Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973 9783110894806, 9783110040623


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German Pages 465 [468] Year 1973

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Table of contents :
Gedanken zur Begriffsgeschichte der Rechtsphilosophie
Über den Zirkelschluß in der Rechtsfindung
Theodor Fontane und die Askanier
Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze im Vergleich mit der österreichischen Regierungsvorlage 1971
Vérité au deçà des Pyrénées, erreur au delà?
Wilhelm GALLAS’ „Gedanken zum Begriff des Verbrechens“ aus kriminologischer Sicht
Gesinnungsethik und Gesinnungsstrafrecht
Spielraum-Theorie, Schuldbegriff und Strafzumessung nach den Strafrechtsreformgesetzen
§ 13 StGB — eine Fehlleistung des Gesetzgebers?
Bestimmtheitsgebot, tatbestandliche Typisierung und die Technik der Regelbeispiele
Tun und Unterlassen
Die Grenzen des dolus eventualis und der willentlichen Verletzung
Bemerkungen zum Prinzip der Risikoerhöhung
Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten
Zur Problematik der Beteiligung an vermeintlich vorsätzlichen rechtswidrigen Taten
Die Umstimmung des Tatentschlossenen zu einer schwereren oder leichteren Begehungsweise
Probleme beim Rücktritt des Beteiligten
Der Paragraph mit dem Januskopf
Probleme strafrechtlicher Verjährung
Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform
Der Schutz der Intimsphäre im Strafprozeß
Die Geheimsphäre des Verteidigers in ihren strafprozessualen Funktionen
Zur Problematik der Eidesverweigerung
Gescheiterte Wiederaufnahmeverfahren
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Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973
 9783110894806, 9783110040623

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Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag

FESTSCHRIFT FÜR WILHELM GALLAS ZUM 70. GEBURTSTAG am 22. Juli 1973

Herausgegeben von Karl Lackner, Heinz Leferenz, Eberhard Schmidt, Jürgen Welp und Ernst Amadeus Wolfï

w DE

G

1973 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung des Kultusministeriums Baden-Württemberg, der Universitäts-Gesellschaft Heidelberg und anderer ungenannter Spender

ISBN 3 11 004062 X

© Copyright 1973 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer, Karl J . Trübner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Redite, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronisdier Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Saladruck, Berlin

WILHELM GALLAS zum 22. Juli 1973

als Zeichen des Dankes und der Verehrung dargebracht von G Ü N T E R BEMMANN PAUL BOCKELMANN EDUARD D R E H E R K A R L ENGISCH E R N S T - W A L T E R HANACK H A N S - H E I N R I C H JESCHECK A R T H U R KAUFMANN D E T L E F KRAUSS K A R L LACKNER R I C H A R D LANGE H E I N Z LEFERENZ THEODOR LENCKNER MANFRED MAIWALD KARL PETERS CLAUS R O X I N FRIEDRICH SCHAFFSTEIN EBERHARD SCHMIDHÄUSER EBERHARD SCHMIDT H O R S T SCHRÖDER H A N S SCHULTZ G Ü N T E R STRATENWERTH JÜRGEN W E L P HANS WELZEL E R N S T AMADEUS W O L F F

Inhalt Bonn: Gedanken zur Begriffsgeschichte der Rechtsphilosophie

1

München: Über den Zirkelsdiluß in der Rechtsfindung

7

H A N S WELZEL,

A R T H U R KAUFMANN,

Heidelberg: Theodor Fontane und die Askanier

21

Freiburg/Brsg.: Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze im Vergleich mit der österreichischen Regierungsvorlage 1971

27

Thun/Schweiz: Vérité au deçà des Pyrénées, erreur au delà?

49

Heidelberg: Wilhelm GALLAS' „Gedanken zum Begriff des Verbrechens" aus kriminologischer Sicht

65

Hamburg: Gesinnungsethik und Gesinnungsstrafrecht

81

Göttingen: Spielraum-Theorie, Schuldbegriff und Strafzumessung nach den Strafrechtsreformgesetzen

99

EBERHARD SCHMIDT,

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK,

H A N S SCHULTZ,

H E I N Z LEFERENZ,

EBERHARD SCHMIDHÄUSER,

FRIEDRICH SCHAFFSTEIN,

Heidelberg: § 13 StGB — eine Fehlleistung des Gesetzgebers?

KARL LACKNER,

117

Hamburg: Bestimmtheitsgebot, tatbestandliche Typisierung und die Technik der Regelbeispiele 137

MANFRED MAIWALD,

Heidelberg: Tun und Unterlassen

K A R L ENGISCH,

163

Heidelberg: Die Grenzen des dolus eventualis und der willentlichen Verletzung . 197

ERNST AMADEUS WOLFF,

Basel/Schweiz: Bemerkungen zum Prinzip der Risikoerhöhung

227

München: Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten

241

G Ü N T E R STRATENWERTH,

CLAUS R O X I N ,

München: Zur Problematik der Beteiligung an vermeintlich vorsätzlichen rechtswidrigen Taten 261

PAUL BOCKELMANN,

Vili

Inhalt

GÜNTER BEMMANN, H e i d e l b e r g :

Die Umstimmung des Tatentschlossenen zu einer schwereren oder leichteren Begehungsweise 273 THEODOR LENCKNER, T ü b i n g e n :

Probleme beim Rücktritt des Beteiligten

281

EDUARD DREHER, B o n n :

Der Paragraph mit dem Januskopf

307

HORST SCHRÖDER, T ü b i n g e n :

Probleme strafrechtlicher Verjährung

329

ERNST-WALTER HANACK, M a i n z :

Das Legalitätsprinzip und die Strafrechtsreform

339

DETLEF KRAUSS, S a a r b r ü c k e n :

Der Schutz der Intimsphäre im Strafprozeß

365

JÜRGEN WELP, M ü n s t e r :

Die Geheimsphäre des Verteidigers in ihren strafprozessualen Funktionen 391 RICHARD LANGE, K ö l n :

Zur Problematik der Eidesverweigerung

427

KARL PETERS, T ü b i n g e n :

Gesdieiterte Wiederaufnahmeverfahren

441

Gedanken zur Begriffsgeschichte der Rechtsphilosophie HANS WELZEL

Es ist zwar keineswegs eine neue, aber doch vielfach wenig beachtete (oder gar vergessene) Tatsache, daß Wort und Begriff „Rechtsphilosophie" ziemlich jungen Datums sind1. Vor 200 Jahren kannte man beide noch nicht. Jahrhunderte, ja Jahrtausende hindurch behandelte man das inzwischen von der Rechtsphilosophie usurpierte Problemgebiet unter dem Namen des „Naturrechts", der lex naturalis oder des φύσει δίκαιον. Kant steht am Ende dieser Entwicklung und an einer Wegscheide: zwar kennt und verwendet er noch den Begriff des Naturrechts, aber sein rechtsphilosophisches Hauptwerk nannte er eine „Metaphysik der Sitten". Unmittelbar nach Kant taucht dann der Name „Rechtsphilosophie" erstmalig auf. Einer der ersten und nachhaltigsten Autoren, die den Namen Rechtsphilosophie aufbrachten, war der Göttinger Rechtshistoriker Gustav Hugo2 (1764—1844), (einer) der Begründer der Historischen Rechtsschule; er veröffentlichte im Jahre 1798 ein „Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts". Zwei Jahre später, im Jahre 1800, folgte Wilhelm Traugott Krug3 (1770—1842), der spätere Nachfolger Kants auf dessen Königsberger Lehrstuhl, mit seinen „Aphorismen zur Philosophie des Redits". 1803 gab Jakob Friedrich 1 Vgl. Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1928, S. 1, Anm. 1; Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1.—3. Aufl., 1951, 1955, 1960, S. 163; 4. Aufl., 1962, S. 165; W. Gallas, P. J. A. Feuerbachs .Kritik des natürlichen Rechts', 1964, bes. S. 30: „Der Schritt vom Naturredit zur Rechtsphilosophie als der Lehre von der sittlichen Idee und dem Begriff des Rechts ist getan!"; Viehweg, Engisdi-Festschrift, 1969, S. 80. Weder Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 4. Aufl., 1927—30, nodi Wilh. R. Beyer, Philosophisches Wörterbuch (der DDR), 8. Aufl., 1972, gehen auch nur mit einem Wort auf diese Tatsadie ein. 2 Über ihn wie über die ganze Historische Schule Fr. Wieacker, Privatreditsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 348 ff.; 378 ff. 5 Vgl. die vernichtende Kritik an ihm von Hegel in seiner Jubiläumsausgabe Bd. I, S. 193 ff. — Ob Krug wirklich die Anerkennung verdient, die Gonzalez Vicen in seiner hervorragenden Monographie über „La Filosofia del Derecho como concepto historico" in Anuario de Filosofia del Derecho, Bd. 14 (1969) S. 15 ff.; S. 56 ihm entgegenbringt, mag auf sich beruhen. Unabhängig davon ist die Arbeit von Gonzalez Vicen eine so glänzende Darstellung über die Entstehung und die Entwicklung des Begriffes der „Rechtsphilosophie", daß man nur bedauern muß, daß diese Abhandlung, die eine so genaue und intime Kenntnis der deutschen Literatur verrät, nicht auch in deutscher Sprache vorliegt.

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Hans Welzel

Fries (1773—1843) ein Werk über „Philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung" heraus; im gleichen Jahre erschien von Karl Christian Friedrich Krause (1781—1832) ein Werk „Grundlage des Naturrechtes oder philosophischer Grundriß des Ideales des Rechts", in dessen Vorwort er von einer „Grundlage der Philosophie des Rechts" spricht, die er in diesem Werk herausgeben wolle4. 1804 folgte Christian Weiss (1774—1853) mit einem „Lehrbuch der Philosophie des Rechts". Es zeigt sich, daß um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert das Wort und der Begriff der „Rechtsphilosophie" die Herrschaft des bisherigen Naturrechts abzulösen begannen. Von ungleich größerer Bedeutung als die genannten Autoren und deren Schriften war es, daß G. W. Fr. Hegel 1821 unter dem gemeinsamen Titel „Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse" sein Werk „Grundlinien der Philosophie des Rechts" herausgab. Nicht minder bedeutungsvoll zu seiner Zeit war es, daß der geistige Begründer des preußischen Konservativismus, Friedrich Julius Stahl (1802—1861) in den Jahren 1830—1837 ein umfängliches und einflußreiches Werk „Die Philosophie des Rechts" veröffentlichte, das in zahlreichen Auflagen im 19. Jahrhundert erschien. Es war von besonderem Gewicht, daß gerade ein Vertreter der historischen Rechtsschule (Gustav Hugo) den Namen „Rechtsphilosophie" aufbrachte: Es hing mit dem neuen Bewußtsein zusammen, daß das Recht ein historisch gewordenes und sich historisch entwickelndes Phänomen ist, daß es eine wirkliche, geschichtliche, eine „positive" Existenz besitzt, daß es als solches kontingent und bedingt „positives" Recht ist, daß es nicht a priori konstruierbar, sondern nur a posteriori erfahrbar ist. Der Realitätsgehalt des Rechtes wurde in der historischen Schule ernster genommen und tiefer erfaßt als in den vorangegangenen naturrechtlichen Perioden. Darum mußte der Name „Naturrecht" verschwinden, da er unklar gelassen hatte, daß alles Recht nur ein einmaliges, historisch entstandenes Phänomen, ein „positives Recht" ist. „Das Recht ist positiv überhaupt a) durch die Form, in einem Staate Gültigkeit zu haben, und diese gesetzliche Autorität ist das Prinzip für die Kenntnis desselben, die positive Rechtswissenschaft, b) Dem Inhalte nach erhält dieses Recht ein positives Element a) durch den besonderen Nationalcharakter eines Volkes, die Stufe seiner geschichtlichen Entwicklung und den Zu4 1828 veröffentlichte Kr. einen „Abriss des Systems der Philosophie des Rechts oder des Naturredits". Durch die spanischen Übersetzungen seiner Schriften, vor allem seiner Rechtsphilosophie, übte er einen starken Einfluß auf Spanien aus („crausismo"). Über den Krausismus siehe F. Gonzalez Vicên, Deutsche und Spanische Rechtsphilosophie der Gegenwart, Tübingen 1937.

Gedanken zur Begriffsgesdiichte der Reditsphilosophie

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sammenhang aller der Verhältnisse, die der Naturnotwendigkeit angehören, ß ) durch die Notwendigkeit, daß ein System eines gesetzlichen Rechts die Anwendung des allgemeinen Begriffes auf die besondere von außen sich gebende Beschaffenheit der Gegenstände und Fälle enthalten muß, — eine Anwendung, die nicht mehr spekulatives Denken und Entwickelung des Begriffes, sondern Subsumtion des Verstandes ist; y) durch die für die Entscheidung in der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmungen" 5 ). Ähnlich wie Hegel äußerte sich kurz darauf Stahl·. „Recht und posisitives Recht sind . . . gleichbedeutende Begriffe. Es gibt kein anderes Recht als das positive. Was der Vorstellung eines Naturrechts zugrunde liegt, sind eben jene Gedanken und Gebote der Weltordnung Gottes, die Rechtsideen; diese aber haben . . . weder die erforderliche Bestimmtheit (Präzisierung), noch die bindende Kraft des Redits. Sie sind Bestimmungsgründe für die Fortbildung des Gemeinzustandes, nicht bereits geltende Normen des Gemeinzustandes. Es gibt daher wohl Vernunftforder ungen an das Recht, aber es gibt kein Vernunftrecht. Es dürfen die Untertanen, einzeln oder in Massen, sich nicht wider das positive Recht setzen, gestützt auf Naturrecht, das ist der Frevel der Revolution. Es darf insbesondere der Richter nicht nach Naturrecht entscheiden, sei es gegen das positive Recht oder sei es auch nur in Ergänzung des positiven Rechts (subsidiär)" 6 . Das Gewicht dieser beiden Werke, von denen das erste sogar weltgeschichtlidie Wirkung entfaltete, setzte den Begriff und Namen Rechtsphilosophie nicht nur im deutschen sondern im gesamtkontinentalen europäischen Sprachraum 7 durch. Das Wort „Naturrecht" wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Anachronismus8; nur katholische (scholastische) Kreise hielten das Wort Naturrecht lediglich am Raride weiter bei9. Die Reditsphilosophie verstand sich als philosophische Besinnung des wirklichen, geschichtlich gewordenen und geschichtlich sich entwickelnden positiven Rechts bzw. der verschiedenen positiven Rechte. Damit verband sich jedoch eine unge5

Hegel, Philosophie des Redites, § 3. • Stahl, Philosophie des Rechtes, 3. Aufl., 1854, II 1 § 12 S. 221 f. 7 Z. B. in Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Rußland (Philosophie du Droit; Filosofía del diritto; Filosofia del Derecho; Φιλοσοφία του Δικαίου; Filosof i a prava), dagegen nicht im angelsächsischen Sprachraum, w o das Wort „Jurisprudence" herrschend blieb (gelegentlich abgelöst von „Legal Philosophy"). Dagegen hat sich in Japan unter deutschem Einfluß (Stammler, Radbruch) der Begriff Rechtsphilosophie in deutlichem Unterschied zum Naturrecht durchgesetzt; ähnlich in Korea. 8

Gonzalez Vicen, S. 60; z . B . B. F. A. Trendelenburg (dem Gegner Hegels) in seinem Buch „Naturredit auf dem Grunde der Ethik" aus dem Jahre 1860. 8 Viktor Cathrein, Recht, Naturrecht und positives Redit, 1901.

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Hans Welzel

ahnte weitere Folgewirkung beim Aufkommen der Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert: Die Betonung des positiven Rechtes als Objekt der Rechtsphilosophie legte im Laufe des 19. Jahrhunderts den Gedanken nahe, die Bemühungen auf dieses positive Recht zu beschränken. Die allgemeine Tendenz des Positivismus, d. h. der Auffassung, die Wissenschaft auf das zu beschränken, „was sich wägen, messen und berechnen" läßt 10 , klammerte die philosophische Betrachtungsweise schließlich ganz aus, und es entstand der juristische Positivismus11. Diese Verarmung der rechtlichen Gedankenwelt führte im Laufe der Zeit zu einem Umschwung. Kennzeichnend sind hierfür die nahe aneinanderliegenden Gedanken Friedrich Julius Stahls in seiner Rechtsphilosophie und die Gustav Radbruchs in seiner Rechtsphilosophie 1932. Sagte schon Stahl 1854, der Richter dürfe nicht nach Naturrecht entscheiden, sei es gegen das positive Recht oder auch nur zur Ergänzung des positiven Rechts, so meinte Radbruch in seiner Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932: „Der Richter, der Auslegung und dem Gesetz der positiven Rechtsordnung Untertan, hat keine andere als die juristische Geltungslehre zu kennen, die den Geltungssinn, den Geltungsanspruch des Gesetzes der wirklichen Geltung gleichachtet. Für den Richter ist es Berufspflicht, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen was rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei. . . . Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt" 12 . Die weitere Entwicklung ist bekannt, da sie in die Erlebniswelt (zumindest) der älteren Generation fällt, darum kann und will ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft schrieb Radbruch: Die Rechtswissenschaft müsse sich wieder auf die Jahrtausende alte Weisheit besinnen, daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, an dem gemessen das Unrecht Unrecht bleibt, auch wenn es in die Form eines Gesetzes gegossen ist, das aufgrund eines solchen ungerechten Gesetzes gesprochene Urteil nicht recht, sondern unrecht ist13. So setzen rasch 10 Siehe Rudolf Euchen, Zur Würdigung Comtes und des Positivismus in den Eduard Zeller gewidmeten philosophischen Aufsätzen, 1887, S. 53 fï. 11 S. Karl Magnus Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892; vgl. audi H.Klenner, Zur Problematik des Rechtspositivismus; ARSP (1972), S. 429 ff. 12 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. (1932), S. 83 f. 13 Gustav Radbrud}, Die Erneuerung des Rechtes in: „Die Wandlung" 2. Jahrg. (1947), S. 9.

Gedanken zur Begriffsgeschichte der Rechtsphilosophie

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Versuche zur Neubegründung des Naturrechts ein14. Aber bald machte sich eine rückläufige Bewegung bemerkbar, die zur Wiederaufnahme der spezifischen Probleme der Rechtsphilosophie führte. Zwar veröffentlichte Helmut Coing 1947 ein Buch „Die obersten Grundsätze des Redits. Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts"; aber schon 1950 erschienen von ihm „Grundzüge der Rechtsphilosophie", in 2. Auflage 1969. Das von der Rechtsphilosophie betonte Problem des positiven Rechtes führte verstärkt zur Frage nach der Rechtsgeltung15, die vertieft der positiven Rechtsgeltung nachspürte. So scheint nun die um 1800 herum aufgekommene „Rechtsphilosophie" über die kurzlebige Erneuerung der Naturreditslehre endgültig den Sieg davonzutragen.

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Vgl. dazu mein Buch „Na tur recht und materiale Gerechtigkeit", 4. Aufl. (1962), S. 219 ff. 15 Vgl. dazu meine Schrift „An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung" (1966).

Über den Zirkelschluß in der Rechtsfindung A R T H U R KAUFMANN

I. Von einem Zirkelschluß, einem Circulus in probando, spricht man, wenn ein Beweis in seinen Voraussetzungen bereits dasjenige enthält, was erst zu beweisen ist. Daß ein solcher „Kreis beim Beweisen" ein logisch unzulässiger, „vitiöser" Fehlschluß (Paralogismus) ist, kann man in jedem philosophischen Handbuch nachlesen1, und das ist auch alles andere als neu. Schon Aristoteles hat (in seinen „Sophistischen Widerlegungen") dieses Verfahren, wonach das eine durch das andere und das andere wieder durch das erste erschlossen wird, als eine Diallele: als eine „Wechselwendung» (διάλληλος τρόπος) gekennzeichnet und für fehlerhaft erklärt. Man möchte meinen, daß hier kein Problem mehr liegt, jedenfalls kein theoretisches Problem, mag es auch in der Praxis immer wieder Zirkelschlüsse geben. Aber vielleicht sollte man doch einmal fragen, warum denn ein Denkvorgang, der schon vor mehr als zweitausend Jahren als logisch nicht einwandfrei erkannt wurde, noch heute gang und gäbe ist, und dies nicht nur in methodisch unreflektierten Beweisführungen, sondern auch bei wissenschaftlichen, zumal rechtswissenschaftlichen Argumentationen. Nun könnte man das kurzerhand der Trägheit unseres Denkens anlasten, der es zuzuschreiben sei, daß wir eben stets aufs neue in die alten Fehler zurückfallen. Doch das wäre vorschnell und allzu oberflächlich geurteilt. Wer sagt denn, daß es überhaupt möglich ist, zirkuläre Argumentationen gänzlich auszuschalten? Ist der Zirkel, nur weil er vermieden werden soll, für uns auch tatsächlich stets vermeidbar? Oder verhält es sich nicht vielleicht so, daß es gewissermaßen zur „Natur" unseres Erkennens gehört, sich im Zirkel zu bewegen? Es ist wohl klar, daß wir durch solches Fragen jetzt irgendwie in eine Falle geraten sind, ähnlich wie weiland Kant, der untersuchen wollte, ob die Vernunft zu reiner Erkenntnis fähig ist, mit dieser Fragestellung aber bereits notwendig eben diese Fähigkeit der Ver-

1 Vgl. etwa Metzke, Handlexikon der Philosophie, 2. Aufl., 1949, S. 59; SchmidtSchischkoff, Philosophisches Wörterbuch, 18. Aufl., 1969, S. 90; Brugger, Philosophisches Wörterbuch, 13. Aufl., 1967, S. 395.

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Arthur K a u f m a n n

nunft voraussetzte2. Ebenso könnten audi wir Gefahr laufen, uns gerade dadurch, daß wir dem Zirkel auf die Spur zu kommen versuchen, in einen Zirkel zu verstricken. Wie können wir überhaupt feststellen, ob ein Gedankengang einen Zirkel enthält? Ist eine derartige Feststellung nidit selbst zirkulär? Veranschaulichen wir uns einige „Fälle".

II. Wilhelm Gallas hat in einer feinsinnigen Studie keinen Geringeren als Paul Johann Anselm Feuerbach überführt, daß sich seine „relative Deduktion" der natürlichen Rechte aus dem Sittengesetz in Wahrheit in einem Zirkel bewegt: „Wird das natürliche Recht als Handlungsfreiheit verstanden, so gewinnt es bestimmte Konturen erst durch die dieser Freiheit gezogenen Grenzen. Sieht man diese Grenzen im Recht der anderen, so gerät man in den Zirkel, das Redit des einen aus dem Recht des anderen, also die eine Unbekannte durch die andere definieren zu müssen."3 Bemerkenswerterweise fügt Gallas aber sogleich hinzu: „— es sei denn, es gebe einen sachlichen Maßstab, an dem sich ablesen ließe, in welchem Ausmaß die wechselseitigen Freiheitsansprüche miteinander vereinbar sind" 4 . Einen solchen Maßstab glaubte Feuerbach denn auch tatsächlich zu besitzen, nämlich in der „sittlichen Pflicht, andere vernünftige Wesen nicht als bloße Mittel zu beliebigen Zwecken zu behandeln". Demgegenüber ist Gallas der Meinung, daß damit nicht mehr als „eine regulative Idee für die Gestaltung des positiven Rechts" gewonnen sei5. Woraus ergibt sich nun der Zirkel: daraus, daß Feuerbach das Autonomieprinzip inhaltlich so „anreichert", damit es als Rechtsmaßstab dienen kann, oder ergibt er sich nicht vielmehr aus der Sichtweise von Gallas, der das Autonomieprinzip ganz formal versteht und es dadurch so „entreichert", daß es als Maßstab untauglich wird? Offensichtlich läßt sich das nicht „an sich" beantworten, es kommt vielmehr darauf an, auf wessen Standpunkt man sidi stellt. Legt man die Prämissen von Gallas zugrunde, dann erscheint Feuerbachs „relative Deduktion" in der Tat als ein Zirkelschluß. Oder um es allgemein mit den Worten Weinbergers zu formulieren: Das Vorliegen eines Zirkelbeweises „kann nur mit Rücksicht auf die Fragestellung in der gegebenen Problemsituation ent-

2 Näher (mit Nachweisen) Arthur Kaufmann, Reditsphilosophie im Wandel, 1972, S. 94. Siehe auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1969, S. 79. 3 Gallas, P. J . A. Feuerbachs „Kritik des natürlichen Redits", 1964, S. 15 ff., 25 f. 4 Gallas (wie Fußn. 3), S. 26. 5 Gallas (wie Fußn. 4).

Über den Zirkelschluß in der Rechtsfindung

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schieden werden"®, mithin nicht unabhängig von dem jeweiligen Verstehenshorizont. Das Gesagte gilt ganz allgemein für den sogenannten „naturrechtlichen Zirkelschluß", den Welzel in einer umfassenden problemgeschichtlichen Untersuchung der ganzen seitherigen Naturrechtslehre zum Vorwurf gemacht hat: „Die Proteusgestalt der menschlichen Natur nimmt unter der Hand eines jeden naturrechtlichen Denkers die Gestalt an, die er sich wünscht. All das, was er für richtig und wünschenswert hält, hat er zuvor (stillschweigend) in seinen ,Naturbegriff' vom Menschen hineingelegt, ehe er es zur Begründung seiner Uberzeugung vom ,naturgemäß' Richtigen wieder herausholt." 7 Das mag vielleicht etwas überspitzt formuliert und in der Sache auch übertrieben sein. Soviel aber ist gewiß richtig, daß die „Natur" des Menschen, die „Natur" des Rechts, die „Natur" der Sache kein „Objekt" ist, das irgenwo außerhalb des „Verstehens von Natur" realiter vorhanden wäre — diese Art von „Natur" kommt sozusagen in der Natur nicht vor. Darum ist es in der Tat so, daß jeder, der irgendwelche Aussagen über die „Natur", das „Wesen", den „Sinn" des Mensdien und des Rechts macht, gleichsam sich selbst mit in diese Aussagen hineinlegt. Freilich ist deswegen noch lange nicht jede Aussage gleichermaßen begründet bzw. gleichermaßen unbegründet. Doch darum geht es uns hier nicht, vielmehr interessiert uns allein die Frage, wie es um den Zirkelcharakter derartiger Argumentationen steht. Ein aktuelles Beispiel: Aus der „Natur" des Menschen, seiner „Würde", sind diejenigen Grundrechte unserer Verfassung abgeleitet, die als allgemeine Menschenrechte „jedem" zustehen: u. a. das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit dadurch nicht „Rechte anderer" verletzt werden, und das Redit auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG). Die einen behaupten nun, auch das Kind im Mutterleib sei Mensch, habe daher wie „jedermann" ein Lebensrecht, und die Freiheit der Mutter, über sich selbst verfügen zu dürfen, sei folglich begrenzt durch dieses „Recht eines anderen", eben das Lebensrecht ihres Kindes. Die Gegenmeinung verneint die Menschnatur des menschlichen Foetus und deshalb audi eine Beschränkung der Verfügungsfreiheit der Mutter durch angebliche Rechte des Foetus; die Schwangere, und nur sie, habe das von der Verfassung verbriefte Recht, frei darüber zu entscheiden, ob sie ein Kind zur Welt bringen wolle oder nicht. Eine dritte Richtung schließlich hält die Frage, was die Leibesfrucht ihrer „Natur" nach sei, für unbeantwortbar; die Grundrechte unserer Verfassung könnten daher weder für noch gegen « Weinberger, Reditslogik, 1970, S. 349. 7 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl., 1962, S. 16, 61, 225, 240 f. u. ö. Vgl. audi Bockelmann, Einführung in das Redit, 1963, S. 121.

