher Interessen einer Lösung zugeführt werden. 18 Mangels einer ausdrücklichen Regelung durch den Gesetzgeber griff Beulke zur Lösung des angesprochenen Problems auf die Bestimmungen der §§ 138 a, 140 und 146 StPO zurück, die bereits der grundSätzlichen Anerkennung eines öffentlichen Interesses an einer möglichst guten Verteidigung des Beschuldigten dienten. Versuche man - so Beulke - diesen Normen ein allgemeines Abwägungsprinzip zu entnehmen, so könne man feststellen, daß sich der Gesetzgeber für eine "radikale Vernachlässigung der Beschuldigtenwünsche" entschieden
17 Diese Auffassung vettreten im Rahmen einer rechtsvergleichenden Skizze zu Funktion und Stellung des Strafverteidigers Heine, Ronzani, und Spaniol in StV 1987, S. 86 völlig zu Recht. 18 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 114.
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habe. 19 Eindeutig zeige sich dies anhand der Vorschriften über den Ausschluß des Verteidigers (§ 138 aStPO) und über das Verbot der gemeinschaftlichen Verteidigung (§ 146 StPO), weil in den dort aufgeführten Fällen der Verteidiger ohne jede Rücksicht auf den Willen des Beschuldigten von der Verteidigung ausgeschlossen sei. 20 Dasselbe gelte letztlich im Hinblick auf die Vorschrift des § 140 StPO. In den dort aufgezählten Fällen der notwendigen Verteidigung werde zwar der Wunsch des Beschuldigten, vom Anwalt seiner Wahl verteidigt zu werden, respektiert, das Gesetz leiste jedoch dem Willen des Beschuldigten, unverteidigt zu bleiben, gerade keine Folge. 21 Beulke zog daraus den zutreffenden Schluß, daß unser Strafverfahrensrecht in den Fällen der §§ 138 a, 140, 146 StPO den Willen des Beschuldigten, vom Anwalt seines Vertrauens verteidigt zu werden oder sich ausschließlich allein zu verteidigen, als weniger schutzwürdig erachtet als das öffentliche Interesse an einer optimalen Verteidigung des Beschuldigten. 22 Damit werde die Effektivität der Verteidigung, die man vordergründig als reine Privatangelegenheit des Beschuldigten ansehen könne, zumindest zum Teil dessen Willkür entzogen und zu einer besonders wichtigen Angelegenheit des öffentlichen Interesses erklärt, wobei im Konfliktsfall das öffentliche Interesse vorgehe. 23 Bestätigung finde dieses Ergebnis durch die Vorschrift des § 297 StPO, wonach der Verteidiger für den Beschuldigten Rechtsmittel einlegen kann, jedoch nicht gegen dessen ausdrücklichen Willen. Da dem Verteidiger auch in anderen Fällen die Rechtsmacht zukomme, Prozeßhandlungen für den Beschuldigten vorzunehmen, liege die Bedeutung des § 297 StPO nicht darin, dem Verteidiger eine ihm sonst nicht zukommende, besondere Kompetenz zu verleihen, sondern in ihrem Ausnahmecharakter. 24 In der Tat wäre die Vorschrift überflüssig, wenn es bereits ein allgemeines Prinzip dahingehend gäbe, daß ein Verteidiger niemals gegen den Willen seines Mandanten handeln kann. Die Bedeutung des § 297 StPO ist also darin zu sehen, daß im speziellen Fall der Rechtsmiueleinlegung der Verteidiger ausnahmsweise nicht gegen den Willen des Beschuldigten handeln darf, der Wille des Beschuldigten also ausnahmsweise absoluten Vorrang genießt, während der Verteidiger im Hinblick auf eine optimale Verteidigung des Beschuldigten ansonsten auch gegen !9 Beulke, 20 Beulke, 2! Beulke, 22 Beulke, 23 Beulke, 24 Beulke,
Der Verteidiger im Strafverfahren, Der Verteidiger im Strafverfahren, Der Verteidiger im Strafverfahren, Der Verteidiger im Strafverfahren, Der Verteidiger im Strafverfahren, Der Verteidiger im Strafverfahren,
S. S. S. S. S. S.
114 und 115. 115. 115. 115. 115. 115 und 116.
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dessen ausdrücklichen Willen handeln darf. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß immer dann, wenn es um Abwehrmaßnahmen geht, die sich für den Beschuldigten günstig auswirken, d.h. einer "objektiv" wirksamen Gegenwehr gegen den konkreten Schuldvorwurf dienen, der Verteidiger nicht an den Beschuldigtenwillen gebunden ist (Unabhängigkeit des Strafverteidigers selbst gegenüber dem Mandanten). Das öffentliche Interesse an einer bestmöglichen Verteidigung überwiegt also in diesen Fällen das Privatinteresse des Beschuldigten an einer eigenmächtigen, autonomen Bestimmung der Verteidigungsstrategie. 25 Ziel der Strafverteidigung muß es immer sein, den konkreten Schuldvorwurf bestmöglich abzuwehren, notfalls eben auch gegen den Willen des Beschuldigten. 26
4. Die Anerkennung der Unabhängigkeit des Verteidigers gegenüber dem Beschuldigten in der übrigen Literatur Die Unabhängigkeit des Verteidigers gegenüber seinem Mandanten als Konsequenz der Anerkennung eines öffentlichen Interesses an einer möglichst guten Strafverteidigung ist bereits seit langem anerkannt. So vertrat bereits im Jahre 1879 Vargha die Auffassung, daß der Verteidiger alles erschöpfend geltend zu machen habe, was seinem Klienten in irgendeiner Richtung von Nutzen sein könnte. Dabei dürfe sich der Verteidiger durch "Nichts und Niemanden" abhalten lassen, "das für den Schutz seines Clienten Nothwendige vorzukehren, auch nicht durch den Beschuldigten selbst. " 27 Aber auch in der modemen strafprozessualen Literatur ist die Unabhängigkeit des Strafverteidigers vom Mandantenwillen nahezu unbestritten: Sax hebt hierzu hervor, daß der Verteidiger als Beistand des Beschuldigten in dessen prozessualem Kampf gegen den Angriff der Anklage nicht der "Streitgenosse" , sondern der unabhängige Streithelfer des Beschuldigten sei. Er habe über den zur Erfüllung seiner Beistandsaufgabe zu beschreitenden prozessualen Weg eigenverantwortlich zu entscheiden. Dabei könne er weder vom Beschuldigten an eine bestimmte Marschroute gebunden werden noch unterliege er Weisungen des Beschuldigten, die mit dieser Aufgabe nicht vereinbar seien. An dieser Beurteilung ändere sich auch nichts dadurch, daß das zwischen Beschuldigtem und seinem Wahlverteidiger begründete Vertrauens25 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 141. 26 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 132. 27 Vargha, Die Vertheidigung in Strafsachen (1879), S. 348 und 349. 7 Domach
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verhältnis beeinträchtigt werde, wenn sich der Verteidiger nicht an die prozeßtaktischen Vorstellungen und Wünsche des Beschuldigten halte. Wie das Institut der Pflichtverteidigung zeige, sei es angesichts der objektiven Funktion der Verteidigung als Strukturelement einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege keine rechtliche Voraussetzung für die Beachtlichkeit und Wirksamkeit des VerteidigerhandeIns, daß es vom Vertrauen des Beschuldigten getragen sei. 28 Roxin führt zum Gesichtspunkt der Unabhängigkeit des Strafverteidigers aus, daß sich die Selbständigkeit der Verfahrensrolle des Verteidigers unter anderem darin zeige, daß er bei der Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten nicht - wie etwa ein Vertreter - von dessen Willen abhängig sei. Wenn es der Entlastung des Beschuldigten diene, könne der Verteidiger Beweisanträge etwa auf Zeugenvernehmung auch gegen den Willen des Beschuldigten stellen, der möglicherweise den Zeugen decken wolle, eine Untersuchung des Beschuldigten auf dessen psychischen Zustand nach § 81 StPO beantragen oder beispielsweise einen Freispruch fordern, wenn sich der Angeklagte aus welchen Gründen auch immer zu Unrecht schuldig bekannte. Eine Ausnahme zu dieser Regel stelle § 297 StPO dar, wonach der Verteidiger gegen den ausdrücklichen Willen des Beschuldigten kein Rechtsmittel einlegen könne. 29 Schäfer legt dar, es dürfe nicht übersehen werden, daß das Gesetz, das dem Verteidiger im Verhältnis zum Staat und seinen Strafverfolgungsorganen Unabhängigkeit und Selbständigkeit zugestehe, die Position des Verteidigers mit einer spürbaren Distanz zum Beschuldigten hin ausgestattet habe. Gerade diese Distanz zum Mandanten gebe dem Verteidiger die Möglichkeit, unabhängig zu verteidigen. Auch wenn natürlich anzustreben sei, daß die Verteidigungsstrategie von Verteidiger und Mandant gemeinsam getragen wird, sei der Verteidiger im Bereich der Verteidigung nicht an Weisungen seines Auftraggebers gebunden. 30 Krey ist der Auffassung, daß der Verteidiger bei der Wahrnehmung der Interessen und Rechte des Beschuldigten Unabhängigkeit nicht nur gegenüber Gericht und Staatsanwaltschaft, sondern (grundsätzlich) auch gegenüber dem Beschuldigten genieße. Wo es um die Ausübung von Befugnissen gehe, die gleichzeitig dem Beschuldigten und dem Verteidiger zustünden, sei der Strafverteidiger grundsätzlich vom Willen des Beschuldigten unabhängig und könne sogar ge-
28 KMR-Sax, Eint. IV Rn. 30 f. 29 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 8.
30 Schäf~r, Die Praxis des Strafverfahrens, Rn. 46.
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gen dessen Willen handeln. 31 Nach der Ansicht Kühnes ist der Verteidiger als Organ der Rechtspflege nicht nur gegenüber den Strafverfolgungsbehörden und dem Gericht, sondern in Ausübung seines Amtes auch gegenüber seinem Mandanten grundsätzlich unabhängig. Weder bei der AntragsteIlung, bei der Abgabe von Erklärungen noch bei seinem Plädoyer sowie Schlußantrag sei er deshalb an die Weisungen des Beschuldigten gebunden. Anders als im Zivilprozeß sei der Verteidiger nämlich nicht Vertreter, sondern lediglich Beistand und Fürsprecher des Beschuldigten. 32 Sogar Welp als Gegner der Organtheorie und Vertreter des sog. "Autonomieprinzips" will die Unabhängigkeit des Strafverteidigers in keiner Weise in Frage stellen. Der Beschuldigte habe es nicht in der Hand, den Verteidiger auf eine bestimmte Verteidigungskonzeption festzulegen, da die Unabhängigkeit des Anwalts im Verhältnis zu seinem Mandanten als Selbständigkeit zu interpretieren sei. Der Verteidiger handle) eigenverantwortlich und habe daher keine andere Wahl, als seiner eigenen Einsicht zu folgen. 33 Hammerstein betont, daß sich der Verteidiger in Konfliktsfällen nur dann frei entscheiden könne, wenn er vom Klienten innerlich unabhängig sei. Verliere der Verteidiger diese Unabhängigkeit, dann entfalle auch die Grundlage für die korrekte Ausübung seiner Tätigkeit. 34 Schlüchter meint, der Verteidiger solle als einseitiger Interessenvertreter echter Beistand des Beschuldigten sein, jedoch von diesem, wie auch von den übrigen Prozeßsubjekten unabhängig. 35 Nach der Ansicht von Pfeiffer ist die Unabhängigkeit des Verteidigers vom Mandanten von ebenso großer Bedeutung wie seine Unabhängigkeit vom Staat. Erst diese Unabhängigkeit schaffe die Distanz, die zu einer wirkungsvollen Verteidigung des Beschuldigten erforderlich sei. 36 Auch Müller hält die Unabhängigkeit des Strafverteidigers für die wichtigste Voraussetzung effizienter Ausübung von Strafverteidigung. Nach seiner Erfahrung steht und fällt jede Strafverteidigung mit der Unabhängigkeit des Anwalts vom eigenen Mandanten. Der Verteidiger habe den Gang des Verfahrens zu bestimmen und nicht sein Mandant. Wäre es anders, würde sich der Verteidiger - so Müller - "auf einem Dampfer befinden, dessen Kurs der Schiffsjunge, nicht aber der Kapitän festlegt". 37 In 31 Kuy, Strafverfahrensrecht I, Rn. 554. 32 Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 82. 33 Welp, ZStW 90 (1978), S. 121. 34 Hammerstein, NStZ 1990, S. 264. 35 Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 101. 36 Pfeiffer, DRiZ 1984, S. 342. 37 Müller, Elmar, Strafverteidigung im Überblick, Rn. 3 f. 7"
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diesen einstimmigen Meinungschor reiht sich auch Fezer ein, der anerkennt, daß der Rechtsanwalt bei der Durchführung der Verteidigung auch vom Beschuldigten grundsätzlich unabhängig ist, soweit er dabei die inhaltlichen Grenzen seiner Tätigkeit beachtet, nämlich ausschließlich zugunsten des Beschuldigten tätig zu werden. 38 In dem Handbuch für Strafverteidiger führt Dahs aus, daß die Unabhängigkeit des Verteidigers ein wesentliches Element der Verteidigung sei. 39 Eine praktisch besonders wichtige und häufig auf die Probe gestellte Anforderung an den Verteidiger sei dessen Unabhängigkeit vom Mandanten. Für den Anwalt, der vor den staatlichen Gerichten als Repräsentant der freien Anwaltschaft als der dritten Säule der Rechtspflege auftreten will, müsse die innere und äußere Freiheit vom Auftraggeber unter allen Umständen gewährleistet sein. Vor allem gelte dies für den Verteidiger, dem jederzeit die freie Entscheidung vorbehalten bleiben müsse, wie er seine Berufstätigkeit ausüben wolle. Sein Berufsauftrag in der Rechtspflege verbiete es ihm jedoch, die Verteidigung anders zu führen, als es dem sachlich begründeten Schutzinteresse seines Auftraggebers entspreche. 40 Ernesti schließlich sieht das Leitbild des Strafverteidigers nicht in dem eines Parteigängers, sondern in dem Verteidiger, der seinem Mandanten in völliger Unabhängigkeit entgegentritt. Dieser sei Vertreter und Beistand, der aus dem Abstand zur Sache, fern der Tat, ausgewiesen durch persönliche Integrität, einseitig und doch überzeugend für den Beschuldigten sprechen könne. 41 Auch der BGH anerkennt in ständiger Rechtsprechung, daß der Strafverteidiger in Erfüllung seiner Schutzaufgabe zugunsten des Beschuldigten nicht dessen Weisungen unterliegt, ihm also gegenüber dem Beschuldigten Unabhängigkeit zukommt. 42 Erst in jüngster Zeit führte er ausdrücklich aus: "Der Verteidiger ist Beistand (§ 137 StPO) , nicht Vertreter des Beschuldigten. Diese Aufgabe verlangt von ihm, sich allseitig unabhängig zu halten und, wo er durch Anträge oder auf sonstige Weise in das Verfahren eingreift, dies in eigener Verantwortung und unabhängig, d.h. frei von Weisungen auch des Angeklagten, zu tun." 43 Festzuhalten ist somit, daß die Auffassung Beulkes, wonach dem Verteidiger (in Erfüllung seiner öffentlichen Funktion für eine möglichst gute Verteidigung des Beschuldigten zu sorgen) Unabhängigkeit 38 Fezer, Strafprozessrecht I 4, Rn. 10. 39 DahslDahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 25. 40 DahslDahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 28. 41 Emesti, JR 1982, S. 229. 42 Vgl. nur BGHSt 12, 367, 369; BGHSt 13, 337. 343; BGHSt 38, 111, 114. 43 BGH NStZ 1993, S. 601.
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selbst gegenüber dem Beschuldigten zukommt, sowohl von der höchstrichterlichen Rechtsprechung als auch von nahezu dem gesamten strafprozessualen Schrifttum geteilt wird. 44
n. Die "Effektivität der Strafrechtspflege" als öffentliche Aufgabe der Strafverteidigung
1. Die Ableitung der konkreten Funktion Neben der Effektivität der Strafverteidigung entnahm Beulke unserem Strafverfahrensrecht noch eine weitere öffentliche Funktion des Verteidigers, nämlich die Beachtung des Interesses an einer effektiven Strafrechtspflege in einem Kernbereich (Lehre von der besonderen Inpflichtnahme des Strafverteidigers). 45 Worum es hier konkret geht, veranschaulichte Beulke sehr deutlich anhand einer fiktiven Prozeßordnung, in der ein solches vom Verteidiger zu beachtendes öffentliches Interesse an der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege nicht existiert. Unter der Geltung einer solchen Verfahrensordnung dürfte und müßte sich der Strafverteidiger völlig mit den jeweiligen Interessen des Beschuldigten identifizieren und dem Anklagevorwurf mit allen Mitteln entgegenwirken. Einem solchen Verteidiger müßte man konsequenterweise auch das Recht zugestehen, Lügen hinsichtlich der Einlassung des Beschuldigten zu erfinden, Beweismittel zu beseitigen oder dem Beschuldigten Fluchthilfe zu leisten. 46 Es liege jedoch - so Beulke - auf der Hand, daß ein Verteidiger, dem derartige Verhaltensweisen erlaubt wären, unser Ju44 Außer den bereits zitierten Autoren seien noch genannt: Augstein, NStZ 1981, S. 54 ("Der Verteidiger darf kein weisungsgebundener Befehlsempfanger des Angeklagten werden. "); BRAK-Thesen, S. 33 (vgl. These 9: Der Verteidiger ist bei der Ausgestaltung der Verteidigung grundSätzlich nicht weisungsgebunden); Eisenberg, NJW 1991, S. 1257; Haft, Strafrecht BT, S. 180; Hanung, AnwBI. 1988, S. 375; Joachimski, Strafverfahrensrecht, S. 36; LR-DÜMebier, 23. Auflage, Vor § 137 Rn. 10; KK-Laujhütte, Vor § 137 Rn. 4; Kunigk, Prozeßführung und Strafverteidigung, S. 162; Meurer, Strafprozeßrecht, S. 30; Ranft, Strafprozeßrecht, § 21 BIll a und III 1; Scheffler, JR 1993, S. 173; SchmehllVollmer, Die Assessorklausur im Strafprozeß, S. 5; Wasserburg, Peters-Festgabe, S. 286. Die Unabhängigkeit des Strafverteidigers vom Beschuldigtenwillen ist im übrigen keine Besonderheit gerade des deutschen Strafverfahrens. So bejaht Yamamoto für das japanische Strafprozeßrecht die Unabhängigkeit des - eine öffentliche Aufgabe wahrnehmenden - Strafverteidigers vom Willen und von den Weisungen des Beschuldigten, weil erst diese Unabhängigkeit gegenüber dem Beschuldigten den notwendigen Spielraum für die Auswahl der richtigen Verteidigungsstrategie ermögliche, vgl. Yamamoto, ZStW 101 (1989), S. 977. 45 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 88. 46 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 69.
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stizsystem sehr schnell in eine ernsthafte Legitimationskrise bringen würde. 47 Auch dem Beschuldigten würde man damit letztlich keinen Gefallen erweisen, da ein Strafverteidigertypus, der die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs mit allen Mitteln hintertreiben dürfte, bei Gericht und Strafverfolgungsorganen sehr bald jegliches Gehör verlieren würde. 48 Weiterhin würde ein solches Verteidigerkonzept, in dem Verteidiger und Mandant gleichsam als Einheit mit denselben Rechten und Pflichten auftreten würden, insbesondere keine Wahrheitspflicht des Strafverteidigers bestünde, für unseren Strafprozeß große Gefahren mit sich bringen, da ein bis zur letzten Konsequenz einseitig agierender Verteidiger natürlich sofort den Ruf nach einem ebenfalls völlig einseitigen Staatsanwalt provozieren würde. 49 Zum anderen wäre es unter Geltung einer Verfahrensordnung, in der keinerlei Bindung des Verteidigers an das öffentliche Interesse einer wirksamen Strafrechtspflege bestünde, auch völlig systemwidrig, dem Verteidiger mehr Rechte zu geben als dem Beschuldigten. 50 Zu letzterem Gesichtspunkt führte Beulke aus, daß der Verteidiger dann zwar mit allen Mitteln die Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs verhindern dürfte, sich andererseits jedoch auch mit den Befugnissen zufriedengeben müßte, die auch dem Beschuldigten zustehen. 51 Es bestünde einfach kein vernünftiger Grund dem Verteidiger mehr Rechte zuzugestehen als dem Beschuldigten. Beulke belegte dies anband der Regelung des § 147 StPO über das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers. Nach dieser Vorschrift steht das Akteneinsichtsrecht nur dem Strafverteidiger zu, d.h. der Beschuldigte hat grundSätzlich keinen eigenen Anspruch auf Akteneinsicht. 52 Dürfte nun der Verteidiger dem Beschuldigten in jedem Fall alles mitteilen, was er aus den Akten erfahren hat, so ergäbe die Beschränkung des Akteneinsichtsrechts auf die Person des Verteidigers keinen Sinn. Es bestünde einfach kein Grund dem Beschuldigten die Akteneinsicht zu verweigern. Die einzig denkbare Gefahr der Aktenzerstörung oder der Aktenbeschädigung durch den Beschuldigten (gleiches gilt natürlich auch für eine mögliche Aktenveränderung) könnte man ja ganz einfach dadurch vermeiden, daß man dem Beschuldigten von vorneherein nur Abschriften oder Fotokopien der Akten in die Hand gibt. Die Regelung des § 147 StPO ergibt demnach nur dann 47 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 69. 48 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 70. 49 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 89. so Zustimmend Seier, JuS 1981, S. 806. SI Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 89. 52 Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 147 Rn. 3; Welp, Peters-Festgabe, S. 312.
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einen Sinn, wenn das Recht des Verteidigers auf Information seines Mandanten in bestimmten Fällen Grenzen bzw. Beschränkungen unterliegt. 53 Derartige Beschränkungen des Verteidigers lassen sich jedoch nur dann begründen, wenn man anerkennt, daß der Verteidiger - neben dem Interesse des Beschuldigten und dem Interesse der Allgemeinheit an einer möglichst guten Strafverteidigung - auch die Effektivität der Strafrechtspflege mit zu berücksichtigen hat. Am Beispiel des § 147 StPO könne man - so Beulke - eine Systematik erkennen, die sich leicht auch auf andere Verteidigerrechte übertragen lasse, hier aber besonders plastisch hervortrete: Um den Schutz des Beschuldigten zu verbessern, werde dem Strafverteidiger eine Befugnis verliehen, die seinem Mandanten gerade nicht zusteht. Sozusagen im Gegengeschäft müsse der Verteidiger jedoch versprechen, von dieser Befugnis keinen schrankenlosen Gebrauch zu machen. Damit verlasse der Verteidiger jedoch zwangsläufig die reine Parteiinteressenvertreterstellung und werde zu einem Verfahrensbeteiligten, der nicht nur auf die Wirksamkeit der Verteidigung, sondern auch auf die Wirksamkeit der Strafrechtspflege überhaupt bedacht sein müsse. 54 Ein weiterer gesetzlicher Anhaltspunkt für die Anerkennung eines vom Verteidiger zu beachtenden öffentlichen Interesses an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege sei die Regelung des § 137 StPO, wonach die Zahl der gewählten Verteidiger drei nicht übersteigen darf. Hier sei dem öffentlichen Interesse an der zügigen Durchführung des Strafverfahrens (vgl. dazu auch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK) der Vorrang eingeräumt vor beispielsweise dem Willen des Beschuldigten das Strafverfahren in die 1.äilge zu ziehen. 55
53 So ist in Rechtsprechung und hemchender Lehre anerkannt, daß die Weitergabe von Akteninformationen über bevorstehende Zwangsmaßnahmen der Strafverfolgungsbehörden (wie z.B. U-Haft, Durchsuchung und Beschlagnahme) dem Verteidiger wegen Geflihrdung des Untersuchungszweckes nicht erlaubt ist, vgl. BGHSt 29, 99, 103; Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, S. 37 ff., Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 90; vgl. auch Beulke, Dünnebier-Festschrift, S. 292; Bottke, ZStW 96 (1984), S. 757; DreherfI'röndle, § 258 Rn. 7; Emesti, IR 1982, S. 225 ff.; Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 489; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 147, Rn. 21; Krey, Strafverfahrensrecht I, Rn. 608 ff.; Liemersdorf, MDR 1989, S. 207 f.; Müller-Dietz, IR 1981, S. 78; Pfeiffer, DRiZ 1984, S. 347 f.; Schlilchter, Das Strafverfahren, Rn. 108.3; Strzyz, Die Abgrenzung von Strafverteidigung und Strafvereitelung, S. 272. 54 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 92. 55 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 144.
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2. Stellungnahme Die Auffassung Beulkes, daß ein Strafverteidiger der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nicht mit allen denkbaren Mitteln bis hin zur völligen Verfahrensobstruktion entgegenarbeiten darf, überzeugt und wird wohl vom Grundansatz her auch nicht ernstlich in Zweifel gezogen. Teilweise wird jedoch in der Literatur behauptet, daß die Abgrenzung zwischen erlaubter und unerlaubter Verteidigertätigkeit bereits hinreichend durch das materielle Strafrecht bzw. das anwaltliche Standesrecht erfolgt sei und daher ein Rückgriff auf das Strafprozeßrecht, genauer: eine Festlegung des Verteidigers auf das öffentliche Interesse an einer in Mindestmaßen funktionstüchtigen Strafrechtspflege, im Grunde völlig unnötig ist. So meint beispielsweise Joachimski, daß sich die Grenzen der Verteidigertätigkeit aus § 258 StGB und - soweit ein Rechtsanwalt Verteidiger sei - aus dem anwaltlichen Standesrecht ergeben. 56 Ähnlicher Ansicht ist Hasserner, wonach sich die Unzulässigkeit von Verteidigerverhaltem aus dem anwaltlichen Standesrecht ergeben könne. 57 Die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts ("Richtlinien"; vgl. § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO) formulierten die wichtigsten Prinzipien für die Beurteilung der Grenzen zulässigen Verteidigerhandeins. 58 Daß jedoch das anwaltliche Standesrecht (die Bundesrechtsanwaltsordnung und die Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts) in bezug auf die Abgrenzung von erlaubter und unerlaubter Verteidigertätigkeit gerade nicht herangezogen werden kann, ergibt sich bereits aus der nahezu "banal anmutenden Erkenntnis" 59, daß nicht jeder Verteidiger Rechtsanwalt zu sein braucht und daher die Gefahr einer "Zweiklassenverteidigung" bestünde. 60 Aber auch der Hinweis auf den Strafver56 Joachimski, Strafverfahrensrecht, S. 37. 57 Hassemer in: Beck'sches Formularbuch für den Strafverteidiger, IA 3, S. 4. 58 Hassemer in: Beck'sches Formularbuch für den Strafverteidiger, I A 3, S. 4. Eine Auf-
fassung, die unabhängig von der hier vertretenen Ansicht, spätestens seit der Grundsatzentscheidung des BVerfG (BVerfGE 76, 171 ff.) zu den Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts (vgl. dazu bereits oben Kapitel 2 Fußnoten 36, 37) regelrecht unhaltbar geworden sein dürfte. Leider geht Hassemer auch in der Neuauflage des Beck'schen Formularbuches mit keinem Wort auf diese Entscheidung des BVerfG ein, in der es ausdrücklich heißt, daß die Richtlinien des anwaltlichen Standesrechts zutreffend als bloßer Niederschlag vorhandener Standesauffassungen zu verstehen seien und weder als normative Regelung der anwaltlichen Berufspflichten noch als rechtserhebliches Hilfsmittel zur Konkretisierung der GeneralklauseI des § 43 BRAO in Betracht kommen (BVerfGE 76, 171, 187 u. 189). 59 Vgl. zu Recht Mehle, Peters-Festgabe, S. 204. 60 Verfehlt daher der Ansatz von Schautz. Dieser will das Verhalten aller Verteidiger - handelt es sich nun um Rechtsanwälte oder nicht - dem Berufsrecht der Anwälte unterstellen (so
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eitelungstatbestand des § 258 StGB ist nicht fruchtbar, da (nicht zuletzt aufgrund der völligen Konturenlosigkeit der Tathandlung "Vereiteln") die Würfel bezüglich erlaubter und unerlaubter Verteidigertätigkeit nicht erst im Rahmen des § 258 StGB, sondern bereits im Strafprozeßrecht fallen. 61 Müller-Dietz betont völlig zu Recht, daß sich die Rechtsordnung mit sich selbst in Widerspruch setzen würde, wenn sie auf der einen Seite ein bestimmtes Verteidigerverhalten für prozessual zulässig erklärte und auf der anderen Seite dasselbe Verhalten materiell-rechtlich mit dem Prädikat der Rechtswidrigkeit belegte. 62 Ein prozessual erlaubtes Verhalten des Strafverteidigers kann also unter Berücksichtigung des Gesichtspunktes der Einheit der Rechtsordnung nicht plötzlich unter Strafe stehen und schließt daher bereits den objektiven Tatbestand des § 258 StGB bzw. die Rechtswidrigkeit des entsprechenden Verhaltens aus. 63 Die Bedeutungslosigkeit des § 258 StGB in bezug auf die Abgrenzung erlaubten und unerlaubten Verteidigerverhaltens erkannte auch Lüderssen, der hierzu richtigerweise darlegte, eine Strafvereitelung liege nur dann vor, wenn der Strafverteidiger seine verfahrensrechtlichen Befugnisse überschreite. 64 Ob der Verteidiger jedoch seine prozessualen Befugnisse überschreite, darüber könne das Strafgesetzbuch primär gar nichts sagen, sondern nur die Strafprozeßordnung. 65 Aufgrund der angesprochenen "Prozeßrechtsakzessorietät" des § 258 StGB kann also auch diese Norm die Grenzen erlaubter Verteidigertätigkeit nicht bestimmen. Auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH wird diese Ansicht nunmehr ausdrücklich geteilt: So sei in Literatur und Rechtsprechung anerkannt, daß die Stellung als Verteidiger in einem Strafprozeß und das damit verbundene Spanauch Müller-Dietz, Jura 1979, S. 248) und jede Verteidigertätigkeit als Strafvereitelung gemäß § 258 StGB einstufen, die gesetzwidrig ist und die Schutzzwecke des § 258 StGB belÜhrt (vgl. Schautz, Strafrechtliche Grenzen des Verteidigerhandeins, S. 18 und S. 138), wobei die erforderliche Gesetzeswidrigkeit nach der Auffassung von Schautz bereits dann vorliegen soll, wenn eine Verletzung des anwaltlichen Standesrechts bzw. der anwaltlichen Standesrichtlinien festzustellen ist (Schautz, a.a.O., S. 156). 61 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, S. 6. 62 Müller-Dietz, JR 1981, S. 76 und ebenso Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, S. 6. 63 Nach h.M. entfällt im Falle eines prozessual zulässigen Verteidigerverhaltens bereits die objektive Tatbestandsmäßigkeit gemäß § 258 StGB: In diesem Sinne AG Köln, StV 1988, S. 256; Beulke, Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 2; Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 174; Dahs/Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, Rn. 47; Dreherrrröndle, § 258 Rn. 7; KG NStZ 1988, 178; Krekeler, NStZ 1989, S. 146; Kuy, Strafrecht BT 1, Rn. 617; Lackner, StGB, § 258 Rn. 8; LK-Ruß, § 258 Rn. 19; Preisendanz, § 258, S. 812; Ostendorf, NJW 1978, S. 1346. 64 Lüderssen, Sarstedt-Festschrift, S. 157. 6S Lüderssen, Sarstedt-Festschrift, S. 157.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
nungsverhältnis zwischen Organstellung und Beistandsfunktion eine besondere Abgrenzung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Verhalten, insbesondere in bezug auf den Straftatbestand der Strafvereitelung, § 258 StGB, erforderlich mache. Die Grenzen zulässigen Verteidigerverhaltens ergäben sich dabei nicht unmittelbar aus § 258 StGB selbst, vielmehr verweise die Vorschrift auf die Regelungen des Prozeßrechts. 66 Man kann also zusammenfassend feststellen, daß uns weder der Strafvereitelungstatbestand des § 258 StGB noch das anwaltliche Standesrecht ausreichenden Schutz vor einem Strafverteidiger bieten könnten, der ohne jegliche Bindung im Extremfall bis hin zur totalen Verfahrenslahmlegung agierte. Damit dürfte wohl auch außer Frage stehen, daß ein derartiger Schutz nur durch eine Festlegung des Verteidigers auf das öffentliche Interesse an einer in Mindestmaßen wirksamen Strafrechtspflege erreicht werden kann.
3. Die Anerkennung einer Verpflichtung des Verteidigers auf das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege in der übrigen Literatur Die Ansicht Beulkes, daß der Strafverteidiger dem Anklagevorwurf nicht mit allen denkbaren Mitteln begegnen darf, hat sich heute überwiegend durchgesetzt. 67 So hält Roxin den Verteidiger als auch den Belangen einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege verpflichtet. 68 Inhalt und Grenzen der Verteidigertätigkeit bestimmten sich damit als Ergebnis einer Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen. 69 Schlüchter ist der Auffassung, daß der Verteidiger nur als integrierter Bestandteil einer funktionsfähigen rechtsstaatlichen Rechtspflege dem Beschuldigten ein echter Beistand sein könne. Erst die Verpflichtung des Verteidigers, nicht gegen, sondern innerhalb der rechtsstaatlichen Rechtspflege tätig zu werden, erlaube es, ihm gegenüber dem Beschuldigten weitergehende Rechte einzuräumen. Der Verteidiger solle unabhängig sein und verpflichtet allein den Interessen des Beschuldigten einerseits, andererseits dem Rechtsstaat, letztlich also auch der Wahrheitspflicht. 70 Gössel meint, daß der Strafverteidiger zwar nicht auf das vom Rechtsstaatsprinzip geforderte staatliche Ziel der Aufrechterhaltung einer 66 BGHSt 38,345,347. 67 Äußerst problematisch und umstritten ist allerdings die Grenzziehung zwischen zulässigem und unzulässigem Verteidigerverhalten, vgl. dazu unten Kapitel 4 C 11 4. 68 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 2. 69 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 2. 70 Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 101.