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Arthur Kaufmann

ein Abtreibungsverbot herangezogen werden, die Entscheidung darüber müsse vielmehr an Hand anderer Kriterien, sozial-, gesundheitsund kriminalpolitischen, erfolgen 8 . In den ersten beiden Argumentationen ist der „naturrechtlidie Zirkel" unschwer zu erkennen: die „Natur" des Menschen wird jedesmal so verstanden, daß das für sinnvoll erachtete Ergebnis herauskommt. Ob das Ergebnis richtig oder falsch ist, lassen wir dahingestellt; jedenfalls ist der Schluß, durch den man dazu kommt, logisch verdächtig. Wie aber steht es mit der dritten Beweisführung? Dem ersten Anschein nadi möchte man vielleicht annehmen, daß hier ein Zirkel vermieden ist, weil ja dodi über die „Natur" des Menschen keine Aussagen gemacht und aus ihr audi keine Folgerungen abgeleitet werden. Indes, sollte es wirklich so einfach sein, sich dadurch aus dem Kreis herauszustehlen, daß man die prinzipiellen Fragen, auf die es eigentlich ankommt, unbeantwortet läßt? Davon kann keine Rede sein. Bei näherem Zusehen zeigt sich denn auch, daß der Zirkel keineswegs verschwunden ist, er hat sich nur auf eine andere Ebene verlagert. Statt daß man aus der „Natur" des Menschen Folgerungen für das Abtreibungsproblem herleitet, muß nun deren „Unerkennbarkeit" herhalten, um zu beweisen, daß das Problem nur mittels politischer Zweckmäßigkeitserwägungen entschieden werden kann. Auch hier wollen wir über die Richtigkeit dieses Ergebnisse nidit rechten. Es geht einzig um das zirkuläre Verfahren. Die Unerkennbarkeit der Mensdinatur wird ja nicht etwa sachlich begründet, es werden noch nicht einmal die Lehren, die positiv etwas über sie aussagen, logisch falsifiziert, vielmehr dient diese nicht begründete, sondern nur angenommene Prämisse der Unerkennbarkeit der menschlichen Natur einzig zur Begründung dafür, daß der Gesetzgeber an etwas, was man nicht erkennen kann, audi nicht gebunden ist. Aus einem „naturrechtlichen Zirkel" ist ein „positivistischer Zirkel" geworden. Nun sollte man nicht denken, daß der „naturrechtliche Zirkel", weil er vielleicht eher in die Augen springt, der vitiösere sei. Der „positivistische Zirkel" ist viel auswegloser. Die Annahme, das „Wesen" oder die „Natur" des Menschen und seiner Welt — also auch der menschlichen Erkenntnis — sei für uns erkennbar, mag dazu verleiten, daß immer wieder bloße Uberzeugungen für Erkenntnisse ausgegeben werden, aber widersprüchlich ist diese Annahme nicht. Es ist, von hier aus gesehen, immerhin denkbar, daß über die „Natur" des menschlichen Foetus einmal wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Der Positivismus dagegen wird von seiner Warte aus 8 Vgl. dazu insbes. Roellecke, Grundrechte und Abtreibungsverbot, in: Baumann, Das Abtreibungsverbot des § 218, 2. Aufl., 1972, S. 39 ff.

Über den Zirkelsdiluß in der Rechtsfindung

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niemals die Richtigkeit seiner Grundthese beweisen können, nämlich daß wir nur die Erscheinungen der Dinge (Phainomena), nicht aber ihre Wesenheiten (Noumena) zu erkennen vermögen. Denn um zu beweisen, wozu unsere Erkenntnis imstande bzw. nicht imstande ist, müßte man jene These aufgeben und metaphysisch (im Sinne von meta-empirisch) argumentieren. Older um unser Beispiel nochmals aufzugreifen: Der Beweis, daß wir „von Natur aus" unvermögend sind, so etwas wie die „Natur" des Menschen und des menschlichen Foetus zu erkennen, könnte niemals empirisch, sondern — wenn überhaupt — nur auf „naturrechtliche" Weise geführt werden. Aus diesem Zirkel gibt es keinen Ausweg. „Der Positivismus", sagt Jaspers, „kann sich selbst nicht begreifen." 9 Das heißt nicht, daß es nicht Gründe geben kann — pragmatische Gründe —, in gewissen Bereichen mit der positivistischen Hypothese zu arbeiten. Nur sollte man sich darüber im klaren sein, daß es sich dabei um eine unbeweisbare metaphysische Voraussetzung handelt und daß man nicht schon deshalb „wissenschaftlicher" verfährt, weil man bestimmte Fragen unbeantwortet läßt. Auch der Positivist, und gerade er, entgeht dem Zirkel nicht. Daß dem so ist, läßt sich an allen rechtspositivistischen Doktrinen nachweisen, die seit der „Uberwindung" des Naturrechts entwickelt worden sind10. Sicher ist es ein Zirkel, wenn die Begriffsjurisprudenz an dem Dogma der logischen Geschlossenheit und Lückenlosigkeit der Rechtsordnung dadurch glaubte festhalten zu können, daß sie den GesetzesbegrifFen und ihrem systematischen Zusammenhang den Charakter von Erkenntnisquellen beimaß, ja daß sie geradezu von der „Produktivität" der Begriffe sprach, die „sich paaren" und „neue zeugen" (so der frühe Jhering), oder von der „logischen Expansionskraft" des positiven Gesetzes und seiner „inneren Fruchtbarkeit" (Bergbohm). — Zirkulös ist aber auch die Gegenrichtung verfahren, die Interessenjurisprudenz, die gegenüber der Begriffsjurisprudenz mit Recht den „Primat der Lebenswerte" betonte und deshalb die in der Gesellschaft vorhandenen Erwartungen, Bedürfnisse, Interessen als die realen Kausalfaktoren des Rechts erachtete, dabei jedoch nicht stehenblieb, sondern — inkonsequent genug, wiewohl unvermeidlich — in den Interessen nicht mehr nur die Kausalfaktoren des Rechts erblickte, sondern zugleich auch Gegenstand und Maßstab der Interessenbewertung (Heck, S toll). — Grundsätzlich nicht anders ver9

Jaspers, Philosophie, 3. Aufl., 1956, l . B d . , S. 220. Siehe auch (mit weiteren Nachweisen) Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie (wie Fußn. 2), S. 75 ff. 10 Siehe zum folgenden statt vieler anderer Larenz, Methodenlehre (wie Fußn. 2), S. 17 ff., bes. S. 24 f., 50 ff., 62 ff., 72 ff.; auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, bes. S. 430 ff., 458 ff., 558 ff.

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hielten sidi die Freirechtsschule und die positivistische Redhtssoziologie. Hermann Kantorowicz war sich darüber völlig im klaren: „Die richtige Behandlung der ,Interessenlage'", so kann man bei ihm lesen, „setzt Kenntnis des Gesetzeszwecks voraus, da ohne Rücksicht auf ihn wohl entschieden werden kann, welche Interessen tatsächlich vorhanden sind, nidit aber, welche von Rechts wegen bevorzugt werden sollen."11 — Schließlich die Reine Rechtslehre Kelsens, die sidhi von den zuvor genannten Richtungen wahrlich in vielfältiger Weise unterscheidet, nicht aber darin, daß es ihr gelungen wäre, ein Rechtssystem ohne Denkzirkel zu errichten. Denn der Versuch, das Redit ausschließlich in einem juristischen Sollen zu fundieren, führte entweder dazu, daß man den in der Norm enthaltenen Rechtssatz als eine Aussage über das (mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit zu erwartende) künftige Verhalten der Staatsorgane verstand 12 und also methodenwidrig auf Faktisches zurückführte; oder aber daß man ein echtes verpflichtendes Sollen methodenrein durch Verankerung in höherem und immer höherem Sollen begründen wollte und dann gezwungen war, eine oberste „Grundnorm" zu postulieren, die als „Geltungsgrund einer normativen Ordnung" 13 freilich keine „rein juristische" Kategorie darstellt, vielmehr — nach Kelsens eigenen Worten — „wie eine Norm des Naturrechts" gilt14, mithin ethischer Natur ist. Damit ist genau das bestätigt, was bereits Kant über den „positivistischen Zirkel" gesagt hat: „Es kann . . . eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete." 15 So ist denn — das sieht Larenz völlig richtig — „das Ausweichen in die reine Positivität des Rechts immer eine Selbsttäuschung. In Wahrheit ist die Metaphysik, der man den offenen Zutritt versagt, in den unausgesprochenen Voraussetzungen doch immer schon enthalten . . ."1β 11 Kantorowicz, Rechtswissenschaft und Soziologie; Ausgewählte Schriften zur Wissenschaftslehre (hrsg. von Thomas Wiirtenberger), 1962, S. 130 (Hervorhebungen im Original). 12 So Kelsen in der 1. Aufl. der Reinen Rechtslehre, 1934, bes. S. 25, und schon in: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911. 13 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 72 ff., 196 ff. 14 Kelsen, Die philosophischen Grundlagen der Naturreditslehre und des Rechtspositivismus, 1928, S. 20. 15 Kant, Metaphysik der Sitten; hrsg. von Karl Vorländer (Philos. Bibl. Bd. 42), 1954, Einleitung IV (S. 28). 18 Larenz, Wegweiser zu richterlicher Rechtsschöpfung, Nikisch-Festschrift, 1958, S. 290.

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Bedenkt man dies, dann ist der Vorwurf des „ naturrechtlichen Zirkelschlusses" schwerlich von dem Gewicht, der ihm insbesondere von Welzel beigemessen wird. Freilich gilt das dann auch umgekehrt hinsichtlich der an Welzel geübten Kritik, daß er nämlich im „ontologischen Randgebiet" genauso zirkulär argumentiere, wie er es für das „axiologische Kerngebiet" verurteilt habe — etwa indem er aus der „ontologischen Struktur der Handlung" eine Reihe von Konsequenzen für den Vorsatz, für die Teilnahme, für den Irrtum, für den Versuch u. a.m. „zwingend" ableiten zu können glaube17. Daß Welzel hier inkonsequent ist, wird sich schwerlich bestreiten lassen. Aber kann denn Roxin, der Welzel in diesem Punkt am heftigsten angegriffen hat 18 , seinerseits einem solchen Verfahren, das er „für unfruchtbar und sogar für gefährlich" hält 19 , aus dem Weg gehen? Kann er Ernst machen mit seiner Gegenthese, daß der Gesetzgeber überhaupt nicht an vorrechtliche Strukturen gebunden sei? Daß er das nicht kann und daß auch er mit Zirkelschlüssen arbeitet, hat Gallas an dem exemplarischen Problem des § 160 StGB — Verleitung zum Falscheid — mit aller wünschenswerten Deutlichkeit gezeigt20. Worum es dabei geht, kann hier nur mit wenigen Worten angedeutet werden. In seiner weitausgreifenden Monographie über „Täterschaft und Tatherrschaft" 21 gelangt Roxin zur Unterscheidung von drei ihrer Struktur nach verschiedenen Deliktsarten: „Herrschaftsdelikte", „Pflichtdelikte" und „eigenhändige Delikte". Aus diesen Konstruktionen leitet er dann eine Reihe von Thesen ab, so diejenige, daß wohl beim Herrschaftsdelikt, nicht aber beim Pflichtdelikt die Teilnahme eine vorsätzliche Haupttat voraussetze. Angewandt auf § 160 StGB, den Roxin zu den Pflichtdelikten zählt, bedeutet dies, daß es sich hierbei um eine eigentlich überflüssige Sondervorschrift über die Anstiftung zum Meineid handelt. Man sieht, auch hier wird aus vorgegebenen oder vorgefaßten, jedenfalls nicht im Gesetz vorzufindenden Struk17 Diese vieldiskutierten Ausführungen Welzeis finden sich in: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 197 f. (ebenso in der 2. und 3. Aufl.; dagegen sind in der 4. Aufl. 1962 diese Stellen weggelassen). 18 Roxin, Zur Kritik der finalen Handlungslehre, in: ZStW 74 (1962), 515 ff. (auch in: Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 72 ff.). Hiergegen wieder Welzel, Vom Bleibenden und Vergänglichen in der Strafrechtswissenschaft, 1964 (audi in: Grünhut-Erinnerungsgabe, 1965, S. 173 ff.) Vermittelnd Arthur Kaufmann, Die ontologische Struktur der Handlung; Skizze einer personalen Handlungslehre, H. Mayer-Festschrift, 1966, S. 79 ff., bes. S. 82 ff. (auch in: Schuld und Strafe; Studien zur Strafrechtsdogmatik, 1966, S. 25 ff.). w Roxin (wie Fußn. 18), S. 531. 20 Gallas, Verleitung zum Falscheid, Engisdi-Festschrift, 1969, S. 600 ff., bes. S. 608 ff. 21 1963 (2. Aufl. 1967).

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turen argumentiert, und daß Gallas, der von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht, „diese Beweisführung nicht zu überzeugen" vermag22, ist gewiß nicht verwunderlich. Aber wenn dann Gallas den Rekurs Roxins auf das „Wesen" der Teilnahme — das Akzessorietätsprinzip verlange „nidit mehr als eine objektiv tatbestandstypische Handlung" 23 — mit der „Einsicht" kontert, „daß die Finalität als Element des Handlungsunwerts zum Unrechtstatbestand der Vorsatztat gehört" 24 und deshalb hinsichtlich des § 160 StGB zu einem abweichenden Ergebnis kommt, dann argumentiert er natürlich haargenau auf derselben Ebene wie Roxin. Man könnte das so fortsetzen und zum Beispiel auch die Argumentationen des Bundesgerichtshofs und Hruschkas25 in das Karussell einbeziehen — wie sich ja der § 160 StGB überhaupt ganz vortrefflich für Zirkelschlüsse eignet: Der Meineid ist ein eigenhändiges Delikt, was sich aus der Existenz des § 160 StGB ergibt; der § 160 wiederum ist zur Ausfüllung einer Strafbarkeitslücke notwendig, weil der Meineid ein eigenhändiges Delikt ist; Anstiftung kann es nur zu einer vorsätzlichen Haupttat geben, sonst brauchte man ja den § 160 nicht; weil die Anstiftung eine vorsätzliche Haupttat nicht voraussetzt, kann es sich bei § 160 nur um einen Fall der mittelbaren Täterschaft, nicht aber der Anstiftung handeln usw. usw. Wem das bisher Gesagte noch nicht genügt, um von der Gebräuchlichkeit zirkulärer Beweisführungen in der Jurisprudenz überzeugt zu sein, sei noch auf die Condicio-sine-qua-non-Formel 26 aufmerksam gemacht, die den Juristen und vor allem denen, die es werden wollen, als das heuristische Prinzip zur Auffindung von Kausalzusammenhängen angepriesen wird. In Wirklichkeit kann diese Formel, wie Jescheck völlig zutreffend feststellt, dazu gar nichts beitragen 27 . Man denke doch einmal das Verhalten V — Verabreichung eines bestimmten Medikaments — weg und beantworte sodann die Frage, ob der Erfolg E — Tod des herz- und kreislaufschwachen Patienten zwanzig Stunden danach — ebenso und zum selben Zeitpunkt gleichfalls eingetreten wäre. Das ist ohne das sachkundige Urteil eines Fachmanns bestimmt nicht möglich. Alsdann, aber auch erst dann, wenn idi bereits weiß, daß V für E kausal ist oder nicht, funktioniert die 22

Gallas (wie Fußn. 20), S. 610. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 372. 24 Gallas (wie Fußn. 20), S. 611. 25 BGHSt. 21, 116; Hruschka, Anstiftung zum Meineid und Verleitung zum Falscheid, JZ 1967, 210 ff. 2 · Die meist anzutreffende Schreibweise „conditio" ist schlechtes, jedenfalls kein klassisches Latein! 27 Jescheck, Lehrb. des Strafredits AT, 2. Aufl., 1972, S. 212. 23

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Condicio-sine-qua-non-Formel 28 . Ganz offenkundig ist der Zirkel bei der Formel, die Welzel zur Feststellung der Kausalität mehrerer zusammenwirkender Faktoren vorschlägt: „Von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, ist jede für den Erfolg ursächlich."29

III. Nach allem haben wir wohl Grund zu der Annahme, daß der Zirkel nicht einfach — jedenfalls nicht allenthalben — ein vermeidbares Produkt nachlässigen Denkens ist, sondern gleichsam zur Natur unseres Denkens gehört. Das kann man sich auch sehr leicht klarmachen. Vermeidbar wären Zirkelschlüsse nur, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt wären: Erstens dürften nur Begriffe verwendet werden, die vollständig und explizit definiert sind, was voraussetzt, daß auch die zu ihrer Definition verwendeten Begriffe vollständig und explizit definiert s i n d . . . , und zweitens dürften keine Behauptungen aufgestellt werden, deren Wahrheit nicht bewiesen ist, was voraussetzt, daß der Wahrheitsbeweis nur auf Argumente gestützt wird, die auch ihrerseits als wahr bewiesen s i n d . . . Es ist klar, daß diese von Pascal sogenannte „vollkommenste Methode" zu unendlichen Regressen führen müßte, also undurchführbar ist30. In Wahrheit beruht unsere gesamte Logik auf impliziten Definitionen, und das bedeutet, daß Zirkel in ihrem Aufbau unvermeidlich sind31. Das ist kein Einwand gegen die Logik und gegen unser Erkenntnisvermögen, sondern besagt nur, daß alle Definitionen und alle Beweise insofern relativ sind, als sie auf andere — nicht ausgewiesene — Definitionen und Behauptungen gestützt sind 32 . Oder anders ausgedrückt: Die Aussage, daß die Finalität zum Unrechtstatbestand der Vorsatztat gehöre, läßt sich als problematisches Urteil sehr wohl vertreten; als apodiktisches Urteil hingegen — dies sei notwendig so — kann sie nicht akzeptiert werden. Im übrigen ist die Erkenntnis, daß der Jurist bei der Rechtsfindung irgendwie zirkelhaft verfährt, gar nicht so neu, wiewohl sich die Rechtstheorie erst seit wenigen Jahren eingehend und ganz bewußt 28

Vgl. (jeweils mit weiteren Nachweisen) Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im Strafrecht, Eb. Schmidt-Festschrift 1961, S. 200 ff., bes. S. 208 ff. (audi in: Schuld und Strafe; Studien zur Strafrechtsdogmatik, 1966, S. 67 ff.); Lackner-Maussen, StGB, 7. Aufl., 1972, II, 1, aa vor § 1. 29 Welzel, Das Dt. Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 45 (Hervorhebung von mir). 80 Vgl. dazu Klug, Juristische Logik, 3. Aufl., 1966, S. 14. 31 Siehe υ. Freytag-Löringhojf, Logik, l . B d . 4. Aufl., 1966, S. 19, 55 ff., 2. Bd. 1967, S. 36, 56, 124. 32 Vgl. Weinberger (wie Fußn. 6), S. 363.

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mit dieser Problematik befaßt. Immerhin demonstrierte schon Radbruch in der zweiten Auflage seiner „Einführung", 1913, daß die Wahl des methodischen Arguments vom Ergebnis her bestimmt wird: „Die Auslegung ist also das Resultat — ihres Resultats, das Auslegungsmittel wird erst gewählt, nachdem das Resultat schon feststeht, die sogenannten Auslegungsmittel dienen in Wahrheit nur dazu, nachträglich aus dem Text zu begründen, was in schöpferischer Ergänzung des Textes bereits gefunden w a r . . ," 3 3 . Ebenso bemerkt Engisch, daß die Praxis der Gerichte „oft genug" in der Weise verfahre, „von Fall zu Fall diejenige Auslegungsmethode zu wählen, die zum befriedigenden Ergebnis führt" 34 . Und neuestens liest man bei Esser·. „Der J u r i s t . . . will nichts anderes, als den Text daraufhin verstehen, ob er anhand seiner ratio seine ,befriedigende' Entscheidung fällen kann oder n i c h t . . . Es werden mögliche Ergebnisse ins Auge gefaßt, und an ihnen wird die Verstehbarkeit des Textes ausgemacht... Solche Auseinandersetzung tritt nicht nachträglich zum Rechtsfindungsakt hinzu, sie bestimmt vielmehr dessen Richtung und Verlauf im Hinblick auf den zu erwartenden gesellschaftlichen Konsens für eine ,vernünftige' Entscheidung."35 Esser sieht völlig klar, daß es sich hier um einen Zirkel handelt. Aber „die bloß logische Zirkelbedeutung der Definition ist noch nicht das Entscheidende". Es geht vielmehr um den „hermeneutischen Zirkel", darum, daß „der Anwendungsakt von der Verständnismöglichkeit abhängig" ist „und die Verständnismöglichkeit von der Anwendungsvorstellung". Und er fügt hinzu, daß dies nichts mit „Methode" zu tun habe, sondern das „Vorverständnis" betreffe, „welches in der Konfrontierung von Normbedeutung und Fallproblematik die Texte befragt" 36 . Ähnlich fordert jetzt auch Hruschka eine strikte Unterscheidung zwischen methodologischer und hermeneutischer Fragestellung37. Damit sind wir bereits mitten in der gegenwärtigen rechtstheoretischen Diskussion, bei der es, ganz allgemein gesagt, um ein vertieftes, reflektiertes Verständnis des Rechtsfindungsverfahrens geht 33 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1913, S. 82 (11. Aufl., 1964, S. 166). Vgl. etwa audi Ernst Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 117 f. — Dazu näher (mit weiteren Nachweisen) Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie (wie Fußn. 2), S. 263 ff. 34 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 5. Aufl., 1971, S. 82. Ähnlich Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 1971, S. 65. 85 Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. 2. Aufl., 1972, S. 139 f. 36 Esser (wie Fußn. 35), S. 139, 137. 37 Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten; Zur hermeneutischen Transpositivität des positiven Rechts, 1972, bes. S. 10 ff.

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und innerhalb deren die juristische Hermeneutik eine zusehends wachsende Rolle spielt. Eine eigene Stellungnahme hierzu muß einer speziellen Untersuchung vorbehalten bleiben. Im folgenden beschränke ich midi notgedrungen auf ein paar vorläufige Hinweise.

IV. Was die allgemeine Philosophie als „hermeneutischen Zirkel" aufgedeckt hat, geht zurück auf Heidegger, wurde dann vor allem von Gadamer sorgfältig analysiert und ist schließlich einem größeren Leserkreis durch Habermas unterbreitet worden 38 . Es geht dabei, kurz gesagt, um die ursprüngliche Verwiesenheit von Bezeichnung und Bezeichnetem, von Sprache und in der Sprache gemeinter Sache. Das Verständnis des einzelnen setzt bereits das Vorverständnis des Ganzen voraus, dieses ist aber nur auf dem Weg über das einzelne zu gewinnen. Auf das Rechtsproblem bezogen: Der konkrete Lebenssachverhalt ist in seiner rechtlichen Relevanz nur verstehbar im Hinblick auf die in Betracht kommende(n) Rechtsnorm(en), der Sinn der Rechtsnorm(en) aber erschließt sich nur über das Verständnis des Lebenssachverhalts39. Im Grunde hat schon Engisch diesen hermeneutischen Zirkel im Rechtsfindungsverfahren in seinen „Logischen Studien" von 1943 klar erkannt, wenn er dort von einem „Hin- und Herwandern des Blickes" zwischen Norm und Lebenssachverhalt spricht und die Subsumtion als eine „Gleichsetzung des konkreten zu beurteilenden Falles mit den durch den gesetzlichen Tatbestand zweifellos gemeinten Fällen" versteht, wobei „die Auslegung . . . uns nicht nur das Vergleichsmaterial, sondern auch den Vergleichsgesichtspunkt für die Subsumtion" liefert 40 . Ich selbst habe von der Rechtsfindung in genau demselben Sinne einmal gesagt, sie sei ein „In-die-Entsprechung-Bringen, eine Angleichung, eine Assimilation von Lebenssachverhalt und Norm", nämlich „einerseits Angleichung des Lebenssachverhalts an die Norm, andererseits Angleichung der Norm an den Lebenssachverhalt", wobei dieser Angleichungsprozeß nicht als ein Nacheinander, sondern als ein 38 Heidegger, Sein und Zeit, 11. Aufl., 1967, S. 148 ff., 310 ff.; Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., 1965, S. 250 ff.; Habermas, Erkenntnis und Interesse, 1968, S. 204 ff.; ders., Zur Logik der Sozialwissenschaften, Beiheft 5 der Philosophischen Rundschau, 1967, S. 149 ff. Siehe auch Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 220 ff. " Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie (wie Fußn. 2), S. 359 ff.; ders., (Hrsg.), Rechtstheorie 1971, S. 96 ff.; Kaufmann-Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 1971, S. 69 ff.; Hassemer, Tatbestand und Typus; Untersuchungen zur strafrechtlichen Hermeneutik, 1968, S. 96 ff. Siehe auch Larenz, Methodenlehre (wie Fußn. 2), S. 237, 305, 471. 40 Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 15, 26, 33.

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Zugleich zu verstehen sei41. Diese Ausführungen haben mir den Tadel von Kriele eingetragen: das könne gar nicht so gemeint sein, denn sonst wäre es ja die Beschreibung einer Rechtsbeugung42. Kriele hält also offenbar den hermeneutischen Zirkel für vitiös, sein Auftreten im Rechtsfindungsverfahren für suspekt und wohl auch vermeidbar und die Berufung auf ihn gar für wissenschaftlich unverantwortlich. Die Antwort auf diesen Einwand hat schon Heidegger gegeben: „In diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ,empfinden', heißt das Verstehen von Grund auf mißverstehen." 43 Der Hauptgrund für ein solches Mißverstehen dürfte darin zu finden sein, daß man in der Vorurteilsstruktur des Verstehens einen logischen bzw. methodischen Zirkel sieht, und zwar deswegen, weil durch das „subjektive" Vorurteil bzw. Vorverständnis der Weg zur Auffindung des „objektiv richtigen" Rechts verstellt sei, indem nämlich das Recht dem Rechtserkennenden nicht mehr als eine rein „objektive" Größe „gegenüberstünde" und dieser mithin auch nicht mehr „nur dem Gesetz unterworfen" sei. Aber dabei wird verkannt, daß dieses Denkschema „subjektiv-objektiv" für das Verstehensphänomen schon vom Ansatz her nicht paßt, weil sich das zu Verstehende überhaupt erst im Verstehensprozeß herstellt und es daher eine „objektive Richtigkeit" außerhalb dieses Prozesses gar nicht gibt 44 . Gadamer drückt das hier Gemeinte sehr treffend aus: „Der Zirkel ist also nicht formaler Natur, er ist weder subjektiv noch objektiv, sondern er beschreibt das Verstehen als das Ineinanderspiel der Bewegung der Uberlieferung und der Bewegung des Interpreten. Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. Diese Gemeinsamkeit aber ist in unserem Verhältnis zur Überlieferung in ständiger Bildung begriffen. Sie ist nicht einfach eine Voraussetzung, unter der wir schon immer stehen, sondern wir erstellen sie selbst, sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilhaben und es

41 Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache"; Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 1965, S. 29, 31. 42 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung — entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1967, S. 205. 43 Heidegger (wie Fußn. 38), S. 153. 44 Vgl. Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im juristischen Denken, 1963, bes. S. 14 ff., 18 ff.; Hassemer (wie Fußn. 39), S. 135; Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie (wie Fußn. 2), S. 366 ff.; auch Leicht, Von der Hermeneutik-Rezeption zur Sinnkritik in der Rechtstheorie, in: Arthur Kaufmann, Reditstheorie (wie Fußn. 39), S. 71 ff.

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dadurch selber weiter bestimmen. Der Zirkel des Verstehens ist also überhaupt nicht ein ,methodischer' Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches Strukturmoment des Verstehens."*5 Oder um nochmals Esser das Wort zu geben: „Der ,hermeneutische Zirkel' l i e g t . . . in dem Verhältnis von Fragestellungen und Antworten qua Normverständnis, also in der Tatsache, daß ohne Vorurteil über die Ordnungsbedürftigkeit und Lösungsmöglichkeit die Sprache der Norm überhaupt nicht das aussagen kann, was erfragt wird: die gerechte Lösung... Das Herantragen einer bestimmten Ordnungsfrage im Hinblick auf die mögliche Weisungs-Bedeutung des befragten Textes ist der entscheidende A k t . . . Um eben dieses ,Herantragen' geht es in der juristischen Hermeneutik." 46 Die Ausführlichkeit der Zitate schien mir nötig, um deutlich zu machen, daß der hermeneutische Zirkel gar nicht im Bereich der Logik und Methodik angesiedelt ist und daß man ihn daher auch nicht im eigentlichen Sinne vitiös nennen kann 47 . Wichtiger aber noch ist die Einsicht, daß es gar nicht erstrebenswert sein kann, den hermeneutischen Zirkel und damit die Geschichtlichkeit des Verstehensprozesses auszuschalten. Denn wenn man das wollte, bliebe nur die Wahl zwischen einer absoluten Dogmatisierung und einer absoluten Ideologisierung des Rechts — zwischen einem streng reglementierten Rechtsverständnis, das keine Abweichung vom „richtigen Bewußtsein" duldet, und einer totalen Systemautonomie des Rechts, die jede systemtranszendente Reflexion über die Grundlagen, die Bedingungen und die Richtigkeit des „Systems" verbietet. Das hat Esser eindrucksvoll klargemacht 48 . An diesem Punkt gibt es kein Ausweichen. Hier muß man Farbe bekennen.

V. Es hieße das Anliegen der Hermeneutik gröblich mißverstehen, wollte man in der Herausarbeitung der Vorurteilsstruktur des Verstehens einen Freibrief für Willkür oder gar Manipulation bei der Rechtsfindung erblicken. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Hermeneutischer Zirkel und Vorverständnis im Prozeß des Rechtsverstehens sollen vielmehr — man gestatte diese Modefloskel — gerade deshalb „transparent gemacht" werden, um die Schein-Rationalität der herkömmlichen Methodenlehre in Richtung auf eine wirkliche Rationali45 Gadamer (wie Fußn. 38), S. 277 (Hervorhebungen von mir). Ganz ähnlich Latenz, Methodenlehre (wie Fußn. 2), S. 471. 48 Esser (wie Fußn. 35), S. 137 f. (Hervorhebungen von mir). 47 Übereinstimmend Engiscb, Einführung (wie Fußn. 34), S. 206 f. Habermas, Erkenntnis und Interesse (wie Fußn. 38) meint sogar, der hermeneutische Zirkel sei im logischen Sinne überhaupt nicht zirkulär (S. 217). 48 Esser (wie Fußn. 35), S. 141.

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tat zu überwinden 49 . Dazu bedarf es der ständigen Einübung und Erfahrung, der Verifizierung und Korrigierung, der Reflexion und Argumentation, des Analysierens und Infragestellens, der kritischen Distanz wie aber auch der fortwährenden Diskussion und Kommunikation. Es ist ein Sichherausarbeiten aus dem Vorurteil 50 , ein Transzendieren des Zirkels 51 : ein Prozeß, der niemals zum Abschluß kommt und auch gar nicht zum Abschluß kommen soll, sich aber, wenn er gelingt, in jeweils höhere Ebenen windet („höher" wenigstens unter einem bestimmten Gesichtspunkt). Von einer solchen Betrachtungsweise aus hat Hassemer den hermeneutischen Zirkel nicht einem Kreis, sondern einer Spirale verglichen52. Sehr glücklich haben das, was obenstehend gemeint ist, auch schon Kamiah und Lorenzen zum Ausdruck gebracht: „Was wir ,immer schon' wissen von der Welt und vom Menschen, indem wir ,immer schon' sprechen, kann also nur dann ohne Gefahr durch dasjenige ergänzt werden, was wir wissenschaftlich ,schon wissen', wenn dieser Zirkel vom methodischen Anfang aus immer neu durchlaufen wird in niemals abgeschlossener Selbstkritik des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens (so daß der ,Zirkel' eigentlich eine ,Spirale' ist)." 53 Die wissenschaftliche Erörterung des Zirkelschlusses hat fast immer unter der Fragestellung gestanden, wie er auszuschließen bzw. zu überwinden sei. Erkennt man, daß sich all unser Verstehen, also auch das Rechtsverstehen, im Zirkel des Vorverständnisses bewegt und daß dieser Zirkel kein logisch vitiöser und zu vermeidender ist, so muß sich das wissenschaftliche Interesse auf eben dieses Vorverständnis verlagern. Und dann wird sich ein Problem auftun, das bisher, soweit ersichtlich, noch kaum angepackt, weithin nodi nicht einmal in seiner Tragweite erkannt worden ist, das aber Heidegger schon vor über vierzig Jahren klar formuliert hat: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen."54 Vgl dazu die beachtlichen Ausführungen von Schroth, Zum Problem der Wertneutralität richterlicher Tatbestandsfestlegung im Strafredit; Zugleich ein Beitrag zur allgemeinen juristischen Hermeneutik, in: Arthur Kaufmann, Rechtstheorie (wie Fußn. 39), S. 103 ff., bes. S. 107 if. 50 Schroth (wie Fußn. 49), S. 107. 51 Tammelo, N o n solum sub lege — enimvero sub homine, in: Arthur Kaufmann, Rechtstheorie (wie Fußn. 39), S. 49 ff., 52. — Siehe auch Kaufmann-Hassemer (wie Fußn. 39), S. 69 ff., bes. S. 71 f. 52 Hassemer (wie Fußn. 39), S. 107 f. 53 W. Kamiah — P. Lorenzen, Logische Propädeutik; Vorschule des vernünftigen Redens, 1967, S. 52. 54 Heidegger (wie Fußn. 38), S. 153 (Hervorhebung von mir).

Theodor Fontane und die Askanier EBERHARD SCHMIDT

Als Theodor Fontane in den Jahren 1862 bis 1882 an seinen „Wanderungen durdi die Mark Brandenburg" arbeitete und 1884/85 seinen Roman „Cecile" schrieb, ist die Mark Brandenburg bereits vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gewesen. Im Jahre 1864 hatte v. Heinemann das Leben Albrechts des Bären geschildert; Kuhns hatte 1865 und 1867 in zwei inhaltsreichen Bänden seine nodi heute grundlegende Geschichte der Gerichtsverfassung und des Prozesses in der Mark Brandenburg veröffentlicht; Riedel hatte nicht nur in seinem Codex diplomaticus Brandenburgensis eine mit Bienenfleiß gesammelte Fülle von Urkunden aus der märkischen Geschichte ediert; er hatte auch in seinem zweibändigen Werk „Die Mark Brandenburg im Jahre 1250" (1831, 1832) den politischen Leistungen der Askanier, die von 1134 bis 1320 im Gebiete zwischen Mittelelbe und Oder vom Stützpunkt Brandenburg aus organisierend und kolonisierend das „größere Deutschland" (Heimpel) geschaffen haben, eingehende Würdigung zuteil werden lassen. Daß die askanischen Fürsten nicht nur Eroberer und Herrscher gewesen sind, daß sie vielmehr auch den Anschluß an die im Minnesang so eigenartig sich darstellende ritterlich-höfische Geistigkeit gefunden hatten, darüber hatte 1845 von der Hagen berichtet, indem er uns die askanischen Markgrafen „als Dichter und von gleichzeitigen Dichtern besungen" vor Augen führte. Freilich ist es unter den askanischen Fürsten nur einer gewesen, von dem uns die Heidelberger Manesse-Liederhandschrift sieben Lieder überliefert hat: Markgraf Otto IV. mit dem Pfeil, der von 1266 bis 1308 die Mark Brandenburg beherrscht hat und in der Reihe der askanischen Fürsten nächst Albrecht dem Bären die hervorragendste Persönlichkeit gewesen ist. Die Geschichte der Mark Brandenburg läßt uns drei große historische Abschnitte unterscheiden. Gründer der Mark Brandenburg ist der im Jahre 1134 von König Lothar mit der „Nordmark" belehnte Albrecht der Bär gewesen, ein aus dem Hause Ballenstedt gebürtiger Reichsfürst, der Begründer des askanischen Hauses, das bis 1320 der Mark Brandenburg ihre Herrscher gegeben hat. Die „Nordmark" ist, als Albrecht der Bär mit ihr belehnt wurde, ein nach Osten hin völlig offenes Gebiet gewesen, dessen Westgrenze durch die Elbe gebildet worden ist. Die Leistung

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der Askanier hat darin bestanden, daß sie zwischen Elbe und Oder in der Mark Brandenburg ein in sich gefestigtes Herrschaftsgebilde geschaffen haben, das durch die Wirren des 14. Jahrhunderts, als Wittelsbacher und Luxemburger sich in der Beherrschung der Mark Brandenburg abwechselten, aber die Entstehung einer oft zügellosen Adelsherrschaft der Quitzows und anderer adliger Burginhaber nicht verhindern konnten, zwar gefährdet, aber doch nicht aufgelöst und zerstört werden konnte. Hier wirkte das nach, was die Askanier, in deren Reihe es nicht einen einzigen Versager gegeben hat, für die Besiedelung des Landes, seine politische Struktur, sein Verfassungsund Rechtswesen getan haben. Als die Hohenzollern mit der Mark belehnt wurden und zur brandenburgischen Kurwürde gelangten, haben sie im Werke der Askanier die Voraussetzung dafür gefunden, daß von ihnen der brandenburgisch-preußische Staat hat geschaffen werden können. Fontane hat die Leistungen der Askanier nicht verkannt. Im 12. Kapitel seines Romanes „Cécile" wird die Heldin des Romanes bei dem im 19. Jahrhundert unter Nichthistorikern wohl weit verbreiteten Irrtum ertappt, daß die Mark Brandenburg eine Schöpfung des Hauses Hohenzollern gewesen sei. Cécile kommt mit ihrem Gesprächspartner, einem „Privatgelehrten", auf die deutsche Kaisergeschichte zu sprechen und vernimmt von diesem die Auffassung, „daß der Gang unserer Geschichte nicht der war, der er hätte sein sollen"; dies aber deswegen, weil das Herrschergeschlecht, das den Schwerpunkt deutscher Nation nach Nordosten, d. h. in die Lande zwischen Elbe und Oder verlegt hätte, allzu früh erloschen sei. Mit diesem Herrschergeschlecht aber meint der Gelehrte dasjenige, „das in bereits vorhohenzollernscher Zeit das Land zwischen Oder und Elbe beherrschte, seitdem aber in begreiflich undankbarer Weise vergessen oder doch beiseite gestellt wurde: das Gesdilecht der Askanier". Um diese Meinung zu begründen, erklärt der Gelehrte: „Haben wir dodi als einziges Denkmal und Erinnerungszeichen an diese ruhmreiche Familie nidits als den Askanischen Platz" (in Berlin), „eine mittelmäßige Lokalität, die täglich viele Tausende passieren, ohne mit dem Namen derselben aucli nur die geringste Vorstellung zu verknüpfen". Die „Siegesallee" in Berlin, die audi die Askanier auf Denkmälern darstellte, hat zu der Zeit, in der Fontane dieses Gespräch hat stattfinden lassen, noch nicht bestanden. Sie ist erst 1902 durch Kaiser Wilhelm II. geschaffen worden. Die Erinnerung an die Askanier wäre vielleicht lebendiger geblieben, wenn aus askanischer Zeit profane Baudenkmäler erhalten geblieben wären, die mit den askanischen Herrschern in eine unmittel-

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bare Beziehung gebracht werden könnten. Aber gerade daran fehlt es. Die askanischen Fürsten hatten keine festen Residenzen. Sie haben aus militärischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen ständig ihren Aufenthaltsort gewechselt; und so sind aus ihrer Zeit keine Schlösser oder wenigstens Schloßruinen auf uns gekommen, die als askanisch angesprochen werden könnten. So hat denn auch Fontane in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg" der Askanier zu gedenken nur selten einmal einen Anlaß gefunden. Seltsamerweise ist es die Geschichte der Cisterzienser in der Mark, die Fontanes Blick auf die Askanier, und zwar auf Albrecht den Bären lenkt. Zwar würdigt er zutreffend die Leistungen dieses Fürsten, soweit es sich um die Kolonisierung oder, besser gesagt, um die Besiedlung des bis dahin fast ausschließlich von slawischen Stämmen bewohnten Landes zwischen Mittelelbe und Oder handelt. Albrecht hatte naturgemäß das größte Interesse daran, alsbald nach seiner Belehnung mit der Nordmark, vor allem aber nach seiner endgültigen Inbesitznahme der Brandenburg (1157) deutsche Ministerialen, Bürger und vor allem Bauern ins Land zu ziehen. Aber die Niederlassung von Cisterziensermönchen ist — darin irrt Fontane — nicht unter Albrecht dem Bären erfolgt. Albrecht ist nach 1157 nicht mehr in der Mark gewesen, hat die Herrschaft über diese vielmehr seinem Sohn Otto I. überlassen. Nur einmal noch, 1170 ist Albrecht zur Havelberger Domweihe auf märkischem Boden gewesen. 1170 ist Albrecht gestorben. Erst 1180 ist von seinem Nachfolger, Markgraf Otto I., in der Zauche, die Otto einst von dem Hevellerfürsten Pribislaw als Patengeschenk erhalten hatte, das Cisterzienser-Kloster Lehnin gegründet worden. Dem folgte dann 1258/60 die Errichtung des Mönchsklosters Mariensee auf dem Pehlitwerder am Parsteiner See, das 1273 nach Chorin verlegt worden ist. Das von Fontane unter die märkischen Klöster gerechnete Kloster Zinna bei Jüterbog ist keine askanische Gründung gewesen; es verdankt vielmehr seine Entstehung dem Erzbistum Magdeburg, dessen territoriales Herrschaftsgebiet das ganze Land Jüterbog bis Dahme umfaßte. Kloster Zinna ist dann auch lange über die Askanierzeit hinaus samt dem Jüterboger Land erzstiftisch geblieben. Die in der Niederlausitz gelegenen Klöster Dobrilugk und Neuzelle sind ebenfalls keine märkischen Gründungen gewesen. Sie sind erst 1304, als die Niederlausitz an die Markgrafen von Brandenburg fiel, in den Herrschaftsbereich der letzten Askanier gelangt. Auffallend ist, daß Fontane bei seinen das Kloster Chorin betreffenden Erörterungen desjenigen askanischen Fürsten nicht gedenkt, der nachweislich erheblichen Einfluß auf die bauliche Gestaltung des

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Klosters, namentlich auf die Gestaltung der einmalig schönen Westfassade gehabt hat, des Markgrafen Ottos IV. mit dem Pfeil. Nicht, als ob Fontane von Otto I V . nichts gewußt hätte. Aber wenn er von ihm sagt, er sei „ein schöner Herr und sehr ritterlich" gewesen „und liebte die Frauen", so ist das historisch nur teilweise zu belegen. Daß Otto IV. kämpf- und turnierfreudig gewesen ist, daß er Fehden und Kriege mit deutschen und ausländischen Fürsten nie gescheut hat, dafür gibt es zahllose historische Zeugnisse. Aber über seine äußere Erscheinung wissen wir nichts. Die schöne Miniatur in der Heidelberger Manesse-Liederhandschrift, die ihn mit seiner Gemahlin Heilwig in jugendlicher Anmut beim Schachspiel zeigt, kann keinen Anspruch auf Porträtähnlichkeit erheben. Und was Ottos I V . Verhältnis zu den Frauen betrifft, so ist seinen sieben Minneliedern, die ganz der Eigenart dieser Dichtungsgattung entsprechend der „frowe" huldigen, nichts anderes zu entnehmen, als daß Otto I V . in der stereotypen Form und Thematik dieser Dichtung versiert gewesen ist, daß er aber mit diesen Liedern keine biographisch verwertbaren Aussagen über sein Verhältnis zu den Frauen hinterlassen hat. Mit historischer Sicherheit können wir nur über Ottos I V . erste Gemahlin Heilwig einige Aussagen madien. Ihr hat Otto IV., nachdem er 1278 in der Schlacht bei Frohse in die Gefangenschaft seines Magdeburgischen Gegners geraten und sehr unwürdig in Magdeburg in einen Holzkäfig eingesperrt worden war, seine Freilassung zu verdanken. Daß Heilwig dazu aber, wie es bei Fontane heißt, den „Schatz in der Tangermünder Kirche als Lösegeld" verwendet habe, dafür läßt sich den Quellen nichts entnehmen. Die von Riedel im „Novus codex diplomaticus Brandenburgensis" veröffentlichte Magdeburger Schöppenchronik, deren Angaben anzuzweifeln kein Anlaß besteht, berichtet, daß Johann von Buch, der als Ratgeber und Hofrichter im Markgräflichen Dienst gestanden hat, um einen von Markgraf Johann I. in Tangermünde niedergelegten Schatz gewußt hat, der dort in der „gerkamer" in einem „groten beslagenen stok" verwahrt worden ist und Gold und Silber enthalten hat. Aus diesem Schatz sind nach der Magdeburger Schöppenchronik die 4000 Mark Lösegeld entnommen worden, die Heilwig zur Befreiung ihres Gemahls verwendet hat, indem sie mit diesem Gelde, dem Rate Johanns von Buch folgend, die Magdeburger Domherren und Ministerialen bestochen hat. Fontanes Urteil über die Baulichkeiten Chorins ist bestimmt durch die ganz gefühlsbetonte Suche des Wanderers durch die Mark Brandenburg nach Eindrücken, die seinen romantischen Schönheitssinn zu befriedigen geeignet seien. Das ist für sein Urteil über Chorin maßgebend. Zwar bezeichnet er Chorin als „baulich schöne Ruine". Aber er vermißt an ihr „das eigentlich Malerische"; denn, so fährt er fort:

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„Ruinen, wenn sie nicht bloß, als nähme man ein Inventarium auf, nach Pfeiler- und Fensterzahl beschrieben werden sollen, müssen zugleich ein Landschafts- oder auch ein Genrebild sein. In einem oder im anderen, am besten in der Zusammenwirkung beider wurzelt ihre Poesie. Chorin aber hat wenig oder nichts von allem; es gibt sich fast ausschließlich als Architekturbild. " Aber mit der Kategorie „Landschaftsbild" oder gar „Genrebild" wird kein heutiger Kunstbetrachter an ein historisches Baudenkmal von der Art Chorins herantreten. Wir würdigen heute Chorin, insbesondere im Hinblick auf seine Westfassade, als Höchstleistung der Cisterziensischen Bauhütte, die schon auf dem Harlunger Berg in der Marienkirche ein Meisterwerk vollbracht und in der Lehniner Westfassade ein erstaunliches Können bewiesen hat. Dehio und Schmoll, gen. Eisenwerth sehen in Chorin eine von dem herkömmlichen Schema der Cisterzienserfassaden völlig abweichende Leistung. Daß diese dem unmittelbaren Einfluß des Markgrafen Ottos IV. mit dem Pfeil zu danken ist, legt Schmoll gen. Eisenwerth überzeugend dar: „Zu seiner Gestalt, seinem Auftreten paßt der Gedanke des Choriner Westbaues, der Fürstensaal, die Fürstenempore, die strahlende Fassade; wir dürfen in ihm den eifrigsten Förderer des großen Bauvorhabens sehen und den Westbaugedanken seinem Einfluß zuschreiben." Sollte uns dieses Schöne, dieses Einmalige an Hoheit und Anmut nicht genügen dürfen, um zu Chorin sowohl das rechte historische wie auch das rechte ästhetische Verhältnis zu gewinnen? Der Romantiker Fontane hat darüber anders gedacht. Ihm fehlt beim Beitreten der „öden und doch wiederum nidit malerisch zerfallenden Innenräume eines mehr als das andere. Wer immer auch unser Führer sein mag, und wäre es der beste, wir vermissen die stille Führerschaft von Sage und Geschichte. Alles läßt uns im Stich, und wir schreiten auf dem harten Schuttboden hin wie auf einer Tenne, über die der Wind fegte: Alles leer." Aber gerade wenn wir historisch denken, wenn wir uns der Führerschaft der Geschichte überlassen, erscheint uns Heutigen Chorin in anderem Licht. Wir sehen in Chorin die großartige Kulturleistung, die uns beweist, daß das askanisdie Fürstentum für das von ihm dem Deutschtum gewonnene Gebiet zwischen Elbe und Oder nicht nur eine bedeutende wirtschaftliche Entwicklung gebracht, daß es in diesem bisher rein slawischen Raum, dessen eigene kulturelle Bedeutung wir nicht unterschätzen wollen, nicht nur die Germanisierung durchgeführt, daß es vielmehr das Wesen abendländischer Kultur, wie sie im Altreich bis hin nach Magdeburg Gestalt gewonnen hatte, nun auch dem „größeren Deutschland" jenseits der Elbe bis zur Oder vermittelt hat. So hat sich die Mark Brandenburg unter den Aska-

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niern zu einem territorialstaatlichen Gebilde entwickeln können, in dem deutsche Kultur und mit ihr, von den ritterlichen, bürgerlichen und bäuerlichen Siedlern aus dem Altreich eingeführt, deutsches Recht, nämlich das Magdeburger Recht (jus teutonicum) zur Geltung hat gelangen können. Durch die zwischen den deutschen Siedlern und den slawischen Ureinwohnern vollzogene Blutmischung aber ist ein in seinem Wesen eigenartiges, für die politische und kulturelle Entwicklung vorteilhaftes Kolonistengeschlecht entstanden. Auf dieser politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leistung der Askanier, die die Kraft hatte, die Stürme des 14. Jahrhunderts zu überdauern, haben die Hohenzollern den brandenburgisch-preußischen Staat errichten können. Durfte Fontane im Jahre 1884 — damals mit einem gewissen Redit — darüber klagen, daß die Leistung der Askanier nicht die ihr gebührende Würdigung finde, die heutige Geschichtsforschung trifft dieser Vorwurf nicht mehr. Mag sie von der Politik des alten deutschen Reiches oder von den territorialstaatlichen Bildungen ausgehen, das Land zwischen Elbe und Oder und damit das Werk der Askanier finden allenthalben gebührende Würdigung. Die mit dem Zusammenbruch von 1945 und mit der vollständigen Veränderung der politischen Verhältnisse in Mitteleuropa geschaffene Situation darf nicht die Folge haben, daß die Geschichtswissenschaft, die sich auch heute noch mit der Mark Brandenburg und mit dem Wirken der Askanier befaßt, durch eine antagonistische Einstellung gegenüber den politischen Mächten belastet wird, die heute in dem einst von den Askaniern beherrschten Raum zur politischen Herrschaft gelangt sind. Aber die deutsche Geschichtswissenschaft hat auch keinen Anlaß, das Werk der Askanier zu ignorieren, weil in dem Raum, in dem sich das politische Wirken der Askanier vollzogen hat, heute Mächte herrschen, die zu den Askaniern in keinem Kontinuitätsverhältnis stehen. Fontanes Wort, daß das Geschlecht der Askanier „in unbegreiflich undankbarer Weise vergessen oder doch beiseite gestellt" sei, sollte durch weitere Vertiefung unserer auf die Askanierzeit bezogenen Forschung, der noch viel zu klären übrig geblieben ist, ständig von neuem widerlegt werden.

Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze im Vergleich mit der österreichischen Regierungsvorlage 1971* H A N S - H E I N R I C H JESCHECK

„Es möchte so liegen, daß die Entwicklung des Strafrechts über das Strafrecht einstmals hinwegschreitet und die Verbesserung des Strafrechts nicht in ein besseres Strafrecht ausmünden wird, sondern in ein Besserungs- und Bewahrungsrecht, das besser als Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht wäre", so lautet eine bekannte Zukunftsvision Gustav Radbruchs, die genau 40 Jahre alt ist1. Heute ist die Erneuerung des Strafrechts in aller Munde, und wenn in dieses Thema auch manche Vorurteile, Verunglimpfungen und Vereinfachungen mit einfließen, sollte sich der Jurist durch diese Publizität, so unlieb sie ihm sein mag, nicht aus der Fassung bringen lassen, denn das öffentliche Interesse an seinem Sachgebiet verweist ihn nur immer wieder auf die ohnehin gestellte Aufgabe: jederzeit zu prüfen, auf welchem Wege die Reform des Strafrechts in Zukunft weiterzuführen ist. Daß die Kriminalpolitik freilich nicht „Hebel für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse" sein kann, wie sie es in der ersten Phase der gewaltsamen Umbildung des bürgerlichen Rechtsstaats in der DDR gewesen ist2, steht in einem freiheitlichen Gemeinwesen außer Frage, denn ein liberales Strafrecht hat immer nur bestehende und anerkannte Werte zu schützen, aber es darf nicht zur Erreichung politischer Ziele mißbraucht werden, für die es keine demokratische Legitimation gibt. Selbst wenn man aber den Neubau des Strafrechts nicht im Sinne des Umsturzes, sondern als die Sache einer Entwicklung versteht, bleibt es die Aufgabe der Kriminalpolitik, das Strafrecht in Übereinstimmung mit den großen Wandlungen des gesellschaftlichen Bewußtseins zu halten. Daran wird zur

* Nach einem Vortrag, den der Verfasser aus Anlaß der Jubiläumsfeier der Universität Salzburg am 9. November 1972 vor der Rechts- und Staatswissensdiaftlichen Fakultät gehalten hat. 1 Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1932, S. 269. * Vgl. Jescheck, Lehrb. des Strafrechts AT, 2. Aufl., 1972, S. 67.

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Zeit in vielen Ländern gearbeitet 3 . Ein Teil der die ganze Welt umspannenden Bewegung der Liberalisierung und Humanisierung des Strafredits ist audi die Reform in Deutschland und österreidi.

I. 1.

Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Erneuerung des Strafrechts4, und mir scheint es unerläßlich, sich ohne fachspezifische Empfindlichkeit auch die radikalere Lösung stets vor Augen zu halten, mit der zugleich die Existenzfrage des Strafrechts gestellt wird. Man kann in der Tat mit Radbruch daran denken, das Strafrecht „durch etwas Besseres" — etwa im Sinne eines Sozialverwaltungsrechts, einer Sozialpädagogik oder einer Sozialpsychiatrie — zu ersetzen. In diese Richtung tendieren gewisse Veränderungsstrategien in der neuesten Kriminalsoziologie oder — richtiger gesagt — sie würden in die Richtung der Abschaffung des Strafrechts gehen, wenn man die kriminalpolitischen Sdilußfolgerungen aus den theoretischen Ansätzen schon gezogen hätte. So lehrt etwa Fritz Sack5, daß die Kriminalität nicht wie nach der offiziellen Lesart auf eine Minderheit beschränkt, sondern in Wirklichkeit allgegenwärtig sei, und daß zwischen den „registrierten" Kriminellen und der „Normalbevölkerung" gar kein spezifischer Unterschied bestehe. Die Eigenschaft der Kriminalität werde den sozial benachteiligten Schichten im Wege der „Selektion" durch die eingeschliffenen Mechanismen der Klassengesetzgebung und Klassenjustiz gewissermaßen „zugesdirieben" (labeling approach). Ohne Frage müßte gegenüber einer dergestalt ubiquitären Kriminalität ein Strafrecht, das auf den Anspruch sittlicher Überlegenheit gegründet ist, das einen öffentlichen Tadel gegen den Täter erheben zu dürfen glaubt und diesen an die sozialen Leitbilder der Mehrheit anpassen möchte, seinen Sinn verlieren. Viel mehr als ein auf reine Normdurch3 Vgl. den Uberblick bei Jescheck, Strafen und Maßregeln des Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika, Heinitz-Festschrift, 1972, S. 717 f. Über die Pläne in der Schweiz vgl. Schultz, Notwendigkeit und Aufgaben der dritten Teilrevision des schweizerischen StrGB, SchwZStr 88 (1972), S. 225 ff. 4 Vgl. Günther Kaiser, Entwicklungstendenzen des Strafrechts, Maurach-Festschrift, 1972, S. 27. 5 Vgl. etwa Neue Perspektiven in der Kriminalsoziologie, in: F. Sack und R. König, Kriminalsoziologie, 1968, S. 472; Probleme der Kriminalsoziologie, in: R. König, Handbuch der empirischen Sozialforsdiung, Bd. II, 1969, S. 1012; Selektion und Kriminalität, Kritische Justiz 1971, 397 ff.; Definition von Kriminalität als politisches Handeln: der labeling approach, Kriminologisches Journal 1972, 24 ff.

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setzung abgestelltes Ordnungs- und Zwangsrecht, das gerade noch das Uberleben der Gesellschaft zu sichern vermöchte, würde, wenn alle Bürger mehr oder weniger gleich kriminell wären, nicht möglich sein. In gleicher Weise muß auch die psychoanalytische Kriminologie Tilman Mosers6 in ihren genau gegenläufigen Thesen zur Abschaffung des Strafrechts führen. Wenn die Kriminalität nämlich, wie von dieser Seite gelehrt wird, wesentlich durch den „sozialstrukturellen Drude auf die Sozialisationsfähigkeit der Familie und die Kumulation seelisch gestörter Menschen in der Unterschicht" verursacht wird und sich wissenschaftlich als „verzweifelte, anarchistische und destruktive Weise der Umkehr erlebter Ablehnung und Feindseligkeit gegen die Gesellschaft" verstehen läßt, so erscheint ein Schuldstrafrecht in der Tat als bare Heuchelei. Statt dessen müßte — so Moser — vor allem daran gedacht werden, die auf dem Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 u. 3 GG) aufgebaute elterliche Gewalt 7 durch eine breite Eingriffskompetenz der öffentlichen Hand entscheidend zu schmälern, um in erster Linie den Staat zum Träger und Gestalter der Kindererziehung zu machen. 2. Die Thesen von Sack und Moser darf man nicht ohne weiteres in das Reich der politischen Ideologie verweisen. Die marxistische und psychoanalytische Kriminologie enthält vielmehr einige durchaus zutreffende Beobachtungen, die auch das Strafrecht herkömmlicher Provenienz ernstnehmen muß 8 . Was das Gesamtbild jedoch in irritierender Weise verzeichnet, ist die Einseitigkeit des Ansatzes, der entgegenstehende Beobachtungen ignoriert, auch wo sie auf der Hand liegen9. Die Ubiquität, jedenfalls der schwereren Kriminalität, müßte erst noch empirisch nachgewiesen werden, ehe man darauf bauen kann. Vorläufig ist das Problem bei den Erwachsenen vollständig unerforscht, und bei den Jugendlichen gibt es zwar Anhaltspunkte, aber doch nur für eine breite Streuung der leichteren Kriminalität im frühen Alter 10 . Eine schichtspezifische Selektion Verdächtiger erscheint β Vgl. etwa Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, 1971, S. 346 ff.; Psychoanalytische Kriminologie, Kritische Justiz 1970, 399 ff. 7 Vgl. dazu Gernhuber, Lehrbuch des Familienrechts, 2. Aufl., 1971, S. 34 ff. 8 Vgl. zu Teilaspekten Göppinger, Kriminologie, 1971, S. 175 ff.; Günther Kaiser, Kriminologie, 1971, S. 4 f., 22. f.; derselbe, Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1972, S. 61 ff. * Vgl. hierzu Leferenz, Literaturbericht Kriminologie, Teil I, ZStW 84 (1972), 958 ff. 10 Vgl. Sveri, Skandinavische Kriminologie, Kriminologische Gegenwartsfragen, 1970, H e f t 9, S. 17 ff. Über die Unzuverlässigkeit der gegenwärtigen Methoden zur Untersuchung des Dunkelfeldes vgl. McClintock, The Dark Figure, in: Collected Studies in Criminological Research, 1970, Vol. V, S. 29.

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zwar beim nächtlichen Streifendienst der Sdiutzpolizei bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich11, aber — jedenfalls in Deutschland — bei der Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei und erst redit in der Praxis der Staatsanwaltschaft in größeren Strafsachen ausgeschlossen. Ebenso ist die ausschließliche Erklärung der Kriminalität aus Sozialisationsdefekten einer durch das Unterschichtsmilieu belasteten Kindheit nicht ausreichend; sie muß schon an einem so verbreiteten Phänomen wie der Wirtschaftskriminalität scheitern12. Aber selbst wenn man den Hypothesen von Sack und Moser mehr abzugewinnen vermöchte als Teilaspekte der Kriminalität, so ist dodi ein daraus resultierendes geschlossenes System der sozialen Kontrolle, das an die Stelle des Strafrechts treten könnte, bisher nodi niemals entworfen worden. Das, was „besser als das Strafrecht" sein soll, ist also vorläufig gar nicht sichtbar, und ob es, wenn es sichtbar wäre, wirklich „sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht" sein würde, bleibt mehr als zweifelhaft. Was zunächst die „Klugheit" angeht, so erinnert der als Quintessenz von Sack zitierte Ausspruch Robert Maclvers „The only cause of crime is the law itself" 13 jedenfalls mehr an Fritz Reuters Wort „Die Armut kommt von der Powerteh" als an eine ernst zu nehmende Analyse des Verbrediens, da natürlich in jedem System sozialer Kontrolle der Normbruch von den bestehenden Normen bestimmt wird. Aber auch über die „Menschlichkeit" der bei Moser angedeuteten „Absicht eines frühen Eingriffs in die Entfaltungschancen des Kindes" 14 kann man geteilter Meinung sein, von ihrer pädagogischen Vernünftigkeit und der Frage ihrer Vereinbarkeit mit der Verfassung ganz zu schweigen. 3. Idi wende mich deshalb der zweiten Möglichkeit der Erneuerung des Strafrechts zu, die in der herkömmlichen Bahn der systemimmanenten Reform verbleibt 15 . Sowohl die Bundesrepublik als auch Österreich sind diesen Weg gegangen. Beide Länder haben in der seit fast 20 Jahren andauernden Entwurfsarbeit manche ideologischen Beden11 Vgl. Hood-Sparks, Kriminalität (deutsche Übersetzung von „Key Issues in Criminology"), 1970, S. 74 ff.; Feest, Die Situation des Verdachts, in: Feest-Lautmann, Die Polizei, 1971, S. 71 ff.; Feest-Blankenburg, Die Definitionsmacht der Polizei, 1972, S. 35 ff., 114 ff. 12 Vgl. Lange, Das Rätsel Kriminalität, 1970, S. 139 f. 13 Kritische Justiz 1971, 400. 14 Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, S. 351. 15 Auch Günther Kaiser, Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle, S. 20 kommt zu dem Ergebnis, „daß das Sozialisationskonzept die Verantwortlichkeit, Strafe, Straffunktion und das Strafrecht ebensowenig in Frage stellt wie die Sozialkontrolle".

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ken abgestreift und neue Wege beschritten, die sie mittlerweile an die Spitze der internationalen Reformbewegung geführt haben, doch hat keines den Boden des traditionellen Strafrechts bisher verlassen. Das kriminalpolitische Erneuerungswerk in der Bundesrepublik hat durch die vorzeitige Auflösung des Bundestags vorübergehend einen Rückschlag erlitten, der freilich in einem erheblichen Zeitverlust bestehen dürfte. Das erste Strafrechtsreformgesetz vom 25. 6.1969 (BGBl. I S. 645) ist zwar in K r a f t getreten und hat vor allem die Einheitsfreiheitsstrafe, die Einschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe und den Ausbau der Strafaussetzung zur Bewährung gebracht. Aber das Inkrafttreten des zweiten Strafrechtsreformgesetzes vom 4. 7. 1969 (BGBl. I S. 717), das die Neufassung des Allgemeinen Teils zum A b schluß bringen sollte, wird sich verzögern. Dieses Gesetz sollte ursprünglich am 1.10.1973 wirksam werden. In dem noch von der gegenwärtigen Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Einführungsgesetzes zum neuen Allgemeinen Teil war aber bereits der 1.1.1974 als Zeitpunkt des Inkrafttretens vorgesehen (Art. 17 I I I ) . Jetzt rechnet man frühestens mit dem 1.1.1975, da sowohl das Einführungsgesetz als auch das Strafvollzugsgesetz, ohne die der zukünftige Allgemeine Teil nicht in K r a f t treten kann, von der neuen Bundesregierung erneut beschlossen und von den Gesetzgebungsorganen beraten werden müssen. Die österreichische Strafrechtsreform, die bisher zeitlich etwas zurücklag, hat durch diese Verzögerung mit der deutschen gleichgezogen und sogar einen Vorsprung gewonnen, wenn man bedenkt, daß die Regierungsvorlage vom 16.11.1971 einen Besonderen Teil enthält, während es in der Bundesrepublik einen in sich geschlossenen Entwurf seit dem weithin überholten E 1962 nicht mehr gibt, sondern nur Entwürfe für Teilgebiete, so für die Straftaten gegen die Person (Alternativentwurf - A E ) , für die Sittlichkeitsdelikte (E/4. StrRG) und für das Abtreibungsstrafrecht (E/5. StrRG), die im neuen Bundestag nicht weniger umstritten sein werden als im alten. Während man also in Österreich mit dem Abschluß der Strafrechtsreform in der gegenwärtigen Legislaturperiode bis November 1975 rechnen kann, wird in Deutschland bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls der Allgemeine Teil mit dem Einführungs- und Strafvollzugsgesetz fixiert sein und der Besondere Teil vielleicht ein klareres Bild zeigen.

II. In meinem Wiener Vortrag „Strafrecht im Wandel" 1 6 habe idi vor zwei Jahren einen Gesamtüberblick über die ersten drei deutschen m ÖJZ 1971,1 ff.

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Strafrechtsreformgesetze gegeben, ohne dabei näher auf das österreichische Recht einzugehen. Damals war die Entwicklung, die zur Abkehr von dem österreichischen Entwurf 196817 führen mußte, zwar voraussehbar, aber noch nicht eingetreten. Heute steht die Regierungsvorlage 1971 (RV 1971)18 fest und wird bereits seit einem halben Jahr im Unteraussdhuß des Justizausschusses beraten. Deswegen möchte ich diesmal den Schwerpunkt auf die Rechtsvergleichung legen und dabei die Kriminalpolitik der beiden Länder einander gegenüberstellen, wie sie sich in dem System der Strafen und Maßregeln äußert. Damit eröffnet sich die Chance, nidit nur die Gemeinsamkeiten, sondern vor allem die Unterschiede der beiden Reformwerke zu betrachten, die bei der bestehenden Reditsverwandtschaft für beide Seiten besonders lehrreich sind. Ich beginne mit den Grundlagen des Sanktionensystems. 1. Die österreichische RV 1971 bekennt sich ausdrücklich, eindeutig und an hervorragender Stelle zum Schuldprinzip. Im § 4 heißt es: „Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt." Eine entsprechende Bestimmung kennt der deutsche Allgemeine Teil nicht, erwähnt ist dort die Schuld nur als Grundlage der Strafzumessung (§13 Abs. 1 S. 1; § 46 Abs. 1 S. 1 n. F.), was in § 32 Abs. 1 RV 1971 zusätzlich geschieht. Das Schuldprinzip gewinnt erst in dieser Form die ihm zukommende selbständige Stellung als Zentralbegriff des Strafrechts, es wird, wie es Roeder schön gesagt hat, zur „Sonne des Strafrechtssystems"19. Gemeint ist damit, daß das Strafrecht den zurechnungsfähigen Menschen für seine Handlungen verantwortlich macht und nicht nur seine Gefährlichkeit als potentieller Rechtsbrecher mißt. „Diese Verantwortlichkeit ist die Grundlage der Bestrafung 20 ." Die Schuld ist im österreichischen Entwurf also nicht bloß die Obergrenze für die Strafzumessung wie in den §§ 2 Abs. 2, 59 Abs. 1 S. 1 des deutschen AE, sondern sie ist Obergrenze und Rechtsgrund der Strafe. Der selbständige Ausspruch des Schuldprinzips in § 4 RV 1971 macht es ferner möglich, Verbotsirrtum (§ 9 RV), Notstand (§10 RV) und Zurechnungsunfähigkeit (§11 RV) als Schuldausschließungsgründe systematisch darauf zu beziehen, während die entsprechenden Bestim17 Regierungsvorlage eines Strafgesetzbuches samt erläuternden Bemerkungen, Wien 1968. 18 Regierungsvorlage für ein Bundesgesetz über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch — StGB) v. 1 6 . 1 1 . 1 9 7 1 , 30 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrats XIII. GP. Der Allgemeine Teil des österreichischen Strafgesetzentwurfs, 1965, S. 5. M RV 1971, Begründung S. 64.

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mungen des deutschen Allgemeinen Teils im Gesetzestext keinen sichtbaren Bezugspunkt besitzen. Bemerkenswert ist ferner die Tatsache, daß der österreichische Entwurf im Gegensatz zu seinen Vorgängern die Schuld nicht mehr durch Vorsatz und Fahrlässigkeit definiert, sondern diese Definitionen, an denen es im deutschen Recht ebenfalls fehlt, besonderen Vorschriften vorbehält (§§ 5, 6 RV 1971). Auf diese Weise wird es möglich, Vorsatz und Fahrlässigkeit eine Doppelstellung im Unrecht und in der Schuld zuzuweisen21. Endlich zeigt die Strafzumessungsvorschrift des § 32 Abs. 2 RV im Zusammenhang mit der Notstandsbestimmung (§ 10 Abs. 1 RV) eine gewisse Objektivierung und Formalisierung des Schuldmaßstabs durch die von Nowakowski geprägte Formel22 von dem „mit den geschützten Werten verbundenen Menschen", während das deutsche Recht die Frage nach dem Schuldmaßstab offen läßt. 2.

Ein Bekenntnis zu einer bestimmten Straftheorie enthalten die beiden deutschen Strafrechtsreformgesetze nicht. Immerhin ergibt die dem § 60 Abs. 1 E 1962 entnommene Strafzumessungsregel des § 13 Abs. 1 S. 1 (§ 46 Abs. 1 S. 1 n. F.) „die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe", daß die Strafe weder nur als Mittel der Resozialisierung des Täters noch allein als Mittel der Generalprävention gedacht ist, sondern daß der Täter durch die Strafe immer auch die verdiente Mißbilligung des von ihm schuldhaft begangenen Unrechts von Seiten der Rechtsgemeinschaft erfahren soll. Zugleich zeigt aber die neue Vorschrift des § 13 Abs. 1 S. 2 (§ 46 Abs. 1 S. 2 n. F.) „die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen", daß der Richter bei der Strafzumessung die präventive Dimension der Strafe neben ihrer sozialethischen Funktion gleichwertig im Auge zu behalten hat. Die Antinomie der beiden Strafzumessungsgesichtspunkte, die im Einzelfall auftreten kann, ist im Gesetz selbst nicht gelöst, die Begründung hält es jedoch in bestimmten Fällen für gerechtfertigt, „eine gewisse Abweichung vom Schuldmaß 2 1 So für den Vorsatz zuerst Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 56, für die Fahrlässigkeit zuerst Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, 1961, S. 11. Zum gegenwärtigen Stand vgl. Jescheck, Lehrb., S. 183, 322, 426 f. mit weiteren Nachweisen. Uber die Neuorientierung der österreichischen Dogmatik in diesem Sinne vgl. Kienapfel, Zur gegenwärtigen Situation der Strafrechtsdogmatik in Österreich, J Z 1972, 573 ff. 2 2 Das Ausmaß der Schuld, SchwZStr 65 (1950), S. 310 ff.; Das österreichische Strafrecht in seinen Grundzügen, 1955, S. 67; Probleme der Strafrechtsdogmatik, JBl 1972, 29.

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zu ermöglichen", solange die Strafe damit nicht aufhört, „gerechter Ausgleich für die Schuld und damit in ihrem Kern Schuldstrafe zu sein" 23 . Dieses an der Vereinigungstheorie orientierte Ergebnis der Beratungen des Bundestagsausschusses war nicht unumstritten. Eine Minderheit wollte den § 13 Abs. 1 durch die Bestimmung des Alternativentwurfs ersetzen, daß die Strafe das Maß der Tatschuld nicht überschreiten dürfe (§§ 2 Abs. 2, 59 Abs. 1 AE). So sehr eine solche Fixierung der Strafobergrenze an sich zu begrüßen gewesen wäre, um jede Überschreitung des der Schuld entsprechenden Strafmaßes auszuschließen24, so sehr hätte doch eine solche Vorschrift ohne das Gegengewicht der Grundlagenformel zu dem Mißverständnis führen können, auch der Sinn der Strafe müsse nunmehr nach dem Alternativentwurf (§ 2 Abs. 1) verstanden werden. Dort heißt es aber: „Strafen und Maßregeln dienen dem Schutz der Rechtsgüter und der Wiedereingliederung des Täters in die Reditsgemeinschaft." Danach ist die Strafe also nicht mehr ein Werturteil über Tat und Täter und bedeutet auch keine verdiente Mißbilligung des verschuldeten Unrechts. Die Strafe ist vielmehr ebenso wie die Maßregel ein bloßes Präventionsmittel, das sich nur dadurch von der Maßregel unterscheidet, daß hier die Schuld, dort das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Obergrenze bildet. Dieser Entwicklung auf der Strafrechtslehrertagung in Münster 1968 entgegengetreten zu sein, ist ein bleibendes Verdienst von Gallas, der dort die das Wertprinzip mit der Präventionsfunktion verbindende Straftheorie mit durchschlagender Wirkung formuliert hat: „Der Sinn der Strafe wird nicht durch das mit ihrer Anwendung angestrebte Präventionsziel, sondern durch den Gedanken bestimmt, daß mit ihr der Täter die verdiente mißbilligende Antwort der Rechtsgemeinschaft auf das von ihm begangene schuldhafte Unrecht erfährt und dadurch die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung und die Verantwortlichkeit des Täters für ihre Verletzung demonstriert werden. Innerhalb einer säkularisierten und freiheitlichen Gesellschaft ist jedodi die Androhung und Verhängung der Strafe nicht sdion durch diesen ihren Sinn oder immanenten Zweck legitimiert, kann es nicht ihre Aufgabe sein, Schuldausgleich und Gerechtigkeit um ihrer selbst willen zu üben. Ihr Einsatz als staatliche Reaktion auf das Verbrechen wäre vielmehr erst dann gerechtfertigt, wenn sie sich gerade in ihrer Eigenart als schuldangemessene Antwort auf den Rechtsbruch zugleich als ein wirksames und für den Rechtsschutz unentbehrliches Mittel der Prävention erwiese. Daß dies aber der Fall ist, läßt sich schwerlich bestreiten 26 ." 25 Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Drucksache V/4094, S. 5. 24 Die Zulässigkeit einer solchen Überschreitung aus spezialpräventiven Gründen wird im Ersten Schriftlichen Bericht S. 5 angedeutet und von Dreher, StGB, 33. Aufl., 1972, § 13 Anm. 3 Β c und Horstkotte, Die Vorschriften des 1. StrRG über die Strafbemessung, JZ 1970, 124, akzeptiert. 25 Gallas, Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80 (1968), 3.

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Eine generalpräventive Wirksamkeit der Strafe wird nämlich nur dann zu erwarten sein, wenn die Strafe Wertmaßstäbe verdeutlicht, an denen sich die Gesamtheit zu orientieren vermag. Die reine Präventionsstrafe erzieht vielleicht zur Vorsicht, nicht aber zur Rechtstreue. Auch die Spezialprävention setzt bei richtigem Verständnis voraus, daß die Strafe den Täter als selbstverantwortliches Wesen anspricht, weil sie nur auf diese Weise zu einer von rechtlichen Motiven geleiteten Selbstbestimmung hinführen kann. Im Sinne dieser Straftheorie hat der Bundesgerichtshof das neue Redit inzwischen in mehreren Entscheidungen ausgelegt. So wurde die durch das Präventionsziel zugleich legitimierte und relativierte Schuldstrafe durch den programmatischen Satz charakterisiert: „Dem 1. Strafrechtsreformgesetz liegt der Gedanke zugrunde, daß die Strafe nicht die Aufgabe hat, Schuldausgleich um seiner selbst willen zu üben, sondern nur gerechtfertigt ist, wenn sie sich zugleich als notwendiges Mittel zur Erfüllung der präventiven Schutzaufgabe des Strafrechts erweist" (BGHSt. 24, 40 [42]).

In diesen Grenzen bleibt aber die Aufgabe der Strafe im Unterschied zur Maßregel stets der Schuldausgleich: „Grundlage für die Zumessung der Strafe unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Funktionen ist die Schuld des Täters. Von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich darf sich die Strafe weder nach oben noch nach unten inhaltlich lösen" (BGHSt. 24, 132 [133 f.]).

Die Strafe erfährt ihre Legitimation zwar aus dem Präventionszweck, sie darf aber nicht über die durch das Schuldprinzip gesetzte obere Grenze hinausgehen: „Der Präventionszweck darf nicht dazu führen, die gerechte 2 · Strafe zu überschreiten" (BGH 20, 263 [267]).