C. Die öffentlichen Funktionen des Verteidigers
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funktionstüchtigen Rechtspflege festgelegt werden könne, er jedoch auch nicht berechtigt sei, eine Gesetz und Gerechtigkeit entsprechende Wahrheitsennitdung und Urteilsfmdung zu verhindern. 71 Wer sich so verhalte, der handle rechtsstaatswidrig und greife damit die Grundlagen an, die ihm zu seinem Platz im Strafverfahren verhelfen. 72 Jedenfalls müsse sich der Verteidiger zur Erhaltung der rechtsstaatlich geforderten Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege im Rahmen der verfassungsmäßigen, insbesondere gesetzmäßigen Ordnung halten. 73 Vehling legt dar, daß es nicht darum gehe, den Angriff der Strafverfolgungsbehörden mit allen Mitteln zu verhindern, sondern um "geregelte" Verteidigung. Angreifer und Verteidiger dürften einander nicht foulen. "Fair play" setze voraus, daß sich der Verteidiger keiner anderen Mittel zur Abwehr bediene, als sie auch der Angreifer nutze. 74 Sax argumentiert, daß es beim Fehlen einer Bindung an die staatliche Rechtsordnung unvermeidlich wäre, daß der Gesetzgeber Reaktionsmöglichkeiten für solche Fälle schafft, in denen der Verteidiger dem Ziel des staatlichen Strafverfahrens - Findung der richtigen Entscheidung in angemessener Zeit mit Mitteln der Verfahrenssabotage entgegenarbeite. 75 Selbst Hassemer anerkennt wohl im Grundsatz eine Begrenzung der Tätigkeit des Verteidigers, wenn er durchaus zutreffend formuliert, daß Strafverteidigung ein Recht innerhalb des Verfahrens und kein Recht gegen das Verfahren sei. 76
4. Konsequenzen der Anerkennung eines vom Verteidiger zu beachtenden öffentlichen Interesses an einer effektiven Rechtspflege (Kembereichsjormel) Anerkennt man im Grundsatz, daß der Strafverteidiger dem Anldagevorwurf nicht mit allen denkbaren Mitteln begegnen darf, so stellt sich natürlich sofort die entscheidende Frage der Grenzziehung zwischen noch zulässigem und bereits unzulässigem Verteidigerverhalten. Anders als bei der Kollision 71 Gössel legt zwar dar, daß dem Strafverteidiger nicht die Wahrung öffentlicher Funktionen zugeschrieben werden solle, stellt jedoch heraus: "Soweit Beulke solche Funktionen bejaht, dürfte die inhaltliche Differenz zur hier vertretenen Auffassung deshalb gering sein, weil die nach Beulke öffentlichen Funktionen sich weitgehend mit den hier dargelegten Rechten und Pflichten der Verteidigung decken, vgl. Gössel ZStW 94 (1982), S. 29 und Fn. 114 ebenda. 72 Gössel, ZStW 94 (1982), S. S. 29 und S. 30. 73 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 36. 74 Vehling, StV 1992, S. 87. 75 KK-Laujhütte, Vor § 137 Rn. 4. 76 Hassemer, ZRP 1980, S. 331.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
zwischen dem Beschuldigteninteresse mit dem öffentlichen Interesse an der Effektivität der Verteidigung kommt bei der Abwägung des privaten Interesses des Beschuldigten an der Festlegung einer autonom bestimmten Verteidigungsstrategie mit dem öffentlichen Interesse an einer möglichst effektiven Strafrechtspflege ein prinzipieller Vorrang des öffentlichen Interesses nicht in Betracht, da ansonsten jede sinnvolle Verteidigertätigkeit in Frage gestellt würde. 77 So erkennt Müller-Dietz völlig zu Recht, daß Strafverteidigung ihrer Natur nach darauf abziele, sowohl beim unschuldigen als auch beim schuldigen Angeklagten einen Freispruch oder wenigstens eine milde Bestrafung zu erreichen. 78 Sax spricht davon, daß doch unübersehbar jedwedes Verteidigerhandeln ein einziger "störender Eingriff" in den Vorgang der gerichtlichen Wahrheitsermittlung sei. 79 Diese "justizhemmende", aber dennoch völlig legale Komponente strafverteidigender Tätigkeit erkannte natürlich auch die Rechtsprechung. Sie spricht der BGH beispielsweise an, wenn er - bezogen auf die Straftatbestände der §§ 129, 129 a StGB - darlegt, es liege geradezu im Wesen der Strafverteidigung, daß sie sich "notwendigerweise" günstig auf den Fortbestand einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung auswirke, weil sie den Zugriff der Strafverfolgungsorgane auf die Gruppenmitglieder verhindere oder wenigstens erschwere. 80 Aber auch unter Berücksichtigung des Aspekts, daß Strafverteidigung oftmals oder überwiegend gerade darauf angelegt ist, die Justizmaschinerie zu hemmen, wird man vom Strafverteidiger doch verlangen müssen, daß er durch seine Tätigkeit die Justiz nicht lahmlegen darf, er - wie es Beulke formuliert - im öffentlichen Interesse einen gewissen Kembereich effektiver Strafrechtspflege zu respektieren hat. 81 Dem Verteidiger sind daher im öffentlichen Interesse alle Verhaltensweisen verboten, die die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege in ihrem Kembereich verletzen. Solche Kembereichsverletzungen können jedoch erst dann angenommen werden, wenn es sich bei dem Verhalten des Strafverteidigers um einen schwerwiegenden Eingriff in den Prozeß der Wahrheitsfindung handelt (sog. Kembereichsthese). 82 Nach Ansicht Beulkes lie-
77 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 143. 78 Müller-Dietz, Jura 1979, S. 244. 79 KMR-Sax, Ein!. IV, Rn. 38. 80 BGHSt 29, 99, 102. 81 Beulke leitet diesen Gedanken insbesondere durch einen Rückgriff auf die §§ 147 Abs. 2, 137 sowie 138 a StPO ab, vgl. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 143 ff. 82 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 149.
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes
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gen solche, nicht mehr tolerierbare Kembereichsverletzungen beispielsweise dann vor, wenn der Strafverteidiger im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens durch sein Verhalten den Untersuchungszweck gefährdet (vgl. § 147 Abs. 2 StPO), 83 die Lüge zum Verteidigungsmiuel erhebt 84 (Wahrheitspflicht des Verteidigers im Sinne eines Lügeverbots 85), unwahre Zeugenaussagen herbeiführt, 86 Beweismaterial fälscht 87 oder das Strafverfahren in der Weise absichtlich unzulässig verschleppt, daß eine Strafverfolgung unwahrscheinlich oder sogar unmöglich wird. 88
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes Da die Konzeption Beulkes das Verteidigerleitbild der Organtheorie in hohem Maße sowohl konkretisiert als auch modifiziert, ist im folgenden zwischen der grundSätzlichen Kritik an der Organlehre und der spezifischen Kritik an der eingeschränkten Organtheorie Beulkes zu unterscheiden.
I. Die grundsätzliche Kritik an der Organtheorie
1. Der Arbeitskreis Strafprozeßrejorm Im Rahmen der Begründung seines Reformvorschlages "Die Verteidigung" übte der Arbeitskreis Strafprozeßreform ausführlich Kritik an der herrschenden Organtheorie. Er führte gegen die Organtheorie insbesondere folgende Argumente ins Feld:
83 Näher Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 147 ff. 84 Näher Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 149 f.; Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 17; Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 175 f. 85 Siehe dazu die Nachweise oben unter Fußnote 15 in Kapitel 3. 86 Näher Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 151. 87 Näher Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 152 f. 88 Näher Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 153 f.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
a) Unzutreffende Funktionsbeschreibung der Verteidigung durch den Begriff "Organ der Rechtspflege" In der Begründung zu § 1 des Reformvorschlags kritisierte der Arbeitskreis Strafprozeßreforrn, daß mit der Bezeichnung "Organ der Rechtspflege" die Stellung der Verteidigung nicht zutreffend beschrieben werde, weil der Verteidiger zu einseitiger Interessenwahrnehmung verpflichtet sei und er auch keine staatlichen Aufgaben zu erfüllen habe. 89 b) Stellungnahme Die oben wiedergegebene Kritik des Arbeitskreises Strafprozeßreforrn könnte jedenfalls bei einem mit der aktuellen Verteidigerdiskussion nicht so vertrauten Leser leicht den Eindruck entstehen lassen, als würden die Anhänger der Organtheorie die einseitige Interessenwahmehmung durch den Strafverteidiger leugnen oder diese jedenfalls völlig in ihrer Bedeutung verkennen. Dieser Eindruck ist zu korrigieren. Daß ein Strafverteidiger die Interessen seines Mandanten wahrzunehmen hat, versteht sich von selbst und ist daher völlig unbestritten. So legte beispielsweise Beulke dar, daß die bedeutendste Pflicht des Verteidigers seine Pfli~ht zur sorgfaItigen Interessenwahrnehmung sei, wobei der Verteidiger alle im konkreten Fall zulässigen Möglichkeiten auszuschöpfen und sein gesamtes Können in den Dienst des Beschuldigten zu stellen habe. 90 Die Anhänger der Organtheorie wollen somit die Aufgabe des Verteidigers, einseitig Interessen zugunsten des Beschuldigten wahrzunehmen, in keiner Weise in Frage stellen. Fraglich ist nur und darauf kommt es entscheidend an, ob jedes Beschuldigteninteresse vom Verteidiger wahrzunehmen ist sowie weiterhin, ob der Verteidiger ausschließlich Interessen des Beschuldigten oder darüber hinaus noch andere Interessen zu beachten hat. 91 c) Ungeeignetheit des anwaltlichen Berufsrechts hinsichtlich der Begründung einer Organstellung des Strafverteidigers Ein weiterer Kritikpunkt des Arbeitskreises Strafprozeßreforrn bezieht sich auf die Bezeichnung des Verteidigers als "Organ der Rechtspflege". Da dieser 89 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 44. 90 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 45. 91 So völlig zu Recht BRAK-Stellungnahme, S. 2.
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes
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Begriff aus dem anwaltlichen Berufsordnungsrecht (Rechtspraxis des Ehrengerichtshofes für Rechtsanwälte, später Bundesrechtsanwaltsordnung) stamme, könnten daran für die Stellung des Verteidigers im Strafprozeß keine Konsequenzen geknüpft werden. 92 d) Stellungnahme Soweit der Arbeitskreis Strafprozeßreform die Ansicht vertritt, daß aus der Bundesrechtsanwaltsordnung, also dem spezifischen Berufsrecht der Anwaltschaft, in bezug auf die Funktion und Rechtsstellung eines Strafverteidigers keine Folgerungen hergeleitet werden können, ist dieser Meinung uneingeschränkt beizupflichten. Es wurde ja bereits oben 93 die Auffassung vertreten, daß § 1 BRAO hinsichtlich der spezifischen Rechts- und Pflichtenstellung eines Verteidigers keine konstitutive Bedeutung haben kann. Sofern jedoch in obiger Argumentation des Arbeitskreises Strafprozeßreform weitergehend die Leugnung jeglicher Organstellung des Verteidigers - verstanden als Wahrnehmung auch öffentlicher Aufgaben - zum Ausdruck kommen soll, ist dem entgegenzutreten, da die Anerkennung einer Organstellung des Verteidigers nicht von der gesetzlichen Normierung des Begriffes "Organ der Rechtspflege" in § 1 BRAO abhängig ist, ja aufgrund der bereits dargestellten historischen Entwicklung der Organlehre davon gar nicht abhängig sein kann. Bei § 1 BRAO handelt es sich nämlich nicht um den Ausgangspunkt der herrschenden Organlehre, sondern lediglich um die standesrechtliche Fixierung eines bereits im Prozeßrecht gewonnenen Ergebnisses. 94 Daß die herrschende Organlehre nicht in der Bundesrechtsanwaltsordnung wurzelt, erkennen selbst ausgesprochene Gegner der Organtheorie, wie z. B. Lüderssen, der darlegt, daß § 1 BRAO für die Auffassung, daß der Verteidiger ein Organ der Rechtspflege sei, nicht in Anspruch genommen werden könne, da die Organlehre keineswegs aus dieser Vorschrift abgeleitet, sondern lediglich damit abge~ stützt werde. 95
92 Arbeitskreis Strafprozeßrejorm, Die Verteidigung, S. 44. 93 Vgl. oben Kapitel 2 B I 4. 94 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 10. 95 LR-Lüderssen, Vor § 137 Rn. 79.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
e) Die fehlende Regelung der Organstellung des Verteidigers im Gerichtsverfassungsgesetz Die organschaftliche Stellung des Verteidigers müßte nach Auffassung des Arbeitskreises Strafprozeßreform wie die von Staatsanwaltschaft und Gericht im Gerichtsverfassungsgesetz geregelt sein, was aber nicht der Fall sei, da das GVG über den Verteidiger keine Bestimmung enthalte. 96 Folglich komme dem Strafverteidiger auch keine Organstellung zu. f) Stellungnahme
Richtig ist zunächst, daß das GVG über den Verteidiger keine Bestimmung enthält. Leider nimmt der Arbeitskreis Strafprozeßreform in keiner Weise dazu Stellung, woraus sich überhaupt die zwingende Notwendigkeit ergeben soll, daß die Organstellung des Strafverteidigers im GVG geregelt sein muß. Weiterhin ist hier anzumerken, daß auch die "organschaftliche" Stellung der Staatsanwaltschaft im GVG nur eine äußerst fragmentarische Regelung fand. Zwar spricht § 150 GVG davon, daß die Staatsanwaltschaften in ihren amtlichen Verrichtungen von den Gerichten unabhängig sind, doch enthält das GVG hinsichtlich des von der Staatsanwaltschaft wahrzunehmenden Aufgabenbereiches ebenfalls keine Regelung. Die konkreten Aufgaben der Staatsanwaltschaft (vgl. insbesondere §§ 152 Abs. 1, 160 ff., 243 Abs. 3, 451 StPO) sind vielmehr im Strafprozeßrecht angesprochen. Da somit auch die - unbestritten bestehende - organschaftliche Stellung der Staatsanwaltschaft im GVG allenfalls fragmentarisch, nämlich nur hinsichtlich der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften von den Gerichten, Berücksichtigung fand, ist nicht ersichtlich, warum Aufgabenbereich und Rechtsstellung des Verteidigers gerade im GVG hätten kodifiziert werden müssen. Die fehlende Regelung der Rechts- bzw. der Organstellung des Verteidigers im GVG ist daher kein besonders schlagkräftiges Argument gegen seine Eigenschaft als Organ der Rechtspflege. g) Keine Rechtfertigung der Organstellung aufgrund der Gewährung besonderer Verteidigerrechte Die organschaftliche Stellung des Strafverteidigers folgt nach Auffassung des Arbeitskreises Strafprozeßreform auch nicht aus der geltenden 96 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 44.
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes
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Strafverfahrensordnung, insbesondere nicht aus der Gewährung von Rechten, da es keine rechtliche Grundlage für die Annahme gäbe, daß bei der Erledigung staatlicher Aufgaben nur Staatsorgane Rechte haben. Hierzu führt der Arbeitskreis Strafprozeßreform weiter aus: "Auch wenn man für die Organe der Rechtspflege nicht fordern würde, daß sie zugleich Staatsorgane sind, sondern genügen ließe, daß sie Staatsaufgaben wahrnehmen, kann dem Verteidiger keine OrgansteIlung zugebilligt werden. Denn er erfüllt keine Staatsaufgaben. Dies wäre nur der Fall, wenn seine Pflicht darauf gerichtet wäre, bei der Ermittlung der Wahrheit und Erarbeitung einer dem materiellen Recht entsprechenden Entscheidung mitzuwirken. So verhält es sich aber nicht, da er zu einseitiger Interessenwahrnehmung verpflichtet ist." 97 h) Stellungnahme Die oben wiedergegebene Kritik des Arbeitskreises Strafprozeßreform kann sich ausschließlich gegen die Variante der Organtheorie richten, die die Funktion des Verteidigers in der Wahrnehmung auch staatlicher Aufgaben sah. Bereits oben 98 wurde jedoch dargestellt, daß dieser Variante der Organlehre allenfalls noch Bedeutung in rechtshistorischer Hinsicht zukommt, da sie heutzutage nicht mehr vertreten wird. Die aktuell vertretene Organlehre sieht den Verteidiger weder als ein Staatsorgan noch als einen Wahrer staatlicher Aufgaben an, sondern allenfalls als einen Wahrer auch "öffentlicher", d.h. im Interesse der Allgemeinheit liegender Aufgaben. Daß jedoch öffentliche Aufgaben und Staatsaufgaben nicht identisch sein müssen, ist ganz allgemein bekannt. 99 Die oben wiedergegebene Kritik kann die aktuell vertretene Organtheorie somit nicht treffen. 2. Die Kritik Knapps a) Mangelnde Aussagekraft und Vorbelastung des Begriffs "Organ der Rechtspflege" Heftige Kritik am Begriff "Organ der Rechtspflege" übte im Rahmen einer vielbeachteten juristischen Dissertation aus dem Jahre 1973 auch Knapp. Der Terminus "Organ der Rechtspflege" sei aus der Bundesrechtsanwaltsordnung 97 Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung, S. 44. 98 Vgl. oben Kapitel 2 B. 99 So bereits der Arbeitskreis Strafprozeßreform selbst, S. 44 f. 8 Domach
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
zu streichen, weil er keinerlei. Aussagekraft besitze, unreflektiert übernommen, historisch stark belastet sei sowie den verfassungsrechtlichen Standort des Verteidigers gefährlich nahe an das institutionelle Gefüge des Staates verlagere. 100 Hinsichtlich des zuletzt genannten Gesichtspunktes führte Knapp aus: "Der Begriff könnte nämlich eine derart nahe Heranruckung des Anwaltsberufs an den öffentlichen Dienst anzeigen, daß dieser Beruf nicht mehr dem Schutzbereich des Art. 12 GG unterstünde oder doch Eingriffe in die Berufsfreiheit des Anwalts ohne Beachtung der im Apothekenurteil aufgestellten Schrankentrias - lediglich unter Hinweis auf die Organstellung möglich sein sollen." 101 b) Stellungnahme Der Hauptkritikpunkt Knapps, daß der verfassungsrechtliche Standort des Strafverteidigers durch den Begriff "Organ der Rechtspflege" in § 1 BRAO gefährlich in Richtung Staat verlagert worden sei, ist durch die seither ergangene Rechtsprechung des BVerfG wohl eindeutig widerlegt worden. Hier ist insbesondere auf einen Beschluß des BVerfG aus dem Jahre 1983 zu verweisen, in dem das BVerfG ausdrücklich hervorhob, es ergäben sich aus dem geltenden Recht keine Anhaltspunkte dafür, "daß der freie und durch das Grundrecht der Berufsfreiheit geschützte Anwaltsberuf entgegen der rechtsstaatlichen Tradition der freien Advokatur an die Staatsorganisation herangeführt, beamtenähnlichen Treuepflichten unterworfen oder berufsrechtlich der Stellung von Richtern und Staatsanwälten angeglichen werden sollte." 102 Soweit Knapp allerdings die inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs "Organ der Rechtspflege" rügt, kann dem nur in vollem Umfange zugestimmt werden. Es handelt sich jedoch bei diesem Ansatzpunkt Knapps lediglich um eine Kritik des Begriffes "Organ der Rechtspflege" in § 1 BRAO, nicht jedoch um eine Kritik der Prinzipien, die sich nach Ansicht der Organtheorie zusammenfassend, vereinfachend sowie stellvertretend hinter dem Begriff "Organ der Rechtspflege" verbergen, wie z.B. die Unabhängigkeit und die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers. Mit keinem Wort äußerte sich Knapp ~twa dazu, ob er die nach der Organtheorie mit der Stellung als Verteidiger verbundene Unabhängigkeit oder ob er die Wahrheitspflicht des Strafverteidigers abschaffen bzw. deren Existenz auch nur in Frage stellen wollte. Es handelt sich 100 Knapp, Der Verteidiger - Ein Organ der Rechtspflege?, S. 140. 101 Knapp, Der Verteidiger - Ein Organ der Rechtspflege?, S. 131. 102 BVeIfG StV 1983, S. 420.
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes
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daher bei der Kritik Knapps nicht um eine grundsätzliche Kritik an der Organtheorie, jedenfalls dann nicht, wenn man den Begriff "Organ der Rechtspflege" - wie es die herrschende Organlehre seit langem praktiziert - als Kurzformel bzw. Schlagwort dafür auffaßt, daß dem Verteidiger nicht nur private, sondern auch öffentliche Funktionen zukommen. So bejaht beispielsweise Knapp ebenso wie auch Beulke, daß der Strafverteidiger öffentliche Funktionen wahrzunehmen hat. 103 Im übrigen kann die Kritik Knapps an § 1 BRAO die heute vertretene Organtheorie bereits deshalb nicht im Kern treffen, weil die Organlehre - wie bereits mehrfach erwähnt - die Vorschrift des § 1 BRAO nicht konstitutiv, sondern allenfalls zur Unterstützung bereits im Prozeßrecht gefundener Ergebnisse heranzieht. 104
3. Die Kritik Lüderssens Lüderssen behauptet, die Aussage, daß die OrgansteIlung dem Verteidiger überhaupt erst die Grundlage für eine Reihe wichtiger Rechte im Strafverfahren verschaffe, sei falsch, weil die meisten dieser Rechte in der nun über einhundert Jahre alten Strafprozeßordnung schon zu einer Zeit vorgesehen waren, als noch niemand behauptete, der Verteidiger sei ein Organ der Rechtspflege. Diese Rechte könnten dem Verteidiger auch direkt und ohne großen Umweg über die Installierung eines "Organs der Rechtspflege" gewährt werden. 105 Hier muß Lüderssen allerdings scharf widersprochen werden. Es geht doch in der Sache nicht um den Begriff "Organ der Rechtspflege" sowie den Zeitpunkt seines Auftauehens in der Rechtsgeschichte, sondern es geht doch um das, was letztlich hinter diesem Begriff steht, also um die aus der öffentlichen Funktionswahmehmung abzuleitenden Rechte und Pflichten des Verteidigers. 106 Mag man auch erst später die aus der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben folgenden Bindungen des Verteidigers sprachlich mit dem Begriff "Organ der Rechtspflege" umschrieben haben, so ändert dies doch nichts an der Tatsache, daß der Verteidiger diesen Bindungen, wie z.B. der Wahrheitspflicht, bereits seit Bestehen der geltenden Strafprozeßordnung unterlag. Die Kritik Lüderssens vermag daher nicht zu überzeugen.
103 Knapp, Der Verteidiger - Ein Organ der Rechtspflege?, S. 117.
\04 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 10. \05 Lüderssen, Dünnebier-Festschrift, S. 265.
106 Vgl. zur Wahrheitspflicht des Verteidigers die Nachweise unter Fußnote in Kapitel 3.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
4. Die Kritik Hamms In dem Versuch einer Standortbestimmung des Verteidigers im heutigen Strafprozeß durch Hamm wird zur Organtheorie ebenfalls kritisch und ablehnend Stellung genommen. Zur Stellung des Strafverteidigers als ein "Organ der Rechtspflege" legt Hamm dar, daß § 1 BRAO die Stellung des Rechtsanwalts allgemein betreffe, beispielsweise nicht für Hochschullehrer gelte, die nach § 138 StPO Wahlverteidiger sein könnten, und daher schon deshalb nicht die verfahrensrechtliche Stellung des Verteidigers und sein Verhältnis zum Mandanten regeln könne. 107 Dies ist nach der hier vertretenen Ansicht sicherlich richtig. Hamm übersieht jedoch offensichtlich, daß § 1 BRAO nicht Ausgangspunkt der herrschenden Organtheorie ist, sondern allenfalls unterstützend herangezogen werden kann. Die mangelnde Eignung einer Vorschrift des anwaltlichen Berufsrechts bezüglich der Begründung spezifischer Verteidigerrechte und -pflichten ist bereits seit längerer Zeit bekannt. 108 Die durchaus zutreffende Behauptung Hamms, § 1 BRAO könne zur Begründung der Organtheorie nicht herangezogen werden, ist damit kein hinreichendes Argument gegen die Stellung des Verteidigers als "Organ der Rechtspflege", verstanden als Wahrnehmung auch öffentlicher Aufgaben durch den Strafverteidiger. 11. Spezifische Kritik an dem Verteidigerkonzept Beulkes
1. Die angebliche Unbestimmtheit der eingeschränkten Organtheorie Beulkes Ein Vorwurf, den mehrere Autoren gegen die eingeschränkte Organtheorie erheben, ist die angeblich mangelnde Bestimmtheit der Konzeption Beulkes. So hält beispielsweise Heinicke die These Beulkes, daß eine öffentliche Funktion des Strafverteidigers die Wahrung eines Kernbereichs der Effektivität der Strafrechtspflege sei, für eine Gummiformel. 109 Freilich verliert auch diese Kritik am Verteidigerkonzept Beulkes sehr viel von ihrer ursprünglichen Schärfe, wenn Heinicke im weiteren Verlauf seiner Untersuchung eingesteht, daß sich die eingeschränkte Organtheorie Beulkes erfreulich von den häufig anzutreffenden allgemeinen Wohlverhaltens- oder Rechtstreueklauseln abhebe
107 Ramm, NJW 1993, S. 289, dort in Fußnote 2. 108 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 10. 109 Reinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 313.
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes
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und meist zu vertretbaren Ergebnissen gelange. 110 Auch Fezer hält bezüglich der Abgrenzung von zulässigem und unzulässigem Verteidigerverhalten die Formel Beulkes vom unzulässigen Eingriff in den Kernbereich der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege für zu unbestimmt. 111 Dieser Kritik kann man eine gewisse Berechtigung sicherlich nicht absprechen, gesteht doch sogar Beulke selbst zu, daß seinem Verteidigerkonzept eine gewisse Unbestimmtheit zukomme. 112 Im Anschluß daran führt Beulke jedoch aus, daß er nach wie vor an die Nützlichkeit seines Abwägungsprinzips glaube, da dieses Prinzip etwas verdeutliche, was weder Staatsanwälte noch Richter so recht wahrhaben wollten, daß nämlich eine der ureigensten Aufgaben des Strafverteidigers gerade darin liege, die Effektivität der Rechtspflege zu beeinträchtigen. Diese "Bremsertätigkeit" mache die Strafverteidigung keinesfalls unzulässig. Der Strafverteidiger dürfe jedoch die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nicht mit allen Mitteln verhindern, da er sonst unseren Rechtsstaat "aus den Angeln" heben könnte. 113 Als Folge davon wäre der Gesetzgeber geradezu gezwungen, die Rechte des Verteidigers einzuschränken. Die eingeschränkte Organtheorie besage daher, daß die Regelung solcher Schranken nicht erforderlich sei, weil der Verteidiger auch ohne solche Normen respektiere, daß er den staatlichen Strafanspruch nicht torpedieren dürfe. Die OrgansteIlung sei so gesehen die Basis für eine Ausweitung der Verteidigerbefugnisse, da die Rechtsgemeinschaft den Mißbrauch der dem Verteidiger gewährten Rechte nicht zu befürchten brauche. 114
2. Stellungnahme Mir erscheint es aus mehreren Gründen als verfehlt, gegen die eingeschränkte Organtheorie Beulkes den Vorwurf zu großer Unbestimmtheit zu erheben. Zum einen war Beulke der erste Autor, der die vom Verteidiger neben seiner Beistandsfunktion - wahrzunehmenden öffentlichen Funktionen (Effektivität der Strafverteidigung, Effektivität der Strafrechtspflege in einem Kernbereich sowie Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland) konkret beim Namen nannte. Wenn Beulke nun den Verteidiger für verpflichtet hält, einen
110 Vgl. Heinicke, Der Beschuldigte und sein 111 Fezer, Strafprozessrecht I 4, Rn. 40. 112 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 113 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, 114 Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers,
Verteidiger, S. 283. Rn. 14. Rn. 14. Rn. 14.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verrcidigerkonzept
Kernbereich effektiver Strafrechtspflege zu wahren 115, so ist dieser Ansatz allein schon deshalb positiv zu bewerten, weil die "Kernbereichsformel " eine bei weitem überzeugendere Abgrenzung von zulässigem und unzulässigem Verteidigerverhalten ermöglicht als bisherige, am jeweiligen Einzelfall verhaftete Erklärungsversuche. 116 Unverständlicherweise wird dieser richtige Ansatzpunkt selbst in jüngster Zeit immer noch verkannt. So schreibt beispielsweise Mehle, daß im Ergebnis nicht nach einem allgemein gültigen Prinzip zu fragen sei, das eine verläßliche Grenzziehung zwischen erlaubter Strafverteidigung und verbotener Strafvereitelung erlaube, sondern daß auf einzelne Gruppen von Verteidigerhandlungen abzustellen sei. 117 Man stelle sich nun ein Verteidigerverhalten vor, das noch keinen Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung fand bzw. von der Prozeßrechtsliteratur noch nicht entsprechend als zulässig bzw. unzulässig katalogisiert wurde. Wie soll angesichts dieser am Einzelfall verhafteten Vorgehensweise 118 ein Mehr an Rechtssicherheit und damit ein Mehr an Rechtsstaatlichkeit eintreten? Welche Entscheidungshilfen und Kriterien werden hier dem praktizierenden Strafverteidiger an die Hand gegeben, der oftmals unter Zeitdruck und dennoch zuverlässig beurteilen muß, was gerade noch erlaubt und was bereits strafbar ist? Eine Einzelfallbetrachtung, wie sie uns Mehle vorschlägt, ist weitgehend wertlos und öffnet nur erneuter Unsicherheit in bezug auf erlaubtes und unerlaubtes Tun des Verteidigers Tür und Tor. Den richtigen Weg erkannte hingegen Seier: Es sei der schlechteste Weg, wegen der hohen Konkretisierungsbedürftigkeit des Begriffes "Organ der Rechtspflege" von diesem Prinzip Abstand zu nehmen, da dieser Weg mehr Schaden als Nutzen bringe. 119 Vielmehr sei es geboten, dem - die Beistandspflicht in ihrer Tragweite begrenzenden - Begriff scharfe Konturen, einen gesicherten Inhalt zu verleihen, um so erlaubtes und unerlaubtes Verteidigerverhalten voneinander scheiden zu kön115 Die Kembereichsfonnel ist der eigentliche Stein des Anstoßes und wird von den meisten Autoren als zu unbestimmt kritisiert, vgl. nur Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 326 ("wachsweiche und mißverständliche Fonnel"), Müller, StV 1981, S. 94, der von "orakelhaft" spricht, Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 109, der ebenfalls die geringe Aussagekraft der Kembereichsfonnel beklagt und schließlich Samson in SK StGB, § 258 Rn. 38 a, wonach der Begriff des Kembereichs der Rechtspflege sehr dehnbar sei und nahezu beliebige Ergebnisse ennögliche. Scharf ablehnend nahm auch Temming in StV 1982, S. 539 ff. zur eingeschränkten Organtheorie Beulkes Stellung. 116 Völlig richtig Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 158. 117 Mehle, Koch-Festgabe, S. 187. 118 Von einer Methodik kann man ja schlecht sprechen. 119 Seier, luS 1981, S. 806.
D. Kritik an der Organtheorie und dem Verteidigerkonzept Beulkes
119
nen und auf fehlender Rechtssicherheit beruhendes Unbehagen durch transparente Regeln auszuräumen. 120 Genau diese Forderung Seiers erfüllt die von Beulke erarbeitete Kembereichsformel. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um eine Zauber- oder Wunderformel, jedoch um ein Abwägungsprinzip, aus dem sich die einzelnen Fallgruppen erlaubten und unerlaubten Verteidigerhandelns bei richtiger Anwendung zuverlässig ableiten lassen. Im übrigen: Der Vorwurf der Unbestimmtheit trifft die Kembereichsformel nicht mehr und nicht weniger als andere, von Wissenschaft und Rechtsprechung seit langem problemlos praktizierte Abwägungsvorgänge. So ist die Abwägung des Interesses an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege gegen andere Individual- oder Gemeinwohlinteressen seit langer Zeit gängige Praxis in der Rechtsprechung des BVerfG. 121 Man kann sich natürlich über die Verwendung des Begriffes "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" , wie es beispielsweise Hassemer tut 122, beklagen, wird sich jedoch angesichts der ständigen Spruchpraxis des BVerfG - wie Bottke - mit der Rechtswirklichkeit abfinden müssen. Bottke führte hierzu aus, daß angesichts der besonderen Dignität der Urteile des BVerfG (vgl. § 31 BVerfGG) und seiner ständigen Rechtsprechung, wonach der "Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit ... auch die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege verlange", die Kritik am Topos "effektive Rechtspflege bzw. Strafrechtspflege" unbeschadet ihrer 120 Seier, JuS 1981, S. 806. 121 Zu nennen sind hier beispielsweise: BVerfGE 34, 238: Abwägung der Bedürfnisse einer wirksamen Rechtspflege, nämlich möglichst vollständige WahrheitserrnittIung, wirksame Aufklärung schwerer Straftaten und Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. BVerfGE 39, 156: Abwägung des aus dem Rechtsstaatsgebot folgenden Gebotes der Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege mit dem Interesse des Beschuldigten an einer umfassenden Verteidigung. BVerfGE 44, 353: Abwägung des Interesses der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Rechtspflege gegen Belange der Gesundheitsfürsorge. BVerfGE 53, 152: Abwägung der Bedürfnisse einer wirksamen Strafrechtspflege gegen den Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten. BVerfGE 64, 108: Abwägung des Interesses an einer wirksamen Strafverfolgung mit den Belangen der Presse. BVerfGE 80, 367: Abwägung der Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung gegen das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. 122 Vgl. Hassemer, StV 1982, S. 275 ff. Das BVerfG zeigte sich jedoch von dieser Kritik unbeeindruckt und argumentierte auch weiterhin mit dem Begriff der "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege", vgl. hierzu nur BVerfGE 65, 171, 178, oder BVerfGE 74, 257, 262. Gegen Hassemer auch zutreffend 1iedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 25.