Auch die österreichische RV 1971 versteht sich als Ausdruck einer den Schuldausgleich mit der Prävention verbindenden Straftheorie. Der vorgeschlagene Gesetzestext enthält zwar ebensowenig wie der deutsche eine ausdrückliche Aussage über Wesen und Zweck der Strafe, die Begründung leitet jedoch aus dem Bekenntnis zur Zweispurigkeit mit Recht die Folgerung ab, „daß die Strafe nicht nur als Mittel zur Resozialisierung des Täters gedadit ist" 27 . „Das Strafrecht soll auch" — so fährt die Begründung fort — „auf die Werthaltung der Allgemeinheit einwirken, die Unwertbedeutung des strafbaren Verhaltens herausstellen und auf diesem Wege dazu beitragen, daß solche Taten unterbleiben." Diese gemäßigt fortschrittliche Position, der sich der österreichische Entwurf damit verschreibt, könnte auch eine Basis der Verständigung für die Wissenschaft abgeben. Die kon26

Die gerechte Strafe wird auf S. 266 als „schuldangemessene Strafe" definiert. " RV 1971, Begründung S. 55.

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servative Richtung, wie sie etwa durch Graßberger28, Roeder29 und Seiler30 repräsentiert wird, sieht sich darin bestätigt, daß die Schuld nicht nur die Grenze, sondern auch den Grund der Strafe bildet. Nowakowski31 hält zwar den Ubergang vom Schuldstrafrecht zum Maßnahmenrecht selbst in der freiheitlichen Demokratie prinzipiell für möglich, doch ist ihm die in der Strafe liegende Unwertaussage und der Schutz, den das Schuldprinzip dem Täter gewährt, so wichtig, daß er die Schuldstrafe audi in einem zukünftigen Sanktionssystem nicht preisgeben will. Ebenso hält auch Bertel32 an der sittenbildenden Funktion der Strafe fest und stellt doch den Vollzug mit Recht „ganz in den Dienst der Resozialisierung". Endlich müßte sogar Danner33 zu dieser mittleren Linie finden können, da die Schuldstrafe, insoweit sie eine sozialethische Mißbilligung der Tat ausdrückt, von der Determinismusfrage im Grunde unabhängig ist und auch nichts mit „Aggressivität und Überheblichkeit" zu tun hat, sondern einfach die Differenz zwischen Recht und Unrecht und die Verantwortung des Täters dafür sichtbar macht. 3. Für das deutsche Recht ist die Zweispurigkeit nichts Neues 34 . Die nach der Tatschuld bemessene Strafe kann der vorbeugenden Aufgabe des Strafrechts nicht immer gerecht werden, denn vielfach werden Art und Dauer der Strafe nicht ausreichen, um den Präventionserfolg zu ermöglichen, vielfach wird es auch im Strafvollzug an den nötigen Einrichtungen fehlen, um schweren Sozialisationsdefekten begegnen zu können. Das neue Recht hat deshalb an der Zweispurigkeit festgehalten. Beseitigt wurde im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 42 a Abs. 2) das Arbeitshaus, abgeschafft wurde die dem Schuldprinzip widersprechende Strafschärfung gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher (§ 20 a a. F.), angehoben wurden aus rechtsstaatlichen Gründen die Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung (§ 42 e). Das zukünftige Recht sieht als neue Maßregeln die sozialtherapeutische Anstalt (§ 65 n. F.) und die Führungsaufsidit (§§ 68 ff. n. F.) vor, ordnet grundsätzlich — abgesehen von der Sicherungsver28

Die Strafe, ÖJZ 1961, 169 ff. Der Allgemeine Teil des österreichischen Strafgesetzentwurfes, 1965, S. 51. 30 Neue Were in der Strafrechtsreform, JB1. 1969, 114 f. 31 Vom Schuld- zum Maßnahmenrecht, Kriminologische Gegenwartsfragen, 1972, H e f t 10, S. 16 f. 52 Der Strafvollzug in Stufen und in gelockerter Form im Strafvollzugsgesetz, JB1.1971, 493. 35 Tatvergeltung oder Taterziehung, 2. Aufl., 1972, S. 67 ff. 34 Vgl. Jescheck, Lehrb., S. 59 ff., 75. 29

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wahrung — den Vollzug der Maßregel vor der Freiheitsstrafe an (§ 67 n. F.) und führt die Aussetzung der Maßregeln zur Bewährung ein (SS 67 b ff. n. F.). Österreich hat bisher im Unterschied zu Deutschland und der Schweiz das System der Zweispurigkeit vernachlässigt. Abgesehen von dem im Jahre 1932 eingeführten Arbeitshaus und der kaum praktischen Polizeiaufsicht kennt es nur die Strafe. Die Regierungsvorlage macht nunmehr den Ausbau der mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen zu einem Schwerpunkt der Reform?5. Drei neue Maßnahmen sind vorgesehen: die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher (S 21 RV), die Unterbringung in einer Entwöhnungsanstalt (S 22 R V ) und die Sicherungsverwahrung (S 23 R V ) . Dagegen wird das Arbeitshaus wie in Deutschland wegfallen, da es für die Kleinkriminalität zu schwer ist und die Kriminalität der wirklich gefährlichen Täter durch die neuen Maßnahmen erfaßt werden soll36. Vier Maßnahmen des deutschen Redits fehlen im österreichischen Entwurf: die sozialtherapeutische Anstalt, die Führungsaufsicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis und das Berufsverbot. Ich möchte hier nur auf die sozialtherapeutische Anstalt eingehen37. Ähnlich dem deutschen E 1962, der allerdings verminderte Zurechnungsfähigkeit voraussetzte (S 82), sieht der österreichische Entwurf in S 21 Abs. 2 die Einweisung in die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher auch gegenüber Personen vor, die eine strafbare Handlung unter dem Einfluß einer höhergradigen geistigen oder seelischen Abartigkeit begangen haben, ohne zurechnungsunfähig zu sein. Da Österreich durch die Sonderanstalt Mittersteig38 in der Behandlung von Kriminellen mit schweren Persönlichkeitsdefekten über reiche Erfahrungen verfügt, die in die Richtung der sozialtherapeutischen 85 Vgl. Broda, Strafrechtsreform 1971, Ö R i Z 1971, 181; derselbe, JB1.1972, 309; ferner R V 1971, Begründung S. 99, w o der Unterschied des Sinnes der Maßnahme gegenüber der Strafe deutlich hervorgehoben wird. 36 Bedenken gegen die Abschaffung des Arbeitshauses bei Melnizky, Kritische Bemerkungen zur Sicherungsverwahrung nach § 23 R V 1971, JBl. 1972, 468. Vgl. audi die Kritik von Stigelbauer, Bedarf der Katalog der vorbeugenden Maßnahmen des Strafgesetzentwurfes 1971 einer Ergänzung? JBl. 1972, 348, der ebenso wie Melnizky für die Führungsaufsicht eintritt. 87 Vgl. dazu eingehend Hanack, Das juristische Konzept der sozialtherapeutischen Anstalt usw., Kriminologische Gegenwartsfragen, 1972, H e f t 10, S. 68 ff. 38 Vgl. dazu Doleisch, Zur Einführung der Sonderanstalt Mittersteig, Kriminologische Gegenwartsfragen, 1972, H e f t 10, S. 46 ff.; S luga u. Grünberger, Sozialtherapeutisdie Erfahrungen im österreichischen Strafvollzug, ÖJZ 1971, 388 ff., die ausdrücklich auf das Konzept der sozialtherapeutischen Anstalt in Deutschland verweisen.

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Anstalt weisen, wird die Unterbringung der Abartigen wohl letztlich auf eine Sozialtherapie hinauslaufen. Gleichwohl ist eine selbständige Maßregel vorzuziehen. Einmal wird durch den besonderen Anstaltstyp die sozialtherapeutische Behandlung von dem Milieu der Geisteskranken abgesetzt, was auch für die spätere Wiedereingliederung Entlassener in die Gesellschaft bedeutsam ist. Weiter läßt sich die Unterbringung im Unterschied zu der der Geisteskranken zeitlich sinnvoll begrenzen, ohne verderbliche Ungleichheit zwischen den Insassen zu schaffen. Endlich wird die Unterbringungspraxis der Gerichte weniger restriktiv sein, wenn die Verurteilten nicht zwangsweise in die Nachbarschaft von Geisteskranken gebracht, sondern in ein auf Sozialisation eingestelltes, positives Erziehungsmilieu versetzt werden. Freilich gibt es die sozialtherapeutische Anstalt auch in Deutschland erst in Anfängen, und von dem Traum, etwa in allen Vollzugsanstalten das Behandlungsklima und die Methoden der Sozialtherapie einzuführen, sind wir erst recht noch weit entfernt. Ich wende mich nunmehr den Einzelregelungen zu und möchte hierbei in Kürze fünf Schwerpunkte behandeln: die Einheitsstrafe, die kurzfristige Freiheitsstrafe, die Geldstrafe, die bedingte Verurteilung und das Absehen von Strafe.

III. 1. Beide Länder sind in ihrer Reformpolitik nach manchen Schwankungen zur Einheitsfreiheitsstrafe durchgestoßen39. Die Freiheitsstrafe der modernen Kriminalpolitik kann nur die Einheitsstrafe sein40. Die Art der Anstalt, in die der Verurteilte gelangt, und die Art der Behandlung, die er dort erfährt, dürfen nur von seiner Persönlichkeit und der Strafdauer abhängen, nicht aber von der Schwere seiner Straftat, weil nur auf diese Weise ein sinnvoller Aufbau der Vollzugseinrichtungen und eine auf den Menschen eingestellte Erziehungsarbeit möglich sind. Tatsächlich werden Unterschiede im Vollzug zwischen den verschiedenen Strafarten auch gar nicht mehr gemacht, nur die Dauer der Strafe hat Einfluß auf ihre Ausgestaltung. Man sieht das nirgends deutlicher als an dem neuen österreichischen Strafvollzugssi

Vgl. dazu Erster Schriftlicher Beridit des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Drucksache V/4094, S. 8; RV 1971, Begründung, S. 92; AE, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1969, S. 75 fF.; (deutsche) Strafvollzugskommission, Tagungsberichte, Bd. I, S. 145. 40 Ihre Einführung steht audi in der Sdiweiz bevor, vgl. Schultz, SdrwZStr. 88 (1972), 241 f.

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gesetz von 196941, und diese Logik der Dinge hat man jetzt auch im Strafensystem akzeptiert. Beide Länder sind in dieser Frage schließlich den gleichen Weg gegangen. Das neue deutsche Recht hat das differenzierte System der Freiheitsstrafen des E 1962 (§ 43) verlassen und ist auch bei der Kompromißlösung nicht stehen geblieben, die der Bundestagsausschuß noch zu Beginn der 5. Wahlperiode unter dem Einfluß der österreichischen Entwürfe 1964 und 1966 (§ 19 Abs. 3) beschlossen hatte. Danach sollte die Freiheitsstrafe im Besonderen Teil zwar einheitlich angedroht, aber von den Gerichten je nach Dauer der erkannten Strafe als schweres Gefängnis, Gefängnis oder Strafhaft verhängt werden. In Österreich hat jetzt die RV 1971 die rein nominelle Differenzierung ebenfalls aufgegeben, die eigentlich schon durch die Begründung des Entwurfs 1968 (S. 91 ff.) ad absurdum geführt worden war 42 . 2. Die Einschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe ist einer der wichtigsten Programmpunkte der deutschen Strafrechtsreform von 1969 gewesen43. Das neue Redit läßt die Verhängung einer Freiheitsstrafe unter 6 Monaten nach § 14 Abs. 1 (§ 47 Abs. 1 n. F.) nur noch dann zu, wenn besondere Umstände in der Tat oder in der Persönlichkeit des Täters gegeben sind, die diese Strafe „zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen". Darüber hinaus bestimmt § 23 Abs. 1 und 3 (§ 56 Abs. 1 und 3 n. F.), daß eine kurze Freiheitsstrafe, wenn sie ausnahmsweise verhängt wird, bei günstiger Täterprognose immer zur Bewährung auszusetzen ist. Zu der vom Alternativentwurf und der Strafvollzugskommission empfohlenen vollständigen Abschaffung der kurzen Freiheitsstrafe hat sich der deutsche Gesetzgeber dagegen nicht verstanden44. Die Begründung weist mit Recht darauf hin, daß die Geldstrafe nicht immer die gleiche präventive Wirkung hat wie die Freiheitsstrafe, daß kein westlicher Staat bisher vollständig auf kurze Freiheitsstrafen verzichtet hat, und daß audi in der internationalen Dis41

Vgl. Broda, Grundsatzentscheidungen im Strafredit in Österreich, Deutschland und der Schweiz, in: Die österreichische Strafrechtsreform, 1965, S. 66 f.; Pallini, Lage und Zukunftsaussichten der österreichischen Strafrechtsreform im Vergleich mit der deutschen Reform, ZStW 84 (1972), 203. 42 So mit Recht Seiler, JBl. 1969, 118; ebenso eingehend Fischlschweiger, Einige Worte zur Strafrechtsreform, ÖRiZ 1969, 22 f. 43 Vgl. näher Jescheck, Lehrb., S. 658. 44 Ablehnend ebenfalls Lackner, Der AE und die praktische Strafrechtspflege, JZ 1967, 517 f.; Seiler, JBl. 1969, 118 f.; Jescheck, Die kriminalpolitische Konzeption des AE, ZStW 80 (1968), 64 ff. Zustimmend seinerzeit Eb. Schmidt, Freiheitsstrafe, Ersatzfreiheitsstrafe und Strafzumessung im AE, N J W 1967, 1933 f.

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kussion nichts davon zu bemerken ist, daß die radikale Forderung durchdringen könnte 45 . Trotz Ablehnung der Maximallösung sind die Auswirkungen der deutschen Reform auf die Strafzumessungspraxis der Gerichte und die Gefangenenzahl schon im Jahre 1970 sehr beachtlich gewesen, obwohl die neuen Vorschriften erst am 1.4. 1970 in Kraft getreten sind 46 . Die Zahl der verhängten Freiheitsstrafen ist von 158 298 im Jahre 1969 auf 88 248 im Jahre 1970 zurückgegangen, die Zahl der kurzen Freiheitsstrafen von 132 161 auf 55 844. Die vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen scheinen trotz dessen nicht zugenommen zu haben 47 . Die Strafaussetzung zur Bewährung ist von 33,89 °/o im Jahre 1967 auf 53,2 % aller Freiheitsstrafen im Jahre 1970 angestiegen. 1968 wurden noch 18,7 °/o aller Verurteilten in eine Strafanstalt eingewiesen, 1970 nur nodi 9,3 °/o. Der Gesamtgefangenenstand betrug am 31.3.1970 nodi 35 927 gegenüber 48 501 am gleichen Stichtag im Jahre 196848. Wahrlich eine Wende in der Kriminalpolitik, die der Ersetzung der Leibes- und Lebensstrafen durch die Freiheitsstrafe gleichzuachten ist! Auch für die österreichische Strafrechtsreform liegt einer der Schwerpunkte im Kampf gegen die kurzfristige Freiheitsstrafe, die, während sie eine ernsthafte Erziehungsarbeit gar nicht ermöglicht, den Gefangenen oft genug erst wirklich entsozialisiert und außerdem durch die Überfüllung der Anstalten mit rasch wechselnden Gefangenenmassen die Verbesserung des Strafvollzugs erschwert49. Die dem neuen deutschen Recht entsprechende ultima-ratio-Klausel des § 36 RV 1971 wird in der Begründung zu Recht nicht als Auswirkung zunehmender Milde verstanden, sondern mit dem Gebot der kriminalpolitischen Vernunft erklärt. Ebenso wie im deutschen Recht sind kurzfristige Freiheitsstrafen nicht völlig ausgeschlossen, aber die Ausnahmen sind doch weniger streng gefaßt als bei uns und schließen, 45

Erster Schriftlicher Bericht, Drucksache V/4094, S. 6. Die Voraussage von Grünwald, Das Rechtsfolgensystem des AE, ZStW 80 (1968), 110, daß von „der ,ultima-ratio-Klausel' ein Erfolg nicht zu erwarten" sei, hat sich nicht verwirklicht. 47 Bekannt sind vorläufig nur die Belegungszahlen der Justizvollzugsanstalten, die vom Bundesjustizministerium zusammengestellt werden. Danach gab es am 3 1 . 3 . 1 9 7 1 27 487 Gefangene, die eine Freiheitsstrafe verbüßten, darunter 972 mit Ersatzfreiheitsstrafe; am 3 1 . 3 . 1 9 7 2 unter 27 803 Gefangenen 981 mit Ersatzfreiheitsstrafe. Redinet man in den beiden Jahren mit insgesamt je etwa 480 000 Geldstrafen, so ist der Prozentsatz der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen gering. Er überschreitet jedenfalls bestimmt nicht die Zahl von etwa 3,2 °/o, zu der Nüßlein, Freiheitsstrafen in Hessen 1966, ein Beitrag zum Problem der kurzen Freiheitsstrafe, 1969, S. 101, kurz vor Einführung des 1. StrRG gekommen ist. 48 Vgl. zu den vorstehenden Zahlen Jescheck, Lehrb., S. 22 ff. 48 Vgl. dazu Broda, ÖRiZ 1972, 182; derselbe, JB1. 1972, 309; Palliti, ZStW 84 (1972), 205. 46

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abgesehen von den „Bedürfnissen der Spezialprävention", auch die „Generalprävention in allen Richtungen" ein50. Das österreichische Recht vermeidet damit den Streit um den Begriff der „Verteidigung der Rechtsordnung", dem der Bundesgerichtshof schließlich eine nur gewisse „Teilaspekte der Generalprävention" umfassende, ausgesprochen restriktive Auslegung gegeben hat, was natürlich in der Statistik kräftig zu Buch schlägt (BGHSt. 24, 40 [45 f.]). Wenn die künftige österreichische Praxis an ihrem viel weiter gefaßten Verständnis der Generalprävention festhält, wird § 36 R V 1971 im Kampf gegen die kurze Freiheitsstrafe wahrscheinlich weniger wirksam sein als der deutsche § 14. Immerhin hat aber der Oberste Gerichtshof in einem Urteil vom 15.11.1971 (EvBl. 1972 Nr. 118) die schon durch das Strafrechtsänderungsgesetz 1971 erweiterte Umwandlungsmöglichkeit alsbald aufgegriffen und in einem Falle von fahrlässiger Tötung ohne grobe Fahrlässigkeit eine Geldstrafe gegeben mit der programmatischen Begründung, daß „Geldstrafen erfahrungsgemäß im allgemeinen spezialpräventiv wirksamer sind als kurzfristige Freiheitsstrafen" 51 . Man wird daher eine höchstrichterliche Führung der Praxis in diesem Sinne erwarten dürfen. 3. In der modernen Kriminalpolitik kommt der Geldstrafe neben der Strafaussetzung zur Bewährung die größte Bedeutung zu. Die Zahl der verhängten Geldstrafen ist in Deutschland in eindrucksvollen Proportionen angestiegen, und zwar von 345 065 im Jahre 1967 über 371 918 im Jahre 1969 auf 464 118 im Jahre 1970 52 . Dieser Siegeszug war zu erwarten, denn die Geldstrafe ist fühlbarer als die ausgesetzte Freiheitsstrafe und beeinträchtigt doch das soziale Ansehen des Verurteilten weniger als diese. Der Hauptnachteil der Geldstrafe liegt darin, daß sie den wirtschaftlich Schwachen ungleich härter trifft als den Begüterten, und daß, wer nichts hat und auch nichts arbeitet, entweder bevorzugt wird, indem er im Ergebnis ungeschoren bleibt, oder durch die Ersatzfreiheitsstrafe gegenüber dem Wohlhabenden benachteiligt wird, der die Straftat mit Geld abmachen kann. Die Mängel der Geldstrafe lassen sich jedoch durch das Tagesbußensystem in gewissen Grenzen abmildern, das von Pallin53 mit Redit zu den großen Fortschritten auf dem Gebiet des Strafrechts gezählt wird. Das Tagesbußensystem bringt die Geldstrafe in ein gerechtes Verhältnis R V 1971, Begründung S. 130. Vgl. dazu Müller, Zur Frage des „schweren Verschuldens" im Strafredit, Verkehrsjurist 1972, N r . 4. 5 2 Vgl. Jescheck, Lehrb., S. 23. 6 3 ZStW 84 (1972), 204 f. 50

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sowohl zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Täters als auch zu dem Unrechts- und Schuldgehalt der Tat, und es macht dieses Verhältnis in beiden Richtungen nach außen hin sichtbar. Die Anzahl der Tagessätze richtet sich wie bei der Zumessung der Freiheitsstrafe nach der Tat und allen übrigen Strafzumessungsgründen mit Ausnahme der finanziellen Lage des Täters. Diese allein ist maßgebend für die Höhe des Tagessatzes. Das künftige deutsche Recht hat für die Neugestaltung der Geldstrafe das Tagesbußensystem aus Skandinavien übernommen (§ 40 n. F.)54. Als Mindestbetrag der im Gesetz angedrohten Strafe sind 5, als Höchstbetrag 360 volle Tagessätze vorgesehen. Die Höchstgrenze für einen Tagessatz beträgt 1000 DM, so daß die Höchstgeldstrafe 360 000 DM, bei Gesamtgeldstrafen (§ 54 Abs. 2 S. 2 n. F.) sogar 720 000 DM ausmachen wird. Als letztes Druckmittel wird auch in Zukunft die Ersatzfreiheitsstrafe bestehen bleiben, wobei einem Tagessatz ein Tag Freiheitsstrafe entsprechen soll (§ 43 n. F.)55. Die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe hat in Zukunft zu unterbleiben, wenn sie für den Verurteilten eine unbillige Härte bedeuten würde (§ 459 f StPO i. d. F. des Entwurfs des EGStGB). Das geltende Recht stellt diese Entscheidung nodi in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts (§ 29 IV) ; die Praxis verfährt dabei mit großer Vorsicht und Zurückhaltung 56 . Die österreichische RV 1971 hat sich von der noch im Entwurf 1968 enthaltenen alten Form der Geldstrafe gelöst57 und ist ebenfalls zum Tagesbußensystem übergegangen58. Die österreichische Regelung weist jedoch drei charakteristische Unterschiede zum deutschen Recht auf. "Während § 40 Abs. 2 des Allgemeinen Teils 1973 nur in allgemeiner Form auf die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters" abstellt und damit die Entscheidung über die Höhe des Tagessatzes dem Ermessen des Gerichts anheimgibt, verlangt § 19 Abs. 2 RV dem Richter detaillierte Ermittlungen und Feststellungen zur Einkommens- und Vermögenslage ab. Das ist an sich ein Gewinn für die Rationalität und Kontrollierbarkeit der Strafzumessung, verursacht aber erhebliche Mehrarbeit und dürfte auch zu einer Zunahme der Rechtsmittel führen. Verschieden ist aber nicht nur die Methode 54

Vgl. dazu Zweiter Schriftlicher Bericht, Drucksache V/4095, S. 20 f. Der Verzicht auf die Ersatzfreiheitsstrafe, den die Strafvollzugskommission, Tagungsberichte Bd. I S. 146 vorgeschlagen hat, wird von Tröndle, ÖJZ 1972, 322 mit Recht scharf abgelehnt. 5e Vgl. Tröndle, LK, 9. Aufl., 1971, § 29 Rdn. 24. 57 Dies entsprach einer verbreiteten Forderung; vgl. Fischlschwei%er, ÖRiZ 1969, 74 ff.; Roeder, Der Allgemeine Teil des österreichischen Strafgesetzentwurfs, S. 42 f., 64; Seiler, JBl. 1969, 122. 58 Eingehende Darstellung bei Nowakowski, Das Tagesbußensystem nach § 19 RV 1971, ÖJZ 1972, 197 ñ. 55

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der Berechnung des Tagessatzes, sondern auch die Stellung zu der Sachfrage, ob nämlich dem Verurteilten der notwendige Unterhalt verbleiben soll oder nicht. Während das deutsche Recht sicher so auszulegen ist, daß der Verurteilte das Existenzminimum behalten soll59, will der österreichische Entwurf durch die Formel, daß die Geldstrafe alles wegnehmen soll, was er „im Tagesdurchschnitt für sich aufwenden kann", in dem strengeren Sinne wirken. Gemeint ist hier tatsächlich „nicht das Ersparbare einer Tageseinnahme, sondern eine Tageseinnahme schlechthin"60. Der Resozialisierung dient ein so radikaler Eingriff in die wirtschaftlichen Grundlagen der Existenz des Verurteilten sicher nicht. Die Vorschrift stößt deswegen durchweg auf Kritik 61 , und auch der Oberste Gerichtshof hat in der wegweisenden Entscheidung vom 15. 11.1971 (EvBl. 1972 Nr. 118) dem Täter nur die „Einkommensspitze" weggenommen, während ihm das „Existenzminimum" belassen wurde 62 . Dagegen ist die bedingte Nachsicht der Ersatzfreiheitsstrafe, wenn die Geldstrafe ohne Verschulden des Verurteilten nicht eingebracht werden kann (§ 45 RV), dem deutschen System, das in diesem Falle zukünftig auf jede Sanktion verzichten will, überlegen, denn der Verurteilte wird nach österreichischer Regelung während der Probezeit wenigstens unter den Druck der drohenden Vollstreckung gestellt und kann, wenn die Strafnachsicht widerrufen wird, die Ersatzfreiheitsstrafe nicht seiner Armut zuschreiben, sondern weiß, daß er sie durch seine Lebensführung verschuldet hat 63 . Auch in einem letzten Punkt ist die österreichische Regelung vorzuziehen. Obwohl die Freiheitsentziehung den Verurteilten viel schwerer trifft als die Geldstrafe, steht im zukünftigen deutschen Recht ein Tagessatz für einen Tag Freiheitsstrafe. Das Verhältnis von 2 : 1 ist jedoch gerechter und auch allein praktikabel, weil auf diese Weise hohe und wirkungsvolle Geldstrafen möglich werden, die allein als Surrogat der Freiheitsstrafe vertretbar sind64. 4. Das Ziel der bedingten Verurteilung ist es, eine begangene Straftat aus general- und spezialpräventiven Gründen nicht ohne Sanktion zu 59

Vgl. Zweiter Schriftlicher Bericht, Drucksache V/4095, S. 20. So Nowakowski, ÖJZ 1972, 200. 61 Vgl. die Äußerungen von Fischlschweiger, Serini, Graßberger, ÖJZ 1972, 322 f. Auch der Vorentwurf zur R V 1971 sah in § 21 Abs. 2 vor, daß dem Verurteilten „nicht mehr als der notwendige Unterhalt" verbleibt. 82 Dagegen Nowakowski, ÖJZ 1972, 203. 83 Die Regelung ist allerdings in Österreich umstritten; vgl. einerseits Broda, ÖRiZ 1972, 182, andererseits Fischlschweiger, ÖJZ 1972, 322 und Hauser, ÖJZ 1972, 323. 61 Vgl. dazu Tröndle, LK § 27 Vorbem. 92 ff.; Tröndle, ÖJZ 1972, 322. 90

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lassen, den Verurteilten aber dennoch mit der Strafe zu verschonen, um das damit verbundene soziale Übel so klein wie möglich zu halten, und ihn zugleich unter dem Druck des Strafaufschubs zur Arbeit an sich selbst während der Bewährungszeit anzuspornen. Die bedingte Verurteilung kann dieses Ziel auf verschiedenen Wegen erreichen65. Eine Möglichkeit, die dem belgisch-französischen Recht entstammt („sursis"), ist die Strafaussetzung zur Bewährung. Sie ist in der deutschen Strafrechtsreform stark ausgebaut worden und stellt heute neben der Geldstrafe das wichtigste Mittel der Kriminalpolitik dar. Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten werden, wenn sie das Gericht überhaupt ausspridit, bei günstiger Täterprognose, wie schon erwähnt, immer ausgesetzt; Freiheitsstrafen von 6 Monaten bis zu einem Jahr ebenfalls, wenn nicht die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung gebietet; Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu 2 Jahren ausnahmsweise, wenn besondere Umstände in der Tat und der Persönlichkeit des Täters vorliegen (§ 23). Durch Auflagen, die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen (Entschädigung des Verletzten, Geldbuße, gemeinnützige Leistungen), kann die Bestrafung für den Verurteilten fühlbarer gemacht werden (§ 24 a). Durch Weisungen kann der Verurteilte eine Hilfestellung bei seiner Wiedereingliederung erfahren (§ 24 b). In allen Fällen, in denen während der Bewährungszeit eine dauernde persönliche Betreuung des Verurteilten erforderlich erscheint, unterstellt ihn das Gericht der Aufsidit und Leitung eines Bewährungshelfers (§ 24 c). Österreich besitzt auf dem Gebiet der Strafaussetzung zur Bewährung eine vorbildliche Reformtradition. Die bedingte Strafnachsicht nach dem System des „sursis" wurde dort schon 1920 eingeführt, als in Deutschland gerade erst die bedingte Begnadigung als Justizverwaltungsaufgabe den Gerichten übertragen wurde. 1967 wurden in Österreich bereits 45 °/o aller Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt66, in Deutschland damals erst 33,4 % 6 7 . Das Strafrechtsänderungsgesetz 1971 hat die bedingte Strafnachsicht bis zu einem Jahr schweren Kerkers ausgedehnt. In der R V 1971 wird jetzt die Strafaussetzung bis zu 18 Monaten ausgebaut ( § 4 3 ) , aber auch hier zeigen sich charakteristische Unterschiede zum deutschen Redit. Der augenfälligste ist die Einbeziehung der Geldstrafe in die bedingte Verurteilung. Von der österreichischen Praxis werden Geldstrafen allerdings nur in 1 % der Fälle ausgesetzt68, was wahrscheinlich auf den gleichen Bedenken beVgl. näher Jesáeck, Lehrb., S. 57 f. Vgl. Broda, ÖRiZ 1972, 182. . 67 Zur Strafaussetzungsstatistik vgl. Jeschede, Lehrb., S. 22. •8 Vgl. die Angabe in RV 1971, Begründung S. 142. 65



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ruht, die im Bundestagsausschuß schließlich dazu geführt haben, die Aussetzung der Geldstrafe überhaupt abzulehnen 69 . Freilich geht in Deutschland die Verwarnung mit Strafvorbehalt, die bis zu 180 Tagessätzen reichen soll (§ 59 n. F.), sogar noch über die Aussetzung der Geldstrafe hinaus, da die Strafe in diesem Falle nicht einmal mehr ausgesprochen wird 70 . Bei der Aussetzung von Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu 18 Monaten verlangt ferner der österreichische Entwurf (§ 43 Abs. 2 RV) lediglich, daß die günstige Prognose „einen höheren Grad von Bestimmtheit" aufweisen muß 71 , während das deutsche Recht — insoweit prinzipiell anders — im Bereich von einem bis zu 2 Jahren an Ausnahmefälle denkt, bei denen Handlungsunrecht und Schuld gegenüber dem Erfolgsunrecht wesentlich herabgesetzt erscheinen, insbesondere „an einmalige Taten, die in einer besonderen Konfliktslage begangen" worden sind (BGHSt. 24, 3 [5]) 72 . Stärker als das deutsche Recht berücksichtigt der österreichische Entwurf wie schon bei der kurzen Freiheitsstrafe die Erfordernisse der Generalprävention. Während nach § 23 Freiheitsstrafen unter 6 Monaten immer ausgesetzt werden und solche von 6 Monaten bis zu einem Jahr nur dann nicht, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung entgegensteht, setzt die bedingte Strafnachsicht nach § 43 RV stets voraus, daß es der Vollstreckung auch nicht bedarf, „um der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken", und daß auf die Tat auch nicht die schwersten Strafen angedroht sind, die im Wege der außerordentlichen Strafmilderung (§ 41 RV) ohne weiteres in den Einzugsbereich der bedingten Strafnachsicht gelangen können. Auflagen kennt der österreichische Entwurf nicht, insbesondere nicht die Geldbuße, die in der deutschen Praxis die Rolle einer verkappten Geldstrafe spielt (§ 52 RV). Eine entschiedene Neuerung, die den österreichischen Entwurf wiederum mit erprobtem deutschen Recht verbindet, ist die Einführung der Bewährungshilfe (§ 53 RV), ohne die die Strafaussetzung in den Fällen, in denen es sich nicht bloß um eine Vergünstigung handelt, sondern soziale Hilfe geboten ist, nicht mehr gedacht werden kann 73 . 5. Eine dem deutschen Recht unbekannte, aber auch für uns erwägenswerte Neuerung enthält der österreichische Entwurf für die Bagatell'» Vgl. Erster Schriftlicher Bericht, Drucksache V/4094, S. 10. Ablehnend Dreher, Die Verwarnung mit Strafvorbehalt, Mauradi-Festsdirift, 1972, S. 293. 71 So RV 1971, Begründung S. 144. 72 Vgl. Erster Schriftlicher Bericht, Drucksache V/4094, S. 11. n Vgl. dazu eingehend Broda, ÖRiZ 1972, 183 f. 70

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kriminalität. Nach § 42 RV soll ein Vergehen, das mit Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder Geldstrafe bedroht ist, straffrei bleiben, wenn es sich um einen „besonders leichten Fall" handelt74. Ein besonders leichter Fall liegt nur dann vor, wenn das Strafbedürfnis unter jedem denkbaren Gesichtspunkt entfällt, wenn also nicht nur Unrecht und Schuld unbedeutend sind, sondern auch keine speziai- oder generalpräventiven Gründe die Bestrafung erfordern 75 . Die Vorschrift ist zwar in den Abschnitt über die Strafzumessung eingeordnet, enthält aber einen Strafausschließungsgrund eigener Art, der sowohl Gründe des mangelnden Strafbedürfnisses als auch der Strafökonomie zusammenfaßt. Die österreichische Regelung ist der Behandlung der Bagatelldelikte im § 153 der deutschen StPO aus drei Gründen überlegen. Einmal bemüht sich der österreichische Entwurf in der Abgrenzung des besonders leichten Falls um eine rechtsstaatliche Form, während das deutsche Recht nur eine Generalklausel zu bieten hat. Zum anderen ist der österreichische Entwurf in der Sache restriktiv, während das deutsche Recht sämtliche Vergehen ohne Strafobergrenze einbezieht. Endlich verweist der österreichische Entwurf die ganze Regelung in das materielle Recht, während die deutsche Vorschrift zu einer heimlichen Funktionsverschiebung unter dem Deckmantel der Einschränkung des Legalitätsprinzips führt 76 . Selbst wenn die immanente Logik der Dinge im österreichischen Recht einmal dahin führen sollte, bei sämtlichen Vergehen grundsätzlich Straffreiheit in besonders leichten Fällen vorzusehen, wäre eine solche Bestimmung der deutschen Regelung immer noch vorzuziehen, weil wenigstens der Begriff des besonders leichten Falles festgelegt ist und dieser vom Obersten Gerichtshof anhand des Strafwürdigkeitsgehalts der Tat alsbald einer restriktiven Deutung zugeführt wurde (OGH JBl. 1972, 330 [331]). Deutschland und Österreich haben unter behutsamer, wenn auch manchmal schmerzhafter Lösung von traditionalistischen Fesseln in ihrer Reform einen Stand der Strafrechtsentwicklung erreicht, der, mag er auch keineswegs vollkommen sein, doch jedenfalls freiheitlich, human und wertbewußt genannt werden kann. Es ist eine Ordnung, die den unbedingt notwendigen Schutz der Rechtsgemeinschaft nicht in Nihilismus, Anarchie und moralische Demontage verfliegen läßt, 7 4 Dafür insbesondere Ρ allin, ZStW 84 (1972), 2 0 6 ; derselbe, Die leichten Fälle und die österreichische Strafrechtsreform, in: Der modernen Gesellschaft ein modernes Strafrecht, 1968, S. 23 ff.; ferner Broda, JBl. 1972, 3 1 0 ; gegen die Privilegierung der besonders leichten Fälle Graßberger, Die kriminalpolitischen Erfordernisse der Gegenwart und der österreichische Entwurf eines StGB, in: Zur österreichischen Strafrechtsreform, 1965, S. 40 f.; Seiler, JBl. 1969, 123. 7 5 R V 1971, Begründung S. 139. 7 8 Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, 1966, S. 229 ff.

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wohl aber den Rechtsbrecher lieber leiten als vernichten möchte. Es ist eine Ordnung, die sidi bei allem, was sie gebietet, an die sozialethischen Wurzeln der Kultur gebunden fühlt, die aber auch nur das zwangsweise durchsetzt, was zur Erhaltung des Rechtsfriedens unbedingt erforderlich ist. Es ist eine Ordnung, die den straffälligen Menschen daran mißt, in welchem Grade er sich mit den Werten der Gemeinschaft verbunden gezeigt hat, die ihm im übrigen aber die Freiheit gibt, seinen Lebensplan nach eigenem Ermessen zu gestalten.

Vérité au deçà des Pyrénées, erreur au delà? HANS SCHULTZ

Lassen wir es für diesmal dahingestellt, ob die Wahrheiten, von denen Pascal spricht1, dem Kriterium von wahr oder falsch unterstehende Aussagen im Sinne der modernen Wissenschaftstheorie sind, oder ob es sich um Werturteile oder an bestimmte Personen gerichtete Aufforderungen, wie sie sich verhalten sollen, handelt. Daß es Pascal um das richtige Handeln ging, zeigt der dem im Titel genannten Satz unmittelbar vorausgehende: „Plaisante justice qu'une rivière borne2." Hier soll der Frage nachgegangen werden, wie es heute mit der Rechtsordnungen und Rechtssysteme trennenden Kraft von Bergen und Flüssen, bilden sie Landesgrenzen, steht. Es mag sein, daß ein solcher Blick über die Grenzen heute nicht nur verschiedene Antworten auf dieselbe gesetzgeberische Frage aufdeckt, sondern gegenseitige Beeinflussung zu erkennen vermag. Gegenstand der Untersuchung sind nicht weit ab voneinander liegende, grundverschiedene Rechte, wie das kontinentale im Gegensatz zum angelsächsischen3, sondern die Strafrechte der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz. Die beiden Rechte sollen nicht daraufhin geprüft werden, ob sie sich in grundsätzlicher Weise voneinander unterscheiden. Etwa derart, wie es Hans-Heinrich Jescheck formulierte, der einen „wesentlichen Unterschied in der gesetzgeberischen Grundeinstellung" darin erblickte, „daß die Schweiz in der Regel praktischen Lösungen zuneigt, audi wenn sie sich nur durch Verzicht auf letzte Systemreinheit erreichen lassen, während man in Deutschland gern mit großer Uber1 Blaise Pascal, Pensées et opuscules, publiés par Léon Brunschvicg, Paris 1959, n. 294, p. 465. 2 Pascal 1. c. — Wie Brunschvicg, 1. c. Anm. 1, bemerkt, knüpfen die Erörterungen von Pascal über die Gerechtigkeit an Gedanken von Montaigne an. Siehe Montaigne, Apologie de Raimond Sebond, Les Essais, Livre second, diap. II, ed. H. Motheau & D. Jonast, Paris o. J., IV 122, Anm. 2, der Ausgabe von 1595 entsprechend: „Quelle bonté est-ce que je voyais hyer en credit et demain ne l'estre plus, et que traject d'une rivière fait crime? Quelle vérité est-ce que ces montaignes bornent, mensonge au monde qui se tient au delà?" 3 Dazu Gustav Radbrudo, Der Geist des englischen Rechts, 3. Aufl., Göttingen 1956; und besonders Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatredits, Tübingen 1956, der zeigte, daß der Prozeß der Rechtsfindung in den beiden Rechtssystemen nicht so ganz anders ist, wie zuweilen angenommen wurde.

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zeugungstreue auf den als richtig erkannten theoretischen Einsichten beharrt und daraus unmittelbare Folgerungen für die gesetzgeberische Kleinarbeit zu ziehen sucht"4. Und nur der Hinweis darauf genüge, daß die Größe des von der betreffenden Rechtsordnung beherrschten Gebietes nicht ohne Bedeutung sein dürfte. In einem großen Lande mit vielen Bewohnern ist die Wahrscheinlichkeit, daß selbst ausgefallene Sachverhalte sich ereignen und beurteilt werden, bedeutend größer. Dann werden die solche Fälle treffenden Urteile in die wissenschaftliche Diskussion einbezogen und vermitteln Anhaltspunkte für die Auslegung der in Frage stehenden Begriffe. Und allen Beteuerungen, das Strafrecht sei subsidiär und fragmentarisch, und aller strafbeschränkenden Absicht des Grundsatzes der Legalität zum Trotz führt die Berücksichtigung auch der ausgefallenen Möglichkeiten in der Systembildung eher zur Ausdehnung der Strafbarkeit als zu deren Begrenzung. Welche Schwierigkeiten es bereitet, eine derart weitausgefächerte Vielfalt einzelner Entscheidungen und darauf gestützter Lehrmeinungen nicht einfach aneinanderreihend, gewissermaßen additiv, systematisch zusammenzufassen, sondern sie kritisch sichtend systematisch zu beherrschen, hat Wilhelm Gallas in seinem Aufsatz über den Betrug als Vermögensdelikt gezeigt5. Die folgenden Ausführungen berühren nur die Beantwortung einzelner Fragen durch die Strafrechte der beiden benachbarten Länder und versuchen zu ermitteln, ob Ubereinstimmung oder Abweichung der Lösungen sich immer in derselben Weise bekundet.

I. l. Deutsches Strafgesetzbuch § 24 a in der Fassung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 25. 6 .1969 gestattet dem Richter, die Strafaussetzung zur Bewährung mit Auflagen, „die der Genugtuung für das begangene Unrecht dienen", zu verbinden. Dazu zählen gemäß Abs. 2 das Wiedergutmachen des durch die Tat gestifteten Schadens, die Bezahlung eines Geldbetrages zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse oder andere gemeinnützige Leistungen. § 56 b in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 4. 7. 1969 stimmt mit dem geltenden Recht überein. Außerdem sehen § 24 b bzw. § 56 c vor, daß dem Verurteilten Weisungen erteilt werden können. 4 Hans-Heinrich Jescbeck, Schweizerisches Strafredit und deutsche Strafreditsreform, SchwZStr. 78 (1962), 177. 5 Wilhelm Gallas, Der Betrug als Vermögensdelikt; Eb. Schmidt-Festschrift, Göttingen 1961, jetzt in Beiträge zur Verbrechenslehre, Berlin 1968, 226.

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Das schweizerische Strafgesetzbuch ermächtigt in Art. 41 Ziff. 2 Abs. 1, Satz 2, den Richter, dem zu einer bedingt vollziehbaren Strafe Verurteilten bestimmte Weisungen für sein Verhalten während der Probezeit aufzuerlegen. Die zweite Teilrevision des Gesetzes durch das Bundesgesetz betreffend Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 18. 3. 19716 änderte die Vorschrift redaktionell und erweiterte die Beispiele zulässiger Weisungen. Sie können betreffen die Berufsausübung, den Aufenthalt, die ärztliche Betreuung7, den Verzicht auf alkoholische Getränke und die Schadensdeckung innerhalb einer bestimmten Frist. Die Ansicht ist unbestritten, daß eine Weisung nur dann rechtmäßig ist, wenn sie der spezialpräventiven Eigenart des bedingten Strafvollzuges entspricht. „Das heißt insbesondere, daß der Richter dem Verurteilten keine Weisung erteilen darf, die sich schon zur Zeit des Urteils als unerfüllbar oder unzumutbar erweist; eine solche Weisung wäre nicht nur sinnlos, sondern müßte den Verurteilten entmutigen und damit seine Besserung gefährden. Auch darf die Weisung nicht vorwiegend oder gar ausschließlich darauf abzielen, dem Verurteilten Nachteile zuzufügen oder Dritte vor ihm schützen zu wollen. Damit eine Weisung zulässig sei, muß sie in erster Linie vielmehr im Interesse des Verurteilten liegen und voraussichtlich befolgt werden können. Das ist dann der Fall, wenn sie dazu bestimmt und geeignet ist, erzieherisch auf den Verurteilten einzuwirken und damit der Gefahr neuer Verfehlungen vorzubeugen8." In diesem weiten Rahmen entwickelte die Rechtsprechung eine reiche Mannigfaltigkeit spezialpräventiv gedachter Weisungen. Sie reichen vom Verbot, während der ganzen Probezeit oder eines Teils von ihr kein Motorfahrzeug zu führen 9 oder kein Motorfahrzeug zu halten 10 , bis zum Verbot selbständiger Geschäftstätigkeit 11 oder zur Weisung an einen wegen Unzucht mit Kindern Verurteilten, weder bei noch in der Nähe eines Schulhauses zu wohnen 12 . Auflagen sind dem schweizerischen Recht unbekannt. Werden die Regeln über die bedingte Verurteilung beider Rechte miteinander verglichen, so fällt die Beschränkung des schweizerischen • AS 1971 777. Die neue Fassung des Art. 41 steht seit dem 1. 7.1971 in Kraft, BRB vom 18. 3.1971, AS 1971 807. 7 Ohne daß es dazu des Einverständnisses des zu Verurteilenden bedarf; anders deutsches StGB § 24 b Abs. 3. 8 BGE 94 (1968), IV 12, E. 1. 9 Zit. BGE 13, E. 2. 10 Die Praxis des Kantonsgeridits von Graubünden 1970, 73 N . 25. 11 BGE 95 (1969), IV 123, E . 2 . 12 Reditsprediung in Strafsadien, Bern, 1947 Nr. 164.

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Rechtes auf die Weisungen auf; allerdings zeigt die Prüfung der in der Schweiz gestatteten Weisungen, daß sie in einem wichtigen Beispiel die Verpflichtung zur Deckung des durch die Tat hervorgerufenen wirtschaftlichen Schadens nennen, welche das deutsche Recht als Auflage auffaßt. Das deutsche Recht stellt offenbar die Bedeutung der Schadensdeckung für das Opfer der Tat in den Vordergrund, während das schweizerische Recht die erzieherische Wirkung der Wiedergutmachung auf den Täter betont. Möglich wäre ferner, daß als Verpflichtung zu sonstigen gemeinnützigen Leistungen im Sinne von § 24 a Abs. 1 Ziff. 3 Pflichten auferlegt werden, die in der Schweiz durch eine Weisung ausgesprochen werden können 13 . Außer allem Zweifel steht jedoch, daß die durch § 24 a Abs. 1 Ziff. 2 vorgesehenen Geldleistungen, im Grunde genommen eine Geldstrafe sui generis, nach schweizerischem Recht unstatthaft sind. Worauf mag der Unterschied zurückgehen? Die Vermutung darf gewagt werden, daß dem deutschen Recht eine zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe als zu wenig nachhaltige Beeinflussung des Verurteilten erschien14 und daß bei den übrigen Angehörigen der Rechtsgemeinschaft der Eindruck vermieden werden sollte, dem Verurteilten sei eigentlich gar nichts geschehen. Es ist nicht zu übersehen, daß die Auflagen „einen ausgesprochen repressiven Charakter tragen" 15 , daß sie „verkappte Ersatzstrafen" darstellen 16 . Daran ändert sich nichts, wenn ihnen außer der Genugtuung für das begangene Unrecht die Aufgabe zugewiesen wird, „der Wiederherstellung des Rechtsfriedens" zu dienen17. Demgegenüber läßt das Schweizer Strafrecht es mit der unvermeidlich repressiven Wirkung des Strafverfahrens als solchem und der 13 Dies würde zutreffen, wenn Urhebern von Widerhandlungen im Straßenverkehr in der Schweiz die Weisung auferlegt würde, auf einer Unfallstation zu arbeiten, beim Roten Kreuz mitzuwirken oder Fahrten mit behinderten Personen auszuführen. Nur solche Tätigkeiten könnten in der Schweiz Gegenstand einer Weisung bilden, nicht die vom deutschen Recht als Auflagen offenbar auch gemeinten Arbeiten für öffentliche Verwaltungen, wie Müllabfuhr, Reinigung von Straßen oder öffentlichen Gebäuden; siehe Koffka, LK, 9. Aufl., 1971, § 24 a Rdn. 16. Die Verfassungsmäßigkeit solcher Weisungen — ihre Vereinbarkeit mit dem ungeschriebenen Freiheitsrecht der Persönlichkeit, BGE 89 (1963), I 97, E. 3 — wurde bis jetzt nicht bestritten oder auch nur bezweifelt; siehe dagegen für das deutsche Recht zu der umstrittenen Verfassungsmäßigkeit entsprechender Auflagen Koffka, a. a. O., Rdn. 17, Schönke-Schröder, StGB, 16. Aufl., 1972, § 24 a Rdn. 14—16. 14

Siehe E 1962, Begründung vor § 71, S. 196. Schönke-Schröder, § 24 a Rdn. 2. 16 Eberhard Schmidhausen Strafrecht AT, 1970, 21/11, S. 658, der an das Friedensgeld der germanischen Volksrechte erinnert. Ähnlich Lackner-Maassen, StGB, 6. Aufl., 1970, § 24 a Anm. 2, die Auflagen seien „strafähnliche Maßnahmen." 17 So AE § 41 Abs. 1. 15

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durch die Verurteilung ausgesprochenen Mißbilligung des Verhaltens des Täters bewenden und stellt die bedingt vollziehbare Sanktion mit ihren Nebenfolgen vorbehaltlos in den Dienst der Wiedereingliederung des Täters in die Rechtsgemeinschaft. 2. Die gegen chronisch Rückfällige gerichtete Maßregel der Sicherung, die Sicherungsverwahrung, wird nach geltendem deutschen Recht, § 42 e, neben der Strafe angeordnet, wenn der Täter vor der neuen Tat wegen vorsätzlicher Taten mindestens zweimal zu Freiheitsstrafen von einem Jahr verurteilt worden war, zwei Jahre Freiheitsstrafe verbüßte oder während dieser Zeit im Vollzug von Maßregeln gestanden war, vorausgesetzt, daß „die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, daß er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, für die Allgemeinheit gefährlich ist", Abs. 1. Absatz 2 ermöglicht die Sicherungsverwahrung unter derselben Voraussetzung, wenn dreimal wegen vorsätzlicher Straftaten Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr ausgesprochen worden waren. Die neue Strafe muß wenigstens zwei, bzw. drei Jahre betragen. Gemäß § 66 in der Fassung des 2. S t r R G lauten die Voraussetzungen gleich, abgesehen davon, daß die Einweisung in die Sicherungsverwahrung nach Abs. 1 Begehung der Taten und die nach Abs. 2 Begehung einer Tat nach dem 25. Lebensjahr fordert. In beiden Gesetzen folgt der Vollzug der Maßregel nicht ohne weiteres dem Strafvollzug, sondern das Gericht hat vor dem Ende des Strafvollzuges zu prüfen, ob die Maßregel noch erforderlich ist, § 42 g Abs. 1, § 67 c Abs. 1. Demgegenüber gestattet der durch das Gesetz vom 18. 3 . 1 9 7 1 revidierte Art. 42 Ziff. 1 des schweizerischen Strafgesetzes die Anordnung der Verwahrung als Gewohnheitsverbrecher, wenn „der Täter schon zahlreiche Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich verübt" hat und „ihm deswegen durch Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen oder eine Arbeitserziehungsmaßnahme die Freiheit während insgesamt mindestens zwei Jahren entzogen" oder „er an Stelle des Vollzugs von Freiheitsstrafen bereits als Gewohnheitsverbrecher verwahrt" worden war, vorausgesetzt, daß „er innerhalb fünf Jahren seit der endgültigen Entlassung ein neues vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen, das seinen Hang zu Verbrechen oder Vergehen bekundet" 1 8 , begeht. Zu1 8 B G E 98 (1972), I V 1 zufolge ist es nicht zulässig, eine Verwahrung auszusprechen, wenn neue Straftaten während des Vollzuges einer Verwahrung nach Art. 42 begangen werden. Das Gesetz stelle ausdrücklich auf die Begehung nach

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gleich mit der Verwahrung wird eine Strafe ausgesprochen, dodi nur die Verwahrung vollzogen. Die Strafe wirkt sich insofern aus, als der Vollzug der Maßregel wenigstens so lange wie zwei Drittel der Strafe, doch nie weniger als drei Jahre dauern soll, Art. 42 Ziff. 4 Abs. 1. An den beiden Regelungen fällt auf, daß das deutsche Redit an die Zulässigkeit der als ultima ratio gedachten Maßregel viel höhere Anforderungen stellt als es das Schweizer Recht, selbst das revidierte, tut 19 . Einzig im deutschen Recht findet sich die Bedingung, es müsse sich um Täter handeln, von denen die Begehung schwerwiegender neuer Delikte zu befürchten ist und die „für die Allgemeinheit gefährlich" sind. Damit ist angedeutet, daß von den Haupttypen der chronisch Rückfälligen, die schon Wolfgang Mittermaier unterschied20 und die Franz Exner als die gefährlichen Aktiv-antisozialen einerseits und die harmlos-lästigen Asozialen andererseits beschrieb21, die Sicherungsverwahrung nur auf die gefährlichen Aktiv-antisozialen gemünzt ist. Die schweizerische Vorschrift gibt mit der Bestimmung, die sichernde Maßnahme der Verwahrung sei „in einer offenen oder geschlossenen Anstalt zu vollziehen", Art. 42 Ziff. 2, deutlich zu verstehen, daß die Verwahrung sich gegen beide Typen der Rückfälligen richtet. Selbst wenn es zutreffen sollte, wie Christian Brückner auf Grund seiner Untersuchung von 211 nach Art. 42 Verwahrten annimmt 22 , daß die beiden Typen chronisch Rückfälliger sich nicht so reinlich voneinander scheiden lassen, heben sich doch die Urheber wiederholter Taten geringer oder mittlerer Bedeutung von dem durch das deutsche Recht in § 42 e gemeinten Rückfälligen, der als allgemeingefährlich bezeichnet wird, deutlich ab. Der deutschen Formulierung gebührt deshalb der Vorrang.

der endgültigen Entlassung ab und wolle damit nur den erneut verwahren lassen, welcher wiederum delinquierte, obsdion er „die in der Strafe oder Maßnahme liegende erzieherische und bessernde Beinflussung in vollem Maße erfahren hatte", S. 4. Beachtlich ist, daß das Urteil selbst der sichernden Maßnahme i. e. S. resozialisierende Wirkung zuspricht. 18 Dies obsdion während der Vorbereitung der Gesetzesänderung an den vorgelegten Entwürfen, nicht zuletzt unter Hinweis auf deutsche Entwürfe und neue Gesetze, lebhafte Kritik geübt worden war; siehe Günter Stratenwerth, Zur Rechtsstaatlichkeit der freiheitsentziehenden Maßnahmen im Strafrecht, SchwZStr. 82 (1966), 352; Hans Schultz, Die zweite Teilrevision des Schweizerischen Strafgesetzbuches, ZBJV 106 (1970), 20. 20 W. Mittermaier, Vergleichende Darstellung, A T Bd. III, 1908, 321. 21 F. Exner, Kriminologie, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1949, 206/7, 290. 28 C. Brückner, Der Gewohnheitsverbrecher und die Verwahrung in der Schweiz gemäß Art. 42 StGB, Basel-Stuttgart 1971, 33; die Mehrzahl der von ihm Untersuchten stehe „irgendwo mitten drin". Siehe aber die von ihm selber getroffene Unterscheidung der Rückfälligen, S. 279.