120
Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
Berechtigung weithin einem Kampf gegen Windmühlen ähnle. 123 Im übrigen ist den Kritikern Beulkes zu entgegnen, daß im Rahmen von (Interessen-) Abwägungsvorgängen einfache Schwarz-Weiß-Lösungen von vorneherein ausscheiden, d.h. es in der Natur aller Abwägungsvorgänge liegt, ein bestimmtes Maß an Unbestimmtheit aufzuweisen. Der Vorwurf zu großer Unbestimmtheit der Kernbereichsformel ist daher zurückzuweisen. Wenn man den Vorwurf zu großer Unbestimmtheit erheben will, so sollte man ihn nicht gegen die eingeschränkte Organtheorie, sondern gegen die Rechtsprechung erheben, der es seit mehr als einem Jahrhundert nicht gelungen ist, der Rechtsstellung des Strafverteidigers klare Konturen zu verleihen, ja der es in dieser langen Zeit nicht einmal gelang, die vom Verteidiger wahrzunehmenden öffentlichen Funktionen konkret beim Namen zu nennen. Würde sich die Rechtsprechung näher mit den theoretischen Grundlagen und den aus der öffentlichen Funktionswahrnehmung (= Organstellung) folgenden Rechten und Pflichten des Verteidigers beschäftigen, so würde auch die Kernbereichsthese Beulkes sehr schnell an Bestimmtheit gewinnen. Festzuhalten bleibt, daß es sich bei der Kernbereichsformel Beulkes um keine Zauberformel handelt, aber diese These mit dazu beitragen kann, daß sich die Rechtssicherheit im Bereich der Abgrenzung zwischen zulässigen und unzulässigen Verteidigerhandlungen in nicht unerheblichem Maße erhöht. Der Ansatz dazu wurde vereinzelt auch bereits gemacht. So hat beispielsweise das OLG Frankfurt die Richtigkeit der eingeschränkten Organtheorie Beulkes erkannt und in seine Rechtsprechung aufgenommen. 124
E. Zustimmende Stellungnahmen Selbstverständlich finden sich auch Stimmen, die die Richtigkeit und Nützlichkeit der eingeschränkten Organtheorie Beulkes erkannt haben. So hebt beispielsweise Vogtherr hervor, der Wert der von Beulke geleisteten Arbeit bestehe insbesondere in der von Beulke gewählten methodischen Vorgehensweise. Beulke hole die Erörterung der Problematik aus dem Standesrecht (BRAO) in das Verfahrensrecht zurück und definiere die Rechtsstellung des Verteidigers auf der Basis der im Gesetz gegebenen Anhaltspunkte. 125 Indem zur Bestimmung der Stellung der Verteidigung von Beulke auf die gesetzlichen Vorschriften der StPO zurückgegriffen wird, werde eine normative 123 Bottke, ZStW 96 (1984), S. 747. 124 OLG Frankfurt NStZ 1981, S. 145. 125 Vogtherr, Rechtswirklichkeit und EffIZienz der Strafverteidigung, S. 38.
F. Zusammenfassende Würdigung des Verteidigerkonzepts Beulkes
121
Begriffsbestimmung vorgenommen, die nicht der Gefahr erliege, einen vorgegebenen Begriff (nämlich Organ der Rechtspflege) mit dem gewünschten Inhalt zu füllen. 126 Zum anderen würden auf diese Weise auch die widerstreitenden privaten und öffentlichen Interessen klar zu Tage treten und Prinzipien gefunden, nach denen der jeweilige Vorrang des einen oder anderen Interesses festgestellt werden könne. 127 Es handle sich daher bei der eingeschränkten Organtheorie Beulkes, die die bestehenden Spannungen konzeptionell erfaße und zu lösen versuche, um den derzeit besten theoretischen Ansatz zur Bestimmung der Stellung des Verteidigers im Strafverfahren. 128 Ähnlich positiv äußert sich auch Jolmes. Gerade die Arbeit Beulkes habe gezeigt, daß dem Verteidiger wegen seiner öffentlichen Funktionen und Aufgaben die DoppelsteIlung als Beistand und als Organ der Rechtspflege zukomme. 129 Beulke sei es mit seiner eingeschränkten Organtheorie in bestechender Weise gelungen, die inhaltliche Aussagekraft der Organlehre zu verdeutlichen. 130 Dem Grundansatz nach folgt auch Roxin der Auffassung Beulkes, wenn er darlegt, daß sich Inhalt und Grenzen der Tätigkeit des Strafverteidigers als Ergebnis einer Abwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen bestimmen. 131 Auch Herrmann würdigt die Untersuchung Beulkes und spricht insbesondere im Hinblick auf das öffentliche Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege von einer interessant und elegant wirkenden Lösung. 132 Abschließend stellt Herrmann fest, daß schwer zu entscheiden sei, welche Seite der Arbeit Beulkes mehr Anerkennung verdiene, sei es der Entwurf eines geschlossenen, bis ins einzelne ausgefeilten Gesamtkonzepts oder die solide Behandlung von Detailproblemen. 133
F. Zusammenfassende Würdigung des Verteidigerkonzepts der eingeschränkten Organtheorie Beulkes Beulke gelang es zum einen nachzuweisen, daß die Lösung der Problematik um die Rechtsstellung und die Funktion des Verteidigers weder dem Verfas126 Vogtherr, Rechtswirldichkeit und EffIZienz der Strafverteidigung, S. 38. 127 Vogtherr, Rechtswirldichkeit und EffIZienz der Strafverteidigung, S. 38. 128 Vogtherr, Rechtswirldichkeit und EffIZienz der Strafverteidigung, S. 38 und 39. 129 Jolmes, Der Verteidiger im deutschen und österreichischen Strafprozeß, S. 69. 130 Jolmes, Der Verteidiger im deutschen und österreichischen Strafprozeß, S. 69. 131 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 19 Rn. 2 unter Verweis auf die eingehende Darstellung bei Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 200. 132 Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 108. 133 Herrmann, ZStW 95 (1983), S. 111.
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Kapitel 4: Die eingeschränkte Organtheorie als eigenständiges Verteidigerkonzept
sungs- noch dem anwaltlichen Standesrecht, sondern einzig und allein unserem geltenden Strafverfahrensrecht entnommen werden kann. Zum anderen begnügte sich Beulke - im Gegensatz zur überwiegenden Rechtsprechung - erfreulicherweise nicht mit der mehr oder weniger vagen Andeutung, daß der Strafverteidiger nicht nur Interessen des Beschuldigten wahrzunehmen habe, sondern ihm auch noch "andere Aufgaben" zukämen. Es ist das Verdienst Beulkes diese "anderen Aufgaben" des Verteidigers, sprich seine öffentlichen Funktionen, aus dem Gesetz herausgearbeitet und konkret beim Namen genannt zu haben. Auch die Erkenntnis Beulkes, daß der Verteidiger das Interesse an einer in Mindestmaßen wirksamen Strafrechtspflege zu wahren habe (sog. Kernbereichsformel), stellt gegenüber den bisher in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Lösungsansätzen einen nicht zu übersehenden Fortschritt dar. Während bisher isoliert auf das Verteidigerverhalten im jeweiligen Einzelfall abgestellt wurde, bietet uns die Kernbereichsformel Beulkes unter konkreter Benennung der als Abwägungsmaterial in Betracht kommenden privaten und öffentlichen Interessen nunmehr endlich die Möglichkeit hiervon wegzukommen und damit ein Mehr an Rechtssicherheit sowie Rechtsstaatlichkeit im Bereich der Abgrenzung von zulässigem und unzulässigem Verteidigerverhalten zu erreichen. Der Vorwurf zu großer Unbestimmtheit der Kernbereichsformel Beulkes ist unberechtigt und daher zurückzuweisen, da Beulke die in die Abwägung einzubeziehenden privaten und öffentlichen Interessen konkret benannte, also die in die Abwägung einzustellenden Komponenten eindeutig und abschließend feststehen. Da im Rahmen der vorliegenden Problematik Schwarz-Weiß-Lösungen von vorneherein ausscheiden, ist die noch verbleibende und allen Abwägungsvorgängen notwendigerweise anhaftende, da in der Natur der Sache liegende Unsicherheit nicht geeignet, die Brauchbarkeit und Nützlichkeit der Kernbereichsformel Beulkes ernsthaft in Frage zu stellen. Das Verteidigerkonzept Beulkes überzeugt damit sowohl vorn methodischen Ansatzpunkt als auch von den gefundenen Ergebnissen her und wird daher den weiteren Überlegungen zugrunde gelegt.
Kapitel 5
Abweichende Verteidigerkonzepte, neuere Diskussionsansätze zur RechtssteIlung des Strafverteidigers und ihre Bewertung Im folgenden sollen von der eingeschränkten Organtheorie Beulkes abweichende Verteidigerkonzepte sowie neuere Diskussionsansätze zur Rechtsstellung des Strafverteidigers erläutert und dem vorliegend vertretenen Verteidigerbild gegenüber gestellt werden.
A. Das Verteidigerbild Gössels Im Anschluß an die Untersuchung von Rolle und Funktion der Strafverteidigung durch Beulke erfolgte im Jahre 1982 durch Gössel der Versuch, Rechtsstellung und Aufgaben des Verteidigers näher zu umschreiben. 1 I. Das methodische Vorgehen Gössels Gössel stellte seinen Überlegungen zur Rechtsstellung des Strafverteidigers zwei Zerrbilder voran, zwei gegensätzliche Pole der Stellung des Verteidigers, die jeweils ungeeignet seien, dem Strafverteidiger als "Vor-Bild" zu dienen. 2 Dabei handelt es sich ,zum einen um das Bild des Anwalts, der quasi als "besoldeter Knecht" im eigenen finanziellen Interesse rücksichtslos und um jeden Preis auf den Vorteil seines Mandanten bedacht ist, zum anderen um das Bild des Verteidigers, der als Sachwalter einseitig staatlichen oder politischen Zielen verpflichtet ist. 3 Während ein allein dem Mandanteninteresse verpflichteter Interessenvertreter mindestens im Konfliktsfall als skrupelloser Komplize seines Mandanten einer gerechten Rechtspflege bis zur Verhinderung entgegenwirken müsse, könne der auf das richterliche Ziel der gerechten Rechtspflege festgelegte Verteidiger zwar dem Gericht, als Quasi-VorrichI Gössel, ZStW 94 (1982), S. 5 ff. 2 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 6. 3 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 6.
124
Kapitel 5: Abweichende Verteidigerkonzepte und neuere Diskussionsansätze
ter mindestens im Konfliktsfall jedoch nicht seinem Mandanten effektiv Beistand leisten. 4 Ausgehend von den soeben dargestellten Zerrbildern, die nach Ansicht Gössels die Abhängigkeit des Verteidigerbildes insbesondere von den Zielen des Staates aufzeigen, und weiterhin ausgehend von der Erkenntnis, daß die Ausübung von Strafgewalt die Ausübung staatlicher Gewalt ist, versuchte Gössel aus der Struktur des Strafverfahrens als geregelter Ausübung von staatlicher Gewalt ein Verteidigerleitbild zu gewinnen. 5 Ganz wesentlicher Anknüpfungspunkt und Grundlage war hierbei das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 28 Abs. 1 GG). Dessen Wesenselemente (wie z.B. die Selbstbindung des Staates an Gesetz und Gerechtigkeit, die Pflicht zur Wahrung der Grundrechte des Beschuldigten und die Pflicht, für eine effektive Strafverfolgung zu sorgen) sowie die als Verbindung von Instruktionsund Offizialgrundsatz verstandene Inquisitionsmaxime in einem dem Gewaltenteilungsgrundsatz entsprechenden Strafverfahren sind nach der Auffassung Gössels wesentliche Anhaltspunkte zur Bestimmung der Stellung des Verteidigers im rechtsstaatlichen Strafverfahren. 6 11. Der Inhalt des Konzepts Ausgehend vom Rechtsstaatsprinzip, der Struktur unseres Strafverfahrens und der Verankerung der Tätigkeit des Strafverteidigers im Grundrecht des Beschuldigten auf Wahrung seiner Personenwürde sieht Gössel die allgemeine Aufgabe der Strafverteidigung in einer umfassenden Kontrollfunktion gegenüber der strafverfolgenden Staatsgewalt, wobei diese Funktion des Verteidigers an dem allgemeinen Maßstab staatlichen HandeIns, nämlich dem von Recht und Gerechtigkeit, auszurichten sei. 7 Allerdings verpflichte diese Kontrolltätigkeit kraft ihrer Ableitung aus dem Recht des Beschuldigten auf Wahrung seiner Menschenwürde den Verteidiger nur zu einer einseitigen Tätigkeit zugunsten des Beschuldigten. Nach der Auffassung Gössels besteht also die Aufgabe des Strafverteidigers nur darin, auf die Wahrung von Gesetz und Gerechtigkeit durch die Strafverfolgungsbehörden "ausschließlich gegenüber dem Beschuldigten" hinzuwirken. 8 Ein Strafverteidiger habe demzufolge nur darauf zu achten, daß die strafverfolgende Gewalt nicht gesetzeswidrig oder 4 Gössel, 5 Gössel, 6 Gössel, 7 Gössel, 8 Gössel,
ZStW 94 (1982), ZStW 94 (1982), ZStW 94 (1982), ZStW 94 (1982), ZStW 94 (1982),
S. S. S. S. S.
7. 8. 27. 30. 30.
A. Das Verteidigerbild Gössels
125
ungerecht gegen seinen Mandanten vorgehe, während die Verhinderung eines gesetzwidrigen oder eines ungerechten Vorgehens der Staatsgewalt zugunsten des Beschuldigten nicht Aufgabe des Strafverteidigers sei. 9 Gössel sieht also die allgemeine Aufgabe der Strafverteidigung weder in einer Verhinderung der Strafverfolgung an sich noch in der Verhinderung einer Gesetz und Gerechtigkeit entsprechenden Wahrheitsermittlung im Strafverfahren, sondern in einer umfassenden Kontrolle der strafverfolgenden Staatsgewalt, wobei diese Kontrollfunktion vom Verteidiger nur dann effektiv ausgeübt werden könne, wenn dem Verteidiger sowohl gegenüber der Macht, die er zu überwachen hat, als auch gegenüber seinem Mandanten eine gewisse Unabhängigkeit zukommt. 10 ill. Kritik an dem Verteidigerkonzept Gössels
1. Ableitung des Verteidigerbildes aus dem Rechtsstaatsprinzip Der grundlegende Ansatzpunkt Gössels hinsichtlich der Bestimmung der Rechtsstellung des Verteidigers ist das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 28 Abs. 1 GG). Obwohl dieses Prinzip alles andere als eindeutig definiert ist, vertritt Gössel die Auffassung, daß bereits die Grundelemente und Wesenszüge des Rechtsstaatsgrundsatzes, die allgemeine Anerkennung gefunden haben, genügen, um die Rechtsstellung des Verteidigers im Strafverfahren hinreichend konkret beschreiben zu können. 11 Obwohl vorliegend natürlich nicht bestritten werden soll, daß die Struktur und das Ziel des Strafverfahrens sowie das Rechtsstaatsprinzip einen ganz wesentlichen Einfluß auf das Leitbild des Strafverteidigers haben, bestehen jedenfalls Bedenken gegen den von Gössel gewählten Lösungsansatz. Es erscheint wenig sachgerecht, sich auf das im Hinblick auf die Rechtsstellung des Strafverteidigers wenig aussagekräftige und vielerlei Interpretationen zugängliche Terrain des Verfassungsrechts zurückzuziehen, bevor nicht wenigstens ansatzweise versucht wurde, das geltende Strafverfahrensrecht nutzbar zu machen. Zuzugeben ist zwar, daß unsere Verfahrensordnung angesichts der nur höchst lückenhaften Regelung der Rechte und Pflichten des Strafverteidigers nicht der Ausgangspunkt einer Standortbestimmung des Verteidigers sein kann. Ausgangspunkt einer solchen Standortbestimmung können nur die 9 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 31. 10 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 32 und 33. 11 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 17.
126
Kapitel 5: Abweichende Verteidigerkonzepte und neuere Diskussionsansätze
vom Verteidiger wahrzunehmenden Funktionen und Aufgaben sein. Gerade diese Funktionen und Aufgaben können aber natürlich nur auf der Basis der im Gesetz, also unserer Strafverfahrensordnung, vorgegebenen Anhaltspunkte herausgearbeitet werden. 12 Unser geltendes Strafverfahrensrecht ist daher zwar nicht Ausgangspunkt, aber doch immerhin unverziehtbares Hilfsmittel im Rahmen der Standortbestimmung der Verteidigung.
2. Die Unbestimmtheit des Konzepts Aufgrund des hohen Abstraktionsgrades der von Gössel herangezogenen allgemeinen Prinzipien ist seinem Verteidigerkonzept eine gewisse Unbestimmtheit nicht abzusprechen. So erscheint es in der Tat als doch sehr fraglich, ob aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip konkrete Rechte und Pflichten des Verteidigers abgeleitet werden können. 13 Gerade aufgrund des hohen Abstraktionsgrades der verfassungsrechtlichen Normen und der daraus unvermeidlich folgenden Interpretationsfähigkeit der Verfassung hinsichtlich Rolle und Funktion der Strafverteidigung erscheint die Herleitung konkreter Rechte und Pflichten des Verteidigers als nahezu willkürlich und beliebig. Dies erkennt Gössel im Grunde selbst, wenn er die Bemerkung, daß das Rechtsstaatsprinzip alles andere als eindeutig defmiert sei, an den Anfang seiner Ausführungen zu diesem Grundsatz stellt. 14 Jedoch hält Gössel das Rechtsstaatsprinzip für ebenso hinreichend geklärt wie auch tragfähig genug, um daraus Folgerungen für die Stellung des Verteidigers im Strafverfahren ziehen zu können. 15 Diese Auffassung Gössels vermag nicht zu überzeugen. An dieser Stelle sei nur erwähnt, daß selbst das BVerfG sich äußerste Zurückhaltung hinsichtlich der Ableitung konkreter Rechte und Pflichten aus dem Rechtsstaatsprinzip auferlegt sowie die Weite und Unbestimmtheit dieses Prinzips ganz besonders betont. 16 Unter Berücksichtigung dieses Umstandes erscheinen die von Gössel herangezogenen allgemeinen Prinzipien als viel zu vage und zu unbestimmt, um überzeugende Antworten auf die Frage nach den konkreten Rechten und Pflichten eines Strafverteidigers liefern zu können. 17 Hier ist in vollem Umfang Grünwald zuzustimmen, der die Vorstellung, daß 12 Vgl. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 34. 13 So zutreffend Müller-Dietz in Weigend, ZStW 94 (1982), S. 48. 14 Vgl. Gössel, ZStW 94 (1982), S. 17. 15 Vgl. Gössel, ZStW 94 (1982), S. 16. 16 So beispielsweise BVerfGE, 57, 250, 276. 17 So schon Beulke in Weigend, ZStW 94 (1982), S. 50.
A. Das Verteidigerbild Gössels
127
sich eine bestimmte Konzeption der Verteidigerfunktion aus dem Grundgesetz herleiten lasse, für falsch hält und der weiterhin zutreffend darauf hinweist, daß unsere Verfassung für das von Gössel vertretene Verteidigerbild ebenso Raum läßt wie eben auch für völlig andere Verteidigerkonzepte. 18
3. Das Fehlen konkreter Folgerungen Ungeachtet des vorliegend für falsch erachteten Lösungsansatzes ist ferner zu bemängeln, daß Gössel schlichtweg nicht dazu in der Lage ist, die sich aus seinem Konzept ergebenden, konkreten Rechte und Pflichten des Verteidigers beim Namen zu nennen. In diesem Zusammenhang ist Hassemer beizupflichten, daß aufgrund der mangelnden Verknüpfung zwischen den von Gössel angesprochenen allgemeinen Grundsätzen und den konkret aus ihnen zu ziehenden Folgerungen die Schlußfolgerungen einer gewissen Disponibilität unterliegen. 19
4. Die unzureichende Aufgabenzuweisung an den Verteidiger Wenn Gössel weiterhin die Aufgabe des Verteidigers ausschließlich darin sieht, eine Kontrollfunktion zugunsten des Beschuldigten auszuüben, so greift diese Aufgabenzuweisung zu kurz. Der Strafverteidiger hat das Verhalten des Gerichts und der Strafverfolgungsorgane nicht nur kontrollierend zu beobachten, sondern er hat dem Anklagevorwurf auch in aktiver Weise entgegen zu wirken (beispielsweise durch eigene Ermittlungen). Wäre dies nicht der Fall, würde der Verteidiger gleichsam nur passiv kontrollieren und nicht auch aktiv gegen das staatliche Verfolgungsinteresse agieren, so wäre das im Strafprozeß geltende Prinzip der "Arbeitsteilung" von Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung durchbrochen und damit die Gewähr eines richtigen Prozeßergebnisses in Frage gestellt. 20
IV. Stellungnahme zu der Verteidigerkonzeption Gössels Das von Gössel entworfene Verteidigerbild erscheint dem hier favorisierten Verteidigerkonzept in Form der eingeschränkten Organtheorie Beulkes weder von der methodischen Vorgehensweise noch von den gezogenen Schlußfolge18 Grünwald in Weigend, ZStW 94 (1982), S. 52. 19 Hassemer in Weigend, ZStW 94 (1982), S. 49. 20 Vgl. dazu Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 150.
128
Kapitel 5: Abweichende Verteidigerkonzepte und neuere Diskussionsansätze
rungen her in irgendeiner Weise überlegen. Insoweit besteht also keinerlei Anlaß, das vorliegend vertretene Verteidigerbild aufzugeben oder auch nur ernstlich in Frage zu stellen. Interessant wird es jedoch sein, die immerhin unmittelbar aus der Verfassung (genauer: dem Rechtsstaatsprinzip) abgeleiteten Aussagen und Ergebnisse Gössels zur Kontrollfunktion der Strafverteidigung bzw. zur Abschichtung der Verantwortungsbereiche zwischen Gericht und Strafverteidigung mit dem hier - unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie Beulkes - noch zu findenden Ergebnis zu vergleichen.
B. Das Verteidigerkonzept Heinickes (sog. "extensive" Organtheorie) I. Der Inhalt des Konzepts
Ein weiteres Verteidigerleitbild erstellte im Jahre 1984 Heinicke. Im Anschluß und in Abgrenzung an die eingeschränkte Organtheorie Beulkes überschrieb er dieses Konzept mit "extensiver" Organtheorie. 21 Auch Heinicke anerkennt in eingeschränktem Maße eine öffentliche Aufgabenwahrnehmung des Strafverteidigers. Dessen öffentliche Funktion sei gerade auch dadurch bestimmt, daß er die Grundrechte des Beschuldigten schütze, wobei es nicht darauf ankommen soll, ob es sich um prozeßbezogene Grundrechte handelt oder nicht. 22 Als Garant der Grundrechte seines Klienten obliege dem Verteidiger die Aufgabe, prozessuale Grundrechtseingriffe zu verhindern und seinen Mandanten vor grundrechtsbeschränkenden Verfahrensergebnissen zu bewahren. 23 Im Gegensatz zu dem Konzept Beulkes, das folgerichtig aus der öffentlichen Aufgabe, für eine möglichst effektive Strafverteidigung zu sorgen, eine sehr weitgehende Unabhängigkeit des Verteidigers auch und gerade im Verhältnis zum eigenen Mandanten bejaht, soll nach der Auffassung Heinickes eine solche Unabhängigkeit des Strafverteidigers vom Willen des Beschuldigten grundsätzlich nicht anzuerkennen sein. Relevanz erlangt dies insbesondere in den Fällen, in denen der Verteidiger positiv um die Unschuld des Beschuldigten weiß, der Beschuldigte sich jedoch - aus welchen Gründen auch immer - nicht gegen den ihm gegenüber erhobenen Vorwurf verteidigen will. Legte man dieser Fallkonstellation das Verteidigerkonzept Beulkes zu21 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 466. 22 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 365. 23 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 365.
B. Das Verteidigerkonzept Heinickes
129
grunde, so dürfte, ja müßte der Strafverteidiger angesichts seiner öffentlichen Funktion, für eine bestmögliche Verteidigung zu sorgen, auch gegen den Willen des Beschuldigten versuchen, dessen Unschuld zu erweisen (z.B. durch die Stellung von entlastenden Beweisanträgen). Der Strafverteidiger ist eben nicht nur allein dem Willen des Beschuldigten, sondern auch überindividuellen Interessen (Effektivität der Verteidigung, Effektivität der Strafrechtspflege) verpflichtet, die es ihm in begründeten Einzelfällen - hier wegen des Vorrangs einer wirksamen Strafverteidigung - nicht nur erlauben, sondern sogar zur Pflicht machen, von den Weisungen des Beschuldigten abzuweichen. Nun anerkennt auch Heinicke, daß der Strafverteidiger in bestimmten Fällen vom Willen des Beschuldigten abweichen darf. Eine solche Abweichung sei jedoch erst dann zulässig, wenn jemand völlig unvernünftig und sinnlos eine Verurteilung auf sich nehme oder wenn der erstrebte Vorteil in gar keinem Verhältnis mehr zu den Nachteilen stehe. Als Beispiele nennt Heinicke die Fälle, daß sich ein Verdächtiger deshalb verurteilen lassen will, weil er Schande über seine Familie bringen oder weil er 20.- DM aus einer Wette gewinnen will. Gleiches gelte im Falle einer defekten Autonomie des Beschuldigten, etwa bei einem neurotisch bedingten Sühnebedürfnis oder bei Fehleinschätzungen der eigenen Fähigkeiten. 24 Hier sei es das Recht und die Pflicht des Verteidigers als "Organ der Rechtspflege" den Sozialwert des Beschuldigten notfalls auch gegen dessen Willen zu aktualisieren, da der Verteidiger damit jenes Minimum an Gemeinschaftsbezogenheit verwirkliche, das allen Grundrechten immanent sei und das seinen Ausdruck in der Unverzichtbarkeit der Menschenwürde finde. 25 Eine weitergehende Unabhängigkeit des Strafverteidigers im Verhältnis zu seinem Mandanten lehnt Heinicke jedoch strikt ab und erhebt gegen die eingeschränkte Organtheorie Beulkes insbesondere folgenden Vorwurf: Das Konzept Beulkes übersehe, daß "jemand ungerechtfertigt belastende Verfahrensergebnisse auch deshalb in Kauf nehmen kann, um seine Grundrechte in weiterem Umfang zu schützen." 26 Heinicke führt hierzu u.a. folgende Beispielsfälle an: 27 Die Ehefrau, die anstelle ihres als Handelsvertreter tätigen Mannes die Verurteilung wegen Straßenverkehrsgefahrdung auf sich nehme, schütze
24 Heinicke, 25 Heinicke, 26 Heinicke, 27 Heinicke, 9 Domach
Der Beschuldigte und Der Beschuldigte und Der Beschuldigte und Der Beschuldigte und
sein Verteidiger, sein Verteidiger, sein Verteidiger, sein Verteidiger,
S. S. S. S.
377. 377. 374. 374.
130
KapitelS: Abweichende Verteidigerkonzepte und neuere Diskussionsansätze
die Grundlage ihrer materiellen Existenz (Art. 14 GG) und unter Umständen ihre Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG). Der Schwerverbrecher, dem die ungerechtfertigte Verurteilung wegen eines geringfügigen Delikts als willkommenes Alibi dient, schütze sich damit vor weitaus härteren Sanktionen (Art. 2 Abs. 2, 14 GG). N ach der Konzeption Heinickes darf sich der Strafverteidiger in den genannten Fällen gegen den Willen seines Mandanten nicht für eine effektive Verteidigung und für ein richtiges Prozeßergebnis, sprich einen Freispruch, einsetzen, weil die grundrechtlich fundierten Interessen des Mandanten vor einem richtigen und günstigen Ergebnis im Strafverfahren letztlich den Vorrang hätten. 28 Auch einer Abwägung in dem Sinne, daß der Verteidiger im Einzelfall das jeweils werthöchste Grundrecht durchzusetzen hat, erteilt Heinicke eine klare Absage. Insbesondere unter Beachtung des Umstands, daß die Wertigkeit der Einzelgrundrechte oft von den persönlichen Vorlieben des Beschuldigten abhänge, müsse es dem Beschuldigten selbst überlassen bleiben, welches Verfahrensergebnis er anstrebe. 29 Setze sich ein Mensch bewußt einer Fehlbewertung im Strafverfahren aus, könne man darin jedenfalls solange nichts "Würdewidriges" erblicken, als dies geschehe, um andere - ebenfalls mit Menschenwürdegehalt versehene - Grundrechte zu schützen. Der Strafverteidiger habe diese Entscheidung zu respektieren, da sie Ausdruck der Freiheit des Beschuldigten sei. 30 Der Strafverteidiger dürfe sich eben nur dann über den Willen des Beschuldigten hinwegsetzen, wenn dieser ein ihm nachteiliges Fehlurteil in einem Zustand defekter Autonomie und aus offensichtlich völlig unsinnigen Motiven heraus anstrebe, insbesondere keine gleich- oder höherwertigen außerprozessualen Interessen damit verfolge. 31 Erst in einem solchen Ausnahmefall setze sich - so Heinicke - das Interesse am Erhalt der Menschenwürde gegen die grundsätzlich zu beachtende Beschuldigtenautonomie durch (sog. "menschenwürdelimitierte Beschuldigtenautonomie"). 32 Diese Konzeption besitze den Vorzug, "den Gedanken der Beschuldigtenautonomie ernst zu nehmen und den Verteidiger gerade als "Organ der Rechts-
28 Heinicke, Der Beschuldigte und 29 Heinicke, Der Beschuldigte und 30 Heinicke, Der Beschuldigte und 31 Heinicke, Der Beschuldigte und 32 Heinicke, Der Beschuldigte und
sein Verteidiger, sein Verteidiger, sein Verteidiger, sein Verteidiger, sein Verteidiger,
S. S. S. S. S.
375. 375. 376. 383. 383.
B. Das Verteidigerkonzept Heinickes
131
pflege" ausschließlich den Interessen seines Klienten zu verpflichten, ohne ihn deshalb zum willfährigen Instrument in dessen Hand herabzuwürdigen. " 33 11. Die Kritik am Konzept Heinickes
1. Die Verkennung von Sinn und Zweck der Strajverteidigung Heinicke sieht den Verteidiger als den umfassenden Garanten der Grundrechte seines Mandanten. Damit verkennt Heinicke jedoch bereits den Auftrag der Strafverteidigung. Es kann nämlich nicht die Aufgabe des Strafverteidigers sein, alle grundrechtlich geschützten Interessen zu beachten, die im Strafverfahren gegen seinen Mandanten auf irgendeine Art und Weise relevant werden und deren Durchsetzung sein Mandant - aus welchen Motiven auch immer - wünscht. Selbst wenn es dem Verteidiger im Einzelfall gelänge, diese Intereßsen festzustellen, würde dies noch lange nicht bedeuten, daß es auch mit z{I seiner Aufgabe gehört, für die Durchsetzung dieser Interessen zu sorgen. Wer - wie Heinicke - vom Verteidiger immer dann die Mitwirkung an der Produktion eines den Beschuldigten objektiv belastenden Fehlurteils verlangt, wenn der Mandant dies wünscht und irgendein grundrechtlich geschütztes Interesse des Beschuldigten vorliegt, der hat den Sinn und den Zweck der Strafverteidigung völlig aus den Augen verloren, nämlich den Schutz des Angeklagten vor Verhaftung, Anklage und Verurteilung. 34 Der Strafverteidiger ist nämlich nicht zu einem allumfassenden Grundrechtsschutz des Beschuldigten verpflichtet, sondern nur zu einem Schutz des Beschuldigten vor ganz bestimmten Angriffen, nämlich Angriffen in Form der Verhaftung, der Anklageerhebung und eben der Verurteilung. Es kann nicht Aufgabe und Funktion der Strafverteidigung sein, sehenden Auges eine Verurteilung eines unschuldigen Mandanten herbeizuführen bzw. an einem solchen Fehlurteil mitzuwirken, nur weil der Beschuldigte in grundrechtlichen Interessen irgendwelcher Art betroffen ist oder sich darin betroffen fühlt, falls er nicht unschuldig verurteilt wird. In dem von Heinicke selbst angeführten Fall der unschuldigen Ehefrau, die ein Fehlurteil gegen sich herbeiführen will, weil sie die Grundlage ihrer materiellen Existenz (Art. 14 GG) bzw. ihre Ehe gefährdet sieht (Art. 6 Abs. 1 GG), sind beispielsweise grundrechtliche Interessen der Ehefrau berührt, die weder in einem inneren Zusammenhang mit dem gegen sie betriebenen Strafverfahren noch in einem inneren Zusam33 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 385. 34 BGHSt 29, 99, 102.
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menhang mit der Verteidigung gegen den sie treffenden Vorwurf stehen. Auch die Lösung des Beispielsfalles betreffend den Schwerverbrecher, der die Herbeiführung einer (Fehl-) Verurteilung wegen eines geringfügigen Delikts als willkommenes Alibi wünscht, um nicht härteren Sanktionen ausgesetzt zu sein (Art. 2 Abs. 2 GG), vermag in keiner Weise zu überzeugen. Es mag zwar durchaus im Interesse des Schwerverbrechers liegen, nicht wegen des tatsächlich begangenen, schwereren Delikts bestraft zu werden, jedoch ist es keinesfalls Aufgabe der Strafverteidigung diesem Interesse des Beschuldigten, das wiederum mit der gegen ihn betriebenen Strafverfolgung wegen des geringfügigen Delikts in keinerlei innerem Zusammenhang steht, zur Durchsetzung zu verhelfen. Letztlich würde dies ja bedeuten, daß die Verteidigung in einem solchen Fall die Aufgabe hätte, ein Fehlurteil (hinsichtlich des geringfügigen Delikts) zu produzieren, um - wegen des Alibis - ein richtiges Urteil (hinsichtlich des wirklich begangenen Delikts) zu verhindern. Was dies mit Strafverteidigung (gegen den unberechtigten Vorwurf des geringfügigen Delikts) zu tun haben soll, kann vorliegend einfach nicht mehr nachvollzogen werden.