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Allein wird dieser Vorteil nicht dadurch aufgehoben, daß das deutsche Redit, selbst nach dem Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Strafrechtsreform am 1. 10. 1973, für die Sicherungsverwahrung am dualistischen System festhält und den Vollzug der zugleich ausgesprochenen Freiheitsstrafe 23 stets vorausgehen läßt? Dies steht keineswegs fest. Denn der erneuerte § 42 g, später § 67 c, je Abs. 1, lassen dem Vollzug der Maßregel vor Ende des Strafvollzuges die richterliche Prüfung vorausgehen, ob die Maßregel noch notwendig sei. Demgegenüber fordert das schweizerische Recht in allen Fällen der Verwahrung nach Art. 42 einen Aufenthalt von wenigstens drei Jahren in dem Vollzug der Maßnahme, bevor eine bedingte Entlassung möglich wird. Deshalb hängt alles von den Entscheidungen im Einzelfall ab. Es ist nicht ausgeschlossen, daß nach dem Vollzug einer längeren Freiheitsstrafe, die jedoch nicht drei Jahre erreicht, der nachträgliche Vollzug der Sicherungsverwahrung zur Bewährung ausgesetzt wird und daß sich der Verurteilte bewährt. Diese Möglichkeit besteht insbesondere dann, wenn das Verhalten des Verurteilten die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug gemäß § 26 bzw. § 57 angezeigt erscheinen läßt 23 °. Erst die Untersuchung der tatsächlichen Dauer des Freiheitsentzuges nach deutschen und nach schweizerischem Recht in einer größeren Zahl von Fällen ließe erkennen, welche Regelung für den Verurteilten günstiger ist. Besonders anziehend wäre es, in eine solche vergleichende Untersuchung der zur Sicherungsverwahrung oder zur Verwahrung als Gewohnheitsverbrecher Verurteilten das spätere Verhalten einzubeziehen24. Der Vergleich der sichernden Maßregeln, welche die beiden Rechte gegenüber chronisch Rückfälligen vorsehen, führt zur Einsicht, daß es zur Beurteilung nicht genügt, wenn darauf abgestellt wird, wie das Verhältnis der Maßregel zur Strafe geordnet wird, ob nach dualistischem oder nach dualistisch-vikariierendem System. Als wichtiger erwies sich die Umschreibung der Voraussetzungen der Maßregel. Und dort, wo es auf das Verhältnis von Strafe und Maßregel ankommt, reichten die gesetzlichen Vorschriften nicht aus, um zu einem Urteil zu gelangen, nämlich in bezug auf die Dauer der gesamten Entziehung der Freiheit.

23 Die allerdings nidit zudem gegenüber dem gefährlichen Gewohnheitsverbrecher erhöht wurde, weil § 20 a mit dem 1. StrRG dahinfiel. 230 Schönke-Schröder, § 26 Rdn. 22 und dort genannte Urteile. 24 Trotz allen Vorbehalten, die gegenüber solchen Erhebungen über den Erfolg einer Sanktion anzubringen sind und auf die neulidi Karl-Dieter Opp, Zur Erreichbarkeit des Resozialisierungsziels im Strafvollzug, MsdirKrim 1972, 168, wieder hinwies.

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3. Besonders auffallend sind die Unterschiede, welche die deutsche und die schweizerische Strafgesetzgebung in der Umschreibung des gesetzlichen Tatbestandes eines so häufigen Deliktes, wie es der Diebstahl ist, aufweisen. Das deutsche Strafgesetzbuch bezeichnet in § 242 Abs. 1 die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen, als Diebstahl. Art. 137 Ziff. 1 des schweizerischen Strafgesetzbuches zufolge ist ein Dieb, wer eine fremde bewegliche Sache wegnimmt, in der Absicht, sich oder einen anderen damit unrechtmäßig zu bereichern. Die schweizerische Rechtsprechung hat die Umschreibung des Gesetzes in einem wesentlichen Punkte ergänzt: BGE 85 (1959) IV 18 erkannte, daß Diebstahl nur derjenige begeht, welcher die fremde Sache wegnimmt und sich aneignet. Die Erweiterung des gesetzlichen Tatbestandes des Diebstahls verstieß nicht gegen das Legalitätsprinzip; denn sie wirkte sich zugunsten des Beschuldigten aus, weil sie die Strafbarkeit erschwerte. Bezweifelt werden kann hingegen, ob es nötig war, neben dem für den Diebstahl kennzeichnenden äußeren Tatbestandsmerkmal der Wegnahme als Gewahrsamsbruch, wiederum als äußeres Merkmal, die Aneignung zu fordern. Es genügt, wenn der Täter die Absicht der Aneignung besitzt, um die Tat als Diebstahl von der bloßen Gebrauchsanmaßung oder der in der Absicht der Schädigung ausgeführten Wegnahme zu unterscheiden. Das Kennzeichnende der Umschreibung des Diebstahls im schweizerischen Recht liegt darin, daß als besonderes Schuldmerkmal die Absicht der unrechtmäßigen Bereicherung gefordert wird. Und zwar weist diese Absicht zwei Besonderheiten auf: Einmal muß sie auf eine unrechtmäßige Bereicherung zielen, zum anderen genügt es, wenn sie sich darauf richtet, einen anderen in dieser Art zu bereichern. Dieselbe Absicht wird übrigens durch den gesetzlichen Tatbestand verschiedener anderer und häufiger Vermögensdelikte verlangt, so durch Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1, die Veruntreuung betreffend, Art. 141 Abs. 1, in bezug auf die Unterschlagung und Fundunterschlagung, Art. 146 Abs. 2, für die unrechtmäßige Entziehung von Energie, und Art. 148 Abs. 1 zum Betrug. Die Strafbarkeit der häufigsten und wichtigsten Vermögensdelikte davon abhängen zu lassen, daß der Täter durch die Tat eine unrechtmäßige Bereicherung zu erzielen beabsichtigt, geht auf den ersten

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Ebenso zu dem wörtlidi mit StrGB Art. 137 Ziff. 1 übereinstimmenden MilStrGB Art. 129 Ziff. 1 das Militärkassationsgericht am 2 6 . 6 . 1942, Rechtsprechung in Strafsachen 1943, Nr. 163.

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Vorentwurf von Carl Stooss zum besonderen Teil zurück26. Stooss fragte sidi, ob als Dieb zu gelten habe, wer wertlose Sachen behändigt, wer sich durch die Wegnahme zu seinem Recht verhilft oder den vollen Geldwert an die Stelle der weggenommenen Sache hinlegt. „Der Kriminalist", so führt Stooss im weitern aus, „ist in dieser Frage nicht vollkommen unbefangen, weil er durch die Doktrin beeinflußt wird. Daher suchte der Verfasser bei Personen, die sich ein natürliches Rechtsgefühl bewahrt haben, zu ermitteln, ob sie diese Fälle als Diebstahl ansehen, und sie erklärten in jedem Falle ohne Besinnen: Nein, das ist nicht Diebstahl 27 ." Deshalb definierte schon Art. 69 Abs. 1 des Vorentwurfes 1894 den Diebstahl als die Wegnahme einer Sache, „um sidh oder einen andern damit unrechtmäßig zu bereichern". Nachdem diese Kennzeichnung der erwähnten Vermögensdelikte während der Vorarbeiten zum Strafgesetzbuch vorübergehend getilgt worden war, wurde sie von der II. Expertenkommission wieder aufgenommen und gelangte in den Gesetz gewordenen Wortlaut 28 . Heute ist unbestritten, daß die von Stooss genannten Beispiele der Wegnahme, insbesondere die in der Absicht rechtmäßiger Bereicherung zur eigenmächtigen Durchsetzung von Ansprüchen, kein Diebstahl sind, sondern höchstens als Sachentziehung gemäß StrGB Art. 14329 oder als unerlaubte Selbsthilfe in den Kantonen, welche diese Straftat in ihrem Strafrecht beibehielten30, bestraft werden können. Umstritten ist einzig, ob jeder Anspruch genügt, um die Bereicherung rechtmäßig werden zu lassen, oder ob, wie Vital Schwander annimmt, nur einem fälligen und klagbaren Anspruch diese Wirkung zukommt 31 . Ich würde dafür halten, daß jeder 28 Carl Stooss, Schweizerisches Strafgesetzbuch Vorentwurf mit Motiven, Basel und Genf 1894, 160/1; ebenso schon C. Stooss, Die Grundzüge des Schweizerischen Strafrechts im Auftrage des Bundesrathes vergleichend dargestellt, Basel und Genf 1892, II 68, Anm. 1. " Vorentwurf 1894, 160. 28 In dem von ihm selber neu gefaßten Vorentwurf zu einem Sdiweizerisdien Strafgesetzbudi vom Februar 1908 erklärte Stooss, das Beiwort „unrechtmäßig" sei entbehrlich, zu Art. 81, Anm. 1, S. 27. Auf Intervention von Thormann in der zweiten Expertenkommission wurde es wieder aufgenommen, Prot. 2 287, 300. 2 » Siehe BGE 98 (1972), IV 20, selbst für den Fall, daß der Täter nur irrigerweise annimmt, es stehe ihm ein Anspruch gegen das Opfer der Wegnahme zu. ,0 So z . B . Luzern, Gesetz vom 18.12. 1940 über die Einführung des Schweizerischen Strafgesetzbuches § 38. Einzig unerlaubte Selbsthilfe dürfte dann in Frage stehen, wenn der Täter einen fälligen und klagbaren Anspruch auf die von ihm behändigte Sache besitzt, weshalb die Wegnahme keinen Vermögensschaden im Sinne von Art. 143 stiftet, weil in entsprechendem Maße Passiven des Opfers entfallen. 31 V. Schwander, S. 329.

Das schweizerische Strafgesetzbudi, 2. Aufl., Zürich

1964,

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Anspruch die angestrebte Bereicherung rechtmäßig zu machen vermag, selbst der einer Naturalobligation entspringende. Denn das auf Grund einer solchen Verpflichtung Geleistete kann nicht zurückgefordert werden, weshalb es dem Redit entspricht, wenn der Ansprecher zu seiner Sache kommt. Von nicht geringer Bedeutung ist die weitere Verdeutlichung der zum Diebstahl nach schweizerischem Recht gehörenden Absicht, welche es genügen läßt, wenn die Bereicherung dem Täter, wie wenn sie einem Dritten zukommen soll. Die Fassung des subjektiven Tatbestandes des Diebstahls und der übrigen, zuvor erwähnten Vermögensdelikte, dürfte erklären, weshalb in der schweizerischen Rechtsprechung und Lehre das absichtslose, dolose Werkzeug, eigentlich eine contradictio in adiecto, in der Theorie der mittelbaren Täterschaft bedeutungslos ist 32 . Dies obschon dem schweizerischen Recht ein ergänzender Auffangtatbestand der Aneignungsdelikte fehlt, wie er, allerdings erst durch eine umstrittene berichtigende Auslegung, im deutschen Recht aus § 246 gewonnen wird 33 . Seit Jahrzehnten streben die Entwürfe zu einem deutschen Strafgesetzbuch nach einer dem schweizerisdien Recht entsprechenden Regelung der in Frage stehenden Vermögensdelikte, doch bis jetzt blieb es bei der Absicht 34 .

II. Zuweilen führt ein erster Blick zur Auffassung, daß die Regelungen derselben Probleme in beiden Rechten erheblich voneinander abweichen, doch genauere Betrachtung vermag aufzudecken, daß es sich nur um eine scheinbare Abweichung handelt. Der erste, nicht ganz zutreffende Eindruck rührt daher, daß die beiden Rechte die Frage nicht mit denselben rechtstechnischen Mitteln behandeln, weswegen die betreffenden Vorschriften sich nicht im gleichen systematischen Zusammenhang finden. Doch richtet sich das Augenmerk auf die Funktion der so verschieden eingereihten Bestimmungen, wird offensichtlich, daß sie derselben Aufgabe dienen. Dafür sei ein Beispiel angeführt. 3 2 D a z u zusammenfassend Wilhelm Gallas, Täterschaft und Teilnahme, Gutachten, Beiträge zur Verbrechenslehre, S. 100—102. Kritisch zu der Figur des absichtslosen, dolosen Werkzeuges Claus Roxin, Täterschaft und Tatherrsdiaft, 2. Aufl., Hamburg 1967, S. 338 f. 3 8 So Scbönke-Schröder, § 2 4 6 Rdn. 1, Heimann-Trosien, L K , § 2 4 6 Rdn. 15; a. M. B G H S t . 2, 318. Zum Stand der schweizerischen Lehre neuestens Martin Schubarth, Die Systematik der Aneignungsdelikte, Basel und Stuttgart 1968. 3 4 Siehe im E 1962 § 235 Abs. 1, Diebstahl; § 240 Abs. 1, Unterschlagung; § 243 Abs. 1, Energieentziehung; § 245 Abs. 1, Raub; § 252 Abs. 1, Betrug; § 256 Abs. 1, Versicherungsmißbraudi; § 258 Abs. 1, Auswanderungsbetrug; § 259 Abs. 1, Erpressung.

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In der Umschreibung seines räumlichen Geltungsbereiches folgt das Schweizer Strafgesetzbuch in bezug auf gegen einen oder von einem Schweizer im Auslande begangene Verbrechen und Vergehen, Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 Ziff. 2 Abs. 1, dem Erledigungsprinzip. Der Maxime ne bis in idem entsprechend läßt es die im Ausland wegen derselben Tat geführte Strafverfolgung unter gewissen Voraussetzungen die Bestrafung in der Schweiz ausschließen. Die entsprechenden Vorschriften des geltenden deutschen Strafrechts, §§ 3 und 4, die nach Weltrechtsprinzip deutschem Recht unterstellten Auslandstaten einschließend, begnügen sich mit dem durch § 60 Abs. 3 ausgesprochenen Anrechnungsprinzip. Die §§ 5 bis 7, 51 Abs. 3 des allgemeinen Teils in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts behalten diese Regelung bei. Allein die deutsche Strafprozeßordnung erlaubt durch § 153 b Abs. 1 der Staatsanwaltschaft, von der Verfolgung einer Tat abzusehen, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereiches der Strafprozeßordnung begangen worden ist, Ziff. 1. Was das schweizerische Recht durch eine Vorschrift des materiellen Strafrechts erreicht, kann im deutschen Recht durch ein prozessuales Institut herbeigeführt werden. Beide Rechte suchen, jedes auf seine Weise, dem Gedanken, daß ausländische Strafverfolgungen berücksichtigt werden sollten, Rechnung zu tragen. Dabei ist nicht zu übersehen, daß erhebliche Unterschiede bestehen. Das Schweizer Recht stellt seine Vorschrift im engsten Zusammenhang mit den übrigen Vorschriften über die räumliche Geltung an die Spitze des Gesetzes, für jedermann, nicht zuletzt für die ausländischen Behörden, leicht erkennbar. Außerdem ist die Regelung allgemein und läßt mit Sicherheit erkennen, ob im einzelnen Fall eine Bestrafung in der Schweiz in Aussicht steht oder nicht. Demgegenüber verweist das deutsche Recht die entsprechende Regel in das Prozeßrecht und stellt deren Anwendung in das pflichtgemäße Ermessen der Staatsanwaltschaft 35 . Doch noch in anderer Hinsicht weicht die deutsche Vorschrift von den Bestimmungen des schweizerischen Rechts ab: StPO § 153 b Abs. 1 Ziff. 3 gestattet von der Verfolgung nach deutschem Recht selbst dann abzusehen, wenn die Tat im Inlande ausgeführt, doch deswegen schon eine Strafe im Auslande gegen den Beschuldigten vollstreckt worden war. Vor- und Nachteile der beiden Regelungen liegen auf der Hand; hier ging es nur darum zu zeigen, daß dieselbe oder eine ähnliche rechtliche Folge in systematisch und rechtstechnisch höchst verschiedener Weise erzielt werden kann.

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Löwe-Rosenberg, StPO, 22. Aufl., 1971, § 153 b, Rdn. 6, S. 963.

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III. Erstaunlich ist, daß die beiden Redite selbst dann deutliche Unterschiede in gleichartigen Bestimmungen erkennen lassen, wenn eine gegenseitige Beeinflussung stattgefunden hatte. Doch auch dafür läßt sich ein Beispiel finden. Mit der Revision vom 4. 9. 1941 rückte das deutsche Strafrecht ab von der Einteilung der wichtigsten Arten der vorsätzlichen Tötungen nach psychologischen Kriterien, wie sie unter dem Einfluß römischrechtlicher Auffassungen und der oberitalienischen Wissenschaft die Bambergensis und ihr folgend die Carolina eingeführt hatten 36 . Es kehrte zurück zu der ursprünglichen Ansicht des germanischen Rechtes, welches als Mord und damit schwerste Art der vorsätzlichen Tötung die besonders verwerfliche, so vor allem die heimliche Tat bezeichnete37. Die Änderung des deutschen Strafgesetzbuches berief sich jedoch nicht auf die germanische Uberlieferung, sondern auf das Beispiel des schweizerischen Rechts, allerdings nicht auf die Gesetz gewordene Fassung, sondern auf eine in den Vorarbeiten stehende Formulierung. In seinem Vorentwurf vom Juli 1894 38 war Carl Stooss zu der Unterscheidung der verschiedenen vorsätzlichen Tötungen nach ethischen Gesichtspunkten zurückgekehrt. Seine Auffassung setzte sich durch und führte, unter nur geringer Veränderung der ursprünglidi von Stooss in Art. 50 Abs. 2 des Vorentwurfes von 1894 vorgeschlagenen Bestimmung zu Art. 99 des bundesrätlichen Entwurfes vom 23. 7.1918 mit dem Wortlaut: „Tötet der Täter aus Mordlust, aus Habgier, um die Begehung eines andern Vergehens zu verdecken oder zu erleichtern, mit besonderer Grausamkeit, heimtückisch, durch Feuer, Sprengstoffe oder andere " Bambergisdie Halsgerichtsordnung vom Jahre 1507, CLXII; Keyser Karls des fünfften peinlich geriditsordnung von 1532, C X X X V I I , ed. Heinrich Zoepfl, Heidelberg 1842, S. 55, 240, mit der Unterscheidung „fursetzlicher mutwilliger morder" von dem, „der einen todtsthlage aus jheheyt und zorn gethan", die Tat des mit Überlegung Handelnden von der Affekttat scheidend. 37 Siehe schon Lex salica XLI 2, ed. J. Fr. Behrend, 2. Aufl., Weimar 1897, 79; für das spätere mittelalterliche Recht Rudolf His, Das Strafreiht des deutschen Mittelalters, 2. Teil, Weimar 1935, § 31 VIII, S. 90—95. 38 Bern 1894, S. 19. Zur Begründung dieser gesetzgeberischen Entscheidung wies Carl Stooss, Die Grundzüge des schweizerischen Strafrechts, zit. in Anm. 26, II, S. 7—10, auf die Schwierigkeit hin, die von der anderen Auffassung verlangten Unterscheidungen im Einzelfall zu treffen, und, Friedrich Wachenfeld, Die Begriffe von Mord und Todschlag, sowie vorsätzlicher Körperverletzung mit tötlichem Ausgang in der Gesetzgebung seit der Mitte des 18ten Jahrhunderts, Marburg 1890, berufend, auf die Meinungsverschiedenheiten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung hin; ähnlich und an die alten Rechtsanschauungen erinnernd, in Schweizerisches Strafgesetzbuch Vorentwurf mit Motiven, Basel und Genf 1894, zu Art. 50, S. 147/8.

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Mittel, die geeignet sind, Leib und Leben vieler Menschen zu gefährden, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft." Diese Vorschrift wurde das Vorbild des jetzt geltenden § 2 1 1 Abs. 2 des deutschen Strafgesetzbuches 39 . Die in der Schweiz geltende Bestimmung über den Mord wurde hingegen in den parlamentarischen Beratungen erheblich umgewandelt und lautet jetzt: „Hat der Täter unter Umständen oder mit einer Überlegung getötet, die seine besonders verwerfliche Gesinnung oder seine Gefährlichkeit offenbaren, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft." Was ist das Ergebnis dieser Entwicklung? Das deutsche Recht gelangte zu einer kasuistischen Vorschrift, die nur mit dem Hinweis auf sonstige niedrige Beweggründe und die gemeingefährlichen Mittel eine leichte Verallgemeinerung vollzog. Allerdings wird die Wirksamkeit der Kasuistik fraglich, wenn es nicht genügen soll, daß die qualifizierenden äußeren oder inneren Umstände vorliegen, sondern Mord nur gegeben ist, wenn „die Tat unter Würdigung der Einstellung des Täters zu ihr als besonders verwerflich gewertet werden" muß 40 . Doch wie auch immer diese Streitfrage zu entscheiden ist, stets wird nach deutschem Recht eine Verurteilung wegen Mordes nur dann ausgesprochen werden dürfen, wenn einer der in § 2 1 1 Abs. 2 genannten einzelnen Umstände, besonderer Beweggrund, besondere Tatbegehung oder besonderer Tatzweck, nachgewiesen sind. Dies führt, unvermeidlich, in bezug auf einzelne dieser Qualifikationsmerkmale zu heiklen Abgrenzungen, so ob die Tötung heimtückisch gewesen war oder nicht 41 . Offenbar ist es auch nicht leicht festzustellen, worauf sich der Vorsatz des Täters beziehen muß. Werden alle qualifizierenden Momente als Schuldmerkmale betrachtet, so muß sich der Vorsatz nicht auf sie richten 42 , anders, wenn sie alle als Unrechtsmerkmale gelten 43 , noch anders, wenn sie teils als Unrechts-, teils als Schuldmerkmale angesehen werden 44 . Aber selbst wenn die qualifizierenden Merkmale zur Schuld geschlagen werden, 39 Das deutsche Strafgesetzbuch -weicht in § 2 1 1 Abs. 2 vom schweizerischen Entwurf 1918, Art. 99, insofern ab, als er die Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebes als qualifizierendes Merkmal aufnahm und die Tötung durch Feuer, Sprengstoffe oder auf andere ähnliche Weise durch den Sammelbegriff gemeingefährliche Mittel ersetzte, darauf verzichtete, „besondere" Grausamkeit der Tatbegehung zu verlangen, und die einzelnen Qualifikationsgründe systematisch ordnete. 40 R. Lange, LK, 9. Aufl., 1970, § 2 1 1 Rdn.3; Schönke-Schröder, § 2 1 1 Rdn. 6, im Gegensatz zur Rechtsprechung, ζ. B. BGHSt. 11, 143. 41 Siehe Schönke-Schröder, § 211 Rdn. 13—16. 42 So neuestens Lange, a. a. O. 43 BGHSt. 6, 331, Mauradi, Dt. Strafrecht BT, 5. Aufl., 1971, § 2 III A 2, S. 28. 44 Schönke-Schröder, § 211 Rdn. 23.