2. Die Unbestimmtheit der Terminologie Heinickes In bezug auf die von Heinicke verwendete Terminologie ist zunächst zu kritisieren, daß Heinicke nicht klarstellt, ob es ausreicht, daß der ein Fehlurteil begehrende Beschuldigte sich nur subjektiv in seinen Grundrechten bzw. in seinen grundrechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt fühlen muß 35 oder aber ob seitens des Verteidigers (der eine Verurteilung des unschuldigen Mandanten verhindern will) eine objektive Beeinträchtigung der Grundrechte bzw. der grundrechtlich fundierten Interessen des Beschuldigten feststellbar sein muß. Noch weit fataler ist jedoch, daß Heinicke sich nicht dazu äußert, ob der Strafverteidiger bereits durch eine Beeinträchtigung grundrechtlich fundierter Interessen daran gehindert wird, ein richtiges Prozeßergebnis herbeizuführen, oder ob eine Beeinträchtigung von Grundrechten des Beschuldigten vorliegen muß. Da Heinicke den Verteidiger ausdrücklich als den Wahrer 35 Dafür könnte die Fonnulierung Heinickes sprechen, daß der Verteidiger der Beschuldigtenautonomie ausnahmsweise die Anerkennung versagen dürfe, wenn der Beschuldigte "keine gleich- oder höherwertigen außerprozessualen Interessen verfolgt" bzw. die Fonnulie· rung, daß jemand ungerechtfertigte Verfahrensergebnisse auch deshalb in Kauf nehmen kann, "um seine Grundrechte in einem weiteren Umfang zu schützen" (vgl. Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 383 und 374).
B. Das Verteidigerkonzept Heinickes
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der Grundrechte des Beschuldigten begreift, soll hier von letzterem ausgegangen werden. Selbst wenn man jedoch auf die Beeinträchtigung von Grundrechten abstellt, bleibt weiterhin im Dunkeln, ob Heinicke nur die Berührung des grundrechtlichen Schutzbereiches oder aber weitergehend eine Grundrechtsverletzung verlangt (Worin genau soll eigentlich die Grundrechtsverletzung liegen, wenn der Verteidiger sich "weisungswidrig" verhält und dem unschuldigen Mandanten - gegen dessen ausdrücklichen Willen - zu einem Freispruch verhilft?). Wie soll der Strafverteidiger in der Praxis die Entscheidung, in welchen Fällen das angestrebte Fehlurteil als würdewidrig einzustufen 36 und er daher ausnahmsweise nicht sklavisch an den Willen seines Mandanten gebunden ist, eigentlich treffen, wenn dies alles völlig offen bleibt?
3. Die mangelnde Praktikabilität des Konzepts Begehrt der Beschuldigte ein Fehlurteil, so ist nach der Meinung Heinickes der Verteidiger an dieses Begehren nur dann nicht gebunden, wenn sein Mandant keine gleich- oder höherwertigen außerprozessualen Interessen damit verfolgt. 37 Der Verteidiger, der gegen den Willen des Mandanten ein günstiges und richtiges Prozeßergebnis zu dessen Gunsten erreichen will, ist also nach der Auffassung Heinickes zur umfassenden Motivforschung verpflichtet. Liegen nämlich auf Seiten des Beschuldigten gleich- oder höherwertige grundrechtlich geschützte Interessen vor, dann ist der Verteidiger an den Willen des Mandanten gebunden und hat auf ein Fehlurteil hinzuwirken bzw. darf ein solches Fehlurteil nicht verhindern. Wie aber soll ein Verteidiger in der täglichen Praxis - im Rahmen der von ihm vorzunehmenden Abwägung - zuverlässig feststellen, ob gleich- oder höherwertige Interessen seitens des Mandanten vorliegen, ist doch - wie Heinicke selbst darlegt - die werttheoretische Qualifizierung der Einzelgrundrechte höchst unsicher und meist von den persönlichen Vorlieben des gerade Betroffenen abhängig? 38
m. Abschließende Stellungnahme zum Konzept Heinickes Heinickes Verteidigerkonzept gelangt im Konfliktsfall - der Kollision des öffentlichen Interesses an einer möglichst effektiven Strafverteidigung sowie 36 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 383. 37 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 383. 38 Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 375.
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des Interesses an einem richtigen und gerechten Prozeßergebnis mit dem entgegengesetzten Individualinteresse des Beschuldigten an der Herbeiführung eines Fehlurteils - aufgrund einer Verkennung des Wesens der Strafverteidigung zu unrichtigen Ergebnissen. Die Strafverteidigung soll den Beschuldigten nämlich nicht vor staatlichen Eingriffen aller Art, sondern vor staatlichen Eingriffen insbesondere in Form von Verhaftung, Anklage und Verurteilung effektiv schützen. Weiterhin bleibt auch völlig unklar, anhand welcher Kriterien der Verteidiger die von ihm vorzunehmende Abwägung zwischen der ihn grundsätzlich bindenden Beschuldigtenautonomie und dem Interesse an einer möglichst guten Verteidigung des Beschuldigten sowie an einem richtigen und gerechten Prozeßergebnis vorzunehmen hat. Die Konzeption Heinickes führt in den dargestellten Konfliktsfällen zu einem letztlich völlig inakzeptablen Ergebnis, nämlich dazu, daß der Verteidiger in sklavischer Abhängigkeit jede noch so unsinnige Entscheidung seines Klienten akzeptieren und er untätig mitansehen muß, wie dieser in sein Unglück rennt. 39 Dies gilt insbesondere unter Zugrundelegung des Aspekts, daß irgendwelche grundrechtlich geschützten Interessen seitens des Mandanten in der Regel wohl schnell gefunden werden können. Wie würde Heinicke eigentlich entscheiden, wenn jemand nur deshalb den Wunsch hätte, unschuldig verurteilt zu werden, weil er im Gefängnis bessere Lebensbedingungen zu erwarten hätte (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG) oder weil er beispielsweise vorhätte, ein möglichst realistisches Buch über das Leben im Gefängnis zu verfassen (vgl. z.B. Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 5 Abs. 1 GG)? Müßte auch in diesen Fällen, in denen sicherlich ebenso "grundrechtlieh fundierte Interessen" des Beschuldigten berührt wären, der Verteidiger den Wunsch des Mandanten akzeptieren und auf ein unrichtiges Prozeßergebnis hinwirken? Das Konzept Heinickes vermag in keiner Weise zu überzeugen und ist daher entschieden abzulehnen. Die Undurchführbarkeit dieses Konzepts in der alltäglichen Praxis des Strafverteidigers ist allenfalls ein weiterer Gesichtspunkt diesem Verteidigerbild die Gefolgschaft zu versagen.
39 Also zu einem Ergebnis, das Heinicke im Grunde selbst ablehnt, vgl. Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 375.
C. Der Dislrussionsansatz Harnms
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c. Der Diskussionsansatz Hamms I. Das methodische Vorgehen Hamms In einem mit der Überschrift "Der Standort des Verteidigers im heutigen Strafprozeß" betitelten Aufsatz forderte in jüngster Zeit Hamm einen Methodenwechsel hinsichtlich der Standortbestimmung des Strafverteidigers. 40 Die Notwendigkeit eines solchen Umdenkens begründete Hamm mit der Behauptung, .daß bei der Suche nach der Rechtsstellung des Verteidigers bisher weder die Rechtswissenschaft noch die Rechtsprechung oder der Gesetzgeber eine brauchbare Orientierungshilfe bieten konnten. 41 Bis zum heutigen Tage habe sich keine der vertretenen Verteidigertheorien (Organtheorie, eingeschränkte Organtheorie, Parteiinteressentheorie, Vertragstheorie) in einer Weise durchsetzen können, daß sie als theoretischer Überbau für eine Kodifizierung der Rechte und Pflichten des Strafverteidigers konsensfähig . wäre. 42 Die Auseinandersetzung Hamms mit der herrschenden Organtheorie beschränkt sich jedoch leider auf die lapidare Feststellung, es sei ja allgemein bekannt, daß sich die sogenannte Organtheorie diejenigen auf ihre Fahnen geschrieben hätten, die eine weitgehende Disziplinierung des Strafverteidigers befürworteten. 43 Abzulehnen sei jedoch auch die Theorie vom Verteidiger als privatem Interessenvertreter des Beschuldigten, da die Strafverteidiger, würde sich diese Verteidigertheorie durchsetzen, alles nur noch "im Namen und mit Vollmacht" des Mandanten tun würden und mit dem Verlust von eigenständigen Verteidigerrechten, wie beispielsweise dem Akteneinsichtsrecht, zu rechnen sei. 44 Überhaupt sei unsere Strafprozeßordnung, die ihren Charakter als Ausführungsgesetz zur Verfassung und als Schutzgesetz für den Beschuldigten immer mehr verliere 1pld schrittweise in einen Ermächtigungskatalog für die von Polizeistrategen gewünschten Eingriffsbefugnisse umfunktioniert werde, nicht geeignet, Rolle und Standort des Strafverteidigers unverrückbar zu bestimmen. Dies gelte insbesondere deshalb, weil das Strafverfahrensrecht ebenso wie das zivilrechtliche Vertragsrecht gegen gesetzgeberische Einflüsse nicht gefeit sei. 45 Als geeignete Rechtsquellen kä40 Hamm, 41 Hamm, 42 Hamm, 43 Hamm, 44 Hamm,
NJW NJW NIW NIW
1993, 1993, 1993, 1993, NIW 1993, 45 Hamm, NIW 1993,
S. S. S. S. S. S.
289 ff. 293. 289. 289. 289. 293.
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men nur das Grundgesetz sowie die Europäische Menschenrechtskonvention in Betracht, da nur diese positivrechtlichen Verankerungen der Verteidigungsrechte Gesetzgeber und Rechtsprechung in hinreichender Weise binden könnten. 46 Überdies müßten diese Bindungen so fest sein, daß die Verteidigungsstandards ohne die üblicherweise angebotenen Abwägungen und Kompromisse zwischen der öffentlich-rechtlichen und der privaten Einbindung des Strafverteidigers feststünden. 47 Ausgehend von diesen Überlegungen spricht sich Hamm in sechs Thesen für die Anerkennung verfassungsrechtlich abgeleiteter und damit nicht mehr disponibler (Grund-) Verteidigungsrechte im Sinne einer "Magna Charta" aus.
n. Der Inhalt des Diskussionsansatzes Die zur Diskussion gestellten Verteidigungsgrundrechte, die als Grundausstattung der Strafverteidigung, quasi als "Magna Charta Libertatum" , unantastbar sein sollen 48, faßt Hamm in die sechs folgenden Thesen zusammen: (1)
Alle Rechte und Pflichten der Verteidigung sind abgeleitet aus den Rechten des Beschuldigten. Dies gilt auch, soweit die StPO dem Verteidiger eigene Befugnisse, und zwar auch solche einräumt, die der Beschuldigte selbst nicht ausüben darf.
(2)
Auch wenn die Strafprozeßordnung eine notwendige Verteidigung vorschreibt, behält der Beschuldigte das ihm in der Menschenrechtskonvention verbriefte Recht, frei zu entscheiden, ob er sich selbst verteidigen will oder ob er die Verteidigung seinem gewählten oder bestellten Verteidiger überläßt. Der Mandant des Pflichtverteidigers darf rechtlich nicht schlechter gestellt werden als der Mandant des Wahlverteidigers.
(3)
Das Recht des Beschuldigten auf aktive Teilhabe an der Wahrheitsund Rechtsfindung und sein Recht auf Passivität, von dem das Schweigerecht nur ein Teilaspekt, das Recht, den Zeitpunkt für ein Verteidigungsvorbringen frei zu wählen, ein anderer ist, müssen unangetastet bleiben.
46 Hamm, NJW 1993, S. 293. 47 Hamm, NJW 1993, S. 293. 48 Hamm, NJW 1993, S. 293.
C. Der Diskussionsansatz Hamms
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(4)
Eine dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtete Strafverteidigung ist begrifflich und teleologisch auf die absolute Tabuisierung des Innenverhältnisses zum Mandanten angewiesen.
(5)
Die Tabuisierung des Innenverhältnisses müssen aber auch Verteidiger und Mandant gelten lassen. Auch die Frage, ob der Verteidiger seiner Beratungspflicht nachkommt, unterliegt nicht der Kontrolle durch die anderen Verfahrensbeteiligten.
(6)
Das Prinzip der Unschuldsvermutung schließt auch das Verbot ein, den bloßen Verdacht des Mißbrauchs von Verteidigerrechten zum Anlaß zu nehmen, die Prinzipien 1 - 5 einzuschränken.
m. Kritik am Diskussionsansatz Hamms 1. Die Veifassung und die Europäische Menschenrechtskonvention als ungeeignete Ausgangspunkte einer Standortbestimmung Bereits der Ausgangspunkt Hamms, die Ungeeignetheit unserer Strafverfahrensordnung hinsichtlich einer Standortbestimmung der Verteidigung, erscheint verfehlt. Das Vorgehen Hamms begegnet in dieser Beziehung denselben Bedenken, wie sie bereits oben hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise Gössels vorgetragen wurden. Hier hätte ein Rückgriff auf die sedes materiae, nämlich das geltende Strafprozeßrecht und nicht auf das vielerlei Interpretationen zugängliche Verfassungsrecht erfolgen müssen.
2. Die Ungeeignetheit des Veifassungsrechts hinsichtlich der Herleitung konkreter Rechte und Pflichten des Verteidigers Selbstverständlich wird niemand leugnen können, daß das Institut der Strafverteidigung als solches eine notwendige Einrichtung unseres Rechtsstaats darstellt und daß das in Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 28 Abs. 1 GG niedergelegte Rechtsstaatsprinzip Rolle und Standort der Strafverteidigung ganz wesentlich beeinflußt. 49 Abzulehnen ist jedoch die Fähigkeit des Verfassungsrechts, konkrete Rechte und Pflichten des Verteidigers zu begründen. Diese Ungeeignetheit des Verfassungsrechts wurde in der Verteidigerdiskussion auch schon sehr früh erkannt. 50 Wer - wie Hamm - versucht, unmittelbar aus der Verfassung konkrete Rechte und Pflichten des Strafverteidigers 49 Müller-Dletz in Welgend, ZStW 94 (1982), S. 48. so Vgl. Müller-Dietz in Welgend, ZStW 94 (1982), S. 48.
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abzuleiten, verlangt von unserem Grundgesetz etwas, was dieses objektiv nicht zu leisten vermag und natürlich auch subjektiv niemals leisten sollte.
3. Mangelnde Auseinandersetzung mit den Argumenten der herrschenden Organtheorie Den drängenden und auch umstrittenen Fragen der aktuellen Verteidigerdiskussion, wie z.B. der Frage, ob der Strafverteidiger neben den privaten Interessen des Mandanten auch öffentliche Interessen wahrzunehmen hat, wenn ja welche, oder inwieweit im Verhältnis zum Beschuldigten eine Unabhängigkeit des Verteidigers anzuerkennen ist 51, widmete sich Hamm leider überhaupt nicht bzw. schenkte diesen Fragen zu wenig Beachtung. Gerade im Rahmen des Versuchs einer umfassenden Standortbestimmung der Strafverteidigung 52 wäre eine Erörterung der PflichtensteIlung der Verteidigung mindestens ebenso erforderlich gewesen, wie eine isolierte Festschreibung ihrer Rechte. Allein durch seine knappe, inhaltsleere Kritik an der Organtheorie sowie durch die unzutreffende Behauptung, deren Vertreter seien Befürworter einer weitgehenden Disziplinierung der Strafverteidiger, kann Hamm jedenfalls die zutreffenden Argumente und Funktionsbeschreibungen der herrschenden Organtheorie nicht aus der Welt schaffen, mag er nun einen Methodenwechsel fordern oder nicht.
4. Gefahr des Zirkelschlusses sowie Gefahr einer gewissen Beliebigkeit der gefundenen Ergebnisse Wer unserem geltenden Strafverfahrensrecht die Fähigkeit abspricht, die Rolle und den Standort der Strafverteidigung dauerhaft bestimmen zu können und wer sich dann auf das höchst interpretationsfähige Gebiet des Verfassungsrechts und der Europäischen Menschenrechtsrechtskonvention zurückzieht, begibt sich des weiteren unnötig in die Gefahr eines Zirkelschlusses. 51 Hinsichtlich der von der Organtheorie anerkannten Unabhängigkeit des Strafverteidigers im Verhältnis zu seinem Mandanten ist den Erläuterungen Hamms zu seiner zweiten These zu entnehmen, daß er eine derart weitgehende Unabhängigkeit nicht anerkennt: Aus dem Recht des Beschuldigten, frei zu wählen, ob er sich selbst verteidigen oder ob er die Verteidigung seinem gewählten oder bestellten Verteidiger überlassen will, ergebe sich zwar kein Weisungsrecht des Beschuldigten gegenüber seinem Verteidiger, jedoch folge aus diesem Recht, daß bei einern unklaren oder widersprüchlichen Antragsverhalten zwischen dem Beschuldigtem und seinem Verteidiger prozessual der Wille des Mandanten und nicht die entgegenstehenden Erklärungen des Verteidigers Gültigkeit haben. 52 So lautet immerhin der Titel seines Aufsatzes, vgl. Hamm, NIW 1993, S. 289 ff.
D. Die Thesen der Bundesrechtsanwaltskammer
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Wie leicht kann es bei einer solchen Vorgehensweise passieren, daß man, um ein bestimmtes Recht oder um eine bestimmte Pflicht des Verteidigers begründen zu können, die Rechtsstellung des Verteidigers derart wählt, daß das gewünschte Ergebnis später dieser - selbst gewählten - Rechtsstellung entnommen werden kann. In diesem Zusammenhang ist schließlich noch auf die nicht von der Hand zu weisende Gefahr einer gewissen Beliebigkeit der gefundenen Ergebnisse hinzuweisen. IV. Abschließende Stellungnahme zum Diskussionsansatz Ramms Aus den oben genannten Gründen erscheint das methodische Vorgehen Beulkes der Vorgehensweise Hamms überlegen, so daß keinerlei Anlaß besteht, von dem Verteidigerbild der eingeschränkten Organtheorie Abstand zu nehmen. Abschließend kann festgestellt werden, daß das Konzept Hamms die aktuelle Verteidigerdiskussion sicherlich um eine weitere interessante Meinung bereichert, ob der Ansatz Hamms jedoch in der Lage ist, dieser Diskussion entscheidende Impulse zu geben, bleibt abzuwarten und wird vorliegend eher skeptisch beurteilt.
D. Die Thesen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer Im Januar 1992 legte der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer 64 Thesen zur Stellung und Funktion des Strafverteidigers vor. 53 Diese Thesen, deren Rechtsnatur vom Ausschuß als "Orientierungshilfe ohne Rechtsqualität" beschrieben wurde, sollen vor typischen Gefahren der Berufspraxis warnen und an die rechtliche Sensibilität und Aufmerksamkeit appellieren. 54 I. Das methodische Vorgehen des Strafrechtsausschusses Der Strafrechtsausschuß beschritt in methodischer Hinsicht einen Weg, der im Geleitwort von Rieß als "induktiver" Weg bezeichnet wird: 55 Es wurde im Rahmen der Diskussion und Erarbeitung der einzelnen Thesen kein expliS3 Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer, Thesen zur Strafverteidigung, München, 1992; Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer, Band 8; vgl. hierzu auch die überwiegend positive Buchbesprechung von Beulke (Näheres im Literaturverzeichnis). S4 BRAK-Thesen, S. 2l. S5 BRAK-Thesen, S. 1 (Geleitwort).
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Kapitel 5: Abweichende Verteidigerkonzepte und neuere Diskussionsansätze
zites Bekenntnis zu einer der aktuell vertretenen Verteidigertheorien abgelegt, sondern es wurden einzelne Felder, Aktivitäten und Beziehungen verteidigender Tätigkeit betrachtet und hierzu von einer möglichst breiten Übereinstimmung getragene Grundaussagen gemacht. 56
ll. Der Inhalt der Thesen des Strafrechtsausschusses In den Thesen 1 - 3 versuchte der Strafrechtsausschuß seiner Auffassung zur Rechtsstellung des Strafverteidigers allgemeine Grundsätze voranzustellen. Insbesondere diese besonders bedeutsam erscheinenden Thesen sollen im folgenden nähere Betrachtung finden.
1. These 1 (Freiraum der Verteidigung) (1)
Der Verteidiger ist frei in der Gestaltung der Verteidigung im Rahmen der Gesetze, seiner Schutzaufgabe und seiner Einordnung in die Funktion der Strafrechtspflege.
(2)
Dieser Freiraum umfaßt alle Maßnahmen, die der Verteidiger zur Abwehr der gegen seinen Mandanten erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe durchführt, veranlaßt oder geschehen läßt.
Zu These 1 stellt der Strafrechtsausschuß fest, daß es sich bei dieser These um eine Art Leitsatz für das Agieren des Verteidigers handle, wobei der postulierte Freiraum der Verteidigung insbesondere ein Äquivalent zum Grundsatz der freien Gestaltung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens darstelle. 57 Die Aufgabe des Verteidigers, an der er sein berufliches Verhalten primär zu orientieren habe, sieht der Ausschuß in dem Schutz des Mandanten gegen die ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe. 58 Der Verteidiger sei Widerpart von Strafverfolgungsbehörde und Gericht, wobei dies allerdings nicht schrankenlos gelte, da er als dem Gericht und der Strafverfolgungsbehörde gleichgestelltes Organ der Rechtspflege Bestandteil ihrer Funktion sei. 59
56 BRAK-Thesen, 57 BRAK-Thesen, 58 BRAK-Thesen, 59 BRAK-Thesen,
S. S. S. S.
1 (Geleitwort). 23. 23. 23.
D. Die Thesen der Bundesrechtsanwaltskammer
141
2. These 2 ("GarantensteIlung • des Verteidigers) Der Verteidiger ist nur im Rahmen seiner Aufgabe, den Mandanten wirksam zu schützen, Garant eines justizförmigen Verfahrens. Besonders ergiebig im Zusammenhang mit der hier noch zu diskutierenden Frage nach der Abschichtung der Verantwortungsbereiche zwischen Gericht und Verteidigung erscheint die zweite These des Strafrechtsausschusses zur "Garantenstellung" des Strafverteidigers zu sein. Während Staatsanwaltschaft und Gericht verpflichtet seien, darauf zu achten, daß das Strafverfahren "in sämtlichen Stadien und in allen Einzelheiten mit den prozeßrechtlichen und materiellrechtlichen (gesetzlichen) Vorschriften in Einklang stehe", gelte diese Pflicht für den Verteidiger nicht in gleicher Weise. 60 Aus der Schutzaufgabe des Strafverteidigers zugunsten seines Mandanten ergebe sich ungeachtet seiner Einordnung in den Zusammenhang der Strafrechtspflege eine Modifikation dahingehend, daß eine Kontrolle der Gesetzmäßigkeit des Verfahrens nur insoweit zu seinen Aufgaben gehöre, als es sich um die Wahrung der Rechte des Mandanten handle, d.h. der Strafverteidiger bei der Verletzung prozeß- bzw. sachlichrechtlicher Vorschriften nur dann einschrei ten werde, wenn daraus für seinen Mandanten Nachteile erwachsen oder im weiteren Prozeßverlauf zu erwarten seien. 61 Selbst bei schwerwiegenden Verfahrensfehlem wie etwa dem rechtswidrigen Ausschluß der Öffentlichkeit sei es nicht Aufgabe des Strafverteidigers für die Gesetzmäßigkeit des Strafverfahrens Sorge zu tragen. 62 Der Verteidiger dürfe den ohne sein Zutun entstandenen Verfahrens fehler hinnehmen und dennoch später in einem sich gegebenenfalls anschließenden Rechtsmittelverfahren zugunsten seines Mandanten zur Geltung bringen. 63
3. These 3 (Entscheidung bei Pjlichtenkollisionen) Pflichtenkollisionen hat der Verteidiger unter sorgfältiger Abwägung widerstreitender Rechtsmaximen zu entscheiden. Dabei beachtet er insbesondere seine Schutzaufgabe, seine Einbindung in die Rechtspflege, die Bedeutung und die Folgen der dem Mandanten vorgeworfenen Tat, den Schutz der Persönlichkeitssphären und die Folgen des Verteidigungsverhaltens. 60 BRAK-Thesen, 61 BRAK-Thesen, 62 BRAK-Thesen, 63 BRAK-Thesen,
S. S. S. S.
25. 25. 25. 25.
142
Kapitel 5: Abweichende Verteidigerkonzepte und neuere Diskussionsansätze
Äußerst knapp fallen die Erläuterungen des Ausschusses zu These 3 aus: Es handle sich um eine Art GeneralklauseI, in der wichtige und typische Abwägungselemente ihre Zusammenfassung fänden. 64 4. These 9 (Grundsatz) und These 10 (Konsensgebot)
Von den weiteren Thesen des Strafrechtsausschusses erscheinen im Zusammenhang mit dem hier vertretenen Verteidigerkonzept noch die Thesen 9 und 10 zur Weisungsunabhängigkeit des Strafverteidigers von besonderer Relevanz zu sein. Diese Thesen lauten: These 9 (Grundsatz):
Der Verteidiger ist bei der Ausgestaltung der Verteidigung grundsätzlich nicht weisungsgebunden. These 10 (Konsensgebot):
Der Verteidiger soll die Verteidigung im Konsens mit dem Mandanten führen. Kann ein Konsens nicht erreicht werden und wird das Mandat nicht beendet, darf der Verteidiger nach pflichtgemäßem Ermessen handeln. Das Problem der Unabhängigkeit des Strafverteidigers, das der Ausschuß als eines der umstrittensten und noch weitgehend ungelösten Probleme bezeichnete und dessen verbindliche Lösung er sich nicht anmaßen wollte 65, spiegelt sich in den Thesen 9 und 10 bzw. in deren Begründung wider. Der Verteidiger habe sich von seinem Berufsverständnis her als grundSätzlich unabhängig und nicht weisungsgebunden zu betrachten. 66 Weisungen des Mandanten, die sich auf die Ausgestaltung der Verteidigung beziehen, dürfe der Verteidiger trotz der zivilrechtlichen Bindungen nicht nachkommen. 67 Gehe eine Weisung des Mandanten in die Sachgestaltung der Verteidigung über (z.B. bei der Stellung von Beweisanträgen) und erkenne der Verteidiger nach sorgfältiger Abwägung sowie Erörterung mit dem Mandanten, daß sich die Weisung zum Schaden des Mandanten auswirken werde, müsse der Verteidiger diese Weisung nicht beachten. 68 Angesichts der Vielzahl denkbarer 64 65 66 67 68
BRAK-Thesen. BRAK-Thesen. BRAK-Thesen. BRAK-Thesen. BRAK-Thesen.
S. S. S. S. S.
26. 33. 33. 33 und 34. 34.
D. Die Thesen der Bundesrechtsanwaltskamrner
143
Fallkonstellationen nahm der Strafrechtsausschuß zu dem Problem der Unabhängigkeit des Verteidigers jedoch nicht vertiefend Stellung zu nehmen. 69
ill. Stellungnahme zu den Thesen des Strafrechtsausschusses Bedauerlicherweise sah sich der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer weder dazu in der Lage, sich ausdrücklich zu einem bestimmten Verteidigerkonzept zu bekennen, noch nahm er näher zu den Vor- und Nachteilen der aktuell vertretenen Verteidigertheorien Stellung. Seitens des Ausschusses fehlt somit ganz einfach eine nähere Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen der Rechtsstellung des Strafverteidigers. Rieß "rechtfertigte" diese eher pragmatische Vorgehensweise des Ausschusses bereits im Geleitwort mit dem Argument, daß das runde Dutzend stimmberechtigter Mitglieder des Ausschusses zu dem sich in den Thesen widerspiegelnden, konsistenten Bild der Verteidigung schwerlich gelangt wäre, wenn man von jedem Beteiligten zunächst eine deduktive Standortbestimmung sowie die Festlegung auf eine bestimmte "Verteidigertheorie" verlangt hätte. Man wäre - so Rieß - bei der Summe von Individualisten aus denen sich der Ausschuß zusammensetzt, auf schwer überwindbare Schwierigkeiten gestoßen, hätte man sich vor der Diskussion der Kasuistik über Grundsatzpositionen einigen müssen. 70 Sicherlich wird anzuerkennen sein, daß im Rahmen der praktischen Ausschußarbeit ein gewisses Streben nach einem möglichst weitgehenden Konsens und insbesondere nach praxisgerechten Ergebnissen unumgänglich ist. Andererseits wird man dann jedoch auch den Aussagewert der auf solche Weise, d.h. ohne jeden Rückgriff auf theoretische Grundlagen, zustandegekommenen Thesen relativieren müssen. Man wird daher die 64 Thesen des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer nicht als neues, eigenständiges Verteidigerkonzept anzusehen haben, sondern wird ihnen vielmehr "nur" den Stellenwert von mehr oder weniger aussagekräftigen Meinungsäußerungen und Aussagen zu einzelnen "Feldern, Aktivitäten und Beziehungen verteidigender Art" zuweisen können. 71 Da die vom Ausschuß erarbeiteten Thesen jedoch der konkreten Tagesarbeit erfahrener Praktiker entstammen 72 und demzufolge in sicherlich nicht geringem Maße Aufschluß
69 BRAK-Thesen. S. 34. 70 BRAK-Thesen. S. 2 (Geleitwort). 71 Vgl. BRAK-Thesen. S. 1 (Geleitwort). 72 So BRAK-Thesen. S. 2 (Geleitwort).
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über deren Selbstverständnis zu geben vermögen, wird noch auf sie zurückzukommen sein.
E. Der Diskussionsansatz Vehlings Ebenfalls aus Sicht der Praxis nahm in neuerer Zeit Vehling zur Funktion des Verteidigers im Strafverfahren näher Stellung. I. Das methodische Vorgehen Vehlings Nach der Ansicht von Vehling ergeben sich die Aufgaben und Rechte des Verteidigers aus der Lage des Beschuldigten im Strafverfahren. 73 Da der Beschuldigte aus vielerlei Gründen nicht zu einer ausreichenden Verteidigung befahigt sei, habe der Strafverteidiger zum einen die Stellung als dessen "Prozeßrechts-Gehilfe". 74 Die Aufgabe des Verteidigers erschöpfe sich jedoch nicht darin, der Handlanger des Beschuldigten zu sein, sondern werde überlagert von der Funktion des Strafverteidigers, dem Strafprozeß die Legitimation zu verschaffen, um von einem nach positivistischen Maßstäben gerechten und insofern legitimen Urteil sprechen zu können. 75 Der Strafverteidiger nehme eine DoppelsteIlung ein, weil er einerseits Dienste für den Beschuldigten verrichte und andererseits als Organ der Rechtspflege zur Beschaffung von Legitimität des Urteils über die Strafrechtswidrigkeit des Beschuldigtenverhaltens diene. 76 ll. Folgerungen Nach der Ansicht Vehlings bringt die Kennzeichnung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege dessen selbstverständliche Bindung an Recht und Gesetz zum Ausdruck. 77 Der Strafverteidiger, der einen "gegnerischen" Angriff etwa in Form der Anklage abzuwehren habe, dürfe diesen Angriff nicht mit allen Mitteln, sondern nur "geregelt" abwehren. 78 Angreifer und Verteidiger dürften einander nicht "foulen", da auch im Rahmen eines Strafprozesses der Verteidiger die persönliche Freiheit des Beschuldigten nicht um jeden Preis 73 74 75 76 77 78
Vehling, Vehling. Vehling, Vehling, Vehling, Vehling,
StV StV StV StV StV StV
1992, 1992, 1992, 1992, 1992, 1992,
S. S. S. S. S. S.
87. 87. 87. 87. 87. 87.
E. Der Diskussionsansatz Vehlings
145
verteidigen dürfe. 79 Strafverteidigung sei mehr als eine bloße Interessenvertretung, nicht "private Vertretung individueller Interessen", sondern öffentliche Vertretung allgemein anerkannter individueller Interessen. 80 Der oben beschriebenen OrgansteIlung des Verteidigers entnimmt Vehling nicht nur die Unabhängigkeit des Verteidigers von Staat und Gericht, sondern auch die Unabhängigkeit des Verteidigers gegenüber seinem Mandanten. Seien die Weisungen des Mandanten rechtlich nicht zu vertreten, dürfe bzw. müsse der Verteidiger davon abweichen. 81 Ein solcher Fall rechtlicher Unvertretbarkeit einer Weisung liege beispielsweise dann vor, wenn der Angeklagte aus Interesse an einer gesicherten Unterkunft darauf bestehe, daß er den ihm vorgeworfenen Mord begangen habe und den Verteidiger anweise auf die Einbringung entlastenden Beweismaterials zu verzichten. 82 Diese Begrenzung des Weisungsrechts ergebe sich daraus, daß der Verteidiger nicht allein die Aufgabe habe, die privaten Interessen des Beschuldigten zu vertreten und es sich bei der Strafverteidigung um ein unverzichtbares Individualrechtsgut handle, das aufgrund seiner Bedeutung in der Strafrechtspflege für den einzelnen Prozeßteilnehmer nicht disponibel sei. 83 Diese Unabhängigkeit des Strafverteidigers von den Interessen und Weisungen seines Mandanten stehe nicht im Widerspruch zu seiner Aufgabe für den Beschuldigten Partei zu nehmen, da der Verteidiger eben nur die Rechte des Beschuldigten und nicht dessen Interessen wahrzunehmen habe. 84 Die Stellung des Verteidigers charakterisiert Vehling abschließend mit dem Begriff eines "unabhängigen Organs der Rechtspflege", wobei sich die Unabhängigkeit in die drei Richtungen Staat, Gericht und Mandant entfalte. 85
m. Stellungnahme zu der Auffassung Vehlings Vehling ist bereits insoweit zuzustimmen als er anerkennt, daß sich die Aufgabe des Strafverteidigers nicht in der reinen Beistandsfunktion erschöpft, sondern darüber hinausgeht. Auch die Auffassung, daß es sich bei dem Gut "Strafverteidigung" um kein verzichtbares Individualrechtsgut handelt und 79 80 81 82 83 84 8S
Vehling, Vehling, Vehling, Vehling, Vehling, Vehling, Vehling,
10 Dom.eh
StV StV StV StV StV StV StV
1992, 1992, 1992, 1992, 1992, 1992, 1992,
S. S. S. S. S. S. S.
87. 87. 88. 88. 88 und 89. 88 und 89. 88 und 89.
146
KapitelS: Abweichende Verteidigerkonzepte und neuere Diskussionsansätze
daher dem Verteidiger nicht nur im Verhältnis zum Staat, sondern auch im Verhältnis zu seinem Mandanten Unabhängigkeit zukommt, ist zutreffend. Besonders überzeugend ist jedoch Vehlings Beschreibung der Aufgabe des Verteidigers. Wenn Vehling hierzu feststellt, daß der Strafverteidiger nicht die Interessen, sondern die Rechte seines Mandanten wahrzunehmen hat 86, kann dieser Erkenntnis nur uneingeschränkt zugestimmt werden.
86 Vehling, StV 1992, S. 89.
Kapitel 6
Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie auf die Problematik der aktiven Mitwirkungspflicht Wurde im bisherigen Verlauf vorliegender Untersuchung in Form der eingeschränkten Organtheorie das theoretische Fundament hinsichtlich der Rechtsstellung des Strafverteidigers gelegt, soll im folgenden anhand exemplarisch ausgewählter Fallkonstellationen der Frage nachgegangen werden, ob aufgrund der OrgansteIlung des Strafverteidigers aktive Mitwirkungspflichten der Verteidigung im Strafverfahren bestehen. Konkret: Hat der Strafverteidiger unter Berücksichtigung der von ihm wahrzunehmenden öffentlichen Funktionen das Strafverfahren in irgendeiner Weise aktiv zu fördern?
A. LG Göttingen AnwBI. 1966, S. -406 und LG Göttingen Nds. Rpfl. 1966, S. 12S I. Sachverhalt Das LG Göttingen hatte im Jahre 1966 über zwei ähnlich gelagerte Fälle zu entscheiden, in denen es jeweils um Kostenerstattungsansprüche der Betroffenen ging. Der Beschluß des LG Göttingen vom 25.04.1966 betraf folgenden Sachverhalt: Die Beschwerdeführer verursachten mit ihren Kraftfahrzeugen am 20.11.1965 einen Verkehrsunfall. Bei ihrer polizeilichen Vernehmung sagten sie über den Unfallhergang aus. In der ihnen später zugestellten Anklageschrift wurde irrtümlicherweise jedem Beschuldigten das Verhalten des jeweils anderen zur Last gelegt. Sowohl die Beschwerdeführer als auch ihre Verteidiger, die Akteneinsicht hatten, erklärten sich nicht auf die Anklage. Auch das Amtsgericht bemerkte den Irrtum nicht, ließ das Verfahren zu und beraumte am 24.02.1966 einen Hauptverhandlungstermin an. In der Hauptverhandlung wurde nach Verlesung des Anklagesatzes der Irrtum in der An-
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
klage bemerkt und das Verfahren wurde wegen Strafverfolgungsverjährung auf Kosten der Landeskasse durch Urteil eingestellt. 1 Einem von der Thematik her ähnlich gelagerten Fall, den ebenfalls das LG Göttingen zu entscheiden hatte, lag folgende Konstellation zugrunde: Die Beschwerdeführerin verursachte am 19.08.1965 schuldhaft einen Verkehrsunfall. Bei ihrer polizeilichen Vernehmung wegen des Verdachts der Verkehrsunfallflucht machte sie keine Aussage. Im weiteren Verlauf des Verfahrens bestellte die Beschwerdeführerin einen Verteidiger, der zwar die Akten einsah, der jedoch auch nach Zustellung der Anklageschrift nichts unternahm. Im Hauptverhandlungstermin benannte der Verteidiger eine Entlastungszeugin, aufgrund deren Aussage die Beschwerdeführerin in einem weiteren Termin freigesprochen wurde. 2 11. Die Entscheidungen des LG Göttingen In dem zuerst geschilderten Fall sah das LG Göttingen ein Verschulden der Verteidiger als gegeben an, das den Beschwerdeführern im Kostenerstattungsverfahren auch zugerechnet werden könne, da es in diesem Verfahren nicht mehr um eine Bestrafung, sondern um eine rein wirtschaftliche Frage gehe. 3 Zum Verschulden der Verteidiger führte das LG Göttingen zunächst aus, daß ein solches Verschulden nicht in dem Umstand erblickt werden könne, daß die Verteidiger bis zum Eintritt der Verjährung geschwiegen hätten, da sie bei ihrem Bestreben, die Beschwerdeführer vor einer Bestrafung zu bewahren, die Hoffnung einkalkulieren durften, daß auch das Gericht den Fehler übersehen werde. 4 Jedoch hätten die Verteidiger nach dem Eintritt der Verjährung, also dem Zeitpunkt, von dem an die Beschwerdeführer nicht mehr hätten verurteilt werden können, "in ihrer Eigenschaft als Rechtspflegeorgane sowohl im Kosteninteresse ihrer Mandanten als auch in dem des Staates auf den Fehler in der Anklage hinweisen müssen, um die Anberaumung und Durchführung der Hauptverhandlung zu verhindern." 5 Da die Verteidiger dies trotz ihrer Rechts- und Aktenkenntnis nicht getan hätten, obwohl sie bei Beobachtung 1 LG Göttingen AnwBI. 1966, S. 406.
2 3 4 5
LG LG LG LG
Göttingen Nds. Rpfl. 1966, Göttingen AnwBI. 1966, S. Göttingen AnwBI. 1966, S. Göttingen AnwBI. 1966, S.
S. 125. 407. 407. 407.
A. LG Göttingen AnwBI. 1966 und LG Göttingen Nds. Rpfl. 1966
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der ihnen zumutbaren Sorgfalt darauf hätten kommen können und müssen, müßten die Beschwerdeführer die im letzten Verfahrensabschnitt entstandenen notwendigen Auslagen selbst tragen und könnten hierfür allenfalls von ihren Verteidigern Schadensersatz verlangen. 6 Auch im zweiten vom LG Göttingen entschiedenen Fall bejahte das Gericht ein der Beschwerdeführerin zuzurechnendes Verschulden ihres Verteidigers und verweigerte ihr demgemäß den Anspruch auf Ersatz ihrer Anwaltskosten. Zum Verteidigerverschulden führte das Gericht aus, daß der Verteidiger es pflichtwidrig versäumt habe, dem Gericht mittels einer Erklärung auf die Anklageschrift alles vorzutragen, was der Entlastung seiner Mandantin gedient hätte. Die Verpflichtung hierzu ergäbe sich aus der Eigenschaft des Verteidigers als Organ der Rechtspflege und obliege dem Verteidiger nicht nur gegenüber seinem Mandanten, sondern auch gegenüber dem Gericht. 7
m. Stellungnahme und Lösung unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie
In einem mit der Überschrift "Verteidiger der Gehilfe des Gerichts?" versehenen Aufsatz kritisierte Dahs beide Entscheidungen des LG Göttingen in relativ scharfer Form und nannte die beiden Beschlüsse augenfällige Beispiele einer als gefährlich zu erachtenden Aushöhlung der Rechte des Verteidigers. 8 Die Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege verpflichte diesen nämlich nicht, allgemein an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken und dem Gericht optimale Grundlagen für eine Sachentscheidung zu schaffen, da der Verteidiger weder der Gehilfe des Gerichts noch der Gehilfe der Staatsanwaltschaft sei. 9 Überprüfen wir nun die Richtigkeit dieser Aussagen von Dahs unter Zugrundelegung der oben generell befürworteten eingeschränkten Organtheorie. Nach dieser Theorie ist der Verteidiger - neben seiner Beistandsfunktion - vornehmlich zwei öffentlichen Funktionen verpflichtet, nämlich zum einen der Effektivität der Verteidigung und zum anderen in äußerst engen Grenzen auch der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege. 10 6 LG Göttingen AnwBI. 1966, S. 407. 7 LG Göttingen Nds. Rpfl. 1966, S. 125. 8 Dahs, Hans jun., AnwBI. 1966, S. 372. 9 Dahs, Hans jun., AnwBI. 1966, S. 372. 10 Das dritte öffentliche Interesse, das vom Verteidiger zu beachten ist, nämlich das Interesse an der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland spielt sowohl vorliegend als auch in den noch später darzustellenden Fällen ersichtlich keine Rolle und wird daher vernachlässigt.
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
In dem ersten vom LG Göttingen entschiedenen Fall, in dem die Verteidigung das Gericht nicht auf die bereits eingetretene Strafverfolgungsverjährung hingewiesen hat, ist somit zunächst einmal danach zu fragen, ob nicht das vom Verteidiger zu beachtende (öffentliche) Interesse an einer möglichst guten Verteidigung des Beschuldigten eine entsprechende Mitwirkungspflicht begründete. Diese Frage wird von Beulke überzeugend dahingehend beantwortet, daß die Verteidigung in Erfüllung ihrer Pflicht für eine möglichst effektive Verteidigung des Beschuldigten zu sorgen, das Verfahrenshindernis der Verjährung sofort nach seinem Eintritt hätte geltend machen müssen, um weitere Strafverfolgungsmaßnahmen zu verhindern. 11 Ein Eingriff in die Unabhängigkeit des Verteidigers liege bei dieser Fallgestaltung nicht vor, da das Ermessen der Verteidiger unter den gegebenen Umständen auf Null reduziert war. 12 Da der Verteidiger nicht nur gegenüber dem Beschuldigten, sondern auch gegenüber dem Staat zu einer möglichst effektiven Strafverteidigung verpflichtet ist, muß somit im vorliegenden Fall die Verletzung einer - im öffentlichen Interesse bestehenden - Mitwirkungspflicht der Verteidigung bejaht werden. 13 Zu betonen ist jedoch, daß sich die Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht etwa aus der Überlegung ergab, daß die Verteidiger eine Förderung des Strafverfahrens unterlassen haben, sondern vielmehr daraus, daß die Verteidiger es im konkreten Fall unterlassen haben, ihre Mandanten bestmöglich zu verteidigen. Wenden wir uns nun dem zweiten vom LG Göttingen entschiedenen Fall zu, in dem der Verteidiger die Entlastungszeugin erst in der Hauptverhandlung benannte. Auch bei dieser Konstellation könnte unter Berücksichtigung der Pflicht des Verteidigers, für eine möglichst effektive Verteidigung zu sorgen, die Verletzung einer aktiven Mitwirkungspflicht zu bejahen sein. Man könnte insbesondere dahingehend argumentieren, daß es möglicherweise zu gar keiner (den Beschuldigten bloßstellenden und belastenden) Hauptverhandlung gekommen wäre, hätte der Verteidiger die Entlastungszeugin bereits nach Zustellung der Anklageschrift benannt. Wer so argumentierte, würde jedoch einen Gesichtspunkt von fundamentaler Bedeutung außer Acht lassen, nämlich die grundSätzlich bestehende Freiheit des Verteidigers
11 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 207. 12 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 207. 13 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 205.
A. LG Göttingen AnwBI. 1966 und LG Göttingen Nds. Rpfl. 1966
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hinsichtlich der Festlegung der einzuschlagenden Verteidigungsstrategie. 14 Um mit Hammerstein zu sprechen: "Der Verteidiger darf sich den Modus defendendi nicht vorschreiben lassen, weder für den Stil und Weg der Gesamtverteidigung noch für den mündlichen Schlußvortrag. " 15 Solange also im konkreten Einzelfall Gesichtspunkte vorliegen, die die vom Verteidiger eigenverantwortlich gewählte Verteidigungstaktik als sinnvoll und nachvollziehbar erscheinen lassen, kann dem Strafverteidiger keine abweichende Strategie aufgezwungen werden. Die angesprochene Freiheit bzw. Unabhängigkeit des Verteidigers in der Wahl der richtigen Verteidigungsstrategie entfaltet hierbei Wirkung sowohl bezüglich abweichender Wünsche des Mandanten als auch in Hinsicht auf divergierende staatliche Interessen (etwa in bezug auf das staatliche Interesse an möglichst geringen Kosten des Strafverfahrens oder an einer möglichst schnellen Verfahrensabwicklung). Zur Lösung der Frage, ob ein Verteidiger, der Entlastungszeugen erst in der Hauptverhandlung präsentiert, eine Mitwirkungspflicht verletzt, ist somit - unter dem Gesichtspunkt der Effektivität der Strafverteidigung - danach zu fragen, ob diese Verteidigungsstrategie unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände als sinnvoll und nachvollziehbar erscheint. Beulke bejaht dies im vorliegenden Fall und weist mit Recht darauf hin, daß derjenige, der Entlastungszeugen bereits vorzeitig benenne, vorschnell die Initiative aus der Hand gebe. 16 Nach der Auffassung von Dahs zählt die selbständige Ladung von Zeugen als präsente Beweismittel gemäß § 245 StPO sowie das Vorbringen neuer Tatsachen gar zu den besten Waffen des Verteidigers in der Hauptverhandlung. Zudem lehre die Verteidigerpraxis, daß die in einer Erklärung auf die Anklageschrift als Entlastungszeugen genannten Beweispersonen sich im Zuge der Vernehmung durch die Polizei unversehens in Belastungszeugen verwandeln können. 17 Da die vom Verteidiger in vorliegendem Fall eingeschlagene Verteidigungsstrategie somit als durchaus sinnvoll und nachvollziehbar erscheint, ist jedenfalls unter Heranziehung des öffentliches Interesses an einer möglichst effektiven Strafverteidigung die Verletzung einer Mitwirkungspflicht der Vertei14 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 205. Gerade die dem Verteidiger von der h.M. zugestandene Freiheit bezüglich der Festlegung der besten Verteidigungsstrategie dürfte wohl zu einem nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen haben, daß die Strafverteidigerschaft selbst die EffIZienz ihrer Bemühungen als hoch bzw. als sehr hoch einstuft, vgl. dazu Mützelburg, Dünnebier-Festschrift, S. 277. IS Hammerstein, NStZ 1990, S. 264. 16 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 205. 17 Dahs, Hans jun., AnwBI. 1966, S. 372.
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
digung nicht erkennbar. Weiterhin ist jedoch danach zu fragen, ob nicht unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses an einer effektiven Strafrechtspflege eine (Mitwirkungs-) Pflichtverletzung der Verteidigung in Betracht kommt. Man könnte hierzu die Auffassung vertreten, daß ein Strafverteidiger, der das öffentliche Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege zu beachten habe, dazu verpflichtet sei, das Strafverfahren effektiv zu fördern, also auch für eine möglichst schnelle und kostengünstige Verfahrensgestaltung einzustehen habe. Wer derart argumentierte, hätte jedoch den Sinn und Zweck der Anbindung des Verteidigers an das öffentliche Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege völlig mißverstanden. Diese Anbindung hat nämlich nicht den Zweck, den Verteidiger auf eine möglichst effektive Gestaltung und Förderung des Strafverfahrens festzulegen, sondern durch diese Anbindung soll - angesichts des Versagens von materiellem Strafrecht und anwaltlichem Standesrecht in dieser Beziehung 18 erreicht werden, daß dem Strafverteidiger solche Verhaltensweisen verboten sind, die letztlich als Verfahrensobstruktion eingestuft werden müssen (wie z.B. das Erfinden von Lügen für den Beschuldigten, das Fälschen von Beweismitteln oder aber das Herbeiführen unwahrer Zeugenaussagen). Unzulässig ist somit unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie nicht schon ein Verteidigerverhalten, das sich lediglich darin erschöpft, das Verfahren nicht zu fördern. Unzulässig ist ein Verteidigerverhalten nach dieser Theorie erst dann, wenn es dazu geeignet ist, das Strafverfahren lahmzuiegen, das in Frage stehende Verhalten also in den Kernbereich der Effektivität der Strafrechtspflege eingreift. Eine solche Verletzung des Kernbereichs effektiver Strafrechtspflege liegt aber keinesfalls schon dann vor, wenn ein Verteidiger einen Entlastungszeugen erst in der Hauptverhandlung benennt. Dies läßt sich mittelbar schon der Vorschrift des § 246 StPO entnehmen, die im Interesse der Erforschung der materiellen Wahrheit jegliche Präklusion ausschließt. 19 Der Verteidiger war daher entgegen der Ansicht des LG Göttingen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt verpflichtet, die Entlastungszeugin bereits in einer Erklärung auf die Anklageschrift hin zu benennen. Die Verletzung einer Mitwirkungspflicht des Verteidigers liegt daher nicht vor. In bezug auf diesen Fall ist der Kritik von Dahs also uneingeschränkt beizupflichten, während hinsichtlich des ersten Falles, jedenfalls im Ergebnis, dem LG Göttingen zuzustimmen ist. Der grundlegende Unterschied beider 18 Vgl. hierzu oben Kapitel 4 eIl 2. 19 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 205.
B. KGBerlinJR 1981, S. 86
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Fälle liegt eben darin, daß im Falle des - sicher feststellbaren - Vorliegens eines Prozeßhindernisses (hier: Verjährungseintritt) bzw. dem Fehlen einer Prozeßvoraussetzung ein irgendwie geartetes "Handlungsermessen" des Verteidigers nicht ersichtlich ist 20, während die Benennung bereits bekannter Entlastungszeugen erst im Rahmen der Hauptverhandlung als eine durchaus sachgerechte und sinnvolle Verteidigungsstrategie erscheint.
B. KG Berlin JR 1981, S. 86 I. Sachverhalt Dem im sog. PLO-Verfahren ergangenen Beschluß des Kammergerichts Berlin vom 14.01.1980 lag folgende Prozeßsituation zugrunde: 21 Der in Untersuchungshaft befmdliche Beschuldigte hatte einen Wahlverteidiger, den Rechtsanwalt J, und es waren ihm anfänglich zwei Pflichtverteidiger beigeordnet, Rechtsanwalt M und Rechtsanwalt H. Auf Beschwerde hin wurde die Beiordnung des zweiten Pflichtverteidigers, des Rechtsanwalts H, arn 05.11.1979 aufgehoben, da der Beschuldigte nach Auffassung des Gerichts durch den Wahlverteidiger J und durch den Pflichtverteidiger M bereits ausreichend verteidigt war. Der Wahlverteidiger J führte das Mandat jedoch nicht weiter und legte es arn 06.12.1979 nieder. Am selben Tage entfernte sich auch der noch verbliebene Pflichtverteidiger M aus der Hauptverhandlung, um entsprechend seiner Ankündigung vom Vortag an einer Beweisaufnahme vor dem Familiengericht teilzunehmen. Daraufhin bestellte das Gericht den Rechtsanwalt H erneut zum Pflichtverteidiger. H, der aufgrund seiner früheren Pflichtverteidigerbestellung sowohl die Anklageschrift als auch den Akteninhalt kannte, konnte aufgrund fehlender Informationen die Verteidigung des Beschuldigten jedoch nicht fortführen, weil sich der Rechtsanwalt M weigerte, den H über den Verlauf der nach dem 05.11.1979 stattgefundenen Hauptverhandlung zu unterrichten. Es karn daraufhin zu einer Abtrennung des Verfahrens gegen den Angeklagten und zur Aussetzung der Hauptverhandlung.
20 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 205. 21 KG JR 1981, S. 86.
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
ll. Die Entscheidung des KG Berlin Das Kammergericht sah im vorliegenden Fall die Weigerung des Rechtsanwalts M, den Pflichtverteidiger H über den Teil der Hauptverhandlung zu unterrichten, an der H nicht mehr teilgenommen hatte, als unberechtigt an und legte hierzu dar, daß die erwünschte Unterrichtung nicht nur eine Rechtspflicht des Rechtsanwalts M gewesen wäre, sondern, da der M den Angeklagten in verantwortungsloser Weise im Stich gelassen habe, vorwiegend auch eine Anstandspflicht. 22 Ob die Weigerung des Rechtsanwalts M tatsächlich, wie M behauptete, auf einer entsprechenden Weisung des Angeklagten beruhte, bedurfte nach Ansicht des Kammergerichts keiner abschließenden Klärung, da es insoweit auf den Willen des Angeklagten nicht ankomme. Der Verteidiger sei nämlich nicht der Weisungsempfänger des Angeklagten, sondern führe die Verteidigung selbständig und als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO). Falls es - wie im vorliegenden Fall - zur Verteidigung notwendig sei, müsse sich deshalb der Verteidiger gegebenenfalls auch in Widerspruch zu den Ansichten des Angeklagten setzen. 23 Die Unterrichtung des Pflichtverteidigers H durch den Rechtsanwalt M sei unerläßlich gewesen, weil zum einen mit Rücksicht auf die übrigen Angeklagten eine Wiederholung der Hauptverhandlungen, an denen H nicht teilgenommen hatte, nicht in Frage gekommen wäre und weil zum anderen eine ungehinderte Verteidigung des Angeklagten durch den Rechtsanwalt H aufgrund der fehlenden Informationen nicht möglich war. 24 Das Gericht selbst habe dem H das erforderliche Wissen nicht vermitteln können, da ein Fall der §§ 231 a Abs. 2, 231 b Abs. 2 StPO, die eine entsprechende Unterrichtung des Angeklagten vorsähen, nicht vorgelegen habe. Eine entsprechende Anwendung dieser Normen auf den Verteidiger komme ebenfalls nicht in Betracht, da nur ein Verteidiger beurteilen könne, ob bestimmte Vorgänge oder Beweisergebnisse in der Hauptverhandlung von Bedeutung seien. 25 Eine Unterrichtung des H über den Verlauf der Hauptverhandlungen nach der Rücknahme seiner Pflichtverteidigerbestellung vom 05.11.1979 aufgrund der Sitzungsniederschrift scheide ebenfalls aus. Eine denkbare Verletzung der Verschwiegenheitspflicht durch M gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB, falls er den H unterrichtet hätte, lehnte das Kammergericht mit der Begründung ab, daß die Ereignisse in einer 22 23 24 25
KG KG KG KG
IR IR IR IR
1981, 1981, 1981, 1981,
S. S. S. S.
86. 86. 86. 87.
B. KG Berlin IR 1981, S. 86
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öffentlichen Hauptverhandlung und die dort erörterten Beweisergebnisse weder Geheimnisse noch dem Anwalt anvertraut seien. 26 ill. Stellungnahme und Lösung unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie Das KG Berlin bejahte in vorliegendem Fall eine Mitwirkungspflicht in Form einer Informations- bzw. Unterrichtungspflicht, wobei es nicht darauf ankommen soll, ob eine solche Unterrichtung gegen den Willen des Mandanten verstößt, und verwies zur Begründung dieser Pflicht auf die aus der Organstellung ableitbare Unabhängigkeit des Verteidigers vom Willen des Mandanten. Legen wir dieser Entscheidung wiederum die hier befürwortete eingeschränkte Organtheorie zugrunde. Es ist daher im folgenden zu prüfen, ob das öffentliche Interesse an der Effektivität der Strafverteidigung oder das öffentliche Interesse an der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege das entgegenstehende Individualinteresse des Mandanten an der Nichtunterrichtung des "Zwangsverteidigers" überwiegt und daher der Verteidiger zur Ignorierung der Mandantenwünsche gezwun~en ist. 27 Das Kammergericht begründete die Informationspflicht im Ergebnis unter Rückgriff auf das öffentliche Interesse an einer effektiven Verteidigung, da es für den in Untersuchungshaft befmdlichen Beschuldigten einzig und allein die rasche und zügige Fortsetzung des Prozesses als interessengerecht erachtete. 28 Dieser Argumentation kann jedoch vorliegend nicht gefolgt werden, da das Kammergericht dem Gesichtspunkt der freien Bestimmung der Verteidigungsstrategie seitens des Verteidigers nicht hinreichend Berücksichtigung schenkte. Natürlich ist dem Kammergericht insoweit beizustimmen, daß der Strafverteidiger, falls es sich um ein den Anklagevorwurf abwehrendes Verteidigerverhalten handelt, möglicherweise auch gegen den Willen des Beschuldigten handeln darf bzw. handeln muß. Jedoch muß hier Beachtung finden, daß die effektivste Verteidigungsstrategie nicht vom Gericht, sondern ganz allein vom Verteidiger festlegt wird. Falls der Verteidiger eine ganz bestimmte Verteidigungsstrategie für erfolgreich hält, darf ihn hierbei kein anderes Prozeßorgan korrigieren, da der Verteidiger grundsätzlich frei entscheiden kann, was im konkreten Einzelfall für seinen Mandanten am vorteilhaftesten ist. 29 Beulke führt hierzu 26 KG IR 1981, S. 87. 27 Beulke, IR 1982, S. 47. 28 KG IR 1981, S. 86. 29 Beulke, IR 1982, S. 47.
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
aus, daß die Organtheorie seitens der Gerichte nicht als Hebel dazu mißbraucht werden dürfe, um die interessengerechte Verteidigung von den übrigen Strafverfolgungsorganen bestimmen zu lassen. Die Festlegung der Verteidigungsstrategie sei und bleibe einzig und allein Angelegenheit des einzelnen Strafverteidigers. 30 Dem kann nur zugestimmt werden. Eine Unterrichtungspflicht ergibt sich damit jedenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt des Interesses an einer möglichst effektiven Verteidigung des Beschuldigten. Fraglich ist jedoch, ob nicht das vom Verteidiger ebenfalls zu beachtende öffentliche Interesse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege eine entsprechende Informationspflicht begründet. Dies wäre jedoch nur dann der Fall, wenn die Nichtunterrichtung des neu eintretenden Pflichtverteidigers als Verletzung des Kembereichs einer effektiven Strafrechtspflege angesehen werden müßte, wenn also dadurch letztlich die Gefahr einer Lahmlegung der Justiz bestehen würde. Beulke stellte hierzu die Überlegung an, daß unser geltendes Strafverfahrensrecht als stärkste Kampfmaßnahme gegen ein rechtsmißbräuchliches Verteidigerverhalten die Verteidigerausschließung vorsehe und daß selbst in diesem Fall keine Miueilungspflicht an ein anderes Rechtspflegeorgan bzw. an einen anderen (nachfolgenden) Verteidiger vorgeschrieben sei. 31 Nun könne aber das viel weniger einschneidende Vorgehen im Wege der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nicht weiterreichende Folgen haben als die Verteidigerausschließung. Sei dort eine Unterrichtungs- und Offenbarungspflicht nicht vorgesehen, so müsse dasselbe erst recht im Fall der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers gelten. 32 Diese Ausführungen Beulkes vermögen zu überzeugen. Die Nichtunterrichtung des H seitens des M stellt somit unter Einbeziehung der gesetzlichen Wertung keinen Eingriff in den Kembereich einer effektiven Strafrechtspflege dar. Da die Unterrichtung des H unter Berücksichtigung der Unabhängigkeit des M hinsichtlich der Festlegung der richtigen Verteidigungsstrategie - wie bereits erwähnt - auch nicht vom öffentlichen Interesse an einer möglichst guten Verteidigung des Beschuldigten gefordert wird, liegt entgegen der Rechtsauffassung des Kammergerichts in der Nichtunterrichtung des H keine Pflichtverletzung.
30 Beulke, IR 1982, S. 47. 31 Beulke, IR 1982, S. 47. 32 Beulke, IR 1982, S. 47; zustimmend Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 105.1.
C. Mitwirkungspflicht an der Rekonstruktion verlorener Ennittlungsakten?
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c. Mitwirkungspflicht des Verteidigers an der Rekonstruktion verlorengegangener Ennittlungsakten?
Geraten Akten der Staatsanwaltschaft im Gewahrsams- bzw. sonstigen Verantwortungsbereich der Behörde in Verlust (z.B. durch einen Brand auf der Geschäftsstelle oder beim Postversand) 33, ist die Staatsanwaltschaft als aktenführende Behörde grundSätzlich dazu verpflichtet, die entsprechenden Vorgänge zu rekonstruieren. Diese Wiederherstellungspflicht ergibt sich für die Staatsanwaltschaft aus dem in § 152 Abs. 2 StPO statuierten Legalitätsprinzip. 34 Wurde nun dem Verteidiger vor dem Verlust gemäß § 147 StPO bereits Akteneinsicht gewährt, so wird die Staatsanwaltschaft den Verteidiger unter Umständen auffordern, die von ihm gemachten Abschriften oder Fotokopien des Akteninhalts zwecks Weiterbetreibung des Strafverfahrens gegen seinen Mandanten zur Verfügung zu stellen. Hier taucht nun das grundsätzliche Problem auf, ob der Strafverteidiger aufgrund seiner Stellung als "Organ der Rechtspflege" zu einer solchen Mitarbeit verpflichtet ist. Rösmann kommt hierbei aus Sicht der Staatsanwaltschaft zu dem Ergebnis, daß die Organstellung zwanglos und auch gegen den Willen des Mandanten die Mitwirkung des Strafverteidigers an der Wiederherstellung verlorener Akten gebietet. 35 Die Stellung des Verteidigers als ein "Organ der Rechtspflege" verpflichte den Rechtsanwalt, an der Verwirklichung des Rechts dienend mitzuwirken, woran die Tatsache nichts ändere, daß er in der Regel im Sonderinteresse seines Mandanten tätig werde. 36 Wenngleich der Strafverteidiger nicht der Gehilfe des Gerichts sei, müsse er die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung zur Richtschnur seines HandeIns machen. 37 Ein Verstoß gegen § 203 Abs. I Nr. 3 StGB bzw. eine Verletzung der dem Rechtsanwalt obliegenden, über die Schweigepflicht nach § 203 StGB noch hinausreichenden Verschwiegenheitspflicht gemäß § 42 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts liege im Falle der Mitarbeit des Verteidigers bei der Aktenrekonstruktion nicht vor, da der Verteidiger seine Kenntnisse des Ak33 Im folgenden sollen nur diese Fallkonstellation erörtert werden. Vgl. zu anderen, ähnlichen Konstellationen (z.B. Aktenverlust im Rechtskreis des Verteidigers) die Beiträge von Waldowski, NStZ 1984, S. 448 ff. und Rösmann, NStZ 1983, S. 446 ff. 34 Rösmann, NStZ 1983, S. 446. 35 Rösmann, NStZ 1983, S. 447. 36 Rösmann, NStZ 1983, S. 447. 37 Rösmann, NStZ 1983, S. 447.
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
teninhalts nicht vom Mandanten oder Dritten, sondern von der Ermittlungsbehörde bezog und daher im Verhältnis zu dieser der Akteninhalt kein Geheimnis darstelle, dessen Offenbarung strafrechtlich sanktioniert wäre. 38 Dieser Lösung der Problematik wurde aus Sicht der Verteidigerschaft vehement widersprochen. So besteht nach der Auffassung von Waldowski 39 und Dahs 40 selbst unter Berücksichtigung der Organstellung keine Verpflichtung des Verteidigers, an der Rekonstruktion verlorengegangener Akten mitzuwirken. 41 Waldowski stützt hierbei die Verneinung einer solchen Verpflichtung des Verteidigers auf eine im Einzelfall erfolgende Störung oder Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant bzw. darauf, daß eine solche Verpflichtung zur Folge hätte, daß die Klienten ihrem Verteidiger generell mit einem gewissen Mißtrauen begegnen und sich ihm nicht wie bisher mit ihren Sorgen und Fragen anvertrauen würden. 42 Versuchen wir nun die oben dargestellte Problematik anband der eingeschränkten Organtheorie einer Lösung zuzuführen. Eine Mitwirkungspflicht des Strafverteidigers ließe sich hiernach nur unter dem Gesichtspunkt der Effektivität der Verteidigung oder dem der Effektivität der Strafrechtspflege herleiten. 43 Das öffentliche Interesse an einer,möglichst effektiven Verteidigung des Beschuldigten kommt hierbei hinsichtlich der Begründung einer Kooperationspflicht zwischen Verteidiger und Staatsanwaltschaft bezüglich der Rekonstruktion verlorengegangener Akten von vorneherein nicht in Betracht. Gelingt es nämlich der Ermittlungsbehörde nicht, die entsprechenden Vorgänge zu rekonstruieren, wird eine weitere Durchführung des Strafverfahrens und damit eine Verurteilung des Mandanten regelmäßig nicht in Betracht kommen. Stellt man daher isoliert auf den Gesichtspunkt einer möglichst effektiven Verteidigung des Beschuldigten ab, so verbietet sich jede Kooperation des Verteidigers bei der Aktenrekonstruktion. Entscheidend wird es also letztlich darauf ankommen, ob das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege eine entsprechende Rekonstruktionspflicht des Verteidigers 38 Rösmann. NStZ 1983. S. 447 f. 39 Waldowski. NStZ 1984. S. 450. 40 DahslDahs. Handbuch des Strafverteidigers. Rn. 236. 41 Auch Stern lehnt eine Mitwirkungspflicht des Verteidigers bezüglich der Rekonstruktion in Verlust geratener Akten ab. vgl. IJ(-StPO-Stern. Vorbem. § 137 Rn. 17 und § 147 Rn. 28. 42 Waldowski. NStZ 1984. S. 449. 43 Das öffentliche Interesse an der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist bei der hier angesprochenen Fallgestaltung regelmäßig nicht berührt.
c. Mitwirkungspflicht an der Rekonstruktion verlorener Ermittlungsakten?
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zu begründen vermag. Allerdings hat der Strafverteidiger unter Berücksichtigung dieses öffentlichen Interesses das Strafverfahren nicht etwa aktiv zu fördern, sondern es sind ihm nur solche Verhaltensweisen verboten, die geeignet sind, den Kernbereich effektiver Strafrechtspflege zu beeinträchtigen (Kernbereichsformel). Halten wir uns hierzu noch einmal den Zweck vor Augen, der mittels einer Festlegung des Verteidigers auf die Wahrung eines Kernbereichs effektiver Strafrechtspflege erreicht werden soll: Man will verhindern, daß der Strafverteidiger durch sein Verhalten das Strafverfahren sabotiert und obstruiert. Es sollen dem Strafverteidiger folglich nur solche Verhaltensweisen verboten sein, die als unzulässige Verfahrenssabotage bzw. als Verfahrensobstruktion eingestuft werden müssen. Unter Berücksichtigung dieses Zwecks sowie des Umstandes, daß der Strafverteidiger zum Verlust der Akten in keiner Weise beigetragen hat, die Handlungsunfähigkeit der Strafverfolgungsbehörde in den oben beschriebenen Fallkonstellationen also ganz im staatlichen Bereich wurzelt und damit auch allein vom Staat zu verantworten ist, kann in der Weigerung des Verteidigers mit der Staatsanwaltschaft zusammenzuarbeiten, keine Kernbereichsverletzung im Sinne der eingeschränkten Organtheorie erblickt werden. Dieses Ergebnis wird noch durch einen weiteren Gesichtspunkt entscheidend gestützt: Erlegte man dem Strafverteidiger eine Mitwirkungspflicht hinsichtlich der Rekonstruktion in Verlust geratener Ermittlungsakten auf, so würde man ihn damit zwingen, in aktiver Weise an der Überführung des Beschuldigten mitzuwirken. Eine solche Mitwirkungspflicht des Verteidigers kann jedoch keinesfalls anerkannt werden, da sie die Beistandsfunktion aus § 137 Abs. 1 StPO nicht nur einschränken, sondern möglicherweise in vollem Umfang vereiteln würde. Eine Mitwirkungspflicht des Strafverteidigers an der Rekonstruktion im Verantwortungsbereich der Staatsanwaltschaft verlorengegangener Ermittlungsakten ist daher abzulehnen. Auch unter Berücksichtigung seiner öffentlichen Funktionen ist der Verteidiger nämlich weder der Gehilfe der Staatsanwaltschaft noch der Gehilfe des Gerichts in dem Sinne, daß er in irgendeiner Weise aktiv an der Überführung seines Mandanten mitzuwirken hätte.