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bleibt die Frage offen, ob die tatsächlichen Umstände, welche sie begründen, vom Vorsatz erfaßt sein müssen45, was nicht heißt, daß sich der Täter ihrer reflektierend bewußt geworden sein oder gar, etwa mit Parallelwertung in der Laiensphäre, die in dem qualifizierenden Umstände ausgesprochene Wertung seines Verhaltens mitvollzogen haben muß 46 . Insofern edite besondere Sdiuldmerkmale, wie Beweggründe oder Absichten, gefordert werden, genügt es, wenn sie bestehen und neben den Vorsatz treten, ohne daß er sich auf sie zu beziehen hat. Weil die Vorschrift des deutschen Rechtes sich einem Schuldstrafrecht einfügt oder wenigstens so ausgelegt werden kann, müssen die auszeichnenden Umstände durch Tatsachen, auf die sich der Vorsatz des Täters, sei es auch nur mit Mitbewußtsein, gerichtet hatte, nachgewiesen werden. Im Gegensatz dazu ist die schweizerische Rechtsprechung von der Notwendigkeit, eines der besonderen, gesetzlich vorgesehenen qualifizierenden Merkmale des Mordes nachzuweisen, enthoben. Die in dem Katalog der Siooss'schen Vorentwürfe und des deutschen Rechts enthaltenen Tatumstände sind hilfreich als Hinweise darauf, daß die Tötung besonders verwerflicher Gesinnung entsprang oder eine besondere Gefährlichkeit anzeigte. Doch die Anwendung der schweizerischen Vorschrift begegnet anderen Schwierigkeiten. Die erste besteht darin, daß die romanischen Texte des Gesetzes — alle schweizerischen Gesetze werden in den drei Amtssprachen deutsch, französisch und italienisch veröffentlicht und alle drei Texte stehen einander gleich47 — den Ausdruck „Überlegung" mit „préméditation", „premeditazione" wiedergeben. Weil préméditation und premeditazione als Vorbedacht sich einzig auf das der Tat vorausgehende vorbereitende und planende Handeln beziehen können, ist dem deutschen Ausdruck der Vorrang zuzuerkennen. Denn die Überlegung kann der Tat vorausgehen oder sie begleiten48. Eine zweite Schwierigkeit besteht darin, daß zweifelhaft ist, ob nur die

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§ 211 Rdn. 24. « A. a. O. 47 BGE 70 (1944), IV 81, 76 (1950), IV 240, E. 5, 79 (1953), IV 173, E. 2, 86 (1960), IV 105. 48 Ernst Hafter, Schweizerisches Strafredit BT I, 1937, § 4 II 2, S. 16, läßt die Frage offen, ebenso Germann, Das Verbrechen im neuen Strafrecht, Zürich 1942, zu Art. 112, N . 2 2 , S. 225, Schwander, a . a . O . , Nr. 509 Ziff. 1, S. 306, BGE 80 (1954) IV 237/8. Thormann-v. Overbeck, Komm. Zürich 1942, II, BT, N . 5 zu Art. 112, erklären Überlegung gleichbedeutend mit Vorbedacht, ebenso Logoz, Comm. Part, spéc. I, Neuchâtel-Paris 1955, Ν . 2 a zu Art. 112. Vermittelnd BGE 95 (1969) IV 164, Ε. 1, Überlegung meine gedankliche Vorbereitung der Tat und sich davon bei der Ausführung leiten lassen.

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Verwerflichkeit oder auch die Gefährlichkeit eine besondere sein muß, was, diesmal den romanischen Texten folgend, zu bejahen ist 49 . Besonders heikel ist, auch im schweizerischen Recht, die Frage, worauf sich der Vorsatz eines Mörders beziehen muß. Denn der gesetzliche Tatbestand des Mordes vereinigt Merkmale, die einem Schuldstrafrecht entsprechen, mit solchen der Gefährlichkeit des Täters. Kein Zweifel kann darüber bestehen, daß sich der Vorsatz des Täters nicht auf seine besondere Gefährlichkeit beziehen muß, weil sie einfach durch den Richter festzustellen ist. Dem entspricht, daß auch die Umstände, die auf eine Gefährlichkeit deuten, nicht vom Vorsatz umfaßt zu sein brauchen; sie müssen dem Täter nicht bewußt und nicht einmal bekannt sein 50 . Insofern jedoch die Umstände die besondere Verwerflichkeit begründen sollen, sind sie Gegenstand des Vorsatzes, vorausgesetzt, daß sie äußere Tatsachen darstellen. Handelt es sich um innere Tatsachen, die ebenfalls derartige Umstände bilden können 51 , so genügt es, wenn sich der Täter ihrer bewußt gewesen war, ohne daß sich ein Vorsatz eigens darauf richten mußte, ebensowenig wie dies für die Überlegung erforderlich ist, welche stets bewußtes Handeln voraussetzt. Ob die verschiedene Umschreibung des gesetzlichen Tatbestandes des Mordes in den beiden Rechten zu verschiedener Beurteilung im Einzelfall führt, könnte nur durch eine Vergleichung der Urteile in beiden Ländern ermittelt werden. Vermutlich wird die Beurteilung nach deutschem und schweizerischem Recht übereinstimmen, wenn es sich um Fälle handelt, welche nach schweizerischem Recht durch eine besonders verwerfliche Gesinnung gekennzeichnet sind. Die Ergebnisse könnten voneinander abweichen, wenn Sachverhalte in Frage stehen, welche wegen der besonderen Gefährlichkeit des Täters nach schweizerischem Recht die Tat zum Mord werden lassen. Der Blick über die Berge und auf die andere Seite des Flusses entdeckt mithin keineswegs nur Verschiedenheiten, er fällt vielmehr auf ein munteres Spiel der Beziehungen zwischen den beiden Rechten, die von selbständiger Anordnung bis zur Übernahme des fremden Vorbildes alle Möglichkeiten ausschöpfen. Noch läßt sich kein Zug zur einheitlichen Regelung entdecken; die Berührungen erfolgen eher sporadisch und punktuell. Weil die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz zu den Staaten gehören, die dem vollen Einfluß der tech49 B G E 87 (1961), I V 114, Ε. 1 b, insbesondere dem italienischen Text zufolge, welcher von „particolare pericolosità" spricht. 5 0 B G E 81 (1955), 154, E . 2 , betont, daß die Gefährlichkeit vom Verschulden unabhängig ist. 5 1 B G E 82 (1956), I V 8, E. 1, 95 (1969), IV 165.

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nischen Stadtzivilisation der Neuzeit ausgesetzt und die deshalb vor dieselben kriminalpolitischen Probleme gestellt sind, ist nicht auszuschließen, daß sich ihre Strafgesetze einander stärker annähern. Diese Entwicklung dürfte sich insbesondere auf die kriminalrechtlichen Sanktionen beziehen, ist es doch mit Händen zu greifen, daß hier dieselben Aufgaben zu lösen sind; es seien nur die Stichworte Widerhandlungen im Straßenverkehr, kurze Freiheitsstrafen und die Behandlung der chronisch Rückfälligen gegeben und, einmal mehr, daran erinnert, daß die Bundesrepublik Deutschland mit der auf den 1.10. 1973 vorgesehenen Einführung der sozialtherapeutischen Anstalten der Schweiz ein gutes Stück voraus sein wird.

Wilhelm GALLAS5 ,Gedanken zum Begriff des Verbrechens" aus Imminologischer Sicht H E I N Z LEFERENZ

I. Die „Gedanken zum Begriff des Verbrechens", die Gallas1 in seiner Rektoratsrede am 28. November 1964 vorgetragen hat, stellen einen erneuten, tiefgründigen Versuch dar, den Verbrechensbegriff materiell zu begründen. Seine grundsätzlichen und subtilen Überlegungen zu dieser Problematik verdienen auch aus kriminologischer Sicht besondere Beachtung. H a t sich doch die Kriminologie, wohl schon seit Beginn ihrer kurzen Wissenschaftsgeschichte, die Frage gestellt, wie eine Lehre vom Verbrechen, die sich als Erfahrungswissenschaft versteht, überhaupt möglich sei, wenn ihr Gegenstand von den jeweils gültigen Normen geprägt wird und somit zeit- und ortsabhängig ist. Schon immer haben sich aber auch die kriminologischen Bemühungen, den Verbrechensbegriff seinswissenschaftlich traktabler zu fassen, als unbefriedigend, ja schier als aussichtslos erwiesen. Dies gilt sowohl für das delitto naturale Garofalos als auch für die kriminalsoziologischen Intentionen, den strafrechtlichen Verbrechensbegriff überhaupt zu eliminieren und ihn durch Normbruch oder abweichendes Verhalten zu ersetzen. Neuerdings geht die Soziologie noch einen erheblichen Schritt weiter, worauf wir noch zurückkommen werden. Auch der Ausweg der psychiatrischen Richtung der Kriminologie kann dieses Problem nur unvollkommen bewältigen: Ihr Ansatz ist nicht das Verbrechen, sondern der Verbrecher, und zwar nicht der Verbrecher als Verbrecher, sondern der Mensch als Verbrecher. Sie gewinnt hiermit einen seinswissenschaftlichen Ausgangspunkt, der ihre Forschungen trägt; jedoch verschiebt sich hiermit das Problem letztlich nur auf den normativen Begriff des Verbrechers. Wenn nun die Kriminologie ihr Interesse an der Begründung eines materiellen Verbrechensbegriffs kundtut, so freilich nicht deshalb, weil sie sich hiermit seine Wertfreiheit erhofft. Vielmehr wäre ihr bereits gedient, wenn die pure Willkürlichkeit des formellen Verbrechens1 W. Gallas, Gründe und Grenzen der Strafbarkeit. Gedanken zum Begriff des Verbrechens, in: Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 1 ff.

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begrifîs, durch den menschliches Verhalten nur deshalb zum Verbrechen erklärt wird, weil es strafbar ist, durch einen auch auf gemeinsame sachliche Merkmale sich stüzenden, materiellen Verbrechensbegriff ergänzt würde; denn hätte dieser Versuch Erfolg, so würde die Kriminologie als „Lehre vom Verbrechen" auf festerem Boden stehen. Mit dieser Hoffnung wenden wir uns also den Überlegungen von Gallas zu und haben insbesondere zu prüfen, wie sich die von ihm erarbeiteten sachlichen Merkmale verbrecherischen Verhaltens unter kriminologischem Aspekt darstellen: Die Forderung nach einem materiellen Verbrechensbegriff belegt Gallas damit, daß Pönalisierung nicht das Ergebnis bloßer Willkür sein könne, sondern auf sachlichen Erwägungen beruhen müsse, die in dem mit Strafe bedrohten Verhalten selbst liegen. Sudie man aber zu ergründen, was an einem bestimmten menschlichen Verhalten die Rechtsordnung dazu veranlassen könne, es mit Strafe zu bedrohen, scheine man in einen hoffnungslosen Zirkel zu geraten: Verbrechen wäre, was Strafe fordert, und Strafe, was durch das Verbrechen gefordert wird. Einen Ausweg aus diesem Dilemma könne es nur dann geben, wenn jedenfalls einer der beiden Begriffe selbständig bestimmbare Elemente oder Beziehungen aufweisen würde, an die die Definition des anderen anknüpfen könnte. Nachdem Gallas diesen Versudi für das Verbrechen als gescheitert ansieht, bleibt die Strafe als konsequent durchgehaltener Ansatzpunkt für die Bestimmung des Verbrechens. Diese Vorentscheidung involviert die Frage, welche Qualitäten einer Tat zukommen müssen, um die Verhängung einer Kriminalstrafe als schärfste Form sozialethischer Mißbilligung zu rechtfertigen. Nehmen wir zunächst das Ergebnis der Gedanken von Gallas vorweg: Die Einheit von Gefährlichkeit und Verwerflichkeit, eine eigentümliche Verschlingung von Schutzzweck und Sozialmoral, fordert Kriminalstrafe heraus und macht somit das Wesen des Verbrechens aus. Je nachdem, ob das Verbrechen (wie im Normalfall) primär von den verletzten Gesinnungswerten her geprägt ist, ist es entweder das verwerflich sozial-gefährliche oder das sozial-gefährlich verwerfliche Verhalten, das die Strafwürdigkeit der Tat begründet. Zu diesem Ergebnis kommt Gallas auf folgendem Weg: Sein Ausgangspunkt ist die dem geltenden Recht zugrundeliegende Konzeption der Strafe als „Vorbeugung durch Vergeltung" i. S. einer relativen Vergeltungstheorie. Danach ist Strafe in ihrem Kern Vergeltung, zugleich aber auch unerläßlidies und angemessenes Mittel zum Zweck des Gesellschaftsschutzes. Begriff und Zweck der Strafe bleiben somit geschieden.

Wilhelm Gallas' „Gedanken zum Begriff des Verbrechens"

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Rückwirkend auf den Verbrechensbegriff ergibt sidi aus dem Wesen der Strafe als Vergeltung, daß der Täter durch seine Tat die Rechtsordnung verletzt, ein Unrecht begangen haben muß. Ferner läßt sich aus dem Begriff der Strafe als sozialethische Mißbilligung noch entnehmen, daß dem kriminellen Unrecht (im Gegensatz zu dem ziviloder polizeirechtlichen) ein erhöhtes Maß an Verwerflichkeit anhaften muß. Dies ist zunächst festzuhalten. Wann allerdings ein rechtswidriges Verhalten einen solchen zusätzlichen Unwert aufweist, darüber vermag der Strafbegriff nichts auszusagen. Als Quelle möglicher Erkenntnis bleibt damit nur noch der Zweck der Strafe, d. h. die Frage nach den Zielen, welche die im Staat organisierte Rechtsgemeinschaft sich setzt, wenn sie ein bestimmtes Verhalten mit vergeltender Strafe bedroht. Die Antwort lautet: Der Einsatz der Kriminalstrafe zur Verhütung bestimmter Taten (d. h. nicht jeden Unrechts) erfolgt offenbar deshalb, weil hier besondere Verhältnisse einen Schutz gerade durch die Strafe erforderlich erscheinen lassen. Dem Verbrechen auf der einen Seite entspricht also ein besonderes, erhöhtes Schutzbedürfnis der Allgemeinheit auf der anderen Seite. Dieses kann aber nur auf dem besonderen sozialen Unwert beruhen, der diese Taten von anderem, nichtkriminellen Unrecht unterscheidet. Die Brücke zwischen Abwehrzweck und verbrecherischem Charakter der Tat ist geschlagen. Damit ist der weitere Gedankengang vorgezeichnet: Es ist zu prüfen, welche sachlichen Merkmale des Verbrechensbegriffs sich über das bereits Gesagte hinaus aus der Schutzfunktion der Strafe ableiten lassen. An diesem Punkt nimmt nun der Gedankengang von Gallas einen unerwarteten Fortgang: Konnte man annehmen, daß nunmehr aus der Schutzfunktion der Strafe die gesuchten materiellen Charakteristika des Verbrechens entwickelt werden, um hieran unter kriminalpolitischem Aspekt die Deliktstypen unseres Strafrechts zu messen, so geht Gallas methodisch den umgekehrten Weg: Die materielle Verbrechensqualität wird bei den traditionellen Tatbeständen vorausgesetzt; denn es ist für ihn kaum zweifelhaft, daß die „klassischen" Strafdrohungen unseres Rechts ihre Entstehung einem erhöhten Schutzbedürfnis der Gesellschaft und damit Qualitäten verdanken, die sie vom nichtkriminellen Unrecht auch sachlich unterscheiden. Daher prüft Gallas auf seiner Suche nach dem Wesen des Verbrechens nunmehr konkret, was an diesen Delikten das erhöhte Schutzbedürfnis hervorruft, um damit etwas Allgemeines, das Verbrechen überhaupt Kennzeichnendes zu erfahren. Ungeprüft bleibt hierbei jedoch das vorgängige assertorische Urteil, daß nämlich die herangezogenen Deliktstypen die materielle Verbrechensqualität auch heute noch generell besitzen. Sollte aber nun eine weitere Analyse ergeben, daß

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dem nicht so ist, zumindest nicht in dieser Allgemeinheit, so wäre dieser methodische Schritt von Gallas bedenklich und müßte dogmatische und kriminalpolitische Folgerungen nach sich ziehen. Wir stellen dieses Problem aber zurück und halten fest, daß die sachlichen Merkmale des Verbrechensbegriffs aus der Schutzfunktion der Strafe zu entnehmen sind. Zunächst wiederum vom Ergebnis her gesehen, geht es um den Schutz von Rechtsgütern einerseits und von Gesinnungswerten andererseits, woraus Gallas die Einheit von Gefährlichkeit und Verwerflichkeit als materielle Verbrechensmerkmale ableitet. Hieran orientieren wir den weiteren Gedankengang.

II. Aus dem Begriff der Strafe ergibt sich, daß der Grund für das erhöhte Schutzbedürfnis in erster Linie in einem gesteigerten Unrechts· oder Schuldgehalt der Tat zu sehen ist. Der gesteigerte Unrechtsgehalt erwächst allerdings nicht schon aus der Verletzung der Rechtsnorm als solcher, da weder die Gebote oder Verbote des Rechts noch der Widerspruch zu ihnen als solche graduierbar sind. Abstufbar wird erst die Verletzung der hinter den Normen stehenden Recbtsgüter, womit die rechtswidrige Tat einen graduierbaren materiellen Unrechtsgehalt gewinnt: Denn einmal hat das verletzte Rechtsgut innerhalb der sozialen Rangordnung der Güter einen höheren oder geringeren Wert, zum anderen steigt oder sinkt der materielle Unrechtsgehalt auch mit dem Umfang der Verletzung. — Damit ist jedoch die zentrale Frage, wovon es abhängt, ob eine Tat überhaupt mit Strafe bedroht wird und sonach als Verbrechen anzusehen ist, noch nicht beantwortet; denn die Brücke von der verletzten Rechtsnorm zu dem von ihr geschützten Rechtsgut und damit zum Rechtsschutzbedürfnis der Gesellschaft betrifft nicht nur das verbrecherische Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin. Erst in der besonderen Quantität oder Qualität der Rechtsgutsbeeinträchtigung könnte sich daher das kriminelle vom nicht kriminellen Unrecht unterscheiden. Da jedoch der Umfang der Rechtsgutsbeeinträchtigung im allgemeinen (Ausnahme: die sog. gemeinfährlichen Verbrechen) zwar für das Maß der angedrohten Strafe, nicht aber für das „Ob" der Strafbarkeit eine Rolle spiele, sieht sich Gallas auf die besondere Qualität des das Rechtsgut bedrohenden Akts verwiesen. Diese wiederum könnte entweder auf dem Wert des betroffenen Rechtsguts oder auf der Art oder Intensität des dagegen geführten Angriffs beruhen. Da nun die Analyse der „klassischen" Strafdrohungen ergibt, daß die Verbrechensqualität eines Verhaltens nicht erst mit einer bestimmten Wert-

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höhe des geschützten Rechtsguts beginnt, könne das allen Verbrechen Gemeinsame, was sie insgesamt vom nichtkriminellen Unrecht unterscheidet, nur in der Art oder Intensität des darauf gerichteten Angriffs liegen, der ein erhöhtes Schutzbedürfnis der Gesellschaft hervorruft. Dieses Ergebnis leitet Gallas zunächst aus einem Vergleich zwischen Betrug und Diebstahl einerseits und der Nichterfüllung von Vertragspflichten andererseits ab: Wer eine Vertragspflicht nicht erfüllt, beläßt dem Partner grundsätzlich die Möglichkeit, sich mit einer zivilrechtlichen Klage zu wehren, während die Tat des Diebes oder Betrügers gerade darauf angelegt ist, solche Möglichkeiten des Rechtsschutzes von vornherein auszuschalten. Somit ist es die größere Gefährlichkeit des auf das Vermögen gerichteten Angriffs, wodurch sich Diebstahl und Betrug von nachteiligen Vertragsverletzungen unterscheiden. Die weitere Folgerung: Die Wehrlosigkeit der Opfer gegenüber Diebstahl und Betrug nebst der Stärke der Tatversuchung bedingen ein zusätzliches Schutzbedürfnis, dem nur durch die Bedrohung dieser Delikte mit Strafe Rechnung getragen werden kann, um die Sicherheit von Eigentum und Vermögen und damit die Sozialordnung überhaupt zu gewährleisten. Aber auch die große Mehrzahl der übrigen traditionellen Verbrechenstypen sieht Gallas durch besondere Gefährlichkeit gekennzeichnet; bei den Delikten gegen Leib und Leben hafte diese der das Rechtsgut verletzenden Handlung selbst an. — Damit ist also das eine materielle Merkmal des Verbrechensbegriffs nachgewiesen: Die besondere Gefährlichkeit des rechtsgutbedrohenden Angriffs oder Akts. A n dieses materielle Merkmal knüpfen nunmehr unsere kriminologischen Erwägungen an: Vom Ergebnis her besteht kaum ein Zweifel, daß die „besondere Gefährlichkeit" allgemein ein materielles Verbrechensmerkmal abgibt; denn derart gefährliche Handlungen fordern den Schutz der Rechtsgemeinschaft durch Kriminalstrafe als schärfstes Mittel heraus und stempeln sie damit zum Verbrechen. Problematisch erscheint allerdings die in Gallas' Argumentation enthaltene Spezifizierung dieses Merkmals i. S. der besonderen Gefährlichkeit des Angriffs oder Akts. Hierzu kommt ja Gallas deshalb, weil er die materiellen Verbrechenskriterien bei den klassischen Delikten zunächst als gegeben voraussetzt und ihnen dann wieder entnimmt. Die hierin liegende petitio principii erweist sich zwar für die generelle Bestimmung des Gefährlichkeitsmerkmals als unschädlich. Die Kriminologie als skeptische Wissenschaft hat jedoch zu fragen, ob die Hypostase von Gallas, daß den herangezogenen Deliktstypen uneingeschränkt „besondere Gefährlichkeit" zukommt, den heutigen sozialen Gegebenheiten entspricht. Desgleichen ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die im Vergleich zum zivilen Unrecht spezifische Moda-

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lität des Angriffs bzw. der Akt als soldier das Merkmal Gefährlichkeit im Hinblick auf den Schutzzweck der Kriminalstrafe zutreffend und ausreichend umreißt. Nur hiergegen richten sich denn auch unsere Bedenken: Um diese plausibel zu machen, prüfen wir nunmehr, ob es Modalitäten klassisch-deliktstypischer Handlungen gibt, deren Kriminalstrafwürdigkeit i. S. des Gefährlichkeitsmerkmals ernstlich zu bezweifeln wäre. Wir müssen uns hierbei freilich von der auf das Strafgesetz der BRD sich gründenden Dogmatik bis zu einem gewissen Grade lösen. Als Grundlage schweben uns dabei „kriminologische" Tatbestände vor, im Gegensatz zu den formell-gesetzlichen. Im einzelnen bedienen wir uns der Rechtsvergleichung und ziehen ferner Erscheinungen der Rechtswirklichkeit und spezielle kriminologische Erkenntnisse heran. Aus rechtsvergleichender Sicht ist auf Grundentsdieidungen im Strafrecht der DDR hinzuweisen, die dem Vorbild der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten gefolgt ist: Das Strafgesetzbuch der DDR hat eine eigene Kategorie von Rechtsverletzungen, nämlich die „Verfehlungen", geschaffen, bei denen die Auswirkungen der Tat und die Schuld des Täters unbedeutend sind ( § 4 StGB DDR; § 1 l . D F O zum EG). Hierher gehören Hausfriedensbruch zum Nachteil eines Bürgers, Beleidigung und Verleumdung, aber auch geringfügiger Diebstahl oder Betrug zum Nachteil sozialistischen Eigentums oder zum Nachteil persönlichen oder privaten Eigentums, d. h. also traditionelle Delikte, die weder formell Straftaten sind noch materiell Verbrechensqualität besitzen, da sie nicht mit Kriminalstrafe sanktioniert werden. — Desgleichen liegt nach § 3 StGB DDR eine Straftat nicht vor, wenn die Handlung zwar dem Wortlaut eines gesetzlichen Tatbestandes entspricht, jedoch die Auswirkungen der Tat auf die Rechte und Interessen der Bürger oder der Gesellschaft und die Schuld des Täters unbedeutend sind, womit — im Gegensatz zu § 153 StPO BRD — bereits die Strafbarkeit und damit die Qualifikation als Verbrechen entfällt. — Es kommt hinzu, daß auch über nicht erhebliche Vergehen, insbesondere gegen das sozialistische und persönliche Eigentum und Körperverletzungen, die sog. gesellschaftlichen Organe der Rechtspflege entscheiden und bestimmte Erziehungsmaßnahmen, nicht jedoch Kriminalstrafe, verhängen können (§§ 28, 29 StGB DDR). Vom Aspekt der Kriminalstrafwürdigkeit aus wird also auch hier die Entkriminalisierung vorangetrieben. Das Strafrecht der DDR stützt sich offensichtlich auf einen materiellen Verbrechensbegriff, der aber von dem Verbrechensbegriff von Gallas abweicht: Während bei Gallas der Wert des betroffenen Rechtsguts für die Frage des „Ob" der Strafbarkeit keine Rolle spielt, stützt sich insbesondere hier-

Wilhelm Gallas' „Gedanken zum Begriff des Verbrechens"

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auf die Begrenzung des materiellen Verbrechensbegriffs im Strafgesetzbuch der D D R . Dort wird jedenfalls nicht ohne erwägenswerte Gründe die leichtere Delinquenz auch im Bereich der klassischen Delikte wie Diebstahl und Betrug wesensmäßig von den schwereren Begehungsformen geschieden. Aber audi in der Bundesrepublik Deutschland zeigen sidi Tendenzen, die leichtere klassische Delinquenz der Sanktionierung durch Kriminalstrafe, ja der staatlichen Verfolgung überhaupt, zu entziehen: Die Erscheinungen der sog. Betriebsjustiz sind bisher vorwiegend unter dem soziologischen Gesichtspunkt gesellschaftlicher „Kontrollstile" abgehandelt worden. Sie sind aber offensichtlich auch von rechtsdogmatischem und kriminalpolitischem Interesse. Aus den bisherigen Ergebnissen dieser Forschung ist zu entnehmen, daß vermutlich der überwiegende Teil der innerbetrieblichen deliktstypischen Kriminalität der staatlichen Strafverfolgung entgeht. Die weitere Differenzierung ergibt, daß hiervon vorwiegend die leichtere Vermögens· und Körperverletzungsdelinquenz betroffen ist, während schwerere Straftaten, und Sittlichkeitsdelikte im besonderen, zur Anzeige gelangen. Die mehr an der Oberfläche liegenden Gründe dieses Phänomens (z. B. die Vermeidung des Verlusts von fachlich qualifizierten Arbeitskräften in einer Zeit des Arbeitskräftemangels) brauchen hier nicht diskutiert zu werden. In unserem Zusammenhang ist vielmehr von Bedeutung, daß wir hier eine Entkriminalisierung der leichteren deliktstypischen Delinquenz feststellen können, die in anderen Ländern bereits gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Das Phänomen „Betriebs justiz" legt jedenfalls den Schluß nahe, daß der leichteren Delinquenz die Verbrechensqualität i. S. des gefährlichen und vom Schutzzweck her gesehen &n7ra«