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
D. BGHSt 38, 111 I. Sachverhalt Der bereits eingangs 44 erwähnten Entscheidung des BGH zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts lag folgendes Prozeßverhalten des Angeklagten zugrunde: 45 Der Angeklagte P hatte in der am 07.10.1988 begonnenen Hauptverhandlung bis zum September 1989 etwa 300 Beweisanträge gestellt, die er jedoch nach Ablegung eines Geständnisses wieder zurückgenommen hatte. N ach Widerruf seines Geständnisses am 20.10.1989 (78. Verhandlungstag) bis zum 18.05.1990 (107. Verhandlungstag) war die Strafkammer nahezu ausschließlich mit der Entgegennahme und Verbescheidung von Beweisanträgen des P beschäftigt. Dieser hatte zudem am 20.10.1989 angekündigt, daß er 200 vorbereitete Beweisanträge stellen wolle. Schließlich hatte der Angeklagte R Anfang Januar 1990 ca. 8500 schriftliche Beweisanträge eingereicht. Der Angeklagte P hatte erklärt, daß er sich diesen - ihm unbekannten - Anträgen "schon jetzt" anschließe. Die Strafkammer hat 106 Beweisanträge geprüft und abgelehnt. Nach einer ins einzelne gehenden Bewertung dieser Anträge kam sie zu folgendem Ergebnis: "Eine Gesamtbetrachtung der Antragsinhalte, der Art der AntragsteIlung und deren Abfolge läßt erkennen, daß der Angeklagte insgesamt mit seinen Anträgen keine Sachaufklärung erstrebt, auch wenn dies bei jeweils isolierter Betrachtungsweise der einzelnen Anträge in den weit überwiegenden Fällen nicht jeweils aus den Anträgen als solchen heraus erkennbar war." Die Strafkammer schloß daraus, es bestehe "kein Zweifel daran, daß der Angeklagte P sein Antragsrecht gröblich mißbraucht hat mit dem Ziel, das Verfahren zur Verhinderung eines ihm nicht genehmen Abschlusses durch Urteil zu verzögern, das Gericht zu ermüden und letztlich zu einer bindenden Zusage für eine von ihm als akzeptabel angesehene Strafe zu bewegen" und daß er "auch in Zukunft zur Erreichung seiner Ziele sein Antragsrecht in der dargelegten Form weiter mißbrauchen wird; zahllose weitere Beweisanträge sind angekündigt." Die Strafkammer untersagte daher dem Angeklagten P eine weitere Beweisantragsstellung durch ihn selbst und ordnete an, daß P in Zukunft Beweisanträge nur noch nach Prüfung durch seine Verteidiger und über diese stellen dürfe. 44 Vgl. oben Kapitell AI. 45 BGHSt 38,111,112.
D. BGHSt38,111
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ll. Die Entscheidung des BGH Im Vordergrund der nun folgenden Erörterung sollen weniger die Ausführungen des BGH zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts durch den Angeklagten stehen, als vielmehr die Argumente, die der BGH zur Begründung der konkreten Inpflichtnahme des Strafverteidigers heranzog. Zur Rechtfertigung dieser Inpflichtnahme der Verteidigung stellte der BGH unter Berufung auf BGHSt 29, 99 zunächst auf den Auftrag der Strafverteidigung ab. Dieser liege nicht ausschließlich im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege. 46 Weiterhin betonte der BGH die Stellung des Verteidigers als Beistand, nicht als Vertreter des Beschuldigten, der an dessen Weisungen nicht gebunden sei. Schließlich wurde auf den Umstand verwiesen, daß unsere Strafverfahrensordnung folgerichtig davon ausgehe, daß es in gewissen Fällen sachdienlich sein kann, Rechte des Beschuldigten nur über den Verteidiger ausüben zu lassen. 47 Aus "alledem" zog der BGH sodann den Schluß, daß ein Strafverteidiger den Angeklagten in der Hauptverhandlung keineswegs nach Belieben "schalten und walten lassen" darf, sondern daß die Verteidigung eine Pflicht trifft, mit dafür Sorge zu tragen, daß das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen verläuft. Die einseitige Interessenwahmehmung zugunsten des Angeklagten stehe hierbei mit der Notwendigkeit der Mitwirkung des Verteidigers an einer ordnungsgemäß zu fördernden Hauptverhandlung, in der auch der Verfahrensabschluß in angemessener Zeit nicht in Frage gestellt werden dürfe, nicht in Widerspruch. 48
ill. Stellungnahme und Lösung unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie Blicken wir zunächst auf das Echo, das die oben wiedergegebene Entscheidung des BGH in der Literatur fand: Hamm rügt den BGH, da es sich mit dem Verfassungsprinzip der Privatautonomie sowie der Subjektstellung des Beschuldigten im Strafprozeß nicht vertrage, wenn dem Tatgericht die Befugnis eingeräumt werde, "in Fragen des sachlichen Verteidigungsvorbringens (Einlassungen, Beweisanträge) den Beschuldigten der Aufsicht durch seinen Verteidiger und seiner Totalkontrolle nach Art einer Vormundschaft zu unter46 BGHSt 38, 111, 114 unter Verweis auf BGHSt 29, 99, 106. 47 BGHSt 38, 111, 114. 48BGHSt38,111,115. 11 Domach
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werfen.· 49 Scheffler wirft dem BGH vor, daß er rechtsmißbräuchliches Verhalten mit der rechtsstaatlieh geforderten effektiven Förderung des Strafverfahrens verknüpfe. Zu dieser Verfahrensförderung sei jedoch der Angeklagte nach ganz allgemeiner Ansicht gerade nicht verpflichtet. Das Beweisantragsrecht werde grundsätzlich in Frage gestellt, wenn die bloße Nichtförderung des Strafverfahrens in den Ruch des Rechtsmißbrauchs komme. 50 Die Inpflichtnahme der Strafverteidigung hält Scheffler dagegen für richtig, da dies der Weg sei, den das Gesetz auch sonst zur Verfügung stelle, um sachwidriges Vorbringen zu verhindern (vgl. § 172 Abs. 3, § 345 Abs. 2, § 366 Abs. 2 StPO). 51 Die Gefahr, daß auch der Verteidiger schikanöse Beweisanträge stelle, sei rechtlich eingedämmt, da ein Rechtsanwalt bei der Wahrnehmung der Interessen des Angeklagten bekanntlich selbständig und nicht an dessen Weisungen gebunden sei. Der Angeklagte könne demzufolge seinen Verteidiger auch nicht zwingen, Prozeßhandlungen wie etwa Antragstellungen vorzunehmen. Dem Rechtsanwalt sei überdies die Stellung schikanöser Beweisanträge schon berufsrechtlich verboten. Verstoße er hiergegen, dann gerate er nach herrschender Ansicht schnell in den Bereich der Strafvereitelung auf Zeit gemäß § 258 StGB mit der Folge, daß er gemäß § 138 Abs. 1 Nr. 3 StPO vom weiteren Verfahren ausgeschlossen werden kann. 52 Auch Maatz nahm in ausführlicher Weise zu vorliegender Entscheidung des BGH Stellung und betonte hierbei sehr deutlich die Bedeutung, die seiner Ansicht nach diesem Urteil über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukomme. Der BGH habe - so Maatz - in seiner Entscheidung zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts im Sinne rechtsgestaltender Wirkung des Revisionsrechts gar ein Stück Neuland betreten. Ausgehend von dieser Entscheidung müsse man sich nämlich zukünftig die Frage stellen, ob der Grundsatz noch unverändert Geltung beanspruchen kann, wonach die Gerichte und nicht die Verfahrensbeteiligten die Verantwortung für ein ordnungsgemäßes Verfahren tragen, wenn man diesen Grundsatz dahingehend versteht, daß es nur dem Gericht (und gegebenenfalls auch der Staatsanwaltschaft), nicht aber auch dem Verteidiger obliegt, für eine strenge Justizförmigkeit des Strafverfahrens zu sorgen. 53 Wenn der 4. Strafsenat des BGH mittels vorliegender Entscheidung die Stellung des Verteidigers im Rahmen des Strafverfahrens neu bestimmt 49 50 51 52 53
Hamm, NJW 1993, S. 294. Scheffle" JR 1993, S. 171. Scheffle" JR 1993, S. 173. Scheffle" JR 1993, S. 173. Maatz, NJW 1992, S. 513.
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habe, so gelte dies in gleicher Weise auch für die Reichweite "dysfunktionalen" 54 Verteidigerverhaltens. 55 Die Entscheidung BGHSt 38, 111 wirft damit zwei strikt voneinander zu trennende Problemkreise auf: Zum einen muß geklärt werden, ob dem Verteidiger in einem Fall, in dem der Angeklagte in rechtsmißbräuchlicher Art und Weise von seinem Beweisantragsrecht Gebrauch macht, tatsächlich eine aktive Mitwirkungspflicht dahingehend zukommt, daß er die Anträge des Angeklagten auf ihre Sachdienlichkeit hin zu überprüfen hat. Zum anderen muß die Problematik um die Abgrenzung der Verantwortungsbereiche zwischen Gericht und Verteidigung hinsichtlich eines justizförmigen Strafverfahrens einer Lösung zugeführt werden. Hier wird insbesondere die Frage zu beantworten sein, ob der Verteidiger neben Gericht und Staatsanwaltschaft in irgendeiner Weise Mitverantwortung für die Gewährung eines justizförmigen Strafverfahrens trägt (vgl. dazu unten Kapitel 7). Gehen wir jedoch zunächst der Frage nach, ob in Fallkonstellationen wie der vorliegenden die Verteidigung verpflichtet ist, die Beweisanträge des Beschuldigten einer "Rechtskontrolle hinsichtlich ihrer Sachdienlichkeit" zu unterziehen. 56 Nach dem hier vertretenen Verteidigerkonzept der eingeschränkten Organtheorie kann eine derartige Mitwirkungspflicht der Verteidigung allenfalls dann bejaht werden, wenn das öffentliche Interesse an der Effektivität der Strafverteidigung eine solche Mitwirkung des Verteidigers erfordert bzw. wenn die Weigerung des Verteidigers, die Beweisanträge des Beschuldigten auf ihre Sachdienlichkeit hin zu kontrollieren, den vom Verteidiger zu respektierenden Kembereich einer funktionsfähigen Strafrechtspflege verletzt.
1. Das Interesse an der Effektivität der StraJverteidigung Im vorliegenden Fall könnte man die Auffassung vertreten, daß der Strafverteidiger schon im öffentlichen Interesse an einer möglichst guten Verteidigung des Beschuldigten dazu verpflichtet ist, dessen Beweisanträge vor deren Stellung auf ihre Sachdienlichkeit hin zu überprüfen. Bei näherem Hinsehen vermag diese Argumentation jedoch nicht zu überzeugen. Gehen wir dabei zunächst von der Konstellation aus, daß der Angeklagte die Beweisanträge allein aus dem Grund (in eigener Person) stellt, um den Prozeß zu ver54 Vgl. hierzu Rüping/Domseijer, JZ 1977, S. 417 ff. 55 Maatz, NJW 1992, S. 513. 56 Vgl. BGHSt 38,111,114. 11'
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schleppen. Hätte der Verteidiger in einem solchen Fall die Anträge des Angeklagten vor deren Stellung nicht auf ihre Sachdienlichkeit hin überprüft und hätte weiterhin das Gericht - berechtigterweise - die Anträge des Angeklagten allesamt wegen Rechtsmißbrauchs zurückgewiesen, so wäre bezüglich einer effektiven Verteidigung des Angeklagten kein Schaden entstanden, da die Beweisanträge in ihrer Gesamtheit bereits von vorneherein nicht dazu geeignet waren, den Angeklagten in irgendeiner Weise zu entlasten. Aber auch bei Vorliegen anderer denkbarer Sachverhaltskonstellationen vermag das Interesse an einer effektiven Strafverteidigung die vom BGH bejahte Inpflichtnahme des Verteidigers nicht zu rechtfertigen. Gehen wir hierzu von der Situation aus, daß sich unter den insgesamt vom Gericht wegen Rechtsmißbrauchs zurückgewiesenen hunderten oder gar tausenden von Beweisanträgen einige Anträge befunden hätten, die durchaus mit zur Entlastung des Angeklagten hätten beitragen können. Auch in diesem Fall wäre die Effektivität der Verteidigung nicht dadurch negativ beeinträchtigt, daß der Strafverteidiger die Anträge des Angeklagten vor deren Stellung nicht auf ihre Sachdienlichkeit hin überprüfte. Dem Verteidiger steht nämlich auch in dieser Situation noch ein eigenes Beweisantragsrecht zu, mit dessen Hilfe er - und dies sogar gegen den Willen des Angeklagten - eine wirkungsvolle (materielle) Verteidigung seines Schützlings sicherstellen kann. 57 Aufgrund des eigenständigen und vom Willen des Beschuldigten unabhängigen Beweisantragsrechts des Verteidigers läßt sich somit unter dem Gesichtpunkt des Interesses an einer möglichst guten Verteidigung des Beschuldigten in Fällen, in denen dieser sein Beweisantragsrecht rechtsmißbräuchlich ausübt, eine aktive, im öffentlichen Interesse bestehende Mitwirkungspflicht der Verteidigung im Sinne einer Kontrollpflicht 58 nicht begründen.
2. Das Interesse an der Effektivität der Strafrechtspflege (Kernbereichsverletzung ?) Rechtfertigt somit die Effektivität der Strafverteidigung die Inpflichtnahme des Strafverteidigers vorliegend nicht, so ist weiterhin zu untersuchen, ob der Verteidiger nicht den Kernbereich effektiver Strafrechtspflege verletzt, wenn er sich weigert, die Beweisanträge des Angeklagten vor deren Stellung auf 57 Zum eigenen Beweisantragsrecht des Strafverteidigers vgl. BGH NJW 1953, S. 1314; BGH NJW 1969, S. 282 sowie Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag, S. 377. 58 Kontrollpflicht in dem Sinne, daß der Verteidiger die Beweisanträge des Angeklagten vor deren Stellung auf ihre Sachdienlichkeit hin zu kontrollieren hat.
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ihre Sachdienlichkeit hin zu überprüfen. Eine Kembereichsverletzung im dargelegten Sinne läge dann vor, wenn es sich bei der angesprochenen "Mitarbeitsverweigerung" seitens des Verteidigers um einen schwerwiegenden Eingriff in den Prozeß der Wahrheitsfindung handelt. 59 Ansatzpunkt muß hier wiederum die Frage sein, ob der Strafverteidiger im öffentlichen Interesse verpflichtet ist, das Strafverfahren in irgendeiner Weise aktiv zu fördern. Diese Frage wurde jedoch bereits dahingehend beantwortet, daß unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Anbindung des Verteidigers an das öffentliche Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege ein Verteidigerverhalten, das sich lediglich darin erschöpft, das Strafverfahren nicht zu fördern, dem Verteidiger nicht verboten, sondern erlaubt ist. Der Verteidiger ist eben kein Organ der Wahrheitsermittlung wie der Richter oder der Staatsanwalt. 60 Verboten sind dem Verteidiger nur solche Verhaltensweisen, die als Verfahrenssabotage oder als Verfahrensobstruktion bewertet werden müssen. Die schlichte Nichtförderung des Verfahrens kann jedoch mangels Prozeßförderungspflicht nicht als verfahrens sabotierendes oder verfahrensobstruierendes Prozeßverhalten des Verteidigers eingestuft werden. Noch ein weiterer Gesichtspunkt stützt diese Überlegung. Dem Verteidiger sind solche Verhaltensweisen (sei es im Wege des aktiven Tuns oder des pflichtwidrigen Unterlassens) verboten, die deswegen als Kembereichsverletzung eingestuft werden müssen, weil sie in letzter Konsequenz dazu geeignet sind, das Strafverfahren lahmzulegen. Eine solche Kembereichsverletzung seitens des Strafverteidigers kann jedoch solange nicht bejaht werden, als der Angriff auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege nicht von der Person des Verteidigers selbst ausgeht und das Gericht den von dritter Seite ausgehenden Angriff unschwer durch eigenes Verhalten bzw. eigene Maßnahmen abwehren kann. So kann (und muß) in Fällen, in denen der Angeklagte in rechtsmißbräuchlicher Weise Beweisanträge stellt, das Gericht selbst die Verschleppung des Prozesses seitens des Angeklagten unschwer dadurch verhindern, daß es dessen Beweisanträge - wie sonst (nämlich bei unverteidigten Angeklagten) auch - durch Gerichtsbeschluß nach § 244 Abs. 6 StPO zurückweist. Eine solche Vorgehensweise wird dem Gericht im Zeitalter elektronischer Datenverarbeitung auch in Fällen, in denen sehr viele Beweisanträge eines rechtsmißbräuchlich handelnden Angeklagten zurückgewiesen werden müssen, nicht unzumutbar sein. Da somit das Gericht selbst die durch das Verhalten des An59 Vgl. Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 149. 60 So völlig richtig Müller-Dietz, Jura 1979, S. 249.
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geklagten drohende Lahmlegung der Justiz unschwer verhindern kann und da zudem der Angriff auf die Effektivität der Rechtspflege nicht vom Strafverteidiger selbst ausging, kann in der Weigerung des Verteidigers, die Beweisanträge des Angeklagten zu überprüfen, keine Verfahrenssabotage gesehen werden. Die Zurückweisung rechtsmißbräuchlich gestellter Beweisanträge ist und bleibt auch bei verteidigten Angeklagten originäre Angelegenheit des Prozeßgerichts. Verneint man - wie vorliegend geschehen - eine im öffentlichen Interesse bestehende Prozeßförderungspflicht des Strafverteidigers, könnte eine Kernbereichsverletzung durch den Verteidiger jedoch möglicherweise noch unter dem Gesichtspunkt der Prozeßverschleppung zu diskutieren sein. Man könnte hierzu die Auffassung vertreten, daß sich der Verteidiger die Prozeßverschleppungsabsicht des Angeklagten zurechnen lassen müsse und daher in eigener Person eine Prozeßverschleppung begehe, wenn er nicht dahingehend auf seinen Mandanten einwirke, daß dieser künftig nur noch sachdienliche Beweisanträge stellt. Eine solche ZurechilUng der Verschleppungsabsicht des Angeklagten an den Verteidiger scheidet jedoch aus mehreren Gründen aus: Zum einen fehlt bereits jegliche gesetzliche Grundlage den Rechtsmißbrauch durch den Angeklagten dem Verteidiger in irgendeiner Form zuzurechnen. Solange also der Verteidiger nicht in eigener Person Rechte mißbraucht oder eine unzulässige Prozeßverschleppung betreibt, kann ihm der Rechtsmißbrauch oder die Prozeßverschleppung seitens des Angeklagten nicht zugerechnet werden. Hier kann nichts anderes gelten als in dem gesetzlich geregelten Fall des Rechtsmißbrauchs, nämlich dem des Mißbrauchs des Beweisantragsrechts (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO), in dem es allein auf die Absicht des jeweiligen Antragstellers ankommt und dem Verteidiger daher eine eventuell beim Beschuldigten vorliegende Verschleppungsabsicht grundsätzlich nicht zugerechnet werden kann. 61 Des weiteren verbietet schon die in Rechtsprechung und Literatur allgemein anerkannte und auch hier erneut befürwortete Unabhängigkeit des Verteidigers eine solche Zurechnung des Verhaltens des Beschuldigten. Der Verteidiger ist eben nicht der Vertreter des Beschuldigten, sondern - wie auch der BGH stets betont - dessen weisungsunabhängiger Beistand. 62 Vertritt man - wie es die Rechtsprechung schon seit Jahrzehnten tut die Auffassung, daß der Strafverteidiger auch öffentlichen, überindividuellen Interessen verpflichtet ist, dann muß man im Gegenzug - als Konsequenz der 61 Vgl. nur KleinknechtlMeyer-Goßner, § 244 Rn. 69, Schäfer, Die Praxis des Strafverfahrens, Rn. 845, DahslDahs, Die Revision im Strafprozeß, Rn. 337. 62BGHSt38,lll,114.
E. Ergebnis zu Kapitel 6
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Anerkennung des öffentlichen Interesses an der Effektivität der Strafverteidigung - auch die Unabhängigkeit des Verteidigers sowohl vom Staat als auch vom Beschuldigten anerkennen. 63 Eine Zurechnung des Verhaltens und der Absichten des Beschuldigten an den Strafverteidiger scheidet daher aus. Festzuhalten ist damit, daß der Verteidiger entgegen der Rechtsauffassung des BGH auch unter Berücksichtigung seiner öffentlichen Funktionen (= OrgansteIlung) nicht verpflichtet ist, die Rolle eines "Beweisantragspflegers " 64 zu übernehmen.
E. Ergebnis zu Kapitel 6 Nach der eingeschränkten Organtheorie, so wie sie hier im Anschluß an Beulke vertreten wird, können sich Mitwirkungspflichten des Strafverteidigers sowohl unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an einer effektiven Verteidigung des Beschuldigten als auch unter Heranziehung des öffentlichen Interesses an einer effektiven Strafrechtspflege ergeben. 65
I. Die Effektivität der Strafverteidigung Das Interesse an einer möglichst effektiven Verteidigung des Beschuldigten vermag eine Mitwirkungspflicht des Verteidigers allenfalls in den Fällen zu begründen, in denen das pflichtgemäße Ermessen des Verteidigers hinsichtlich der Wahl der richtigen Verteidigungsstrategie ausnahmsweise auf Null reduziert ist. Der Verteidiger ist damit gegenüber Gericht und Strafverfolgungsbehörden nur in den (Ausnahme-) Fällen zur Mitwirkung verpflichtet, in denen jedes andere Verhalten des Verteidigers unter Berücksichtigung des Gesichtspunkts der bestmöglichen Verteidigung des Beschuldigten sowie der Unabhängigkeit des Strafverteidigers als unvertretbar einzustufen ist.
n. Die Effektivität der Strafrechtspflege Neben dem Interesse an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten ist der Strafverteidiger auch der Effektivität der Strafrechtspflege in einem 63 Ein Aspekt, der in der in Bezug genommenen Entscheidung BGHSt 29, 99 ff. recht deutlich zum Ausdruck kommt, wenn der BGH dort das rechtsstaatliche Gebot erwähnt, "eine möglichst unbehinderte Verteidigung zu gewährleisten" (BGHSt 29,99, 103). 64 Diesen Begriff prägte Hamm (vgl. Hamm, NJW 1993, S. 296). 6S Das öffentliche Interesse an der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bleibt hier mangels Praxisrelevanz außer Betracht.
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Kapitel 6: Die Anwendung der eingeschränkten Organtheorie
Kernbereich verpflichtet. Unter Würdigung von Sinn und Zweck dieser Anbindung ist der Strafverteidiger jedoch grundsätzlich nicht verpflichtet, das Strafverfahren in irgendeiner Weise aktiv zu fördern. Es sind dem Verteidiger nämlich nur solche Verhaltensweisen (Kernbereichsverletzungen) verboten, die unser Justizsystem letztlich lahmlegen würden und daher als Verfahrenssabotage bzw. Verfahrensobstruktion eingestuft werden müssen. Diese Voraussetzungen erfüllt ein Verteidigerverhalten, das sich lediglich darin erschöpft, das Strafverfahren nicht zu fördern, jedoch bereits deshalb nicht, weil der Verteidiger in eigener Person das Strafverfahren in keiner Weise zu betreiben hat. Die eingeschränkte Organtheorie legt den Verteidiger somit keinesfalls auf eine möglichst effektive Verfahrensgestaltung fest, sondern verbietet ihm lediglich, da Strafrecht und anwaltliches Standesrecht in dieser Beziehung eindeutig versagen, ein verfahrenssabotierendes Prozeßverhalten an den Tag zu legen. Der Verteidiger hat damit auch unter Zugrundelegung seiner öffentlichen Funktionen, d.h. seiner Organstellung, keine Prozeßförderungspflicht.
Kapitel 7
Die Abschichtung der Verantwortungsbereiche von Gericht und Verteidigung bezüglich der Justizförmigkeit des Strafverfahrens Wurde soeben die Frage des Bestehens einer Mitwirkungspflicht der Verteidigung in Fällen verneint, in denen der Angeklagte sein Beweisantragsrecht rechtsmißbräuchlich ausübt, soll im folgenden geklärt werden, ob neben dem Gericht (und gegebenenfalls der Staatsanwaltschaft) auch der Verteidiger eine Mitverantwortung für ein justizförmiges Strafverfahren trägt. Konkret: Muß der Strafverteidiger einen von ihm erkannten Verfahrensfehler des Gerichts rügen und muß er das Gericht zur Heilung dieses Fehlers auffordern, will er nicht des Rechts verlustig gehen, diesen Rechtsfehler in der Revisionsinstanz zu rügen? Wie Kindhäuser völlig richtig ausführt, kann das Schweigen auf einen Verfahrensfehler allenfalls dann zu einem Verlust des Rügerechts in der Revisionsinstanz führen, wenn es einen normativen Grund gibt, der es gebietet, daß man sich bereits in der Hauptverhandlung (der Tatsacheninstanz) gegen den Verfahrensfehler zur Wehr setzt. 1 Es ist also zu untersuchen, ob in der Person des Beschuldigten oder in der Person des Strafverteidigers ein solch normativer Grund gegeben ist.
A. Rügeverlust in der Revisionsinstanz als Folge einer Pflichtverletzung? Im Bereich der Pflichtverletzung sind zwei verschiedene Ansatzpunkte denkbar. Zum einen könnte in der Person des Beschuldigten eine Mitwirkungspflicht im Sinne einer Rügepflicht bestehen. In diesem Fall könnte der Verteidiger möglicherweise kraft seiner Beistandsfunktion nach § 137 Abs. 1 StPO dazu verpflichtet sein, die Mitwirkungspflicht des Angeklagten für die1 Kindhäuser, NStZ 1987, S. 531.
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sen wahrzunehmen. Zum anderen ist es jedoch auch denkbar, daß dem Verteidiger selbst - kraft seiner OrgansteIlung, also infolge öffentlicher Funktionswahrnehmung und unabhängig von der Person des Beschuldigten - eine Mitwirkungspflicht in Gestalt einer Rüge- und Heilungspflicht zukommt. I. Mitwirkungspflicht des Angeklagten? Die Frage nach einer Pflicht des Angeklagten, Verfahrensfehler des Gerichts zu rügen und zur Heilung dieser Mängel anzuregen, ist für das deutsche Strafverfahren unschwer zu beantworten: Eine derartige Mitwirkungspflicht des Angeklagten gibt es nicht. Außer der Pflicht zu erscheinen und Angaben zu seiner Person zu machen, kennt unser geltendes Strafverfahrensrecht nämlich keine Leistungspflichten des Angeklagten, sondern nur Duldungspflichten. 2 Der Angeklagte hat - wie es Hamm formuliert - ein Recht auf Passivität, ihn treffen bezüglich der Sachverhandlungen keinerlei Mitwirkungspflichten oder auch nur Obliegenheiten. 3 Zutreffend stellt Kindhäuser fest, daß eine Pflicht des Angeklagten, das Gericht auf einen Verfahrensfehler hinzuweisen, mit seiner Rechtsstellung nicht zu vereinbaren ist. 4 Der Angeklagte hat daher zwar die (Duldungs-) Pflicht, ein justizförmiges Strafverfahren über sich ergehen zu lassen, er hat jedoch keinesfalls die Pflicht, an einem gegen ihn gerichteten justizförmigen Strafverfahren aktiv mitzuwirken. 11. Mitwirkungspflicht des Strafverteidigers? Besteht somit in der Person des Angeklagten keine Mitwirkungspflicht, ist weiterhin danach zu fragen, ob nicht möglicherweise in der Person des Strafverteidigers ein Grund besteht, der es diesem zur Pflicht macht, sich bereits im Rahmen der Tatsacheninstanz gegen von ihm erkannte Verfahrensfehler des Gerichts zu wehren. Als Grundlage einer solchen Mitwirkungspflicht des Verteidigers könnte seine Stellung als ein unabhängiges "Organ der Rechtspflege" in Betracht kommen. Begründet nun die Wahrnehmung auch öffentlicher Funktionen durch den Verteidiger (= OrgansteIlung) eine Mitwirkungspflicht in dem Sinne, daß der Strafverteidiger von ihm erkannte Verfahrensfehler noch in der Hauptverhandlung rügen und das Gericht zur Heilung dieser Fehler auffordern muß? 2 Vgl. nur Kindhäuser, NStZ 1987, S. 531. 3 So richtig Hamm, NJW 1993, S. 295. 4 Kindhäuser, NStZ 1987, S. 531.
A. Rügeverlust als Folge einer Pflichtverletzung?
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1. Bejahende Stellungnahmen Aus Sicht der Gerichte bzw. aus Sicht der Richterschaft scheint eine Mitverantwortung bzw. eine Mitwirkungspflicht des Verteidigers in bezug auf ein prozeßordnungsgemäßes Strafverfahren unproblematisch zu bejahen zu sein. Ein prägnantes Beispiel hierfür bietet, wenigstens für einen Teilbereich des Strafverfahrens, die höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 238 Abs. 2 StPO. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht, wenn eine auf die Sachleitung bezogene Anordnung des Vorsitzenden von einer bei der Verhandlung beteiligten Person als unzulässig beanstandet wird. Unterläßt nun der Verteidiger die Herbeifiihrung eines Gerichtsbeschlusses gegen eine von ihm für unzulässig gehaltene Anordnung des Vorsitzenden, so soll nach ständiger Rechtsprechung des BGH die für fehlerhaft gehaltene Anordnung in der Revisionsinstanz nicht mehr erfolgreich gerügt werden können. 5 Der BGH vertritt nämlich die Auffassung, derjenige, der es unterlasse, gegen eine seiner Ansicht nach rechtswidrige Anordnung des Vorsitzenden einen Gerichtsbeschluß nach § 238 Abs. 2 StPO herbeizuführen, gebe damit zu erkennen, daß er sich durch die entsprechende Anordnung nicht beschwert fühle. 6 Obwohl die ganz h.M. in der Prozeßrechtsliteratur gegen diese richterrechtlich begründete Rügepräklusion Stellung bezog und dem Lösungsansatz des BGH überzeugende Argumente entgegen stellte, wie z.B. daß zu einem stillschweigenden Rechtsverzicht mehr gehöre als die bloße Nichtwahmehmung der Möglichkeit, das Gericht nach § 238 Abs. 2 StPO anzurufen 7 und daß eine Verwirkung durch Nichtrüge der Anordnung des Vorsitzenden allenfalls dann in Betracht komme, wenn über die bloße Nichtanrufung des Gerichts hinaus ein arglistiges oder treuwidriges Prozeßverhalten hinzukomme 8, hielt der BGH an seiner Rechtsauffassung fest. Selbst wenn sich die 5 Vgl. nur BGHSt I, 322, 325; BGHSt 3,368; 369 u. 370; BGHSt 4.364, 366; HansOLG Hamburg MDR 1979, S. 74; BGH NStZ 1982, S. 432; BGH StV 1985, S. 356; BGH StV 1988, S. 325; BGH GA 1988, S. 426; BGH NStZ 1992, S. 346; zustimmend Fuhrmann, NIW 1963, S. 1235; KK-Treier, § 238 Rn. 17; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 238 Rn. 22. 6 BGHSt I, 322, 325. 7 Vgl. Schmid, Die "Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozess, S. 293 u. 294; LRGollwitzer, § 238 Rn. 49; Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 375; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 173, AK-StPO-Schöch, § 238 Rn. 43; Schlüchter in SK StPO, § 238 Rn. 29. 8 Vgl. Schmid, Die "Verwirkung von Verfahrensrügen im Strafprozess, S. 373; LR-Gollwilzer, § 238 Rn. 48; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42 Rn. 16; Fezer, Strafprozeßrecht II, Rn. 71; Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 375; KMR-Paulus, § 238 Rn. 65; Gössel, Strafverfahrensrecht, S. 173; AK-StPO-Schöch, § 239 Rn. 43; Schlachter in SK StPO, § 238 Rn. 28.
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Kapitel 7: Die Abschichtung der Verantwortungsbereiche
Rechtsprechung in der Folgezeit gezwungen sah, von dem oben beschriebenen Grundsatz zahlreiche Ausnahmen zu machen 9, hat sich damit in der Rechtsprechung des BGH eine Mitwirkungspflicht des Verteidigers hinsichtlich eines prozeßordnungsgemäßen Strafverfahrens - wenigstens partiell längst durchgesetzt. Insofern kann es auch nicht überraschen, wenn nun versucht wird, diesen - in der höchstrichterlichen Rechtsprechung scheinbar fest etablierten - Ansatz aufzugreifen und die Mitwirkungspflicht des Verteidigers in bezug auf ein ordnungsgemäßes Verfahren über den Anwendungsbereich des § 238 Abs. 2 StPO hinaus auf das gesamte Strafverfahren auszudehnen. Dementsprechend führt beispielsweise Kuckuk aus, daß die widerspruchslose Hinnahme eines vom Rechtsanwalt erkannten und in der Instanz heilbaren Verfahrens fehlers , dessen Rüge in der Rechtsmittelinstanz zur Autbebung des angefochtenen Urteils führe (Beispiele: Verletzung der Grundsätze über die Öffentlichkeit, unterlassene Verlesung des erstinstanzlichen Urteils in der Berufungsinstanz ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 324 Abs. 1 S. 2 Hbs. 2 StPO), im allgemeinen unter dem Stichwort "Prozeßsabotage" erörtert werde und zumindest standeswidrig sei. 10 Die Pflicht des Strafverteidigers daran mitzuwirken, daß Verfahrensfehler des Gerichts von vorneherein unterbleiben bzw. rechtzeitig korrigiert werden, folge aus seiner Stellung als ein unabhängiges "Organ der Rechtspflege" gemäß § 1 BRAO. 11 In ganz ähnlicher Weise argumentiert auch Maatz. Seiner Auffassung nach hat die Entscheidung BGHSt 38, 111 zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts die Reichweite "dysfunktionalen" Verteidigerverhaltens neu bestimmt: Als dysfunktional könne nach diesem Urteil nicht mehr nur das Hinwirken auf einen Verfahrensfehler angesehen werden (um ihn später rügen zu können), sondern auch das Unterlassen eines Hinweises gegenüber dem Gericht auf einen vom Verteidiger erkannten und heilbaren Verfahrensfehler. Dies sei deshalb so, 9 Vgl. BGHSt 38, 260, 261: Die Revision ist bei Maßnahmen des Vorsitzenden, die vom Gesetz zwingend vorgeschrieben und unverziehtbar sind, nicht von der Anrufung des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO abhängig. BGH NStZ 1981, S. 71, BGH NStZ 1984, S. 371: Das Gericht muß nicht nach § 238 Abs. 2 StPO angerufen werden, wenn der Vorsitzende überhaupt keine Anordnung traf. . OLG Koblenz StV 1992, S. 263: Kein Verwirken der Revisionsrüge, wenn ein unverteidigter Angeklagter von § 238 Abs. 2 StPO keinen Gebrauch macht. OLG Stuttgart NStZ 1988, S. 240: Ein Gerichtsbeschluß ist nicht erforderlich, wenn das Gericht aufgrund seiner Fürsorgepflicht gehalten war, den unverteidigten Angeklagten auf die Möglichkeit hinzuweisen, einen Gerichtbeschluß zu beantragen. 10 Kuckuk, NIW 1980, S. 298. 11 Kuckuk, NIW 1980, S. 298.
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weil beide Verhaltensweisen gleichennaßen dazu dienen bzw. dienen könnten, die Herbeiführung einer rechtskräftigen Entscheidung in angemessener Frist zu verhindern und damit ein Element der Prozeßverschleppung beinhalten. 12 Ausgehend von einer Mitwirkungspflicht des Verteidigers ergebe sich ohne weiteres, daß ein dysfunktionales Verhalten auch in einer Untätigkeit des Verteidigers gegenüber von ihm erkannten Verfahrensfehlern des Gerichts liegen könne. 13 Diese Untätigkeit des Verteidigers könne im Einzelfall auch dann zu einem Rügeverlust des Angeklagten führen, wenn den Angeklagten selbst kein zurechenbares Verschulden treffe. 14 Maatz ist weiterhin der Ansicht, daß die objektive Zuordnung des Verteidigerverhaltens zu Lasten des Angeklagten und das damit verbundene Risiko des Rügeverlustes die hohe Verantwortung der Verteidigung unterstreiche und daß in der Inpflichtnahme der Verteidigung keine Beeinträchtigung ernstlich gemeinter Verteidigung liege. Es sei nur zu wahr, daß im Interesse des Gebots effektiver Strafrechtspflege nicht jede Verletzung einer strafprozessualen Vorschrift das Urteil revisibel lassen werden dürfe. 15 2. Ablehnende Stellungnahmen
Diese Sichtweise der Problematik rief seitens der Strafverteidigerschaft vehementen Widerspruch hervor. So sprach sich beispielsweise Widmaier ausdrücklich gegen die Inpflichtnahme des Verteidigers als (Mit-) Garant eines prozeßordnungsgemäßen Strafverfahrens aus. Dem BGH sei - so Widmaier nachdrücklich entgegenzutreten, als in seinem Urteil Ansätze zu einer Verlagerung gerichtlicher Verantwortlichkeit auf den Strafverteidiger (mit der Folge von Rügeverlusten) lägen. 16 Ausgehend von der Überlegung, daß unsere Strafverfahrensordnung keine generelle Präklusionsvorschrift kennt und nur in den §§ 222 b, 16, 6 a und 25 StPO spezielle Fälle der Präklusion regelt, zog Widmaier - argurnenturn e contrario - den Schluß, daß es außerhalb der spezialgesetzlich geregelten Fälle keine Rügepräklusion gibt. Für die Wah12 Maatz. NStZ 1992, S. 514 und 515. I3 Während im Rahmen der vorliegenden Untersuchung erst die Frage geklärt werden soll. ob und inwieweit eine Mitwirkungspflicht des Verteidigers besteht. legt Maatz seinen Überlegungen die Existenz einer derartigen Pflicht zugrunde. Eine dogmatisch überzeugende Herleitung einer Mitwirkungspflicht des Verteidigers findet sich in seinen Ausführungen jedoch leider nicht. 14 Maatz. NStZ 1992, S. 518. 15 Maatz, NStZ 1992, S. 518. 16 Widmaier. NStZ 1992, S. 519.
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rung grundlegender und zwingender Verfahrensvorschriften trage ausschließlich das Gericht die Verantwortung, die übrigen Verfahrensbeteiligten würden an dieser gerichtlichen Verantwortung in keiner Weise teilnehmen. 17 So wenig wie die Fürsorgepflicht des Gerichts in den autonomen Verantwortungsbereich der Verteidigung hineinwirke, so wenig könne das Gericht innerhalb seines Verantwortungsbereiches eine Fürsorgepflicht der Verteidigung für sich in Anspruch nehmen. Abschließend stellte Widmaier fest, daß der Vorwurf prozessualer Arglist oder der Vorwurf dysfunktionalen Verhaltens vollends verfehlt sei, wenn sich die Verteidigung um ihre Aufgaben kümmere und nicht zusätzlich dem Gericht mit Ratschlägen und rechtlichen Hinweisen in die Hand gehe. 18 Sieht man von dieser ausführlichen Würdigung der Problematik durch Widmaier ab, so finden sich in der übrigen Prozeßrechtsliteratur zu dem Problem einer Mitverantwortlichkeit des Verteidigers hinsichtlich der Gewährung eines justizförmigen Strafverfahrens (im Sinne einer aktiven Mitwirkungspflicht) nur wenige Stellungnahmen: 19 Nach der Auffassung von Sax hat der Verteidiger aufgrund seiner prozessualen Stellung als kalkuliertes Gegengewicht in dem dialektischen Prozeß der Wahrheitsfmdung die - von den Weisungen und Erwartungen des Gerichts und den Wünschen, Weisungen, sogar vom Vertrauen des Beschuldigten unabhängige - objektive Funktion, dem Beschuldigten durch einseitige Vertretung seiner Interessen in einem prozessualen Kampf beizustehen. Dieser Kampf habe, trotz aller Möglichkeiten der Behinderung der Wahrheitsfindung, nicht regellos zu verlaufen und seine gesetzliche Ausgestaltung diene der staatlichen Pflicht zur Gewährleistung und Sicherung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. 20 Dies bedeute, daß der Strafverteidiger weder verpflichtet sei, die gerichtliche Wahrheitsfindung aktiv zu fördern, noch er ihre Behinderung schlechthin zu unterlassen habe. Ganz im Gegenteil habe der Verteidiger gerade auf die Verhinderung
17 Widmaier, NStZ 1992, S. 519. 18 Widmaier, NStZ 1992, S. 523. 19 Die meisten Stellungnahmen in der Literatur beschränken sich auf die Feststellung, daß der Strafverteidiger in aller Einseitigkeit zugunsten des Beschuldigten über die Justizförmigkeit des Strafvedahrens zu wachen habe. Stellvertretend genannt seien hier nur: Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Vorbemerkung zu § 137 StPO Rn. 7; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Vor § 137 Rn. 1; KK-Laujhütte, Vor § 137 Rn. 4; Müller-Dietz, Jura 1979, S. 248 u. 249; AK-StPO-Stem, Vor § 137 Rn. 15; Krekeler, NStZ 1989, S. 146; Meurer, Strafprozeßrecht, S. 29 u. 30. 20 KMR-Sax, Ein!. IV, Rn. 47.
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des Erfolges des Angriffs der Anklage hinzuwirken. 21 Der Verteidiger handle bei Mißbrauch der ihm prozessual eingeräumten Möglichkeiten oder bei Mißbrauch seiner Verteidigerstellung als solcher, auch dort wo eine prozessuale Mißbrauchsfolge gesetzlich nicht vorgesehen sei, seiner Verteidigerfunktion zuwider und damit prozeßordnungswidrig, wenn er dadurch die Strafrechtspflege in einer prozessual nicht vorgesehenen und auch nicht aus anderen Gründen erlaubten Art und Weise von der Erfüllung ihrer Aufgabe ablenke, abdränge oder sie gar vereitle und dadurch ihre Funktionstüchtigkeit aus den Angeln hebe. 22 Ein Unterlassen der Verfahrensförderung seitens des Verteidigers, wie z. B. das Geschehenlassen des prozeßordnungswidrigen Verhaltens eines anderen Verfahrensbeteiligten, stelle allerdings - mangels Pflichtwidrigkeit - kein prozeßordnungswidriges Verhalten dar. 23 In ganz ähnlicher Weise äußert sich auch Schmid. Nach der Auffassung von Schmid haben die Verfahrensbeteiligten zwar die sittliche Pflicht, ihnen allein bekannte Verfahrensfehler im Sinne der §§ 336 - 338 StPO dem Richter alsbald anzuzeigen, sofern eine derartige Beanstandung während der Instanz im Einzelfall erkennbar möglich, erfolgversprechend und auch sonst zuzumuten sei. 24 Sie haben jedoch keine Kontroll- und Rügepflicht dergestalt, daß sie bei Strafe des Rügeverlustes auf die Einhaltung der Verfahrensvorschriften zu achten hätten. 25 Auch Dünnebier erteilt einer Prozeßförderungspflicht des Strafverteidigers in Form einer Mitwirkungspflicht eine klare Absage. Dünnebier meint, der Strafverteidiger sei eindeutig kein Beistand des Gerichts und stehe deshalb auch nicht unter gerichtlicher Kontrolle und Bevormundung. 26 Daraus folge, daß der Verteidiger - wenn er die Prozeßaufgabe auch nicht hemmen dürfe - das Strafverfahren nicht weiter zu fördern habe, als sich aus seiner Beistandschaft zum Beschuldigten ergebe. 27 Otto stellt fest, daß ein "prozeßunökonomisches" Verhalten des Verteidigers (so z.B. wenn der Verteidiger einen Beweisantrag erst in einem relativ fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens stellt, obwohl ihm die Antragstellung bereits viel früher möglich gewesen wäre) nicht etwa prozessual unzulässig ist. Dies ergebe sich daraus, daß der Verteidiger nicht gehalten ist, sich - aus der Sicht des Gerichts 21 22 23 24 25
KMR-Sax, Eint. IV, Rn. 48. KMR-Sax, Eint. IV, Rn. 49. KMR-Sax, Eint. IV, Rn. 50. Schmid, Die "Verwirkung" von Verfahrensriigen im Strafprozeß, S. 332. Schmid, Die "Verwirkung" von Verfahrensriigen im Strafprozeß, S. 332. 26 LR-Dünnebier, 23. Auflage, Vor § 137 Rn. 10. 27 LR-DÜMebier, 23. Auflage, Vor § 137 Rn. 10.
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"prozeßökonomisch" ZU verhalten. 28 Eine eindeutig ablehnende Stellung beziehen zur Inpflichtnahme des Verteidigers als (Mit-) Garant eines justizförmigen Strafverfahrens auch die Thesen der Bundesrechtsanwaltskammer: 29 Während sowohl Gericht als auch Staatsanwaltschaft darauf zu achten hätten, daß das Strafverfahren justizförmig ablaufe, habe der Verteidiger die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens nur insoweit zu kontrollieren, als es um die Wahrung der Rechte des Mandanten gehe. 30 Auch bei schwerwiegenden Verfahrensfehlern (wie z.B. dem rechtswidrigen Ausschluß der Öffentlichkeit) sei es nicht Aufgabe des Verteidigers für ein justizförmiges Strafverfahren Sorge zu tragen. 31 Der Strafverteidiger dürfe vielmehr den ohne sein Zutun entstandenen Verfahrensfehler hinnehmen und ihn dennoch in einem späteren Rechtsmittelverfahren zugunsten seines Mandanten zur Geltung bringen. 32 Diese Beschränkung der Pflicht des Strafverteidigers, auf ein justizförmiges Strafverfahren zu achten, ergebe sich aus dessen Schutzaufgabe zugunsten des Mandanten. 33 Wie bereits angesprochen sieht Gössel die Aufgabe des Verteidigers darin, auf die Wahrung von Gesetz und Gerechtigkeit durch die Strafverfolgungsbehörden ausschließlich gegenüber dem Beschuldigten hinzuwirken. 34 Da man die Verteidigung aus dem Grundrecht des Beschuldigten auf Wahrung seiner Menschenwürde herzuleiten habe, sei der Verteidiger verpflichtet, ausschließlich einseitig zugunsten des Beschuldigten tätig zu werden. 35 Er müsse daher zwar darauf achten, daß die Strafverfolgungsbehörden nicht gesetzeswidrig oder ungerecht gegen seinen Mandanten vorgehen, habe jedoch nicht die Aufgabe, ein gesetzwidriges oder ungerechtes Vorgehen der Staatsgewalt zugunsten des Beschuldigten zu verhindern. 36 Der Verteidiger sei daher als "Gesetzeswächter" anzusehen, der kontrollierend sicherzustellen habe, daß die Wahrheitsermittlung durch Gericht und Staatsanwaltschaft den gesetzlichen Regeln entsprechend und gerecht betrieben wird, aber eben nur soweit als dies dem Beschuldigten zugute kommt. 37 Der Ver28 Otto, Jura 1987, S. 330. 29 These 9: Der Verteidiger ist nur im Rahmen seiner Aufgabe, den Mandanten wirksam zu schützen, Garant eines justizfömigen Verfahrens; vgl. BRAK-Thesen, S. 24. 30 BRAK-Thesen, S. 25. 31 BRAK-Thesen, S. 25. 32 BRAK-Thesen, S. 25. 33 BRAK-Thesen, S. 25. 34 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 30. 35 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 30. 36 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 30 und 31. 37 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 31.
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teidiger stehe nicht im Dienste der strafenden Gewalt und könne deshalb weder dem Ziel eines gerechten Urteils (zuungunsten des Mandanten) noch irgendwelchen Sanktionszwecken verpflichtet sein. 38
3. Lösung der Frage unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie Versuchen wir nun die Frage einer Mitwirkungspflicht (in Form einer Rügepflicht) bzw. einer Mitverantwortung des Verteidigers bezüglich eines justizförmigen Strafverfahrens unter Zugrundelegung des Verteidigerkonzepts der eingeschränkten Organtheorie zu lösen. Als öffentliche Interessen, die eine derartige Mitverantwortung des Strafverteidigers möglicherweise zu begründen vermögen, kommen hiernach ausschließlich das Interesse an einer effektiven Strafverteidigung sowie das Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege in Betracht. 39 a) Die Effektivität der Strafverteidigung Entscheidend für eine Mitverantwortung des Strafverteidigers in bezug auf die Gewährung eines ordnungsgemäßen Strafverfahrens könnte das vom Verteidiger zu beachtende (öffentliche) Interesse der Rechtsgemeinschaft an einer möglichst effizienten Verteidigung des Beschuldigten sprechen. Man könnte hier etwa in der Weise argumentieren, daß es - gerade im Interesse einer möglichst guten Verteidigung - die Pflicht des Verteidigers sei, Verfahrensfehler des Gerichts - zumindest solche, die sich zum Nachteil des Beschuldigten auswirken können - zu verhindern bzw. eine Heilung bereits geschehener Verfahrensfehler herbeizuführen, da dem Beschuldigten ein Recht auf ein justizförmiges Strafverfahren zustehe und der Verteidiger dieses Recht durchzusetzen habe. Ein derartiger Argumentationsansatz würde jedoch auch hier einen ganz wesentlichen Gesichtspunkt außer Acht lassen: Solange die vom Verteidiger eingeschlagene Verteidigungsstrategie als sinnvoll und nachvollziehbar erscheint, obliegt die Festlegung der "besten" Verteidigungstaktik einzig und allein dem Strafverteidiger. Ein Ermessen des Verteidigers hinsichtlich der Auswahl des richtigen Verteidigungswegs ist allenfalls in den (Ausnahme-) Fällen zu verneinen, in denen die vom Verteidiger eingeschlagene Taktik als völlig unvertretbar erscheint. Unter dem hier zunächst allein zu betrachtenden 38 Gössel, ZStW 94 (1982), S. 31. 39 Das vom Verteidiger zu beachtende Interesse an der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland spielt auch hier ersichtlich keine Rolle. 12 Domaeh
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Gesichtspunkt der Effektivität der Strafverteidigung handelt es sich jedoch selbstverständlich um eine sinnvolle und nachvollziehbare Strategie des Verteidigers, wenn dieser einen in der Tatsacheninstanz vom Gericht begangenen Rechtsfehler erst im Rahmen der Revisionsinstanz rügt, fällt doch in den meisten Fällen das Urteil nach einer Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht milder bzw. die Strafe niedriger aus. Speziell zu diesem Aspekt führt Kühne aus, daß eine Revision, die zur Zurückverweisung führt (§ 354 Abs. 2 StPO), von vielen Verteidigern nicht zu Unrecht als ein halber Freispruch angesehen wird. In der langen Zeit, die zwischen der ersten Hauptverhandlung und der aufgrund der Zurückverweisung erforderlichen, erneuten Hauptverhandlung vergehe, gerate vieles in Vergessenheit. Zeugen könnten sich entweder überhaupt nicht mehr oder aber nur schwach erinnern, seien unauffmdbar oder aber bereits gestorben. Die Beweissituation habe sich häufig derart verschlechtert, daß mangels Aufklärbarkeit ein Freispruch erfolgen müsse. 40 Weiterhin wird der Strafverteidiger auch zu berücksichtigen haben, daß eine lange Zeitspanne zwischen Tat und Urteil, ohne daß es dabei auf die Dauer des Strafverfahrens ankommt, grundSätzlich einen wesentlichen und zwingenden Strafmilderungsgrund darstellt. 41 Neben der langen Zeitspanne zwischen Tat und Aburteilung kommt nach Auffassung des BGH auch einer unverhältnismäßigen Dauer des Strafverfahrens eine eigenständige strafmildernde Bedeutung zu. 42 Bezieht nun der Verteidiger all diese Umstände - es sei betont: legitimerweise - in seine Überlegungen hinsichtlich der Bestimmung einer möglichst effektiven Verteidigungsstrategie ein, so wird sich unter dem Aspekt der Effektivität der Strafverteidigung in vielen Fällen die Rüge fehlerhaften Verhaltens der Tatsacheninstanz geradezu verbieten. Die Effektivität der Strafverteidigung gebietet also in vielen Fällen gerade nicht die Rüge fehlerhaften Verhaltens des Tatsachengerichts, sondern gebietet ganz im Gegenteil gerade die Nichtrüge eines solchen Verhaltens, um eben später in der Revisionsinstanz ein entsprechendes "Mehr" zu erreichen. Das öffentliche Interesse an einer möglichst effektiven Verteidigung des Beschuldigten vermag daher eine Mitwirkungspflicht des Verteidigers im Sinne einer Rüge- bzw. Heilungspflicht nicht zu rechtfertigen.
40 Vgl. hierzu Kühne, Strafprozeßlehre, § 8 Rn. 91.1. 41 BGH NStZ 1986, S. 218; BGH StV 1988, S. 487; BGH StV 1990, S. 17; BGH StV 1992, S. 154 u. ISS; vgl. hierzu auch SchönkelSchröder-Stree, § 46 Rn. 57. 42 BGH StV 1992, S. 154 u. ISS.
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b) Die Effektivität der Strafrechtspflege Läßt sich somit unter dem Gesichtspunkt der Effektivität der Strafverteidigung eine Mitwirkungspflicht bzw. Mitverantwortung des Verteidigers hinsichtlich eines justizförmigen Strafverfahrens nicht herleiten, so kann nach dem hier vertretenen Verteidigerleitbild nur noch das öffentliche Interesse an der Effektivität der Strafrechtspflege (in einem Kembereich) eine derartige Mitwirkungspflicht bzw. Mitverantwortung der Verteidigung rechtfertigen. Auf den ersten Blick streitet das vom Rechtsstaatsprinzip geforderte Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege eher für eine Rüge- und Heilungspflicht der Verteidigung: Um wieviel schneller und kostengünstiger könnten Strafverfahren abgeschlossen werden, hätte der Verteidiger nur die Pflicht, Fehler des Gerichts zu rügen und zu deren Heilung anzuregen. Um wieviel effektiver wäre unsere gesamte Strafrechtspflege, würde nur nicht jeder noch so kleine und läßliche Fehler des Gerichts zur unter Umständen vollständigen Neuverhandlung des Falles führen. So erwünscht jedoch diese Effekte de lege ferenda auch sein mögen, zu prüfen ist, ob der Strafverteidiger unter Einbeziehung des von ihm zu beachtenden Interesses an einer effektiven Strafrechtspflege (in einem Kembereich) auch de lege lata zur Förderung des Verfahrens verpflichtet ist. Wie bereits oben dargelegt, ist der Strafverteidiger grundsätzlich nicht verpflichtet, das Strafverfahren in irgendeiner Form effektiv zu gestalten bzw. zu fördern. 43 Dem Strafverteidiger obliegt auch unter Berücksichtigung seiner öffentlichen Funktionen keine Prozeßförderungspflicht. Er ist der Effektivität der Strafrechtspflege lediglich insoweit verpflichtet, als er durch sein Verhalten nicht in deren Kembereich eingreifen darf, er also eine in Mindestmaßen wirksame Strafrechtspflege zu respektieren hat. Solange demnach ein Verteidigerverhalten nicht als Verfahrensobstruktion bzw. als Verfahrenssabotage eingestuft werden muß, ist es rechtlich in keiner Weise zu beanstanden. Dies gilt natürlich auch und - was insbesondere die Rechtsprechung häufig übersieht - gerade dann, wenn das in Frage stehende Verteidigerverhalten dazu geeignet bzw. darauf gerichtet ist, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu hemmen oder gar zu verhindern. 44 Es ist somit danach zu fragen, ob die widerspruchslose Hinnahme gerichtlicher Verfahrensfehler durch den Verteidiger als ein Eingriff in den Kembereich der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und damit als Ver43 Vgl. hierzu Kapitel 6 A III, C, D III 2, Eil. 44 Richtig erkannt vom OLG Frankfurt NStZ 1981, S. 145. 12·
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fahrensobstruktion angesehen werden muß. Diese Frag~ ist jedoch mangels Prozeßförderungspflicht des Strafverteidigers zweifelsfrei zu verneinen. Hierzu legte Beulke bereits im Jahre 1980 dar, daß die bloße Nichthinderung eines fehlerhaften Verhaltens des Gerichts (ja selbst die Provozierung eines fehlerhaften Verhaltens) noch kein Angriff auf den Kernbereich der Effektivität der Strafrechtspflege sein könne. 45 Diese Sichtweise überzeugt, da nach Sinn und Zweck der Anbindung des Strafverteidigers an das öffentliche Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege dem Verteidiger lediglich die Verfahrensobstruktion bzw. Verfahrenssabotage verboten sein soll. Das Unterlassen eines Verhaltens, zu dem der Verteidiger - mangels Prozeßförderungspflicht rechtlich nicht verpflichtet ist, stellt jedoch ein prozessual zulässiges und in keiner Weise zu beanstandendes Verteidigerverhalten dar. Die Nichtrüge von Verfahrensfehlern in der Tatsacheninstanz kann somit keinesfalls als "dysfunktionales" oder verfahrenssabotierendes Verhalten des Verteidigers angesehen werden. Da die Nichtrüge gerichtlicher Verfahrensfehler (in der Tatsacheninstanz) als prozeßordnungsgemäßes Verteidigerverhalten von vorneherein keine Kernbereichsverletzung im Sinne der eingeschränkten Organtheorie darstellen kann, besteht somit auch unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses an einer effektiven Strafrechtspflege in einem Kernbereich keine Mitwirkungspflicht oder Mitverantwortung des Verteidigers hinsichtlich eines ordnungsgemäßen Strafverfahrens. Es ist dem BGH folglich entgegen zu treten, wenn er dem Verteidiger in BGHSt 38, 111 ganz generell, also unabhängig vom konkreten Einzelfall, eine Prozeßförderungspflicht auferlegen will. 46 Auch der Entscheidung BGHSt 38, 214 ist insoweit zu widersprechen, als der BGH in diesem Beschluß ein Beweisverwertungsverbot in allen Fällen 47 ablehnt, in denen es der Strafverteidiger unterläßt, der Verwertung einer entgegen § 136 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 163 a Abs. 4 S. 2 StPO nicht erfolgten Belehrung des Beschuldigten rechtzeitig zu widersprechen (vgl. § 257 StPO). 48 Wenn nämlich der BGH im Falle des nicht rechtzeitig erfolgten Widerspruches des Verteidigers die Verwertung der Aussage des von der Polizei nicht belehrten Beschuldigten zuläßt und damit den Bestand eines Verwertungsverbotes leugnet, legt er dem Verteidiger eine aktive Mitwirkungspflicht, hier in Form einer Widerspruchspflicht, auf, die diesem nicht zu45 Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 235.
46 BGHSt 38, 111, 115. 47 Also auch unabhängig davon, ob der Verteidiger von der unterbliebenen Belehrung positive Kenntnis hat oder nicht. 48 BGHSt 38, 214, 225 u. 226.
B. Rügeverlust als Folge einer Obliegenheitsverletzung?
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kommt. Die Nichtrüge der Verletzung strafprozessualer Vorschriften seitens des Verteidigers stellt nämlich - m'angels Prozeßförderungspflicht - ein völlig ordnungsgemäßes Verteidigerverhalten dar und kann allein schon aus diesem Grund nicht dazu führen, daß der Beschuldigte dadurch Rechtsnachteile hinzunehmen hat. Dieses Ergebnis wird durch den in § 244 Abs. 2 StPO verankerten Amtsermittlungsgrundsatz nur bestätigt, wonach es einzig und allein die Aufgabe des Prozeßgerichts ist, über die fonnelle und materielle Berechtigung des Anklagevorwurfs zu wachen. 49
B. Rügeverlust in der Revisionsinstanz als Folge einer Obliegenheitsverletzung? Besteht nach dem Gesagten keine Prozeßförderungspflicht des Strafverteidigers kraft seiner Stellung als Organ der Rechtspflege, so ist weiterhin zu untersuchen, ob sich für den Verteidiger nicht aus dem Gesichtspunkt der Obliegenheitsverletzung heraus ein nonnativer Grund dafür ergibt, Verfahrensfehler sogleich zu rügen. Unter Obliegenheiten versteht man im Bereich des Zivilrechts Pflichten minderer Zwangsintensität, deren Erfüllung sowohl im fremden als auch im eigenen Interesse liegt. 50 Es handelt sich demgemäß um "Pflichten im weiteren Sinne", deren Erfüllung zwar auch im Interesse des Gläubigers liegt, bei deren Auferlegung aber gleichennaßen das Interesse des Schuldners eine Rolle spielt. 51 Nach Schmidt ist die Obliegenheit dadurch gekennzeichnet, "daß an ein tatbestandlich bestimmtes Verhalten des Obliegenheitsbelasteten eine diesem rechtlich nachteilige Rechtsfolge geknüpft ist, die nicht in einem Erfüllungsanspruch oder einem Schadensersatzanspruch wegen Obliegenheitsverletzung besteht." 52 Auf den Gesichtspunkt der Obliegenheitsverletzung bezogen könnte man beispielsweise die Ansicht vertreten, daß ein Verteidiger zwar nicht die Pflicht habe, vom Gericht begangene Verfahrensfehler zu rügen und zu deren Heilung anzuregen, daß er aber einer ihm auferlegten Obliegenheit zuwiderhandle, wenn er ein entsprechendes Verhalten unterlasse. Diese Auffassung wird von Kindhäuser vertreten. 53 Ausgehend von der Überlegung, daß der Angeklagte ein Recht auf die Heilung gerichtlicher Verfahrensfehler hat, stuft Kindhäuser die Wahrnehmung 49 So völlig richtig Bohlander, NStZ 1992, S. 505. so Schmidt, Die Obliegenheiten, S. 315. 51 Schmidt, Die Obliegenheiten, S. 315. 52 Vgl. Schmidt, Die Obliegenheiten, S. 315. 53 Vgl. die entsprechende Argumentation von Kindhäuser, NStZ 1987, S. 534.
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dieses "Kompensationsrechts " als eine prozessuale Obliegenheit mit revisionsbeschränkender Wirkung ein. Hierbei differenziert Kindhäuser zwischen einem verteidigten und einem unverteidigten Angeklagten: Der verteidigte Angeklagte soll in der Revisionsinstanz mit den Rügen von Verfahrensfehlern bereits allein aufgrund der Tatsache ausgeschlossen sein, daß er in der Hauptverhandlung deren Heilung nicht verlangt hat. In der Nichtrüge von Verfahrensfehlern seitens eines unverteidigten Angeklagten liege hingegen erst dann eine Obliegenheitsverletzung (mit der Folge eines Rügeverlustes in der Revisionsinstanz), wenn der Angeklagte seitens des Gerichts entsprechend über sein Kompensationsrecht belehrt wurde. 54 Diese Konstruktion eines Rügeverlustes durch bloßes Schweigen vermag aus den nachfolgenden Gründen in keiner Weise zu überzeugen: I. Inakzeptable Überdehnung des Verantwortungsbereiches eines Verteidigers Kindhäuser differenziert bei einem formell verteidigten Angeklagten nicht danach, ob Verteidiger oder Angeklagter den Verfahrensmangel positiv kannten oder nicht, sondern knüpft die revisionsbeschränkende Wirkung einzig und allein an die Tatsache der Nichtausübung des Kompensationsrechts. Legen wir nun diese Auffassung Kindhäusers folgender (wohl nicht seltenen) Prozeßsituation zugrunde: In einer erstinstanzlichen Hauptverhandlung gegen einen formell verteidigten Angeklagten unterläuft dem Gericht ein Verfahrensfehler 55, den weder das Gericht (bzw. die Staatsanwaltschaft) noch der Verteidiger bemerken. Infolge der Unkenntnis des Verfahrensmangels übt der Strafverteidiger das Recht (des Angeklagten) nicht aus, eine Heilung dieses Fehlers zu verlangen. Nach der Meinung Kindhäusers tritt in diesem Fall, da ein formell verteidigter Angeklagter über sein Kompensationsrecht nicht belehrt werden muß, ein Rügeverlust in der Rechtsmittelinstanz ein. Wer ein solches Ergebnis vertritt, verkennt ganz wesentliche Grundsätze unseres geltenden Strafverfahrens. Zum einen wird hier schlicht und einfach die Tatsache übersehen, daß die Einhaltung einer rechtsrichtigen Verfahrensweise und die Vermeidung von klaren Gesetzesverstößen in erster Linie zu den Amtspflichten des Vorsitzenden und des Gerichts gehört und erst in zweiter Linie S4 Kindhäuser, NStZ1987, S. 535. SS Es soll im folgenden von einem fehlerhaften Verhalten des Gerichts ausgegangen werden, welches nicht vom Anwendungsbereich des § 238 StPO erfaßt wird.
B. Rügeverlust als Folge einer Obliegenheitsverletzung?
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der Obsorge der Verteidigung unterliegt. 56 Zum anderen wird hier in eklatanter Weise gegen das Gebot verstoßen, an den Verteidiger keine höheren Anforderungen zu stellen als an das mit bis zu drei oder gar mit bis zu fünf (vgl. §§ 120, 122 Abs. 2 GVG) Berufsrichtern besetzte Prozeßgericht. 57 Kindhäuser überspannt somit die an den Strafverteidiger zu stellenden Anforderungen in völlig unerträglicher Weise. Es gibt keinen sachlichen Grund, der es rechtfertigen könnte, dem Angeklagten den Erfolg seiner Revision in einem Fall zu versagen, in dem das Prozeßgericht die allein ihm obliegenden Verfahrensvorschriften mißachtet und dies weder von Seiten des Gerichts noch von Seiten des Verteidigers bzw. des Angeklagten bemerkt wird. 58 Wer - wie Kindhäuser - in einer Situation wie der oben geschilderten die Verantwortung dem sich völlig pflichtgemäß verhaltenden (!) Verteidiger bzw. in letzter Konsequenz dem Angeklagten aufbürden will, der verkennt die Verantwortungsbereiche von Gericht und Verteidigung in bezug auf die Gewährung eines justizförmigen Strafverfahrens. 11. Intolerable Schlechterstellung des formell verteidigten Angeklagten Ein weiterer Grund der Auffassung Kindhäusers die Gefolgschaft zu versagen, liegt in der nicht hinnehmbaren SchlechtersteIlung des formell verteidigten Angeklagten gegenüber dem unverteidigten Angeklagten. Gehen wir hierzu wiederum von der oben geschilderten Prozeßsituation aus. Der unverteidigte Angeklagte könnte in diesem Fall eine Revision erfolgreich auf den dem Gericht unterlaufenen Verfahrensfehler stützen, da mangels Kenntnis dieses Fehlers die erforderliche Belehrung seitens des Gerichts nicht erfolgen konnte. Der formell verteidigte Angeklagte wäre dagegen in genau derselben Situation unverständlicherweise einem Rügeverlust ausgesetzt, seiner Revision wäre in bezug auf den konkreten Verfahrensfehler von vorneherein jeglicher Erfolg versagt. Die Unbilligkeit und Unhaltbarkeit der Konstruktion Kindhäusers wird vollends deutlich, wenn man bei ansonsten unveränderter Prozeßsituation einen Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 StPO zu56 So völlig richtig OLG Köln, NJW 1957, S. 1373. 57 OLG Köln, NJW 1957, S. 1373; vgl. dazu auch die Entscheidung BGHSt 22, 83, 85, wonach der Angeklagte nicht darunter leiden darf, daß der Verteidiger eine zwingende Vorschrift übersieht oder verkennt, die auch ein Kollegialgericht übersehen hat. 58 Dieser Ansicht ist auch Dahs, der hierzu ausführt, daß das doppelte Versehen des Gerichts (Heilungspjlicht von Amts wegen) nicht durch höhere Anforderungen an die Verteidigung kompensiert werden dürfe, vgl. DahslDahs, Die Revision im Strafprozeß, Rn. 382.
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Kapitel 7: Die Abschichtung der Verantwortungsbereiche
grunde legt. Beginge nämlich das Gericht in einem Fall notwendiger Verteidigung einen allen Prozeßbeteiligten verborgen bleibenden Verfahrensfehler , dann stünde gerade in einem Fall, in dem sich der Beschuldigte ganz besonders gravierenden Vorwürfen ausgesetzt sieht und in dem der Gesetzgeber das Interesse der Allgemeinheit an einer möglichst guten Verteidigung des Beschuldigten ganz besonders absichern wollte, ein unverteidigter Angeklagter hinsichtlich der Revisionschancen besser als ein formell (pflicht-) verteidigter Angeklagter. Unter Zugrundelegung der Ansicht Kindhäusers wird also in den oben geschilderten Fallkonstellationen die Intention des Gesetzgebers, nämlich für eine möglichst gute und wirksame Verteidigung des Beschuldigten zu sorgen, geradezu in ihr Gegenteil verkehrt und damit ein Ergebnis contra legern erzielt.
m. Die Zurechnung der Kenntnis bzw. des Kennenmüssens des Verteidigers an den Angeklagten
Selbst wer aber der Ansicht ist, daß der Verteidiger, will er nicht Rügeverluste erleiden, alle Verfahrensfehler, die dem Prozeßgericht unterlaufen, sogleich zu bemerken und zu rügen habe und wer zudem großzügig über die nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung des formell verteidigten und des unverteidigten Angeklagten hinwegsähe, der müßte noch die Rechtsgrundlage finden und benennen, die es rechtfertigt, das Wissen bzw. das Verhalten des Verteidigers dem Beschuldigten zuzurechnen. Nach geltender Rechtslage verbietet sich nämlich eine solche Wissens- bzw. Verhaltenszurechnung sowohl in dem Fall, in dem der Verteidiger den Fehler des Gerichts nicht bemerkt als auch in den Konstellationen, in denen der Strafverteidiger noch in der Hauptverhandlung der Tatsacheninstanz von den dem Gericht unterlaufenen Verfahrensfehlern Kenntnis erlangt. Der Grund dafür, daß sich in beiden Fallkonstellationen gleichermaßen eine Zurechnung des Verhaltens bzw. des Wissens des Verteidigers zum Nachteil des Beschuldigten verbietet, liegt in der Rechtsstellung des Strafverteidigers begründet. Im Gegensatz zum Prozeßbevollmächtigten im Zivilprozeß ist der Verteidiger im Strafverfahren nämlich nicht der Vertreter seines Mandanten, sondern es kommt ihm - nach völlig herrschender Auffassung in Literatur und Rechtsprechung 59 - eine unabhängige Beistandsstellung zu. Da Verteidiger und Beschuldigter demnach im 59 Vgl. hierzu die umfangreichen Nachweise oben in Kapitel 4 C 14 und unter Fußnote 44 in Kapitel 4.
C. Ergebnis zu Kapitel 7
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Strafverfahren gerade keine Einheit bilden und da der Verteidiger eine auch vom Beschuldigten unabhängige Rechtsstellung genießt, kann dem Beschuldigten die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen seines Verteidigers grundsätzlich nicht zugerechnet werden. 60
IV. Das Fehlen einer dem § 295 Abs. 1 ZPO vergleichbaren Vorschrift im Strafverfahrensrecht Nach § 295 Abs. 1 ZPO kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschrift unter anderem dann nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei den Mangel nicht rügte, obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder ihr hätte bekannt sein müssen. 61 Eine derartige Präklusionsvorschrift kennt unser geltendes Strafverfahrensrecht gerade nicht. In der StPO wird eine Rügepräklusion nämlich nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen anerkannt. Zu nennen sind hier insbesondere § 6 a S. 3 StPO (Einwand der Unzuständigkeit einer besonderen Strafkammer), § 16 S. 3 StPO (Einwand der örtlichen Unzuständigkeit), § 25 StPO (Ablehnung wegen Befangenheit) und schließlich § 222 b Abs. 1 S. 1 StPO (Besetzungseinwand). Da aus der Tatsache des Fehlens einer allgemeinen, dem § 295 Abs. 1 ZPO vergleichbaren Präklusionsvorschrift in der StPO sowie aus der Existenz einzelner Präklusionsregelungen mit Widmaier der Schluß zu ziehen ist, daß es außerhalb der gesetzlich ausdrücklich geregelten Präklusionsfälle im Strafverfahren keine Rügepräklusion gibt, kann das (berechtigte) Schweigen des Verteidigers auf Verfahrensfehler des Gerichts nicht die Rechtsfolge "Rügeverlust in der Revisionsinstanz" nach sich ziehen.
c. Ergebnis zu Kapitel 7 Unter Zugrundelegung der eingeschränkten Organtheorie kann dem Strafverteidiger keine Mitverantwortung für ein justizförmiges Strafverfahren zugewiesen werden. Weder das vom Verteidiger zu beachtende öffentliche Interesse an einer effektiven Verteidigung des Beschuldigten noch das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege in einem Kembereich 60 Vgl. hierzu auch Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 236. 61 Beachte jedoch auch § 295 Abs. 2 ZPO, wonach § 295 Abs. 1 ZPO keine Anwendung fmdet, wenn Verfahrensvorschriften verletzt sind, auf deren Befolgung eine Partei nicht wirksam verzichten kann.
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Kapitel 7: Die Abschichtung der Verantwortungsbereiche
rechtfertigen die Anerkennung einer Mitwirkungspflicht des Verteidigers in dem Sinne, daß er Verfahrensfehler des Gerichts rügen und das Prozeßgericht zu deren Heilung anregen muß, will er nicht das Recht verlieren, diese Rechtsverstöße in der Revisionsinstanz zu rügen. Eine Mitverantwortung des Strafverteidigers in bezug auf die Gewährung eines justizförmigen Strafverfahrens ist insbesondere deshalb abzulehnen, weil der Verteidiger zum einen nicht die Pflicht hat, das Strafverfahren effektiv zu gestalten bzw. zu fördern und ihn zum anderen diesbezüglich auch keinerlei Obliegenheiten zukommen. Die Gerichte haben in alleiniger Verantwortung darauf zu achten, daß die ihnen obliegenden Verfahrensvorschriften eingehalten werden. Es ist das "gute Recht" des Verteidigers und in prozeßrechtlicher Hinsicht in keiner Weise zu beanstanden, daß er Verfahrensfehler des Gerichts widerspruchslos hinnimmt und später in der Revisionsinstanz diese Fehler rügt. Auch wenn es angesichts der Überlastung der Strafgerichtsbarkeit de lege ferenda natürlich mehr als verständlich ist, daß man seitens der Strafjustiz - um die knappe Resource "Recht" zu schützen und zu erhalten - ein objektiv derart lästiges und hemmendes Verteidigerverhalten wie das Schweigen auf einen gerichtlichen Verfahrensfehler als "dysfunktional " bzw. als arglistig brandmarken will, so ist doch festzustellen, daß ein solches Verhalten de lege lata mit dem geltenden Strafverfahrensrecht in vollem Umfang in Einklang steht. Die Verantwortung für ein justizförmiges Strafverfahren trägt somit allein das Gericht und nicht auch nicht zu einem noch so kleinen Teil - der Strafverteidiger. An dieser Stelle sei schließlich noch auf folgendes Problem hingewiesen: Maatz bejaht eine Pflicht des Verteidigers dahingehend, daß dieser - soll eine Rügepräklusion vermieden werden - von ihm erkannte Rechtsfehler des Gerichts rügen und deren Heilung anregen muß. 62 Wie aber soll in der Praxis dem jeweiligen Verteidiger die positive Kenntnis des Verfahrensfehlers nachgewiesen werden, will man Unterstellungen vermeiden? Falls die künftige Rechtsprechung des BGH tatsächlich der Ansicht von Maatz folgen und an die Nichtrüge fehlerhaften Verhaltens des Gerichts eine Rügepräklusion knüpfen sollte, werden künftig wohl viele Verteidiger den Verfahrensfehler erst nach Abschluß der Hauptverhandlung (z.B. erst im Rahmen der Anfertigung der Revisionsbegründungsschrift) bemerken.
62 Vgl.
Maatz.. NStZ 1992. S. 514 u. 515.
Kapitel 8
Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussionsausblick A. Gegenüberstellung der Verteidigertheorien Stellt man die Verteidigertheorien gegenüber, die in der heutigen Diskussion um das Leitbild des Strafverteidigers eine Rolle spielen, so ergibt sich eine nicht zu übersehende Vorzugswürdigkeit der Organtheorie in Form der eingeschränkten Organtheorie, so wie sie von Beulke entwickelt wurde. I. Das Vertragsprinzip Lüderssens
Das Vertragsprinzip Lüderssens verkennt historische Zusammenhänge, leugnet zu Unrecht jegliche öffentliche Funktionswahrnehmung seitens des Verteidigers, leidet an einer realitätsfremden Überbetonung der Autonomie des Beschuldigten und vermag das gesetzlich vorgesehene Institut der notwendigen Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) überhaupt nicht bzw. nicht hinreichend zu erklären. Insgesamt ist daher das rein zivilistisch ausgerichtete Verteidigerkonzept Lüderssens in ganz wesentlichen Teilen mit unserem geltenden Strafverfahrensrecht nicht zu vereinbaren.
n. Die Parteiinteressenvertretertheorie Auch das auf den ersten Blick so überzeugend erscheinende Verteidigerleitbild der Parteiinteressenvertretertheorie vermag bei genauerer Untersuchung in keiner Weise zu überzeugen. Rufen wir uns hierzu noch einmal die entscheidenden Argumente ins Gedächtnis, die letztlich gegen dieses Verteidigerkonzept sprachen: -
Der Verlust der Gegenpolfunktion (Waffengleichheit) durch Autoritätsverlust
-
Der Verlust der Unabhängigkeit des Verteidigers und die dadurch erfolgende Schwächung seiner Beistandsfunktion
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Kapitel 8: Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussionsausblick
Die völlige Unbestimmtheit der Beschuldigtenautonomie und der vom Strafverteidiger zu beachtenden Interessen Die Inkonsequenz der Interessentheorie in bezug auf die Unabhängigkeit des Strafverteidigers Die realitätsverkennende Überbetonung der Beschuldigtenautonomie Die Schwächung der Beistandsfunktion durch Einräumung eines Lügerechts des Verteidigers Berücksichtigt man diese Gesichtspunkte sowie weiterhin die zutreffenden Erwägungen, daß die Anbindung des Verteidigers an öffentliche Funktionen erst die eigentliche Legitimationsgrundlage seiner äußerst weitreichenden Rechte bildet und daß aufgrund öffentlicher Funktionswahrnehmung des Verteidigers eine nicht zu leugnende Stärkung seiner Beistandsfunktion eintritt, so wird man nicht umhin können, dem Verteidigerkonzept der Parteiinteressentheorie eine klare Absage zu erteilen. Man muß über keine prophetischen Gaben verfügen, um vorhersagen zu können, daß der Strafverteidiger, würde sich das Verteidigerleitbild der Parteiinteressentheorie durchsetzen, keinen großen Einfluß auf den Gang des Strafverfahrens mehr hätte und er letztlich die höchst ineffektive und unrühmliche Rolle eines reinen Statisten und Fensterredners einnehmen würde. Ernst nehmen aber würde den Verteidiger unter Geltung der Parteiinteressenvertretertheorie wohl niemand mehr. Abschließend sei an dieser Stelle Ernesti zitiert, der zutreffend feststellt: "Wer den Verteidiger zum Interessenvertreter machen will, verdient Zustimmung, nicht aber mehr, wenn dies heißen soll, daß der Verteidiger nur und nur Interessenvertreter werden, seine überlieferte Einbindung daneben aber erloschen sein solle." 1
ill. Die Organtheorie Die in Rechtsprechung und Literatur nahezu einmütig vertretene Organtheorie erkennt völlig zutreffend, daß der Verteidiger nicht nur die privaten Interessen des Beschuldigten zu vertreten hat, sondern ihm auch öffentliche Funktionen zukommen. Leider war man jedoch bisher nur vereinzelt dazu in der Lage, aus dieser zutreffenden Funktionsbeschreibung die richtigen Schlüs-
1 Emesti, IR 1982, S. 223.
A. Gegenüberstellung der Verteidigertheorien
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se zu ziehen. Dieser Vorwurf richtet sich insbesondere gegen die Rechtsprechung, die es bisher unterließ, die vom Verteidiger zu beachtenden öffentlichen Funktionen anband unserer Strafverfahrensordnung herauszuarbeiten und beim Namen zu nennen. Infolgedessen blieben die sich aus der öffentlichen Funktionswahrnehmung (= Organstellung) ergebenden konkreten Rechte und Pflichten des Strafverteidigers völlig im Dunkeln. IV. Die Organtheorie in Fonn der eingeschränkten Organtheorie Beulkes Die Überzeugungskraft der eingeschränkten Organtheorie liegt in dem Umstand begründet, daß dieses Verteidigerleitbild die Stärken, d.h. die zutreffenden Funktionsbeschreibungen der Organtheorie übernahm, zugleich jedoch deren Schwächen, nämlich die mangelnde Konkretisierung der öffentlichen Funktionen des Verteidigers, vermied. Dieser Ansatz ermöglicht es nicht nur die vom Verteidiger zu beachtenden öffentlichen Funktionen aus dem Strafverfahrensrecht herauszuarbeiten und beim Namen zu nennen, sondern auch, die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Hervorzuheben ist hier insbesondere die allseitige Unabhängigkeit des Strafverteidigers sowie die Verpflichtung des Verteidigers, einen Kernbereich effektiver Strafrechtspflege zu wahren, d.h. das Verbot solcher Verhaltensweisen des Verteidigers, die als Verfahrensobstruktion eingestuft werden müssen. Während die allseitige Unabhängigkeit des Verteidigers - als Konsequenz seiner öffentlichen Funktion, für eine möglichst effektive Verteidigung des Beschuldigten zu sorgen allgemein anerkannt wird 2, scheint - insbesondere in der Rechtsprechung die Anbindung des Verteidigers an die Effektivität der Strafrechtspflege in einem Kernbereich häufig mißverstanden zu werden. Die Anbindung des Verteidigers an die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege in einem Kernbereich bedeutet keinesfalls, daß der Verteidiger dazu verpflichtet ist, alles zu tun, was geeignet ist, das Strafverfahren prozeßökonomischer, sprich effektiver zu gestalten. Die Anbindung bezweckt nämlich nicht etwa eine Verfahrensförderung seitens des Verteidigers, sondern nur die Verhinderung einer Lahmlegung des Strafverfahrens durch Verfahrenssabotage. Die bloße Nichtförderung des Verfahrens stellt sich seitens des Strafverteidigers jedoch schon deshalb nicht als Lahmlegung des Verfahrens dar, weil der Verteidiger das Strafverfahren in keiner Weise zu betreiben hat. Die Nichtförderung des Strafverfahrens durch den Verteidiger - z.B. in Form der Nichtrüge gerichtlicher 2 Vgl. dazu insbesondere Kapitel 4 C 14 mit umfangreichen Nachweisen.
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Kapitel 8: Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussionsausblick
Verfahrensfehler - ist daher de lege lata eine völlig legitime Verhaltensweise des Verteidigers.
B. Würdigung von BGHSt 38, 111 Während die Vertreter der Parteiinteressentheorie jegliche Anbindung des Strafverteidigers an öffentliche Funktionen leugnen, ging der BGH in seinem UrteH vom 07.11.1991 zum Mißbrauch des Beweisantragsrechts den gerade entgegengesetzten Extremweg und statuierte für den Strafverteidiger eine generelle Prozeßförderungspflicht. Hierbei wurde vom BGH jedoch verkannt, daß es - mißt man der Beistandsfunktion die ihr gebührende und die Tätigkeit des Verteidigers begrenzende Bedeutung zu - generell nicht die Aufgabe eines Verteidigers sein kann, das Strafverfahren effektiv zu gestalten bzw. zu fördern, ist die Verteidigung doch im Regelfall gerade darauf ausgerichtet, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu hemmen oder gar zu verhindern. Solange demnach ein Verhalten des Verteidigers nicht als Verfahrensobstruktion einzustufen ist (und die bloße Nichtförderung des Verfahrens kann mangels Pflicht des Verteidigers, das Strafverfahren zu betreiben, keine Verfahrensobstruktion darstellen), steht dieses Tun oder Unterlassen, auch und gerade dann, wenn es eine justizhemmende oder nichtfördernde Komponente enthält, mit dem geltenden Strafverfahrensrecht in vollem Einklang. Die OrgansteIlung des Verteidigers sollte von der Rechtsprechung nicht als eine Art "Wundertüte" mißbraucht werden, aus der je nach Bedarf immer weitergehende Pflichten des Strafverteidigers gezogen werden. Selbstverständlich wird vorliegend nicht verkannt, daß es sich bei dem Anliegen, daß nicht jeder verzeihbare Verfahrensfehler des Gerichts zur vollständigen Neuverhandlung des Falles führen soll, um ein berechtigtes und völlig legitimes Anliegen unserer überlasteten Strafjustiz handelt. Nur kommt eben zur Lösung dieser Problematik eine Inpflichtnahme des Verteidigers als im öffentlichen Interesse handelnder Mitgarant eines justizförmigen Strafverfahrens wie im Rahmen vorliegender Untersuchung gezeigt - nicht in Betracht.
c. Würdigung von BGHSt 38, 214 Mit der Statuierung einer Widerspruchspflicht des Verteidigers im Falle der nicht erfolgten Belehrung des Beschuldigten über seine Aussagefreiheit (vgl. § 136 Abs. 1 S. 2 LV.m. § 163 a Abs. 4 S. 2 StPO) verkannte der BGH ebenfalls den Aufgaben- und Verantwortungsbereich der Strafverteidigung. Es
D. Diskussionsausblick
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ist nicht die Aufgabe des Strafverteidigers festzustellen und darüber zu wachen, ob die zugunsten des Beschuldigten bestehenden strafprozessualen Vorschriften von den Strafverfolgungsorganen eingehalten wurden. 3 Die Feststellung von Verstößen gegen geltendes Strafverfahrensrecht sowie gegebenenfalls deren Ahndung ist - unabhängig von einer Rüge nichtordnungsgemäßen Verhaltens der Strafverfolgungsorgane durch den Verteidiger - originäre und letztlich völlig eigenverantwortlich wahrzunehmende Aufgabe des Prozeßgerichts.
D. Dislrussionsausblick Die so oft und nicht zu Unrecht beklagte Unfruchtbarkeit der aktuellen Verteidigerdiskussion läßt sich vor allem auf folgende Umstände zurückführen: Zum einen wird leider auch in jüngster Zeit immer noch die Bedeutungslosigkeit des anwaltlichen Standesrechts (insbesondere des § 1 BRAO) hinsichtlich der Rechtsstellung des Strafverteidigers verkannt. Die Bundesrechtsanwaltsordnung aber kann als Berufsrecht der Rechtsanwaltschaft in bezug auf die spezifischen Rechte und Pflichten eines Strafverteidigers keine konstitutive Bedeutung haben, sondern allenfalls zur Untermauerung bereits im Prozeßrecht gefundener Ergebnisse herangezogen werden. Zum anderen leidet die Verteidigerdiskussion daran, daß größtenteils nur gegen den Begriff "Organ der Rechtspflege", nicht aber gegen die sich hinter diesem Begriff verbergenden Sachaussagen Stellung bezogen wird. Völlig zu Recht führt Brei hierzu aus, daß die Vorwürfe, die gegenüber dem Begriff "Organ der Rechtspflege" erhoben werden, verfehlt seien, weil sie sich schlicht und einfach an die falsche Adresse richteten. 4 Der Begriffsbildung "Organ der Rechtspflege" liege nichts anderes als der Versuch zugrunde, die in der StPO selbst liegende, als Korrelat zu den besonderen Rechten bestehende Pflichtenbindung des Verteidigers zu umschreiben. 5 Mit der Abschaffung des ungeliebten Ausdrucks könne das dahinter stehende Problem, das grundsätzliche Dilemma des Verteidigers, eben einer Pflichtenbindung ausgesetzt zu sein, nicht beseitigt werden. 6 Es wird also einfach nicht verstanden, daß man den Begriff "Organ der Rechtspflege" ohne jede Schwierigkeiten gegen einen völlig anderen Be3 Vgl. hierzu auch Fezer, der in bezug auf BGHSt 38, 214 darlegt, daß Verwertungsverbote von Amts wegen zu beachten sind, vgl. Fezer, JR 1992, S. 386. 4 Brei, Grenzen zulässigen Verteidigerhandeins, S. 246. 5 Brei, Grenzen zulässigen Veneidigerhandelns, S. 246. 6 Brei, Grenzen zulässigen Veneidigerhandelns, S. 246.
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Kapitel 8: Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussionsausblick
griff austauschen könnte, ohne daß die Problematik um die Rechtsstellung des Strafverteidigers in irgendeiner Weise entschärft werden würde. Mit anderen Worten: Ganz gleich, ob dieser "Ehrentitel der Anwaltschaft" gestrichen oder ersetzt wird, das dahinter stehende Prinzip wird als legislatorisch-psychologischer Zusammenhang erhalten bleiben. 7 Selbstverständlich müßte auch dann, wenn es den Begriff "Organ der Rechtspflege" nicht gäbe, dazu Stellung bezogen werden, ob nach unserer Verfahrensordnung der Strafverteidiger neben der Beistandsfunktion zugunsten des Beschuldigten auch öffentliche Funktionen wahrzunehmen hat. Zuzugeben ist natürlich, daß es sich bei dem Begriff "Organ der Rechtspflege" um einen Begriff handelt, der für sich allein betrachtet rein gar nichts aussagt. Versteht man den Begriff, wie es die herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung bereits seit Jahrzehnten tut, jedoch als Schlagwort, quasi als Kurzformel für die Wahrnehmung auch öffentlicher Funktionen durch den Strafverteidiger, so ist es mit der bloßen Ablehnung des Begriffes "Organ der Rechtspflege" nicht getan. So ist beispielsweise Knapp voll zuzustimmen, wenn er darlegt, daß der Begriff "Organ der Rechtspflege" keinerlei Aussagekraft besitze. 8 Inhaltlich brachte Knapp jedoch die Verteidigerdiskussion um keinen Schritt weiter, da er es bei der bloßen Begriffskritik beließ, den sich dahinter verbergenden Sachfragen jedoch in keiner Weise stellte. Es ist daher auch verfehlt, wenn Knapp immer wieder als Gegner der herrschenden Organtheorie zitiert wird. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, daß Knapp - in Einklang mit der Organtheorie - selbst darlegt, der Strafverteidiger nehme öffentliche Funktionen wahr. 9 Die Verteidigerdiskussion sollte endlich begreifen, daß es nicht um den Begriff "Organ der Rechtspflege" geht, sondern um die sich dahinter verbergenden Funktionszusammenhänge, wie z.B. die Fragen nach der Wahrheitspflicht oder aber nach der Unabhängigkeit des Verteidigers. Leider wird von interessierter Seite nur allzu häufig versucht, von dieser - der eigentlichen Problematik abzulenken oder aber die grundlegenden Zusammenhänge werden einfach nicht erkannt. Es sei hier erlaubt, einige Beispiele anzuführen, die das Gesagte verdeutlichen. So stellt Hartung zur Diskussion, ob man die formelhafte und inhaltsarme Stellung des Anwalts als Organ der Rechtspflege nicht aufgeben und statt des7 Müller, AnwBI. 1981, S. 314. 8 Knapp, Der Verteidiger - Ein Organ der Rechtspflege?, S. 140. 9 Vgl. hienu bereits oben Kapitel 4 D 12 b.
D. Diskussionsausblick
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sen stärker auf die Unabhängigkeit des Berufs abstellen sollte. 10 Glaubwürdigkeit und Vertrauensstellung des Rechtsanwalts beruhten - so Hartung vornehmlich auf dessen Unabhängigkeit und nicht auf seiner Eigenschaft als Organ der Rechtspflege. 11 Wer so argumentiert, verkennt ganz grundlegende Zusammenhänge. So ist beispielsweise eine Unabhängigkeit des Strafverteidigers gegenüber seinem Mandanten ohne Anerkennung auch öffentlicher Funktionen überhaupt nicht denkbar. 12 Als weiteres Beispiel sei Hamm genannt. Wer wie Hamm den Begriff "Organ der Rechtspflege" nur schlagwortartig abtut, ohne sich zu den dahinter verbergenden Funktionszusammenhängen in irgendeiner Weise zu äußern, der darf die angebliche Unfruchtbarkeit der Verteidigerdiskussion nicht beklagen. Ein Vorwurf anderer Art ist gegen Gatzweiler zu erheben. Gatzweiler behauptet im Jahre 1989, daß die sogenannte Interessenvertretertheorie, die den Rechtsanwalt als einseitigen Interessenvertreter des von der übermächtigen staatlichen Strafverfolgung erfaßten Mandanten begreife, die Art der Strafverteidigung wiedergebe, wie sie heute an den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland praktiziert werde. 13 Trotz aller Einordnungs- und Abgrenzungsbemühungen bleibe festzuhalten, daß sowohl in der Rechtsprechung des BVerfG wie auch in der des BGH diese Rolle des vom Vertrauen des Mandanten getragenen, seinen Verteidigungsinteressen dienenden Strafverteidigers zunehmend akzeptiert und akzentuiert werde. 14 Als Beleg für diese Behauptung führt Gatzweiler die Entscheidungen BVerfGE 38, 105 und BGHSt 29, 99 an. An dieser Stelle muß die Bemerkung schon erlaubt sein, daß hier seitens Gatzweilers ein nicht zu übersehendes Maß an rechtspolitischem Wunschdenken zum Ausdruck kommt. Denn selbstverständlich wich der BGH im Rahmen der Entscheidung BGHSt 29, 99 mit keinem Wort von seiner bisherigen Auffassung von der Doppelstellung des Verteidigers als Beistand des Beschuldigten und als "Organ der Rechtspflege" ab. Ganz im Gegenteil betonte der BGH ausdrücklich, daß der Strafverteidiger einen Auftrag zu er10 Hartung, AnwBI. 1988, S. 375. 11 Hartung, AnwBI. 1988, S. 375. 12 Vgl. hierzu oben Kapitel 3 C VI; vgl. Kapitel 2 B I zur Bedeutungslosigkeit des anwaltlichen Standesrechts in bezug auf die Rechte und Pflichten eines Strafverteidigers. 13 Gatzweiler, Koch-Festgabe, S. 97. 14 Gatzweiler, Koch-Festgabe, S. 97. 13 Dom.eh
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Kapitel 8: Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussionsausblick
füllen habe, dessen Ausführung nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in dem Interesse einer am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafrechtspflege liege. 15 Eine klarere Absage an die Interessentheorie kann man sich doch wohl kaum vorstellen. Des weiteren belegen die vielen nachfolgenden, die Organstellung des Verteidigers ausdrücklich betonenden Entscheidungen eindeutig, daß die Rechtsprechung selbstverständlich auch weiterhin - wie bereits seit über einem Jahrhundert - an der Organstellung des Verteidigers festhält. Erwähnung sollen hier nur die neueren Entscheidungen BGHSt 38, 111 und BGHSt 38, 345 finden. Als letzter Autor sei schließlich Hassemer genannt. Hassemer führt aus, daß derjenige, der den Verteidiger nur als "Organ der Rechtspflege" qualifiziere und damit seine Beistandsaufgabe gegenüber dem Beschuldigten relativiere oder ihn wie Beulke für die Effektivität der Strafrechtspflege mit verantwortlich mache, unter anderem Schwierigkeiten habe, eine Information des Beschuldigten aus den Akten zu begründen, da doch nie ganz ausgeschlossen werden könne, daß der Beschuldigte die ihm seitens des Verteidigers vermittelte Kenntnis zur unberechtigten Abwehr des staatlichen Strafanspruchs verwende. 16 Wenn Hassemer hiermit zum Ausdruck bringen will, daß die Anhänger der Organtheorie eine Begrenzung der Beistandsfunktion des Strafverteidigers infolge öffentlicher Funktionswahrnehmung anerkennen, ist dem sicherlich nicht zu widersprechen. Soweit dadurch jedoch beim unbefangenen Leser der Eindruck hervorgerufen werden soll, als wolle die Organtheorie dem Beschuldigten Schlechtes, weil die Beistandsfunktion des Verteidigers "relativiert" werde, ist dem auf das Heftigste entgegenzutreten. Es müßte doch Allgemeingut sein, daß der Verteidiger seiner Beistandsfunktion nicht uneingeschränkt nachkommen kann bzw. darf (sonst dürfte und müßte der Verteidiger eben alles tun und zu jedem Mittel greifen, um den staatlichen Strafanspruch abzuwehren, also beispielsweise auch lügen, stehlen, betrügen und fälschen). Es geht doch nicht um das "Ob" einer Relativierung der Beistandsfunktion, sondern um das "Wie". Hassemer selbst erkennt doch die Begrenzung bzw. Relativierung der Beistandsfunktion an, wenn er an anderer Stelle durchaus treffend zum Ausdruck bringt, daß Strafverteidigung ein Recht innerhalb des Verfahrens und kein Recht gegen das Verfahren sei. 17 15 BGHSt 29, 99, 106. 16 Hassemer in: Beck'sches Formularbuch für den Strafveneidiger, I B 1 c, S. 9. 17 Hassemer, ZRP 1980, S. 331.
D.Diskussionsausblick
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Der an die Adresse Beulkes gerichtete Vorwurf trifft schlichtweg nicht zu, da dieser keineswegs damit Schwierigkeiten hat, eine Information des Beschuldigten aus den Akten zu begründen. 18 Natürlich soll der Verteidiger auch unter Geltung der eingeschränkten Organtheorie durch seine Tätigkeit die Verwirklichung des gegen den Beschuldigten gerichteten staatlichen Strafanspruchs abmildern oder hindern. Nur eben nicht mit allen denkbaren Mitteln. 19 Zur Mitverantwortung des Strafverteidigers in bezug auf die Effektivität der Strafrechtspflege sei nur soviel gesagt: Der Verteidiger ist nach der eingeschränkten Organtheorie weder dazu verpflichtet, das Strafverfahren aktiv zu fördern noch dazu, aktiv zur Überführung des Mandanten beizutragen 20, er ist nur insoweit - in einem engen Kernbereich - für die Effektivität der Strafrechtspflege mitverantwortlich, als es ihm nicht erlaubt sein soll, das Strafverfahren zu sabotieren bzw. durch sein Verhalten völlig lahmzulegen. 21 Im Bereich des Akteneinsichtsrechts ist ein solches, nicht mehr tolerierbares Verhalten des Strafverteidigers beispielsweise dann erreicht, wenn der Verteidiger dem Mandanten Kenntnis über bevorstehende Zwangsmaßnahmen verschafft und daher ein Verhalten an den Tag legt, das nur als Verfahrenssabotage eingestuft werden kann. 22 Die soeben dargestellten Beispiele aus der Prozeßrechtsliteratur zeigen jedenfalls eines ganz deutlich: Will man die Diskussion um die Rechtsstellung des Strafverteidigers künftig fruchtbarer gestalten, so wird man von rein rechtspolitischem Wunschdenken, bloßen Behauptungssätzen sowie dem Streit um den Begriff "Organ der Rechtspflege" Abstand zu nehmen haben. Weiter18 Vgl. hierzu nur Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 89 ff.; Beulke, Strafbarkeit des Verteidigers, Rn. 40 ("Der Verteidiger darf sein gesamtes, aus der Akteneinsicht erlangtes Wissen dem Beschuldigten mitteilen") und Rn. 200 sowie Beulke, Strafprozeßrecht, Rn. 160. 19 Dazu ausfiihrlich Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 88 ff., 143 ff. 20 Anders wohl Hassemer, der die OrgansteIlung des Strafverteidigers augenscheinlich als ein an den Verteidiger gerichtetes Gebot mißinterpreticrt, an der Wahrheitssuche im Strafverfahren mitzuwirken, vgl. Hassemer in: Beck'sches Formularbuch fiir den Strafverteidiger, I AI, S. 3. 21 Dazu ausfiihrIich Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 145 ff. 22 So Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers, S. 37 ff., Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren, S. 90 und die h. M.: vgl. BGHSt 29,99, 103; Bonke, ZStW 96 (1984), S. 757; DreherlTröndle, § 258 Rn. 7; Emesti, JR 1982, S. 225 ff.; Heinicke, Der Beschuldigte und sein Verteidiger, S. 489; Kleinknecht/M~er-Goßner, § 147, Rn. 21; Kr~, Strafverfahrensrecht I, Rn. 608 ff.; liemersdorj, MDR 1989, S. 207 f.; pteijJer, DRiZ 1984, S. 347 f.; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rn. 108.3; Stn:yz, Die Abgrenzung von Strafverteidigung und Strafvereitelung, S. 272 • 13·
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KapitelS: Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussionsausblick
hin wird zu bedenken sein, daß die Privilegien und Rechte des Strafverteidigers in dem Maße abnehmen und seine Pflichten in dem Maße steigen werden, in dem man den Verteidiger nur noch auf die Wahrnehmung rein privater Angelegenheiten des Beschuldigten festlegt. Die Ansätze hierzu sind in der Rechtsprechung jedenfalls bereits gemacht. Wer jedoch neben der Leugnung öffentlicher Funktionswahrnehmung dem Strafverteidiger gar noch ein Lügerecht zubilligt, der darf sich später nicht beklagen, sollte es bald wieder heißen, daß ein weiterer Tiefpunkt in der Geschichte der Advokatur erreicht sei.
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